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German Pages 327 [328] Year 2000
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 32
Andreas Englhart
Im Labyrinth des unendlichen Textes Botho Strauß' Theaterstücke 1972-1996
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
D 19 Philosophische Fakultät für Geschichte und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Englhart, Andreas: Im Labyrinth des unendlichen Textes : Botho Strauß' Theaterstücke 1972 - 1996 / Andreas Englhart. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Theatron; Bd. 32) Zugl.: Diss. ISBN 3-484-66032-5
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Buchbinderei Siegfried Geiger, Ammerbuch
Vorbemerkung
Die vorliegende Arbeit ist eine stark gekürzte Version des ursprünglichen Dissertationstextes. So fehlt unter anderem auch ein umfangreicher Exkurs zu Strauß' Ästhetik im politischen Raum. Spätestens seit der „Bocksgesang-Debatte" zeigt die veröffentlichte Meinung ein eher negatives Image des Autors. Nun kann man weder nicht nicht politisch sein, noch sich einem Vor-Urteil völlig entziehen. Trotzdem bitte ich um eine Lektüre, die zumindest den Gedanken nicht völlig verwirft, daß es einen Dramatiker Botho Strauß jenseits des „Bocksgesangs" gibt. Es soll hier daher hauptsächlich um dramatische Texte gehen, welche seit fast 30 Jahren zu den meistdiskutierten Kunstwerken im deutschsprachigen Raum gehören. Die durch ein Stipendium der Universität München und des Freistaates Bayern geförderte Dissertation wäre nicht entstanden ohne die Unterstützung von Prof. Dr. Günther Erken, Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer und meiner Familie. Ganz besonders danken möchte ich Bettina Thalmaier, der dieses Buch gewidmet ist.
V
Inhaltsverzeichnis
I.
Kontext: Die Welt als Text
1
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. II.
In Gesellschaft Der abwesende Sinn als Sinn Von der Repräsentation zur Inszenierung Kausalität und Hermetik Die Welt als Buch Gleiten über die Grundlosigkeit des Textes "Ich", der andere und der Text Das Bewußtsein des Bewußtseins Die Anwesenheit der Abwesenheit Der Dichter und der Existentialismus Eros und Erkenntnis - zum emanzipativen Potential des Ästhetischen Das Heilige und das Profane: Mythos, Text der Moderne und das Undarstellbare
3 5 6 7 11 12 13 14 16 17
12.
21 24
11.
Die Texte der Theatertexte
27
1.
1967-1977: Die Bühne als Text 29 Von der "litt6rature engagde" zur "Dekonstruktion" 29 Die Welt innerhalb und außerhalb des Kopfes: Von der Romantik über den Symbolismus zum absurden Theater 30 Das Unbewüßte als Zentrum: Von Sigmund Freud über den Surrealismus zu Jacques Lacan und Ernst Jünger. Und über Antonin Artaud zur Neoavantgarde der sechziger Jahre 31 Von der Dialektik zur Diskursanalyse und Sprachphilosophie I: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken . . 3 1 Von der Dialektik zur Diskursanalyse und Sprachphilosophie II: Die Theorie der Drohung 32 Der hermetische Verweigerer des Zeitgeistes 33 Der Abschied von einem Zentrum außerhalb der Geschichte. Das Zentrum ist der Text, der die Abwesenheit der realen Welt als Anwesenheit markiert 35 Das Paradox der Subjektivität: Wenn zwei sich treffen, agieren vier oder einer, der ein anderer ist 36 VII
1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.1.3. 1.1.4. 1.1.5. 1.1.6.
Die Hypochonder Die Hypochonder des Kritikers 1900 als Zeitpunkt eines mehrfachen Paradigmenwechsels Der Verlust des Signifikats "Ich ist ein anderer" - Was ist Identität? Die Kriminalgeschichte ohne Auflösung am Ende der Aufklärung.. . Wer spricht? Der Tod des Autors und die Verweigerung einer eindeutigen Perspektive Der Eingang in das unendliche Buch "Die Hypochonder" als Traumarbeit: Die Bühne ist Text ist Tag ist Nacht ist Realität ist Traum Der unendliche Text nach Beckett als Säkularisat der Heiligen Texte . Das Unbewußte und der Text: vom Unbewußten als biologischen Trieb zum Unbewußten, das wie eine Sprache strukturiert ist Die Verräumlichung des Textes Die Figur als lügender Text, als anwesende Spur der Abwesenheit im Raum-Text
37 37 38 40 43 44
Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle Das Gesicht des anderen als Text Der Tanz zur Überwindung der Differenz Die Dramaturgie des Begehrens: Der mediale Text als Narziß begehrt sich selbst
57 57 58
1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4.
Trilogie des Wiedersehens Die Figuren in der Immanenz der Ausstellung Die Realität der Gesellschaft Der Zuschauer auf der Bühne Die Dramaturgie der Initiation
66 66 67 72 72
2.
1978-1983: Die Suche nach der Heimat im Text "Langsame Heimkehr" Der "Vereinzelte" in der Gesellschaft Die Suche nach dem grundlosen Grund
77 77 78 79
1.1.7. 1.1.8. 1.1.9. 1.1.10. 1.1.11. 1.1.12.
1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3.
2.1. 2.1.1.
Groß und klein Zwischen Ordnung und Unordnung - Stationendramaturgie der Masken 2.1.1.1. Die Stimmen von "Groß und klein": Canettis Masken 2.1.1.2. Stationen des "Ichs" im unendlichen Buch 2.1.1.3. Adornos "Groß und klein" im unendlichen Buch 2.1.2. Das Hören der "Stimmen von Marrakesch" als Bewegung des Unbewußten 2.1.3. Mythenspl itter im Text 2.1.4. Das Zimmer des Vereinzelten als geordnetes Bewußtsein im ungeordneten Text 2.1.5. Das Weiße im Buch der Welt als geheimes Zentrum VIII
45 47 48 51 52 55 56
60
82 82 82 82 83 84 88 89 91
2.1.6.
Glaube, Liebe und Hoffnung - die christliche Erfahrung als säkularisierter Text in der Gegenwart Glaube Liebe Hoffnung
95 95 96 96
2.2. 2.2.1.
Kalldewey, Farce 97 Die Dramaturgie der begründeten Grundlosigkeit: Der Mythos ist eine Reflexion ist ein Mythos ist eine Reflexion etc 97 2.2.2. Auflösung (Eintritt in die Diskursordnung, in das Treiben der Signifikanten) 99 2.2.2.1. Der erkaltende Blick - Eingang in das Theater und die Theorie 99 2.2.2.2. Die Einfügung in den Text: Lynn als "L in" zwischen Κ und Μ . . . . 100 2.2.2.3. Die Auflösung der Figur: der Versuch, den anderen ganz zu lieben und zu begreifen, führt in die Grund-Losigkeit der nachmodernen Existenz 102 2.2.3. Immanenz 105 2.2.3.1. Die Suche nach dem Übergang endet in der Suche nach dem Übergang 105 2.2.3.2. Theater und Theorie: Das Sehen als Beginn der paradoxen Ausgrenzung der Ekstasis 109 2.2.3.3. "Kalldewey" als unheilbringende "Inkarnation" der säkularisierten Heilsversprechen 111 2.2.4. Der Beobachter des Beobachters 114 2.2.5. Dazwischen, auf der Grenze 120 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.3.5. 2.3.6. 3.
3.1. 3.1.1. 3.1.2.
Der Park 123 Der "Park" und der "Zirkus" im Kopf 123 Der Mythos als Trugbild oder Zeichen und der Formenwechsel in der linearen Zeit 125 Der "Tod des Autors" durch den Verlust des göttlichen Ursprungs . . 128 Die Säkularisierung der Heiligen Texte in der Neuzeit 131 Ich und der andere - die Dramaturgie der Aufspaltung 133 Das Göttliche in der menschlichen Welt der Spiegelungen 136 1984-1988: Das Ganze als das Undarstellbare Im Labyrinth des Netzes im Kopf Dichterischer Mythos und dichterischer naturwissenschaftlicher Text - die Nachmoderne als Neoromantik Das Paradies und die Urdifferenz, das Ganze und die Sehnsucht nach Transzendenz Emmanuel Levinas - die Philosophie des Sokratismus als Grundlage der Gewalt
144 144 147 149 152
Die Fremdenfiihrerin 152 Der Sündenfall der Erkenntnis 152 Die Liebe als das andere der Vernunft in der gemeinsamen Sprache . 154
IX
3.1.3. 3.1.4.
157
3.1.5.
Die Dramaturgie der Verkennung Die Archäologie des Ursprungs und die Rückkehr zum Neuplatonismus Sprache und Raum und Zeit
3.2.
Tetralogie über das Theater und das Theater der Welt
163
3.2.1. 3.2.2. 3.2.2.1. 3.2.2.2. 3.2.2.3. 3.2.2.4. 3.2.2.5. 3.2.2.6.
Lexis: Das Werk Ethe: Besucher Der verschiebbare Bühnenrahmen Welt als Theater, Theater als Beobachten, als unendlicher Regreß . . Die Suche der Figur nach ihrer Identität Figuren im fragmentierten Text Besucher und Zuschauer Das Theater als Ritual
163 171 171 173 176 178 181 183
3.2.3. 3.2.3.1. 3.2.3.2. 3.2.3.3. 3.2.3.4.
158 160
Opsis: Die Zeit und das Zimmer Ewigkeit und Zeit bei Augustinus, Piaton und Plotin Die symbolische Ordnung konstituiert Zeit und Raum Das Ganze als das Zentrum als das Schweigen Die Zeit als Zwischenzeit: das Erinnern und das Erwarten des ganz anderen 3.2.3.5. Die "Säule" als Zeichen der Leerstelle 3.2.3.6. Die "Säule" als entgleitender "Mittelpunkt" von Zeit und Raum 3.2.3.7. Identität im unfesten Raum und in der nicht zu fassenden Zeit 3.2.3.8. Das Spiel von Fleck und Linie im Bewußtsein konstituiert die Zeit 3.2.3.9. Mythische und lineare Zeit
189 189 191 192
3.2.4. 3.2.4.1.
Mythos: Sieben Türen Zwischen Dogmatik und Mystik, zwischen Akt und Sig6 die Handlung als Turmbau zu Babel Die Suche nach dem Heraklitischen Ursprung ergibt eine Leerstelle Die "Sieben Türen" der "Sieben Türen"
210
4.
1989-1997: Glaube und Wissen Heraklit und die Logos-Stiftung der Sprache Mystik, Gnostik - Immanenz, Weltinnenraum Das Buch des Buches Die Umwelt als Gedanke Glaube und Wissen
226 226 229 233 235 238
4.1.
Schlußchor
241
3.2.4.2. 3.2.4.3.
X
193 193 196 196 199 203
210 216 217
4.1.1. 4.1.1.1. 4.1.1.2. 4.1.2. 4.1.2.1. 4.1.2.2. 4.1.2.3.
4.1.3.
4.2. 4.2.1.
4.2.2.
4.2.3.
4.2.4. 4.3. 4.3.1. 4.3.2.
Perspektive I als Versuch, den Raum und die Zeit des "Jetzt" zu sehen: Sehen und Gesehenwerden Der einzelne in der Gesellschaft der anderen. Ein Machtverhältnis Die Suche des Chors der Zeichen und der Gesellschaftsmitglieder nach seinem Zentrum Perspektive II als Versuch, den Raum und die Zeit des "Jetzt" zu sehen: Vor dem Spiegel des Textes Das Versehen als Subversion des Be-Griffs und Öffnung zum ganz anderen Die Prophezeiung der Wiederholung: Das Ge-Sehene wiederholt das Ge-Sehene wiederholt das Ge-Sehene etc Die Immanenz des Textes Der "Eintritt" in die Fixierung der Identität vor dem Spiegel In der Rekluse der Immanenz des Textes, der den Text spiegelt . . . . Die Grenze des Textes ist als Grenze des Textes des "Ichs" als "Ich" unüberwindbar Das "Finale" der durch den Spiegel fixierten Identität des narzißtischen Ichs (Meta-Meta-etc.-) Perspektive III als Versuch, das "Jetzt" als Mythos zu be-greifen: Der Mythos verliert sich im Identitäts-Text des Gesellschaftsmenschen als Text im Text Angelas Kleider Der Versuch einer nicht durch den Text determinierten Freundschaft als auf der Bühne ausgestellte Bewegung zwischen begradigendem, linearen Tag und der Nacht des (romantischen) Unbewußten, das wie eine Sprache strukturiert ist Die symbolische Ordnung generiert die Taxonomien, die in einer kybernetischen Bewegung die Verbindung zwischen dem Lebendigen und dem Text garantieren Die symbolische Ordnung als Vor-Text der Taxonomien zerstört die Freiheit der Mythen und der Kunst und damit deren Wesen und Wirken Die Ambivalenz der Idee der Aufklärung
242 242 244 248 248 251 253 253 254 257 260
264 268
268
272
273 275
4.3.4.
Das Gleichgewicht 279 Die Relativität im Text-Raum. Gibt es einen absoluten Text-Raum? . 281 Das Undeutliche als notwendiges Gegengewicht zum deutlichen System 283 Die Handlung als Un-/Gleichgewicht zwischen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit verweist auf das Zentrum im ganz anderen 285 "Credo ut intelligam" - Freispruch aus Mangel an Beweisen 286
4.4. 4.4.1.
Ithaka 291 Die Ankunft des Mythos im nachmodernen Text des Bewußtseins . . 291
4.3.3.
XI
4.4.2. 4.4.3. 4.4.4. 4.4.5. 4.4.6. 4.4.7. 4.4.8. 4.4.9. 4.4.10.
Die Ankunft als Ritual Zum Bogen des Odysseus: Der Pfeil des Zenon als Zeichen des Ganzen Der vom ganz anderen gestiftete Urvertrag zwischen Frau und Mann Strauß'Version des Gesellschaftsvertrags Die Zeit der Freier als die unerträgliche Zwischenzeit Der Spiegel der Prospekte verweist als Ungrund auf das ganz andere Die bindungslosen Signifikanten weichen der mythischen Dichtung Die Rechte des Dichters und die politische Rechte Das Paradox der politischen Ordnung und Strauß'Versuch einer Lösung
Literaturverzeichnis
XII
294 294 295 296 296 297 298 299 301
303
I. Kontext: Die Welt als Text Können wir das Universum wirklich 'kennen'? Mein Gott, es ist doch schon schwierig genug, sich in Chinatown zurechtzufinden. (Woody Allen) Der Schriftsteller ist alles: konservativ und anarchistisch, ein Mensch der Formen und des Unförmigen. (Peter Handke) Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die Virulenz der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion um Botho Strauß einerseits sowie die persistierende Schwierigkeit, sein Werk nicht nur formal, sondern inhaltlich zu interpretieren, andererseits. Die Stükke fordern einen Vorstellüngshorizont ihrer Rezipienten ein, der, so der Autor, "noch nicht die Optik aller Theaterzuschauer" ist, "aber doch, man darf sagen, schon eine recht geläufige, keineswegs exzentrische Anschauung." (AA) Eine empirische Befragung der Rezipienten der Stücke von Botho Strauß, ob sie denn verstünden, was auf der Bühne vor sich geht, steht noch aus. Aber man kann sicher sein, daß die Mehrzahl der Rezipienten die Frage negativ beantworten würde. So stellt sich die Frage, ob Botho Strauß seinem Publikum nicht etwas zuviel zumutet. Die Mißverständnisse sind groß, dies beweist auch der Aufschrei der Empörung, der durch die kulturellen und politischen Szenen der Bundesrepublik geht, nachdem sich Botho Strauß in einem Essay im "Spiegel" außerhalb des Kunstschutzgebietes geäußert hat. Der Skandal ist um so erstaunlicher, da Botho Strauß schon seit zwanzig Jahren zu den arrivierten Autoren zählt. Die These, daß er sich über Nacht zum EdelFaschisten gewandelt hat, ist unglaubwürdig. Vielmehr ist anzunehmen, daß schon seit längerer Zeit zwischen dem Autor und einem großen Teil seines Publikums, seiner Kritiker und der Wissenschaft eine grundlegende Differenz in der Vorstellungswelt besteht. Die Frage lautet also: Welche vom sozialen und kulturellen Mainstream abweichende Philosophie vertritt Botho Strauß und zu welchen Resultaten kommt eine Interpretation seiner Stücke unter Berücksichtigung der Vorstellungswelt des Autors? Wenn die Hypothese einer exzentrischen Vorstellungswelt des Autors zutrifft, dann wäre eine naheliegende Frage natürlich auch: Wieso funktionieren seine Stücke so wunderbar, wenn sie keiner so recht versteht? Eine Antwort ist schwierig, aber Vermutungen sind erlaubt: Botho Strauß hat nicht nur eine abweichende Vorstellungswelt, sondern auch eine große Begabung, seine Umwelt perfekt wiederzugeben. Als - wie er sich selber bezeichnet - Diarist, als genauer Beobachter des fragmentierten Alltags ist sein Renommee ungebrochen. Gleichzeitig schreibt er, auch aufgrund seiner Bühnenerfahrung als ehemaliger dramaturgischer Mitarbeiter der Berliner Schaubühne, Stücke, die ihre hervorragende Bühnentauglichkeit immer wieder unter Beweis stellen. Sein früher Kontakt zu den prominentesten Theatermachern und Bühnen der Bundesrepublik sichert ihm von Anfang an die besten Regisseure und Schauspieler und ein Erfolg trägt den nächsten. Auch das nicht professionelle Publikum hat seinen Spaß, denn trotz allem Unverständnis goutiert es das Boulevardsche in seinen Stücken und das auch noch mit gutem Gewissen, denn Strauß ist ein vom Feuilleton anerkannter oder zumindest besprochener Autor. Gleichzeitig bleibt er so rätselhaft wie ein Schrift-
1
steller sich selbst darstellen muß, um sich so lange in der obersten Liga der Dramatikerzunft zu halten. So kommt vieles zusammen, was ihm über die Jahre die Anerkennung seines Publikums eingebracht und, was viel schwieriger ist, erhalten hat. Das "Unverständliche" aber läßt (fast) jede Art von Projektion zu, die sich das Feuilleton und die Wissenschaft ausdenkt. Aufgrund seiner Weigerung, in der Öffentlichkeit aufzutreten und seine Texte zu kommentieren, ist Strauß ein Autor, in den viel hineininterpretiert werden kann, ohne ein Dementi befürchten zu müssen. Da die Medien dazu tendieren, "bestimmte Unwahrscheinlichkeiten, wenn sie denn vorkommen, um so auffallender [zu] bringen, während andere, vor allem solche ohne Neuigkeitswert, nicht oder nur im Kontext täglicher Unfälle, also normalisierter Unwahrscheinlichkeiten bekannt werden",' wird oft aus den die Komplexität der Umwelt spiegelnden Texte von Strauß das selektiert und als Meinung des Autors präsentiert, was auf den ersten und zu kurzen Blick skandalös erscheint, jedoch meist nur eine Stimme im "Chor" der Straußschen Masken ist. Wie die Dissertation jedoch zeigen wird, sind Strauß' Theatertexte das Resultat des Versuchs einer konsequenten "Kopie" (und persönlichen Deutung) der momentan prominentesten und aktuellsten im philosophischen, literaturtheoretischen und naturwissenschaftlichen Raum kursierenden Thesen in den Inhalt und die Form seiner Texte. Da für Strauß "Menschen nichts sind als Verheißung von Texten", (FdK 75) sieht er sich selbst als "Kopisten", dessen "Fehler" den Fortgang der Dinge erst ermöglichen. Und aus dieser Sicht legitimiert sich die vorliegende Arbeit als "Kopie" der "Kopie", sie ist notwendig, damit sich der Text im unendlichen Buch bewegt. Dieses ist das große Gedächtnis, das in der Posthistoire alle Zeiten und Räume als Texte versammelt und in dem Strauß - die Welt, die Geschichte und die Kultur als poetischen Text interpretierend - aus der zur Verfügung stehenden Auswahl überlieferter und kommunizierter Texte denjenigen, der seine Sicht der Dinge unterstützt, gerne "kopiert". So denkt er zum Beispiel Heraklit mit Niklas Luhmann und Augustinus mit Ilya Prigogine zusammen.
Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin 1991, S. 4. 2
1. In Gesellschaft Als solches ist das Verstehen ein merkwürdiges Unternehmen. Am Ende mag es nicht mehr tun, als das zu artikulieren und zu bestätigen, was das vorgängige Verstehen, das bewußt oder unbewußt immer am Handeln beteiligt ist, schon anfänglich begriffen ["sensed"] hatte. Es wird diesen Zirkel nicht scheuen, sondern im Gegenteil wissen, daß jedwede anderen Ergebnisse soweit vom Handeln, von dem es nur die andere Seite ist, entfernt wären, daß sie unmöglich wahr sein könnten. Es wird auch im Prozeß selbst den Zirkel, den die Logiker .circulus vitiosus' nennen, nicht meiden und in dieser Hinsicht vielleicht sogar etwas der Philosophie ähneln, deren große Gedanken sich immer in Kreisen drehen, den menschlichen Geist mit nichts anderem befassen als einem unendlichen Dialog zwischen sich und dem Wesen all dessen, was ist. (Hannah Arendt, Übungen im politischen Denken)
Der moderne Blick "auf' die Gesellschaft "in" der Gesellschaft zeigt die "Gesellschaft der Gesellschaft" (Luhmann). Dem wahrnehmbaren Entzug von Sinn als Resultat und Voraussetzung kann man nach Norbert Bolz1 mit Dramatisierung oder Formalisierung begegnen. Dramatisierung wäre der Anschluß an den "philosophischein] Theaterdonner des 19. Jahrhunderts": von Friedrich Nietzsche zu Georg Simmel, Sigmund Freud und Walter Benjamin. Für Nietzsche findet sich als eine Grundlage der Kultur die Unfreiheit. Ohne Kosten, ohne Akzeptanz ihrer Instabilität und ihres undemokratischen Aufbaus kann eine Kultur nicht konstituiert werden. Die Bildung einer zivilisatorischen Lebensform fuhrt für Nietzsche zur Domestizierung des Menschen, die jedoch jederzeit gefährdet ist. Triebverzicht und damit Unglücklichsein zeigt die Basis der Kultur für Freud, das "Unbehagen in der Kultur" ist für ihn das Resultat des Fortschritts der Kultur in der Geschichte, der korreliert mit wachsendem Triebverzicht und sich steigerndem individuellen Schuldgefühl. Für Simmel wie für Strauß ist eine Eigenart des "sozialen Gewebes" seine Ambivalenz: Einerseits funktioniert die Kultur als ein Instrument zur Verbindung von Subjekt und Objekt, der Weg der Seele über das unhintergehbare, determinierte Muster der Werke der Kultur zu sich selbst, zur individuellen Bedeutung des Subjekts. Andererseits ist der Preis für die Subjekte die Annahme der Regeln der Kultur. Die Simmelsche "Tragödie der Kultur", die Strauß in jedem seiner Stücke vorspielt, folgt aus der das Subjekt zwar konstituierenden, aber zugleich auch von sich selbst abspaltenden Souveränität des objektiven, fixierenden Geistes. Die Tragödie wird bei Benjamin zur Dialektik, dessen geschichtsphilosophisches Denken erörtert Nietzsches Interpretation der Kultur als Kulturkritik, Kultur und Barbarei sind für Benjamin nicht getrennt zu setzen: Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden Uber die dahinfbhrt, die heute am Boden liegen. Die Beute
1
Vgl. Norbert Bolz: Die Sinngesellschaft, Düsseldorf 1997, S. 21 Iff.
3
wird, wie das immer so Üblich war, im Triumphzug mitgeftlhrt. Man bezeichnet sie als Kulturgüter.2 Den Weg der Simmelschen Tragödie zur Benjaminschen Dialektik geht Strauß teilweise wieder zurück. Der Ambivalenz ist dialektisch nicht zu entkommen. Strauß geht es nun darum, ohne Geschichtsphilosophie das ursprüngliche und als Utopie am Horizont leuchtende Paradies in der "Zwischenzeit" wieder erfahrbar zu machen, ohne auf Ideologie und Fundamentalismus rekurrieren zu müssen. Weil die Zeit als Linie nicht mehr haltbar ist und der Raum als euklidischer nur noch als eine Möglichkeit gilt, bleibt als Koordinatenpunkt zur Bestimmung des richtigen Weges ins Paradies nur noch der eigene Ort und die Gegenwart als Zeit. Da für Strauß der eigene Ort als Durchlauf von Text relativ gegenüber dem Text als Zentrum geworden ist und, wie schon Augustinus zeigt, die Gegenwart nicht direkt definiert ist, kann letzten Endes das transzendentale Signifikat nur als abwesendes indirekt erörtert werden. So bleibt für Strauß im Weltinnenraum allein der Text des Verlusts als letzter Haltepunkt, der Text, der auf das abwesende Wesentliche verweist. Auf diesen Text sollte man seine Aufmerksamkeit richten, so Strauß in dem umstrittenen Essay "Anschwellender Bocksgesang". Bolz opponiert gegen diesen denkbaren Weg von Nietzsche über Freud und Simmel zu Benjamin, für ihn ist dieser "dramatisierende Kulturbegriff' "eindrucksvoll, ja einschüchternd", aber unbrauchbar aufgrund seiner "Unanschließbarkeit und gegenwartsdiagnostische[n] Unfruchtbarkeit". Er plädiert für eine Entdramatisierung und Formalisierung und weist in eine Richtung, die der Dramatiker, Pessimist und radikale Skeptiker Strauß gerade nicht einschlagen will.
2
4
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, Frankfurt 1955, S. 76.
2. Der abwesende Sinn als Sinn
Seien wir Realisten: Es gibt nichts Sinnvolleres als einen Text, der über seine Loslösung vom Sinn spricht. (Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation)
Die Suche nach dem letzten Haltepunkt ist die Suche nach dem Sinn. Claude LdviStrauss vertritt in Bezug auf die Gesellschaft und Jacques Lacan in Bezug auf das Unbewußte die These, daß Sinn allein die Außenseite dessen ist, was zuvor bereits da war, nämlich die Struktur. Und ein Systemtheoretiker wie Norbert Bolz sieht die "Sinnfrage" gar als "eine Art Krankheitssymptom", "das sich der Beobachtung zweiter Ordnung verdankt. Gefragt wird hier nach dem verlorenen Paradies der Unmittelbarkeit: der naive Blick, der unmittelbare Kontakt, die technisch unverfälschte Zwischenmenschlichkeit. Das sind Unmöglichkeiten in einer Welt, die sich in der Mittelbarkeit und Indirektheit von Beobachtungen zweiter Ordnung eingeregelt hat".1 Da jede Beobachtung zweiter Ordnung auf einer Beobachtung dritter Ordnung gründet usw., gerät der vernünftige Griff nach dem Sinn zum Sturz in das unendlich tiefe Loch des unendlichen Regresses. Daher dreht Strauß den Spieß um, macht das Loch zum Fixpunkt und stellt die Heideggersche Frage.
Bolz: Die Sinngesellschaft, a.a.O., S. 78.
5
3. Von der Repräsentation zur Inszenierung
Die Frage verlangt nach der nie zu bekommenden endgültigen Antwort auf einer Bühne, auf der das Gezeigte nur noch sich selbst inszeniert und nichts mehr repräsentiert, Die Trennung von der Repräsentation vollzieht sich in der Immanenz einer symbolischen Ordnung, über die Michel Foucault schreibt: Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang fllr jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.'
Die Selbstinszenierung der symbolischen Ordnung bedeutet eine "Selbstbezüglichkeit", die von Francisco Varela als "kreativer Zirkel" gedeutet wird: Wir können eine gegebene Erfahrung nicht in einer einzigartigen, unwiederholbaren Weise auf ihre Ursprünge zurückverfolgen. Jedes Mal, wenn wir versuchen, die Quelle etwa einer Wahrnehmung oder einer Idee aufzuspüren, stoßen wir auf ein ständig vor uns zurückweichendes fractal, und wo wir auch nachgraben mögen, stoßen wir auf die gleiche Fülle von Details und wechselseitigen Zusammenhängen. Jedes Mal ist es die Wahrnehmung einer Wahrnehmung einer Wahrnehmung ... oder die Beschreibung einer Beschreibung einer Beschreibung - Nirgendwo können wir unseren Anker werfen und sagen: Von hier ging die Wahrnehmung aus; auf diese Weise lief sie ab. 2
Diese Totalität der symbolischen Ordnung bestimmt bei Strauß das Geschehen auf der Bühne als eine "Art Realismus, der sich eher aus dem Diskurs als aus der Psychologie der einzelnen Figuren entwickelt [...]". (SG) Wenn der Diskurs zum alleinigen Zentrum wird und sich dabei das Signifikat vom Signifikanten trennt, dann wird das Lesen des Textes zur Interpretationsarbeit, die ohne transzendentales Signifikat immer neu zu leisten ist und sich nie als Ende der Geschichte im Sinne einer richtigen Interpretation zeigen darf, ohne sofort als Lüge entlarvt zu werden. In diesem ewigen Entgleiten besteht die Gefahr, das etwas untergeht, was als zentraler Pfeiler der abendländischen Kultur für die grundlegende Stabilität des Individuums und der Gesellschaft sorgt: Die Kausalität.
1 2
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt 1994, S. 22. Francisco Varela: Der kreative Zirkel. Skizzen zur Naturgeschichte der Rückbezüglichkeit, in: Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, hg. v. Paul Watzlawick, München 1991, S. 294-309.
4. Kausalität und Hermetik "Na schön', sagte Deep Thought. 'Die Antwort auf die Große Frage...', 'Ja...!' "... nach dem Leben und dem Universum und allem ...', sagte Deep Thought. 'Ja...!' '... lautet...', sagte Deep Thought und machte eine Pause. 'Ja ... !!! ... ???' 'Zweiundvierzig', sagte Deep Thought mit unsagbarer Erhabenheit und Ruhe. (Douglas Adams. Per Anhalter durch die Galaxis)
Für Aristoteles ist das "Allgemeinste wohl auch für die Menschen am schwierigsten zu erkennen; denn es liegt am weitesten ab von der sinnlichen Wahrnehmung". Dieses Allgemeinste wird von der Philosophie vorzüglich gedacht, "sie muß die Theorie der ersten Prinzipien und Ursachen sein". Es geht darum, dem Nichtwissen ein Bereich des Wissens abzuringen, der Aristotelische "Blick auf die ersten Anfänge der Philosophie" zeigt, daß es das Sichverwundern ist [...], was die Menschen am Anfang, wie auch jetzt noch, zum Philosophieren veranlaßt hat. Zuerst bezog sich dieses Sichverwundern auf das Nächstliegende unter den unerklärlichen Erscheinungen, dann, als man etwas weiter fortgeschritten war, nahm man auch schwierigere Fragen in Angriff, wie die Mondphasen, die Bewegung der Sonne und der Sterne und die Entstehung des Weltalls. 1
Das Aristotelische "Sichverwundern" wird einseitig fokusiert und gleichzeitig erweiternd gespiegelt in der Heideggerschen "Frage" als Ausgangs- und Zielpunkt, es provoziert das anhaltende Bemühen, Nichtwissen in Wissen umzuwandeln. Strauß dokumentiert und reflektiert dieses Bemühen, als Dichter-Philosoph geht es ihm um den poetischen und philosophischen Text zugleich und dessen Grundlage, die aufgrund des Zentrums im Sichverwundern und in der Frage als MetaMeta...etc.-Ebene einen unendlichen Regreß erzeugt, der auf das Unendliche verweist. Das Allgemeine im dichterischen, wissenschaftlichen und philosophischen Text steht bei Strauß mit dem Unendlichen und der Hermetik in einer gegenseitigen Beziehung, die der nachmoderne Blick als kybernetisch bezeichnen würde. Damit thematisiert Strauß ein Verhältnis, das seit dem Beginn der abendländischen Kultur eine untergründige Spannung aufrecht erhält. Aristoteles deutet jede SeinsGrundlage, auf der das Sein eines nicht unbedingt Seienden beruht, als Ursache. Die Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache als Beziehung zwischen Ursache und Wirkung wird Kausalität genannt. Die Erkenntnis der Um-Welt ist für den Rationalismus der griechischen Antike eine Erkenntnis unter Verwendung des Erkenntnismusters der Ursache. 2 Kausalität ist analog der Darstellung eines Zusammenhangs über eine Kausalreihe, die - über "wenn" nach "dann" - in eine Richtung weist: wenn die Veränderung der Um-Welt von Α nach Β geht, kann sie 1
2
Aristoteles: Aus der ältesten Metaphysik, in: ders: Hauptwerke, übers, v. Wilhelm Nestle, Stuttgart 1977, S. 41 f. Umberto Eco: Das Irrationale gestern und heute, in: ders.: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, S. 376-390, hier S. 377.
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nicht von Β nach Α gehen. Die vorgestellte Einbahnstraße der Kausalreihe rekurriert auf drei Grundsätze: auf den Identitätsgrundsatz (A=A), auf den Grundsatz der Unzulässigkeit des Widerspruchs (wenn etwas Α ist, dann ist es nicht synchron nicht A), und auf den Grundsatz des ausgeschlossenen Dritten (A ist entweder wahr oder falsch). Die Vorgehensweise im Denk-Raum des abendländischen Rationalismus resultiert aus diesen Grundsätzen, sie abstrahiert sich so: wenn x, dann y. Nun ist x, also y. Als funktionierende Konvention kopiert sie der Rationalismus des römischen Systems vom Rationalismus der griechischen Polis und überliefert sie in die Vorstellungswelt der abendländischen Kultur der Gegenwart. Jedoch bestimmt noch ein anderes Erbe Athens die Grundlagen der westlichen Kultur. Neben Aristoteles gibt es auch die Eleusinischen Mysterien. Die griechische Welt unterliegt ständig dem Sog des apeiron (des Unendlichen). Das Unendliche ist das, was keinen Modus hat. Es entzieht sich der Norm. Berückt vom Unendlichen erarbeitet die griechische Kultur neben dem Konzept der Identität und des Nichtwiderspruchs die Vorstellung von der ständigen Metamorphose, deren Sinnbild Hermes ist. Hermes ist unbeständig, vieldeutig, Vater aller KUnste, aber auch Gott der Diebe, iuvenis et senex zugleich. Im Hermes-Mythos werden die Prinzipien der Identität, des Nichtwiderspruchs, des ausgeschlossenen Dritten verneint, die Kausalketten winden sich spiralförmig um sich selbst, das Nachher kommt vor dem Vorher, der Gott kennt keine räumlichen Grenzen und kann, in unterschiedlichen Formen, an mehreren Orten gleichzeitig sein. 3
Höhepunkt eines solchen Denkens ist das zweite Jahrhundert, in dem innerhalb der politischen Ordnung des römischen Reichs eine Vielzahl von Völker, Ideen und Religionen toleriert werden. Da nun mehrere Wahrheiten existieren, gerät das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten, ein Konstituens des rationalen Modells, in die Krise, der Synkretismus beherrscht das Denken. Für Strauß ist ein solches Denken nahe am Ursprung, auch das Gehirn denkt am Ursprung nicht linear, im "Zentrum" der Kultur besetzt das Volk der "Synkreas" in Strauß' Roman "Der junge Mann" den Mittelpunkt, der als Punkt kein Selbst hat. Da nun kein Text mehr allein die Wahrheit sagen kann, muß die Wahrheit in jedem Text sein. Der Widerspruch kann nur wahr sein, wenn in den sich widersprechenden Texten jedes Wort eine Anspielung, eine Allegorie ist.4 Die wahre Botschaft ist also als Offenbarung jenseits aller Texte zu suchen. Das Dunkel und das Geheimnis sind somit eher geeignet, als Wahrheit zu fungieren: "Die Götter sprechen (heute würden wir sagen: Das Sein spricht) in hieroglyphischen und enigmatischen Botschaften." 5 Da das Wissen der Zeit nicht direkt eine Wahrheit erkennen läßt, muß diese außerhalb der Zeit und damit auch seit Anbeginn der Zeit existieren. Zwar muß sie jemand irgendwo aufbewahrt haben, aber wir können den Text nicht mehr verstehen und haben ihn vergessen. Nur der andere, der Fremde, der von den griechischen Rationalisten so genannte Barbar besitzt den anderen, schwer verständlichen Text, der die Offenbarung sein könnte. "War dem griechischen Rationalismus das wahr, was erklärt werden konnte, so ist jetzt nur mehr das Unerklärbare wahr." 6 Für Strauß ist der Fremde, der in den Gedankenstrom des Individuums als Epiphanie einbricht, in
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Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation, München 1995, S. 61. Eco: Das Irrationale gestern und heute, a.a.O., S.379ff. Eco: Die Grenzen der Interpretation, a.a.O., S. 63. Eco: Die Grenzen der Interpretation, a.a.O. S. 63.
seiner Abwesenheit im Modus "Niemand anderes" ein letzter Haltepunkt. Die Grundfrage lautet immer: Was bedeutet die Welt? In einer sich globalisierenden Welt der Nachmoderne, die in ihrer synkretistischen Dimension der Hermetik des zweiten Jahrhunderts ähnelt, versucht Strauß das paradoxe Unternehmen, eine unendliche Vielfalt in den Be-Griff, in den eigenen Text zu bekommen. Daß er an der Komplexität scheitern muß, weiß er, und genau in diesem Scheitern liegt die Öffnung zum ganz anderen. Strauß, der sich selbst als Esoteriker bezeichnet, steht damit in einer Tradition, die auch vom jüdischen Schriftverständnis ausgeht: da jedes Wort bedeutungsträchtig ist, wird dem Text mehr und mehr ein versteckter, nur von Kundigen zu entschlüsselnder Sinn unterlegt. All dies kann sich mit einer Allegorese griechischen Ursprungs verbinden, die selbst in ganz unphilosophischen Texten philosophische Aussagen entdeckt. Die Gefahren, die heute einem esoterischen Denken drohen, welches nicht mehr in einem religiösen Kontext stattfindet, ist nach Eco die völlige Beliebigkeit der Interpretation. Man kann, historisch gesehen, zwei Versionen einer Methode der Interpretation als Extreme definieren: Bei der einen nimmt man an, daß das Interpretieren eines Textes bedeutet, die vom Autor gemeinte Bedeutung herauszuarbeiten oder jedenfalls seine objektive Beschaffenheit, sein Wesen, das als solches von unserer Interpretation unabhängig ist. Bei der anderen wird angenommen, daß die Texte bis ins Unendliche interpretiert werden können. Diese Einstellung den Texten gegenüber spiegelt eine entsprechende Einstellung gegenüber der Außenwelt wider. Interpretieren heißt auf den Text der Welt oder die Welt eines Textes durch Herstellen anderer Texte reagieren. Sowohl die Erklärung des Funktionierens des Sonnensystems aufgrund der von Newton aufgestellten Gesetze, wie auch das Formulieren einer Reihe von Sätzen über die Bedeutung eines bestimmten Textes - beides sind Formen der Interpretation. Das Problem besteht also nicht im Diskutieren der alten Vorstellung, daß die Welt ein Text ist, den man interpretieren kann (und umgekehrt), sondern in der Entscheidung, ob sie eine feste Bedeutung, eine Mehrheit von möglichen Bedeutungen oder, im Gegenteil, keine Bedeutung habe. Die beiden oben erwähnten Optionen sind Beispiele für epistemologischen Fanatismus. Beispiele filr die erste sind verschiedene Typen von Fundamentalismus und verschiedene Formen von metaphysischem Realismus (etwa bei Thomas von Aquin oder bei Lenin in Materialismus und Empiriokritizismus). Hier wird die Erkenntnis als adaequatio rei et intellectus aufgefaßt. Die andere Option findet man ganz sicher in dem, was ich [...] als hermetische Semiose bezeichnet habe. 7
Während Eco die Ökonomie und den kulturellen Rahmen als minimalen Konsens in der Gesellschaft als "Grenzen der Interpretation" sieht, nimmt Strauß im großen Archiv die Welt als Text wahr, in der sich Ordnung und Auflösung als zwei Seiten einer abwesenden Einheit offenbaren und als Wechsel von Attraktor zu Attraktor die Zeit vorantreiben. So ist die Interpretation als Ordnungsfaktor zwar immer notwendig, trägt aber als "Lüge" den Keim der Auflösung bereits in sich. Das Spiel der Interpretationen verweist dann auf das Sein, das dem Seienden vorangeht, obwohl es sich verbirgt. Heidegger steht hier gegen Aristoteles. Für Strauß ist die Reflexion nur eine Erhebung, die sich vom Ursprung entfernt hat. Sie ist die Bedingung der Wahrnehmung, aber nicht das Existentielle, denn ihre "Ursache" liegt in einem "Bereich", wo es keine Ursache gibt. Dieser "Bereich", der aus der Sicht der Aufklärung paradoxerweise das Eine als der Widerstreit der Vielen ist, ist der Heraklitische "Logos". Über diesen Bereich kann nichts ausgesagt werden, jeder
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Eco: Die Grenzen der Interpretation, a.a.O., S. 425.
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Text und jede Reflexion kann nur seine Abwesenheit bestätigen. Da Strauß selbst Texte verfaßt, sind auch diese interpretierbar und vom Ursprung entfernt, sie sollen aber vom Verlust des Paradieses künden, das vor der ersten Differenzierung durch die Wörter zu situieren ist, von dem aber nie gesprochen werden kann.
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5. Die Welt als Buch
Der Name ist nicht einerlei mit der Sache. Der Name ist artikulierter Schall, welcher die Sache bezeichnet und andeutet; der Name ist kein Teil der Sache oder ihres Wesens; es ist ein fremdes Teilchen, das der Sache beigefügt wird und außer ihr besteht. Gott, der einzig und allein in seiner eigenen Fülle besteht und die Fülle aller Vollkommenheit ist, kann in sich selbst weder wachsen noch sich vergrößern. Sein Name aber kann wachsen und zunehmen durch das Lob und den Preis, den wir ihm über seine geoffenbarten Werke beilegen: welche Lobpreisung wir ihm um so weniger einkörpern können, weil bei ihm kein Zuwachs am Guten möglich ist. Wir richten solche also an seinen Namen, welcher etwas außer ihm, aber ihm am nächsten ist. Dies ist die Art und Weise, wie Gott allein alles Lob und alle Ehre gebührt.1
Michel de Montaigne spricht hier von der Welt der Namen, die getrennt von Gott und den Objekten existieren, die aber dennoch wesentlich und unentbehrlich sind, um die Welt zu generieren. Wenn zur "Welt kommen [.] zur Sprache kommen" (Peter Sloterdijk) bedeutet, die "Verwörterung der Welt" (Herodot) das Resultat abendländischer Geistesgeschichte ist, die Welt als Sprache (Martin Heidegger), als "Bibliothek von Babel" (Jorge Luis Borges) existiert, dann ist eine "Lesbarkeit der Welt" (Hans Blumenberg) die Möglichkeit, die Einschränkung und die Forderung an das Individuum. So ist die Wirklichkeit abhängig vom Willen, Erkenntnis und Wissen zu erlangen, sie wird nach Jacques Lacan aufgrund der Sehnsucht nach dem Ganzen durch die Signifikanten getrieben und bekommt dadurch ihren immer nur begrenzt gültigen und zugleich ungültigen Rahmen. Das Foucaultsche große Archiv beinhaltet alle Zeiten und Räume als Bücher, deren Vielzahl an Perspektiven den Beobachter ruhelos und ortlos werden läßt. Ein Punkt im Raum, der ohne Ausdehnung kein Selbst hat, obwohl er existiert, wird zum Mittelpunkt der Welt, der, da er nie teilbar ist, aus nichts besteht, obwohl sich alles um ihn dreht. Die Aufhängung des "Foucaultschen Pendels" ist ein Mittelpunkt der Welt, der jegliche Suche nach dem Ursprung als Fixpunkt und einer Kausalität als Metaebene auf sich selbst zurückführt. Jeder Signifikant verweist nur wieder auf einen anderen Signifikanten, das Zentrum liegt im sich bewegenden Text, im Spiel der Wörter, in deren reinen Selbstbezüglichkeit.
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Michel de Montaigne: Über Lob, Preis und Ruhm, in: ders.: Essays, übers, v. Johann Joachim Bode, hg. v. RudolfNoack, Leipzig 1990, S. 154-170, hier: S. 154.
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6. Gleiten über die Grundlosigkeit des Textes
Das Treiben der Signifikanten konstituiert aber keinen festen Grund. Die von Nietzsche angekündigte, von Stöphane Mall arm έ vorbereitete Verschiebung des Zentrums zur Sprache und zur Schrift und die von Ferdinand de Saussure vorgedachte Abtrennung des Signifikanten vom Signifikat hat ein grundloses Denken zur Folge: die Interpretation der Interpretation der Interpretation etc. korreliert als unendlicher Regreß mit dem Beobachter des Beobachters des Beobachters etc. Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein als die Gravitationszentren der Hermeneutik und der Sprachphilosophie im 20. Jahrhundert begründen die Grundlosigkeit, über die die gegenwärtig aktuellen Vorstellungswelten von Jacques Lacan, Michel Foucault, Jacques Derrida auf der einen und Paul Watzlawick, Niklas Luhmann auf der anderen Seite so schnell gleiten, daß sie nicht einbrechen. Verschärft wird die Absturzgefahr durch die Thesen der Chaostheorie und durch logische Figuren ä la George Spencer Brown.
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7. "Ich", der andere und der Text
Während die Wissenschaft planmäßig und auf das Objekt bezogen agiert, ist ftir die Kunst "Alles" mit jeder Vorgehensweise das Wahrzunehmende und zu Studierende. Die abendländische Kultur orientiert sich an drei Zentren: Das "Ich", der andere und der Text. Von diesen muß der Schriftsteller ausgehen, auch wenn er darüber hinausgehen will. Botho Strauß' Denken und seine Texte gehen über das "Ich", den anderen und den Text als Text nicht hinaus, alles andere ist Schweigen. Dabei fallen alle drei Bedeutungen in einen Punkt und gleichzeitig wieder auseinander und erzeugen die Spannung, von der Strauß' Texte berichten. Diese drei Bedeutungen sind auf der Suche, stehen in der Frage nach dem ganz anderen. Eine punktförmige und zugleich ausgedehnte Existenz führt zu Paradoxien derselben Art wie Zenons Pfeil und diese Paradoxien machen in Strauß' Texten einen Teil ihres hermetischen Charakters aus: Wie sind wie Quarks, Wesen ohne jede Ausdehnung, weniger als ein Punkt in der Dauer, und immer zu dritt und unzertrennlich wie Raum und Zeit. Es ist nichts geschehen; unser Leben - die Zwischenzeit - war ein Ereignis auf der untersten, unbestimmbarsten Szene der Materie. Ein Ich, ein Haus, ein Gast. Masselos und ungemessen. (FU 65)
Das "Ich", das "Haus" der Sprache und der andere als "Gast" sind Subjekt und Objekt zugleich, im erlebenden Individuum trifft sich der Text selbst, die Welt als Text beinhaltet den Menschen als Text während der Kopf des Menschen als Text die Welt als Text enthält. Die philosophische Frage, ob der Mensch frei ist oder determiniert, wird von Strauß' Denken in den unendlichen Regreß getrieben und hat so die paradoxe Antwort Ja/Nein/Ja etc., denn diese Frage selbst ist ein Text, der wieder aus dem durch den Text bestimmten Bewußtsein stammt.
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8. Das Bewußtsein des Bewußtseins
Die Funktion des Bewußtseins in der Welt als Text im Text spiegelt sich in Peter Handkes "Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" und als Abstraktion im "ReEntry", der logischen Form aus den Abstraktionen des George Spencer Brown. Das Differenzierungsmuster kopiert sich wiederum in sich selbst. Die Differenzierung System/Umwelt wird noch einmal im System durchgeführt. Claude L6vi-Strauss ist der Meinung, daß dem Mythos eine unbewußte Struktur eignet, in der sich das Aktions-Muster des menschlichen Geistes reflektiert. Der Mythos als ein früher Versuch, die Welt zu erzählen und zugleich eine Erzählung, die die Wahrnehmung der Welt erst möglich macht, da sie die Koordinaten erstellt, ohne die eine Kommunikation und eine Orientierung nicht möglich ist, ist der Vor-Text aller uns heute bekannten Texte, seien sie nun religiöser, literarischer oder wissenschaftlicher Provenienz. So ist seit Beginn des abendländischen Denkens die Welt nur zugänglich über den Text. Ob dieser Text nun als Mimesis oder als Simulation gedeutet wird, ist egal. In keinem Fall kann der Text übergangen werden, die Welt muß wie jeder Text gedeutet, mit Sinn erst erfüllt werden. Das neuzeitliche Unternehmen, das Fundament der Welt als Materie zu erkennen, generiert aus sich selbst mit Kant einen philosophischen Antipoden. Auch die Physik als "Königin" der Naturwissenschaft entfernt sich am Ende des 20. Jahrhunderts von der Annahme einer elementaren Separation der Materie vom Text. Selbst die Vorstellung über das erkennende Gehirn ist als "Theoriegefuge [...] als historisch gewachsene Konstruktion zu begreifen." 1 John R. Searle fragt alle Materialisten provozierend: Wie kann es beispielsweise sein, daß die Welt nichts außer Materie-Teilchen ohne Bewußtsein enthält und trotzdem auch Bewußtsein in ihr ist? Wie kann ein mechanisches Universum Menschen mit Intentionalität enthalten - das heißt Menschen, die für sich die Welt repräsentieren können? Kurz, wie kann eine wesentlich bedeutungslose Welt Bedeutung enthalten?2 Ohne den Akt der Interpretation ist die Natur nicht einmal Natur, denn Natur ist selbst ein Zeichen, für das ein Signifikat erst gefunden werden muß. In der Psychologie zeigt die Hypothesentheorie der Wahrnehmung, daß jede Wahrnehmung nur mit Hilfe der im Kopf des Individuums persistierenden Einstellungen gelingt. Die Einstellungen des Menschen oder einer Gruppe determinieren als Mentalitäten die materielle und kulturelle Wirklichkeit: Die Geo-Historie der Raum-Zeiten des materiellen Lebens und die Ethno-Historie der Mentalitäten entwickeln sich in ein und derselben Spannung, in der das Wortereignis dazu 1
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Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1997, S. 21. John R. Searle: Geist, Hirn und Wissenschaft, Frankfurt 1986, S. 12.
neigt, in seiner Territorialisierung zu verschwinden, bis zu dem Punkt, an dem die Historie, damit sie nicht ihrerseits verschwindet, den getilgten Bindestrich von neuem ziehen muß. 3
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Jacques Raneifere: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt 1994, S. 113.
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9. Die Anwesenheit der Abwesenheit
"Wo ein Bild ist, hat die Wirklichkeit ein Loch" (TdW 42) und es bezeugt mit seiner Anwesenheit nur die Abwesenheit des Realen. Strauß' Rezeption der (Neo-) Strukturalisten befördert die grundsätzliche Abwesenheit des Wesentlichen zum Thema jedes seiner Theatertexte. Das Wort aus dem unendlichen Buch des Jorge Luis Borges gibt dem Individuum den Halt zum Preis seiner Versklavung durch das Wort. Das Wort, dessen Bedeutung nicht mehr eindeutig ist, wird zum Mittelpunkt, der ewig entgleitet. Schon in Strauß' erstem Theatertext werden die "Gebrüder Spaak" gewaltsam getrennt, der Signifikant bleibt bindungslos zurück. Jacques Lacans "Begriff des Signifikanten" diskutiert die Anwesenheit der Abwesenheit. Strauß liest sehr früh die (neo-) strukturalistischen Theoretiker, er nimmt wie Peter Handke einen Trend auf, der Mitte der sechziger Jahre in Frankreich gegen die Dominanz der "littdrature engagie" opponiert. Der Signifikant ist nun von zentralem Interesse, gelangt aber erst seit den sechziger Jahren als wesentlicher Bestandteil der strukturalistischen Woge zur vollen Bedeutung. In diesem Zusammenhang erschließt sie, was Jean-David Nasio die "Nabel'-Bedeutung eines Begriffs nennt, also seine Entstehensbedingungen und seine Entwicklung. Aus dieser signifikanten Struktur heraus wird sich, einer doppelten Logik von Orten und Kräften folgend, eine Dialektik entwickeln. Diese Dialektik, die den Primat des Signifikanten über das Signifikat zugrunde legt, setzt somit die Welt als Phantasma und kennzeichnet die Ordnung der Dinge als der Sprache (langage) untergeordnet. In diesem Sinne gehört die signifikante Kette, wenngleich sie aus einem sehr freizügigen Umgang mit der Saussureschen Auffassung erwächst, dennoch zu einer allgemeineren, typisch strukturalistischen Konzeption, welche die Sphäre des Diskurses autonomisiert und die Ordnung der Dinge aus der Ordnung der Wörter errichtet. Die Welt wird nur noch durch den Signifikanten des Mangels zusammengehalten, durch 'das Ding', das Lacan von Heidegger übernimmt, um die Vierteilung in Erde, Himmel, Menschen und Götter zu benennen. 'Das Ding dingt Welt', heißt es bei Heidegger, doch wie bei ihm 'trägt [das Ding] dieses Geviert, weil es im wesentlichen durch eine Leere konstituiert wird'. Der Raster der Welt schreibt sich damit aus einem zentralen Mangel ein, der die Bedingung ihrer Einheit ist.1 Das Fehlen des transzendentalen Signifikats und der zentrale Mangel in der Immanenz der Wörter initiiert dann Ende der siebziger Jahre bei Strauß eine Suche nach Fixpunkten, letzten Endes nach Sinn im Entgleiten, in dem durch das unendliche Archiv gespeisten Treiben der Signifikanten. Der Ausgleich des Mangels, der natürlich nie gelingt, wird dennoch und gerade deshalb versucht, Heideggers "Frage" als "Frömmigkeit des Geistes" evoziert auch die Hinwendung zur Mystik und zur Gnostik.
Francois Dosse: Geschichte des Strukturalismus. Band 1: Das Feld des Zeichens, 1945— 1966, Hamburg 1996, S. 354. 16
10. Der Dichter und der Existentialismus Und so bewegen wir uns hier ständig im Kreise. Das ist das Zeichen, daß wir im Bereich der Philosophie uns bewegen. Überall ein Kreisen. Dieses im Kreise sich bewegen der Philosophie ist wieder etwas, was dem vulgären Verstände zuwider ist. Er will gerade ans Ziel kommen, so, wie man der Dinge im Handgriff habhaft wird. (Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik)
Strauß folgt Heidegger und interessiert sich für die Philosophie der Vorsokratiker, insbesondere für den Heraklitischen "Logos" als Einheit der Vielheit, für die VorTexte von Heidegger wie Paulus, Meister Eckehart und Kierkegaard, das existentialistische Denken löst das dialektische ab: "Soziale Demokratien brauchen keinen Heilshorizont. Viel eher der einzelne Freie, das aufgerichtete Bewußtsein wird seiner bedürfen." (AW 306) Dieses Zitat von Strauß reflektiert seine Bewegung weg von der Kritischen Theorie, hin zum Existentialismus. Heidegger als Kierkegaard nachfolgend dominierender Philosoph des Existentialismus begegnet in seiner Analyse der Existenz der Vorstellungswelt der abstrakt-reduktionistischen Ontologie vom Menschen als wissenschaftlichem Objekt mit seiner Fundamentalontologie, welche die humane Existenz als Dasein sieht. Dieses Dasein als Sorge mit der fundamentalen Struktur der Existentialien setzt sich in Opposition zu der Wahrnehmungswelt von Allgemeinheit, in der mithilfe von Explikation und Logik eine Kognition der vernünftigen Ein- und Zurichtung des Individuums in der es umgebenden Welt versucht wird. Somit unterläuft Heidegger die im Subjekt fixierte Vernunft, die Legitimation einer Metaphysik ist, welche den Menschen als Zentrum des Seienden betrachtet. Subversiv im Verhältnis zum neuzeitlichen Welt-Text, der dem Willen zur Macht, dem Übermenschen, den Nietzsche als Halteform im Nihilismus setzt, als Grundlage dient, verhalten sich die Kritiker der im Subjekt verankerten Vernunft. Während Adorno noch das Subjekt erhalten will, da es sich als etwas nicht mit sich selbst Identisches vorzustellen hat, unterläuft Heidegger die nicht fixierbare Identität des Subjekts, die ihr Fundament in der Regentschaft des Seienden hat.' Denken, Sprechen und Sprache sind für Heidegger nicht differenziert, vielmehr wirken sie im gegenseitigen Rekurs aufeinander und zusammen. Der Logos als die Rede über die Um-Welt läßt die Dinge, von denen die Rede ist, in zweifacher Hinsicht als zu Sehendes wirksam werden: als sichtbar und als Gesehenes, das durch die Rede festgelegt werden kann. Für Heidegger untersucht "Logik als Wissenschaft von der Rede [...] das Reden in dem, was eigentlich ist, d.h. in diesem Offenbaren. Für die Logik ist die Rede Thema im Hinblick auf deren Grundsinn: Welt und menschliches Dasein, überhaupt Seiendes sehen zu lassen." 2 Die Wahrheit als Sichtbar-werden-lassen ist allein mithilfe der Ent-Deckung in der Rede zu finden. Heidegger präferiert als Mittel der Ent-Deckung in der Sprache die Poesie.
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Vgl. zu Heidegger: Rolf Günther Renner: Die postmoderne Konstellation. Theorie, Text und Kunst im Ausgang der Moderne, Freiburg 1988, insbes. S. 183ff. Martin Heidegger: Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Frankfurt 1976, S. 6.
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Grund dafür ist das Vermögen der Poesie, die Vorbedingung, die Grundlage der Sprache selbst auf der Bühne der Um-Welt zu zeigen. Das Sein ist der zentrale Ausgangspunkt einerseits der empirischen Sprache. Andererseits zugleich derjenigen Sprache, welche das Sein zu entdecken und mitzuteilen hat, obwohl die Sprache das Sein selbst nicht ist. Die Sprache, die das Sein mitteilt, ist dem (poetischen) Denken als Ziel vorgesetzt: "Das Denken bringt nämlich in seinem Sagen nur das unausgesprochene Wort des Seins zur Sprache." 3 So ist auch bei Strauß schon alles vorhanden, diese Vorstellungswelt begründet seinen Konservativismus, denn nicht der Fortschritt, sondern der Rückgriff erweitert die Möglichkeiten des Individuums. Das Symbol des Seins ist bei Strauß der "Nanos", der bei seiner Geburt in der Singularität alle Möglichkeiten des Seins in sich trägt und mit der sofort beginnenden Aufnahme und Annahme von Kultur in der Bevorzugung von ihm beigebrachter Ideen gleichzeitig die unendlich vielen alternativen Ideen unterdrückt. Als Erwachsener lebt er mit dem Halt der dann erstarrten Ideen. Wenn diese angezweifelt werden oder nicht mehr funktionieren, dann erleidet das Individuum "Weltfremdheit": Der theologische Zweifel kann als Exerzitium dienen, um bis an den Nullpunkt jeder Gewißheit vorzustoßen, dem Gedanken Zuflucht um Zuflucht zu verweigern, ihn ohne Schutz in die kälteste Zone der Erkenntnis zu verwerfen, in den Abgrund der restlosen Zugehörigkeit alles Menschenerdenklichen zur Welt und zum Weltganzen: all das Heilige bloß Ordnungsbedarf, Mangelausgleich, autokatalytische Warme, Bindungsangebot! Dieser Schock der ausweglosen Immanenz erzeugt schließlich Weltfremdheit: absolute Verlorenheit. Wer sie erfährt, steht zunächst lediglich vor dem Gesetz, von dem er sich losmachte; dann aber, eines Nachts, steht er auch nicht mehr im Blick eines anderen Menschen, sondern steht davor eisig allein. Das Davor-Sein verfolgt ihn nicht, es straft ihn nicht, es ist nur da und setzt ihn aus. Wie ein Raumfahrer, den man auf einem fremden Planeten zurückließ. Obwohl doch unter Menschen, obwohl doch scheinbar überall verständigt, hat freilich die Abtrünnigkeit in ihm keinen Halt gemacht und ist er, ohne seinen Willen, weiter gefallen, aus der Welt hinaus. (BL 72f.)
In diesem Zitat vermischt sich gnostisches mit existentialistischem Gedankengut, zwei Vorstellungswelten, die sich nicht ausschließen, denn nach Umberto Eco kann "eine gnostische Inspiration im Existentialismus und besonders bei Heidegger (das Dasein als 'Geworfensein' in die Welt, das Verhältnis zwischen weltlicher Existenz und Zeit, der Pessimismus)" 4 konstatiert werden. Auch der Neo-Gnostiker Peter Sloterdijk spricht in seinem Buch "Weltfremdheit" im Zusammenhang mit Heidegger von dem "unfreiwillig erlittene[n] Entzug von Welt".5 Angst darf keineswegs mit Furcht gleichgesetzt werden, die auf ein Ding bezogen ist, sondern wird von Heidegger im Rekurs auf Kierkegaards Definition der Angst erörtert, in der der Terminus als Begriff für objektlose emotionale Wahrnehmungslandschaften eingesetzt wird. Die perzipierte Ursache der Angst ist bei Heidegger das In-der-Weltsein. Wir können nicht sagen, wovor es einem unheimlich ist. Im ganzen ist einem so. Alle Dinge und wir versinken in eine Gleichgültigkeit. Dies jedoch nicht im Sinne eines bloßen Verschwindens, sondern in ihrem Wegrücken als solchen kehren sie sich uns zu. Die3 4
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Martin Heidegger: Über den Humanismus, Frankfurt 1981, S. 52. Umberto Eco: Das Irrationale gestern und heute, in: ders.. Über Spiegel und andere Phänomene, München 1988, S. 9 - 2 4 , hier S. 21. Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, Frankfurt 1993, S. 322.
ses Wegrücken des Seienden im ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns. Es bleibt kein Halt. Es bleibt nur und kommt nur über uns - im Entgleiten des Seienden dieses 'kein'. Die Angst offenbart das Nichts. Wir 'schweben' in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im ganzen zum Entgleiten bringt. Darin liegt, daß wir - diese seienden Menschen - inmitten des Seienden uns mitentgleiten. Darum ist im Grunde nicht 'dir' und 'mir' unheimlich, sondern 'einem' ist es so. Nur das reine Dasein in der Durchschütterung dieses Schwebens, darin es sich an nichts halten kann, ist noch da." 6
Das Erleben der Angst als ein Ausgesetztsein in das Nichts rückt das Dasein aus der konventionellen, normalen Situation des besorgenden Handelns und entdeckt so das Sein. So ist für Heidegger die existentialistische Angst eine Grundbedingung, denn für ihn positioniert sich das Dasein in der Lage der Uneigentlichkeit, der Seinsvergessenheit, die sich nicht daran erinnern kann, daß Dasein auf eine grundlegende Verbindung zum Sein basiert und ein Sein zum Ende ist. Das Heideggersche "Entgleiten des Seienden" und das gnostische unaufhaltsame Wegschlittern des Sinns thematisiert Strauß in Bezug auf die Sprache so: Das Wesen des Sprechenden besteht nun aus Flucht. So sehr er sich zusammenfassen will, strebt doch das Innerste auswärts, auswärts immerzu, den alten, oft durchquerten Korridor entlang, an den die halbgeöffneten Türen grenzen, Spalten, durch die man Menschen nur in Umrissen, Begebenheiten nur filr Sekunden wahrnimmt. Da man in kein Zimmer hineingehört, sondern in diesem unsäglichen Haus nur laufen kann, nicht wohnen, einem unbekannten Ausgang zustrebt, während Haut und Geist schon verderben und nur der Flur sich unabsehbar verjüngt, wird man hier nie ausruhen können, wird man, wenn's einer bezeugen müßte, hier auch nie gewesen sein. (BL 43)
Das Leben als Sein zum Tode und als Haus, das aufgrund des andauernden Wegschlitterns des Sinns nicht bewohnbar ist. Heidegger erklärt die Alternative: "Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten des Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Schonen des Gevierts."7 Somit intendiert Heidegger, daß das Individuum nicht die Dinge besetzt, vielmehr durch Schonen in ihrem Wesen läßt. Wohnen zeigt bei Heidegger auf das Denken und somit auf die Sprache: Weil die Sprache das Haus des Seins ist, deshalb gelangen wir so zu Seiendem, daß wir ständig durch dieses Haus gehen. Wenn wir zum Brunnen , wenn wir durch den Wald gehen, gehen wir schon immer durch das Wort 'Brunnen', durch das Wort 'Wald' hindurch, auch wenn wir diese Worte nicht aussprechen und nicht an Sprachliches denken. 8
"Nur insofern der Mensch spricht, denkt er; nicht umgekehrt, wie die Metaphysik es noch meint."9 Wenn also die Sprache das Leben ist, dann bedeutet Dichtung für Heidegger das Wohnen: "Das Dichten erst bringt den Menschen auf die Erde, bringt ihn so in das Wohnen."1" Für Strauß ist der Dichter der Erste unter den Denkern: "Man möge so viele Lichter, Intelligenzen prüfen, wie es gefällt: das poeti6
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Martin Heidegger: Phänomenologie und Theologie, in: ders.: Wegmarken, Frankfurt 1978, S. 323. Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken, in: Vortrage und Aufsätze, Teil II, Pfullingen 1967, S. 25. Martin Heidegger: Wozu Dichter, in: ders.: Holzwege, Frankfurt 1972, S. 286. Martin Heidegger: Was heißt Denken, Tübingen 1971, S. 51. Martin Heidegger: "... Dichterisch wohnet der Mensch ...", in. ders.: Vorträge und Aufsätze, Teil II, S. 66.
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sehe bleibt das beste." (BL 26) Durch die Dichtung generiert sich die wörtliche Um-Welt. Die Göttlichen und die Sterblichen, Himmel und Erde erfaßt das "Geviert", welches von den Dichtern aber erst kreiert werden muß. Diese dichten aus der Fülle der Möglichkeiten des anhaltend Bereitstehenden, das zu entdecken ist: Nur Sprache selbst kann auf eine sinnliche, partikuläre, nichthistorische Weise Vergangenheit, Zeitenstaub enthalten, Sprache, die ihrer Herkunft nach eine aus Werken gebrochene Sprache ist, also eine aus erhöhtem Bewußtsein hervorgegangene, die neues erhöhtes Bewußtsein schafft. Dies macht vielleicht den tieferen Sinn von Muttersprache aus. In einer fremden trägt einen die Eigenerinnerung der Sprache nicht. (BL 78)
In jedweder Sprache ist das Noch-Nicht-Gesagte versteckt, das bereit ist zu seiner Entdeckung: Indes die Sprache spricht. Sie befolgt zuerst und eigentlich das Wesen des Sprechens: das Sagen. Die Sprache spricht, indem sie sagt, d.h. zeigt. Ihr Sagen entquillt der einst gesprochenen und bislang noch ungesprochenen Sage, die den Aufriß des Sprachwesens durchzieht. Die Sprache spricht, indem sie als die Zeige, in alle Gegenden des Anwesens reichend, aus ihnen jeweils Anwesendes erscheinen und verscheinen läßt. Demgemäß hören wir auf die Sprache in der Weise, daß wir uns ihre Sage sagen lassen."
Da Sprache und Rede ein Sichtbarmachen der in der Gegenwart unsichtbaren Wahrheit ist, hat das Verstehen bei Heidegger (und bei Strauß) sein Fundament nicht im Subjekt, sondern im Sein. Resultat dieses Perspektivenwechsels ist eine erkenntnistheoretische Dezentrierung des Subjekts. Das Sein und die Sprache als das Refugium der Wahrheit sind dem zeitlichen Vorhandensein vorgeschaltet. Heideggers nachmetaphysische Vorstellungswelt, die das Subjekt als sprachliches Zeichen inszeniert, welches synchron jedoch nicht im Subjekt zentriert ist, antizipiert einige Vorstellungswelten der postmodernen Philosophie. Jedoch stört die Heideggersche Vorgängigkeit von Sein die Ad-Libitum-Präsenz von Sprachspielen, die speziell für den Poststrukturalismus kennzeichnend sind. Die Setzung des Seins in Verbindung zum Geviert legt das Fundament einer Einheit, die in der Postmoderne schnell dekonstruiert wird.
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Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1975, S. 254.
11. Eros und Erkenntnis - zum emanzipativen Potential des Ästhetischen
Heideggers Fundamentalontologie trifft in der Vorstellungswelt von Strauß auf die frühe Prägung durch die Lektüre der Schriften von Theodor W. Adorno. Die Gemeinsamkeiten der beiden Philosophien überwinden in Strauß' Denken die Unterschiede, Adornos Total itarismus-Verdacht gegenüber dem Versuch, das Ganze begrifflich zu beherrschen, harmoniert nicht unerheblich mit Heideggers Mißtrauen gegenüber dem Seienden als letztgültige Wahrheit. Theodor W. Adornos vorrangiges Bestreben ist es, die Philosophie wieder in einer herrschaftsfreien Lage zu positionieren, um als Kritik an der Moderne deren Konsequenz in der Erscheinung von politischen und militärischen Ausformungen des Totalitären als Bilanz der "instrumentellen Vernunft" erkennbar zu machen und dazu Gegenentwürfe zu konstruieren. 1 Als die prominentesten und relevantesten philosophischen Arbeiten Adornos werden die "Negative Dialektik" und die "Ästhetische Theorie" angesehen. Ästhetik und Kunst im Zentrum der Analyse ist ein philosophischer Ausgangspunkt, der zuerst verwundern mag, scheint doch die Kunst nicht der primäre und geeignetste Medienzeitraum zu sein, in dem gesellschaftliche Interessendivergenzen oder gar der klassisch-marxistische Klassenkampf ihren Weg in die allgemeine Gesellschaft beginnen. Die Fokussierung des philosophischen Erkenntnisinteresses auf die Kunst resultiert bei Adorno aus der Einsicht, daß die Vorstellung von der Welt infolge der totale[n] Organisation der Gesellschaft durch big business und seine allgegenwärtige Technik so lückenlos besetzt ist, daß der Gedanke, es könnte Uberhaupt anders sein, zur fast hoffnungslosen Anstrengung geworden ist. Das teuflische Bild der Harmonie, die Unsichtbarkeit der Klassen in der Versteinerung ihres Verhältnisses gewinnt darum nur jene reale Gewalt übers Bewußtsein, weil die Vorstellung, es möchten die Unterdrückten, die Proletarier aller Länder als Klasse sich vereinen, angesichts der gegenwärtigen Verteilung von Ohnmacht und Macht aussichtslos erscheint.2 Die marxistischen Themen und Instrumente Interessenkonvergenz und Klassenkampf können nicht mehr zeitgemäß sein, denn das Proletariat als Träger der geschichtlichen Entwicklung der idealen Zukunft hat sich im Totalitarismus der faschistischen und stalinistischen Politik diskreditiert. Als Fluchtpunkt, welcher nicht mehr Zentrum der Weiterentwicklung, aber der Kritik sein kann, bleibt übrig der bürgerliche Intellektuelle als vereinzelter Deuter und Künstler. Diesem allein gesteht Adorno die Potentialität zu, der Vorherrschaft der Konvention zu widerstehen und einer "instrumentellen Vernunft" die Stirn zu bieten. Dabei geht es Adorno 1
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Hier wie im folgenden vgl. zu Adorno: Hans-Martin Lohmann: Adornos Ästhetik, in: Willem van Reijen: Adorno zur Einführung, Hannover 1980, S. 7Iff. Theodor W. Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, in: Gesammelte Schriften, Band VIII, Frankfurt 1970, S. 376. 21
weniger um ein marxistisches Modeil der Revolution, als um eine negative Dialektik, welche kaum mehr auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren als Grundlage der Revolution der bestehenden Ordnung setzt, da die in der Geschichte beobachtbare instrumenteile Vernunft selbst eine in ihrer Totalität unbeobachtbare soziale und gesellschaftliche Machtordnung und empirische Ordnung herausbildet, welche eine Autonomie des Individuums nur vortäuscht. Das Muster der Irrealität der marxistischen Revolutionstheorie in der Praxis und Adornos ästhetische Reaktion besitzt ein Äquivalent in der Frühromantik. Auch hier konstatiert man die praktische Unmöglichkeit einer idealen Revolution und geht in die ästhetische Opposition. Denn jedwede Revolution in der Moderne stabilisiert sich in einer das Individuum nur im Programm führenden absoluten Ordnung, welche das andere des Individuums negiert. Als Mittel der Kritik dient den Frühromantikern analog zu Adorno die Kunst, welche die repressive Vernunft nicht in toto negiert, sondern deren negative Folgen sichtet und sichtbar macht. "Eros und Erkenntnis" 3 in Adornos ästhetischer Theorie ist so das Ergebnis der Wirkung der Kunst in der Erkenntnis. Während es bei Hegel noch um eine Versöhnung von Wissen und Anschauung geht: "Das Sinnliche des Kunstwerks soll nur Dasein haben, insofern es für den Geist des Menschen, nicht aber insofern es selbst als Sinnliches für sich selber existiert,"4 treten bei Adorno die Theorie als das Behandeln der Objekte unter den Gesetzen der instrumentellen Vernunft und der Begriff des Ästhetischen auseinander. Letzterer, der Zeit-Raum des Mimetischen, konterkariert die Herrschaft der Vernunft, um eine totale Unterordnung des Subjekts unter den Vernunftsbegriff zu verhindern: "Ästhetisches Verhalten ist das ungeschwächte Korrektiv des mittlerweile zur Totalität sich aufspreizenden verdinglichten Bewußtseins." 5 In der Kritik an dem Subjekt der Transzendentalphilosophie, welches das andere in sich negiert, ähnelt Adornos "Ästhetische Theorie" dem Neostrukturalismus. Die Ablehnung eines einzigen und damit totalitären Sinns durch das Hineinwirken der unkonventionellen Kunst zerstört bei Adorno die Einheit der Identität im Subjekt. Jedoch hält Adorno noch am Begriff der Vernunft, welcher im Subjekt zentriert ist, fest: Der "Verzicht auf Sinn überhaupt gegenüber bloßem Tun, hat mittlerweile derart sich verbreitet, daß an Sinn überhaupt zu erinnern sich dem Verdacht romantischer Rückständigkeit aussetzt, wo in Wahrheit auf die raison d'etre von Kunst reflektiert wird."6 Adornos Anliegen ist, in der Vernunft im Subjekt den Zutritt für das andere im Umgang mit den Objekten frei zu halten. Dadurch daß er das Subjekt als ein Nichtidentisches vorstellt, experimentiert er mit der Möglichkeit, das Subjekt zu erhalten. Hier zeigt sich die Differenz zwischen Adorno und den Neostrukturalisten, denn diese nehmen fröhlich Abschied vom Subjekt als Zentrum der Vernunft. In der Philosophie Adornos begründet sich die Vorstellungswelt von Strauß, in dessen intellektueller Erziehung "die dialektische Schule eine große Rolle gespielt" hat und aus deren "Schulung" er "nie herausgetreten" ist und "da wahrscheinlich
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1990, S. 490. Georg W. F. Hegel: Ästhetik, Berlin 1955, S. 59. Adorno: Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 488. Theodor W. Adorno: Nervenpunkte der neuen Musik, Reinbek 1969, S. 96.
auch nie herauskommen wird." 7 Die von ihm vertretenen Positionen können ihre ursprüngliche Herkunft aus dem Denken der Kritischen Theorie nicht verleugnen. Adornos "Groß und klein" koinzidiert bei Strauß mit Heideggers "Seiendem" im "Sein", mit dem neostrukturalistischen Spiel, der konstruktivistischen Differenz zwischen dem Beobachter erster und zweiter Ordnung und der chaostheoretischen Intermittenz als Inseln der Ordnung im Chaos und des Chaos in der Ordnung. Tag und Nacht, "Linie" und "Fleck", "Paare" und "Passanten" werden bewegt und bewegen die Wörter im großen Archiv, jeder Übergang vom Sein zum Seienden ist ein Aufwachen: "Ich wache auf und weiß, ich werde lügen, lügen, lügen." (FU 43) Im Status des Wachens berührt Strauß die Sehnsucht nach dem Ursprung, nach dem "TEXT vor der Schrift".
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Volker Hage: Schreiben ist eine S6ance: Begegnungen mit Botho Strauß, in: Strauß lesen, hg. v. Michael Radix, München 1987, hier S. 199. 23
12. Das Heilige und das Profane: Mythos, Text der Moderne und das Undarstellbare.
Dem Ursprung, der die Vielheit in der Einheit vereint, ist der Mythos als Dichtung näher, er ist für Strauß nicht der "Mythos des Alltags"(Barthes), sondern in seiner Uneindeutigkeit zugleich offener und stabiler als der Begriff der Vernunft. Zum Verhältnis des Mythos zur Theorie in der gegenwärtigen Gesellschaft schreibt Norbert Bolz: Mit der Beschleunigung der Welt wächst das Bedürfnis nach Remythisierung, nach der Prägnanz und Bedeutsamkeit des Ereignisses - also nach "Nichttheorie", denn Theorie schließt Bilder und Geschichten aus. Der Mythos ist gleichsam ein Sicherheitsnetz von Geschichten, das über die Sinnlosigkeit gespannt ist. [...] an die Stelle der großen Erzählungen ist die 'Beobachtung 2. Ordnung' getreten.1 Für Strauß ist der Mythos als Dichtung wie für Hans Blumenberg dem Existentiellen näher als die Theorie. Das Heideggersche Hören des Seins, die Dichtung ist für Strauß ein Haltepunkt in der Sinnlosigkeit, der jedoch in der Zeit nach Nietzsche nur mehr als Markierung des Verlusts fungieren kann. Die Wörter kommen immer zu spät, das Existentielle hat bereits stattgefunden und im Sagen und eindeutigen Wahrnehmen ist es schon wieder verschwunden. Nur in der primordialen "Zeit", im "Paradies", vor der Luhmannschen ersten Differenz, gibt es Zusammenhang. Mit der Herrschaft der differenzierenden Wörter wird Sein zu Seiendem, Gemeinschaft zu Gesellschaft, Ich und der andere zu "Ich", getrennt vom anderen. Mit dem Biß in den Apfel des Baums der Erkenntnis beginnt das Denken, aber auch die Vertreibung. So fällt der Apfel als Ursache der Zwietracht in die Mitte des Festes, Paris muß sich entscheiden und der unumgängliche Ausschluß, die Zurückweisung hat den Trojanischen Krieg zur Folge. Heraklit sieht analog den Krieg als Vater aller Dinge, eine Gesellschaft ohne Zwietracht ist für ihn als statische unannehmbar. Hegels Interpretation des Heraklitischen Denkens funktioniert nicht, wie die Kriege und Totalitarismen des 20. Jahrhundert für Strauß beweisen, das Ende der Geschichte rückt nicht näher, die Zwietracht bleibt. Da für Strauß sich also nichts geändert hat seit dem trojanischen Krieg, vertritt er die Ansicht der Rechten, die die Wiederholung in der Geschichte als Konstante annehmen und entfernt sich deutlich vom Fortschrittsglauben der Linken. Der Fortschrittsglauben zeigt sich auf der schwankenden Bühne der Nachmoderne als Imagination, Homer hat bereits alles gesagt und Strauß ist als Dichter der zuständige Kopist. Wenn im Weltinnenraum nur gestritten wird und der Sinn abhanden gekommen ist, dann muß das ganz andere und das Ganze außerhalb der Immanenz der Wörter zu finden sein. Das Zentrum ist, wie schon Wittgenstein annimmt, außerhalb: "Es gibt allerdings Un-
Bolz: Die Sinngesellschaft, a.a.O., S. 230f.
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aussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische." 2 Das eigentliche Zentrum, über das man, so Wittgenstein, nur schweigen kann, wird auch von den Neostrukturalisten im Außen gesehen: Man kann hier in fast völliger Anlehnung an Lacans abschließende Sätze zum Spiegelstadium schreiben: In diesem Punkt, wo sich Gott, Natur, Gesellschaft, Schrift und Mensch treffen und den die heutige Anthropologie und Psychoanalyse so hartnäckig erforscht, erkannte schon die Mystik jenen Knoten imaginärer Knechtschaft, den die Liebe immer neu lösen und zerschneiden muß. Hier kann die Erfahrung den Mystiker bis zu der Grenze der Entzückung begleiten, wo sich ihm in der Formel 'du bist es' die Chiffre seiner irdischen Bestimmung enthüllt, aber es steht nicht allein in ihrer Macht, ihn dahin zu führen, wo die wahre Reise beginnt. 3
Von was soll der Dichter sprechen, wenn das Wesentliche im Schweigen zu finden ist? In welchem Verhältnis steht der Text zum Undarstellbaren? Strauß sieht sich heute als "Kopisten", dessen "Fehler" den Weltinnenraum so stören, daß die bewirkte Umordnung auf das ganz andere verweist. Als "Kopist" wagt sich Strauß nicht so weit in den esoterischen Raum, daß er sich dort ganz allein befindet, er agiert und kopiert durchaus in und mit der Tradition der Moderne, die von der Romantik über den Symbolismus bis zur postmodernen Literatur wirkt. Ausgehend von der simplifizierenden Beobachtung, daß das abendländische Denken allezeit Denken in der platonischen Überlieferung ist, geht es um den Rahmen und die Potentialitäten der Idee und des Begriffs. Die Spannung zwischen Schrift und Sprache einerseits und dem Undarstellbaren andererseits ist als Fundament und Folie im Hinter-Grund der modernen Literatur, auch wenn dies in einer "entzauberten" Welt und Gesellschaft (Max Weber) vielfach unbewußt ist, immer anwesend. Für Novalis errichtet Sprache und Schrift ein Refugium der Transzendenz, das der Vernunft der Aufklärung entgeht, ein "hortus conclusus" auch im Sinne von Strauß. 4 Novalis erblickt in der Dichtung eine ursprünglich magisch-religiöse Praxis, deren Verlust der sich als vom Ursprung getrennt wahrnehmende Strauß dokumentiert. Paradoxerweise legt Novalis' Spiel mit der Dichtung das Fundament der Moderne, denn Zauber, Magie und Spiel ist ohne die Existenz von verborgenen und evidenten Gesetzen undenkbar. Buchstaben und Worte sind, in der absoluten Reduktion auf sich selbst als Bausteine und Material, das Zentrum, für das sich Mallarmd interessiert. Über Poe und Baudelaire - und hier erweist sich nicht die deutsche, sondern die französische Literatur als Erbin der literaturästhetischen Ansätze der Romantik - radikalisiert sich Novalis' Denken zum Symbolismus. Parallel dazu treibt Nietzsche die Philosophie Hegels bis zum äußersten und begründet Comte den Positivismus. Strauß' Texte kreisen immer um diesen "Sündenfall", er f ü h l t sich einerseits arretiert in einer auf Mallarmd und Nietzsche gründenden, nur noch die pure Materialität der Schrift als verbindlich ansehende Literatur und einer positivistisch sinnentleerten, naturwissenschaftlich geprägten Kultur, andererseits sind diese heute immer noch dominanten Reduktio-
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Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt 1963, S. 115. Dirk Vanderbeke: Worüber man nicht sprechen kann. Aspekte der Undarstellbarkeit in Philosophie, Naturwissenschaft und Literatur, Stuttgart 1995, S. 148. Vgl. zu Novalis und Mallarmd und den Geschichts-Text der Moderne seit der Romantik: Jürgen Ritte: "Lösen sie Kreuzworträtsel". Über Sprachspiele und andere Dechiffriermaschinen, in: manuskripte. Zeitschrift fUr Literatur 115/92, S. 90-93.
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nen des 19. Jahrhunderts der nicht negierbare Ausgangspunkt seiner Erkundung der Umwelt. Mallarmis Forderung, die Sprache solle analog zur Musik nicht etikettieren, sondern eine Ahnung ermöglichen, hat Einfluß auf diejenigen Dichter und Philosophen, die Strauß oft als Referenz angibt: unter anderen sind dies neben Rainer Maria Rilke, Marcel Proust und Maurice Blanchot Paul Val6ry, dessen Poetik explizit auf Mallarmö rekurriert, Jorge Luis Borges, für den das Buch das intellektuelle Werkzeug ist und Jacques Derrida, der - das "reine Buch" Mallarmds voraussetzend - die Sprache als Schrift interpretiert. Strauß' Vorstellungswelt ist daher zwischen den Koordinaten Romantik und Moderne zu positionieren. Daß sich diese Positionen sowohl voneinander absetzen, als auch einen Brennpunkt bilden, begründet die Ambivalenz in Strauß" Denken. Als Diarist spiegelt er damit die kulturelle Situation der heutigen Zeit, die ebenfalls durch diese Ambivalenz geprägt wird. Denn schon das 19. Jahrhundert registriert als Jahrhundert der historischen Wissenschaften wenig mehr als Fragmente. So bedeutet die Romantik die Geburtsstunde der historischen Sprachwissenschaft, die Entzifferung der Texte und damit der Welt bleibt als zentrale kulturelle Aufgabe virulent bis heute. Für Mircea Eliade ist es der "vom Mythos berichtete Einbruch des Heiligen in der Welt [...], der die Welt realiter gründet.'" Nicht das Profane, sondern das Heilige ist das reale par excellence. Was der Sphäre des Profanen angehört, hat am Sein nicht teil, weil das Profane durch keinen Mythos ontologisch gegründet wurde und kein exemplarisches Modell besitzt. So ist, wie wir sehen werden, der Ackerbau ein durch die Götter oder die Kulturheroen geofTenbartes Ritual und damit zugleich ein realer und bedeutsamer Akt. Denken wir zum Vergleich an den Ackerbau in einer entsakral isierten Gesellschaft: hier ist er zu einem profanen, einzig durch den ökonomischen Gewinn gerechtfertigten Akt geworden. Man pflügt die Erde, um sie auszubeuten, um Gewinn und Nahrung aus ihr zu ziehen. Ihrer religiösen Symbolik entkleidet, wird die Feldarbeit 'undurchsichtig' und aufreibend: sie enthüllt keine Bedeutung, ermöglicht keine 'Öffnung' zum Universalen, zu der Welt des Geistes. Kein Gott, kein Kulturheros hat jemals eine profane Handlung offenbart. Alles, was Götter und Ahnen getan haben, also alles, was die Mythen über ihre Schöpfertätigkeit erzählen, gehört der Sphäre des Heiligen an und hat deshalb am Sein teil. Dagegen gehört alles, was die Menschen aus eigener Initiative, was sie ohne mythisches Modell tun, der Sphäre des Profanen an: deshalb ist es ein eitles und illusorisches, letzten Endes irreales Tun. Je religiöser der Mensch ist, desto mehr exemplarische Modelle stehen ihm für seine Verhaltensweisen und Handlungen zur Verfügung. Anders ausgedrückt: j e religiöser er ist, desto mehr fügt er sich dem Realen ein und desto weniger läuft er Gefahr, sich in nicht exemplarischen, 'subjektiven' - mit einem Wort abwegigen Handlungen zu verlieren. 6
Da das Sein immer wieder hinter dem Seienden verschwindet, muß für Strauß der Dichter das Sein dem Leser und dem Zuschauer nahebringen und zeigen, daß nur das Sein, der Ursprung, das Existentielle und nicht das verhärtete Seiende das Wesentliche ist, da es auf das ganz andere verweist.
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Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt 1990, S. 86.
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Eliade: Das Heilige und das Profane, a.a.O., S. 85f.
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II. Die Texte der Theatertexte
1. 1967-1977: Die Bühne als Text Überall wird personalisiert, um anonyme Zusammenhänge, die[...] nicht länger durchschaubar sind und deren Höllenkälte das verängstigte Bewußtsein nicht mehr ertragen kann, lebendigen Menschen zuzurechnen [.] Die Absurdität des Realen drängt auf eine Form, welche die realistische Fassade zerschlägt. (Theodor W. Adorno) Man spricht nicht mehr vom Bewußtsein oder vom Subjekt, sondern von Regeln, von Codes, von Systemen; man sagt nicht mehr, daß der Mensch Sinn macht, sondern daß der Sinn dem Menschen zufällt; man ist nicht mehr Existentialist, sondern Strukturalist. (Bernard Pingauds Eröffnung eines Interviews mit Jean Paul Sartre 1966) Heidegger ist für mich immer der wichtigste Philosoph gewesen. (Michel Foucault)
Von der "littdrature engagde" zur "Dekonstruktion" 1980 weist Strauß in einem Interview mit Volker Hage d a r a u f h i n , daß Interpretationen, die seine Texte als realistische deuten, einen Interpretationskontext haben, der nicht der des Autors ist, denn er "interessiere sich mehr für Stilprobleme. Anderes vernachlässige er, 'wahrscheinlich sogar auf sträfliche Weise'". 1 Strauß' Interesse für den sprachlichen Ausdruck, für die Darstellungs- und Ausdrucksweise seiner Zeit, ist auch eine Folge der um und nach 1968 virulentert Frage: Welcher Stil ist der Zeit angemessen? Wenn Theodor W. Adorno davon spricht, daß die Wahrnehmung der Undurchschaubarkeit und erhöhten Komplexität in einer ambivalenten und paradoxen Wirklichkeit zu einer Abkehr von der eindeutigen Geschichtsphilosophie und definierten Utopien führt, dann scheitert ein realistisches Theater schon am Anspruch, die "Realität" abzubilden. Von Adorno zum Neostrukturalismus ist der Schritt nicht so weit, wie es Jürgen Habermas vielleicht gerne hätte. Neben Walter Benjamin und Adorno rezipiert Strauß die französischen (Neo-) Strukturellsten, die in Paris kurz vor 1968 an der avantgardistischen Front den Existentialismus zum "Klassiker" degradieren. Die freie Entscheidung des Subjekts wird nun als unbewußt abhängig von Strukturen und Texten gesehen. Jean-Paul Sartre, der Martin Heideggers Determination des Subjekts zur Freiheit uminterpretiert hat, wird wieder mit dem Ursprung seines eigenen Denkens, dem "echten" Heidegger konfrontiert. Die Literaturtheorie Maurice Blanchots, die Strauß entscheidend beeinflußt, initiiert die Ästhetik des "nouveau roman", die gegen die "littörature engagee" Sartres opponiert. Dieser Dissens spiegelt sich dann in der deutschen Schriftsteller-Szene wieder in der Kampfansage des jungen Peter Handke 1966 gegen die "Mandarine" der Gruppe 47 in Princeton. In Frankreich wird die Theorie Blanchots unter dem Titel "Dekonstruktion" von Jacques Derrida weiterentwickelt und vergrößert stetig ihren Einfluß bis heute auch in der Literaturwissenschaft.
Hage: Schreiben ist eine Söance, a.a.O., S. 201.
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Die Welt innerhalb und außerhalb des Kopfes: Von der Romantik über den Symbolismus zum absurden Theater Grundlegend ist natürlich immer die Frage nach der Wirklichkeit. Was ist Innen? Was ist Außen? Wie ist das Verhältnis von Innen und Außen? Und wie bildet der Künstler die Wirklichkeit ab? Oder kann man überhaupt noch von Mimesis sprechen? Mit der von Immanuel Kant eröffneten und von Johann Gottlieb Fichte fortgeführten Neuerung in der Philosophie muß auch die Kunst den Fokus auf die "Wirklichkeit" neu justieren. Das romantische Spiel von Innen und Außen, das Spiel Novalis' mit der Schrift, in der Novalis noch eine magisch-religiöse tätige Wirklichkeit sieht, schreibt, reduziert auf den abgetrennten, aktuell wahrgenommenen Schwerpunkt des Materials der Wörter, das Text-Fundament der Moderne. St£phane Mallarme radikalisiert Novalis. Die Sprache soll nicht mehr etikettieren, sondern analog der Musik Ahnung ermöglichen, der Bühnenrealismus ist passö. Natürlich ist die Grenze zwischen Naturalisten und Symbolisten nicht eindeutig zu bestimmen, denn Naturalisten wie Henrik Ibsen und August Strindberg weisen symbolistische Phasen in ihrer Entwicklung auf und es lassen sich symbolistische Komponenten in ihren Theatertexten lesen. Das Symbol als "Wirklichkeit" bildet den Konnex vom Symbolismus zum Surrealismus und zum absurden Theater. Sigmund Freud setzt eine innovative intellektuelle Perspektive auf die Position des Menschen innerhalb der Welt in den öffentlichen Umlauf, indem er den Traum und dessen Symbolik als idealsten Weg zum Unbewußten, das nun als tatsächliches Zentrum fungiert, bezeichnet. Die Abwertung der Vernunft und des diskursiven Denkens setzt sich fort im absurden Theater, in dem jedes Symbol von der Abwesenheit eines letzten Sinns, einer gültigen Metaphysik kündigt, das "Gefühl metaphysischer Angst angesichts der Absurdität der menschlichen Existenz bildet, allgemein gesprochen, das Thema der Stücke" Samuel Becketts, Arthur Adamovs, Eugdne Ionescos und Jean Genets.2 Und diese Abwesenheit bildet auch in Strauß' Theatertexten bis heute den Hintergrund seiner Suche und seiner Frage nach dem ganz anderen, hier spiegelt sich Strauß im jungen Regisseur in "Der junge Mann", der die Kontrolle an den Text und die in seinem Kopf spielenden anderen verliert und das Spiel der Schauspielerinnen der Genetschen Zofen mit ihm auf der Bühne des Theaters als Initiation in das Theater der Welt im Kopf erfahren muß. Die psychische "Realität" spielt sich im absurden Theater gegenüber der materiellen "Wirklichkeit" in den sichtbar dominierenden Hintergrund. Diese Sicht der Welt nach innen koinzidiert mit der generellen Frage der die Ästhetik in den Vordergrund stellenden Nachmoderne nach dem Vorhandensein einer Realität außerhalb des Kopfes. So läßt sich das Denken der Nachmoderne mit der Philosophie Kants und Hegels analogisieren, aber ohne Glauben an das ganz andere, und diesen Verlust thematisiert Strauß.
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Martin Esslin: Das Theater des Absurden. Von Beckett bis Pinter, Hamburg 1987, S. 14.
Das Unbewußte als Zentrum: Von Sigmund Freud über den Surrealismus zu Jacques Lacan und Ernst Jünger. Und über Antonin Artaud zur Neoavantgarde der sechziger Jahre Der direkten und unverfälschten Mimesis einer beobachtbaren Außenrealität und einem oberflächlichen Positivismus in der Wissenschaft arbeitet sowohl der Symbolismus als auch die Freudsche Psychoanalyse entgegen. Die Situierung des ersten Theatertextes von Strauß, "Die Hypochonder", in die Zeit um 1900 ist nicht zufällig. Die Psychoanalyse, die um diese Zeit an die wissenschaftliche Öffentlichkeit tritt, und ihr Diktum vom Traum und von der Un-Vernunft als Wirklichkeit fundieren die Vorstellung des Surrealismus, der die Kontradiktion zwischen den Zeichen des Alltages und der Symbolik des Traums in einer Meta-Wirklichkeit dechiffriert und damit neue Tafeln des Bewußtsein erschließt und interpretiert. Dabei markiert die Zeit, in der "Die Hypochonder" spielt, neben dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch den Beginn mehrerer Verbindungslinien, die sich von Freud ausgehend zu den Texten von Strauß ziehen. Einmal läßt sich eine Verbindung von Freud und des Surrealismus zu Jacques Lacan, der die Psychoanalyse weiterdenkt, persönlichen Kontakt zu den Surrealisten hat und dazu noch der Philosophie Heideggers anhängt, herstellen. Lacan ist wiederum einer der einflußreichsten Vordenker des von Strauß rezipierten (Neo-) Strukturalismus. Auch Ernst Jünger, dessen Philosophie sich Strauß in seinen späteren Texten vermehrt öffnet, hat Kontakt zu den Surrealisten. Eine weitere, mehr indirekte Verbindung besteht über Antonin Artaud, der erst der Gruppe der Surrealisten angehört und sich dann von dieser wieder entfernt, zum theatertheoretischen Hintergrund der Neoavantgarde der sechziger Jahre, der von Artaud mitbestimmt wird. Zu dieser Zeit beginnt Strauß mit seiner Arbeit als Theaterkritiker.
Von der Dialektik zur Diskursanalyse und Sprachphilosophie I: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken Von den Theaterkritiken bis zur "Theorie der Drohung" und parallel von der Dialektik zur Diskursanalyse und Sprachphilosophie geht Strauß seinen ersten intellektuellen Weg, der die Theatertexte "Die Hypochonder", "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" und "Trilogie des Wiedersehens" umfaßt. In den Theaterkritiken benutzt Strauß reichlich Theorien verschiedenster Provenienz als Kontexte. Dabei vertritt er neben der in der Zeit um 1968 selbstverständlichen Kritik am System theoretisch keine reine Lehre, sein Vorgehen ist im positiven Sinne als eklektizistisch zu bezeichnen. Er spricht von "strukturelle[r] Ähnlichkeit" (VE 37), von Adornos "negative[r] Dialektik" (VE 38), einem "informationstheoretischen Modell" (VE 38), vom "libidinösen Schrecken", von Sublimation (VE 39) und dem Jungschen kollektiven Unbewußten (VE 46), er zitiert Lenin (VE 40), Heidegger (VE 47) und differenziert die "europäische[.] Mystik der Sinne" von der "asiatischen Mystik der Ruhe" (VE 41). Daß sich hier bereits Hegelsches Denken mit der skeptischen Frage nach dem Sinn amalgamiert - durchaus kritisch gegenüber ei-
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nem Denken, das er in seinen jüngsten Texten selbst weitgehend kritiklos durchspielt - , zeigt auch folgende Stelle aus einer der Theaterkritiken: Oswald Wiener schreibt im Vorwort zur Dokumentation über Nitschs 'Orgien-MysterienTheater': 'Sinn ist nicht etwas, das auf entdeckung wartet. Sinn wird erzeugt. Sinn und bedeutung sind dimensionen der kommunikation, nicht aber brücken des Individuums zur 'objektiven realität': die semantik ist die Phänomenologie der konservativen. Wenn wir den uns gemachten alltag substrahieren, wird von der Wirklichkeit nichts übrig bleiben'. Wer diese Subtraktion unternimmt, sei es regressiv mit Bergson, Nietzsche, Stirner zum dlan vital zurück, wie die rechtsanarchistische Avantgarde der Muehl und Nitsch, sei es prospektiv mit Bakunin und Marcuse zum 'Paradise Now' hin, wie das linksanarchistische Living Theatre, er begibt sich allemal in die Gefahr, daß der unterschlagene Alltag zurückschlägt [durch] z.T. faschistoide^] Reaktionen [einer] unaufgeklärte[n] Bürgerschaft. (VE 41 f.)
Mit der Lektüre der französischen (Neo-) Strukturalisten gerät die von Hegels Philosophie inspirierte Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft ins Rutschen. Erkennbar ist bereits in den Theaterkritiken am widersprüchlichen philosophischen Hintergrund, der jedoch im wörtlichen Vordergrund an keiner Stelle als Unlogik präsent ist, daß Strauß schon aufgrund seines unglaublichen Lesepensums und seiner unersättlichen intellektuellen Neugier kein linientreuer Marxist, nicht einmal ein reiner Hegelianer oder Adorno-Adept sein kann.
Von der Dialektik zur Diskursanalyse und Sprachphilosophie II: Die Theorie der Drohung Und so dauert es auch nicht lange, bis Strauß die für die damalige Zeit für einen jungen Intellektuellen unerläßliche direkte und indirekte Zitierung marxistischer Theoretiker ausläßt und sich vermehrt der Diskursanalyse und Sprachphilosophie zuwendet. Die "Theorie der Drohung" von 1975 ist ein Intertext, der seine Intertextualität selbst reflektiert. Psychoanalyse Freudscher und Lacanscher Provenienz und amerikanische Sprachphilosophie (Wittgenstein, Austin, Searle usw.) spiegeln das Verhältnis der amerikanischen Psychoanalyse als Stärkung des Ichs zur französischen strukturalistischen Version der Psychoanalyse, die das Ich unterläuft. Die "Drohung" aus dem Titel bezieht sich auf das ewige Entgleiten im Spiel der Signifikanten, über das Derrida schreibt: Der Freudsche Begriff der Spur muß also radikalisiert werden und aus der Metaphysik der Präsenz, die ihn noch (insbesondere in den Begriffen des Bewußtseins, des Unbewußtseins, des Gedächtnisses, der Realität, das heißt auch in einigen weiteren) festhält, herausgelöst werden. Die Spur ist die Selbstlöschung, die Auslöschung ihrer eigenen Präsenz; sie wird durch Drohung[!] oder die Angst ihres unwiderruflichen Verschwindens, des Verschwindens seines Verschwindens konstituiert.1
Die Erkenntnis des sich selbst entgleitenden Subjekts ist das Bewußtsein der Untertanenrolle des Bewußtseins, ist der paradoxe Bewußtseins-Text über die Erkenntnis, daß das Bewußtsein Text ist und somit im Herrschaftraum der unbewußten Strukturen weniger agiert als agiert wird: "Wie konnte mir so etwas passieren? Unbewußt, unbewußt, plapperte ich kopfschüttelnd vor mich hin." (TDr 80) Der 3
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Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt 1972, S. 348f.
erzählte Erzähler, der später dann im "Fehler des Kopisten" den ausweglosen Ausweg erkennt, wird durch sich selbst als Kopist entlarvt: Ich habe nicht einen einzigen selbständigen Satz zuwegegebracht. Ich bin der unbeholfenste Schriftsteller aller Zeiten, ein Kopist! Was für ein hinterhältiges, gemeines Gedächtnis beherrscht mich! Löscht in mir aus, flüstert mir ein, was immer ihm gefällt. [...] Und ich, ich, diese Null-Person, diese Durchgangsstation aller möglichen Literatur, ich bin einfach nicht lebendig genug, um diese teuflische Maschine zu stürmen und zu zerschlagen. (TDr 81 f.)
Gilles Deleuzes' und Felix Guattaris Wunsch-Maschine zeigt dem Subjekt, wer der Herr im Haus der Sprache ist. Konfrontiert wird im "Ich" als Durchlaufstation von Text der Text der französischen strukturalistischen Psychoanalyse mit dem Text der amerikanischen Sprachphilosophie, deren Begründer, Ludwig Wittgenstein, schon bei Peter Handke - besonders ausgestellt in dessen Theatertext "Hilferufe" als philosophischer Hintergrund seiner Theatertexte zu finden ist. Der Herr wird ausge-"handel"t: "Jedenfalls war der Amerikaner einverstanden, nahm das Geld und fuhr uns seinen Austin vor." (TDr 85) John L. Austins "Theorie der Sprechakte" konstatiert, daß man etwas tut, daß man handelt, indem man etwas sagt: "How to do things with words". Ob "eine Feststellung zutrifft oder nicht, hängt nicht nur davon ab, was die Wörter bedeuten, sondern auch davon, welche Handlung man mit der Äußerung unter welchen Umständen vollzogen hat".4 Das Geld wird in der "Theorie der Drohung" genommen und damit das Einverständnis erzielt, während das Ganze reflektiert wird durch die analytische Philosophie Austins. Als letzter Haltepunkt im entropischen Entgleiten bleibt dem "Ich" nur noch die Ökonomie. Das amerikanische System der "Ich"- Stärkung koinzidiert mit der für Puristen untragbar verharmlosten Version der amerikanischen Psychoanalyse, die entgegen Freuds Diktum das "Ich" der Vernunft zum Herrn im (ökonomischen) Haus erklärt. Egal wohin das "Ich" und "Lea" gehen, sie sind nie frei, die Struktur ist schon vor ihnen da, da sie selbst aus der Struktur bestehen: "Mein Gott, das ist Don ... Sieh nur, Don ist nach Hause gekommen! Laß uns gehen, wir können hier nicht wohnen, laß uns gehen, verstehst du?" (TDr 87) Schon wieder hat die Struktur, die ökonomisch determiniert ist, gesiegt. Übrig bleibt nur das bewegende "Ich ist ein anderer": "Ich war Lea. Oder zumindest: ich hatte mir alles, was von Lea übriggeblieben war, zueigen gemacht." (TDr 105) Denn "Ich ist Lea" bedeutet "Ich ist Le a", "Ich ist" das "kleine a", bei Lacan bedeutet das "kleine a" das "kleine andere", das imaginäre andere, das Spiegelbild. Das Ende ist folgerichtig der Wieder-Eintritt in die symbolische Ordnung, in die unbewußte Struktur, in "S." als das "Es": "Ich ging ziemlich beruhigt zurück zu meinem Platz und freute mich jetzt sehr auf ein Wiedersehen mit S. in Kopenhagen." (TDr 105)
Der hermetische Verweigerer des Zeitgeistes Strauß verweigert sich schon von Beginn an dem an der Oberfläche registrierten "Zeitgeist", um zugleich intellektuelle Strömungen in seine Texte aufzunehmen, die erst viel später zu intellektuellen Moden werden. Er erweist sich bis heute als ver4
John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1989, S. 164.
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läßlicher intellektueller Trend-Scout. Ganz sicher ist falsch, ihn in den siebziger Jahren der dogmatischen Linken zuzurechnen. Peter Stein schreibt über diese Fähigkeit von Strauß: Was diese ganzen Zeitgeistelemente angeht - diese Art, die Nase in die Winde der Gegenwart hineinzuhalten, das Trendsetten zu erahnen und es dann mit Aplomp zu verweigern - , die haben dazu geführt, daß ich die Dramentexte von Strauß in einem Ausmaß als Zeitzeugen Uber die Bundesrepublik der siebziger Jahre empfinde, wie ich das an anderen dramatischen Zusammenhängen überhaupt gar nicht erkennen kann.3
Was den philosophischen Hintergrund angeht, hat Stein nicht recht, mit seiner Bestimmung Strauß' als indirekten "Zeitzeugen" aber schon, denn der gesellschaftliche und kulturelle "Zeitgeist" wird von Strauß bis heute gezielt und provozierend unterlaufen, den "Marsch durch die Instanzen" nach 1968 verweigert er mit dem "Anschwellenden Bocksgesang" zum wiederholten Mal. Fast zur gleich Zeit, als Strauß seine hermetischen "Hypochonder" auf der Bühne zeigt, erhält der sichtbar engagierte Heinrich Boll den Literaturnobelpreis. Die sozialliberale Koalition versucht, nach einem eigenen Motto "mehr Demokratie" zu "wagen" und öffnet sich pragmatisch der Kommunikation mit dem kommunistischen Osten. Während die gemäßigte Linke die Macht unterstützt, einige Intellektuelle sogar Wahlkampf für die Regierungspartei machen, zeigt Strauß das Individuum nur noch als Maske im Text. Man weiß Mitte der siebziger Jahre in der intellektuellen Szene meist noch, was gut und schlecht ist, und der Umweltschutz und der Kampf um Gleichberechtigung haben als Thema die öffentlichen Meinung gerade erst erreicht, der 1968 gegründete "Club of Rome" publiziert 1972 "Die Grenzen des Wachstums" und 1975 erscheint Alice Schwarzers Buch "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen". So kann darüber spekuliert werden, ob Strauß, hätte man in den Feuilletons den philosophischen Hintergrund genau analysiert, mit "Groß und Klein" seine positive Popularität in der Kritik errungen hätte. Mit einem Theatertext, der alle Gewißheiten mit einer Vorstellungswelt, die sich auf die Philosophie Nietzsches, dem originalen, die Vernunft aus dem Zentrum rückenden Freud und Heidegger zurückfuhren läßt, unterhöhlt. Wenn man die 1975 erschienene "Theorie der Drohung" mit der 1974 erschienen Arbeit über die "Theorie der Avantgarde" von Peter Bürger vergleicht, fallt der Unterschied klar ins Auge. Für Bürger, der sich dann später intensiv mit der Theorie der Postmoderne auseinandersetzt, ist gesellschaftliche Funktionslosigkeit ein Negativum: Das Scheitern von Mallarmös schriftstellerischem Hauptprojekt, Valdrys zwei Jahrzehnte währende fast gänzliche Unproduktivität, der Lord-Chandos-Brief von Hofmannsthal das sind Symptome einer Krise de»· Kunst. Diese muß sich selbst in dem Augenblick problematisch werden, wo sie alles 'Kunstfremde' ausgesondert hat. Das Zusammenfallen von Institution und Gehalten enthüllt die gesellschaftliche Funktionslosigkeit als Wesen der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft und fordert damit die Selbstkritik der Kunst heraus. Es ist das Verdienst der historischen Avantgardebewegungen, diese Selbstkritik praktisch geleistet zu haben.6
Für Strauß hingegen sind die Texte Paul Valdrys, der seine Poetik auf Mallarm6 aufbaut, vorbildliche Texte. Natürlich haben auch Strauß' Theatertexte der siebzi-
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Peter Stein: Spökenkieker, von einer Furie gejagt, in: Theater heute 9/87, S. 48. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt 1974, S. 34f.
ger Jahre noch einen gesellschaftskritischen Anspruch. Und so werden sie auch rezipiert. Aber deren ideengeschichtlicher Hintergrund unterläuft von Beginn an die Gesellschaftskritik der Linken. Denn obwohl sich der (Neo-) Strukturalismus 1968 in Frankreich auch oder vor allem als politische Theorie versteht, zeigt sich an ihm ein anarchistischer Zug, der die Rechte nicht von vornherein ausschließt. Dies erkennt und kritisiert bereits 1966 Sartre und wird heute perpetuierend von Jürgen Habermas erörtert. Über Nietzsche, Freud und Heidegger ereignet sich der Pendelschlag von links nach rechts, ohne große Veränderungen am theoretischen Hintergrund vorzunehmen. Ein anarchistischer Grundzug ist auch dem Ernst Jünger des "Waldgangs" eigen. Peter Handke, schon in den sechziger Jahren ein provozierender "Bewohner des Elfenbeinturms", denkt Ende der siebziger Jahre mit Heidegger im Kopf an eine "Langsame Heimkehr". Und Strauß, der etwas Jüngere, zieht zu Beginn der achtziger Jahre mit "Paare, Passanten" nach und verabschiedet sich darin offiziell und verständlich von der Gesellschaftskritik, wie er sie von den Denkern der Frankfurter Schule gelernt hat.
Der Abschied von einem Zentrum außerhalb der Geschichte: Das Zentrum ist der Text, der die Abwesenheit der realen Welt als Anwesenheit markiert Während Sartre die humanen Wirklichkeiten noch an einem gesellschaftlichen Entwurf studiert, der diejenige abendländische Gesellschaft spiegelt, die sich am historischen Prozeß ausrichtet, erzwingt der Standpunkt des Ethnologen - auch hier wieder Levi-Strauss an vorderster intellektueller Front - einen Perspektivenwechsel vom Diachronen der Geschichte zum Synchronen der Strukturen. Foucault, der den Ausschluß der Geschichte im "reinen" Strukturalismus wieder aufhebt und damit methodische Vielfalt eher propagierende Ansätze wie zum Beispiel den Neuen Historismus Stephen Greenblatts inspiriert, kann so keinen Punkt außerhalb der Geschichte mehr ausmachen und Strauß' Theatertexte "Die Hypochonder", "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" und "Trilogie des Wiedersehens" lassen das "Ich" immer als anderen in den Text eingehen, so daß sich als Zentrum der kursierende Text erweist. Die Welt ist als Wort nur noch in ihrer Abwesenheit anwesend, so daß Edmond Jabds die rhetorische Frage stellt, ob nicht vielmehr die Wörter mit uns spielen - so wie die Gegenstände, die Lebewesen, das All, denen wir ausgeliefert sind. Wie auch immer - diese gefahrvollen Spiele reißen uns oft sehr weit mit sich fort, in Femen, wo es nichts Festes, keinen Halt mehr gibt.7 Die Bühne wird in Strauß' Theatertexten vom leeren Raum zum Raum, in dem die Wörter die Leerstelle markieren, die die reale Welt bei ihrer Flucht hinterlassen hat, als das Wort ihr Erkennen erst möglich gemacht hat. Für Jab6s wäre der Raum zwischen den Wörtern
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Edmond Jab£s: Die Schrift der Wüste. Gedanken, Gespräche, Gedichte, Berlin 1989, S. 34. 35
ohne den Schriftsteller unendlich. Er wäre die Leere. Die Wörter stellen sich gegebenenfalls ein, um ihn zu besiedeln und zu fragmentieren, womit sie zugleich auch ihren eigenen Raum abstecken. Der Schriftsteller kann demnach von Mal zu Mal nur über einen Teil jenes Raumes verfügen, wo die Vokabeln ihren Platz gefunden haben. Alles vollzieht sich so, als handle es sich ftlr ihn darum, auf unbestimmte Weise ein vergessenes Buch in seiner ursprünglichen Anlage nachzuschreiben. 8 Strauß schreibt unter sein von ihm im M ä r z 1 9 7 5 geschriebenes Gedicht " U n ü b e r windliche N ä h e " die W i d m u n g : "In B e w u n d e r u n g ftlr E d m o n d Jab6s". F ü r diesen gilt: " D a s W o r t ist ans W o r t gebunden; niemals j e d o c h an Dinge." Damit will er sagen, daß die Dinge - wie natürlich auch die Lebewesen - im Buch einem All von Vokabeln angehören: ihrem eigenen Universum, in welchem sie Raum greifen. So findet sich denn die Welt im Buch. Die Erfassung des Alls geschieht durch Wörter, und sehr rasch wird uns klar, daß diese Erfassung nichts anderes ist als unsere zunächst unbewußte, dann hingenommene Metamorphose ins Wort. Wir selber werden zu dem Wort, das dem Ding und dem Wesen Wirklichkeit verleiht. Schreiben heißt immer, sich an dieser Wirklichkeit messen, um sie bestehen zu können. Alles ist schließlich real, und kraft dessen sind wir es auch. 9 F ü r E d m o n d Jabes ist der T e x t wie eine v o m W i n d u m g e f o r m t e und anhaltend anders gestaltete Wüste. W i e die T h o r a ist er andauernd h o m o g e n und andauernd ungleichartig. 1 0
Das P a r a d o x der Subjektivität: W e n n zwei sich treffen, agieren vier oder einer, der ein anderer ist D a s P r o b l e m , das Strauß von Beginn an beschäftigt, ist das P a r a d o x der Subjektivität, die zugleich sprachlich und damit intersubjektiv gegeben ist. M a u r i c e B l a n chot schreibt dazu: Zwischen Ahab und dem Wal spielt sich ein Drama ab, das man mit einem weitgefaßten Begriff metaphysisch nennen könnte; es ist derselbe Kampf, der sich zwischen Odysseus und den Sirenen abspielt. Jeder der beiden Partner will das Ganze sein, will auf absolute Art die Welt sein, was ihr Zusammenbestehen mit der anderen absoluten Welt unmöglich macht; und doch hat jede der beiden Welten kein größeres Verlangen als mit der anderen zusammenzubestehen und ihr zu begegnen. In gleichem Raum Ahab und den Wal, die Sirenen und Odysseus zu vereinigen: das ist der geheime Wunsch, der aus Odysseus Homer, Ahab Melville werden läßt, und aus der Welt, die dieser Vereinigung entspringt, die furchtbarste und schönste aller möglichen Welten, ein Buch, leider nur, nichts als ein Buch." In diesen Zeilen ist ein Grundproblem, das Strauß in allen seinen Theatertexten diskutiert, umrissen. E s findet sich auch in Freuds Erkenntnis, daß im Diskurs zwischen zwei Personen immer vier Personen als Bilder mitspielen und in L a c a n s
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Jabds: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 31. Jab£s: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 26. Jab£s: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 24. Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen, Essays zur modernen Literatur, Frankfurt 1988, S. 18.
Formulierung, daß das Descartessche "Cogito" gegenüber dem Spiel der Signifikanten kapitulieren muß. Da der Text zum Zentrum geworden ist, gibt es keine Identität außerhalb des Textes. Und so ist "Aufmerksamkeit gegenüber der Sprache [...] Aufmerksamkeit gegenüber sich selbst." 12 Der Text kann für Strauß niemals hintergangen werden, jeder Versuch, hinter dem Text eine Wahrheit zu finden, ist zum Scheitern verurteilt. Folglich liegt das Problem für den einzelnen als im Text Vereinzelten nicht am falschen Text, wie die etablierte Gesellschaftskritik in den siebziger Jahren annimmt. Sondern die Immanenz der immer falschen Wörter, das Eingeschlossensein in einem Text, der die Welt verdrängt, ist für Strauß die Ursache der Verfehlung des richtigen Lebens. Diese Sicht der Welt als Text beinhaltet in sich die Unmöglichkeit einer verwirklichten Utopie, denn jede Utopie würde als Verhärtung genau dieselben Probleme schaffen, die sie zu überwinden trachtet. Auch die völlige Zerstörung des Textes wäre keine Lösung. Edmond Jabds kritisiert William S. Burroughs, dem er dieses Vorhaben unterstellt: Für ihn würde also genügen, diese Sprache zu zerschlagen um die solchermaßen isolierte Macht zu zerstören. Das ist richtig. Ich kann es ganz gut verstehen. Vernichtet aber, wer die Sprache vernichtet, nicht auch sich selbst?13 Daher ist für Strauß das Bewußtsein der Text im Kopf und außerhalb des Kopfes, der der Text ist, an dem sich für Strauß die Protagonisten begegnen, um sich zu verfehlen, das "Ich" und der andere und das "Ich" des anderen und das andere des anderen. Und die Bühne ist der Ort und die Zeit des Textes, der wiederum die Bühne, den Ort und die Zeit bestimmt. Damit zeigt Strauß mit seinen Theatertexten die Bühne, den Text als das Zentrum, das in seiner Anwesenheit die Abwesenheit der Welt bezeugt.
1.1. Die
Hypochonder
1.1.1. Die Hypochonder des Kritikers Es "gibt ein ungeheures, ein unermeßliches Begriffsvermögen, welches über uns alle gebietet, und keiner kann ihm entkommen." (H 65) Dieses trennt vom ursprünglichen Erlebnis, die "Worte blieben doch nur entfernte Hinweise auf [ein] ungeheuerliches Erlebnis." (H 17) Als Ordner der menschlichen Beziehung erweist sich die Geschichte und die Geschichte im Kleinen, die Handlung: der Mensch fühlt sich in "Die Hypochonder" "gezwungen, eine glatte, feste und ihm selbst ganz entfremdete Geschichte zum besten zu geben. Ja wäre denn das nicht auch ein wahrhaftiger Ausdruck seiner unaussprechlichen Erfahrung?" (H 17) Der Marxsche Begriff der "Entfremdung" wird angeschlossen an die Thesen Foucaults, auf dessen Arbeit "Wahnsinn und Gesellschaft" Strauß rekurriert, wenn er Vladimir sagen läßt: "Aber in der vernünftigen Welt gibt es keinen einzigen Ort, an dem du weder drinnen noch draußen bist - im Verhältnis zu allen übrigen Orten der vernünftigen 12 13
Jab6s: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 28. Jab6s: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 39. 37
Welt." (Η 35) Die Perspektive und damit der herrschende Diskurs entscheidet nun allein, was richtig und falsch, normal und verrückt ist. Der Titel des Theatertextes bezieht sich ebenfalls auf Foucault, in seinem Essay "Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken" zitiert Strauß eine "eindrucksvolle" Passage aus "Wahnsinn und Gesellschaft": Die Schiffahrt überläßt den Menschen der Unsicherheit des Schicksals. Jeder ist auf dem Wasser seinem eigenen Schicksal anvertraut, jede Fahrt mit einem Schiff ist möglicherweise die letzte. Der Irre mit seinem NarTenschiff fährt in die andere Welt, und aus der anderen kommt er, wenn er an Land geht. Diese Reise des Irren izugleich rigorose Trennung und Überfahrt. In gewissem Sinne entwickelt sie lediglich vor einer halb realen, halb imaginären Geographie die LIMINARSITUATION des Irren am Horizont der Sorgen des mittelalterlichen Menschen, die symbolisiert und zugleich realisiert wird durch das ihm eingeräumte Privileg, vor den TOREN der Stadt EINGESCHLOSSEN zu sein; sein Ausschluß muß ihn einschließen; wenn er kein anderes GEFÄNGNIS haben kann und soll als die Schwelle selbst, hält man ihn an der Schwelle des Übergangs fest. Er wird in das Innere des Äußeren gesperrt und umgekehrt. Diese Position hat große Symbolkraft, die ihr gewiß bis heute geblieben ist, wenn wir bereit sind, zuzugeben, daß das, was einst eine sichtbare Festung der Ordnung war, inzwischen ein Schloß in unserem Bewußtsein geworden ist. (VE 73)
Diese Passage beschreibt für Strauß "jene Schwelle zwischen Imagination und Realität", auf der die "sonderbar hypochondrische!!] Sinnlichkeit" von Peter Handkes Stück "Der Ritt über den Bodensee" angesiedelt ist. Strauß' "Hypochonder" werden versetzt nach Amsterdam, dem "Venedig des Nordens", schwimmend auf dem sich bewegenden Untergrund einerseits noch "Land", aber auch schon "Überfahrt", einerseits feste Ordnung, andererseits sich bewegender Text.
1.1.2. 1900 als Zeitpunkt eines mehrfachen Paradigmenwechsels Die in "Die Hypochonder" angegebene Zeit 1901, ein Jahr nach Erscheinen von Freuds "Traumdeutung", ist die Zeit eines mehrfachen Paradigmenwechsels. So konstatiert Szondi in seiner von Hegels Dialektik bestimmten "Theorie des modernen Dramas" um diese Zeit eine "Krise des Dramas": Für die Krise, in die das Drama als die Dichtungsform des je gegenwärtigen (1) zwischenmenschlichen (2) Geschehens (3) gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gerät, ist die thematische Wandlung verantwortlich, welche die Glieder dieser Begriffstrias durch ihre entsprechenden Gegenbegriffe ersetzt. 14
Parallel dazu zeigt sich in der Philosophie ein Wechsel der Präferenz weg vom Subjekt, hin zur Sprache und zur Information und Kommunikation. Auch die "Triebe" werden aus einer anderen Perspektive betrachtet: es findet ein Wechsel des Ordnungsrasters zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert statt: nicht mehr vorrangig mithilfe der Grundbegriffe der Energie, sondern mithilfe der Modelle der Information wird nun wahrgenommen. Die philosophische Sicht drängt sich in den Vordergrund, daß der Konstellation des argumentativen Diskurses nicht zu entkommen ist, denn eine grundlegende Absage würde sich selbst widersprechen, da sie in der Praxis das sanktioniert, was sie inhaltlich negiert. Daher wird das Funda14
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Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas ( 1 8 8 0 - 1 9 5 0 ) , Frankfurt 1963, S. 74.
ment der Argumentation als fundamentloses Fundament wahrgenommen. Die abendländische Philosophie des 20. Jahrhunderts, sei es im angelsächsischen Raum oder in Europa, sieht ihren Grund in Sprache, Rede, Kommunikation und sprachdeterminierter Wahrnehmung. Diesen Perspektivenwechsel, den 'linguistic turn', bezeichnet Luhmann in Bezug auf die Philosophie als Korrelat einer gesellschaftlichen Entwicklung, die der Substanzontologie und ihrem transzendentalen Refugium die Plausibilität entzieht. Das impliziert zugleich einen Übergang von Was-Fragen zu Wie-Fragen, die Problematisierung der Übersetzbarkeit von Sprachen und allgemein die seit Saussure gesehene Notwendigkeit, Identitäten durch Differenzen zu ersetzen."
Dabei ist Descartes' Zentrum im Bewußtsein und damit im Subjekt vom Zentrum im intersubjektiven Text abgelöst worden. Philosophische Auf-Klärung und deren Subversion rekurriert nun auch auf eine textuell vermittelte Vernunft. Während der "feste" Ort am sich "bewegenden" Meer einen örtlichen Übergang darstellt, situiert sich das Stück "Die Hypochonder" mit dem Jahrhundertwechsel an einem zeitlichen Übergang vom "festen" Bewußtsein zum "sich "bewegenden" Unterbewußtsein. Bei Freud ist dieses noch ein biologischer Trieb, mit Lacan denkt Strauß Freud "zuende", ist der Meinung, daß die Erkenntnis der Unhintergehbarkeit der Sprache zu der These fuhrt, daß auch das Unterbewußtsein sprachlich strukturiert ist. Strauß zeigt mit "Die Hypochonder" den Übergang des sich autonom glaubenden Subjekts in die Unendlichkeit des Textes. Die Zeit der Jahrhundertwende ist auch die Zeit, in der Ferdinand de Saussure seine Vorlesungen hält, deren Mitschriften, veröffentlicht als "Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft", 16 zur Basis des von Strauß bereits zu seiner Zeit als Theaterkritiker rezipierten Strukturalismus werden. Die Saussuresche Wahrnehmung der humanen Rede getrennt in Sprechen und Sprache etikettiert Sprache als eine am Wörterbuch und am eigenen Regelsystem orientierte Sprach-Ordnung. Diese Ordnung stellt als vorherrschende Sprache die Verbindung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft her: das Sprechen zieht die allgemein ge-ordnete Sprache durch das Individuum an die Oberfläche. Schon die innovative Hierarchie - Sprache im Zentrum, das individuelle Bewußtsein und die aktuelle Umwelt an der Peripherie - zeigt, daß der neue Zusammenhang an nicht derselben Stelle eine Unabhängigkeit bewirkt. Der Name wird nun nicht mehr apodiktisch mit einem "realen" Objekt in Verbindung gebracht: ein Konnex zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten wird allein mittels der Übereinkunft, abstrahiert in der Sprache, und nicht mehr mittels elementarer Analogie festgestellt. Saussures Vorstellungswelt entzieht so der Umwelt die Substanz, schiebt die Sprache auf die Bühne und erstellt Welt-Sicht als Form. Hier sind Ähnlichkeiten zu konstatieren zur Philosophie des Idealismus. Und der in der Tradition von Hegel stehende Luhmann, der sich auch auf George Spencer Browns "laws of form" bezieht, wird später die "unentbehrliche Umstellung" vertreten, "daß nicht mehr von Objekten die Rede ist, sondern von Unterscheidungen". 17 Nicht in der Relation zu einer
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Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1997, S. 48. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hg. v. Charles Bally und Albert Sechehage, unter Mitwirkung v. Albert Riedlinger, Berlin 1967. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 60.
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Realität "neben" der Sprache, sondern in der Relation zueinander definiert sich bei Saussure die Bedeutung der Zeichen. Die bedingte und jeweils immer neu abhängige Geltung der Bedeutungen steht in Wechselwirkung mit dem widersprüchlichen Attribut der Totalität der Sprache, allezeit kongruent zu sein und sich dennoch kontinuierlich umzuorganisieren. Die Folge für das Denken in der Postmoderne ist: da die Sprache so wandelbar ist, ist sie nicht zu destruieren, nur zu dekonstruieren. Die Wahrnehmung des Spielraums der Zeichen bringen die Apologeten der Postmoderne gegen die Hoffnungen der Moderne in Stellung, damit geraten auch die Utopien von 1968 unter Beschüß. Strauß thematisiert dies mit seinem kapitalistischen Zwillingspaar, den "Gebrüder Spaak". Mit Nietzsche, dem "Perfektionierer" und damit "Zerstörer" Hegels wird das Subjekt der Moderne zweifelhaft. Der sich neben Heidegger auf Nietzsche berufende französische Neostrukturalismus, für den Strauß sich während der Zeit der Abfassung von "Die Hypochonder" ganz besonders interessiert, nimmt das "Subjekt" zugleich als Bilanz und als Fabrikanten der neuzeitlichen Gesellschaft und ihrer Sinnformen wahr. Mit der Infragestellung der Interpretationsfähigkeit der Moderne verbraucht sich auch die Vorstellung der "Subjektivität". Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts verläßt diese gezwungenermaßen ihre Hegemoniestellung mit der Kritik an den idealistischen Thesen, als deren Konsequenz Nietzsche das "Subjekt" Hegelscher Provenienz als Imagination und Begleiterscheinung physischer Triebenergien deutet. So vollzieht Strauß bereits mit den "Hypochondern" den Übergang vom Hegeischen "Weltgeist" zum nachmodernen, sich bewegenden Text.
1.1.3. Der Verlust des Signifikats Der Strukturalismus und der darauf aufbauende Neostrukturalismus sieht das Zentrum in der Signifikantenkette. "Die Hypochonder" behauptet sein Zentrum ebenfalls dort, einer der Figuren reflektiert dies: "Ich weiß wenig, aber das Wenige, das ich weiß, hängt eng und fest zusammen." (H 40) Die Gebrüder Spaak, am Anfang als "Zwillinge" noch zusammen, werden den Übergang in "Die Hypochonder" nicht ungeschoren überstehen. Als Einheit von Signifikat und Signifikant sind sie zu Beginn noch zu definieren: Die Gebrüder Spaak sind, wie Zwillinge, gleich gekleidet, grau und muffig. Was aber ihre Körperstatur betrifft, so stehen sie zueinander in einem einschlägig komischen Kontrast. Es gibt einen dünnen Langen (Spaak 1) und einen kleinen Dicken (Spaak 2). Sie tragen beide Hüte und sie haben einen flachen Lederkoffer bei sich, mit einem geteilten Griff, den der eine in der rechten, der andere in der linken Hand hält.
"Der dicke Spaak ist auch so ein Wilder. Was er manchmal für Ausdrücke am Leibe hat." (H 11) Der dicke Spaak symbolisiert den Signifikanten, der "flache Lederkoffer", den Lacanschen "Bruchstrich" zwischen dem fett gedruckten Signifikanten und dem kleinen, dünnen Signifikat, Spaak 1. Spaak 2's Figur, der "Leib" ist die Ausdrucksseite des Zeichens. Er gebärdet sich als "Wilder", ein Terminus, der auf den Ethnologen Claude Livi-Strauss verweist. Dieser diskutiert das System der "Wilden", der Mythos ist für ihn der Vernunft strukturell nicht unähnlich. Da der
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Blick jedes Ethnologen über die Fremde gleichzeitig auf das Eigene zielt, ist der "Wilde" des modernen kapitalistischen Systems der "Kaufmann". Der dicke Spaak "ernährt" sich als Signifikantensystem von den sich verschiebenden Signifikanten: "Als er nach dem Essen aufstoßen mußte, sagte er: es bricht ein Luftsturz über meine Kehle." (H 11) Der Durchlauf der Signifikanten erzeugt im Trägerobjekt Mensch ein von diesem nicht kontrollierbaren sprachlichen Ausdruck, das sich als autonom interpretierende Subjekt ist bei Strauß nur ein Text transportierendes Objekt. Die Bedeutung eines Zeichens ist nicht eindeutig: Er sagte: wenn ich so lachen muß, wird mir sofort schwindelig. Und schon erschrak er wieder Uber die Feststellung, die er soeben getroffen hatte, denn er fürchtete nun, sich durchschaut und damit ein noch größeres Unheil vorbereitet zu haben. (Η 1 lf.)
Da nach Lacan das Unbewußte sprachlich strukturiert ist, kann jede "Feststellung" der laufenden Signifikantenkette als sprachliche Rede bewirken, daß etwas aus dem Unbewußten sichtbar oder auch in der Tat wirksam wird. Die Figur des dicken Spaak als Treiben des Signifikanten nimmt und gibt gleichzeitig Bedeutung: "Und ist doch ein guter Kaufmann[!], der dicke Spaak [...]." (H 12) Zur "Fabrikation" von Bedeutung braucht er seinen Bruder, das Signifikat: "und ist doch - zusammen mit seinem Bruder - ein tüchtiger Fabrikant[!]." (H 12) Das Individuum ist in dem Spiel, dem "Betrieb" einerseits gefangen, wird andererseits als Identität durch "Feststellung" erst konstituiert. Es erlangt Halt und Sicherheit durch etwas, was sich andauernd verändert und damit das Gefühl der Sicherheit perpertuierend als Illusion enttarnt: "So kann es gehen. Jemand bebt vor Angst und denkt wie ein Wilder" - wie im Denken des "Wilden" läßt sich eine Struktur aufzeigen, so LeviStrauss - "und ist doch der beste Spekulant, der beste Auftraggeber, der beste Ausbeuter, der beste Verwalter - ."(H 12) Denn die Struktur ist ubiquitär. "Vladimir unterbricht [...]. Ein Wort gibt das andere. Hört das denn gar nicht auf?"(H 12) Jedes Wort hat seine Gültigkeit nur im Zusammenhang, in der Differenz zum anderen Wort. Als System, als Kette fordert es andauernden Anschluß. Der Übergang im Stück wird durch das Verschwinden des Signifikats dokumentiert. Ohne seinen "Zwillingsbruder" Spaak 1 fühlt sich der Signifikant Spaak 2, nun von eindeutigen Bedeutungen getrennt, als rein materielle Seite des Zeichens schwach: Nicht. Reden sie nicht in diesem Ton mit mir. Ich überstehe es nicht. Mein Körper [Zeichenkörper] hängt nur noch lose in seinem Gerippe. Ich kann jeden Augenblick v o m Fleisch fallen. Sie wissen, w o v o n ich rede: 'vom Fleische fallen'. (H 58)
Nelly trifft eine andere Zuordnung, und schon bewegen sich die Signifikanten: "Ja, aber das ist nicht das treffende Wort. Es paßt nicht zu Ihnen und Ihrem Zustand." (H 58) Da nun der Signifikant allein dasteht, ist das Zentrum und der überblickende Punkt außerhalb der Geschichte verloren: Der Bruder ist seit den frühen Morgenstunden [nach der Nacht!] verschwunden. Ich stehe völlig vereinsamt einem sinnlos hetzenden und unüberblickbaren Geschäftsbetrieb g e g e n über. Den ich beherrschen und leiten soll. Das heißt: jetzt erst, w o ich ihn allein beherrschen und leiten soll, kommt er mir auf einmal so sinnlos hetzend und unüberblickbar vor. (H 59)
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Die Kultur, einst begründet auf Identität, wird nun bestimmt durch die Differenz: Es ist, als verlange man von mir - der ich doch von Natur aus auf Ergänzung eingestellt bin - , als verlange man, daß ich den ganzen europäischen Devisenmarkt im Kopf habe und noch dazu zu unseren Gunsten beeinflusse. (H 59)
Der Begriff "Devisen" hat seine etymologische Herkunft im lateinischen "dividere", "teilen". Gemeint ist hier also der Markt der Teilungen, die Differenz. Die gravierenden Folgen des Übergangs, der Trennung des Signifikanten vom Signifikat nach Nietzsche und Saussure, die Unsicherheit, die Ambivalenzen und Paradoxa des (post-) modernen Denkens und der Verlust eines eindeutigen Sinns gestalten eine in der Differenz sich bewegende Umwelt, die der übrig gebliebene Signifikant Spaak 2 dokumentiert: ich entlasse jene erfahrenen Mitarbeiter fristlos, die mich zur Vernunft mahnen und mir besonnene Ratschläge erteilen. Denn ich muß doch meine herrschende Stellung in der Firma bis zu allerletzt behaupten, und jede Entlassung gewährt mir das traum[!]hafte Gefühl, ich sei immer noch Herr der Lage. So weit so schlimm. (H 59)
Das Unbewußte ist nun sprachlich strukturiert, das ehemals beherrschende "Subjekt" ist dem Spiel der Signifikantenkette ausgesetzt. Dieses Spiel, das strukturelle Unbewußte, läßt das Signifikat, den "dünnen Langen" Spaak 1 für immer verschwinden. Zwar will zuerst Spaak 1, die eindeutig zuordbare Bedeutung, das Undeutliche, den sich bewegenden Text, umbringen, dann jedoch dreht sich der Spieß um: Nelly hat den Schrei in dem Augenblick ausgestoßen, als die Gestalt, die in der Verandatür lehnte, von einer zweiten Gestalt, die Spaak 1 sehr ähnlich sieht, bedroht wird. Die zweite Gestalt hat sich mit einem langen Messer in der erhobenen rechten Hand an die erste Gestalt herangeschlichen und hätte sie niedergestochen, wenn Nelly nicht im entscheidenden Augenblick mit ihrem Schrei gewarnt hätte. Die erste Gestalt dreht sich blitzschnell um und entwindet der angreifenden Gestalt das Messer, zwingt sie nieder und stößt ihr das Messer mehrmals tief in den Körper. Dann nimmt die erste Gestalt ihr Opfer auf beide Arme und läuft sehr schnell davon." (H 48)
Der unbewußte Text nimmt die eindeutige Bedeutung mit sich, es ist nun "ein Traum zu zweit" im Text. Denn im Traum als symbolischen Text übernimmt das sprachlich strukturierte Unbewußte das Kommando und verschiebt und verdrängt. Bei Lacan wird dann das Unbewußte zum Text. So ist kein Unterschied zwischen Realität und Traum mehr zu legitimieren, Tag und Nacht gehen ineinander über. Die Nachtseite ist der Text, die symbolische Ordnung, die das Unbewußte ist. Was Vladimir für einen Traum hält, ist zugleich die Realität: Nelly läuft zum Verandafenster. Nichts mehr zu sehen. Wir haben nicht geträumt. Jemand, der uns beobachtet hat [die symbolische Ordnung, der Andere, das Unbewußte], sollte umgebracht werden. Aber es ist anders gekommen. Das gehört in meine Affäre. Sie hat Hintergründen], die ich selbst nicht kenne. Ich habe Angst, Vladimir. (H 48f.)
Die Hintergründe als der unbewußte Text beherrschen die Figuren, die dieser Text sind.
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1.1.4. "Ich ist ein anderer" - Was ist Identität? Am Ende stirbt Nelly und damit die Identität. Der Name "Nelly" erinnert an "Null", "nichtig", etymologisch herzuleiten vom lateinischen "nullus", "keiner", entstanden aus "n(e)M "oin(o)los", "nicht ein einziger". Oder auch aus dem lateinischen "nemo (nullius, nemini, neminem, a nullo)", "niemand". Französisch heißt "Ne ... personne" "niemanden" und "II y a" "es gibt". Somit bedeutet "Nelly" auch die Negation der eigenen Identität. Mit Lacan argumentiert Strauß in "Die Hypochonder" gegen das philosophische "Cogito". Die Figur "Nelly" gehorcht dem Lacanschen Satz: "Je pense oü j e ne suis pas, done j e suis oü j e ne pense pas". 18 Dabei geht die Identität in dem sich bewegenden Text auf, der jedoch dem realen Leben entgegengesetzt ist. Nellys Tod am Ende von "Die Hypochonder" erfüllt die Blanchotsche These des sich selbst unterlaufenden Null-Punktes eines paradoxen Sprechens ohne eindeutigen Subjekt-Sprecher in dem Blanchotschen paradoxen "Ich"-ist-Text-Zustand "Ich bin tot". In "Die Hypochonder" destruiert Strauß den Dialog und damit aus dialektischer Sicht die Identität des Menschen. "Der Ort', an dem [der Mensch] zu dramatischer Verwirklichung gelangte, war der Akt des Sich-Entschließens."" In "Die Hypochoder" ist der andere aber das reine Spiegelbild, die Identität konstituiert sich nicht mehr im Dialog, sondern als Bewegung der Signifikantenkette: Nelly steht auf und sieht sich im Raum um. Dann geht sie zu Vladimirs Wandschrank und öffnet ihn. Die Innenfläche der aufgeklappten Schranktür ist ein Spiegel. Sie nimmt einen weißen Seidenschal von Vladimir hervor und legt ihn sich um. Dann nimmt sie einen Hut und einen Mantel aus dem Schrank und probiert die Kleidungsstücke vor dem Spiegel an. Sie versucht alle möglichen Haltungen und Bewegungen von Vladimir nachzumachen. (H 5 7 )
Nelly nimmt hier die "Identität" von Vladimir an. Dabei ist den Zeichen, den Kleidern Vladimirs keine eindeutige Bedeutung mehr zuzuordnen. Daher erscheint gleichzeitig der verletzte Spaak 2, der Signifikant, der sein Signifikat verloren hat: In der Galerie taucht Spaak 2 auf. Er taumelt stark und macht den Eindruck, als sei er angeschossen. Er preßt seine rechte Hand an die linke Schulter wie auf eine Wunde. Gleichzeitig sieht es so aus, als wolle er sich an seinem eigenen Körper [seinem Zeichenkörper] festhalten. Er lehnt sich an eine Säule. Er bringt sich in eine korrekte Haltung. Er nähert sich Nelly und grüßt schüchtern. Nelly erblickt ihn im Spiegel und zieht vornehm den Hut [Nelly erblickt eine imaginäre Einheit, die die verhärtete symbolische Ordnung ist]. Dann dreht sie sich zu ihm um, und Spaak 2 erschrickt und taumelt etwas zurück [der Signifikant bewegt sich wieder]. Er ist stark betrunken und zugleich vollkommen angsterfüllt. Nelly bleibt in ihrer Verkleidung und erinnert an einen weiblichen Clown, der in zu großer Männerkleidung auftritt. (H 5 7 )
Die männlich dominierte symbolische Ordnung - das Gesetz des Vaters - , der Nelly ihre Identität verdankt, ist die unbewußte Bedingung jeder Existenz: Vladimir: Du und dein gemeines[allgemeines] Unwissen über dich selbst. Du weißt nicht, wie du redest. Du hast dich nicht im Kopf, wenn du sprichst. Du weißt nicht, wie du aussiehst. Wie du gehst. Du hast keine Ahnung von dem Eindruck, den du machst. Du sitzt
18
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Jacques Lacan: Ecrits, Paris 1966, S. 5 1 7 . Szondi: Theorie des modernen Dramas ( 1 8 8 0 - 1 9 5 0 ) , a.a.O., S. 14.
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da und schwätzt von einer 'entlarvenden Tatsache' und bist doch selbst nur eine einfältige Tatsache, ein niedriges Dingwort. "Meine Mutter" - eine alte unbewußte[!] Frau. (H 40)
1.1.5. Die Kriminalgeschichte ohne Auflösung am Ende der Aufklärung In Michelangelo Antonionis "Blow Up" bleibt am Ende des Versuchs der Aufklärung eines Verbrechens nur die Ungewißheit. Die Handlung von "Die Hypochonder", die sich oberflächlich als Kriminalgeschichte zeigt, eröffnet ebenfalls keine eindeutige Ursache, sondern führt zu einer Reise auf das offene Meer, in den unendlichen Text, in das sprachlich strukturierte Unbewußte. Jorge Luis Borges schreibt über die Kriminalgeschichte: Von Poe stammen zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen und doch verwandt sind: die Idee der Literatur als einer intellektuellen Tat, und die Kriminalgeschichte. 20
Und Poe beeinflußt Baudelaire, der wiederum Mailarme und damit dem Symbolismus als Vorbild gilt. Auf diesen berufen sich Paul Vatery und Maurice Blanchot, die wiederum Strauß beeinflussen. Die intellektuelle Tat, die Aufklärung eines Geschehens korreliert mit dem wissenschaftlichen Denken. Von Spuren auf ein reales Geschehen zu schließen, primär Unerklärliches auf natürliche Ursachen zurückzuführen, ist erst neuzeitlichem Denken eigen. Dies zeigt Umberto Eco in seinem Roman "Der Name der Rose". Hier ermittelt die aus William von Occam, der das Ende der Scholastik lehrt, und dem Conan Doyleschen "Hund von Baskerville" postmodern konstruierte Figur "William von Baskerville" mit wissenschaftlichen Methoden. Und er hat Erfolg, obwohl er mit seiner Neugier, mit seinem aufklärerischen Eifer die Bibliothek, das gesammelte Wissen, das Borgessche unendliche Buch21 zerstört. Aufklärerische Neugier ist, obwohl sie das Wissen zu vermehren sucht, eventuell der Vernichter der ganzen Kultur, so der ironische Seitenhieb des postmodernen Autors Eco auf die Moderne. Strauß situiert seine "Handlung" nicht an den Beginn der Aufklärung, sondern an den Beginn des 20. Jahrhunderts, also in die Zeit, in der sich das Zentrum der Kultur vom Subjekt zum Text bewegt und in dem Jahr, in dem Sigmund Freud sein die Psychoanalyse begründendes Buch "Die Traumdeutung" veröffentlicht. Die dritte Beleidigung seiner Selbstliebe, so Freud, muß der Mensch zu dieser Zeit vernehmen, erst entwertet Kopernikus dem Subjekt das Weltmodell, das ihm bestätigt, daß es sich im Zentralpunkt des Weltalls befindet, dann verneint Darwin das Schöpfungsprivileg des Menschen gegenüber dem Tier, und nun, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zeigt die Psychoanalyse die Regentschaft des Unterbewußten über das Bewußte, das Ich ist nun nicht mehr Herr im Haus. Die Suche nach einer Ursache mit Hilfe von Spuren ist sowohl die Arbeit des Detektivs als auch die Arbeit des Psychoanalytikers. Aber die Ursache ist nach Freud nicht mehr eindeutig zu klären. Wer oder was ist die "prima causa", wenn Text und Unbewußtes das "Ich" determinieren? Die Aufklä-
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Jorge Luis Borges: Die Kriminalgeschichte, in: ders.: Die letzte Reise des Odysseus. Vorträge und Essays 1978-1982, Frankfurt 1992, S. 49-61, hier: S. 51. Der Bibliothekar heißt bei Eco "Jorge von Burgos".
rung kann keinen Schuldigen mehr benennen und die Suche wird endlos wie die Suche nach der eigenen oder fremden Identität. Wer ist in " D i e Hypochonder" der Mörder, wer ist der Detektiv? Ohne eindeutige Zuweisung dieser Rollen kann es auch kein Zentrum der Vernunft in der Aufklärung geben. Vladimir: Wie, wenn wir einander zu beobachten und zu verfolgen hätten? Ich der Mörder und du der Detektiv. Nelly: Aber so ist es gar nicht. Vladimir: Nein. Es ist umgekehrt. Du bist der Mörder und ich der Detektiv. Nelly: Ich meine doch: es gibt diesen Unterschied nicht, wenn man sich liebt. Ich jedenfalls kenne mich nicht mehr aus: beobachtest du mich oder beobachte ich mich selbst. (H 4 5 f . )
Und: Wer tötet in " D i e Hypochonder" überhaupt wen? Es zeigt sich ein Paradox: Der eine tötet das Signifikat des anderen, der wiederum das Signifikat des Mörders. Die Frage " W e r tötet nun wen?" läßt sich variieren in: Wer ist der erste Grund? Wer die Ursache? Alles löst sich in einem unendliche Regreß auf. Am Ende bleibt nur der Übergang vom vermeintlichen Festland oder besser gesagt von den Grenzen, der Stadt am Meer, auf das Wasser des fließenden Textes. Wenn nichts mehr gesehen werden kann, dann ist die aristotelische Mimesis nicht mehr zeitgemäß. Michel Foucault entfernt sich vom aristotelischen Denken, für ihn ist ein geschichtlicher Prozeß als kausal determinierte, intentionale Ordnung nicht mehr erkennbar. Diskursiven Dispositiven kann eine Kontinuität nicht mehr zugeschrieben werden. Sinn als Fixpunkt wird problematisch, Dispositive zeigen sich an j e d e m Ort und in jeder Zeit als Darstellung. Der Wahnsinn als inhaltliches Dispositiv läßt die Verdunkelungen der Vernunft als Negativbild sichtbar werden und damit die Ordnung von Diskursen, die sich nicht weiterhin dem nun grundlosen Grundsatz mimetischer Repräsentation unterordnen. 22 W o nichts mehr letztgültig beobachtet werden kann, kann auch nichts mehr abgebildet werden, eine Handlung ist dann nur noch eine konstruierte. Zu der Zeit der Abfassung von " D i e Hypochonder" entsteht auch ein Filmprojekt, "Gerda", ebenfalls eine Kriminalgeschichte von Strauß, die als zu verworren und mysteriös abgelehnt wird. In Antonionis " B l o w Up" schafft die aufklärende Vergrößerung eine Wahrheit, die am Ende von der Illusion nicht zu trennen ist. Der Versuch, klar zu sehen, führt paradoxerweise zur Zerstörung der Aufklärung. Und in " D i e Hypochonder" läßt Strauß eine Figur sagen: " W e r nicht mehr klarsieht, wird leicht zum Hellseher." (H 4 0 )
1.1.6. Wer spricht? Der Tod des Autors und die Verweigerung einer eindeutigen Perspektive Samuel Becketts " W e n kümmerts, wer spricht" gilt ebenfalls für Strauß' " D i e Hypochonder". Wenn der Text das Zentrum ist, dann verliert das Cartesische "Cogito, ergo sum" seine Bedeutung. Mit einer Unabhängigkeit der Vernunft von einem Punkt außerhalb der Geschichte lösen sich im zeitlosen T e x t die Standpunkte auf. S o wechselt Vladimir in die dritte Person, spricht über sich wie ein Erzähler:
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Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt 1973.
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Und im Mund 'Er nimmt einen Schluck Milch' hält er noch einen Schluck Whisky am Gaumenrand zurück. Sagen, erwidern kann er darauf nichts. Jetzt mUßte er in Umschreibungen ausweichen, müßte Wörter im 'übertragenen Sinn' gebrauchen. Wenn es irgendwie weitergehen soll. (H 41)
Des weiteren deklamiert Vladimir fremden Text: "Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagung aufhören wird und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird". Und Nelly ist sich nicht mehr sicher, wer überhaupt spricht, wenn sie spricht: "Erzähl du nur weiter. Ich traue keinem Wort mehr, das ich rede. Wer spricht denn, wenn ich den Mund aufmache? Bin ich es noch oder sprichst nicht du aus mir?" Foucault folgt den Gedanken Blanchots, wenn er das Eingehen des Subjektes in die "tote" Schrift und damit auch den "Tod des Autors" konstatiert." Der Mensch im Zeitalter der Entzauberung (Max Weber) beobachtet sich nicht mehr als autonomes Subjekt, sondern - mit Levi-Strauss im unfixierten Hintergrund - abhängig von Strukturen. Foucaults These ist, daß der eine Wahrheit konstituierende Diskurs seine inhärente Materialität unterschlägt. Die Repräsentation und das kognitive "Ich" fallen aus Foucaults Rahmen zugunsten des methodischen Vorgehens des Diskurses selbst. Bedroht vom unendlichen Regreß als Resultat einer Beobachtung in der Beobachtung diskutiert Foucault die Wirkung der Diskurse. Da die Strukturen in der "eigenen" Sprache unbewußt sind, wirkt die Pression, von der jeder Diskursteilnehmer betroffen ist, im Un-Sicht-baren. Das Heideggersche "Man" und die Freudsche Symbolik finden bei Foucault ihre Analogie in Diskursteilen wie "man ist" oder "natürlich ist". Gerade nicht das hermeneutische Resultat der richtigen Interpretation steht im Mittelpunkt von Foucaults Thesen. Analog funktionieren die Figuren in "Die Hypochonder" wie der Text obwohl oder gerade weil der Sinn fehlt. Foucault geht es also nicht um die richtige Bedeutung, sondern - in Anlehnung an Heideggers Fundamentalontologie - um die fixpunktlose Ontologie des Diskurses: Diskurs, gespiegelt im Sprechen und Archivieren, in Zeiträumen und Institutionen. Parallel kümmert es im Beckettschen Sinne wirklich nicht, wer spricht. Seit dem 17. Jahrhundert ist das Sein der Sprache als Repräsentation zu interpretieren, denn Descartes' "Cogito ergo sum" erlaubt den Zusammenschluß von Repräsentation und Sein im Diskurs. Im 19. Jahrhundert konstituiert sich mit der Literatur jedoch ein das in der Klassik nicht wahrgenommene reine Sein der Sprache ins Zentrum verschiebender Kontradiskurs. Mallarme' markiert hier an vorderster Front ein Phänomen, das Foucault veranlaßt, die Historie der Literatur als Ausbau des Paradoxes eines eben nicht diskursiven Diskurses zu deuten (sie!). Das Sein des Individuums wird aus dem Sein der Sprache verdrängt, wie auch Blanchot zeigt. Indem das Individuum in den Raum der Autonomie der Sprache tritt, begibt es sich ebenfalls in den über-schreibbaren Zustand des eigentlich nicht neben der Sprache zu Findenden. Neben Blanchot beeinflußt auch Borges die Foucaultschen Thesen. Die Taxonomien Borges' transportieren die Sprache an einen so abgelegenen Punkt im Denk-Raum, daß in der Wahrnehmung dieser Extremlage die Grenzen der Sprache in der eindeutigen Beschreibung der Identität des Individuums bewußt werden. Zusätzlich zeigt sich in der Borgesschen Übertretung der verber23
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Michel Foucault: Schriften zur Literatur, Frankfurt 1991.
genden "Man"-Normalität die Determination des Individuums durch das Spiel des Diskurses mit sich selbst. So bleibt Strauß in seinem Stück "Die Hypochonder" auch in der Tradition von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Strauß zeigt hier durchaus noch in "revolutionärer" Absicht die Grenzen und Eingrenzungen der Gesellschaft und der Theaterkonventionen auf. Foucaults Definition der Literatur als Nichtbeachtung der Grenze, die gegenüber dem "cogito" der neuzeitlichen Repräsentation mit einem modernen "dico" kontert, verweigert jeden Sinn außerhalb der Oberfläche. So bleibt die Aufzeichnung des Eingehens des Subjekts in die Oberflächlichkeit des vom zur Durchlaufstation degradierten Textsprechers gesprochenen Textes. Die Literatur ist nun ein Umschlagplatz der Rede und die Entstehung von Literatur weist nicht über eine Schwerkraft auf einen Weg nach Innen, sondern imitiert, kopiert und figuriert sich selbst an der Fassade der Rede, hinter der nichts zu finden ist, als weitere Fassaden. Der Autor verschwindet zugunsten des Spiels der Signifikanten, so wie am Ende von "Die Hypochonder" die "überlebenden" Figuren in das "Meer" abgleiten. Nicht um die Gestaltung des Wortes geht es Foucault und Strauß, sondern um die Wiederholung der existierenden Bücher, um die Kopie des bereits Geschriebenen, um die Bewegung in der Bibliothek. In "Die Hypochonder" verschwinden die "überlebenden" anderen nicht nur im "Meer" des unendlichen Textes, ihren Auftritt haben sie ebenfalls aus dem unendlichen Archiv, dem langen hallenden Gang.
1.1.7. Der Eingang in das unendliche Buch In seinem Roman "Thomas der Dunkle" beschreibt Maurice Blanchot den Eingang in das unendliche Buch: Thomas setzte sich und sah das Meer an. Während einiger Zeit blieb er regungslos. [...] Und dann, als ihn eine stärkere Welle berührt hatte, rutschte er seinerseits die Sandschräge hinab und glitt mitten in die Strudel.24
Dieser Übergang ist in "Die Hypochonder" eine "wilde endlose Reise. Augen auf. Alles sehen und nichts behalten. Die Augen, wie ein Faß ohne Boden." (H 47) Das Vorbild ist Blanchots "unendliches Zwiegespräch", sokratische Über-(Be)-Griffe unterlaufend und nicht konventionalisiert, ein Dazwischen, das generiert wird, eine Öffnung der radikalen Beziehung zum Un-begriffenen. Gerade das Blanchotsche Offene der Frage im unendlichen Text erinnert an Heideggers Frage. Dessen Begriff der Angst zitiert Strauß auch in "Die Hypochonder": Nelly: Du zerbrichst mir den Kopf. Ich werde verrückt bis auf den Grund. Angst, Angst. Ich bin bloß noch ein Gespenst von Angst. Ich fürchte mich, ich fürchte mich vor mir. (H 73)
Der Text ist ein neues Gewebe alter Zitate. Teile von Formeln, Codes, Fragmenten, rhythmischen Mustern bilden den Text in einer neuen Verteilung, denn vor dem Text und neben dem Text gibt es immer die Sprache. Der Intertext ist daher ursprungslos, unbewußt oder automatisch bewegt sich der Text. Die Figuren und der
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Maurice Blanchot: Thomas der Dunkle, Frankfurt 1987, S. 7.
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Rezipient sind paradoxerweise Ursprung und Durchgangsstation zugleich. "Wer immer meine Worte liest, erfindet sie damit" (Borges), alles geschieht zum ersten Mal und dabei immer wieder ewig neu. 25 Da man im unendlichen Text den Ursprung nicht eindeutig ausmachen kann, stellt sich ein Gefühl der Unheimlichkeit ein, das sich, da die Identität ebenfalls ursprungsloser Text ist, auch auf sich selbst bezieht, man blickt in sich wie in einen schwarzen Spiegel. Mit einer direkten Anspielung auf den Argentinier Borges sagt eine Figur in "Die Hypochonder": Mit dieser Brille konnte ich endlich wieder meine geliebten argentinischen Geschichten lesen, in die man einblickt wie in einen schwarzen Spiegel. Und immerzu mußt du darauf gefaßt sein, daß du selbst, höchst persönlich beim Namen genannt, darin vorkommst und in ein schlimmes Geheimnis verwickelt wirst. (H 20) Borges denkt in seinen Texten poetische, philosophische und wissenschaftliche Text-Welten zusammen, sein "anything goes" (Feyerabend) läßt ihn eine Hauptrolle im Akt der Etablierung der postmodernen Literatur und Philosophie spielen. Von Borges übernimmt Strauß den weiten Horizont der Ideengeschichte und die Bereitschaft, sich auch naturwissenschaftliche Themen anzueignen. Borges' Zusammenfugen verschiedenster Inhalte, die er, motiviert durch die idealistische Philosophie, so weit ausdenkt und deren extremsten Diskurs-Punkt er soweit nach "außen" schiebt, bis die Inhalte ihre Grenzen in Paradoxa und Ambivalenzen finden und so ihr literarisches Fundament offenlegen - auch hier ist Borges Vor-Text der neueren französischen Philosophie, die über die von ihr für ihre eigenen Texte verwendete literarische Form eine Aussage über ihren Inhalt macht - , ist das Vorbild für Strauß' Denken der Welt als Text. Mit seinem Theatertext "Die Hypochonder" markiert Strauß den Übergang in eine Welt als Text. Deren Paradoxien und Ambivalenzen, die Borges aufzeigt, deren Gesetze und Ordnungen sind dem Alltagsverständnis eher fremd, da das "Man" unbewußt bleibt. Im Widerspruch in sich selbst entwerten sie das Treiben in der Immanenz und so führt das Lesen von Borges' Texten zu einem Denken, das später auch Strauß zu einer vermehrten Beschäftigung mit der Gnostik anregt. Am "Ende", das jederzeit und überall auch "Anfang" ist, steht der unendliche Regreß, der in Valörys und Foucaults "Tod" des Autors anzutreffen ist und in der von Niklas Luhmann vertretenen Systemtheorie.
1.1.8. "Die Hypochonder" als Traumarbeit: Die Bühne ist Text ist Tag ist Nacht ist Realität ist Traum "Die Hypochonder" ist ein "Alptraum einer grenzenlosen, unendlichen Nachäfferei." (H 52) Den vorgefertigten Formen und Strukturen als Imaginäres ist nicht aus eigener Kraft zu entkommen, denn eigene Kraft bedeutet Kraft des "Ichs" und "Ich" ist selbst ein Imaginäres. Damit bliebe nur der Traum im Schlaf als "Königsweg zum Unbewußten" als Ausweg aus den Verhärtungen, als Weg zu der Urschrift, den Urbedingungen, der Erkenntnis der Unfreiheit. Doch dieser Weg ist ebenfalls verbaut, wenn auch das Unbewußte sprachlich strukturiert ist. Aus der Bibliothek, dem großen Archiv kann man nicht hinaustreten. Sie zeigt sich als Raum der Ver-
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Vgl. Saul Sosnowski: Borges und die Kabbala, Hamburg 1992, S. 11.
doppelung, abgetrennt vom "Individuum" und den Zeichen. Da das große Archiv keine Bedeutung zuläßt, sondern allein "ist", kann in Bezug auf die Literatur nur die Form "sein". Jede Figur, jede Handlung, jeder Raum und jede Zeit, das ganze Geschehen auf der Bühne wird als Imaginäres ausschließlich als Folge der Toleranz des Wissens generiert, die Bewohner des imaginären Raums der Bibliothek sind so nichts als kopierte Bücher. Jedes Buch verweist wieder auf ein anderes Buch, jede Kopie auf eine andere Kopie. Foucaults "fantastique de bibliothdque" ist das Jabessche Spiel zwischen den Buchstaben und den Zwischenräumen. In "Die Hypochonder" kommen die Figuren als Ausformungen der Bibliothek aus einem langen hallenden Gang, aus der großen, in die Zeiten und Räume reichenden Bibliothek alles Geschriebenen. Das Stück "Die Hypochonder" verrichtet wie jeder Text "Traumarbeit", es wälzt das in den Archiven gespeicherte Wissen um. Auch deshalb beginnt das diese "Traumarbeit" selbst reflektierende Stück im Jahr 1901, ein Jahr nach dem Erscheinen von Freuds "Traumdeutung". Die Figuren befinden sich in der Helle des Tages und im Dunkel der Nacht, im Wachzustand und im Traum zugleich. Der Tag definiert sich in dieser Uneindeutigkeit allein durch die fragile "Stabilität" des Imaginären: Vladimir: [...] Bin ich nicht - so ruhig ich hier sitze - die Beute einer Horde von wilden Empfindungen und Redensarten? Ja. Wenn ich zurückdenke an die letzten Wochen, die ich ohne Nelly zubringen mußte. Als ich in schwerem Stumpfsinn lag und meine A u f merksamkeit verwahrloste und ganz zu entschwinden drohte. (H 19)
Vladimir verliert mit dem anderen sein Imaginäres, seine Identität. Der andere als der Spiegel, an dem sich die Einheit des "Ich" imaginiert, verhindert die Auflösung in der symbolischen Ordnung. Als Nelly nicht mehr da ist, ist Vladimir auf die Struktur angewiesen, auf die Signifikanten. Vladimir greift in die Innentasche seines Jacketts, steht auf und holt ein Lederetui hervor. Er zeigt es Nelly. Er will die Brille herausnehmen, aber sie rieselt, in winzige Einzelteile zerbrochen, zermalmt, aus der Hülle durch seine Finger auf den Boden. (H 20)
Vladimir will Nelly die Einheit, den einheitlichen Text zeigen, mit dem er den anderen wahrnimmt. Doch der andere, der wichtig ist als Bestätigung der eigenen Einheit, verweigert mit dem notwendigen Eintritt in die symbolische Ordnung den narzißtischen Akt. Die imaginierte Einheit, der kohärente Text, der die Wahrnehmung des anderen erst ermöglicht, zerbricht. Der Text, die Brille des Durchblicks, mit dem man den Text betrachtet, ist innerhalb der Bewegung des Textes selbst fragil. Das unendliche Buch ist von der Realität nicht zu unterscheiden: Mit dieser Brille konnte ich endlich wieder meine geliebten argentinischen Geschichten lesen, in die man einblickt wie in einen schwarzen Spiegel. Und immerzu mußt du darauf gefaßt sein, daß du selbst, höchst persönlich beim Namen genannt, darin vorkommst und in ein schlimmes Geheimnis verwickelt wirst. Ja. Ich sitze auf der Veranda, eingehüllt in Decken, und lese sorgfältig. Als ich zur Entspannung einmal weit umherblicke, über die Gartenmauer hinweg [dh. über das Bewußtsein hinweg, das gepflegte, jedoch bleibt es eben unklar, ob man noch im Buch ist oder nicht, da das Buch die Welt ist oder nicht], sehe ich dort einen Mann auf der Straße gehen. Ja. Aber kaum hat mein Auge ihn erfaßt, schlägt er zu Boden. Ich erschrecke und sehe ängstlich in das Buch zurück. Dort aber - zu meiner noch größeren Bestürzung - lese ich gerade das, was mir zur gleichen Zeit wirklich widerfährt. (H 20)
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Und dann setzt Strauß noch einen drauf. Vladimir liest einen imaginierten Bericht, der sowohl in der Vergangenheit der Inhalt des dort gelesenen Buches ist und zugleich die Gedanken des Lesers, als auch in der Gegenwart des Stückes der Bericht über die Vergangenheit. Zwei Zeitebenen und zwei Realitätsebenen überlagern sich: Er zitiert, nimmt das Etui für die Buchseite und fährt mit dem Finger die Zeilen ab. 'Sogleich bildete ich mir ein, ich hätte Basiliskenaugen. Ich laufe in der größten Angst herum und sehe von ungefähr in den Spiegel: und weil mir einfällt, ich hätte Basiliskenaugen, so ward mir nicht anders, als wenn ich vor mir selbst zerbörste...' Ja. Er wechselt in eine unverstellte Stimme über. Nicht wahr, Nelly, du warst in meinen Verstand eingebrochen und ließest mich mit den Augen eines Mörders sehen. (H 20)
Die Identitäten und Zeiten können kaum mehr differenziert werden, gehen, da sie aus dem zeit- und raumlosen Archiv stammen, wie in einem Traum ineinander über. Und ohne eine Differenzierung ist es unmöglich, zu entscheiden, wer oder was die Aristotelische Ursache, die "prima causa" für einen Mord, für alles, was geschieht in der Welt, ist. Der Dialog, der das Drama als lineare Handlung konstituieren soll, da in ihm Ursache und Wirkung in einem Zusammenhang stehen, wird in "Die Hypochonder" aufgelöst. Die Frage nach dem Schuldigen bleibt nun ewig virulent. Nelly: Du hast getötet. Du hast den bösen Blick. Vladimir: Du hast ihn aus verzweifelter Liebe getötet. Nelly: Was weißt du. Was ich getan habe, das war die stümperhafte Fälschung eines Verbrechens. Das Original hängt in deinem Kopf, Vladimir. (H 21)
Denn wenn der andere auch das "Ich" ist und dieses wiederum in der symbolischen Ordnung treibt, wen trifft dann die Schuld? Individuelle Verantwortlichkeit und Kausalität als Konstituenzien der abendländischen Kultur werden hier gründlich destruiert. Vladimir: Wir wissen etwas nur, solange wir es gemeinsam erleben. Und was um uns herum geschieht, das beobachten wir und veranlassen es selbst zur gleichen Zeit. (H 22)
Strauß treibt das neostrukturalistische Spiel auf die solipsistische Spitze. Die Welt ist das "Ich" ist der andere ist das Buch ist die Welt usw. Spürst du nun, was es heißt, keinen Ausweg mehr suchen zu müssen? Nicht mehr lesen, keine Urteile mehr fällen, nicht länger das Neue und Fremde kennenlernen. Wir wollen einander in die vertrauten Gesichter sehen und uns gut zureden. Und was ich sage und wie sich mein Gesicht bewegt, das wird nur ein Echo sein und ein Widerschein von deinen Reden und Mienen. Und dir wird es nicht anders ergehen. (H 22)
Jeder ist des anderen Spiegel, wobei er nicht genau weiß, ob der andere überhaupt existiert oder ob er nicht nur eine narzißtische Spiegelung ist: "Ich ist ein anderer". Nur im "Dialog", im Einlassen auf die symbolische Ordnung, auf das Buch der Welt, ist Kommunikation und Identitätsstiftung möglich, wird aber gleichzeitig entzogen. Der "Dialog" wechselt zwischen der Fixation des Imaginären und dem Loslassen in der Immanenz der Signifikanten: Oh das Sprechen fällt mir so leicht, es ist das Allerleichteste. Wenn wir so reden miteinander, werde ich schon fast zum Redner. So sicher[Fixation] und ausgelassen[Loslassen] fühle ich mich. (H 22)
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Die Unmöglichkeit zu entscheiden, ob man sich in einem Traum oder im Leben befindet, spiegelt die neostrukturalistischen Welt, in der ein transzendentales Signifikat fehlt. Auch in "Die Hypochonder" löst sich die Welt in Paradoxa und Relativitäten aus ihrer Verankerung. Für die später erfolgende Hinwendung zur westlichen und östlichen Mystik legt Strauß hier bereits die Grundlagen. Die Unentschiedenheit, ob es sich jeweils um einen Traum oder um die Wirklichkeit handelt, spiegelt die Unentscheidbarkeit, wer der andere ist. Die Gefahr, daß man sich wie Narziß in sein eigenes Spiegelbild verliebt, ist groß: "Wenn zwei sich innig lieben, so kommt es vor, daß sie einander verwechseln" (H 23) Da das "Wasser" des "Meeres" als unendlicher Text durchquert werden muß, trägt Vladimir immer noch den "braunen Lederpanzer", das Imaginäre, er benötigt ihn, um sich als Identität im Text zu behaupten: "Soll mich jeder amoklaufende Matrose [jeder sich über das "Wasser", den "Text" Bewegende] niederstechen [als eindeutiges "Ich" in Frage stellen], wenn ich aus dem Haus [dem sprachlich befestigten Milieu] gehe. (H 24)
1.1.9. Der unendliche Text nach Beckett als Säkularisat der heiligen Texte Der andere von Nelly ist Vladimir ist Jakob ist der durch alle Zeiten und Räume operierende Text der Welt. Vladimir unterscheidet sich von seinem Vater - vom Freudschen Gesetz des Vaters - nur durch ein minimales körperliches Merkmal, einem "Fehler des Kopisten". Ansonsten sind beide Körper, beide Figuren dieselben, da sie derselbe Text sind. Sozusagen ein Text-Klon. Das Wiedersehen mit dem ursprünglicheren Text, mit Jakob, wehrt Nelly erst ab, indem sie den fixierten Text ihrer eigenen Identität, ihre Kleider "fest über den Schultern zusammen" (H 69) legt: Jakob: [...] Zärtlicher noch als Vladimir liebe ich dich, sein Vater. [...] Nelly: Wie reden sie von mir? Wir sehen uns jetzt seit wenigen Stunden, aber vorher nie. Jakob: Glaub mir, das ist ein Wiedersehen heute. (H 69)
Am Ende wird das Wiedersehen Nelly "töten", als Identität wird sie in der Erkenntnis, daß sie nur eine Kopie des Urtextes ist, verschwinden. Nelly existiert nur durch den anderen, durch die symbolische Ordnung, den Text. Vladimir ist der säkularisierte Text von Jakob. Der unendliche Text "beginnt" mit der Figur des heiligen Textes "Jakob", mit dem Haus Jakob, dessen zukünftiger König - siehe Lukas 1, 28ff. - nach der Verkündigung Jesus sein wird. Das Haus, in Anlehnung an Martin Heidegger auch das Haus der Sprache, ist nach der Himmelfahrt Christi ohne König, der imstande wäre, das Heil zu bringen. Augustinus' Unterscheidung zwischen Gottesstaat und weltlichem Staat bleibt in der Form bis heute virulent, das jenseitige Heil kann nicht in das Diesseits gebracht werden ohne einen Verlust an Heil. Der weltliche Herrscher, die weltliche Ordnung kann den wahren König Jesus Christus nicht ersetzen. Das Warten der Christen auf die Wiederkunft Christi dauert nun schon so lange, daß Becketts "Warten auf Godot" nur noch in der Wiederholung stattfindet. Das Warten auf das Heil verschärft sich in der Moderne nach der endgültigen Säkularisation der heiligen Texte für jeden sichtbar zum Verlust der Metaphysik und des Sinns. Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen und Becketts (neben Estragon) wartende Figur Wladimir zeigt Strauß in der Figur des
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Vladimir, 26 die eine Kopie, eine Wiederholung des heiligen Textes ist, nur mit dem Manko des fehlenden transzendentalen Signifikats. Nelly erkennt den NichtUnterschied zwischen Jakob und Vladimir, den "gemeinen Schwindel", (H 75) als sie "plötzlich am Hals des Porträtierten" Jakob kratzt und bemerkt, daß dessen hervorstehendes Merkmal, ein im Lacanschen Sinne phallisches, noch in der Moderne übriggebliebenes Zentrum, das Gesetz des Vaters, der Garant der symbolischen Ordnung, das ist, was von den heiligen Texten übriggeblieben ist. Das "Wiedersehen", die Begegnung mit dem Urtext findet statt, hat aber nicht mehr die grenzenlose Liebe zur Folge, sondern nur noch das kalte Spiel des Textes, die Gewalt. Die jenseitige Liebe wird unter der Bedingung des Diesseits zwangsläufig zur männlichen Gewalt. Das große Archiv reicht als Text bis zum Ursprung, kann aber nicht die ursprüngliche Liebe, das Heil konservieren, zeugt ganz im Gegenteil von deren Absenz. Die Säkularisation des unendlichen Textes erzeugt das Gefühl des Verlusts, das später Strauß dazu führen wird, sich der Suche nach dem ganz anderen zu widmen.
1.1.10. Das Unbewußte und der Text: vom Unbewußten als biologischen Trieb zum Unbewußten, das wie eine Sprache strukturiert ist Innerhalb der UnUnterscheidbarkeit von Realität und Traum, Tag und Nacht, ist das Unbewußte nicht aufzuklären: "Vladimir: Aber der Tag klärt die Nacht nicht auf." (H 39) Der Theatertext "Die Hypochonder" funktioniert als Palimpsest, die Spur des Mörders fuhrt den Aufklärer auf die Spur im Text: Vladimir ist Jacob ist Vladimir usw. Im unendlichen Regreß verweist die Spur auf den Traum und dieser wieder auf die Realität. Die Suche nach der Wahrheit fuhrt zur Lüge und diese wiederum zur Wahrheit usw., die Wahrheit birgt die Lüge bereits in sich und umgekehrt. Die Indizien weisen auf sich selbst zurück und die Kausalität wird problematisch. Die Suche nach der eigenen Wahrheit fuhrt zur Wahrheit des anderen. Doch diese verschwindet unter den Schichten des Textes. Unter dem Text ist ein anderer Text, alle scheinbare Wahrheit ist ein Palimpsest. Die Wahrheit ist nicht in der kausalen Entwicklung, sondern in der zeitlosen Überlagerung der Texte zu suchen, aber nie zu finden.27 Die Vernunft hat ihre Grundlage im Mythos. Die alten Texte sind jedoch nicht verschwunden, sie wirken unbewußt weiter und zerstören dadurch die eindeutige Zuordnung von Signifikant und Signifikat. Nelly: Weniger wissen, weniger reden, weniger leiden. Vladimir: Das ist bekannt, ist aber ein Irrtum. Ein jeder von uns glaubt, er drücke sich am freiesten aus, indem er das meiste wegläßt, was er zu sagen wtlßte. In Wirklichkeit aber wird er doch gewaltsam ausgedrückt. Der einfache sparsame Ausdruck, die einfache sparsame Meinung, sie werden j a beherrscht von der Übermacht der weggelassenen Wörter, des weggelassenen Wissens. Und j e weniger einer sagt, umso schwerer lastet die Herrschaft des Weggelassenen auf seinen Worten. Nein, nein, es gibt ein ungeheures, ein unermeßliches Begriffsvermögen,
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Vladimir wiederholt seine Rede auf S. 41. Vgl. Freuds Spur, die Spur seines Textes "Notiz über den Wunderblock" in Derridas Text "Freud und der Schauplatz der Schrift", der wiederum diese Spur spiegelt. Derrida: Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 3 0 2 - 3 5 0 .
welches über uns alle gebietet, und keiner kann ihm entkommen. Nicht der Schweigende und nicht der Schlafende, weder der Scharfsinnige noch der Schwachsinnige. (H 6 5 f.)
Lacan definiert diese "Übermacht der weggelassenen Wörter", das Unbewußte als der Teil des konkreten Diskurses als eines überindividuellen, der dem Subjekt bei der Wiederherstellung der Kontinuität seines bewußten Diskurses nicht zur Verfügung steht, 2 8
als das "zensierte Kapitel", das "Kapitel meiner Geschichte, das weiß geblieben ist oder besetzt gehalten wird von einer Lüge". 2 9 Das Unbewußte kann demungeachtet bewußt werden in der indirekten Sichtung und der Konstanz von Denkmälern, Bibliotheken, materialisierten Selbstbiographien, in der textuellen Überlieferung und in zurückgelassenen Spuren im Text. Das linguistische Paradigma des Unbewußten des Psychoanalytikers Lacan rekurriert auf die Texte des Ethnologen LeviStrauss, der wiederum, wie er sagt, von Karl Marx, Sigmund Freud und der Geologie beeinflußt wird. So sind für Strauß auch Theatertexte grundsätzlich bewußte Spuren der Vergangenheit, die auf das nicht direkt sichtbare Unbewußte verweisen. Zu "Peer Gynt" schreibt Strauß: "Das Stück hat ein besseres Gedächtnis als sein Protagonist." (PG 74) Jeder Text bleibt an der Oberfläche Ideologie, die sich aus der Geschichte erhalten hat und nun als überlieferte Ordnung das Individuum unterdrückt, ohne daß der Zwang dem Individuum bewußt sein muß. In dem Programmheft zu Peer Gynt zitiert Strauß das Kommunistische Manifest von Marx und Engels: "In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht [...] die Vergangenheit über die Gegenwart, in der kommunistischen die Gegenwart über die Vergangenheit." 30 Die durch die Vergangenheit determinierte Ordnung der Dinge reguliert den Antrieb durch das Unbewußte: Peers Fantasie: sie hat nirgends antizipierende oder gar utopische Momente, sie ist in den ersten drei Akten ganz restaurativ und nostalgisch und im übrigen: vorfabriziert, Versatzstücke aus Mythen und kollektiver Erinnerung. Aber diese Fantasie bringt ihn vorwärts, treibt ihn an: diese Dialektik muß in der Darstellungsweise erkennbar sein. (PG 7 3 )
Für Strauß treiben die Fantasien das Individuum an, aber diese sind besetzt von den alten restaurativen Ideen. Und diese zeigen sich im Theatertext sprachlich strukturiert, das Unbewußte kann weder der Autor noch der Rezipient ohne den Text wahrnehmen. Für L6vi-Strauss ist das Unbewußte nicht die Durchgangsposition der Triebe oder der physikalisch zu interpretierenden Energie einer Lebens-Dynamik, sondern die Wirkungskoordinate einer symbolischen Ordnung. Es ist analog zu setzen mit dem Code- oder Syntaxreglement, das die potentiellen Informationen im Text dirigiert. Daran anschließend kennzeichnet Lacan, Freuds Spur lesend, das Unbewußte als Diskurs des Anderen: das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache. Zur selben Zeit, als Strauß seine "Hypochonder" verfaßt, historisieren Gilles Deleuze und F£lix Guattari - zwar von Lacan beeinflußt, aber über ihn hinausgehend - Freuds Thesen über das Unbewußte in ihrem "Anti-Ödipus", ihrer Arbeit "Kapitalismus und Schizophrenie". Im Fokus der Analyse gerät nun die Gesellschaft in die Position des Individuums. Auch das Begriffsarsenal des Urhebers der
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Jacques Lacan: Schriften. Band 2, Ölten 1975, S. 9 7 . Lacan: Schriften. Band 2, a.a.O., S. 98f. Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, Berlin S. 62.
1984,
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Psychoanalyse wird nun als ideologischer Text aus der Vergangenheit interpretiert. Sowohl die individuelle, als auch die gesellschaftliche Vergangenheit agieren als Text in der Gegenwart und determinieren die Identität des einzelnen. Dessen "Reales" ist nach Lacan aufgrund des Textes eben nicht die vom Individuum und den anderen wahrgenommene Identität. Und so ist die Figur im Theatertext, die Rolle auf der Bühne, paradigmatisch für die Situation des Individuums, das einen vorgegebenen Text als Identität annehmen muß. Um diese Situation auf der Bühne zu zeigen, schlägt Strauß für die Inszenierung des "Peer Gynt" folgendes vor: Könnte nicht - in genau bestimmten Phasen - mehrere Schauspieler den Peer spielen? Dann käme heraus, daß es vielerlei Erscheinungsformen, episodische Aspekte einer Grundfigur sind, losgelöst von der Einheit der Person und von den drei einschneidenden Lebensstadien. (PG) Diese Anregung des Dramaturgen wird auch verwirklicht, sechs Schauspieler spielen die Rolle des Peer Gynt. Der Einfluß der Psychoanalyse auf den Theatertext "Die Hypochonder" speist sich zu Beginn der 70er Jahre aus zwei Quellen. Einmal aus dem beginnenden Einfluß der französischen Intellektuellen auf das Denken der deutschen, zum anderen auf die verstärkte Rezeption der Psychoanalyse in Deutschland in den 60er Jahren aufgrund der nun zunehmenden bewußten Kritik an der Verdrängungsleistung der Gesellschaft der Bundesrepublik nach 1945. In ihren Anfängen wird die Psychoanalyse bereits als gesellschaftskritische Wissenschaft rezipiert. Eine Vielzahl der Psychoanalytiker der ersten Generation kann politisch links eingeordnet werden: Bruno Bettelheim, Paul Federn, Edith Jacobson, Annie und Wilhelm Reich und andere. Die Zeit des Nationalsozialismus bringt dann die psychoanalytische Aufklärungsbewegung zum Erliegen, viele Psychoanalytiker kommen in Konzentrationslager, einige arrangieren sich mit der nationalsozialistischen Ideologie. Dies, aber auch die Emigration in die USA, fuhrt zu einer Entpolitisierung der Psychoanalyse, die kulturkritische Seite der Freudschen Thesen wird unterdrückt. Die in den 50er und 60er Jahren aus den USA in die Bundesrepublik importierte Version der Psychoanalyse ist nur mehr noch eine unpolitische Behandlungsmethodik, die sich in der Emigration an die bewußtseinspsychologisch und behavioristisch orientierte Psychologie der USA in den 40er und 50er Jahren angepaßt und ihre kulturkritische Intention weitgehend verloren hat. Zudem fehlt es in der das Schreckliche verdrängenden Zeit nach 1945 an der Motivation für eine kritische Theorie der Gesellschaft. Erst mit der Studentenbewegung, die die Schriften von Wilhelm Reich wiederentdeckt und in deren zeitlichem Kontext Herbert Marcuse und Jürgen Habermas die Psychoanalyse als eine Grundlage ihrer Arbeiten verwenden, wird das "Unbehagen in der Kultur" wieder in der breiten Öffentlichkeit spürbar. Max Horkheimers, Theodor W. Adornos, Erich Fromms und Margarete und Alexander Mitscherlichs emanzipatorische Ansätze bewirken dann bis in die 70er Jahre hinein eine auch psychoanalytisch orientierte kritische Sicht auf die Gesellschaft. 31
31
54
Vgl. Wolfgang Mertens: Psychoanalyse: Geschichte und Methoden, München 1997, S. 64 und S. 92ff.
1.1.11. D i e Verräumlichung des Textes J a c q u e s Derrida assoziiert mit den N a m e n Nietzsche, Freud und Heidegger den Auftritt einer De-Zentrierung, die den nicht nur auf Metaphysik rekurrierenden, sondern durch Metaphysik fundierten B e g r i f f der Struktur unterminiert . In " D i e Hypochonder" ist dieser Ü b e r g a n g symbolisiert durch d a s Auseinanderreißen d e s Zwillingspaars der S p a a k s , der Trennung des Signifikanten v o m Signifikat. D i e Koinzidenz zwischen Derridas Philosophie und Strauß' Theatertext " D i e H y p o chonder" ist in der "Verräumlichung der Schrift" zu sehen. D i e s e "Verräumlichung" spielt ihre Rolle in der Derridaschen Überleitung v o m R a u m einer Schrift, die einer verbindlichen Metaphysik dient, zum R a u m einer
nicht-phonetischen
Schrift, die in ihrer nicht-kausalen, un-logischen Konstitution mit dem R a u m des T r a u m s konform geht. Der nicht weiter thematisierte Ort in " D i e Hypochonder" ist Amsterdam, d a s als " V e n e d i g des N o r d e n s " umgeben ist von Wasser, so daß sich der Eindruck ergibt, als ob die festen Teile schwimmen würden auf dem sich bewegenden Element. D a s Verhärtete, d a s als sicher Geglaubte der bewußten G e d a n ken, des bewußten Textes, wird unterlaufen durch das " W a s s e r " des sich b e w e g e n den unendlichen Textes, der als symbolische Ordnung d a s Unbewußte ist. Die Szene auf der B ü h n e stellt sich in " D i e Hypochonder" als Verräumlichung der Schrift dar, die ihren eigenen Übergang markiert zwischen ihrer Funktion als Trägerin von Metaphysik und ihrer Funktion als S y m b o l in der Traumszene. Derrida liefert hier den theoretischen Hintergrund: Das Eigentliche der Schrift haben wir an anderem Orte, in einem schwierigen Sinn dieses Wortes, Verräumlichung genannt: Zwischenräumlichkeit und Raumwerdung der Zeit, Entfaltung ebenfalls von Bedeutungen in einer ursprünglichen Lokalität, die die unumkehrbare lineare Abfolge, die von Präsenzpunkt zu Präsenzpunkt voranschritt, nur hinhalten konnte und deren Verdrängung ihr in gewissem Maße nicht gelang. Insbesondere in der phonetisch genannten Schrift. Das Einverständnis zwischen dieser und dem durch das Prinzip des Nicht-Widerspruchs beherrschten Logos (oder der Zeit der Logik), dem Grund der gesamten Metaphysik der Präsenz, ist sehr tief. In jeder schweigsamen oder nicht rein phonetischen Verräumlichung der Bedeutungen sind Verkettungen möglich, die der Linearität der logischen Zeit, der Zeit des Bewußtseins oder des Vorbewußtseins, der Zeit der "Wortvorstellung" nicht mehr gehorchen. Zwischen dem nicht-phonetischen Raum der Schrift (sogar in der "phonetischen" Schrift) und dem Raum der Traumszene ist die Grenze ungewiß.32 Der Einfluß d e s Unbewußten, des sich bewegenden unendlichen Textes, dessen Ursprung im M y t h o s liegt, bleibt, d a das Unbewußte sprachlich strukturiert ist, an der " O b e r f l ä c h e " des durch den T e x t definierten R a u m e s und der Figuren: Jakob. 'Willst du dich beklagen, ich hätte ganz von dir Besitz ergriffen, ich beherrschte dich? Du tust mir unrecht. Fast immer waren es die oberflächlichen Umstände deines Lebens, die ich ein wenig beeinflußt habe. Und stets zu deinem Vorteil. Sieh nur dies prächtige Heim [den Raum des Textes]. Ich habe es euch beschafft. Ich gebe zu, einige deiner kostbareren Erwerbungen habe ich dann nach meinem Geschmack - mit Unterstützung befreundeter Kunsthändler und Verkäufer - veranlaßt oder wenigstens inspiriert. Aber ist das schon Tyrannei?' Nelly hebt den Vorhangsschleier auf und zeigt ihn Jakob hin. 'Ich weiß, ein kleines Malheur. Die gute Vera war damals ein wenig überfordert. Noch ehe sie
32
Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, a.a.O., S. 330f.
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dir den Wunsch nach einer neuen Gardine entlockt hatte, wurde schon dies sonderbare Spitzenzeug ins Haus geliefert. (H 71)
Der Wunsch entstand erst nach der Wunscherfüllung, die Vera in der symbolischen Ordnung transportiert. Der "Vorhang" trübt den Blick nach außen, er beeinflußt die Wahrnehmung. Die symbolische Ordnung gibt vor, was das Individuum wünscht. So erscheint im Bewußtsein das, was gewünscht wird, vor dem Wunsch, der unendliche Text ist dem Individuum immer ein Stück voraus und das Begehren treibt das Individuum in die Signifikantenkette. Der Raum ist in "Die Hypochonder" verräumlichte Schrift, in ihm bewegen sich Figuren, die ebenfalls verräumlichte Schrift sind. Wenn sie gemeinsam im Raum sind, dann ist der oberflächliche Dialog ein Teil der symbolischen Ordnung. Bei Strauß gibt es keine autonomen Individuen mehr. Alles ist Text. (Neo-) Strukturalistisch gesehen trifft sich alles als Text im Text. Der eine nimmt den anderen als Text im Text wahr. Und da sich die Identitäten andauernd verschieben, da kein Text den anderen als Einheit erfassen kann, gibt es Verwandlungen und Übergänge. Die Individuen sind deshalb bei Strauß nur angedeutete, wie jeder wahrgenommene Mensch nur eine Andeutung ist, da keiner den anderen als Einheit wahrnehmen kann. So ist alles Text, ist Bewußtsein, ist Unterbewußtsein, ist Zeit und Raum, ist Bühne.
1.1.12. Die Figur als lügender Text, als anwesende Spur der Abwesenheit im Raum-Text Jede Aussage ist in "Die Hypochonder" eine Lüge, sowohl die Aussage selbst, als auch die oder der Aussagende: Nelly: [...] Solange wir uns kennen, habe ich dich nur belogen, wenn du selbst mich kurz zuvor belogen hattest. Nein, man muß es anders ausdrücken. Jedesmal wenn ich einen Zwang verspürte, dich zu belügen, so erkannte ich daran, daß du mich kurz zuvor belogen hattest. (H 47)
Die Figuren sind in derselben Situation wie Antonin Artaud, der beklagt, daß in einer Aussage jedesmal ein Geist seine Worte klaut und andere Wörter an die Stelle setzt. Sie können nur über ihre Aussagen und über ihre Oberfläche wahrgenommen werden, aber diese Oberfläche lügt: "Nelly: Was du auch redest, es ist schon lange vergangen und halb vergessen." (H 55) Während der Tag die Oberfläche der Figur als Vernunft, Realität und Wahrheit präsentiert, zeigt die Nachtseite die Figur nur als Spur im Raum-Text der Oberflächenfigur: Der Raum sieht noch viel verwüsteter aus als Vladimir ihn zurückgelassen hat. Die Frauen haben offenbar überall herumgewühlt, um nach Spuren und Zeichen von Vladimir zu suchen. (H 54)
Die "Spur" weist auf die bestimmende "Urschrift". Sigmund Freud illustriert die "Spur" in seinem Aufsatz "Notiz über den Wunderblock". Auf diesen bezieht sich Jacques Derrida in seinem Text "Freud und der Schauplatz der Schrift". Der Wunderblock besteht aus einer tieferen Lage oder Ebene aus Wachs und einer darüber piazierten Schicht aus transparentem Wachspapier und Zelluloid. Die Unterschicht
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ist analog dem Unbewußtsein, die Oberschicht dem Bewußtsein. Das Bewußte transportiert Informationen an das Unbewußte, ohne diese selbst zu speichern. Das Geschriebene wird aber nicht komplett storniert, es ist nur verdeckt, nicht abhanden gekommen. Derrida: Die Schrift ergänzt die Wahrnehmung, noch bevor diese sich selbst erscheint. Das 'Gedächtnis' oder die Schrift sind die Eröffnung dieses Erscheinens selbst. Das 'Wahrgenommene' läßt sich nur als Vergangenes, unter der Wahrnehmung und nach ihr lesen. Während die anderen Schreibflächen, den Prototypen der Schiefertafel oder des Papiers entsprechend, nur einen materialisierten Teil des Erinnerungssystems im psychischen Apparat darstellen konnten, eine Abstraktion, stellt der Wunderblock es vollständig und nicht bloß in seiner Wahrnehmungsschicht dar. Die Wachstafel stellt in der Tat das Unbewußte dar."
Derrida postuliert mit Freud: Keine Wahrnehmung ist ursprünglich oder unmittelbar. Jede Bedeutung wird determiniert durch eine Urschrift. Die "Spur" ist für Derrida analog der minimalen Kratzer auf dem Wunderblock, die übrigbleiben, wenn man das Geschriebene löscht. Die Spur weist zum Unbewußten und jede Figur läßt sich, soll sie nicht auf der Stelle als verhärteter Text "sterben", nur als eine Spur im Raum- oder Figuren-Text wahrnehmen.
1.2. Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle 1.2.1. Das Gesicht des anderen als Text Die Ge-Sichter, das, was gesehen wird, sind schon da, sind schon bekannt. Als Text, als materialisierte Zeichen stehen sie den verschiedenen Ge-Fühlen gegenüber, zum bekannten, verhärteten und oberflächlichen Text stellen sich verschiedene Gefühle ein. Das Emotionale, der Trieb muß sich mit dem Text arrangieren und bleibt dabei nicht unverändert. Jeder Ausdruck des Eigenen ist schon im Text des Bewußtseins eingeschlossen, der im Modus "Ich ist ein anderer" sowohl die eigene Identität als auch das Gesicht, die Figur des anderen determiniert. Im gemeinsamen Text definiert sich jeder im Sehen des "Ichs" als anderen, im Ge-Sicht des anderen. Der Blick hält die Beziehungen aufrecht, jeder paßt auf, daß der andere seinen Blick nicht abwendet: Bekomm jetzt nicht deinen leeren Blick. Schließlich leben wir alle noch unter einem Dach. Keine Trennungen, keine Abschiede, nein, in meinem Hotel werden alle die reizenden Herzensverbindungen sorgfältig aufbewahrt, so daß wir uns inzwischen in einem erstaunlichen Museum von Leidenschaften bewegen. Wahrscheinlich das einzige Haus in Deutschland, das so viele nicht zahlende Dauergäste und so wenig Fremdenverkehr hat. (BGGG 79f.)
Das "Ich" ist eine Rekluse des Bewußtseins und wirkenden Unbewußten als Text, gespeist aus dem großen Foucaultschen "Archiv", der Borgesschen "Bibliothek", dem "Museum". Dieser unendliche Text hat eine Anzahl verschiedener vorgegebener Formen, Möglichkeiten des "Ichs" und des anderen, fixierter Gesichter. Die Beziehungen zu den anderen sind verhärtet, der Text bräuchte dringend eine Er53
Derrida: Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 341.
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neuerung, die aus dem Unbekannten, dem Fremden, dem nicht bewußten und begrifflich Bezeichneten kommen miißte. Jede Über-Nachtung im Hotel brächte nach Freuds Diktum: der Traum als Königsweg zum Unbewußten - einen Einbruch des anderen der Vernunft in den verhärteten Text. Das Fremde, das in "Die Hypochonder" noch so bezeichnete Geheimnis der Liebe, ist das Versprechen des Textes. Bei dem Versprechen muß es jedoch bleiben, denn das Fremde kann niemals auf Dauer in das Bewußtsein treten, denn in der Erkenntnis des Fremden wäre das Fremde bereits im Text gefangen und den "bekannten Gesichtern" eingereiht.
1.2.2. Der Tanz zur Überwindung der Differenz Der Standard-Tanz der Amateure ist der Tanz der Normalität, der stabilisierten Vernunft, die mühsam in der Balance gehalten werden muß. Er reduziert in der Moderne oft die Angst der säkularisierten Individuen, so wie die Mythen einst die Angst allgemein reduziert haben. Aber die Funktion des Mythos in der griechischen Tragödie als Warnung vor der Hybris und als Katharsis kann der Standardtanz nicht wiederholen. Die Reflexion wird gerade durch die Abwehr des Unheimlichen immer eine unwahre sein. Strauß schreibt in einer seiner Kritiken: Man muß die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen die eigene Melodie vorsingt: welchen Schrecken müßte, wenn dieser Marx-Satz auch als Motto ftlrs Theatermachen zu gebrauchen wäre, den Verhältnissen der bürgerliche Totentanz um Triebarbeit und Kapital, zu dem Canettis 'Hochzeit' aufspielt, einjagen! Doch die wirklich entsetzliche Selbsterkenntnis ist mit dem Mythos vergangen, hat keine Spuren hinterlassen in der bürgerlichen Kunst. Dort sind die eigenen Melodien den Verhältnissen die liebsten. ( V E 2 2 5 )
Innerhalb dieser Melodie fühlen sich die Figuren im Bewußtseins-Raum solange wohl, wie die Verhältnisse und Beziehungen halten, nichts Fremdes und Überraschendes darin einbricht und das Gleichgewicht gewahrt bleibt: Natürlich ist das unser Hotel. In diesen Räumen sind wir zusammengewachsen, du und ich, Hedda und Doris, Doris und ich, und so weiter, reihum. Wir alle haben hier unser Zuhause. ( B G G G 9 9 )
Die Identitäten generieren sich aus der Differenz zum jeweils anderen im gemeinsamen Text, im Tanz der Identitätsbildung. Jeder kann sich nur im Sehen des anderen, im Ge-Sicht des anderen stabilisieren. Der Tanz bedeutet also, sich mit dem anderen in der symbolischen Ordnung in Einklang zu bringen. Der Tanz symbolisiert die Synthese, den perfekten Endzustand der Hegeischen Entwicklung. Für Stefan ist der Tanz die "gepaarte Dummheit" ( B G G G 89), erst in der Verbindung des einen, der These, mit dem anderen, der Anti-These, gelingt das Höhere: Ist es nicht so? Doris und Guenther, jeder für sich, sind geistig nur mittelmäßig begabt. Genau wie du und ich. Aber beim Tanzen, in dieser gehobenen Vereinigung, da erzeugen sie ein Phänomen von höherer Intelligenz. Ich fühle mich jedenfalls immer ein bißchen intelligenter werden, wenn ich ihnen zuschaue. ( B G G G 8 9 )
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Die Struktur, das Ganze ist für die Tänzer - Hegel folgend - das Wahre. Aber das vergessene andere der Vernunft sorgt ftir den Absturz, die Disharmonie und damit für die plötzliche Störung im System. Die Differenz bleibt unüberbrückbar. In "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" verändert sich die Sicht auf die Welt: weg von der Annahme des Zentrums in der Identität, hin zur Offenlegung einer Welt der Differenz. Es geht um die Utopie, um den Glauben an das Modell, das abhebt und fliegen kann und die Strauß als "Modellflugzeug" der Lächerlichkeit preisgibt. Denn das einstige Heil ist zu einer mageren Utopie verkommen: "Ein Deutsches Meisterpaar aus Königswinter", die "siegen in Münster" (BGGG 107) ist das höchste Ziel. Alles strebt dahin, "die besten Amateure im Standard" (BGGG 107) zu sein. Der Sinn ist das beste Zusammenspiel von Signifikat und Signifikant in der Normalität. Und wenn das Zusammenspiel der Vernunft, der heillosen Zeichen funktioniert, dann hält auch die Nation und die Gesellschaft: "Und für alle, die uns zusehen, soll es ein Glückstag werden. Für die ganze Nation, die ganze Gesellschaft." (BGGG 107) Im "Ort" Münster und im "Gebäude" Münster soll das perfekte Paar, These und Antithese, Signifikat und Signifikant, "Ich" und der andere vereint zum perfekten System funktionieren. An dem Ort, der kurz nach seiner Entstehung eine vita communis mit religiöser Verfassung ist, an dem das Wort Münster eine profane Stadt und einen heiligen Ort gleichzeitig bedeutet, befindet sich nun ein rein säkularer Ort der Ausstrahlung massenmedialer Botschaften: "Millionen sitzen zu Hause vor ihrem Fernsehapparat und sehen die Übertragung aus der Halle Münsterland." (BGGG 107) Alles bleibt in den Grenzen einer massenmedial bestimmten Kultur, das Femsehen verbindet eine "ganze Gesellschaft", "so viele Menschen kann sich ein einzelner überhaupt nicht vorstellen, in seinem Köpfchen!" (BGGG 107) Das einigende Ziel ist die vernünftige, die dunkle Seite der Kultur ausblendende, massenmediale Ausstrahlung zum säkularisierten Heil der modernen Nation. Der offizielle soziale Text ist so harmoniebedürftig, daß jede Regung des Unbewußten, jeder Trieb die Vernunftsbeziehungen stört oder gar zerstört. Ein nietzscheanischer Wille zur Macht, ein Foucaultsches Machtstreben unterbricht die Harmonie: Mit so einem Sturz ist natürlich alles vorbei. Das darf nicht passieren. Haben Sie gesehen: Guenthers Rechts[!]drehung! Ein plötzlicher Aufschwung, Macht[!]gefl)hl, Hochstimmung. Das kam filr sie überraschend, darauf war sie einfach nicht gefaßt. (BGGG 90)
Die Sprache ohne Beachtung des Unbewußten, eine soziale Kultur ohne Bewußtsein für die drohende Gewalt ist zu anfällig für das Machtstreben des einzelnen, für dessen Triebe und emotionalen Entgleisungen. Nachdem die Harmonie gestört ist, sich Guenther der unperfekten Doris verweigert, ruft diese die surreale Gegenaufklärung aus: Meine Herrschaften! Freunde des deutschen Tanzsports! Deutsche Amateure! Hier spricht die Stimme der Verachtung, hier spricht die Kehrseite der Medaillen ... Ich sage euch, unsere Satzungen sind hoffnungslos veraltet, sie sind reaktionär. Abschaffen, weg damit, abschaffen. Der moderne Turniertanz braucht neue Regeln, neue Ideale: Haß, Gemeinheit, Unterdrückung, Ohrfeigen, allgemeine Gefühlskalte - meine Herren Wertungsrichter, haben sie gehört? Das sind Ihre neuen Maßstäbe. Und auch die Veranstalter müssen umdenken: noch immer glänzen überall die glatten Parkettböden - sie müssen aber alle sofort mit Schotter überzogen werden ... Ich fordere die totale Verdunkelung aller Festsäle. Tod
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den Illusionen! Alle Musikstücke werden von hinten nach vorne gespielt. Das Paar, bei dem zuerst ein Partner den anderen zu Boden tanzt, erzielt einen deutlichen Punktgewinn. Fällt der Herr und die Dame bleibt auf den Beinen, so verdoppelt sich der Punktgewinn. Das ist klar ... Es dürfen sich keine Blitzlichter mehr ins Publikum mischen ... keine Blitze mehr ... kein Licht... Kein Licht. [...] Weil's mich so sehr quält! (BGGG 95)
Die Harmonie der Vernunft ist zerstört, auch die verzweifelte Suche "nach einem gewissen dunklen Punkt in [der] Lebensgeschichte" (BGGG 96) hilft nicht weiter. Erst die ideale Doris aus der symbolischen Ordnung stellt die Harmonie wieder her: "Karl: Ich hab' ein Herz gesehen, das zwischen euch schlägt. Nicht deines, nicht Guenthers, ein drittes Herz, das euch beiden gehört." (BGGG 106) Das Herz als perfekter Text, den auch die anderen brauchen als Bild des anderen und damit Bild ihrer selbst: "Margot: Wenn man so etwas Superschönes sieht, bild* ich mir ein, davon wird man auch selbst wieder ein bißchen hübscher." (BGGG 106) Das "dritte Herz", die symbolische Ordnung, wird zwar erreichen, daß für eine kurze Zeit das Reale, das störend Überraschende, gebannt wird. Der Preis dafür ist jedoch die Bewegung des Unterbewußten im Text und Folge ist damit einerseits die Illusion des perfekten, aber "toten" Textes, die "neue" Doris. Andererseits die Erkenntnis, daß das "Ich" als das andere eine Illusion ist. Damit ereignet sich der "Tod" Stefans als eindeutige Identität, die sich als "toter" Text zeigt.
1.2.3. Die Dramaturgie des Begehrens: Der mediale Text als Narziß begehrt sich selbst Die Dramaturgie von "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" spiegelt in ihren drei Akten die Dreier-Form des Begehrens wider, die das Individuum durch die Signifikantenkette treibt. Dabei tritt der Signifikant an die Stelle des sich einst als selbständig und unabhängig begreifenden Subjekts der Aufklärung, dessen Vorhandensein sich als von ihren Wirkungen entfernte Ursache darstellt. Das Subjekt ist folglich entfernt von der Signifikantenkette, mithilfe der es sich selbst ins Bewußtsein abbildet. Ein Signifikant funktioniert für Lacan als das Subjekt des anderen Signifikanten, dabei tritt es kontinuierlich beiseite, um die Position zu öffnen für einen neuen Signifikanten. Dieses anhaltende Wechseln, dieses Spiel inszeniert Strauß in "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" durch die Verdoppelung der Figur Doris. Die Dramaturgie erzeugt die Kette, deren Werk Lacan demonstriert, indem er das Kürzel S dupliert zur Signifikantenkette S2 und zum additionalen Signifikanten Sl, der die Signifikantenkette bewegt. Das Subjekt selbst wird aus seiner Mitte getrieben und relativ zu sich selbst entpositioniert, Lacan bezeichnet dies durch das Emblem des schräggestrichenen S. Das Subjekt bleibt entzweit, sein Selbst und seine Umwelt - in "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" "Stefans Hof', als "Hotel" ein Haus des Durchgangs, eine Sprache, die sich bewegt - werden bei Lacan in Anlehnung an Heidegger nur durch die Leere konstituiert, auf der Bühne ist einzig noch der Signifikant des Mangels zu sehen, der kontinuierlich sich wiederholende und damit immerwährende Abzug an Sein ist evident. Im ersten Akt ist Stefans Begehren in seinem "Hotel", in seinem Bewußtsein schon immer sprachlich und symbolisch vermittelt. Und so kann es weder real, noch imaginär befriedigt werden. Er will das "Hotel" verkaufen, da die Ökonomie
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ihm eine geschäftliche Begabung abverlangt, die er nicht hat. Und da er der Kunst und den Arbeitern aus ökonomischen Gründen keine Heimstatt bieten kann. So sehnt er sich nach festumrissenen Aufgaben, einem Fixpunkt in einer durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung verarmten Sprache. Seine Frau kann er nicht mehr begehren, der veraltete Text will verändert und neu fixiert werden. Die "Andere" als die perfekte Sprache, das perfekte Ebenbild im Buch, das Stefan selbst ist, tritt als wörtliche Alternative, als neue Perspektive auf das unbeschreibliche, wirkliche Objekt auf. Da sich der Text unendlich kopieren (und dabei idealisieren) läßt, ist die Konstituierung des Doppelgängers kein Problem. Jorge Luis Borges schreibt in der ersten Erzählung im "Sandbuch" über "das alte Thema des Doppelgängers": Diese geisterhafte Erscheinung wird ihren Ursprung in den Spiegeln aus Metall oder Wasser haben oder einfach in der Erinnerung, die einen jeden gleichzeitig zum Zuschauer und zum Schauspieler macht. 34
Ein Narziß, der sich als falsche Einheit im Spiegel beobachtet oder sich als lügende Abstraktion im Bewußtsein imaginiert, ist das Subjekt in jedem Fall, wenn es sich als Subjekt bezeichnet. Paul Valdrys "Herr Teste" zeigt diese Duplikation als AusDenken des gegenwärtigen Ich-Denkens, als Vorstoß in den Raum der unbegrenzten abstrakten Vorstellung: Herr Teste ist der Zeuge (von lateinisch "testis") seiner eigenen abstrakten Denkprozesse. Als Beobachter v e r w i r k l i c h t " er ein pures Wahrnehmen, das von jedweder unklaren Ich-Bezogenheit entfernt sein soll. Intellektuelles Selbstwertgefuhl läßt Herr Teste sein eigenes Denken beobachten. Er intendiert, aus dem unwillkürlichen Ich eine zunehmende geistige Klarheit zu generieren. Dieses Ideal durch die Duplikation des Selbst läßt sich jedoch nicht "über die Dauer einiger Viertelstunden hinausdehnen". 15 So hat in "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" auch die perfekte Doris nicht lange Bestand. Obwohl der Text des "Ich" und der anderen nur vorläufig sein kann, ist er notwendig. In jedem Augenblick von sich selbst ein Bild machend, stabilisiert sich das Subjekt im fließenden Text. Da der Text die Ganzheit des Menschen nicht erfassen kann, wird jedes Bild über kurz oder lang zur Makulatur. Maurice Blanchot symbolisiert die dann erfolgende Trennung zwischen dem neuen Selbst und dem alten Text, der das Subjekt zuvor konstituiert hat, durch das an Land gehen nach einem Bad im "Meer": Schließlich mußte er zurück. Ohne Mühe schwamm er zurück und bekam an einem Ort [...] Boden unter die Füße [ . . . ] , als er sich der grenzenlosen Ebene zuwandte, auf der sich die Sonne spiegelte, und als er herauszufinden suchte, in welcher Richtung er sich entfernt hatte. Es lag ihm tatsächlich Nebel in der Sicht, und er konnte alles und nichts in dieser trüben, von seinen Augen fieberhaft durchdrungenen Leere unterscheiden. Weil er so starrte, entdeckte er einen Mann, der sehr weit weg, halb unter dem Horizont verloren, schwamm. Auf solche Entfernung entging ihm der Schwimmer immer wieder. Er sah ihn, sah ihn nicht mehr und hatte doch das Gefühl, er mache alle seine Zustände mit: nicht nur, daß er ihn immer sehr gut im Blick hatte, sondern auch, daß er ihm besonders nahe gekommen war, wie es durch keine andere Berührung hatte geschehen können. Er schaute lange hin und wartete lange. In dieser Betrachtung lag etwas Schmerzliches, das sich ausnahm wie das Zeichen einer zu großen Freiheit, einer Freiheit, die aus dem Abbrechen
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Jorge Luis Borges: Spiegel und Maske. Erzählungen, Frankfurt 1993, S. 188. Paul Valiry: Herr Teste, Frankfurt 1984, S . U .
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aller Verbindungen gewonnen war. Sein Gesicht verdüsterte sich und nahm einen ungewöhnlichen Ausdruck an.36 Hier eröffnet sich die Duplizierung, die Abstoßung vom Sein und vom Nichts zugleich, die Anwesenheit der Abwesenheit im Signifikanten. Die Trennung, die Thomas bei Blanchot erfährt, ist das Trennende des toten Abstrakten, des Textes, der Gedanken: Er wußte, daß sein mit der Nacht eins gewordener Gedanke seinen Körper rundherum bewachte. Er wußte mit grauenvoller Gewißheit, daß auch der Gedanke einen Weg suchte, in ihn einzudringen. An seine Lippen, in seinen Mund sich drängend, strebte dieser nach einer ungewöhnlichen Paarung. Unter den Lidern schuf er einen notwendigen Blick. Und gleichzeitig zerstörte er wie rasend das Gesicht, das er umarmte. Wundersame Städte, geschleifte Stadtkerne verschwanden. Die Steine wurden hinausgeworfen. Man pflanzte die Bäume um. Man trug die Hände und die Leichen weg. Nur Thomas' Körper blieb Übrig, jedes Sinnes beraubt. Und das Denken war in ihn zurückgekehrt, tauschte mit der Leere Berührungen aus.37 Thomas findet sich bei Blanchot wieder in einem "Hotel", genauso wie sich alle in "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" im Hotel "Stefans Hof' aufhalten. Auf seinem "Zimmer" liest er das Buch, das ihn selbst konstituiert: Thomas blieb auf seinem Zimmer und las. [...] Wer eintrat und sah, daß sein Buch immer noch auf denselben Seiten geöffnet war, der dachte, er tue nur so, als lese er. Er las aber. Er las mit unüberbietbarer Genauigkeit und Aufmerksamkeit. Vor jedem Zeichen befand er sich in der Lage des Männchens, das von einer Gottesanbeterin gleich verschlungen wird. Der eine wie das andere schauten sich an. Die Worte, die aus einem mit tödlicher Macht versehenen Buch stammten, übten eine milde und friedliche Anziehung auf den Blick aus, der sie berührte. Jedes Wort ließ den allzu lebhaften Blick wie ein halbgeschlossenes Auge in sich ein, es hätte ihn unter anderen Umständen nicht eingelassen. Thomas glitt so auf diese Gänge zu, näherte sich ihnen wehrlos bis zu dem Augenblick, wo der innere Bezirk des Wortes ihn erblickte. Das war noch nichts Erschreckendes, fast noch ein angenehmer Augenblick, den er gerne verlängert hätte. Mit Freuden sah der Leser sich diesen kleinen Funken Leben an, den zweifellos er erweckt hatte. Mit Vergnügen sah er sich im Auge, das ihn sah.38 So wie Thomas steht sich Stefan in seinem "Hotel", in seinem "Hof' selbst als den anderen gegenüber, die sich allesamt als Buch, als Wort zeigen. Diese Begegnung mit sich selbst im Text wird dazu führen, daß sich das ehemals autonom glaubende Subjekt als Text wiedersieht, der zwar dem präkulturellem Leben mit Hilfe des Textes entronnen ist, dafür jedoch im Text, der selbst dem Leben fern ist, eingeschlossen ist. Dem gefahrlichen Leben und dessen unüberwindlichster, endgültiger Grenze, dem individuellen, realen Tod kann die Schrift entgehen, aber sie ist selbst tot. Und so findet sich Thomas bei Blanchot in dem Zwischenraum zwischen realem Tod und dem Leben, in der Schrift, wieder: Und das war kein Mißverständnis. Er war wirklich tot und gleichzeitig aus der Wirklichkeit des Todes verstoßen. Im Tod selbst war er des Todes verlustig, ein fürchterlich zu nichts gewordener Mensch, im Nichts festgehalten durch sein eigenes Bild, durch das
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Blanchot: Thomas der Dunkle, a.a.O., S. 1 Of. Blanchot: Thomas der Dunkle, a.a.O., S. 15f. Blanchot: Thomas der Dunkle, a.a.O., S. 21.
Bild des vor ihm laufenden Thomas, des Fackelträgers erloschener Fackeln, der aussah wie die Tatsache des letzten Todes in der Reihe von Toden.' 9
Das Treiben, der Lauf durch das unendliche Buch wird in "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" durch das Begehren der perfekten Doris bewirkt. Wie Thomas bei Blanchot sich selbst als Text hinterherläuft, so folgt Stefan der "Anderen" (BGGG 105), der "schönen" Doris als Text, der ihn selbst konstituiert. Im zweiten Akt ist die zweite Doris als Spiegelbild perfekt, aber sie ist nur in der Gegenwart stabil: "Oh, ich möchte in keiner anderen Zeit leben." (BGGG 106) In der Zuwendung zu seinem Bild in dem ihn selbst konstituierenden Buch entfernt sich Stefan von den anderen, er wird zu einem "wirklich einsame[n] Mann." (BGGG 111) Daß sich Stefan nun nur einem Bild im Buch zuwendet, läßt die anderen Bilder ihren Untergang befürchten: Guenther: Stefan. Er ist für jeden von uns die Hauptperson. Denn er will den Sinn des Wörtchens 'uns', den Sinn, den wir dieser Silbe gegeben haben, zerstören. Wer aber das Unsere zerstören will, der ist unser Feind. Und der Feind ist immer die Hauptperson. (BGGG 111)
Doch Stefan will sich selbst durch das Begehren des unerreichbar anderen übersteigen, dem eigenen Text entkommen: "Hedda: Es ist die pure Begeisterung, und sonst nichts; er will über sich hinaus, wie wir alle". Und "Dieter: Offenbar will er sogar über den Rahmen des Grundgesetzes hinaus. Wenn ich sowas höre, kann ich plötzlich sehr nüchtern werden, Hedda." (BGGG 112) Das "Grundgesetz" ist der alle determinierende Text. Der Versuch der Flucht aus dem eigenen Text, aus den eigenen Kleidern, dem Text-il, verändert Stefan, er "sieht sehr 'mitgenommen' aus, verwahrlost, als sei er abgemagert, kleiner und älter geworden. Abgesehen von dem neuen Hemd, an dem noch das Firmenzeichen baumelt, trägt er schäbige, ihm zu große Kleidung". Das "neue Hemd" ist der neue Text, die zweite Doris. Alle anderen Mit-Texte vernachlässigt er. Im Begehren erstellt Stefan eine neue perfekte Form, die der Text ihm erstellt. Während des In-den-Begriff-Nehmens wird er die Form durch sein Begehren aber wieder zerstören, da er durch die Signifikantenkette treibt. Die Imago aus dem Text der Massenmedien wird wieder dorthin zurückweichen, wo sie herstammt. Hier formuliert Strauß auch seine Kritik an den Massenmedien: Stefan begehrt eher den Text der Massenmedien, die "wahre" Doris rührt er nicht an: Doris: Und warum klappt es nicht mehr bei dir [...] ? Das ist doch nicht meine Schuld? [...] Stefan: An mir allein kann es auch nicht liegen. Doris ist nicht mehr wie früher... Sie wissen doch, wie man sich lieben lernt... Aus Angst, aus nackter A n g s t . . . [...] Doris hat das alles wohl vergessen. Sie braucht jetzt das formvollendete Wohlgefühl - Quickstep! Quickstep! ... Sie dagegen, natürlich, Sie tanzen auch leidenschaftlich gern, nicht? Sogar sehr viel besser als meine Frau. Und doch - irgend etwas, ich weiß nicht, was es ist - irgend etwas zieht mich in diesem Augenblick mit großem Entsetzen zu Ihnen hin ... Glauben Sie mir, wenn Sie nur auch nur ein klein wenig Angst hätten, dann wird es jetzt bestimmt kein Reinfall. (BGGG 119)
Etwas Heideggersche Angst sorgt für mehr Verwandlungen im Text, mehr Treffen im Text, die Interpretationen der Interpretationen erhöhen ihre Beweglichkeit. Im
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Blanchot: Thomas der Dunkle, a.a.O., S. 32.
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Begehren der idealen Spiegel-Doris will Stefan die anderen als Text nicht dabei haben, die Umgebung, den Raum und die Kleidung als Text eliminieren: Er läuft unruhig umher. Er stellt die beiden Stühle vor die linke und die rechte Tür. Er rückt sie fest. Er prüft verschiedene Stellen auf dem Boden. Er zieht sein Jackett aus, wirft es auf den Boden, vor die mittlere Tür. Er setzt sich drauf, steht wieder a u f . . . und so fort. (BGGG 119f.)
Die zweite Doris legt sich auf sein Jackett, geht in seinen Text, in seine Wahrnehmung ein, nachdem sie ihr "Tanzkleid" abgestreift hat, ihren eigenen Text abgegeben hat. Stefan legt sich über sie. Das Licht wird wieder zum rötlichen Glühen. Der Fernsehapparat aus dem Foyer ist jetzt laut zu hören, und zwar in einem ständigen Wechsel von drei, vier Programmen. Doris umarmt Stefan fest. Dann faßt sie sich mit beiden Händen an den Kopf, hält sich beide Ohren zu, schleudert den Kopf hin und h e r . . . Nach kurzer Zeit wird der Fernsehlärm wieder gedämpft, das Licht wieder wie vorher. Stefan richtet sich a u f Doris ist verschwunden, 'vom Erdboden verschluckt'. (BGGG 120f.)
Die Begegnung, die Vereinigung mißlingt. Doris tritt in seinen Text ein, der der Text des Fernsehens ist. Als idealisiertes Spiegelbild ist sie in der symbolischen Ordnung nicht zu erreichen, sie verschwindet im Text, im "Fußboden". Das Begehren, das Erlangenwollen des idealen Imaginären treibt Stefan in die Signifikantenkette. Im dritten Akt geht Stefan in die Kühltruhe, in das Weiß des Eises und das Schwarz des dunklen abgeschlossenen Raumes. Das Schwarz des Buchstabens und das Weiß des Zwischenraumes sind die letzten Konstituenzien des nun dezentrierten Subjekts. In ihrem Spiel wird sich das Individuum nun wiederfinden. Das Leben des Zwischenraums als das Weiße zwischen den Buchstaben erörtert Edmond Jabes folgendermaßen: Man öffnet ein Wort wie man auch ein Buch öffnet: es ist die gleiche Geste. Und dieses Auftun ist ein Aufbrechen. Wir geben uns Rechenschaft darüber, wie weitgehend der Sinn eines Wortes in der Praxis eine abgekartete Sache ist, und wie wenig verläßlich die einhellige Annahme eines Wortsinns zu sein pflegt. 4 "
Der harmonische Standard-Tanz in "Bekannte Gesichter, gemischte Geiiihle" ist zwar eine Fiktion der Stabilität, die - medial verstärkt - von der Mehrheit geglaubt und zur Abwehr der Angst benötigt wird, doch er ist immer vom Absturz bedroht. Edmond Jab^s: Mir ging es im Hinblick auf neue Zielsetzungen außerdem darum, den Mechanismus wieder in Gang zu bringen, der uns im Wort das Wort, im Buch die Bücher entdecken läßt. 'Ich gebe dir das Buch zu lesen, welches im Buch ist, und das Wort, welches im Wort ist. Danach wirst du wissen, daß es - sind sie erst einmal geschrieben - weder ein Buch gibt, das nicht für Bücher, noch ein Wort, das nicht für Wörter stünde. Denn auf solche Weise geschehen die Dinge im Tod. 41
Stefan versucht vor seiner Vereinigung mit der neuen Doris, die Türen und den Boden abzusichern gegen das Ein- und Ausgehen des Textes. Aber er kann nicht verhindern, daß die neue Doris verschwindet, sich als Text erweist. Doch wird er
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Jabfcs: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 36. Jates: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 36.
mit seinem Eingehen in das Weiße, in die Kühltruhe, in den Zwischenraum als Autor für das Laufen des Textes und für Nachwuchs sorgen. Denn Schreiben heißt in diesem Fall, auf der Schneide des Einschnitts - des Einschnitts im Wort, des Einschnitts im Sinn - oder, besser noch, im Innersten jener Entzweiung zu bleiben, ohne die ich im übrigen niemals auch nur eine Zeile hervorgebracht hätte. 42
So bekommt die alte Doris ein Kind, ein Text erzeugt den anderen Text und es wird wärmer. Der Autor geht in den Zwischenraum, damit der Text läuft. Gleichzeitig wird das Subjekt in die Rekluse der Sprache eingeschlossen, Stefan geht in das Schwarze des Buchstabens. Im zweiten Akt bedroht der Raum des Textes Stefan von allen Seiten, im dritten Akt bleibt Stefan im Raum der Kühltruhe eingeschlossen. Stefan erkennt die Unmöglichkeit, der Erstarrung zu entkommen und die grundlegende Differenz zu überwinden. Das, was er begehrt hat, stellt sich als medialer Text heraus, der er selbst ist, und verschwindet. Stefan erkennt sich selbst als den Narziß, der sich in sich selbst verliebt, er erstarrt im Text und begeht wie der Narziß des Mythos Selbstmord in der "Kühltruhe", da er nun weiß, daß er über sich selbst als medialen Text nicht hinaus gelangen kann. Blanchot schreibt über diesen Moment der Erkenntnis: "Und [...] später, als er sich hatte gehenlassen und sein Buch anschaute und angeekelt in der Form des Textes, den er las, sich selbst erkannte"43. So geht Stefan wie die "Figuren" in "Die Hypochonder" in das unendliche Buch ein, in das "Meer" der Signifikanten, wie Blanchots Thomas verschmilzt er mit den Buchstaben. Jeder Versuch, dem wirklichen anderen zu begegnen, endet im Spiegel, in der Leere des Aufeinandertreffens desselben Textes. Blanchot beschreibt den Zustand so: Schon als er sich noch Uber die Leere beugte, in der er sein Bild in der völligen A b w e s e n heit von Bildern erkannte und von allerheftigstem Schwindel gepackt wurde, einem Schwindel, der ihn nicht zu Fall brachte, sondern der ihn am Fallen hinderte, der den seinetwegen unvermeidlich gewordenen Sturz verunmöglichte - , da schon wurde die Erde um ihn herum dünner, und die Nacht umfing ihn, eine Nacht, sie fand keine Entsprechung mehr, er sah sie nicht und fühlte ihre Wirklichkeit nur, weil sie weniger wirklich war als seine eigene. Hinter allen Erscheinungen gewann er den Eindruck, als sei er ins Herz der Dinge vorgestoßen. Sogar an der Oberfläche dieses Bodens, in den er nicht hinein konnte, steckte er im Innern dieses Bodens, dessen Inneres ihn Uberall berührte. Auf allen Seiten Schloß Nacht ihn ein. Er sah, er hörte die nächste Nähe einer Unendlichkeit, in die er gerade wegen des Fehlens von Grenzen eingesperrt war. 44
Heideggers These, daß das Sein näher ist als das am nächsten scheinende Seiende, wird hier von Blanchot zitiert. Im Heideggerschen "Hören" ist diese Nähe zu erkennen. Der Text konstituiert den Menschen, nicht umgekehrt. Und so bleibt Blanchots Individuum ein Durchgangsort des Textes: Unter dem Namen Thomas, in diesem gewählten Zustand, in dem man mich benennen und beschreiben konnte, sah ich wie irgendein Lebender aus, aber da ich nur unter dem N a m e n des Todes wirklich war, ließ ich, Blut in meinem Blut, den unheilvollen Geist der Schatten durchscheinen, und der Spiegel jedes meiner Tage spiegelte die miteinander vermischten Bilder des Todes und des Lebens wider. So war mein Tod für die Massen ei-
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Jabös: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 36. Blanchot: Thomas der Dunkle, a.a.O., S. 22. Blanchot: Thomas der Dunkle, a.a.O., S. 33.
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ne betäubende Erstaunlichkeit. Dieser Thomas zwang mich, in lebendem Zustand weniger als der ewige Tote zu erscheinen, der ich war und auf den niemand den Blick richten konnte, denn als gewöhnlicher Toter, ein Körper ohne Leben, eine empfindungslose Empfindung, ein Denken ohne Gedanken. Auf dem Gipfel der Widersprüchlichkeit wurde ich zu diesem illegitimen Toten. In meinen Gefühlen, vertreten durch einen Doppelgänger, dem jedes Gefühl so absurd schien wie einem Toten, erreichte ich auf dem Gipfel der Leidenschaft den Gipfel der Fremdheit, und ich schien der conditio humana entrissen zu sein, weil ich sie wirklich durchlebt hatte.45 Allein der Text bleibt, der abstrakte Gedanke als conditio humana, der im Foucaultschen Sinne gerade ein Anti-Humanismus ist.
1.3. Trilogie des Wiedersehens 1.3.1. Die Figuren in der Immanenz der Ausstellung Strauß' Ausstellungsbesucher werden auf der Bühne ausgestellt wie Maxim Gorkis "Sommergäste". Der Text, die Rede definiert auch bei Gorki den Raum, die Figuren und die Gemeinschaft: Die Intelligenz - das sind nicht wir! Wir sind etwas anderes - wir sind Sommergäste in unserem Land ... Wir irren geschäftig umher, suchen nach einem bequemen Plätzchen im Leben ... Wir tun nichts und reden entsetzlich viel. Als Zentrum fungiert in "Trilogie des Wiedersehens" das Spiel der Beziehungen, das innere und äußere Zustände als Text kenntlich macht. Strauß selbst notiert zwei Jahre vor dem Erscheinen von "Die Trilogie des Wiedersehens" zu Gorkis Stück "Sommergäste", das er zusammen mit Peter Stein für die Schaubühne bearbeitet: Ohne jede Umschweife beginnen alle sich in ihre privaten Auseinandersetzungen und Annäherungen zu vertiefen, und der Zuschauer weiß eigentlich nicht so recht, worum es geht [...]. Die Aufführung bietet an, eine Reihe von Menschen kennenzulernen, ebenso wie man wirkliche Menschen kennenlemt in einer Gesellschaft, wo die flüchtigsten Kontakte die hartnäckigsten Mutmaßungen und Fantasien über die betreffenden Personen wachrufen. Und in diesem Durcheinander von Beobachtung und Einbildung entstehen bald Augenblicke der Entkräftung, in denen man jeden sicheren Wahrnehmungshalt verliert und die nächste Umgebung wie eine ferne Erscheinung empfindet [...]. Es entsteht eine Art Realismus, der sich eher aus dem Diskurs als aus der Psychologie der einzelnen Figuren entwickelt [...]. Szenen - nicht so sehr im Sinne einer dramaturgischen Kompositionstechnik, lose aufeinanderfolgende, nicht zu einem Ganzen gefügte Fragmente sondern Szenen als Synonym ftlr ein komplexes Gebilde der Beziehungen und Begegnungen einer Schar von Leuten auf einem begrenzten Schauplatz; weniger ein Nacheinander, eine Fabelentfaltung, sondern eher eine Involvierung von inneren und äußeren Zuständen. (SG) Der Diskurs konstituiert die Figuren in gegenseitiger Abhängigkeit. Hegels, Freuds und Lacans Thesen von der Abhängigkeit des "Ichs" vom anderen werden in "Trilogie des Wiedersehens" exemplarisch aufgeführt. Das Reden, schon bei Gorki zentral, ist mit Lacan als Medium des Begehrens der Ort, an dem sich das Subjekt und das Objekt unter gegenseitigem Druck als Identität konstituieren.
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Blanchot: Thomas der Dunkle, a.a.O., S. 86f.
Das "Museum", ein Foucaultsches Archiv, ein Borgessches Buch, fungiert bereits in Strauß' Edmond Jab6s gewidmeten Gedicht "Unüberwindliche Nähe" als Symbol einer nicht zu überwindenden Verfehlung im Verhältnis des "Ichs" zum anderen: Ausgang ins Museum, Treffpunkt zur Trennung. Seite an Seite, unüberwindliche Nähe Das Zimmer ihres Sehens, jeder Blick ein gerade noch vermiedener Anblick. Am Ende des Rundgangs, kurz vor der Wiederholung im Spiegel einer aufgeschlagenen Hand, auf vorgeschobenen Knie, es lockt in Erschöpfung, das Gewähren. Mir gilt nichts. Spätnachmittagsruhe einer verlorenen Einladung, sich auseinandertasten, gehen. Ihre stürmische Wiederkehr hat uns beiden die Herzen leergefegt. Nichts, es ist nichts, murmelt der Vorübergehende, unterbricht eine Begrüßung. Er sieht, wir sind müde. Ich bitte, schrei für mich! - Worum schreien? Und wenn, so gilt es für jedermann. Brüllen müßte die ganze Stadt. Sind wir nicht der Kern der Entzweiung, der herrschende Abschied, innige Trennung? Nun sind alle unsere Schritte so getan, daß sie das Ausweglose schufen. Gefestigt ausgeschritten - , Berichte, die wir in anderer Munde bleiben, von Kämpfen noch und von den Reisen, die plappern weiter vor sich hin. Bedeutungsloser Jammer. Ein fluchtig offner Anblick, ein Versehen, und Wachs stehn wir neben Wachsfiguren. (UN)
"Unüberwindliche Nähe", ein paradoxer Ausdruck, weist auf den Gedanken Heideggers hin, daß das Seiende, obwohl es näher erscheint, "weiter" "weg" ist, als das Sein. So sind die Individuen in "Trilogie des Wiedersehens" schon im unendlichen Text, bevor sie sich dem Text widmen. Sie begegnen sich nicht unmittelbar, sondern jedes Subjekt begegnet sich als Text nur selbst wieder im anderen als Text.
1.3.2. Die Realität der Gesellschaft Die Bilder der Ausstellung sind die Platzhalter für die "Aus-Sicht" aus einer spätkapitalistischen Wirklichkeit. Im die Gesellschaft und das Individuum bildenden Text sind sie die auf das Sein verweisenden Medien. Es stellt sich in "Trilogie des
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Wiedersehens" die Frage nach der Wirklichkeit und dem Realismus der Abbilder, die den Text der Welt, die "Mythen des Alltags" (Barthes) bestimmen. Seit der Frühzeit der abendländischen Kultur leistet die bildende Kunst einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Mythengestaltung, -erhaltung und -speicherung dadurch, daß sie mythischen Formen, Figuren und Darstellungen direkte visuelle Evidenz verleiht und die Perzeption und die Einstellung partiell bis zur absoluten Kongruenz von Abbildung und Objekt beeinflußt. Für Hans Belting46 kann so erst ab dem Zeitalter der Reformation von Kunst gesprochen werden. Wenn Strauß mit einer Ausstellung, einem Museum ein Symbol für die Gesellschaft findet, so zeigt er bereits hiermit die Trennung von Bild und Wirklichkeit auch in der historischen Perspektive. Im Museum der Gegenwart, in der Erinnerung, im identitätsstiftenden Text ist das Bild von der Wirklichkeit getrennt, die Figuren treten sich nicht mehr als Wirklichkeit gegenüber. Der dominierende Diskurs der Gesellschaft der 70er Jahre nimmt an, daß die Wirklichkeit vom Bild durch den Rahmen getrennt wird. Der "kapitalistische Realismus" wäre außerhalb des Bildes, das Bild selbst nur eine Nach-Bildung. Näher an der wahren Realität wäre in jedem Fall das Geschehen auf dem Boden des Museums. Da der Boden bei Strauß jedoch Text ist, ist er nur scheinbar stabil und glatt und mit Heidegger als Seiendes den Menschen entfernter als die Kunstwerke an der Wand. Realismus als Begriff, dessen Bedeutung auf ein primär un-gedeutetes Objekt, ein Ding, zielt, opponiert gegen eine idealistische Vorstellungswelt und eine unkontrollierte - Popper würde sagen: unfalsifizierbare - ästhetische Form, positioniert sich jedoch im Koordinatensystem mit den Polen Realität und Deutung der Realität. Denn die Form, die in der Geschichte jeweils als "Realität" bezeichnet wird, ist durchaus nicht immer dieselbe. Im Mittelalter zeigt sich die Kunst vor dem Hintergrund christlicher Versetzung des Zentrums ins Jenseits gegenüber dem Diesseits eher realitätsablehnend. So dient das Dargestellte dem Verweis auf ein dem Diesseits Übergeordnetes, die Form tendiert daher zur Abstraktion. Erst die Renaissance zeigt in der verstärkten Hinwendung zum Diesseits Interesse an einer abbildenden Eigenschaft der Bilder, die sie sich über die Realität macht. In der Beschäftigung mit der Antike, der nun ein vollkommener Ausgleich zwischen der Abbildung der Welt und deren Übersetzung in das Ideale zugedacht wird, wird die abbildende Eigenschaft immer wichtiger. Bis zur Bezeichnung des Realismus als eine Stilperiode im 19. Jahrhundert und dem Naturalismus kann man zurückhaltend von einer, oft von alternativen Entwicklungen unterbrochenen, Entwicklung zu mehr "Realität" sprechen. Diese Entwicklung korrespondiert mit der Entstehung der Aufklärung und dem Erstarken der Wissenschaft, speziell der Naturwissenschaft. Mit Beginn der Fotografie wendet sich die avancierte Kunst von der möglichst detailgetreuen Abbildung ab. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gilt dann ein Gesellschaftsbezug als praktisch "normal". So ist die Mode "realistischer" Kunst Anfang der 60er Jahre aus diesem Zusammenhang verständlich. Neben dem unmittelbaren Bezug auf die gesellschaftliche Wirklichkeit soll die Kunst auch verständlich sein. Allgemein zugänglich, realitätsbezogen und sozialkritisch gibt 46
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Hans Belting: Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990.
sich eine Kunst, die in den 70er Jahren im Kontext einer sozialdemokratischen Reformpolitik und damit verbunden einem Glauben an technisch-industriellen Fortschritt und dem Wachstum der Wirtschaft als Bedingung sozialen Fortschritts reüssiert. 47 Zwar wird die Unmöglichkeit einer "wahren" Abbildung der Realität gesehen, aber die Funktion einer Kunst zur Erkenntnis von "realen" Mißständen und zur Verbesserung der "Realität" auch durch Kunst wird nicht nur fur möglich gehalten, sondern gefordert. Kunst muß sich gesellschaftlich legitimieren. Dabei überschätzt sie ihre Wirkung bei weitem, die Mehrheit hält nichts von dieser Kunst, nur den Intellektuellen gibt sie das Gefühl gesellschaftlicher Relevanz. Strauß erkennt dies und darüber hinaus kritisiert er neben der Wirkungslosigkeit auch die negative Wirkung einer Kunst, die dem Bewußtsein nicht den Raum gibt, die Ordnung und Vernunft im Spiel des Textes zu unterlaufen, sondern ganz im Gegenteil noch mithilft, diesen Raum völlig zu versiegeln. Der "alltägliche" Oberflächendiskurs und seine Bilder werden von Strauß mit einer poetischen Sprache konfrontiert, die das Fehlen der "Realität" des anderen beklagt. Als "Direktor" des "Kunstvereins" ist Moritz am Anfang noch der Herr der Bilder, der Sprache des Bewußtseins und damit der "Realität". Einer "Realität", über die Susanne klagt: Neben den großen die unzähligen mittelgroßen, die kleinen, die niedlichen, die winzigen und die nichtigen Kunstwerke. Verstreut über alle Wände. In unvergleichlicher Fülle. In Grabeshülle und -fülle, möchte ich fast sagen. Zuviel für den lebenden Kunstfreund! Zuviel für den Zeitgenossen! Zuviel für mich! (TdW 12)
Sie identifiziert die Ausstellung als paradigmatisch für dieses Jahrhundert nach Nietzsche, diese Zeit des realistischen Nihilismus und leidet an dem Verschwinden der Kunst, Moritz selbst ist kein Künstler mehr, kein "Genie", sondern nur noch eine Durchgangsstation von Kunst: Eine bewundernswürdige Ausstellung, vielleicht eine, für die Kunst des Realismus, vielleicht eine Jahrhundertausstellung - falls sich nichts Umwerfendes mehr ereignet in diesem Jahrhundert. Oh, Moritz, wären sie selbst ein Künstler, so unter allen Umständen ein furchtloser Künstler, ein furchtloses Temperament... Es ist, als sähe ich nichts. (TdW 14)
Ihre Fähigkeit, nichts zu sehen, prädestiniert Susanne zur Kritikerin der "Theoria", zur Welt der fixierten Bilder als Symbole für eine begriffshaltige Sprache. Der ist aber nicht zu entkommen, Kläuschen als der Jüngste fotografiert und Richard, der "Drucker", wird am Ende den Direktor ersetzen. Hinter den begrifflich (Macht der Naturwissenschaft, des Positivismus) und den fotografisch (Macht der Bilder, die durch die Bilder der Massenmedien bestimmt werden) fixierten Bildern vermutet Susanne mit Strauß etwas anderes, wichtigeres: Hinter den hastigen Faxen und Sprüchen, hinter den blendenden Geistesgeschäften trifft langsam, langsam ein stures Gedächtnis die Wahl ... Wir wissen nicht, was wir uns merken können, voneinander. (TdW 14)
Aber als "Realist" und als von der Gesellschaft ge-bildeter Nachwuchs hält Kläuschen, der alles mit der Kamera fixiert, also nur "realistische" Bilder macht, prompt das Verhalten der etwas Vermissenden und sich etwas poetisch Ausdrückenden als für die Situation nicht angemessen: "Bist du betrunken?" (TdW 15) Kläuschen hat 47
Vgl. Martin Damus: Kunst in der B R D 1 9 4 5 - 1 9 9 0 . Funktionen der Kunst in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft, Reinbek 1995.
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das Realitätsprinzip früh verinnerlicht: Realität ist das, was sich im Begriff fixieren läßt und Geld bringt: "Ich will dich schießen. Gibts du mir Geld?" (TdW 15) "Realismus" als Kunstrichtung im Gefolge einer wachstumsorientierten sozialen Gesellschaft analogisiert Strauß hier mit der Anerkennung der Ökonomie als Sinnzentrum. Eine Anschuldigung, die dem Selbstverständnis eines "kritischen Realismus" diametral widerspricht. Der die Ordnung wiederherstellende Richard, der die Buchstaben pflegende und zum Einsatz bringende "Drucker" übersieht, wie Freud in seinem Aufsatz über den Wunderblock - auf den sich Lacan und Derrida berufen darlegt, daß sich unter den Zeichen etwas bewegt, von dem gerade noch eine Spur zu erkennen ist: das Unbewußte. Dieses ist der symbolischen Ordnung zwar eingeschrieben, steht der unterdrückenden Struktur, die an der Oberfläche wahrgenommen, gesehen wird, jedoch nicht zur Verfügung. Indirekt sichtbar hängt es nur als Bild an der Wand. Nicht jedes Bild, auch nicht jedes Bild an der Wand, erweist sich als Hinweis auf das Sein. Und in der Gesellschaft ist die Realität des Seienden die im Vordergrund stehende: "Presse" und "Foto", Bilder und Texte der Massenmedien bestimmen die Gesellschaft: Richard, der Drucker - der Name läßt sich bilden aus Gerhard Richter (Gerh-ard Rich-ter wird zu Rich-ter, Gerh-ard, wird zu Rich-ard) erhält die Oberfläche einer geordneten Zeichenwelt und vervielfältigt wie die Massenmedien. Und Kläuschen - der Name des fixierenden Jung-fotografen Kläuschen erinnert an "Klausur" - , der mit seinen eine Perspektive verabsolutierenden Bildern den sich bewegenden Text einschließt. Demgegenüber stellt Strauß die weniger eindeutige Bilder-"Realität" eines Lucian Freud. Sowohl der Name, als auch das Werk soll hier eine Öffnung und eine Macht neben der Struktur andeuten: "Freud" als Propagandist eines triebhaften Unbewußten und Lucian Freud, dessen Bilder eine präzise Wirklichkeitserfassung mit einer subtilen Detailschärfe, die nicht auf direkter Verwendung fotografischer Mittel begründet ist, auszeichnet. Denn obwohl Freuds Bilder fast superrealistisch erscheinen, ist für Lucian Freud [...] diese konzentrierte Realitätsnähe ein vorrangiges Mittel, um die psychische Individualität seines Modells zu erfassen und in verdichteter Form zu spiegeln.48 Das Individuelle, das Lacansche "Reale", daß begrifflich nicht erfaßt werden kann, ist für Strauß das einzig verbliebene, daß sich nicht der instrumentellen Vernunft unterordnet. Die vordergründig funktionslosere Realität der Kunst ist für Strauß die wahrere. Der Dichter als Kopist Moritz bleibt dem Medienschaffenden Richard zuletzt unterlegen. Den Bildern an der Wand wie den Bildern im Kopf wird der Durchlauf verboten, die Bedeutungen werden fixiert und die "Realität" zeigt sich als klarer, vernünftiger, den vorherrschenden politischen Diskurs legitimierender Punkt des Archimedes. Für Edmond Jabös hat der Schriftsteller am Ende von "Trilogie des Wiedersehens" verloren: Es gibt immer ein Wort, um die Geschichte der Sprache zu erzählen. Zu sagen, es sei ein jedes Buch ein Buch der Erinnerung, verleitet zum Schluß, daß auch die Vokabeln ein Gedächtnis haben; doch das ist wohl abwegig. Wir erinnern uns um ihretwegen, und wir
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Edward Lucie-Smith, Sam Hunter und Adolf Max Vogt: Kunst der Gegenwart 19401980, Propyläen Kunstgeschichte Supplementbände, o.O., o.J., S. 157.
vermögen dies Kraft der Bilder, welche sie an sich ziehen. Wir hätten es folglich mit einem ständigen Austausch von Bildern zu tun; wobei eines auf das andere verwiese. Die ganze Arbeit des Schriftstellers besteht darin, diesen Austausch aufrechtzuerhalten. Was bleibt, ist zuletzt vielleicht bloß die unkenntliche Spur; die Rückkehr zur ursprünglichen Weiße. 49
Der Boden des Museums wird wieder geglättet, aus dem Text der "Realität" als fixierter werden keine Überraschungen kommen. Die Beziehungen zwischen den Individuen sind mit dem fixierten Text endgültig erkaltet. Die Kunst an der Wand als Hinweis auf das unruhige Sein wird durch kunstgeschichtliche Einordnung unter den Be-Griff der instrumentellen Vernunft gebracht. Answald stört dieser Übergriff auf die eigentlich nähere Kunst: Answald: Viele Bilder gefallen mir sehr gut. Was mich stört sind die fetten Begriffe: Superrealismus, fotografischer Realismus, sensibler und kapitalistischer, Blow up- und Post Pop-Realismus ... [...]. Die guten Bilder kommen mir alle gleichermaßen unwirklich vor. [...] Wo ein Bild ist, hat die Wirklichkeit ein Loch. Wo ein Zeichen herrscht, hat das bezeichnete Ding nicht auch noch Platz. [...] was ich sagen wollte, ist ... jedes große Bild schafft sich sozusagen seinen eigenen Realismus-Begriff... (TdW 42)
Heideggers Sein ist in den Bildern näher als das Seiende der Begriffe und der Wirklichkeit. Denn wahre Kunst behauptet eben nicht, die Wirklichkeit im Griff zu haben. Die Zeichen und Wörter künden nach Edmond Jab£s lediglich von der Unmöglichkeit, sich die Dinge anzueignen, weil es die Wirklichkeit nicht gibt; weil die Wirklichkeit womöglich nur jene Abwesenheit von Wirklichkeit ist, welche die Wörter in ihrer Unfähigkeit, sie dingfest zu machen, hervorheben; sie dingfest zu machen - filr ein Wort würde dies etwa soviel bedeuten wie der Versuch, seine eigene Wirklichkeit zu umschreiben. Doch auch dies bleibt unmöglich, weil es j a bloß Ausdruck einer illusorischen Wirklichkeit ist, eines Abgrunds. 50
Jeder Versuch, die "reale" Wirklichkeit begrifflich zu fassen, würde in den unendlichen Regreß führen. Da die Individuen sich aber dennoch, wollen sie nicht völlig im undifferenzierten Raum des Identitätsverlustes verschwinden, irgendwie in den Wörtern, Bildern und Zeichen bewegen müssen, empfehlen Deleuze und Guattari zumindest ein Vermeiden der Fixationen, des Drucks, der Photographie: Zu n, n - 1 schreiben, Schlagworte schreiben: macht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht, stecht! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! Macht nie Punkte, sondern Linien! Geschwindigkeit verwandelt den Punkt in eine Linie! Seid schnell, auch im Stillstand! Glückslinie, Hüftlinie, Fluchtlinie. Laßt keinen General in euch aufkommen! Macht Karten, keine Photos oder Zeichnungen!"
Der Artaudsche Versuch, seinem eigenen Bild zu entkommen, dem eigenen Bild im Zerstören des Bildes näher zu kommen, wäre ein Ausweg aus den Einordnungen. Eine Photographie lügt also immer, das als "Wirklichkeit" verkaufte eindeutige Abbild, gegen dessen Vorherrschaft Strauß in "Trilogie des Wiedersehens" protestiert, ist nur aufgrund des einseitigen Interesses des "kapitalistischen Realismus" ein richtiges Bild. In der Ablehnung einer so eindeutigen Lüge trifft sich Ost und West: Heiner Müller läßt in dem Theatertext "Hamletmaschine" das Foto des Au-
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Jabös: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 32. Jabös: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 30. Gilles Deleuze und F61ix Guattari: Rhizom, Berlin 1977, S. 41.
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tors demonstrativ zerreißen. Richard der Drucker fungiert in der "Trilogie" als verlogenes Realitätsprinzip. Deleuze und Guattari kritisieren die Versuche der Psychoanalytikerin Melanie Klein, die Realität zu entbergen, als Dressurakt des Individuums: Und was macht Melanie Klein mit den geopolitischen Karten des kleinen Richard? Sie macht Familienphotos daraus, Abzüge. Nehmt Haltung an, folgt der Achse. Ob Entwicklungsphase oder strukturales Schicksal - man macht euer Rhizom kaputt. Man läßt euch leben und sprechen - unter der Bedingung, daß alle Ausgänge verstopft sind."
1.3.3. Der Zuschauer auf der Bühne Der Blick des Zuschauers auf die Bühne ist wie der fixierende Blick des Fotografen, er sieht - vorgeblich - realistische Bilder. Die Bilder der Ausstellung sind die Bilder des Zuschauers. Der Rezipient sieht auf der Bühne eine "Realität", die ebenfalls eine "Realität" sieht. Er hat also keine Chance, über das Sehen, das "Theater", die "Theorie", die Fixation, die Bilder hinaus das Unbewußte, das über die Spur Hinausgehende, wahrzunehmen. Der Zuschauer ist also zugleich der andere. Und der Blick des Zuschauers ist der Blick der Figuren auf der Bühne, die den anderen betrachten. Zugleich wird dieser Blick auch noch reflektiert, die Figuren auf der Bühne betrachten die Blicke anderer, die fixiert sind in den Bildern des "kapitalistischen Realismus". So befindet sich jeder in der Aus-Stellung, auch der Rezipient. Strauß deutet hier einen unendlichen Regreß an, der sich als konsequentes Durchspielen von Heideggers Interpretationen der Interpretationen ergibt. Die "ästhetische Grenze" (Michalski) wird endgültig durchbrochen, wenn eine Figur die Perspektive des Rezipienten einnimmt: Moritz befindet sich in derselben Position, nimmt denselben Blickwinkel ein, wie der Zuschauer. Er spricht als Figur über die Bühne, über die die anderen als Figur laufen und ihm begegnen, so wie sie dem Rezipienten begegnen: tagsüber diese D6ja-vus. Am laufenden Band [der Signifikanten] Einbildungen, Sinnestrug. Rechts und links an den Blickfeldrändern [siehe den Bühnenraum: rechter und linker Eingang] tauchen Figuren auf, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Kommen und gehen und rufen mir zu. Ich bin geneigt, ihnen zu folgen, ich folge ihnen und gehe manchmal die seltsamsten Wege.
1.3.4. Die Dramaturgie der Initiation Die Figuren befinden sich bei Strauß als Text in einer ewigen nietzscheanischen Wiederkehr des Gleichen. Dabei wiederholen sie immer wieder die unhintergehbare "Trilogie des Wiedersehens". Im Lacanschen Treiben der Signifikanten sind die Figuren Gefangene der Bilder. Einem fixierenden Bild entkommen kann die Figur nur, indem sie zum nächsten übergeht. Nach Lacan ist ein Signifikant das Subjekt für den anderen Signifikanten. Der Durchlauf des Spiels der Zeichen, der Übergang 52
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Deleuze und Guattari: Rhizom, a.a.O., S. 24.
von Bedeutung zu Bedeutung läßt die Subjekte als Objekte im Un-Begriff einer bestimmt-unbestimmten Indifferenz. Hier ist der andere erahnbar, aber eben nicht faßbar. Um sich selbst und den anderen zu "sehen", müssen die Figuren wieder zur Figur für sich "selbst" und den anderen werden, sie müssen als eine Identität wieder ein Bild annehmen. Susanne beschreibt die "unüberwindliche Nähe" des anderen, die lebenslang anhält: Ich sage Moritz, Moritz, Moritz. Sie wissen nicht, wie oft wir voreinander umgekehrt sind, im letzten Augenblick. Er ist gegangen oder ich bin gegangen. Unsere einzige Hoffnung: der gleiche Lauf der Wiederholung ... Am Anfang ist immer der Abschied ... dann kommt ein Wiedersehen ... Zwischen Kommen und Gehen die Wende, dort treffen wir uns ... Seien sie gütig, Ruth, ich muß alleine bleiben mit ihm, bis wir zu Ende sind. (TdW 117f.)
Diese Dramaturgie der Begegnung der Figuren spiegelt sich bei Strauß auch in der Dramaturgie des Stücks: Die Dramaturgie wird zu einer Dramaturgie der Initiation. Die Trilogie des Wiedersehens - der ewige Wiedereintritt ins "Museum" - bedeutet den Übergang von der Struktur, der Sprache, dem gerichteten Sehen und damit dem geordneten Raum in die ungeordnete Situation, die jedoch - auch als "Flucht" teilweise angestrebt - zwangsläufig wieder in die Struktur, in die Ordnung zurückfuhrt. "Wiedersehen" ist hier das "Sehen" als Fixation der Umwelt ähnlich dem fotografischen Sehen. Der andere wird mit Hilfe der Sprache und damit den Einstellungen im Bewußtsein wahrgenommen und begrifflich fixiert. Der Immanenz der Sprache ist nicht zu entkommen, jeder Versuch, die Struktur aufzubrechen oder zu unterlaufen, fuhrt wieder in die Struktur zurück, das "Wiedersehen" findet statt". Und so erweist sich die Hoffnung Ruths als falsch, wenn sie feststellt: Es hat sich ja einiges verändert in der Zwischenzeit. Lothar: Wie meinst du?. Ruth: Die Bilder. Moritz: Nun ja. Verändert hat sich im Grunde nichts. (TdW 112f.)
Der Ebene der Figuren, die theoretisch mit Lacan beschrieben werden kann, entspricht die Ebene der Gesellschaft, der Politik und Ökonomie, welche die Theorie Georges Batailles' für Strauß beschreibt. Bataille wird von Strauß zu Beginn zitiert: Wenn ich im Herzen der Angst / eine befremdliche Absurdität leise wachrufe, / so öffnet sich ganz oben in der Mitte / meines Schädels ein Auge.
Das Un-Bekannte der Absurdität ist als Grenzerfahrung für Bataille das einzige Denk-Sprungbrett, um, die Struktur transgredierend, das unbegrenzte Erleben des Seins zu erlangen. Das Subjekt ist bei Bataille primär eingefügt in den Kultur-Text, eine Überschreitung erfolgt nur in der Akzeptanz der Kosten einer in der Grenzerfahrung eintretenden Absetzung des Subjekts. Der Konnex von Lacan zu Bataille ist dessen Differenzierung zwischen dem symbolischen und dem realen Ich. Bataille baut auf dem sich selbst unterminierenden Fundament der Psychoanalyse und des Surrealismus eine allumfassende Öko-
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In den USA wurde "Trilogie des Wiedersehens" mit Hilfe von Botho Strauß als "Three Acts of Recognition" übersetzt, was, zurückübersetzt, "Anerkennung" oder "Wiedererkennen" bedeutet. Wiedersehen im Sinne von "sich wieder treffen" wird im Englischen übersetzt mit "reunion" oder mit "to see, to meet again". Hier zeigt sich, daß für Strauß das Wieder-Sehen ein Wieder-Erkennen bedeutet. Und Erkennen ist abhängig von den jeweiligen Diskursen.
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nomie der Destruktion, der Verschwendung und des Todes. Mit seiner verkehrten Version, die ein ekstatisches Grenzerlebnis provoziert, konfrontiert Batailie die konventionelle Ökonomie der Akkumulation und Produktion. Die Ambivalenz des Grenzerlebnisses, erfahren als Angst und Lust zugleich - wobei hier die Heideggersche "Grenzerfahrung" der Angst im ideengeschichtlichen Hintergrund sichtbar wird - , läßt dieses als Subversion wirken in den Sekurität zusichernden abendländischen Kultur-Texten. Batailles extremistische Kritik idealistischer Perspektiven und dessen Zitierung an hervorgehobener Stelle in der "Trilogie des Wiedersehens" reflektiert auch Strauß' Kritik an den Hegeischen und Marxschen Welterklärungsmodellen. Das Heterogene, das von der Ordnung Isolierte protestiert in der Gestalt von Moritz, der sich am Ende das Bild "Karneval der Direktoren" um den Hals hängt. Das Bild, die Identität, die Moritz von sich zeigt, soll auf das nicht perzipierte andere der Bilder hinweisen, auf die Bewegung des Seins, die aus der gewohnten, disziplinierten, "homogenen" Realität weggedrängt wird, einer Realität, die "sich unter dem abstrakten und neutralen Aspekt von Objekten dar[stellt], die exakt definierbar und identifizierbar sind"54. Öffnen läßt sich diese "Realität" für das Individuum nur noch über das Innen-Erlebnis der Grenzübertretung. Nur so wird erreicht, so Batailie, mit der Ganzheit des Seins assoziiert zu sein, ein Erlebnis, das nach Nietzsche nicht mehr möglich scheint im Zeitalter des Nihilismus. Aus der Perspektive der Psychoanalyse, die im verdrängten Unbewußten das wirkende Zentrum sieht, und Batailles ist der in der Moderne verlorene Punkt des Archimedes das von der Gegenwartsgesellschaft Ausgeschlossene. Das kann sich harmlos zeigen als sexuelle Ausschweifung. Oder auch als politische Gewalt des Faschismus. Strauß wird diese Verkehrung später - so in der Figur "Kalldewey" dafür verantwortlich machen, daß das "Heil" sich in der Moderne als das Obszöne zeigt. Das Ausgeschlossene macht sich in der geregelten Gesellschaft für Strauß analog der psychoanalytischen These als das Verdrängte erst recht unerwartet und mit der Macht des Unterdrückten bekannt. Batailie sieht in der Gesellschaft, im Kultur-Text ein dialektisches Modell, ein kontinuierliches und in sich voneinander abhängiges Spiel von Vorschrift und Subversion. Diese Unbeständigkeit sieht Victor Turner vergleichbar als Wechsel zwischen Struktur und Anti-Struktur". Gesellschaft ist nach Turner einesteils organisiert als eine Ordnung von Akteuren in Institutionen. Jederzeit kann sich aber diese Struktur unvermittelt annullieren. Das beobachtende Zentrum befindet sich dann abrupt in einer Zwischenphase, in der sich Gesellschaft transformiert in eine Gemeinschaft, die im Vergleich zur Gesellschaft deutlich weniger strukturiert ist und die Differenzen eher verschwinden läßt. In dieser Periode des Übergangs kümmern sich Riten um die Konstanz der sozialen Organisation, die sinnvolle Kategorisierung und Perzeption der Welt und die Transition in eine neue Struktur. Turner rekurriert auf Arnold van Genneps "Übergangsriten", wenn er diesen Wechsel zwischen Ordnung und Dekonstruktion referiert. "Übergangsriten" bilden sich als Folge dreier Phasen, der präliminalen Phase oder Isolierungsphase, der liminalen Phase oder Schwellenphase und der postliminalen Phase oder Anschlußphase. In der Isolierungssphase werden ein Individuum oder
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Georges Batailie: Die psychologische Struktur des Faschismus, in: Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität, München 1978, S. 17. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt 1989.
mehrere Individuen aus der festgelegten Stellung in der sozialen Formation separiert. In der "Trilogie" löst sich im ersten Teil Moritz aus dem Sozialgefuge, indem er beabsichtigt, das Bild "Karneval der Direktoren" zu zeigen, einen verdrängten Text in den allgemein akzeptierten sozialen Text einführen will. Analog der nach van Gennep nachfolgenden Zwischen-Situation der liminalen Phase positioniert sich die Figur zwischen zwei durch die Institutionen determinierten Strukturen. Diese Zwischen-Situation ist definiert durch eine Un-Begreifbarkeit, die zusätzlich untermauert wird durch Paradoxa. In diese Phase tritt Moritz im zweiten Akt ein, er kann auch diese nur mit einem Bild beschreiben: Habe ich euch nicht den Calderara herbeigeschafft? Wieder einmal! Habe ich euch nicht 'La Sposa' sehen lassen! Pack! 'La Sposa' - die Braut, eben noch gegenständlich, eben noch. Ein Werk, vor dem man den Blick senkt, weil man nicht wagt, es unverhohlen anzugaffen ... Das Inbild des Unsichtbaren, wie es Peter einmal genannt hat ... Stellen sie sich vor, so etwas gäbe es in Wirklichkeit: würden sie nicht gerne Ihre Gestalt, ihren Körper dafür geben, um nur noch Licht zu sein, ein unsäglicher [kein Sagen!] zarter physischer Schimmer. Alle Zeit wären sie hell, unauslöschlich und niemand Bestimmtest!]. (TdW 83) Kaum noch Etwas, doch längst nicht Nichts. Vor diesem Fall kopfliber, vor dem ins Nichts, schützt sie ja, daß sie Licht sind und leuchten, flinen, verführen - nicht Nichts, kaum etwas
Für Turner ist in dieser Phase die Communitas relevant. Die Darstellung dieser Communitas ist jedoch immer nur indirekt sprachlich, mit Hilfe von Metaphern, in der "Trilogie" mit Metaphern = "Bilder" möglich, kann also das Erlebte des Individuums nicht komplett artikulieren. Denn Communitas bedeutet j a die Separation von durch die Struktur determinierten Bindungen, das Reglement der Ein- und Ausschlüsse und damit auch der Text als Regelwerk sind hier nicht mehr gültig. In der postliminalen Phase geht die Figur wieder in die Struktur, bei Strauß in den sozialen Text ein. In der "Trilogie" haben sich dann die Machtverhältnisse geändert. Richard ordnet nun die Bilder. Die Dramaturgie der "Trilogie", die im Wortsinn eine Folge von drei eine Einheit(!) bildenden Werken ist, folgt dem von van Gennep, Bataille und Turner vorgedachten Modell. Von der van Gennepschen Isolierungssphase, dem ersten Akt "Kleine Gesellschaft" treten die Figuren in die "Schwellenphase" des zweiten Aktes "Niemand Bestimmtes" über, und von dort wieder in die "Anschlußphase" des dritten Aktes "Gute Beziehungen". Im ersten Akt gliedert die Ordnung des Diskurses die "Kleine Gesellschaft", alle Liebesverhältnisse sind geregelt. Lothar, der als Arzt nach Foucault paradigmatisch für die aus-differenzierende Aufklärung steht, ist gegen das "Hotel", das der Ordnung entgegensteht, da immer neue Bewohner und Treffen in ihm stattfinden: Du weißt, ich bin nicht der Typ, der sich in einem Donnerwetter entlädt [der die Ordnung stört]. Und du weißt auch, wie abgenutzt und wie ausgelebt mein Verhältnis zu Ruth ist. Aber ich will dir offen sagen, was ich wirklich empfinde: Ruth ist ein lieber, ein wertvoller Mensch, eine humane [siehe Foucault, der das Ende des Humanismus registriert] Frau. Ja, lach nicht. Ich weiß, was ich damit meine. Daß sie nämlich Vertrauen und Liebe schenken kann wie niemand sonst auf der Welt, und es ist eine Schande, ein infames Verbrechen, sie fllr ein kurzes Aussteigeabenteuer zu gebrauchen und sie ausgeknutscht liegen zu lassen wie ... wie eine deiner 'leise' Kulturnutten ... (TdW 112)
Nach der Übergangsphase stellt sich am Ende die Ordnung wieder ein. Die guten Beziehungen konstituieren sich dann durch die Ab-Teilung, durch die Differenz: 75
Richard: Gut. Stellen sie die Werke zusammen. Wir machen eine Abteilung daraus. Zu Marlies: Ich fühle mich sehr wohl neben Ihnen, Marlies. Manchmal tritt man j a erst bei der Arbeit zu jemandem in nähere Beziehung". Arbeit als eine Marxsche volkswirtschaftliche Kategorie garantiert erst die Beziehung. "Marlies: [...] Arbeit dürfen Sie unser Vergnügen aber nicht nennen". "Richard: Nun, Intelligenz ist aber schon gefordert. (TdW 105) Die B e z i e h u n g stabilisiert sich in der neuen O r d n u n g wieder über die dem Intellekt z u g ä n g l i c h e oberflächliche Struktur.
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2. 1978-1983: Die Suche nach der Heimat im Text
"Langsame Heimkehr" "Hannah" ist, von vorne oder von hinten gelesen, immer "Hannah". In "Die Widmung" von 1978 spiegelt sich der Name Hannah in sich selbst, ist als Identität eine gespiegelte, imaginäre Einheit. Der Buch-Händler sucht in einer geteilten Stadt, abgetrennt von der Einheit, von der Perfektion des Spiegelbildes, nach der ursprünglich imaginierten Einheit. "Hannah" ist also nicht direkt eine verlorene Frau, sondern erst einmal "Ich als der andere", dessen Einheit jedoch vom sich bewegenden Text auseinandergerissen wird und wie Berlin eine fundamentale Teilung und Vereinzelung erfährt. Schuld ist die Schrift: Nun läuft die Schrift. Es gibt kein Entkommen mehr. Ich habe mich jemandem anvertraut, der sich selbst verleugnet. (W 17) Um die Teilung zu überwinden, schreibt der Buch-Händler. Doch mit der überbrückenden Schrift wird er erst recht die Verfehlung bewirken. Der Buch-Händler kann das fragmentierte "Ich" nur noch durch seinen Schreib-Akt als Einheit simulieren: "Grenzwechsel in der Mittagsstunde, nachmittags Unter den Linden in Gegenrichtung zurück, wieder bis an die Schwelle des Bruchs. Die Trennung einmal ausgeschritten, nicht ohne eine gewisse schizophile Genugtuung, als Sammler des Geteilten." (W 32) Strauß spielt hier auch auf den "Anti-Ödipus" von Gilles Deleuze und Fdlix Guattari 1 an, der in Verkennung der Schwere der Krankheit der wirklich "Schizophrenen" leichtfertig die "Schizophrenie" als den allein total umfassenden Vorgang kennzeichnet und Lacans Theorie des Partialobjekts als subversiv und gleichzeitig als schizophrenisierende Destruktion der Psychoanalyse interpretiert. Während Strauß in der "Widmung" noch die französischen Theorien manchmal direkt übernimmt und in "Groß und klein" mit dem Titel auf Adornos "Minima Moralia" anspielt, zeigt sich "Paare, Passanten" bereits als Dokument eines Bruchs. Zwar bleibt der philosophische Hintergrund, zusätzlich sucht Strauß aber nach dem eigentlich unmöglichen Grund im Entgleiten. Sowohl die Apologeten der Dialektik, als auch die fröhlichen Denker der Postmoderne werden nun in ihrer spielenden Selbstbezüglichkeit kritisiert: "Heimat kommt auf (die doch keine Bleibe war), wenn ich in den 'Minima Moralia' wieder lese. Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit! Es ist, als seien seither mehrere Generationen vergangen. (Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!) Stattdessen begleiten uns einige jüngere Denker-Satiriker, die Ethno- und Anarcho-Essayisten, bei denen wir etwas unentwegt Naßforsches in Kauf nehmen müssen, diese kichernden Formverstöße gegen das starr Dogmatische der Marxisten, gegen den orthodoxen Lehrbetrieb überhaupt, in den sie sich als
Gilles Deleuze und F61ix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt 1974. 77
Anti-Köpfe gleichwohl viel zu verbissen haben, als daß ihre Fantasie einen bescheidenen Aufschwung nehmen könnte." (PP 115) Zwar stützt sich auch "Paare, Passanten", wie am Titel erkennbar, auf Theorien, deren Vertreter hier kritisiert werden, so wird zum Beispiel Lacan positiv zitiert. (PP 190) Aber der Übergang vom linken Anarchismus zum rechten Denken ist bereits erfolgt, wobei der anarchistische Zug in Heideggers und Jüngers Denken die Konversion sicher erleichtert haben. Manfred Frank schreibt 1983 in seiner vielgelesenen Einführung "Was ist Neostrukturalismus?", daß der Neostrukturalismus den ihm vorausgegangenen ethnologisch-linguistischen Strukturalismus [...] aus einer philosophischen Perspektive heraus radikalisiert und umstürzt. Diese Perspektive wird - um eine Formel zu packen - durch eine Rückbesinnung auf Nietzsches Metaphysik-Überwindung gewonnen. Und das ist der Grund, warum in der Liste der schon genannten (philosophischen) Vorfahren des Neostrukturalismus noch die Namen Heideggers und Freud nachgetragen werden müssen. Zweifellos auch die von Emmanuel Levinas und George Bataille, die aber ihrerseits stark unter dem Einfluß der Genannten stehen. 2
Strauß radikalisiert diese Perspektive wiederum, sein Programm ist die Überwindung der Metaphysik-Überwindung, der Hauptfeind ist somit Nietzsche, obwohl er mit Nietzsche, auf den sich auch Heidegger stützt, denkt. Peter Handkes "Langsame Heimkehr" wird bei Strauß zum Übertritt vom Neostrukturalismus zur rechten Kulturphilosophie, aber für diesen benötigt er nur einen kleinen Schritt. Denn der Neostrukturalismus hat mit dem rechten Denken einiges gemein. So wird zum Beispiel oft nicht bemerkt, daß der von Derrida auf die Bühne der IntellektuellenÖffentlichkeit importierte Begriff "Logozentrismus" auf Ludwig Klages zurückgeht. Auch Manfred Frank weist auf die Verbindungen zur Rechten hin: Es ist nützlich, sich einmal Rechenschaft darüber abzulegen, in wie hohem Maße die heute vor allem im Gefolge des Neostrukturalismus in Mode gekommene These vom 'Tod des Menschen' mit den irrationalistischen Pseudophilosophemen ä la Klages, Baeumler und Spengler - aber auch mit den in Lyotards Philosophie fröhlich urständenden agonalen Machttheorien des Sozialdarwinismus - übereinkommt". Frank bezeichnet diese Nachfolge als "Rache Spenglers": "Sie besteht darin, daß es nicht genügt, Spengler nicht zu kennen; man sollte auch über andere Ansichten als dieser Autor verfügen können. 3
Der "Vereinzelte" in der Gesellschaft Daß Strauß sich zu Beginn der achtziger Jahre nicht mehr vom marxistischdialektischen Denken eine Verbesserung erwartet, sondern sich einem existentialistischen Denken in Anlehnung an Kierkegaard und Heidegger zuwendet, ist auch die Folge seiner Beobachtungen der gesellschaftlichen Realität. Die Sozialdemokratie gibt sich seit Mitte der siebziger Jahre zunehmend pragmatisch, sowohl im wirtschaftlichen Denken, das sich dem volkswirtschaftlichen Modell der Angebotstheoretiker zuneigt, als auch auf dem Gebiet der inneren Sicherheit - siehe das Problem des Terrorismus und seine Bewältigung 1977 - , als auch im militärischen Bereich mit der "Nachrüstung". Die Alternative des "real existierenden Sozialis2 3
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Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt 1983, S. 32. Frank: Was ist Neostrukturalismus? a.a.O., S. 434.
mus" der Ostblockstaaten hat ihren Glanz völlig verloren, Solschenizyns Buch über den "Archipel Gulag" zerstört endgültig die große Illusion, soweit sie im Lager der etwas verträumteren Intellektuellen noch vorherrscht. Strauß verabschiedet sich von einer oberflächlichen Gesellschaftskritik und tritt seine Suche als Vereinzelter nach dem grundlosen Grund an.
Die Suche nach dem grundlosen Grund Der Grund ist nur im Text zu finden, Adorno schreibt über die "Heimat" des Intellektuellen: In seinem Text richtet der Schriftsteller häuslich sich ein. Wie er mit Papieren, Büchern, Bleistiften, Unterlagen, die er von einem Zimmer ins andere schleppt, Unordnung anrichtet, so benimmt er sich in seinen Gedanken. Sie werden ihm zu Möbelstücken, auf denen er sich niederläßt, wohlfühlt, ärgerlich wird. Er streichelt sie zärtlich, nutzt sie ab, bringt sie durcheinander, stellt sie um, verwüstet sie. Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen. 4
So muß Strauß als Leser von Paul Valöry mit Valdry über Vatery hinaus gehen, T.S. Eliot, den Strauß heute als Vorbild sieht, schreibt über diesen Weg: Nun glaube ich - und ich meine es bereits angedeutet zu haben - , daß die ars poetica, deren Keim wir bei Poe finden und die in Vaterys Werk Frucht getragen hat, so weit gegangen ist, wie es möglich war.
Für Strauß, den ehemaligen Mitarbeiter der "Schaubühne", bietet sich primär das "Theater" als ältestes Medium an, um zum Grund der Kultur zu gelangen: Was die Arbeit am Drama erschwert, das uns doch in die großen Konflikte und Fallhöhen hineinreißen soll, die wir sonst nirgends zu spüren bekommen: solche Konflikte und Antithesen lassen sich heute nicht einmal mehr im Gedanklichen auseinandersetzen. Unsere Erlebniswelt ist voll von Ambivalenz und Doppelbindung, voll auch von sinnlicher 'Meinungsvielfalt' und von einem ungeheuerlichen medialen Quidproquo. Das läßt ein schieres Gegenüber zweier widersprüchlicher Positionen auf dem Theater zu einer extrem künstlichen und wirklichkeitsfremden Herausforderung werden. Und doch wäre gerade hierin, wenn es gelänge, dem uralten Paradigma des Theaters Genüge getan; denn es kommt immer darauf an zu beweisen, daß die Modelle des Theaters älter, stärker und überlebensfähiger sind als alles, was wir ihnen aus unserer Gegenwart zutragen können. (PP 187)
In der Institution des Theaters und den Texten wäre ein Rahmen gegeben, der die Suche nach dem Grund erleichtert, denn jeder Text läßt sich historisch auf die Mythen zurückführen. Der enthnologische Blick auf das Fremde wird zurückgespiegelt auf die eigene Kultur. Dabei wendet Strauß die Erfahrung mit dem Strukturalismus Ldvi-Strauss', dessen Grammatik des Denkens, eingesetzt in die Sprache, vom Synchronen ins Diachrone, orientiert sich dabei auch an Michel Foucaults Archäologie. Für Aristoteles bedeutet "ethnos" "fremdes Volk". Der Blick auf das Fremde, der sich durch die Arbeit der Ethnologen im 20. Jahrhundert auf das eigene rückspiegelt, zeigt Strauß, daß das Fremde im eigenen ist, in und außerhalb des eigenen und fremden Textes zugleich, wenn der Text die Anwesenheit der Abwesenheit bezeichnet. Etymolo4
Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt 1997, S. 108.
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gisch läßt sich "Ethnologie" von "ethnos", "Volk", "Menge", "Kriegerschar", "Klasse" herleiten. "Ethnos" ist dabei auf "ethos", "Gebrauch", "Sitte", "Herkommen" bezogen. So bedeutet "Ethnos" auch eine durch die Gewohnheit verbundene Menge. "Ethnos" und "ethos" haben die indogermanische Wurzel "uedh", deren Bedeutung "binden, knüpfen" ist. Und bei Strauß ist für das "Zusammennähen" der Rhapsode, der Dichter zuständig, der Text ist bei ihm das Text-il. So ist das die Gesellschaft Zusammenbindende auch der Text. Und wenn der gegenwärtige Text dies nicht mehr leistet, so Strauß, dann muß am Ursprung der Kultur nach dem ursprünglichen, den Zusammenhalt stiftenden Text gesucht werden, nach den Mythen. Denn die Studien der gegenwärtigen Gesellschaft können keinen Zusammenhalt bieten, da sie das Eigentliche nicht behandeln: Abgabe von Intelligenz des Geistes (der Kritik) an die Intelligenz der Sensualität. Hitchcocks 'Vögel' werden länger in uns lebendig bleiben als Brechts 'Mutter Courage'. Das eine gehört zu unseren Mythen, das andere zu unseren Studien. Die Doxa (das Gemeinte) geht, wir bleiben zurück im Gestrüpp der Reizungen. (PP 118)
Schon aufgrund ihres Ausschlußcharakters ist die diskursive Vernunft wenig geeignet, einen die Vereinzelten zusammenhaltenden, gültigen Text zu kreieren. Nicht nur im Bewußtsein, sondern auch im Unterbewußtsein, im sich bewegenden Text sollte der Text Gültigkeit besitzen. Damit muß er ebenfalls beweglich sein. Sowohl das "Ich", als auch der andere werden zum Problem, wenn der differenzierende Text diese zu eindeutig macht. Wenn die Welt Text ist, dann kommt es auf den Text an. Da der Welt als Text, als Immanenz nicht zu entkommen ist, sollte zumindest der Text mehr "Anklang" an den Ursprung besitzen. So ist der mythische Text oder allgemein die Dichtung dem uneindeutigen, undifferenzierten Ursprung näher. Es geht um das Heideggersche Hören und nicht um das differenzierende Sehen: "Heideggers Formulierung, daß Fragen die Frömmigkeit des Geistes sei, kommt [Strauß] immer wichtiger vor."5 Da fur einen elementaren Teil der Dichtung seit der Veröffentlichung der "Traumdeutung" die Interpretation von Mythos und Dichtung durch Sigmund Freud und Carl Gustav Jung als schriftliche Abstraktion von Urbildern, die im Unterbewußtsein persistieren, im vorstellungsweltlichen Hintergrund geblieben ist, befindet sich Strauß mit seiner Aufmerksamkeit für die Mythen in keiner nonkonformen Position. Für Thomas Mann, Hermann Broch, Alfred Döblin, James Joyce, Ezra Pound und den oben schon zitierten T.S. Eliot ist der Mythos nicht eine rückständige und widersinnige, da vernunftwidrige Vorstellungswelt, sondern verfügt, da er dem Unterbewußtsein näher ist, über eine gesteigerte Legitimation, sich als ein die (Um-)Welt interpretierender Text darzustellen. Obendrein bietet der Mythos, vielmehr als der eindeutige Begriff, Denkund Interpretationsraum für eine Palette an Perspektiven. Ein positives Merkmal ähnlich dem Bewegungsspielraum, die die Dichtung für Heidegger für die Interpretation läßt. Mythos und Dichtung können sich für Strauß daher in einer kulturellen Vielfalt, wie sie die Gesellschaft Ende der siebziger Jahre darstellt, aufgrund ihrer erhöhten Komplexität beweglich genug zeigen, um nicht gleich unter Ausschlußverdacht gestellt zu werden. Und sie bieten gleichzeitig den Halt, den die Ideologien und Theoreme nicht mehr glaubwürdig anbieten können. Für Hans
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Hage: Schreiben ist eine Söance, a.a.O., S. 195.
Blumenberg, der sich mit einer Arbeit über Heidegger habilitierte, wäre das, w a s Strauß sucht, eine "absolute Metapher": Absolute Metaphern beantworten jene [...] prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden 6 In Anlehnung an Piatons Höhlengleichnis formuliert Blumenberg das Verhältnis der Begriffe zum unmittelbaren Leben folgendermaßen: An der Möglichkeit, die die genuine Exegese des Höhlenmythos nicht ausschöpft, läßt sich ablesen, welche Entscheidungen zugunsten des 'bios theoretikos' allem voraus schon getroffen worden sind. Die Theorie hat sich selbst als das Bedürfnis idealisiert, das dem Leben erst Grund verschafft; aber des Grundes nicht zu bedürfen, ist die Genauigkeit des Lebens selbst. 1 Das immer der Theorie vorgeschaltete Existentielle hat eine engere Bindung an Bilder, Metaphern und Symbole, als an den Begriff. Die These Hans Blumenbergs ist die Antwort auf Strauß' Frage: Die Sprache ist ein großes kulturelles Feld, in das man sich versuchsweise hineinbewegt. Wieso arbeite ich stundenlang an einem Satz? Das ist doch nicht mein eigenes subjektives Empfinden von Perfektion! Es muß doch ein tieferes Urbild dieses Satzes geben, das nicht allein aus meiner Subjektivität kommt, sondern von anderswoher: aus der Summe von Literatur, die ich kenne oder die überhaupt existiert'. Vielleicht klinge das ein wenig zu religiös. 'Aber ich glaube da eben fest dran - sonst hätte ich gar nichts, woran ich glaube: Das ist das große Archiv ..." Jeden B e z u g des Schriftstellers allein auf das "Ich" kritisiert Strauß aus der Sicht des Psychoanalytikers als '"unverhohlene[n] Narzißmus!' Es versperre den W e g zu einer symbolischen Arbeit" 9 . Das Symbol soll für Strauß dann der sich b e w e g e n d e Grund sein: Fundiert ist gar nichts. Auf dem Grund herrscht der Moder, das allesfressende Grund-Bild (das reine Symbol, die 'Vögel'). Das Fundierte, Gebildete, gesittet Kluge ist dabei, sich als plumper Sockel in sich selber abzuschließen. Keine erleichterte Figur steigt mehr daraus empor. (PP 118) D a die gegenwärtige Gesellschaft nicht mehr bereit ist, sich auf das Existentielle einzulassen, wird der Vereinzelte in Strauß' Theatertexten weiter versuchen, der Immanenz der treibenden Signifikanten zu entkommen und den anderen als den eigentlich Fremden im Text zu fixieren.
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Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, S. 19. Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Frankfurt 1989, S. 168. Hage: Schreiben ist eine Seance, a.a.O., S. 195. Hage: Schreiben ist eine S£ance, a.a.O., S. 191. 81
2.1. Groß und klein Die Wahrheit ist, daß du noch nicht gefunden hast, was die richtige, die gültige, den Menschen nützliche Handlung wäre. Du hast es nicht weiter gebracht als dazu, nein zu sagen. (Elias Canetti)
2.1.1.
Zwischen Ordnung und Unordnung - Stationendramaturgie der Masken
2.1.1.1. Die Stimmen von "Groß und klein": Canettis Masken Keine Dialektik, kein Ende der Geschichte determiniert die Dramaturgie von "Groß und klein", vielmehr ist das Zentrum die Verwandlung im Sinne von Elias Canetti. Bei ihm sind die Figuren als "akustische Masken" skizziert. So erdet Canetti das Verhalten des Menschen, abhängig von der Gesellschaft und deren Ethik und Moral, im Physischen. Die diskursive Verhaltensweise determiniert die Identität des Charakters. Die Methode Canettis ist die extreme Expansion einer bestimmten Wesensart, einer individuellen Disposition, während die anderen Merkmale in den Hintergrund treten. Hierdurch wird eine eigenständige Figur generiert, die als Imagination erst recht wirklichkeitsnah Eigenschaften des menschlichen Individuums reflektiert. In "Groß und klein" sind die Figuren Masken und wer hinter der Maske ist, kann nicht mehr geklärt werden. Mit Hilfe der Masken ist dann auch die Linie der Dramaturgie zu ziehen. Ob es dabei zu einer Entwicklung kommt, gar zu einer dialektischen, bleibt im Dunkeln. In "Marokko", den "Stimmen von Marrakesch",10 mit der Canettischen Maske, beginnt das Spiel, die Stimmen des Textes sind nur zu hören. Und in der zu sehenden Diskursordnung, in der "Gesellschaft", in den Foucaultschen Masken endet das Stück.
2.1.1.2. Stationen des "Ichs" im unendlichen Buch In "Groß und klein" bewegt sich das "Ich" durch eine Struktur, die ihr selbst unbewußt bleibt. Somit befindet es sich in einer Dramaturgie, als deren Vorbild August Strindbergs "Nach Damaskus" zu orten ist. Peter Szondi schreibt über Strindbergs Dramenform: Traum und Stationendrama fallen in ihrer Struktur tatsächlich zusammen: eine Szenenfolge, deren Einheit nicht eine einheitliche Handlung, sondern das identisch bleibende Ich des Träumers beziehungsweise des Helden ausmacht."
So wie in Strindbergs "Nach Damaskus" tritt in "Groß und klein" das "Ich" sich selbst als Fremdem gegenüber. Wie Valirys extremer Übergriff der Abstraktion in den undifferenzierten Raum und Blanchots Trennung des "Ichs" vom Leben als Text zeigt sich Lottes Wahrnehmung des eigenen "Ichs" als Konstruktion aus ihrem Bewußtsein, projiziert in das "Außen". Nur ist in Strauß Stück nun das Buch unendlich, das Ich völlig instabil und die Vernunft relativ geworden. Strauß radikalisiert Strindbergs Sicht, die Entwicklung in der Dramaturgie ist vollends zum Spiel 10 11
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Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, Frankfurt 1980 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), a.a.O., S. 51.
zwischen Ordnung und Unordnung geworden. Die Regeln des Spiels können in einem unendlichen Buch, in einer Bibliothek ohne Grenzen nicht mehr durch einen Punkt außerhalb legitimiert werden.
2.1.1.3. Adornos "Groß und klein" im unendlichen Buch Gerade in einem solchen "Ich", wie es die Figur der Lotte darstellt, in dem durch Strauß im Text und auf der Bühne ausgestellten "Ich", das es eigentlich gar nicht geben dürfte, sieht Adorno das Zeichen der Zeit: Denn weil in der gegenwärtigen Phase der geschichtlichen Bewegung deren überwältigende Objektivität einzig erst in der Auflösung des Subjekts besteht, ohne das ein neues schon aus ihr entsprungen wäre, stutzt die individuelle Erfahrung notwendig sich auf das alte Subjekt, das historisch verurteilte, das für sich noch ist, aber nicht mehr an sich. 1 2
Und mit "Hegel, an dessen Methode die der Minima Moralia sich schulte", 13 wird immer noch gerechnet. Die Dramaturgie der Szenen ist also mit Hegel gegen Hegel gedacht, so wie Adorno mit Hegel gegen Hegel denkt, eine Vorgehensweise, die, wenn man sie mit Luhmann zu Ende (das auf den Anfang verweist) denkt, im Paradox endet. Adorno selbst hält sich jedoch noch kurz vor der Auflösung auf, die Reflexion soll noch stattfinden mit dem Ziel der Besserung, in "Minima Moralia" positioniert er sich so: Hegel hält sich dem Subjekt gegenüber nicht an die Forderung, die er sonst leidenschaftlich vorträgt: die, in der Sache zu sein und nicht 'immer darüber hinaus', anstatt 'in den immanenten Inhalt der Sache einzugehen'. Verschwindet heute das Subjekt, so nehmen die Aphorismen es schwer, daß 'das Verschwindende selbst als wesentlich zu betrachten' sei. Sie insistieren in Opposition zu Hegels Verfahren und gleichwohl in Konsequenz auf der Negativität. 1 4
Strauß radikalisiert Adornos "Groß und klein" und situiert es im Borgesschen Buch. In "Groß und klein" werden die Figuren noch skizziert, um die Frage möglich zu machen und anzudeuten, daß jede begriffliche Beschreibung eine unterdrückende ist und zugleich auf jeden Fall falsch. Somit vermeidet Strauß jede Psychologisierung, die nach Adornos Diktum nur eine Unterwerfung unter eine Ordnung wäre, so befreiend sie auch gemeint ist. Denn jede Befreiung mittels einer Theorie verlangt eine Gültigkeit von Theorie und verstärkt damit die Anerkennung von Theorie allgemein und damit die Unterdrückung, die durch die Theorie erst möglich wird. Lotte weigert sich, mehr als Andeutungen von sich und den anderen zuzulassen: "Gitarrenspieler: 'Du malst?' Lotte: 'Zeichne.' [...] Gitarrenspieler: 'Malst sogar vom Fernsehen ab, was?' Lotte: 'Du spielst die Gitarre und ich zeichne eben gern.'" (GK 175) Lotte zeichnet ihr Gegenüber, gibt damit Raum für Fragen. Das Malen käme einer völligen Determinierung des Gegenübers gleich. Dennoch kann sie dem Einfluß der Medien nicht entkommen. Auch sie mobilisiert sich bei der Bestimmung ihres Gegenübers notwendigerweise in einer Sprache, die von den Medien bestimmt wird. In der Sprache, in den Wörtern bewegt sich Lotte und 12 15 14
A d o m o : Minima Moralia, a.a.O., S. 8. Ebd. Ebd., S. 9.
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bewegt durch die Bewegung die Handlung. Dabei verliert sie von Station zu Station mehr Text, um diesen zu überwinden. "Im alten, noch stärker ausgeblichenen Kostüm" (GK 249) nähert sich Lotte dann dem Ganzen, dem Weißen im Text, das die Bewegung der Signifikanten ermöglicht. Es geht ihr um das "Dahinter", um die Transzendenz. Ihre Hoffnung zielt auf die Überwindung der Masken, auf die Überwindung des Scheins, auf das Absolute: Gott ist einfach, ist wahr in Tat und Wort. Er verwandelt sich nicht und betrügt niemanden. (GK 2 5 0 )
Edmond Jabös beschreibt das ganz andere aus der Sicht des Buches: "Gott ist Subversion des Buches; erdrückende Stille. Er ist das Nichts, das das Ganze aus dem Gleichgewicht bringt, und das Ganze, das das Nichts verstimmt. Das Hindernis im Hindernis. Das Unüberwindbare, das man überwinden muß." 15 Da das Buch nicht zu überwinden ist, kann das ganz andere nur indirekt erfahren werden. So findet sich Lotte am "Ende" wieder in der Ordnung der Gesellschaft. Von außen betrachtet hat sie sich weder befreien können, noch konnte sie die Ordnung verändern.
2.1.2. Das Hören der "Stimmen von Marrakesch" als Bewegung des Unbewußten Canettis "Aufzeichnungen einer Reise", die "Stimmen von Marrakesch" sind bei Strauß die Aufzeichnungen durch den bundesrepublikanischen Text der Gegenwart durch die "Touristin" (GK 129) Lotte. Deren Name verweist auf "lottern" - lose sein, keine feste Bleibe im Text haben - und "Lotterie" - offen sein für Unvorhersehbares. Lotte sitzt im Speisesaal eines Hotels, einer Durchgangsstation fur den Text. Sie befindet sich also in ihrem gerade offenen Bewußtsein und hört hinter "nicht ganz geschlossen[er]" "Jalousie", (GK 129) also von außerhalb ihres Bewußtseins, etwas abgetrennt vom Treiben des Textes, vom Treiben des Unbewußten, den Stimmen von zwei Männern zu, "Frieder" und "Nichtfrieder". Es ist "Abend", (GK 129) für Strauß die Zeit, in der die klaren Konturen des verhärteten Textes sich verwischen, und so kann sich Lotte dem Hören des Treibens der Signifikanten hingeben. "Der eine sagt: warum nicht alles noch einmal von vorne durchdenken, Frieder? Tja. Frieder. Das ist der andere." (GK 129) "Ich ist eine anderer", so konstituiert sich das "Ich" von Lotte im Spiel der Konstituierung des "Ichs" in der symbolischen Ordnung, im Text, das sich aber sofort als ungenügend herausstellt und wieder zerstört wird. Ein Spiel zwischen "Frieder", der, wenn man die Etymologie des Wortes zugrunde legt, "Frieden", eine "Schonung", eine "Einfriedung", einen "Zaun", eine "Befriedung" sucht: Frieder sagt: So kommen wir nicht weiter, und weiter müssen wir aber kommen. Deshalb schlage ich vor: denken wir rücksichtslos weiter, und bloß nicht noch einmal von vorn (GK 130)
Und "Nichtfrieder", der die ungenügende Ordnung im Text erstellt und Unzufriedenheit in der Verhärtung bedeutet. Lotte verläßt also die in der Aufklärung durch Abgrenzung erzeugte Ordnung, gibt sich dem "Wahnsinn" hin, riskiert die Unnor-
15
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Edmond Jab£s: Der vorbestimmte Weg, Berlin 1993, S. 79.
malität, die Krankheit ("Wäre gesünder, man hörte nicht hin" (GK 129)) und hört dem Spiel im großen Buch, dem Medium des Logos zu: "Zwei Männer gehen draußen auf und ab. Ewig. Tiefe Stimmen. Hören Sie? Wahnsinn." (GK 129) Ihr Tun ist ungewöhnlich für eine Figur im Text der Gesellschaft der siebziger Jahre, die spielenden Figuren "Frieder" und "Nichtfrieder" entsprechen nicht den sich um Stabilität bemühenden Figuren der Mit-"Menschen", deren Image möglichst eindeutig zu sein hat: "Die sind nicht aus unserer Siesta-Gruppe. Die kommen von woanders her." (GK 129) Das Hören auf die Wörter, die im unendlichen Buch spielen, erzeugt für Edmond Jabes Musik, so auch für Lotte: Das klingt! Vater, Vater ... Die gehören nicht zu uns, die Kerle. Hab ich mein Lebtag nicht gehört, solche ... solche ... Wohl-laute, (GK 129)
und: Durch diese Superstimme versteh ich fast nichts ... diese Stimme! ... Musik, Musik! (GK 132)
Lotte wartet auf etwas Wahres, Gerechtes, Gültiges, das es nicht mehr gibt im Zeitalter des Nihilismus: Haben Sie gehört? Der eine sagt Frieder zum anderen, Frieder sagt zu ihm aber nichts. So geht das schon seit Stunden, Wahnsinn. Frieder nennt Nichtfrieder niemals beim Namen. Ich warte bloß, daß ich endlich weiß, wie Nichtfrieder heißt. Ich warte bloß, daß es Frieder mal endlich rausrutscht, wie Nichtfrieder heißt. Wenigstens ein kleines Ha- oder Be oder Wa-, Sie-, Ro-, Gus-, Joch-Wahnsinn. Die Ruhe der Logiker möchte ich haben. (GK 130)
"Frieder" als das andere, das Lacansche Imaginäre, ist nie benennbar und treibt immer weiter durch die symbolische Ordnung. Daher kann "Frieder" auch keinen Namen haben. Dieses ewige Treiben macht Lotte nun schon einige Zeit mit in "Agadir", in Ag-A-Dir, also in Zu-Von-Dir, also im Lacanschen Spiel zum anderen vom anderen weg und so fort. Das Eindeutige hat sie nicht gefunden, aber viel sich widersprechender Sinn hat sich als ihre Identität, ihr "Ich" als "anderer" angesammelt zu einem sie als umfangreichen, komplexen Text definierenden Körpertext: "Noch elf Tage in Agadir. Die Zeit vergeht. Ich habe bis jetzt bloß zugenommen. Alles ist sehr einfach: nichts klappt. Die Zeit vergeht, aber nicht richtig." (GK 131) Die soziale Gemeinschaft wird bei Strauß zur "Buchgemeinschaft", die einen "Jahresprospekt" (GK 131) schickt, einen Blick ("prospectus") auf das Jahr, an den sich Lotte halten kann. Sie ist also froh, wenigstens einen festen Haltepunkt im Text zu haben: "Freut mich. Besser als nichts. Nochmal knapp an keiner Post vorbeigekommen." (GK 132) ("Post" ist als Begriff verwandt mit "Posten", mit "festgesetztem Aufenthaltsort.") Im unendlichen Buch ist das eine das viele und umgekehrt, denn immer rastet etwas ein, das das Wahre sein will, um im Moment des Einrastens falsch zu werden, und so wird es wieder aufgelöst, da das Wahre ja nun das viele ist, dann wird das viele unwahr usw. Es ist eine imaginäre Jagd zwischen Hegel (Das Ganze ist das Wahre) und Adorno (Das Ganze ist das Falsche). "Frieder" sagt, daß das Verhärtete "Unbefriedigend!"(GK 133) sei, und "Nichtfrieder" beklagt die "Gier"(GK 133) des anderen. Und Lotte verläßt mit dem anderen die Verhärtungen:
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Aber frag mich nicht, was. Ich bin nicht der Typ, der sich alles merkt. Ich bin kein Erinnerungsmensch. Ich war nie einer. Hab ich nicht eben 'Gier' gesagt? Solange sie gehen, ist es ja möglich, daß sie später noch hier drinnen [im Bewußtsein] vorbeischaun. (GK 134)
Lotte erinnert sich nicht, will sich nicht verhärten, sehnt sich aber zugleich nach einer Stabilität, die eine Verhärtung wäre. Die Gesellschaft ist in einer ähnlich paradoxen Situation. Die Frage ist: Wie kann in der Vielfalt des Buches, der Kultur, des Seins jemand ruhend und ruhig sein? Entweder, so die Antwort, er ist eine ganzheitlich wirkender "Gerechter", den es in der modernen Welt und deren Vielfalt an Wahrheiten nicht mehr geben kann. Oder er hält sich an eine Taxonomie, eine "Ordnung der Dinge" (Foucault), die eine grundsätzliche Differenz, ein "Extra" voraussetzt: In dieser Höllenhitze findet keiner den Schlaf der Gerechten. Nur die, die heute etwas unternommen haben, die also mit auf dem Ausflug nach Marrakesch waren und erst spät am Abend zurückgekommen sind, die schlafen jetzt fest wie die Ratzen. Ich war nicht dabei. Total zerstritten, wie unsere Gruppe ist. Ich sitze tagsüber gerne im lounge, wo immer ein kühles Lüftchen weht. Die Frauen schreien die Männer an, einer nach dem anderen verliert sein Gesicht, die Männer schreien die Frauen mitten in der Wüste an. Ich mache keine Extras mit. Von Anfang an nicht. Ich habe keine Extras gebucht. (GK 134)
Lotte hat sich keiner Diskursordnung verschrieben, sie sieht die ganze "Wüste" des unendlichen Buchs, das sie ge-buch-t hat, sie sitzt im Durchgang des offenen Bewußtseins, der "lounge" des "Hotels" und hält sich aus dem Streit um die Macht heraus. Strauß' Gesellschaftskritik wird konkret: Gier, Neid, Desinteresse, Habsucht und blinder Eifer - das sind die Haupteigenschaften, die unserer Siesta-Gruppe am ärgsten zu schaffen macht. (GK 134)
Fast, so denkt Lotte, hätte "Frieder" die "Wahrheit" gefunden: "Fast wäre es ihm rausgerutscht, wie Nichtfrieder heißt, fast! Halt ein sagte Frieder, genau! [...] Es hätte ihm rausrutschen m ü s s e n . Scheißdreck." (GK 136) Und weiter geht es mit der Grübelei, mit der Reise durch das unendliche Bewußtsein, durch den Text: "Zwei Männer, Wahnsinn. Auf und ab, hin und her." (GK 137) Nachdem die "Wahrheit" durch das Anhalten des Spiels, durch die Verhärtung in einer Ordnung nicht zu einer befriedigenden Wahrheit wird, wünscht sich Lotte den Eingang in das unendliche Spiel, in die Bewußtlosigkeit, in das Chaos des Textes: Ach, ich wünschte, ich wäre Frieder oder Nichtfrieder und ging heut nacht neben Frieder oder Nichtfrieder draußen auf und ab, im gleichen Schritt und Tritt... (GK 137)
Aber sie erkennt, daß sie mit diesem Eingang in das Nichts nichts mehr wäre, ihre Identität verlieren würde: Nein, nein. Ich will ja nichts. Wer wär ich denn. Nur reden möcht ich dich hören, mein seeliges Paar! Oh, redet, ihr meine unzertrennlichen Stimmen ...! (GK 137)
So muß Lotte, um ihr "Ich" zu halten, sich im einzig von der bundesrepublikanischen Gegenwartsgesellschaft angebotenen Sinnsystem der Ökonomie als Konsument, der zugestandenen legitimen Rolle, als Individuum beweisen, denn ohne "Besuch der Märkte", also Einkäufe, braucht "man Marrakesch nicht zu sehen." (GK 138) Die ganze Richtung der marktwirtschaftlichen Gesellschaft, der Omnibus (von "voiture omnibus", dem "Wagen für alle"), die Entwicklung der Gesellschaft, verträgt Lotte nicht. Und das in einer Situation, in der sich jeder in der 86
Nichtwahmehmung einer allgemein akzeptierten, über die Ökonomie hinausgehenden Metaphysik nur noch über die Differenz zum anderen definieren kann: "[...] wo wir uns sowieso schon spinnefeind sind, jeder gegen alle." (GK 138) Plötzlich meint sie, vom Begehren, von "Frieder", von der Sehnsucht nach Ganzheit getrieben, diesen zu hören: "Da! Frieder ... ! Sie springt auf; lacht freudig; versucht zu verstehen." (GK 138) Dabei geht sie weg vom Treiben der Stimmen, sie wendet sich vom Text ab. Lotte hört eine Erscheinung: Ja! ... Ja! Für chte Für chte chte chte (GK 138)
Der Beginn der Anrede erinnert an die Anrede, die im Neuen Testament der Engel an auserwählte Menschen richtet, so in Lukas 1,14, 1,31 und Lukas 2,11. Die Erscheinung verkündet das Verschwinden des Menschen von der Erde: Die Erde wird unbemannt sein und aufblllhn. Die gefesselte Hoffnung, befreit von jeglichen Propheten, wird erlöst sein und in der Stille reichlich wirken. Frachtlos wiegt sich sich das Meer, unbetreten wandert das Land und spielt an hohen Blumen die Luft. (GK 139)
Diese Erscheinung aber verkündigt eben keinen Propheten, keine Schrift, keine Regel und keinen Menschen. Sie ist das Gegenteil der Verkündigungen im Neuen Testament. Denn diese verkündigen eine Heilsbotschaft durch die Schrift und die Propheten. Jedoch wird in der Neuzeit aus dieser Heilsbotschaft das Säkularisat der Aufklärung, das teilweise von den Menschen in Unheil umgewandelt wird. So kann im Zeitalter der Selbstvergöttlichung des Menschen, der ins Zentrum den Text, die Fiktion des Menschen stellenden Moderne, die spätestens im 20. Jahrhundert das Schreckliche als Folge nicht mehr übersehen kann, die Hoffnung, die bei Augustinus noch die Heilsbotschaft ist, nur noch im Eingehen des Menschen in das Weiße des Textes, in dem Verschwinden des Menschen im unendlichen Text bestehen. Der Moment der Erscheinung läßt das Spiel stillstehen: Die Männer stehen still! Die Männer gehen nicht mehr! Gütiger Himmel, was habe ich gesagt? Sie stehen still - ! Ich höre: sie stehen, sie schlucken! Sie hören! Sie horchen mich ... Lieber Gott, mach sie wieder gehen ... sie horchen mich! (GK 139)
Das Treiben der Signifikanten, die glatte, versiegelte Oberfläche des Textes, kann nur aufgebrochen werden durch das andere der Vernunft, die Angst und die Lust: Nichtfrieder: 'Mir war, als hätte jemand im Haus geschrien.' Frieder: 'Auch ich glaube, daß es geschrien hat. Doch gegenwärtig schreit es nicht. Entweder die Noth ist überstanden - 1 Nichtfrieder: 'oder die Freude' - Frieder: 'oder es kommt zu erneutem Geschrei' ... (GK 139)
Dann gehen sie wieder und Lotte führt ihre Erscheinung auf ihre undifferenzierte Haltung zum Text zurück, auf ihre "Dummheit". Schuld sei, daß sie "ganz ohne Wortwechsel, manchmal tagelang ohne ein Visavis" ihren "Urlaub", ihr Begehren, ihre Liebe ("Urlaub" ist etymologisch mit "Liebe" verwandt) verlebt. Ohne anderen wird das "Ich" instabil, darüber muß man vernünftig nachdenken, "sich bloß einmal klar werden darüber, dann geht es schon wieder." (GK 140) Das Hören auf die Stimmen, auf die Bewegung des Textes, motiviert Lotte dazu, das Seiende gegenüber dem Hören des Seins in den Hintergrund zu drücken. Der sie einengende Text, das Heideggersche Man als verstellendes Klimbim wird zurückgelassen, das Hotel
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verlassen und den Stimmen im Traum, dem sich bewegenden Text, dem Unbewußten gefolgt.
2.1.3. Mythensplitter im Text Mit ihrer Suche nach dem Ursprünglichen verändert sich auch der Beruf Lottes: "Lotte: [...] Grafikerin bin ich. Aber selbständig. Früher war ich Krankengymnastin [...]. Aber im Bürgerhospital und damals Angestellte." ( GK 147) Sie unterstützte das Heideggersche Ge-Stell, das "Wesen der Technik", 16 wurde an-gestellt wie eine Maschine, arbeitete an einem philosophischen Projekt - "gymnäsion": Kolloquiumsort der Philosophen - , der Definition von Körpern mit Hilfe von Taxonomien, an der "Ordnung der Dinge" (Foucault). Im Mittelpunkt stand die Descartessche Leib-Seele-Trennung und die Befragung und das Kartieren der materiellen Welt aus dem Bewußtsein, das Zentrum war der Mensch. Dann wechselte Lotte von der Philosophie zur Kunst der Graphik - von "gräphein": "ritzen", "einritzen", "schreiben" - , der Text, das Geschriebene verliert sein Zentrum, es wird mit Wörtern nur anskizziert. Lotte "lehnt [nun] von der Straße her im offenen Fenster" (GK 146), die "schöne Frau" erfährt von Lotte den Zuspruch von außen, vom sich bewegenden Text, in ihr starres Bewußtsein: "Sehr liebens-würdig von ihnen heute morgen. Ich fühl mich wieder wohl. Ein guter Zuspruch aus offenem Fenster tut ja besser als Gymnastik." (GK 151) Die Gymnastik, das Ordnen hat Lotte aufgegeben, nun treibt sie im Text und will diesem seine verlorene Eindeutigkeit und Ganzheit wiedergeben. Dazu will sie "Dolmetscherin" (GK 251), also Übersetzerin der verschiedenen trennenden Texte werden, ein in der Vielheit der Postmoderne notwendiger Beruf, eine Berufung. Der Rückgriff auf die einstmals einigenden Texte scheitert jedoch. Denn diese Texte kursieren nur noch als versprengte Mythen im medialen Text. Lottes Mann "ist der Publizist Paul Liga. [...] Schreibt auch unter dem Namen Smoky. Kein Begriff?". "Liga" ist das Bündnis, es symbolisiert den Bund der Menschen mit dem ganz anderen und untereinander. Dieser Bund ist das Anliegen Paulus', von dem die ersten Zeugnisse des Christentums stammen. "Smoky" symbolisiert den säkularisierten Text des Heiligen Geistes, das Undeutliche, das die oberflächliche und selbstbezügliche wahrgenommene Ordnung im 20. Jahrhundert nur noch peripher stört. Die Suche nach den ehemals heiligen Texten führt nur zu den Texten des Tages, den Zeitungen: "Ich such nur nach den Zeitungen. Ob was drin steht von Paul. Nur Papier. Trockenes ..." (GK 253) Paulus ist in der säkularisierten Gegenwart Journalist, die einstmals religiöses Empfinden ausdrückenden Texte sind nur noch trockener, verhärteter Text. Der früher als Verweis auf das Sein angenommene mythische Text ist zum Text des Seienden geworden. Nur in der Erinnerung kann sich die Sehnsucht nach dem Absoluten im Text behaupten. Der Typus ist nur noch als Säkularisat wahrzunehmen. Da sich das Individuum in der Moderne als Souverän bezeichnet, weil der moderne Text es ihm so vorschreibt, hat Lotte wenig Erfolg, wenn sie den anderen ihre Abhängigkeit vom Text vorhält, der eine Erinnerung birgt. Als Lotte behaup15
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Martin Heidegger: Das Ge-Stell, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 79, Bremer und Freiburger Vorträge, Frankfurt 1994, S. 24-45, hier S. 40.
tet, die "schöne Frau" und ihren Text, ihre Kleidung schon einmal gesehen zu haben, kann diese sich als Individuum nicht daran erinnern. Dennoch hat Lotte die schöne Frau gesehen, denn sie ist als Schönheit uralter Text, ein Typus, der in j e d e r Zeit derselbe ist, ob die Frau nun beim "Tennisländerkampf' (GK 148) zuschaut, oder "wie einst die wunderschöne Frau [ist], um die die Ritter in Turnieren kämpften." (GK 149) Im Mittelpunkt des Mittelalters stand felsenfest das Bild der wunderschönen Frau. Denn sie war damals dem Mann der erste Schritt zu Gott. [...] Nur: niemand will mehr zu Gott. Wer will noch über die schöne Frau hinaus? Sie ist dem Manne zum Selbstzweck geworden. (GK 149f.) Der andere fungiert nur noch als Spiegelbild für den isolierten Narziß des isolierten "Ichs". Den Typus, den Mythos zu benutzen, um über ihn das Sein zu hören, die Immanenz zu überschreiten, das k ä m e einem modernen, aufgeklärten Individuum nicht in den Sinn: Ach, wenn ich die Augen ein bißchen blinzeln lasse, da sind sie fern und ein Idol ... Gut für die Erinnerung, danke sag ich. Wie geschaffen für die Erinnerung. [...] Was ihnen fehlt, sind Tausende, die Sie beneiden. Was ihnen fehlt, sind Laufsteg, Galadiner und Tete-ä-tetes auf höchster Ebene! (GK 151) Während draußen die "Passanten" (GK 153) treiben, versucht Lotte, den anderen zu erreichen: "Man ist sich fremd, man windet sich, man redet leicht drauflos. Glaub mir doch, ich möcht dich kennenlernen." (GK 152) Die Bemühungen schlagen fehl, die "schöne Frau" lehnt Lotte als zu fremden, nicht anschlußfähigen Text ab: "[...] ich bin eine Familie. Ich suche keinen Anschluß bei fremden Leuten." (GK 153) In ihrem Bewußtsein steht der Text still, das Unbewußte, die alte Bestimmung wird nicht zugelassen, die gesellschaftliche Pflicht ruft.
2.1.4. Das Zimmer des Vereinzelten als geordnetes Bewußtsein im ungeordneten Text "Zehn Zimmer" symbolisieren das Zusammen- oder besser Nebeneinanderherleben von 10 Individuen. Jedes Zimmer ist als verhärteter Fixpunkt im sich bewegenden Text zu verstehen, als scheinbar stabiles "Ich". Lotte läßt sich treiben und trifft die anderen j e w e i l s in deren "Eigentext". Ihre Distanzlosigkeit, ihr als unverschämt aufgefaßtes Eindringen in das Bewußtsein der Vereinzelten wird kritisiert: Gitarrenspieler: 'Du, ich wollte dir nur sagen, ich glaube, du machst hier manchmal noch so'n paar typische Fehler. [...] Offenbar meinst du, es muß immer jemand für dich da sein, wenn es dir gerade mal nicht so besonders gut geht, wenn du nicht schlafen kannst oder so. [...] Andererseits bist du selbst ungeheuer schnell auf dem Dreh und kümmerst dich vielleicht ein bißchen zuviel um die anderen. [...] Also zum Beispiel das Zelt im ersten Stock. Da hast du bestimmt einen Fehler gemacht. [...] Weißt du, das Zelt, da kümmert sich jeder von uns drum. Ich meine, es ist wahrscheinlich nicht gut, wenn du mehr tust als die anderen. Du solltest wahrscheinlich nicht öfter hingehen als die anderen. [...] Im Prinzip kommt hier jedes Zimmer alleine zurecht. Das ist so'ne Art stillschweigende Hausordnung. (GK 174f.)
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Die Ordnung des Hauses, der erkalteten Sprache in der Gesellschaft regelt den Abstand, den der einzelne zum anderen einzuhalten hat. Das "Zelt" als nomadische Territorialität differenziert sich gegenüber dem festen "Haus", den unbeweglichen Zimmern. Unbehaust hat das Mädchen im Zelt in der festgefugten sprachlichen Ordnung eine eigene beweglichere, von den anderen abschließendere sprachliche Ordnung. Sie ist somit von den anderen, obwohl sie in deren Sprache lebt, mehr separiert, als es als normal angesehen wird. Dabei ist sie dem Ursprung des kulturellen Textes, dem christlichen Text in ihrem Kummer und ihrer Beweglichkeit näher - Paulus als erster Verfasser eines christlichen Textes erlernte das Handwerk des Zelttuchwebers und verdiente sich damit auch seinen Unterhalt. Die Beziehungen werden, umso länger sie andauern, zu einem immer größeren Buch: Assistentin: 'Du, Sören, was du tust, das ist halt ein Job! Nur ein Job! Aber ich, ich bin eine ganze Existenz[!]! ... Ich bin der 24-Stunden-Kopf... Ich bin das Buch ... Ich bin unser Ein und Alles ... Ich bin Jürgen und ich!' (GK 172)
Und die Gesellschaft wird mit den sich im Buch verhärtenden Beziehungen zum kritischen, wissenschaftlichen Text: Assistent: Ich glaube, wir stehen erst am Anfang einer langen, gemeinsamen Arbeit, eine lange wissenschaftliche Reise, die sich vielleicht über Jahrzehnte erstreckt. Gegenwärtig, in einer etwas kritischeren Phase - . (GK 170)
Der Text der Heiligen Schrift als Grundlage der Kultur konkurriert mit den Fixationen, den Dias der Gemeinschaft und der Umwandlung des Textes in Alltagstext, der den religiösen Ursprung des Textes vergessen hat: Der Alte: 'Hörst du nicht? Der Herr spricht... Rede ihm doch nicht dauernd dazwischen!' Die Alte: 'Ja, ja. Er spricht. Jedes Jahr fällt es mir schwerer, an ihn zu glauben.' Der Alte: 'Still!' Die Alte: 'Hab sowieso den Faden verloren'. (GK 184)
Auf den Dias, den mit Licht funktionierenden, aufklärenden Projektionen, ist nur der Alltag zu sehen, das ganz andere kann man nur "hören". Dazwischen, plötzlich, doch ein Bild religiösen Inhalts: 20. Foto: Christusgestalt im Vordergrund, Ruckenansicht. Blutende Wunde zwischen den Schulterblattern. Dornenkrone, die segnende Rechte. Mann und Frau kniend, gesenkte Gesichter. Assistentin: 'Wer ist das?' Der Türke: 'Bin ich, bin ich! Habe wir Selbsauslöse gemakt. [...] Habe ich gut gespielt. Also wirklich, sag ma, gut gespielt'. (GK 185)
Die Bilder, die der Mensch sich vom ganz anderen macht, können dem Gegenwartstext nicht entkommen, ohne unverständlich zu werden. Inszeniert werden muß alles, damit es kommuniziert werden kann, auch das ganz andere. Die Alten wissen das, sie haben sich die Dias gemacht, um überhaupt einen Bild vom ganz anderen und vom anderen zu haben: Der Alte: 'Herr, im Grunde von allem, was wir tun, herrscht dein Schlummer...' Die Alte: 'Herr, im Grunde von allem, was wir tun und sagen, herrscht es und wacht es, dein geschlossenes Auge'. (GK 185)
Aber das Absolute kann sich nicht mehr zeigen im Text einer nihilistischen Kultur, ohne als Parodie, als Travestie rezipiert zu werden. Das was wichtig ist, trennt sich
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von dem, was unwichtig ist, durch den Zufall der Ordnung, das nicht wahrgenommene Meta-Physische spielt stellvertretend im säkularisierten Text der Türke als der gesellschaftlich Ausgeschlossene. Und in einer gesellschaftlichen Ordnung, die durch den Kapitalismus bestimmt wird, ist das Zentrum die Ökonomie. Als letztes Zentrum außerhalb der Ökonomie bleibt das Spiel von "Groß" und "Klein". "Groß und klein" ist Strauß' Auseinandersetzung mit der kulturellen Ambivalenz Normal-Unormal, Wichtig-Unwichtig, Richtig-Falsch. Es geht um die Frage, wie vor dem Hintergrund des unendlichen Textes, des unendlichen Buches sich Ordnung bildet, bilden muß, um das "Ich", den anderen und die Beziehungen untereinander zu regeln und gleichzeitig verhindert werden kann, daß diese Ordnung falsch wird und totalitär. Daß diese Ordnung als stabile nicht möglich ist, ist das Paradox jeder notwendigen Systembildung, die die Probleme aber gleichzeitig erzeugt, die sie eigentlich abschaffen will. Und natürlich geht es in "Groß und klein" auch um das Paradox der Liebe, die kommuniziert werden muß und gerade deshalb unmöglich wird. Im Nichts und im Ganzen, die im Grenzfall zusammentreffen und in dem alle gleich sind, sich also nicht mehr groß von klein scheidet, könnte Lotte ohne Differenz dem arideren direkt begegnen, eine Unterdrückung ist nicht mehr möglich. Aber die Menschen brauchen einen Halt, vor dem Chaos, der Gleich-Gültigkeit haben sie Angst und eine politische Ordnung ist darin nicht möglich. So muß Lotte scheitern in dem Moment, in dem sie den trennenden Text unterlaufen will. Dieses Paradox ist nicht auflösbar. Auf ihrem Weg als Reisender durch den Text gerät Lotte mit zunehmender Ortlosigkeit und mit zunehmendem Identitätsschwund in den Bereich der Angst: "Die Grenzen haben sich verschoben und ich sitze hier längst in einem anderen Land. Entschuldige meine zeitweise Angst. Im Grunde bin ich stark und es wird mir schon einfallen, wie ich wieder etwas glücklicher werde." (GK 212) Heidegger hat diese Angst als Konstituens der Erkenntnis bezeichnet und damit einhergehend die Zunahme der Fragen als "Frömmigkeit des Geistes". Für Lotte ist der andere nur noch im Fragen und im Suchen erahnbar: "Lieber Paul, ich werde dich immer suchen. (Ich meine: bildlich gesprochen - keine Angst!) Gott ist einfach. Gott verwandelt sich nicht und betrügt niemanden." (GK 212)
2.1.5. Das Weiße im Buch der Welt als geheimes Zentrum Für Jorge Luis Borges ist die Welt eine unendliches Buch: Dieses Buch hat [...] eine unendliche Zahl von Seiten. Keine ist die erste, keine die letzte. Ich habe keine Ahnung, warum es so willkürlich paginiert ist. Vielleicht um zu verstehen zu geben, daß jeder Term einer unendlichen Serie eine beliebige Zahl tragen kann. [...] Wenn der Raum unendlich ist, befinden wir uns an einem beliebigen Punkt des Raumes. Wenn die Zeit unendlich ist, befinden wir uns an einem beliebigen Punkt der Zeit. 17
Lotte ortet sich selbst in der Ortlosigkeit des unendlichen Textes, die Ordnung und Unordnung zugleich ist:
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Borges: Spiegel und Maske, a.a.O., S. 184.
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Norden Süden Osten Westen Hülle Fülle [...] Buch oder Meer - ich wüßte nicht, wo sie sonst noch stecken könnte. Die Windrose und die Rose der Windesstille noch dazu: mehr gibt es ja nicht. Das ist das ganze Daseinsrund. Oder Oval. (GK 229 f.)
Die Relativität von Raum und Zeit, die Koordinatenlosigkeit des unendlichen Buches, die so verrückt macht, daß der Käufer des "Sandbuches" bei Borges das unendliche Buch in der fast unendlichen Nationalbibliothek verschwinden läßt, erzeugt bei Edmond Jab£s ein Zusammendenken des Nichts mit dem Ganzen. Und dies wäre der Ursprung, an dem sich alles klärt, dies wäre der Text, der auf das ganz andere verweist. Lotte erkennt darin Gott: "Gott ist einfach, ist wahr in Tat und Wort. Er verwandelt sich nicht und betrügt niemanden." (GK 250) Da der Mensch aber immer sich selbst definieren muß im unendlichen Text, er also eine Koordinate darin ist, kann er nicht den ganzen Text in sich aufnehmen. Ganz im Gegenteil befindet er sich in der Erkenntnis des Textes als Wüste in der vollkommenen Einsamkeit und Orientierungslosigkeit: W o h i n ? Jeder Schritt kann der falsche sein. Wohin in dieses Überall? Äußerst frei, äußerst frei. Gründlich. Gesetzt, ich ginge Paul zu suchen. Gesetzt, ich wüßte, wo beginnen ... Nein. So gedacht, komme ich nicht hoch. So gedacht, kommt keine Sterbliche vom Sitzen ins Gehen. (GK 231)
Denn im unendlichen Buch ist es egal, wohin die Reise geht, die Richtungen und Wichtigkeiten, die ein Ziel erst definieren, lösen sich auf. "Vorsicht, Mißliebchen, Vorsicht! Gedacht ist gedacht. Sowas läßt sich nicht schwärzen wie eine verbotene Zeile im Buch. Solange aber ich es bin, die denkt, kann es nur falsch sein." (GK 231) Das "Ich" ist im unendlichen Text nicht mehr existent. Hier entsteht eine paradoxe Situation für Lotte, denn sie kann nur denken, wenn sie sich selbst definiert. Dem ganz anderen nahe zu kommen, der Heilsbotschaft Paulus' zu glauben und auf die baldige Wiederkunft Christi zu hoffen, wäre eine Haltung der Passivität angemessen, eine des Schweigens und Hörens: "Oder mit Pauls Worten: Bleibe still hier sitzen, rede niemals vor dich hin. Wir alle kommen bald zurück. Gut, gut. So sag ich denn zu allem, was ich denke, nein!" (GK 231) Die Erinnerung ist ein Museum, das Lotte früher Halt gab: "Früher, wenn ich einmal so gar nicht vergessen konnte, war mir Emilie eine gute Stütze. Emilie ging vor Karl, Karl ging vor Dorothee. Dorothee ging vor Johann. Zuletzt aber ging Paul. Dich liebe ich. Dich liebe ich!" (GK 231) Aber die Liebe ist unmöglich in der Differenz, die der Text erzeugt. Und so bleibt eine die Masken ablegende und das Direkte suchende, eine fragende Lotte immer allein im haltlosen Text: "Natürlich kommt keiner zurück. Redensart. Bis heute nicht. Nicht einer." (GK 232) Denn so, wie sie ihn im ersten Moment gesehen hat, so bleibt er nicht, alles verschwindet wieder im Text: "Gehen ist Gehen und Gehen. Die Dinge lösen sich. Soviel weiß die Forschung. Oder, bitte, das Gästebuch." (GK 232) Die Erinnerung als das "Gästebuch" weiß, daß alles im Fragen als gültiges anderes nur kurz stabil ist. Diese Überlegung radikalisiert fuhrt zu einer leeren Erinnerung, einer Sicht auf das Buch als leeres: Buch verliert Schrift! Oder der Mund. Mund verliert Rouge. Die Dinge lösen sich. Die Dinge, die zusammenpassen, haben sich satt und fliegen auseinander. [...] Wir fallen nicht, wie oft geträumt, wir fliegen aufwärts auseinander. So gesehen, bekommen die Dinge jetzt erst ihr eigentliches Gewicht. All und Überall, aufwärts auseinander! Weshalb sich gegen die allgemeine Entwicklung stemmen? (GK 232f.)
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Mit dem individuellen Ordnungsverlust im Bewußtsein Lottes korrespondiert ein Ordnungsverlust in der nachmodernen Gesellschaft. Maurice Blanchots "unendliches Zwiegespräch" reflektiert den Verlust der Hoffnung auf den konsensstiftenden Dialog der Figuren im Text, analog dem Denken von Heidegger und Levinas soll anstelle der abschließenden Klärung ein Fragen im Vordergrund stehen, das, somatische Ansprüche auf Wahrheitsfindung unterlaufend, das Uneindeutige erhält, das auf das ganz andere verweist. Die Erkenntnis Lottes, daß sie entweder das ganze Buch oder nichts ist, sie sich daher zwischen Sein und Nichts befindet, erzeugt das Wissen um ihre Situation als Nichtbeteiligung/Beteiligung einer paradox gleichzeitig Sprechenden und gesprochen Werdenden in einer Text-Form, die allein auf sich selbst verweist und in ihrer eigenen Materialität leerläuft. Aus dieser Blanchotschen "Wunde des Denkens" hervorgegangen ist die Nacht. Diese Wunde befindet sich dort, wo nicht hingesehen werden kann, dort, wo die Theorie nichts aussagt, dort wo die Theorie, der Begriff versagt. Denn "Ich" ist immer ein anderer, so daß die Theorie immer zu spät kommt. Gott, "Ich" und der andere können nicht theoretisch erfaßt werden, die "Wunde des Denkens" des Denkens kann darauf nur indirekt verweisen. Im absoluten Buch und damit im Versuch, "Ich" und Welt zu definieren, fehlt die Meta-Ebene, dies ist ein indirekter Hinweis auf das ganz andere. Jedes Wort ist ein Statthalter fur das Abwesende und verweist auf das Außerhalb. Lotte "kratzt sich am Rücken, sieht auf eine blutbefleckte Hand. 'Blut! ... Was blute ich am Rücken? Am Rücken war doch nichts ... " (GK 235) Eben weil dort nichts war, dort der "blinde Fleck", das Weiße zwischen den Buchstaben sich befindet, ist dort die Wirklichkeit, das Zentrum. Es ist immer da, wo der Begriff gerade nicht ist. Über diese Anwesenheit der Abwesenheit schreibt Peter Sloterdijk: [...] was wesentliches Unbewußtes ist, hat die Eigenschaft, sich selbst nicht verraten zu können. Sein Selbstverrat gehört zu seiner Wirklichkeit ebenso wie das Schimmern der Tinte zur schriftunterlaufenen Haut. Es schreit sich immer selbst hinaus, doch können die Tätowierten ihre Schriftbilder und Brandzeichen unmöglich selber lesen. Die Inschriften stehen regelmäßig an den entzogenen Stellen, an die kein eigenes Hinsehen und Hinfühlen reicht - am blinden Fleck der Seele, an den unzugänglichen Rändern, auf den Kehrseiten und Rückenflächen des dunklen Körpers, der ich bin. Was das Leben am härtesten in uns einprägen und zugleich vor uns verstecken wollte, das schrieb es den Individuen zwischen die Schulterblätter. Dort sind unsere unbewußten Missionen eingestochen. Auch wer wie Siegfried in Drachenblut gebadet und sich vermeintlich unverwundbar gemacht hat, trägt dort eine offene Stelle, sein selbstverräterisches Lindenblatt, herzförmig und ichfern, und ohne Zweifel gibt es dafür irgendwo einen mörderischen Beobachter, dem der geheime Fleck wie eine Zielscheibe vor Augen steht. Aber daß diese Scheibe auch eine schwarze Tafel sein könnte, auf der die absoluten Inschriften stehen - war das nicht Antonin Artauds Vision, als er sich in luzider Zerrüttung[siehe Lotte als Ver-Lottete] an einer Pariser Bushaltestelle , mit einem Bleistift in der Hand, in vergeblichen Versuchen wand, seinen eigenen Rücken auf Höhe der Schultern zu beschriften. 18
Der Versuch Lottes, auf den Rücken zu sehen, läßt sie in das Buch blicken, der Körper, der Text des "Ich" und des anderen ist das unendliche Buch. Diese "Drehung" in "Groß und klein" zeigt, daß für Strauß der Körper nur peripher Materie ist, eigentlich ist er Text, so wie die Welt Text ist: "Sie versucht auf ihren Rücken 18
Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen, zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt 1988, S. 26.
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zu sehen, dreht sich um, hockt vor d e m B u c h . A u f der rechten Seite rinnt aus e i n e m s c h m a l e n S c h l i t z Blut herunter. Sie liest, als entziffere sie eine eben entstehende Schrift". D i e s e Schrift aus d e m Zwischenraum ist die B o t s c h a f t d e s g a n z anderen, die eben hier nicht mehr eine codierte B o t s c h a f t ist. Der Freiraum als das g e h e i m e Zentrum der Wörter beschreibt E d m o n d Jabös: Was nun jene Spiele der Leidenschaft betrifft, welche durch die Wörter ermöglicht werden, so sollte man meine Aussage in ihren Kontext zurückversetzen. Unter 'leidenschaftlichen Spielen' verstand ich keineswegs die Zufälligkeit, auf die ein solcher Ausdruck schließen ließe, vielmehr den Raum, die Wunde[!], aus der die Worte zu uns sprechen; den Freiraum zwischen ihnen, der sie erst eigentlich lesbar macht. Ohne einen solchen Raum gibt es kein Spiel und kann es keinen Zugang zur Lektüre geben. Dieser Raum, dieser weiße Zwischenbereich hält indes die Wörter nicht fern voneinander, im Gegenteil er vereinigt sie. Wie die Lebewesen, so leiden auch die Vokabeln an diesem Bruch, doch einzig durch ihn gewinnen sie Sinn und kommen zum Ausdruck. Und? Und also sind vielleicht jene 'leidenschaftlichen Spiele' nichts anderes als der Rausch der Annäherung an eine unfaßbare Wirklichkeit und zugleich die brutale Verwerfung dieser Wirklichkeit; gescheiterte Versuche, das Undenkbare festzuhalten, die Einheit wiederzufinden; gleichzeitiges Festschreiben von Hoffnung und Scheitern. Keinerlei Zufälligkeit also in jenem Drang der Wörter zu den Wörtern wie auch in ihrer Verweigerung; keinerlei Zufälligkeit in jenen 'leidenschaftlichen Spielen', welche im Grunde den Wunsch der Wörter nach Dasein zu erkennen geben, ihren Wunsch, als Wörter vorhanden zu sein; ihre Aussicht, nicht umsonst verschwinden zu müssen." Jabös, der auch v o m Surrealismus angeregt wurde, der sich aber v o n den S y m b o l e n des U n b e w u ß t e n immer mehr der Frage als letztes Zentrum zuwendet, d e s s e n T e x t e Propagandisten neostrukturalistischer P h i l o s o p h i e anziehen, befindet sich in der Überlieferung der Kabbala. D i e A u s l i e f e r u n g an das "Eine Buch" bedeutet für Jab6s, allen B ü c h e r in sich zu begegnen. D i e Unbestimmtheit d e s Ortes d e s Schriftstellers Jabes im B u c h deutet auf die ungeklärten Koordinaten des Juden Jabes im definierten Erdkreis. In "Groß und klein" steht Lotte nun ebenfalls v ö l l i g bind u n g s l o s vor d e m unendlichen Buch, o h n e den T e x t d e s anderen, der das e i g e n e Zimmer, das e i g e n e B e w u ß t s e i n konstituiert, verliert sie den Halt: Paul blieb nicht. Das Zimmer blieb nicht. [...] Ja, hier im Buch blieb nicht einmal die Schrift der Gäste. Die Schrift blieb nicht. Ich sitze gründlich äußerst im Freien! So weiß wie das Buch darf ich aber nicht werden. Ich aber nicht! Wenn erst die blinden Seiten weiter um sich greifen - dann aber gottbefohlen, mein Mißliebchen. (GK 230) Lotte wehrt sich g e g e n die Erscheinung und die Kraft d e s A b w e s e n d e n , sie "schlägt mit d e m B u c h auf den Stuhl, zertrümmert ihn und fällt dabei selbst zu B o d e n . S i e stellt das B a u c h aufrecht, so daß sie es g e g e n die Trümmer d e s Stuhls abschirmt. Sie hockt mit d e m R ü c k e n im Bund des a u f g e s c h l a g e n e n Buchs." (GK 2 3 4 f . ) Jeder Versuch in ihrer Erkenntnis der Leere als das Zentrum diese Leere als Sog, der alle Wörter entstehen läßt und zugleich als Schein entlarvt, zu neutralisieren, das L o c h , das die W e l t erschafft und zerstört, zu stopfen, schlägt fehl: Sie schlägt das Buch zu. Am Schnitt läuft weiterhin Blut aus. Sie reißt Fetzen von ihrer Kleidung, versucht das Buch zu säubern. 'Er kriegt mich klein ... ! Ich sehe es kommen, er kriegt mich noch klein. Oh wie habe ich nicht aufgepaßt! Erst alle fortschicken und dann auf mich losgehen ... Erst alle fortschicken und dann an mir sein Wirkwerk langsam beginnen . . . ' Sie putzt und umarmt das Buch. 'Oh nein ... Oh nein'. (GK 235)
"
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Jabfes: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 30f.
Ohne die Stabilisierung des "Ich" im anderen verliert Lotte den Halt im Text, den sie gegen die Schrecken des Unbewußten, die Lust und den Ekel, aufrecht zu erhalten sucht. Die Prophezeiung aus "Marokko" ist wahr geworden. Lotte befindet sich in einer Welt ohne Masken und Ordnung, das unterdrückte Unbewußte, das vom Text der Aufklärung Verdrängte erscheint zwischen den nicht vorhandenen Zeilen des leeren Buches, das zugleich das ganze Buch ist. Wenn sich das Nichts mit dem Ganzen trifft, dann lösen sich alle Grenzen auf, Liebe, Glaube und Hoffnung werden wieder möglich, aber nicht mitteilbar und in der Immanenz einer Diskursordnung nur als verfremdender Durchbruch aus einer anderen Welt sichtbar. Dieser Durchbruch, der das Heil im Diesseits jedoch unkenntlich macht und teilweise als Unheil wirkt, wird dann in Strauß' nächsten Stücken als Kalldewey und als Götter im Park evident.
2.1.6. Glaube, Liebe und Hoffnung - die christliche Erfahrung als säkularisierter Text in der Gegenwart In den nächsten Stationen versucht Lotte, mit dieser Erfahrung der Leere als Zentrum eine Haltung zum diskursiven Leben zu entwickeln und mit den anderen klar zu kommen. Dies muß natürlich mißlingen, denn der Kontakt mit den anderen, der zwangsläufig über die Sprache verläuft, ist in dem Paradox gefangen, daß der Glaube, die Liebe und die Hoffnung eben als Text sich selbst ausschließen.
Glaube Lotte will dem regel- und mediengeleiteten anderen das unaussprechliche Geheimnis verkünden, wird aber als "eklig" zurückgewiesen. Sie sucht einen mitteilbaren Text, der jedoch, da er aus dem Bereich des Ausgeschlossenen kommt, verfremdet wird und eklig erscheint. Und eklig erscheint mit dem Text diejenige, die ihn verkündet. Lotte sagt als "ekliger Engel" zum anderen: "Fürchte dich nicht!" (GK 249) In der Begegnung mit Lotte fürchtet sich der andere, sich nicht "fest in der Hand" (GK 254) zu haben, sein "Ich" nicht fest im Be-Griff zu haben. Das andere kann sich nur noch an den Stellen befinden, wo in der alltäglichen Ordnung das Zentrum gerade nicht vermutet wird. Lotte "wühlt" daher "im Abfall" (GK 253) nach alten Schriften von Paul, nach alten Texten von Paulus, die eine Erfahrung des ganz anderen bezeugen könnten. Dieses anormale Treiben, dieser Aufenthalt in einem ausgeschlossenen Text, beobachtet ein "Datentechniker", der beim "Rundfunk" (GK 251) beschäftigt ist und dort für die Bereithaltung von "zigtausend Informationen laufend auf der Bank" (GK 251) mitzuständig ist. Und dieser bewertet erwartungsgemäß das absonderliche Treiben Lottes als eklig. Der dem Schriftsteller entgegengesetzte und als Kopist gleichgesetzte Datentechniker ist nicht einmal Atheist, (GK 251) glaubt aber an das, was ein Meinungsführer im Fernsehen, in der Werbung erzählt. (GK 252) Die Begegnung zwischen dem Text, der das geheime Zentrum darstellt, und dem Text, der sich im Zentrum der Kommunikation befin-
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det, verläuft unerfreulich, ein Verstehen findet nicht statt, kann gar nicht stattfinden.
Liebe Die Liebe ist entweder Kommunikation oder sie ist keine Liebe, so denkt Alf, der andere, von Lotte. Er nimmt an, daß Lotte eigentlich weg von ihm will, da sie den trennenden Text andauernd unterläuft, um an ihn heranzukommen. Und gerade dieses Unterlaufen des Textes trennt beide erst recht. Im "Diktat" (GK 237ff.) geht es um das Diktieren von Text von einem auf den anderen und der Verweigerung dieses Übergriffs. Lotte übernimmt entweder alles, was der andere, was Alf sagt. Oder sie schreibt etwas völlig eigenes. Entweder sie übernimmt den anderen völlig, oder sie nimmt dessen Stelle völlig ein. Das völlige Einlassen des einen in den Text des anderen und damit das Verschwinden des trennenden Textes wäre aus der Sicht von Lotte die Bedingung wahrer Liebe. Alf mißversteht Lotte völlig: "Für mein Gefühl bist du, vom ganzen Typ her, eher freier Zugvogel, der jetzt schon wieder neue Horizonte sucht ... Ich müßte umdenken, wenn es anders wäre." (GK 246) Und das Umdenken findet nicht statt. Die Störung der Ordnung des Textes, meist wahrgenommen als Fluchtbewegung, ist für Lotte ein Versuch näherzukommen und macht Alf zugleich Angst, denn ein sich bewegender Text im eigenen Bewußtsein unterminiert die Sicherheiten des eigenen "Ichs": "Diese Bekannte von mir, wie gesagt. Kenne sie kaum, erst zwei Wochen. Man trifft sich bei Waltherchen, man lacht sich zu, die kommt mit zu einem nach Hause und zu Hause setzt sie sich fest. Geht nicht wieder. Belastung. Was soll werden. Angst." (GK 242) Die Angst, für Heidegger erst die Bedingung der Erkenntnis des Seins, wäre auch eine Bedingung für die wahre Liebe. Doch Alf als der andere "diktiert" Lotte andauern etwas, will sie unter den Be-Griff bekommen, die Text-Mauer zwischen beiden erhalten, um sich nicht im unendlichen Text zu verlieren. Auch an dieser Station entkommt Lotte nicht dem Paradox. Denn um die Hierarchie, das Trennende zu umgehen, kann sie dem Text nicht ausweichen, da "sagen" immer "diktieren" und damit differenzieren mit sich bringt. Da Kommunikation stattfinden muß, kann das Trennende und die Hierarchie zwischen An-gestell-ten (siehe Heideggers Ge-Stell) nur dann zum Verschwinden gebracht werden, wenn Lotte entweder alles von Alf annimmt, ohne zu be-deuten, oder wenn Alf alles von Lotte annimmt, ohne zu bedeuten. Doch die Kommunikation funktioniert überhaupt nicht ohne immanente Ordnung. Somit scheitert Lottes Versuch, der Immanenz zu entfliehen und dem anderen wirklich nahezukommen.
Hoffnung Die christliche Hoffnung, säkularisiert in Hegels "Ende der Geschichte" und Blochs "Prinzip Hoffnung" verkehrt sich am Ende zur Diskursordnung in der "Gesellschaft". (GK 257ff.) Beim Arzt, dessen Ort auf Foucaults "Geburt der Klinik" verweist, beim Internisten als den Facharzt für Inneres(!) wird nur die innere Mate-
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rie behandelt. Dort regieren allein die Medien, der "Lautsprecher". (GK 259) Im "Sprechzimmer", im Raum des Diskurses warten die Individuen auf die institutionalisierte Heilung, sie erwarten nicht mehr das Heil. Der Arzt betritt das Zimmer und "wirft die neueste Ausgabe des 'Spiegel' auf den Lesetisch", (GK 260) jeder orientiert sich als Narziß am Spiegelbild, das die Medien liefern. Der Mann Lottes, Paul Liga, bekam eine "hohe A u s z e i c h n u n g " , (GK 259) die christliche Erfahrung, die sich in den Texten Paulus' zeigt, wird im "Aus", im Außen, als oberflächliches Zeichen, als Signifikant, gehandelt. Die Heiligen Drei Könige Kaspar, Melchior und Balthasar besuchen nicht mehr Christus an seinem Geburtsort, sondern "Frau Doktor Melchior" (GK 259) konsultiert den Arzt. Vor dem Heiligen Geist wird an "den Wänden [mit] schockierenden Antiraucher-Plakate[n]" (GK 259) gewarnt. Lotte, die keine Funktion ausfüllt, die "hier nur so" (GK 260) ist, der als "Wissende" ja eigentlich nichts "fehlt", (GK 260) geht in der Diskursordnung als Fremdkörper im Weg um.
2.2. Kalldewey,
Farce Vergessen wir nicht, daß die griechische Tragödie in Athen eine kultische Handlung war, sich also nicht so sehr auf dem Theater wie im Geist des Zuschauers abspielte. (Ortega y Gasset)
2.2.1. Die Dramaturgie der begründeten Grundlosigkeit: Der Mythos ist eine Reflexion ist ein Mythos ist eine Reflexion etc. Das antike griechischen Theater verleugnet durchaus nicht seinen sakralen Ursprung und sein sakrales Fundament, ist jedoch in seiner Diskussion des Mythos und seiner Sympathie für den Logos auch ein Ort der Transition von einem die Gemeinschaft konstituierenden Ritus zu einem Ort der Reflexion und der Beobachtung der Gesellschaft. So ist für Strauß das Theater auch heute noch der exklusive Ort, an dem der Mythos als Mythensplitter und die Beobachtung der Gesellschaft als Reflexion zusammenwirken. Wenn die moderne Gesellschaft auf der Bühne eine lineare Entwicklung verfolgt, dann spiegelt sie im Rahmen der Bühne ihren eigenen Glauben an lineare Entwicklungen, an eine lineare Zeit, an einen festen Raum und an eine kausal determinierte Handlung. Mit den nun auch von Strauß konstatierten Fragmentarisierungen und der Entlarvung des Linearen als Konstruktion, deren Legitimität nicht gesichert ist, stellt sich die Frage, was die Gesellschaft und deren Geschichte zusammenhält. Wenn der Blick auf das Eigene nur Trümmer zeigt, dann könnte der Blick des Ethnologen auf das Fremde den Blick auf das Eigene wieder soweit erneuern, daß nicht die Konstruktionen der Neuzeit den Blick verstellen, sondern das ursprüngliche Verhalten des Menschen erkennbar wird. Für Strauß zeigen sich mit dem Blick des Ethnologen nicht mehr lineare, bruchlose Entwicklungen, sondern Übergangsriten, wie sie van Gennep beschreibt: dieser schlägt vor,
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Riten, die die Trennung von der alten Welt gewährleisten sollen, als Trennungsriten zu bezeichnen, Riten, die während der Schwellenphase vollzogen werden, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten zu nennen, und für Riten, die an die neue Welt angliedern, die Bezeichnung Angliederungsriten zu gebrauchen. 20
Dieser Übergang ist in "Kalldewey, Farce" nicht mehr als "konventioneller" zu beobachten, sondern wird überlagert von der Ordnung des Diskurses und dem Solo der Signifikanten. Der Übergang wird von den Zeichen vorangetrieben und in seiner Bahn gehalten. Archaisches Verhalten und Erleben findet in "Kalldewey" immer in der Vor-Schrift der Signifikanten statt. Zur Zeit der Gültigkeit des Mythos, zu einer Zeit, in der der Mythos nicht legitimiert zu werden braucht, da der Mythos "ist" und nichts be-deutet, ist der Übergang zeitlich und örtlich umgrenzt. In der Postmoderne, in der ein Zeichen nach Nietzsche und Saussure nicht mehr etwas eindeutiges be-zeichnet, nichts Feststehendes be-deutet, gerät das Individuum in einen dauerhaften Übergangszustand. So ist das Theater in "Kalldewey, Farce" noch als letztgültiger Rahmen zu verstehen, als fixierter Eingang und Ausgang, als notwendige Basis für den Übergang. Aber eigentlich befindet sich der letztgültige Rahmen selber im Zustand des Übergangs. Denn der Rahmen hat sich bereits im unendlichen Regreß, im Paradox aufgelöst. So wird das ganze Unternehmen "Kalldewey, Farce" seinen letzten Fixpunkt einerseits im gezeigten philosophischen Hintergrund finden, der auf Nietzsche, Heidegger, die Neostrukturalisten und die neuere Systemtheorie rekurriert und damit auf Philosophien, die zur Selbstauflösung tendieren. Andererseits im Gefühl des Verlusts der Liebe und der Stabilität des Mythos. Daß dieser Verlust überhaupt noch spürbar ist, ist den Restbeständen des Mythos zu verdanken, die, so Strauß, aüf dem Theater noch am virulentesten sind, dem Theater als "letzte[n] unserer magischen Versuche, die Angst uns auszutreiben." (KDWF 73) Die Dramaturgie in "Kalldewey, Farce" spiegelt damit den Übergang. Im Unterschied zu van Genneps Beobachtung werden die Individuen sich jedoch nach dem Eingang in die Auflösung am Ende nicht in der Stabilität wiederfinden, sondern in einem Zustand "Krise ist immer", im Korridor. Das Theater in seiner Funktion als Instrument des Sehens, als - so die Etymologie - "Verwandtes" der "Theorie", als Institution des Übergangs vom Mythos zur Reflexion, reflektiert seine Fähigkeit, den Verlust augenscheinlich zu machen, den es selbst mit verschuldet hat. Strauß überlagert die Dramaturgie des Mythos, den gewaltsamen Tod einer mythischen Figur, mit deren nachmodernen "Tod" in der Totalität der Signifikantenkette. Während der Mythos noch davon erzählt, was passiert, wird in "Kalldewey, Farce" nur kurz ein Bild, ein Image zerstört. Die Handlung der Tragödie, die Zerreißung der Figur, ereignet sich innerhalb des ersten Aktes als eigene "dreiaktige" Handlung in der Gesamthandlung. Betont wird dies von Strauß durch die Einteilung des ersten Aktes in I, 1 bis I, 3, und durch den nicht weitergeführten und ins Nichts führenden Beginn des zweiten Aktes mit II, 1. Somit wird die Handlung des ersten Aktes, die dort bereits ihr klassisches Ende gefunden hat, konfrontiert mit der Handlung der Akte I bis III, dem Eingehen in die große Show. Während Orpheus in der Tragödie des ersten Aktes noch zerrissen wird, treibt es den Menschen der Nachmoderne in die nietzscheanische ewige Wiederholung. Hier umschließt in 20
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Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt 1986, S. 29.
"Kalldewey, Farce" das unendliche Buch auch den Mythos. Oder anders gesagt: Der Mythos zeigt sich als "Mythensplitter" im unendlichen Buch, wie einem Gespenst wird ihm eine eigene Abgeschlossenheit, eine Grenze nicht erlaubt. Gezeigt wird in "Kalldewey, Farce" die Unabschließbarkeit der Geschichten, der Verlust der "großen Erzählungen" (Lyotard). Denn in der Neuzeit steht hinter jedem Mythos ein anderer Mythos, ein Signifikant ist die Bedingung des anderen, eine Interpretation weist auf die nächste. Und zwischen den Individuen steht der Text, der sie selbst konstituiert. Zu der Zeit vor Sokrates soll, so Heidegger, das Sein auch des anderen noch zu hören gewesen sein. Nun sieht man nur noch Text. Zwar ist das Individuum sterblich, aber dies "sieht" niemand, beobachtet werden kann nur der Text, der für Strauß bereits "tot" ist. So wird die Tragödie zur Farce, denn der Text ist "unsterblich". Der Preis für die Unsterblichkeit im Text ist die Immanenz im "toten" Text, der ewige Durchlauf des "toten" Textes durch das Bewußtsein. "Kalldewey, Farce" zeigt den Mythos des Orpheus, der sich umdreht. Der große Musiker verläßt sich nicht auf sein Hören, sondern muß sehen. Das Theater als Gesehenes auf der Bühne, als Institution aus einer Zeit, in der die Theorie, das Denken des Abendlandes begründet wird, zeigt für Strauß mit dem Mythos des Orpheus den Beginn der "Seinsvergessenheit" (Heidegger). Die Handlung des ursprünglichen Mythos, schriftlich fixiert und auf der Bühne dem Sehen ausgesetzt, reflektiert den Mythos selbst. Orpheus' Blick wird bestraft mit der Trennung von Euridike. Während aber der mythische Orpheus seinen mythischen Tod stirbt, treibt der nachmoderne Orpheus als Text, dem der Mann und die Frau nicht entkommen können, sein Unwesen als "Untoter" auf Dauer. Denn für Strauß wiederholt sich Orpheus' Blick in jedem Blick, den ein Mann auf eine Frau wirft. Und die Strafe, die Zerreißung folgt ebenfalls. So begegnen sich in "Kalldewey, Farce" die Frau und der Mann, aber vom ersten Blick an haben sie sich schon wieder verloren und die Zerreißung beginnt. Dem mythischen Schicksal ist nicht zu entgehen, denn die Bedingung des Blicks ist gleichzeitig seine Erfüllung, der Text war schon immer da, um das zu versprechen, was er nie einhalten wird. Oder: Um in Zukunft das zu sein, was er jetzt schon gewesen ist. Der Text prophezeit und lügt zugleich, denn er ist nicht mehr wie der Mythos die Wahrheit, sondern eine schillernde Oberfläche, hinter dem sich unendliche viele weitere Oberflächen drängen. So treffen und verlieren sich der Mann und die Frau in einem Text, der sie trennt und vereint, der ihre Identität garantiert und verhindert, der des einen Bewußtsein ist und des anderen. Und der Liebe erst definiert und verspricht und dann nicht nur verhindert, sondern als Obszönität und Vorbote des Unheils in der Immanenz erscheinen läßt.
2.2.2.
Auflösung (Eintritt in die Diskursordnung, in das Treiben der Signifikanten)
2.2.2.1. Der erkaltende Blick - Eingang in das Theater und die Theorie Im ersten Akt des ersten Akts, zu Beginn der Handlung in der Handlung entfernt der Blick, das Sehen, die Theorie die Frau und den Mann voneinander. Beide sind Orchestermitglieder, gut funktionierende Mitglieder des Orchesters der Gesell-
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schaft. Der neuzeitliche Orpheus, ein Flötist, und seine Euridike werden im Theater im "Lichtkegel" (KDWF 7) der Aufklärung präsentiert. Der Text, der schon vorher da war, bestimmt ihr Schicksal: "Noch stehst du vor mir/ Du wirst gehen und es wird plötzlich alles was war / sein." (KDWF 7) Schon zu Beginn wird das Programm der Aufklärung auf den Kopf gestellt, wenn die Vernunft nun nicht mehr das Schützende ist, sondern als trennender Text die Ursache des Unheils. Strauß verändert ein berühmtes Zitat, und nicht mehr der Schlaf der Vernunft, sondern "[D]er Schlaf der Liebe gebiert Ungeheuer." (KDWF 7) In dem Verhältnis des Mannes zur Frau besteht nach dem unheilvollen Blick, dem unter den Be-Griff Nehmen des anderen, eine Mauer aus Text. Jeder ist nun des anderen Halt und zugleich Gefängnis: "Da steht er auf der Post, die Hände zittern. Bei mir zuhaus kann er sich alles herausnehmen, aber vorm geringsten Haufen Leute kriegt er weiche Knie."(KDWF 18) Die Hände, die Be-Griffe des Mannes wären nicht mehr fest ohne den Text der Frau als der anderen. In der Post, im Durchlauf bekommt der Mann es mit der Angst zu tun.
2.2.2.2. Die Einfügung in den Text: Lynn als "L in" zwischen Κ und Μ Strauß zitiert in "Paare, Passanten" Oktavio Paz: "Literatur beginnt, wenn einer sich fragt: wer spricht in mir, wenn ich spreche?" und kommt für sich zu dem Schluß: "Man schreibt einzig im Auftrag der Literatur. Man schreibt unter Aufsicht alles bisher Geschriebenen". Und so wendet sich die Frau, in ihrer Not, in ihrem Versuch an das Geschriebene, an das Wort, an den Buchstaben, der sie selbst ist. Als Lynn, als "L" "in", als einsamer Signifikant sucht sie den Kontakt zu dem, was sie und den anderen konstituiert: die anderen Signifikanten. Die im Alphabet Nahestehensten sind Κ und M. Die Signifikanten sind aufeinander angewiesen, wenn das transzendentale Signifikat fehlt. So treffen Κ und Μ im dritten Akt dann aufeinander, wenn der "Chef' in einem Büro eingesperrt ist. Dort hat K, als sie aus dem Büro des Chefs kommt, einen "größeren Schlüssel in der Hand": (KDWF 79) "Ein Therapeut, den man praktisch in seinem Büro einsperren muß, damit er nicht sofort wieder auf eine Reise entwischt." (KDWF 81) Der jeweilige "Chef' kann aber nur ein Ersatz sein für die große Leerstelle, in "Kalldewey, Farce" ist der "Kellner" des ersten Aktes der "Chef' des dritten. Adornos "Groß und klein" spiegelt sich in dieser Nebenfigur. Κ und Μ sind als Signifikanten ebenfalls Platzhalter fur mehr Text und damit für Masken. Ihre Kürzel verlängern sich im Verlauf des Stücks zu "Kattrin" und "Merrit". Gleichzeitig sind sie wie "Frieder" und "Nichtfrieder" in "Groß und klein", wie "Erstling" und "Höfling" im "Park" das Fixierende und Auflösende als Begehren im Bewußtsein, sie symbolisieren das Treiben der Signifikanten. Für Lacan funktioniert das Begehren als subversiver Bewegungsimpetus in Bezug zu den fundamentalen Koordinaten des Lebens, dem Trübsinn und der Sammlung . Κ stellt als Journalistin, als die Treibende, Führende die Sammlung dar. Sie kanalisiert den kulturellen Text durch den Durchlauf des Mediendiskurses, indem sie diesen beobachtet. Und Μ "beobachtet [K] und tut es ihr unwillkürlich und moto-
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risch gleich", (KDWF 9) doch als auflösendes Element beklagt sie sich über Ks Dominanz. "Paare, Passanten" thematisiert wie "Kalldewey, Farce" die Bindung und Trennung sowohl der Masken, als auch der zwischen Signifikant und Signifikant, der als Signifikat erscheint. Die Wahrnehmung des anderen ist immer eine Zuordnung des Signifikanten an eine Imago, die enttäuscht werden muß. Der andere wird als Einheit, als Maske, als Text, als Kleid wahrgenommen. Das Subjekt und der andere werden als Imaginäres konstruiert, als Einheit, die Paarbildung geschieht als Spiegelung. Da sich das Begehren durch die Signifikanten bewegt, kann die Sammlung nicht lange anhalten und die Auflösung steht bevor, der Bindung folgt unweigerlich die Trennung. Ein ewiges "Stop" und "Go" ist das Los des in der Signifikantenkette gefangenen Menschen: "Nicht das Aha! des Festgestellten und Durchschauten möge dem Menschen und Zuschauer entschlüpfen, sondern nur ein Ha! staunend ein winzig Wesentliches erwischt zu haben". Das Leben und auch das Liebesleben ist eine "Farce", nur ein Scheinprodukt von Freiheit und wahrer Liebe: Nein, wie frei wir's auch anstellen mögen - außerhalb der Liebe! wir werden immer gesellschaftsfähig bleiben, und solange wir 'Liebe machen', werden wir ein kultiviertes, ein Serien-Produkt herstellen. Ars amandi oder Joy of Sex: wir entkommen den Formen nicht, den Werten, den Regeln, der totalen Kultur. Mithin ist es gewiß befriedigender, dem Liebemachen mit formvollendetem Bewußtsein entgegenzutreten, anstatt es mit der gewaltsamen Sehnsucht nach reiner Sexualität zu belasten, die im Bilde ihres Wahns nur die Liebe selbst erfüllen kann. (PP 54f.)
Im ersten Akt, mit der Trennung durch den Blick zwischen Mann und Frau, übereignet die Frau ihr "Ich" und das ihres Mannes dem Wort, den Buchstaben, und findet sich als L zwischen Κ und M. Doch damit den anderen in den Be-Griff zu bekommen, ist ebenfalls unmöglich, das Treiben der Signifikanten, die Bewegung des Unbewußten wird das momentane Bild zerstören. Strauß referiert zu diesem Thema in "Paare, Passanten": Was sollen Sprüche wie: 'Alles was klar gedacht ist, läßt sich auch klar ausdrücken, in j e der Sprache 1 ? (Marcuse sagte es in einem seiner letzten Interviews, auf die Frage, ob er die deutsche Sprache nicht vermißt habe in Kalifornien; doch jeder Deutschlehrer behauptet etwas Ahnliches.) Wie aber lassen sich das Fading, die vielfach verschränkten Codes des Unbewußten klar ausdrücken, falls die Sprache diese Botschaften nicht veruntreuen will? Insofern hat Lacan[!] noch um einiges tiefer hingehorcht als Freud. Das zu Sagende ist unendlich lang. Und eigentlich iäßt es sich auch nicht nach den Gesetzen der Grammatik und der Alltagsvernunft 'gliedern'. Gliedern heißt den Körper, die Anatomie zum Maß aller Dinge, zum Maß vor allem der Sprache zu nehmen. Das Unbewußte, das spricht, ist indessen auch ein Kloß, ein Stummel, ist Regen, Moder und Wind. Lassen wir also die schnippische Forderung nach Klarsicht beiseite. Verkneifen wir uns die rührende Freude an Paradoxen, verfänglichen Gescheitheiten und ähnlichem Geleucht in dem Gischt des Maelstroms. Wie klein ist doch alles, was 'auf den Punkt' gebracht wurde, das Ausdrückbare in seiner Gedankenreinheit. Zwangsneurose des klaren Gedankens. Der Mann muß sich mehrmals am Tag die Hirnlappen waschen. Und spürt's doch bei jedem klaren Satz, der herauskommt: wie schmerzlich er das Schmutzig-Wesentliche mit all seinen Lebenswucherungen entbehrt. Viel unsinniger werden. Jedes weitere Verstehen wird turbulent. (PP 190f.)
Die Verbindung mit dem die Wahrnehmung erst möglich machenden Text, mit Κ und M, wird nicht zur Überwindung der trennenden Mauer durch Fixation fuhren, sondern, wie der Mythos vorhersagt, zur Zerreißung der Figur, zur Auflösung der
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Individualität im Treiben der Signifikanten. Der Drang zu dem von Strauß so benannten "Schmutzig-Wesentlichen" wird zur Erscheinung von "Kalldewey" im Text führen, der die Leerstelle ausfüllen wird, die der vom Leben trennende Text erzeugt und markiert.
2.2.2.3. Die Auflösung der Figur: der Versuch, den anderen ganz zu lieben und zu begreifen, führt in die Grund-Losigigkeit der nachmodernen Existenz Euripides' Bakchen kennzeichnen die geschichtlich-zeitliche und räumliche Grenze der antiken Tragödie und der griechischen Polis nach innen und außen. Pentheus' zerrissener Körper zeigt auf der Bühne die Auflösung des Polis-Ganzen21. Innerhalb der "Orchester"- Gemeinschaft der Nachmoderne, der Gesellschaft wirkt der Mythos immer noch in der Sprache als "Mythensplitter", sind die heutigen Emanzen die einstigen Anhängerinnen des Bacchus. Da das Erkennen des Liebenden in der Aufklärung immer die "Analyse" des anderen nach sich zieht, wird die Liebe nicht in den überlieferten Formen gefeiert, die ja die Liebe erst konstituieren, sondern der andere zu "Tode" seziert. Der wissenschaftliche Reduktionismus und Atomismus, die Annahme, daß alles die Summe seiner Teile ist, läßt genau das für Strauß in "Kalldewey, Farce" verschwinden, was gefunden werden sollte: die Liebe. Die Waschmaschine ist das grundlose Bild der Auf-Klärung, das Instrument der Zerreißung. Sie ist ein Symbol des Paradox in der Aufklärung, daß alles hell, klar und auf der Linie bleibt, während sich alles dreht. Sie symbolisiert den Fluß des Heraklit in der Nachmoderne. Und sie symbolisiert den gespiegelten Lacanschen Spiegel, der Einheit vorgaukelt, während die Welt um ihn herum sich dreht: während die Waschmaschine im Innern sich dreht, bleibt ihre Umgebung stabil. Das Bühnenbild zeigt den Mann, der in die Waschmaschine blickt und sich zwischen der unendlichen Bibliothek und der unendlichen Kommunikation, zwischen diachroner und synchroner Unendlichkeit der Zeichen befindet: "Auf der rechten Seite ein Bücherregal. Links neben dem Sofa ein Tablettwagen mit Telefonbüchern und Telefon." (KDWF 23) "Der Schlaf der Liebe gebiert Ungeheuer" (KDWF 7), und die kommen direkt aus der Bibliothek, dem Telefon und der Waschmaschine, aus dem sich bewegenden Text. Die Diskrepanz zwischen der festen Form als Wunsch nach Identität, zwischen dem imaginierten Spiegelbild und dem realen Abriß der Zeichen vom Grund und der Beliebigkeit der Aussagen über die Welt und den anderen zerstört jedes Bild der Einheit und des Ganzen. Die Frau kann sich nicht ohne Text auf den Mann zu bewegen, sondern sie hat einen Namen und eine durch den Text bestimmte Identität. Der Mann spiegelt sich im anderen, in der Frau, die jedoch Text ist, der sich bewegt. Die zwangsläufige Folge ist die Zerstörung der eigenen Identität, die sich im bewegenden Text nicht fixieren läßt. Die Signifikanten Κ und Μ zerreißen das "Ich" des Mannes. Im selben Akt wird der Mann von den Feministinnen als Imaginäres im Inneren der Frau zerrissen, er wird "tot"-kritisiert und diskutiert. Eine Existenz im Modus "Ich ist ein anderer" betrifft immer die eigene 21
Vgl. Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, Tübingen 1990.
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Identität und den anderen, beide werden in "Kalldewey, Farce" im selben Akt als grundlose Masken gezeigt, da sie sich beide jeweils in einem gespiegelten Spiegel als Einheit wahrnehmen. Der Wahn im Mythos des Euripides' wird zum Foucaultschen ubiquitären Wahnsinn, der gewaltsamen Auflösung der Identität ist in keiner Zeit zu entkommen. Während der Mann zerrissen wird, macht die Frau die momentane Scheinerfahrung der Einheit: "... ich habe die Liebe, ich habe die Liebe / ich teile nicht, ich teile nicht."(KDWF 38) Die Frau will nicht teilen, sie hat den mythischen Anspruch auf das Ganze für sich als Wunsch reklamiert. Der Mythos wirkt und die Frau glaubt, diesen in der Nachmoderne verwirklichen zu können. Damit wird der Übergriff ihres Textes auf den Mann totalitär, seine Identität gerät in die Fänge des unendlichen Buchs, in das Treiben der unbewußten Strukturen. Die Frau kann den Mann nur in seiner Ganzheit erfassen, wenn sie ihn nicht als Form vor dem Hintergrund des unendlichen Textes beläßt, sondern alles in den Be-Griff bekommen will. Dies kann nur zum Unheil, zur Zerreißung des Mannes führen. Zwar gibt der Mythos die Sehnsucht vor, er kann sie aber nicht erfüllen. Der Versuch, alles zu bekommen, drückt den Mann in die Signifikantenkette, in die Waschmaschine des von der "Realität" losgelösten Textes. So haben der Frau zwar Κ und M, aus denen Lynn selber besteht, als neuzeitlicher Text die Auf-Klärung der Verhältnisse versprochen, gleichzeitig aber als alter, mythentragender Text die Ganzheit als Sehnsucht eingeimpft. Diese Diskrepanz sorgt für die Zerstörung des Objekts. Die Frau ist nun "einfach alle", (KDWF 39) sie läßt "sich'n vollen Abriß besorgen und scheißt alle an", da sie ja nun zwar das ganze Buch vor sich sieht, aber der andere darin verschwunden ist und sie enttäuscht ist. (KDWF 39) Am Ende des ersten Aktes "sitzt [die Frau] vor der Waschmaschine, stellt sie an, trinkt Bier, sieht in die Trommel, die sich in kurzen Abständen dreht." (KDWF 40) Ihr Versuch, das Ganze zu erlangen, läuft aus in der Grund-Losigkeit des nachmodernen Textes der Welt. "Kalldewey, Farce" ist als Theater die Grund-Losigkeit des Bildes in der Waschmaschine. Mehr ist nicht zu sehen, wie auch der "Zwischenakt" zeigen wird, und dabei wird es einem auch noch schwindlig. Der Text von "Kalldewey, Farce" reflektiert selbst den Anblick der sich drehenden Waschmaschine in "Kalldewey, Farce". Die Auflösung des einheitlichen Bildes, symbolisiert in "Kalldewey, Farce" durch die "Waschmaschine" zeigt sich nicht nur am Ende der Gemeinschaft der griechischen Polis, sondern auch am Ende des Mittelalters. Zu diesem Zeitpunkt, an dem auch der Protestantismus die Einheit spaltet und der Kapitalismus im protestantischen Denken, so Max Weber, seinen Ursprung findet, ereignet sich für Hans Belting22 ein "Machtverlust der Bilder". Die "Macht der Bilder" geht an "das Wort der Schrift und die Auslegung der Prediger verloren. [...] Die Befreiung von den alten Institutionen war eines der wichtigsten Motive, die die Reformatoren zu Bildergegnern werden ließ". Martin Luther war in dieser Hinsicht noch liberal, Bilder durften weiterhin als Lehr- und Merkbilder der Wortverkündigung dienen. "Die Bilder wurden damit gerade jener Aura entkleidet, die für den Kult eine Bedingung gewesen war". Die Tendenz war: Weg von einer Tradition der römischen Kirche, ihrem Alter und der Geschichte einer langen 21
Belting: Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, a.a.O., S. 24f.
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Schriftauslegung, hin z u m Urzustand der Kirche. "Dabei kam eine bilderlose Kirc h e in Sicht, die in der Gestalt d e s Paulus der Bildpraxis der H e i d e n Widerstand e n t g e g e n g e s e t z t hatte". Z u n e h m e n d wichtiger wurde ein eindeutiges B i l d a u f die Welt: "Wo alles auf Wahrheit und Eindeutigkeit fußte, war für das v i e l d e u t i g e B i l d kein Platz". Ein Platz für das "Fading, die vielfach verschränkten C o d e s d e s U n b e wußten" (PP 1 9 0 ) gab es nicht mehr. D e n n o c h m u ß das m o d e r n e I n d i v i d u u m mit d e m E n d e d e s 19. Jahrhunderts, mit M a l l a r m i , N i e t z s c h e und Freud feststellen, daß das "Fading" sich nicht einfach durch den Übergriff der Vernunft domestizieren läßt. D a s unsichtbar Gemachte wirkt dennoch. U n d im die Grundlosigkeit
des
D a s e i n s augenscheinlich machenden D e n k e n der nachmodernen G e g e n w a r t zeigt e s s i c h w i e d e r deutlich. D i e Identität stellt sich im 20. Jahrhundert als Imagination heraus, w e n n sie auf e i n e sichtbare Einheit und Ganzheit gegründet sein soll. Strauß schreibt in "Paare, Passanten": Wittgenstein (Philosophische Betrachtungen): 'Die Kinder lernen in der Schule wohl 2x2=4, aber nicht 2=2.' Im konkreten Leben muß man indessen die sogenannte Identitätsfrage eher als das ansehen, was man in den Naturwissenschaften und in der Logik ein 'gelöstes' Problem nennt. Die Identität, nach der man sucht, existiert nicht. Abgesehen von einigen äußeren, behördlichen Erkennungsmerkmalen gibt es nichts, was ftlr die Existenz eines zusammengefaßten Einzelnen spräche. Nicht einmal der Körper ist monolog und mit sich selber eins. Sowenig wie die Meinung ist der Schritt der Füße unabänderlich derselbe; er ist ein Ausdrucksmittel, sehr variabel; und noch der Blutkreislauf stellt sich dar, wechselt Geste und Stil in dem Maße, wie er auf Lebensgewohnheit, Begegnungen und Leistungen reagiert. Unter dem Gesichtspunkt einer schrankenlosen Psychosomatik erzählt jedes Organ heute dies und morgen das. Dieses Ich, beraubt jeder transzendentalen 'Fremd'-Bestimmung, existiert heute nur noch als ein offenes Abgeteiltes im Strom unzähliger Ordnungen, Funktionen, Erkenntnisse, Reflexe und Einflüsse, existiert auf soviel verschiedenen Ebenen der wissenschaftlichen und theoretischen Benennungen, in so vielen in sich plausiblen 'Diskursen 1 , daß daneben jede Logik und Psycho-Logik des einen und Einzelnen absurd erscheint. Das totale Diesseits enthüllt uns sein pluralistisches Chaos. Es ist die Fülle nicht zusammenpassender, ausschnitthafter Bewegungen, die Fülle mikroskopischer Details aus ganz verschiedenen Wahrnehmungsmustern, in der wir eben noch das Reale vermuten können. Unter solchen Bedingungen nach dem Selbst zu fragen, endet bei dem Schema des Wahnsinnigen, der sich von 'fremden Wesen' bevölkert und aufgelöst fühlt. Angesichts dieses Dilemmas ist es gut zu wissen: es gibt dieses 2=2, es läßt sich denken, es ist ausdrückbar. Doch du bist es nicht, du bist nicht identisch. Du bist freilich auch mehr als bloß ein Ensemble von Gesetzen und Strukturen. Im Rücken abgeschlossen, bist du nach vorn ein open end-Geschöpf. Daher ist es ebenso nützlich, von Kind auf schon die Bedeutung der Addition ohne Summe oder der Unsumme zu erlernen. (PP 175f.) Für Strauß ist j e d e Suche nach der verlorenen Einheit eine S u c h e nach d e m g a n z anderen: Gewiß, man wünscht jedem der unzähligen verzweifelten Identitätssucher, die darum ringen, zu sich selbst zu kommen, man wünscht ihnen, sie mögen sich endlich einbilden, sie gefunden zu haben, ihre 'Identität', sei es in der Gemeinschaft, in der Arbeit, im Politischen oder in sonst irgendeinem Abenteuer ihrer Existenz. Hierbei handelt es sich j a offenkundig um eine abgesunkene Glaubensfrage, so wie man früher um 'seinen Gott' rang. Trotzdem schmerzt jedesmal, wenn man die inbrünstige Phrase von der Identität hört, der Anklang an Gott bzw. der Mißklang der Selbstvergottung, die das kleine, das freie und armselige Subjekt sich herausnimmt. (PP 177)
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Das Problem der Selbstvergottung des nachmodernen Menschen, die an die Hybris der antiken Tragödie erinnert, ist für Strauß die Ignoranz in Bezug auf seine Determiniertheit. Wie in Sophokles' Aias bestrafen ihn die Götter mit Nichterkennen und lassen ihn lächerlichen, obszönen Substituten der Leerstelle - hier Kalldewey nachlaufen.
2.2.3.
Immanenz
2.2.3.1. Die Suche nach dem Übergang endet in der Suche nach dem Übergang Die Suche nach der Einheit des eigenen "Ichs" und der Ganzheit in der Welt wird einerseits durch die Grundlosigkeit des unendlichen Textes, andererseits durch die Beschränkungen aufgrund der Immanenz der fixierten Zeichen und damit der bezeichneten Welt vereitelt. Wie schon Adornos und Strauß' "Groß und klein" reflektieren, ist eines die Bedingung des anderen. Der "Helle[.] Raum" (KDWF 41) der durch Vernunft fixierenden Aufklärung, die "Fabriketagenwohnung" (KDWF 41) als momentane Klausur im Text bietet eine Stabilität, die den Individuen ihre Identität garantiert. Jedoch, und das zeigen Horkheimer und Adorno prägnant in ihrer "Dialektik der Aufklärung", ist diese Sicherheit nicht umsonst. Irgendetwas fehlt und die Suche danach, so Lacan, treibt die Individuen wieder in den Text. "Das Leben ist eine Therapie" und daher wird im zweiten Akt das Individuum gezeigt, wie es sich in seiner Stabilität ungenügend stabilisiert fühlt, die "Notbeleuchtung Ausgang", (KDWF 41) das säkularisierte Licht in seiner von ihm selbstverschuldeten Not lockt immer, den Raum des einengenden Be-Griffs zu verlassen. Doch vorerst ist der Ausgang verschlossen, die Immanenz des Daseins unüberwindbar. In diesem Spiel des Lebens wie im Theater wird die Therapie zu einem lebenslänglichen Versuch, ein "Ich" zu generieren, ein Imaginäres, welches dem Ansturm des Begehrens standhält. Da sich das Begehren, der Freudsche Trieb nicht mehr auf etwas außerhalb der Immanenz der Zeichen richten kann, die Ekstase sich in einem Vernunftsbetrieb bereits als Dominanz der List des Horkheimerschen und Adornoschen Odysseus erweist, ist er gefangen in der Sprache. Diese hat, wie bereits Artaud beklagt, dem Menschen etwas beraubt, was wesentlich ist. Jede Therapie in einer modernen Gesellschaft ist also eine Sisyphusarbeit, die die verlorene Einheit des Menschen nie herstellen kann. Im ewigen Bergauf der Therapie, dem Versuch, dem Mangel aufgrund des Bestehens der symbolischen Ordnung entgegen zu wirken, kann zwar kurz ein Einblick gewährt werden in die Gefangenschaft des Individuums in der Immanenz der Sprache. Eine endgültige Heilung jedoch ist unmöglich, denn in der Therapie muß - ein Paradox! - dieselbe Sprache benutzt werden, die das Problem erst schafft. Der Mangel soll also durch das den Mangel Auslösende kuriert werden. Eine immer unperfekte Identität soll durch eine neue Identität ersetzt werden, die jedoch wieder unperfekt sein wird. In dieser paradoxen Situation kann, wenn die Therapie gut ist, im Übergang ein kurzer Einblick in das Spiel genommen werden. Dies geschieht in "Kalldewey, Farce" im "Zwischenakt". Michel Foucault zitiert als Eingangssatz zu "Wahnsinn und Gesellschaft" Blaise Pascal: "Die Menschen sind so notwendig verrückt, daß nicht verrückt sein nur
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hieße, verrückt sein nach einer anderen Art von Verrücktheit." 23 Aus der Sehnsucht, die entstanden ist aus der Erkenntnis der eigenen Verrücktheit aus dem Ganzen, dem Wahren, entsteht eine Ausweichbewegung, die jedoch nie zum Stillstand kommt. Diese Bewegung bestimmt Form und Inhalt von Strauß' "Kalldewey, Farce". Während einst der Karneval wie das Theater als Heraustreten, als Ek-stase aus der alltäglichen Ordnung partiell toleriert wurde, diagnostiziert Strauß in der Beobachtung seiner Umwelt eine allumfassende und bewegliche Ver-rückt-heit, eine Bewegung, die eine Differenzierung zwischen Alltag und Ausnahmezustand unmöglich macht, denn das eigentlich Ausgegrenzte, der Karneval, der Wahnsinn, der Identitätsverlust ist der Alltag. Die Therapie im zweiten Akt stellt sich somit als Versuch dar, das "Ich" der Frau zu stärken, also immer wieder ein neues Imaginäres aufzurichten im Inneren der Frau. Am Anfang sitzt die Frau am Fenster, schaut aus ihrem Bewußtsein nach draußen, plötzlich kommen andere Gedanken in ihr Bewußtsein. Das im ersten Akt zerstörte Imaginäre des Mannes, das ja das Imaginäre des Mannes im Bewußtsein der Frau ist, erzeugt eine Vielheit im Bewußtsein der Frau. Diese Vielheit drängt als Κ, Μ und ein zweiter Mann "wie hinausgeworfen von einer mächtigen Hand durch die Eisentür". (KDWF 28) Die mächtige Hand als Begriffsapparat der Psychotherapie, der erhellenden Diskussion, der Zerreißung des Imaginären, bringt die Manigfaltigkeit des Unterbewußten in das Bewußtsein der Frau. Dabei spült es auch den Zweiten Mann an. Der Zweite Mann ist als verkehrtes Spiegelbild des gesellschaftsfähigen eigenen Mannes das ansonsten nicht zugelassene, in einer Verschiebung verdrängte Irrationale, das sich gerade noch in Obszönitäten zeigen kann, wie in Freuds Witzen, Versprechern und Träumen. Der Geburts-Tag der Frau soll nun als Schwellenritus die Geburt zu einem anderen Imaginären einleiten. Die Hilfe der anderen wird ihr aber versagt, nur der Zweite Mann bietet etwas Aufmerksamkeit, Halt und "Ek-stasis", armiert mit einem nur sehr kleinen berauschenden Phallus, einem Piccolo. Sein Präsent wird als Instrument die Tür des Begehrens öffnen, denn er ist in der lieblosen Gemeinschaft zwar der verzerrte, aber der einzige Durchschein des Realen. Außer in Obszönitäten läßt sich das Unbeschreibliche in der nachmodernen Gesellschaft nicht blicken. Im Gegensatz zu der Mehrheit der postmodernen Diagnostiker sieht Strauß auf das Treiben der Signifikanten nicht mit einem Gefühl der Belustigung. Er vermutet "unter" dem ganzen "anything goes" (Feyerabend) das unbekannte, nur in den Mythen tradierte Nicht-Erledigte, das jederzeit einbrechen kann in die Spaßgesellschaft der zeitgenössischen Republik. Für Strauß gibt es da noch etwas, was man nicht in den Be-Griff nehmen kann. Und in Lynns oberflächlich harmlosem, durch fröhlichen Medientext determiniertem Bewußtsein zeigt sich der Rumor durch die unwillkürlich mit hinein gekommene negative Seite ihrer sterilen Liebe, durch Kalldewey. Er besetzt die Leerstelle des in der Moderne nicht mehr wahrgenommenen ganz anderen, aber als Substitut ist er nicht die Verkörperung des Heils, sondern des Unheils. Kalldewey ist der negative Auswurf des Programms der Neuzeit, das sich bemüht, die menschliche Existenz mit Buchstaben und Theorien in den totalen Be-Griff zu bekommen, und
23
Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., S. 7.
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das, wie speziell das 20. Jahrhundert gezeigt hat, auch das Negative mit sich brachte, welches es eigentlich verhindern sollte. Für Strauß zeigt sich das ganz andere als Abwesenheit im erkalteten Text: Gott ist von allem, was wir sind, wir ewig Anfangende, der verletzte Schluß, das offene Ende, durch das wir denken und atmen können. (PP 177)
Die Farce stellt sich in "Kalldewey" in der Hybris der Menschen dar, in dem Glauben, ohne das ganz andere leben zu können: Es ist lachhaft, ohne Glaube zu leben. Daher sind wir voreinander die lachhaftesten Kreaturen geworden und unser höchstes Wissen hat nicht verhindert, daß wir uns selbst für den Auswurf eines schallenden Gottesgelächters halten. (PP 177)
Mircea Eliade schreibt über das religiöse Gefühl des Gegenwartsmenschen, dem die moderne Diskursordnung keine adäquaten Formen bieten kann: Die Uberwiegende Mehrheit der 'Religionslosen' ist nicht wirklich frei von religiösen Verhaltensweisen, Theologien und Mythologien. Diese Menschen sind manchmal unter einem ganzen Wust religiös-magischer Vorstellungen begraben, die jedoch bis zur Karikatur entstellt und deshalb schwer zu erkennen sind. Der Prozeß der Entsakral is ierung der menschlichen Existenz führte vielfach zu hybriden Formen von niederer Magie und Affenreligion. 24
Das Unheil entsteht, wenn die Suche nach dem Heil von falschen Führern ausgenützt wird. Die Beziehung von Mann und Frau zeigt sich in "Kalldewey, Farce" als Rites des Passage, der jedoch ohne Offenheit der Liebe, ohne Verrücktheit, ohne Rausch der Liebe - symbolisiert durch Dionysos - nicht mehr zueinander führt. Das Unterdrückte macht sich selbst plötzlich bemerkbar als Fremdkörper, als uneingeladener Gast. In einer grenzen- und zentrumslosen Gesellschaft, in einem ewigen Karneval, in der andauernden Maskerade kann sich das andere der Vernunft kaum mehr vom turbulenten Hintergrund abheben. Denn Vernunft und Wahnsinn sind nur noch eine Frage des Standpunkts und der ist relativ in der Nachmoderne. Der Text der Liebe als Ausnahmezustand wird nicht mehr getragen durch das Göttliche des Dionysos, sondern durch die Obszönität von Kalldewey. Kalldewey ist als das fehlende "Schmutzig - Wesentliche" zugleich das Verkehrte. Als "Zweite Mann" ist er die verdrängte dunkle Seite des Mannes, der von der Frau entbehrte, aber nicht zugelassene "Mr. Hyde". Als Symbol für den Karneval, überlagert von der allumfassenden Ökonomie, dem "Kaufhaus des Westens", dem "KadeWe", bringt Kalldewey als einziger ein Geschenk. Und da der Karneval ursprünglich als "Ventil" der Ordnung fungierte, wird dieses Geschenk zur einzigen Möglichkeit, der Vernunftsordnung zu entfliehen. Nachdem die Gesellschaftsmenschen den anderen zu "Tode" analysiert haben, fehlt ihnen etwas. Und dieser grundsätzliche Mangel macht sie anfällig für Kalldewey, den Führer. Die Suche nach dem Grund, dem Sinn und der Ganzheit in der Nachmoderne beinhaltet die Gefahr, daß ein Führer sich an die Stelle der Leerstelle setzt. Außer Kalldewey, der Lynn zur Befriedigung eine kleine Sinnzuschreibung mitbringt, wie es der Kapitalismus andauernd tut, verweigern die anderen der Frau
24
Eliade: Das Heilige und das Profane, a.a.O., S. 177.
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den Identitätswechsel, der nach van Gennep ein Teil der Initiation ist. Die anderen lieben Lynn nicht als Unbekannte und lassen sie nicht aus dem Raum, den sie ihr in der Sprache als Image verpassen, um sich selbst zu stabilisieren. Lynn muß solange in der alten Ordnung, in der erkalteten, sich nicht bewegenden Sprache bleiben, bis sich das in Kalldewey personifizierte Begehren meldet. Kalldewey ist wie Kattrin ein Κ und zieht ein L hinter sich weg, "away". Er wird mit seinem kleinen "Phallus" Lynn aus der momentanen Rekluse der sprachlichen Fixierung befreien. "Nur weil uns der Kalldewey durch die Lappen[!] gegangen ist", (KDWF 85) nachdem er aus dem Text verschwunden ist, bleibt ihnen die Erinnerung an das Reale durch den kleinen Phallus, den kleinen Super-Signifikanten, der die symbolische Ordnung noch ausrichtet. Der Phallus als dem Manne angeheftetes Begehren, das nur noch ein obszöner Abglanz des Ganzen, des Realen ist, jagt Lynn durch eine ausschließlich männliche symbolische Ordnung. Als Super-Signifikant ist der kleine Lacansche Phallus in der Lage, die Dinge aus der Sicht der männlichen symbolischen Ordnung zu be-zeichnen und damit den Text des Lebens wieder in Bewegung zu bringen. Denn jedes Objekt wird, wenn sich die Perspektive im komplexen Text ändert, neu bezeichnet, die Signifikanten treiben über der Welt und der Ausgang aus der Rekluse öffnet sich. Am Ende des zweiten Aktes wird durch die "Taufe" dem Ausgang ein Namen gegeben. Jedoch stellt sich die Frage, wohin der Ausgang gehen soll. Er ist ein Ausgang, wenn man hinaus will. Wenn man irgendwo hinein will, ist es ein "Sesam öffne dich". Der von Κ und Μ nicht erkannte Übergang ist eben nicht Ausgang oder Eingang, sondern Ausgang und Eingang zugleich. Für van Gennep gehört die Taufe zu den Übergangsriten, den Initiationsriten.25 In "Kalldewey, Farce" findet ebenfalls eine Initiation statt, die "Taufe" der Tür fällt mit "Lynns" Geburtstag zusammen. Im unendlichen Text der Nachmoderne ist der Übergang aber ein Übergang in den nächsten Übergang. Der Ausgang ist immer zugleich auch ein Eingang in die nächste Rekluse. Ein wirklicher Ausgang aus der Signifikantenkette ist für Lynn nie möglich. Bis auf Kalldewey als Maske des Unbewußten bringt keiner der Masken in Lynns Bewußtsein ein Geschenk mit, etwas, das die Wünsche der Frau befriedigen könnte. Erst mit dem Öffnen der Tür, der Sprache und dem Einfließen der übrigen Signifikanten scheint die Frau wieder ihre Wünsche befriedigen zu können. Aber sie vergißt, daß der Text ein männlicher ist. Im Zwischenakt als Akt der Reflexion rennt die Frau daher bewußtlos dem Mann hinterher, weil sie in seinem Rücken einen "schwarzen Fleck" wahrnimmt. Der schwarze Fleck, im zweiten Akt noch verkehrt inkarniert durch Kalldewey, ist die Ahnung des anderen als des gesuchten und begehrten Fremden und Ganzen. Diese Ahnung treibt die Frau aber, da sie sich selbst nur in der männlichen symbolischen Ordnung zeigen kann, in die ewige, helle Ordnung der männlich dominierten Aufklärung.
25
van Gennep: Übergangsriten, a.a.O., S. 70ff.
108
2.2.3.2. Theater und Theorie: Das Sehen als Beginn der paradoxen Ausgrenzung der Ek-stasis Von den mythologischen Kosmogonien zu den philosophischen Kosmologien, so sieht das Programm aus, das sich ereignet in der beginnenden Loslösung vom Mythos in den kosmogonischen und gnomischen Dichtungen Griechenlands. Der Blick des Orpheus auf Euridike, der in "Kalldewey, Farce" den Beginn der Verfehlung markiert, ist auch der Blick des Übergangs vom Mythos zur Philosophie. Strauß erinnert daran, daß die erste selbständige Gestaltung der von Widersprüchen geprägten Volksmythen dazu führt, daß die Orphiker Kosmogonien erstellten, die sie aus ihrer dichterischen Intuition generieren.26 Diese Gedanken werden als göttliche Offenbarung des thrakischen Sängers Orpheus gedeutet. Zentrum der orphischen Dichtung ist der Gott Dionysos. Die Entwicklung des Kosmos wird analogisiert mit dem Schicksal von Dionysos, der von den Titanen zerrissen und dessen Herz von Zeus verspeist wird. Das dichterische Symbol bedeutet auch, daß mit Dionysos der Weltengrund zerrissen wird und damit die ursprüngliche Einheit in die Vielheit der Dinge übergeht. Das Inkorporieren des Herzens ist als Rückkehr der Welt in den Urgrund zu interpretieren. In diesen Kosmogonien verlieren die Götter als Figuren in Texten ihre Eigenart und nähern sich abstrakten Begriffen. Mit dem Übergang zu den "sieben Weisen" zeigen sich erstmals ethische Reflexionen, die sich vom Mythos separieren. Der erste Philosoph, Thaies von Milet, soll zu den "sieben Weisen" gehören. An diesem Punkt verdrängen die philosophischen Kosmogonien die mythologischen, die ersten ethischen Konzeptionen werden universal angelegt. Die Krise des Mythos wird virulent, als sich mit den griechischen Sophisten ein Hiatus ergibt zwischen der Autorität der mythischen Überlieferung und dem Anspruch des Logos als das durch das Rationale legitimierte Wort. Während der Mythos noch "ist", bildet die logische Erkenntnis Urteile. Das Sehen, die Theorie behauptet sich nun als ein Zentrum. In der Moderne wird das nicht mehr wahrgenommen. Und in der Nachmoderne wird die Ästhetik zum Mittelpunkt des philosophischen Denkens. In "Kalldewey, Farce" machen sich nun das Verdrängte, die Mythensplitter, das Über-Sehende indirekt bemerkbar. Die dem Menschen das Wahre, Schöne und Gute bringen sollende Vernunft kehrt sich gegen ihren Meister, der nur ein Zauberlehrling ist. Der Grund für die Fehlfunktion des Instruments Vernunft ist für Strauß die Mißachtung des Mythos. Die Vernunft kann den Mythos nicht vollständig verdrängen, er überwintert im Unbewußten. Kalldewey bricht im zweiten Akt als Mythensplitter in den hellen Bewußtseinsraum von Lynn ein. Die "Ankunft" im verkehrten "Ritual" registrieren allein die Uhren. Während die "Ouarzuhren" als lineare Uhren stehen bleiben, läuft die sich im Kreise drehende Uhr des Mannes noch. Die kreisförmige mythische Zeit ist weiterhin gültig, die lineare Zeit wird im "Ritual" vom überzeitlichen und Uberräumlichen Mythos angehalten. (KDWF 59) Auf der Bühne des Theaters ist Dionysos eingetroffen, jedoch nicht mehr als ursprünglicher Mythos, sondern als säkularisierter und damit völlig verzerrter Text. Er bewirkt die Sehnsucht der Individuen nach dem verlorenen undifferenzierten Erlebnis, das der Preis ist für die Sicherheit, die 26
Vgl. zum geschichtlichen Verhältnis von Mythos und Logos und zu Thaies von Milet: Kurt Wuchterl: Geschichte der Philosophie, Stuttgart 1990, S. 20ff. 109
die vernünftige Ordnung garantiert. Der die Wahrnehmung konstituierende Text der Welt ist nicht mehr hintergehbar. Strauß zeigt in "Kalldewey, Farce" die Unmöglichkeit eines Ausgangs, einer wirklichen Ekstase. In der Antike ist die Ekstase für den Dionysoskult noch konstitutiv als zeitweilige^] Heraustreten aus der normalen Existenzweise. [...] Der Dionysoskult ist also charakterisiert durch die Ekstase. Das Ziel der Ekstase wird erreicht durch Mittel der Berauschung, d. h. der Rationalitätsverdunklung, hin bis zur Rationalitätsausschaltung. Diese Mittel sind Rhythmus, Melodie, Tanz, Wein, Sexualität. Dazu fügt sich ein weiteres Kulturelement: die Maskierung. Wenn nämlich der Drang nach dem Heraustreten aus dem eigenen Sein logisch verlängert wird, ergibt sich aus ihm der Drang zum Hinüberwechseln in ein anderes, ein fremdes Sein. Äußerer Ausdruck dieses Bestrebens ist die Maskierung. Sie ist - sowohl als Gesichts- wie auch als Körperverkleidung - für den Dionysoskult ebenso charakteristisch wie für andere ek-statische Bewegungen, ob wir dabei an afrikanische und südamerikanische Festbräuche denken oder an europäische, wie Karneval, Fasching, Fasnacht. Die Maskierung gehört also zum Sinn des Dionysoskults. Entsprechend ist auch die Maske archäologisch schon für die früheste Zeit - längst vor der Entwicklung des Theaters - als Attribut der Dionysosanhänger belegt.27 Die Masken garantierten den Identitätswechsel und die Distanzgewinnung zum Normalen: das griechische Theaterstück ist charakterisiert durch den Aufbau einer anderen Welt, einer Gegenwelt. [...] auch in den Tragödien werden Gegenwelten entworfen in Form von entaktualisierten und entzeitlichten Vorweltmythen. Daß sich darin etwas ganz Wesentliches aus dem ursprünglichen Sinn des Dionysoskultes erhalten hat, nämlich der Drang nach Identitätswechsel und Selbstvergessenheit, nach Heraustreten aus der eigenen Existenz und dadurch nach Distanzgewinnung - das scheint deutlich. Das Theater hat sich allerdings im Laufe seiner Entwicklung stark von seinem religiösen Ursprung entfernt, [es] hat sich also verselbständigt, gewissermaßen säkularisiert. Aber an Phänomenen wie dem Maskenwesen können wir noch erkennen, daß es ursprünglich tiefe seelische Triebkräfte waren, die die spätere Institution "Theater" hervorgebracht haben. 2 ' Diese Triebkräfte sorgen in "Kalldewey, Farce" immer noch für den Wunsch nach dem Heraustreten aus dem momentanen Zustand. Diesem Heraustreten folgt aber sofort der Übergang in die nächste Normalität. Da das Normale vom Wahnsinn ununterscheidbar geworden ist, ist jeder Fluchtversuch zwecklos. Überall ist Normalität ist Wahnsinn ist Realität ist Theater. Hinter jeder Maske zeigt sich eine weitere Maske. Der Karneval ist überall, es herrscht der Ausnahmezustand. Da zuvor die Ekstase der Vorgang war, der die Grenze markiert hat, kann mit dem Verschwinden der Grenze keine Ekstase mehr stattfinden. Während im Mythos Dionysos noch der Inbegriff von Rausch und Raserei ist, der Geist, der sowohl Beseeligung, als auch Entsetzten bewirkt, bringt die Grenzenlosigkeit der Postmoderne das andere der Vernunft nur noch als Unheil zum Vorschein. Die Grenzenlosigkeit der Gegenwart ist für Strauß gefährlicher als das abgegrenzte Wirken des Dionysos in der Vergangenheit. Denn Dionysos bietet der dunklen Seite der menschlichen Existenz ein Ventil und stabilisiert so die Gemeinschaft. In der Unterdrückung dieser dunklen Seite werden die Grenzen uneindeutig und Strauß hat die Befürchtung (die ihn auch zum Schreiben des "Anschwellenden Bocksgesang" motiviert), daß das Verdrängte durch die helle Oberfläche wirkt, wo es die an die
27 28
Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, Tübingen 1993, S. 33f. Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, Tübingen 1993, S. 34f.
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Vernunft glaubenden Menschen ungeschützt vorfindet. Eine Ausgrenzung der Ekstase durch die Simulation der Ekstase, wie sie die postmoderne Fröhlichkeit vornimmt, ist ein Paradox. Und dieses führt zu Kalldewey als paradoxen Figur, die Ekstase verspricht und die Individuen gerade dadurch als Wunschmaschine in die symbolische Ordnung zwingt.
2.2.3.3. "Kalldewey" als unheilbringende "Inkarnation" der säkularisierten Heilsversprechen Martin Heidegger beschreibt die Situation des Individuums in der Moderne: "Wenn Gott als der übersinnliche Grund und als das Ziel alles Wirklichen tot [ist], wenn die übersinnlichen Idee ihre verbindliche, und vor allem ihre erweckende und bauende Kraft eingebüßt hat, dann bleibt nichts mehr übrig, woran der Mensch sich halten und wonach er sich richten kann."29 In "Kalldewey, Farce" zeigt Strauß die Sehnsucht der im Text treibenden Individuen nach jedem Halt, der ihnen im Sinndefizit versprochen wird und nach jeden "Ausgang" aus der zu schmal und zu eng empfundenen Triebökonomie. Der große Dionysos wird zum kleinen Kalldewey. Und schon eine kleine Geste der Zuwendung, eine minimales Angebot zur Ekstase reicht aus, um eine Gefolgschaft um sich zu scharen. Strauß zeigt die Anfälligkeit der modernen Bürger nach der Zerstörung eines metaphysischen Orientierungsrahmens für Verführungen, die auch die Verführungen eines "Rattenfänger[s]" (KDWF 72) sein können. Da die Ideen in der Postmoderne für sich nicht ausreichen, dem Sinndefizit entgegenzuwirken, könnte es sein, daß die fuhrungslose Menschheit sich aus dem Vorhandenen einen neuen Götzen herstellt. Ähnlich der Erschaffung des "Golem" wäre dann eine neue Figur geschaffen, die den Namen der Gegenwartskultur trägt und die ihn trägt. Strauß schreibt über die Erschaffung einer solchen Figur: Und, könnte es nicht sein, daß uns bald eine neue allegorische Lust packte? Eine Lust zur großartigen Inkarnation, zur Fleischwerdung der vielen ausgeträumten Ideen unseres Jahrhunderts. Man kann doch nicht soviel denken und so abstrakt sich ausstrecken, wie wir es getan haben im wissenschaftlichen Zeitalter, ohne daß am Ende wieder etwas Ganzes, ein Balg, ein neuer Leib aus der Idee, aus Nebel und Licht, sich uns entgegegenwölbte ... der wunderbare Arsch der Psychoanalyse, die Brüste der sozialen Gerechtigkeit, die gekreuzten Schenkel von Ökonomie und Ökologie, die Augen des Biologen, die Arme des Untergangs. (PP 193)
Kalldewey ist eine solche Wunschproduktion, aber als Ersatz für die undenkbare Leerstelle eben das Negative. Da die Individuen nur noch die Ideen der Gegenwart im Kopf haben, sie sich aber nach dem sehnen, welches nur noch als Leerstelle anwesend ist, bauen sie sich mit ihren irdischen Mitteln einen Götzen, der das Negative bringt. Die Menschen sind in "Kalldewey" lächerliche Figuren einer unergründlichen Komödie, sie haben Sehnsüchte, die ihnen der Text, der Durchschein des Mythos verspricht. Den Ausgleich des Mangels kann nur die Wunschmaschine Kapitalismus gewähren in einer von jeder direkt gesehenen Metaphysik verlassenen Kultur. Der Karneval, der einst als das andere der Vernunft 29
Martin Heidegger: Holzwege, Frankfurt 1950, S. 200.
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zugelassen war, um der Gemeinschaft erst recht die Stabilität zu garantieren mit Hilfe der umgrenzten Auslebung der Triebe, ist nicht mehr möglich in einer grenzenlosen Gesellschaft. Da die Grenzen sich nicht mehr natürlich ergeben, könnte der anhaltende Zustand des Übergangs nach einem Rechtspositivismus und dem Primat der Entscheidung, nach dem Führerprinzip eines Carl Schmitt verlangen. Strauß zeigt in "Kalldewey, Farce" die Kultur als andauernden Ausnahmezustand und ewige Therapie. Kalldewey als die "Inkarnation" der kapitalistischen Wunschmaschine, als Obszönität einer Sprache, in der der Wunsch nach Einheit nur zirkuliert, kann den Bewußtseinsraum nicht verlassen, er ist das obszöne andere, das im Diskurs nicht vorkommen darf. Da alles in der Waschmaschine, der Deleuzeschen und Guattarischen Wunschmaschine zirkuliert, hat auch das Dunkel in der Aufklärung hell zu sein. Daher muß "Kalldewey" im Bewußtseinsraum von Lynn unter dem "weißen Tisch" (KDWF 56) verschwinden. Doch das Verdrängte wirkt, auch wenn man es unter den hellen, geordneten Text, ins Unbewußte verbannt. Auch wenn man sich Kalldeweys nicht bewußt wird, ist er da. Der Mann erinnert daran, daß man sich der Anwesenheit Kalldeweys bewußt sein sollte: "Sein Verschwinden dürfen wir nicht vergessen. Das wär, als stünde er noch da." (KDWF 60) Daß das Obszöne diese Wirkung entfalten kann, liegt an der Negierung des Triebhaften durch die Gegenwartsgesellschaft, die zwar alles ausspricht, aber gerade dadurch eliminiert. Strauß' Sicht ist vergleichbar mit Michel Foucaults Position in "Sexualität und Wahrheit"30, der im Kontrast zu Reich, Marcuse und der Freud-Lektüre der Kritischen Theorie konstatiert, daß die Aussprache der intimsten Wünsche keine Befreiung, sondern ein Werkzeug der Überwachung und erzwungenen Einigkeit sei. Das ewige Gerede über die Wünsche als der Versuch, das Irrationale in der Be-Griff zu bekommen, vertreibt die reale Lust und setzt "Kalldewey" an dessen Stelle. Für Bataille ist gerade das "Unsichtbare, das früher Gott war, [...] in der dramatischen^] Erfahrung des denkenden Tieres nichts anderes als das Obszöne: das hinter der Szene[!] Liegende, das Undarstellbare, das dennoch in den Lücken der darstellenden Textur (Sprache, Diskurs oder Erzählung) insistierend aufscheint." 31 Die Gefahr, die Kalldewey nur anzeigt, dessen Vorbote er nur ist, ist der plötzliche Einbruch des Realen. Die Hybris in der Aufklärung, alles Triebhafte unter Kontrolle zu haben, hält Strauß für eine Fehleinschätzung der anthropologischen Grundkonstante, die in der Geschichte des Menschen zu konstatieren ist. Wie die Mythen zeigen, fehlt dem Denken der Aufklärung die Achtung vor der Gefahr des Triebhaften und der damit verbundenen Gewalt: Wie klein ist doch alles, was 'auf den Punkt' gebracht wurde, das Ausdrückbare in seiner Gedankenreinheit. Zwangsneurose des klaren Gedankens. Der Mann muß sich mehrmals am Tag die Hirnlappen waschen. Und spürt's doch bei jedem klaren Satz, der herauskommt: wie schmerzlich er das Schmutzig-Wesentliche mit all seinen Lebenswucherungen entbehrt. (PP 191) Der Mensch ist nicht nur rational und nicht nur ohne Herkunft. Strauß nähert sich nicht erst mit dem "Anschwellenden Bocksgesang" einem rechten Politikverständ-
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Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt 1983. Julia Kristeva: Geschichten von der Liebe, Frankfurt 1989, S. 354.
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nis, das von den negativen Seiten des Menschen ausgehend immer die Gefahr des Ausnahmezustandes annimmt. In "Kalldewey, Farce" wird das dritte Reich, personifiziert durch den "Rattenfänger" Hitler, als geheimes negatives Zentrum, als Mittelpunkt der metaphysischen Leerstelle geortet: D a gab es einmal einen Rattenfänger, d e m sind wir hinterher. Mit seiner Flöte z o g er uns das U n g e z i e f e r v o n der S e e l e und ertränkte es im Vergessensfluß. D o c h dann glaubte er sich um seinen gerechten Lohn betrogen und er entführte uns, die kleine Schar, w i e in Hameln einst die Kinder, und Schloß uns ein in diesen Berg. Dort auf v o r g e s c h o b e n e n Fels, du siehst, über steiler Wand und leerem Grund, hält einer uns gefangen und bleiben wir erhalten, verflucht in eine e w i g e K o m ö d i e , verbannt ins Grauen ewiger Belustigung. So überleben wir und wiederholen uns und werden's für alle Zeiten tun. ( K D W F 7 2 f . )
Hitler wird aufgrund seiner von ihm eingeleiteten Diskreditierung jeder Metaphysik für Strauß der endgültigste Vollstrecker des nietzscheanischen Denkens. Für Strauß ist er der nicht eingestandene Über-Signifikant, dessen Wirkung sich nur entfalten kann, da keiner mehr wagt, von einem transzendentalen Signifikat zu sprechen: "Unser Älterwerden kreist in immer erweiterten Gedächtnis-Ringen um unsere einzigartige Geburtsstätte, den deutschen Nationalsozialismus. Gerade in seiner Verdrängung, in dem Versuch, das Unerklärbare in den BeGriff zu bekommen, wirkt das dritte Reich weiter: Manchmal will es scheinen, als ob alle B e w e g u n g e n , die wir noch ausführen können, selbst die radikalsten, fantastischsten, zuletzt doch nur dem unentrinnbaren A u f - und A b arbeiten jener B e w e g u n g des Grauens angehörten, die die uns vorangegangene Generation einmal ausführte. D a n n fühlen wir uns im Kraftfeld einer einzigartigen elterlichen Vergangenheit festgehalten und einbeschlossen und m ö g e n uns darin mit s o heftiger A b s t o ßung oder s o perversem, lüsternem H e i m w e h b e w e g e n , w i e wir wollen: mit einer 'eigenen' B e w e g u n g - nur der Hand zu einer Pforte! - hat all unser Langen nichts zu tun. (PP 172)
Das Sinndefizit, daß heute wieder die Gefahr eines neuen Führers beinhaltet, ist somit für Strauß gerade das Resultat der Anstrengungen, eine Wiederkehr des dritten Reichs zu verhindern. "Kalldewey" ist der kleine Vorgeschmack auf den "großen Therapeuten": "Was heute fehlt, das national Positive, gab es damals als Attrappe. Doch wie weit reichte denn das Charisma des Führers? Hat er auch nur eine einzige Seele geheilt? Dumm gefragt. Die Heilung war, daß die einzelne Seele sich selbst nicht spürte. (Die fanatische Nationalsozialistin, die ich als Kind in der eigenen Verwandtschaft hatte, galt nach dem Krieg auf einmal als 'die Verrückte'. Sie, eben noch die Gesündeste, Geeinteste ... )". Die Gefahr sieht Strauß darin, daß das aufgeklärte, sich autonom glaubende Individuum die Wirkung des kleinen "Kalldewey" nicht ernst nimmt. Daß man annimmt, daß der Verführung in einem vierten Reich keiner nachgeben würde, obwohl man in der gegenwärtigen Ökonomie jeder kleinsten Versuchung nachgibt: A l s Äneas, Held v o n Troja, im Hafen v o n Karthago landete, entdeckte er, in den Marmor eines T e m p e l s gehauen, Szenen aus dem legendären Krieg, den er gerade hinter sich g e lassen hatte, und unter den Kriegern auch sein e i g e n e s Bild. Α., nur ein Parteigenosse, ein Mitläufer im N a z i - R e g i m e , sitzt, jetzt als alter Mann, vorn in einem Kino und plötzlich in einer alten W o c h e n s c h a u oder e i n e m Hitler-Dokumentarfilm erkennt er sich w i e d e r im schreienden Volk, sieht er sich, den j u n g e n brüllenden Mann, in einer Großaufnahme. Ja,
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denkt er und fühlt sich anonym bis in die Fingerspitzen, ich war dabei, ich habe geschrien, ich war ein Volk - ein Schrei. Jetzt sitze ich allein unter vielen Jungen in einem dunklen Kino, lauter kritische Köpfe, die sich nur wundern können Uber unseren Schrei, die sogar in johlendes Gelächter darüber ausbrechen und keinerlei Ehrfurcht vor dem Bösen empfinden. (PP 173)
Kalldewey, Farce" warnt also vor der Schwäche einer Gesellschaft ohne Metaphysik. Für Strauß reichen schon die geringsten Anreize aus, damit sich ein neuer negativer Kult bildet. Die Suche und das Finden des Ausgangs im dritten Akt wird für die Frau belohnt mit "Geschenke[n], Geschenke[n], Geschenken[n]", mit Kommunikationsanschluß ("Briefe", "Päckchen") und einer "Pelzjacke" (KDWF 68), die sie auch trägt im Zwischenakt. (KDWF 69) Dort benötigt sie die "Pelzjakke" in der eisigen Kälte des modernen Spiels. An der "Pelzjacke" wird augenscheinlich, daß das kapitalistische System genau die Wünsche vorgibt, die es dann auch erfüllen kann. Die Leerstelle, die früher der Glauben und die Liebe einnahm, besetzt für Strauß nun die Produktvielfalt und die schöne neue Warenwelt. Da nach Nietzsche und Hitler der Wunsch nach der Metaphysik obskur erscheint, kann eine Obszönität wie Kalldewey eine solche Macht erlangen. Er taucht auf, besetzt die Leerstelle der abwesenden Metaphysik, hinterläßt einen Wunsch im Bewußtseinsraum in der Form eines kleinen Präsentes und verschwindet wieder. Nachdem dem Wunsch nach der Besetzung der Leerstelle so das einzig mögliche Angebot zur Erfüllung gegenüber gestellt wird, folgen die Individuen dem Götzen. Weil dieser niemals zufriedenstellen kann, treiben sie endlos unbefriedigt durch die Signifikanten. Da der Kapitalismus nicht die wahre Erfüllung schenkt, bleibt immer ein Defizit, das politisch ausgenützt werden könnte. Die Figuren in "Kalldewey, Farce" artikulieren dieses Defizit: "[E]ine solche Leere hinterläßt allein die große Führernatur", "es war der King". (KDWF 63) Die Leere in der Sprache der Aufklärung, im Orchester der Gesellschaft, will sich mit religiösem Gefühl füllen. Wenn dieses nicht zugelassen wird, kann ein totalitärer Führer diese Lücke ausfüllen: "Lieber etwas dümmer als ewig diskutieren/ Die einen sagen dies, die anderen sagen das. Wo soviel möglich ist, wird alles gleich unwichtig / Er aber weiß, daß die Menschen eine ganz andere Stimme hören wollen. Eine Stimme, die ihnen gute und einfache Befehle gibt." (KDWF 64)
2.2.4. Der Beobachter des Beobachters Seltsamerweise ist der Mensch, dessen Erkenntnis in naiven Augen als die älteste Frage seit Sokrates gilt, wahrscheinlich nichts anderes als ein bestimmter Riß in der Ordnung der Dinge [...] eine junge Erfindung, eine Gestalt, die keine zwei Jahrhunderte zählt. (Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge)
Für Strauß schreibt man "aber doch auch, um sich nach und nach eine geistige Heimat zu schaffen, wo man eine natürliche nicht mehr besitzt". Der Autor schafft sich als Kopist, als Durchlauferhitzer des Textes, Stabilitätsinseln im Text, die zugleich Auflösungsorte sind: "Es schafft ein tiefes Zuhaus und ein tiefes Exil, da in der Sprache zu sein". Dieses "tiefe Zuhaus", das ebenso ein "tiefes Exil" ist, löst
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sich nicht mehr dialektisch auf, sondern setzt die Existenz aus, indem sie diese stabilisiert. Dieser existentialistische Blick auf das Leben ist zugleich der systemtheoretisch beobachtende. Das Paradox ergibt sich durch die nietzscheanische Verabschiedung jedes transzendentalen Signifikats. Jeder beobachtet nun jeden und das Spiel der Zeichen ist im Sinne Derridas das Zentrum. Für Heideggers Denken beginnt das Problem bereits mit dem sokratischen Denken. Und mit dem Beginn des Sehens, mit dem Blick auf das Theater beginnt, so Hans-Thies Lehmann, die Ablösung von der Eindeutigkeit des Mythos. Theater - von lateinisch "theatrum" - stammt seinerseits von griechisch "theatron", "Zuschauerraum", "Theater". Der Raum definiert sich durch die Handlung des Schauens, durch die Wahrnehmung. Somit ist die Wahrnehmung das den Raum Konstituierende. Das Stammwort ist das griechische "thea", "das Anschauen", die "Schau", das "Schauspiel", das im griechischen "theoros", "Zuschauer" zu finden ist. Das Schauen definiert Sinn, Funktion, Zeit, Raum, definiert Identität und Differenz, definiert aber auch Bewegung. Kognition, Wahrnehmung und Beobachtung sind dann auch Zentralbegriffe der nachmodernen Philosophie. Zuvor ist es in der Nachfolge von Hegel der Begriff, in der Nachfolge der Aufklärung die Vernunft. Das "Zentrum" verschiebt sich zur Kommunikation, zur Poesie, zur Kognition und zur Entstehung der Begriffe. Dem Begriff "Theorie" liegt das griechisch-lateinische "theoria", das "Zuschauen", "Betrachten", die "Untersuchung", "wissenschaftliche Erkenntnis" zugrunde. Dem wiederum das griechische Substantiv "theoros", "Zuschauer", das zusammengezogen ist aus "thea(u)oros", "jemand, der ein Schauspiel sieht" (zu griechisch "thea" und griechisch "horaein", "sehen"). Theater und Theorie haben also, betrachtet man sie durch die Brille der Etymologie, einen gemeinsamen Ursprung. So betrachtet ist das Theater eine alte Setzung eines Beobachtungsrahmens, der immer notwendig ist zur Reflexion. Wenn sich die Reflexion aber verselbständigt, dann verliert sie ihren Grund im Mythos und wird selbstreferentiell. Dies zieht als letztbegründende Überlegung das Paradox und den unergründlichen, unendlichen Regreß nach sich. Jede Dramaturgie unterbricht das Beobachten des Beobachtens, jedes Theater das Theater des Theaters. Die Dramaturgie und das Theater werden hier zur unbegründeten Entscheidung, nur abhängig von den herrschenden Diskursen und den Entscheidungen der Macht. Um die gesetzte Dramaturgie, den gesetzten Rahmen des Theaters selber zu reflektieren, muß man die Handlung unterbrechen, sich selbst beim Spielen beobachten. Im "Zwischenakt" von "Kalldewey, Farce" findet diese Beobachtung der Beobachtung statt. Zwischen dem Akt versuchen die Figuren, einen Über-BIick über die Räume und Zeiten zu erlangen, aber die Reflexion fuhrt nur zur Erkenntnis der Wiederholung. Denn der Schlitz als Durchsicht durch Zeit und Raum ist zugleich der Schlitz in dem Vorhang. Der Blick ist der Blick auf die Bühne des Lebens und der Welt: Und wie sie spielen! Sie wiederholen und wiederholen sich. Sie machen das Damals, sie lassen nicht nach. Und wiederum von vom und noch einmal das Ganze. Du siehst: der Rest ist Theater. Der letzte unserer magischen Versuche, die Angst uns auszutreiben. (K.DWF 73) Der Zuschauer beobachtet in "Kalldewey, Farce" nicht nur das Treiben auf der Bühne als Meta-Ebene, als Erzählung außerhalb der eigenen Erzählung. Sondern er
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wird auch von Strauß genötigt, die Figuren auf der Bühne zu beobachten, wie sie sich selbst beobachten. Die Reflexion kann nur zum Schluß führen, daß irgendeiner hinter den Zuschauern steht, der sie wiederum beobachtet. Das bedeutet: Die "ästhetische Grenze" (Michalski) ist nicht mehr eindeutig zu ziehen, jede Beobachtung setzt den Rahmen des Theaters, Theater ist überall. In irgendeiner Weise muß also, wer die Weltgeschichte (die Totalität eben) auf den Begriff bringen will, immer auch welttranszendent, dh. Zuschauer - oder Regisseur - des Dramas sein. 32
Das geht wohl nicht aufgrund des blinden Fleckes, den jeder Beobachter in sich trägt. Er braucht einen weiteren Beobachter, der ihn beobachtet usw. Nie kann so das Ganze beobachtet werden. So zeigt "Kalldewey, Farce" nicht ein theatrum mundi, sondern die Unmöglichkeit desselben. Genau das, was wir nicht sehen, ist dann das Relevante. Damit verabschiedet Strauß jeden Versuch auch der Linken, die Welt theoretisch in den Griff zu bekommen. Denn die Welt ist immer genau da, wo die Theorie nicht ist. Dieses Problem stellt sich doppelt für die Frau. Für sie geht es nicht nur um das Defizit der Theorie, die die Komplexität der Welt nie in den Begriff bekommt. Sondern zusätzlich ist sie noch in eine Ordnung eingeschlossen, in der sie selbst nur als Leerstelle vorkommt. Und so rennt im "Zwischenakt" von "Kalldewey", im Akt der männlichen Reflexion, die Frau bewußtlos dem Mann hinterher, weil sie in seinem Rücken einen "schwarzen Fleck" wahrnimmt. Der schwarze Fleck, im zweiten Akt noch Kalldewey, ist die Ahnung des anderen, der verzerrende Durchschein des Realen. Diese treibt die Frau, da diese eben sich selbst nur in der männlichen symbolischen Ordnung bewegt, in die ewige, helle Ordnung der männlich dominierten Aufklärung. Das ewige Bergauf der Therapie des Lebens (auch der Psychotherapie), der Versuch, den Mangel zu kompensieren, ist eine Arbeit in der Form, wie sie Albert Camus in seinem "Mythos von Sisyphos" beschreibt. Zwar kann die Reflexion kurz einen Einblick gewähren in die Gefangenschaft des Menschen in dieser Immanenz der Sprache. Eine endgültige Heilung jedoch ist unmöglich, den in der Therapie muß - ein Paradox! - dieselbe Sprache benutzt werden, die das Problem erst schafft. Der Mangel soll also durch das den Mangel Auslösende kuriert werden. Eine immer unperfekte Identität soll durch eine neue Identität ersetzt werden, die jedoch wieder unperfekt sein wird. In "Kalldewey" ist die Therapie der Aufstieg in die Helle und das Erstarrte des Eises, also des sich wieder neu sich verhärtenden Imaginären in der Aufklärung, die - von Descartes bis Freud - das Ich in den Mittelpunkt stellt." Im "Zwischenakt" gewährt die Therapie einen Einblick auf die Bühne, auf das Treiben der Masken. Die Frau fragt den Mann: "Darf ich Sie fotografieren? Ich möchte so gern." (KDWF 69) Indem sie die Identität des anderen fixiert, fixiert sie ihre eigene Identität als die andere. Der Mann fragt mit Strauß,
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Georg Kohler: Vom ganz anderen hier. Über die Seßhaftigkeit des Nomaden, in: Entdekken - Verdecken. Nomadologie der Neunziger. Herbstbuch 2, Graz 1991, S. 165-189, S. 168. Obwohl Freud das Ich eben nicht mehr als Herr im Haus bezeichnet, ist - so die Kritik Lacans - die traditionelle Psychoanalyse bestrebt, das Ich gegenüber dem Es und dem Über-Ich zu stärken.
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der die Medien als Image-Macher kritisiert, mißtrauisch: "Wollen Sie's für die Zeitung?" (KDWF 69) Die Frau aber benötigt den anderen nur als Orientierung und sinnstiftende Einheit, als im Spiegel imaginierte Einheit des anderen. Der andere als der im besten Sinne undefinierbare, der Dunkle ("Ich habe mich an ihren dunklen Mantel", den dunklen, undeutlichen Text "gehalten"), der sich im weißen Rahmen der fixierenden Aufklärung zeigt, soll Halt und Sinn geben innerhalb des Aufstiegs zum Hellen ("Der Schnee blendet mich"). "Der Mann: Sie wissen nicht, wer ich bin?" (KDWF 69) Da die Frau sich an das Dunkel des anderen hält, kann sie nicht wissen(!), wer der andere ist: "Sind sie wer?" (KDWF 69) Dennoch gibt das Dunkel im Hellen eine Form ab, paradoxerweise folgt sie also einer Einheit, die sich als Differenz zwischen dem Dunklen und dem Hellen, dem Unbegreiflichen und dem Begrifflichen zeigt. Dabei bewegt sich das Dunkel, das geahnte andere vor dem Hintergrund des Hellen beim Aufstieg zum Aufgeklärtesten, zur Zone des Übermenschen, zum nietzscheanischen Raum ohne Metaphysik. Um den anderen als Einheit zu definieren, benötigt die Frau dann die Kamera. Angezogen wird sie durch das Unerklärliche des anderen, aber um zu Be-Greifen fixiert sie ihn doch. Der Aufstieg im Leben als Therapie ist also ein Begehren des dunklen Textes, hier des dunklen Mantels. Das Begehren jedoch erzeugt unweigerlich, da es in einem in der Sprache erstarrten Raum, im Winter, in der Kälte geschieht, eine Fixierung. Ein Foto nach dem anderen bedeutet das Treiben durch die Signifikanten, daß Gefangensein in der Sprache, die verlorene Einheit als ewiges Motiv, dem die Frau folgt. Das Ich soll sich in der Nachmoderne als "Übermensch" konstituieren. Dabei ist die Erkenntnis der unmöglichen Erkenntnis des Ganzen nur durch die Sprache möglich: "Hier oben im Berg gibt es eine Stelle, die ich oft besuche". Eine "Lücke in der Natur der Dinge", in der Wahrnehmung der Dinge als und aufgrund der Sprache, erlaubt den Blick durch die Sprache auf die Sprache, die das "Subjekt" selbst ist. In der Sprache erkennen sich die Protagonisten wieder, sie erkennen sich selbst als Sprache. Der "Rattenfanger"(KDWF 72) Hitler fungiert als negativer Ordner, als Wärter, der das "Schlechte", das Nicht-Akzeptierbare im Unbewußten versenkt und damit die Nachkriegsordnung "stiftet". Die ewige Bewegung, der "Vergessensfluß" (KDWF 72) der Sprache sorgt nun, da das dritte Reich das Mythische und Mystische diskreditiert hat, für eine aufgeklärte Ordnung, die zugleich befreit und gefangen nimmt im "Berg" (KDWF 73), der das Projekt Moderne darstellt: "Dort auf vorgeschobenen Fels, du siehst, über steiler Wand und leerem Grund, hält einer uns gefangen und bleiben wir erhalten, verflucht in eine ewige Komödie, verbannt ins Grauen heftiger Belustigung". Die Komödie als einzige Form, so Dürrenmatt, die dem Geschehen im 20. Jahrhundert noch angemessen erscheint, vermittelt das absurde Gefühl einer Zwischenlage des ewig Aufbrechenden und Ankommenden: "So überleben wir und wiederholen uns und werden's wohl für alle Zeiten tun". Die Frau fühlt sich hingegen nur als Besucher über das Wochen-Ende, sie negiert die nietzscheanische Sicht der Welt als Wiederholung. Als fertige Schöpfung, als Hegelsches Ende der Geschichte, das ein Säkularisat der Augustinischen Heilsgeschichte ist, bleibt der Welt nur ein Aufstieg zum Besseren. Der Berg muß nicht immer wieder erklommen werden, seine Spitze leuchtet hell als Utopie. Obwohl oder gerade weil die Frau nicht gut sieht, ihr die Begriffe nicht so geläufig sind, da es nicht die ihren sind, und obwohl sie auf die Fixierung (das Foto) angewiesen ist,
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erahnt die Frau im anderen das Dunkel. Sie ist fähig, über Nietzsche hinaus an ein Jenseits zu glauben. Augustinus sieht den Menschen als Pilger in der Welt, die Frau bezeichnet sich nur als Besucher. Und der Besuch ereignet sich nur für eine kurze Zeitspanne. Das Augustinische Zeitparadoxon zeigt den Menschen in der Zeit, die gegenüber der Ewigkeit nur als zweitrangige Koordinate steht und fällt. Die vom Mann wahrgenommenen Wiederholungen, die den "Übermenschen", den Darwinschen "Überlebenden", als Modell notwendig machen, verschwinden in dem Moment, in dem die Ewigkeit, im Vergleich zu der das Diesseits nur eine zeitliche Illusion ist, wieder als das Höhere erkannt wird. Der Mann bleibt skeptisch, die postmoderne Bezeichnung des Daseins als Spiel und Wiederholung läßt ihn nur auf das älteste Medium, das Theater hoffen, dessen Spiel noch Reste seines religiösen Ursprungs mit sich führt: "Und wie sie spielen! Sie wiederholen und wiederholen sich. Sie machen das Damals, sie lassen nicht nach. Und wiederum von vorn und noch einmal das Ganze. Du siehst: der Rest ist Theater. Der letzte unserer magischen Versuche, die Angst uns auszutreiben." (KDWF 73) Dabei ist "Rest" primär doppeldeutig. Eine schnelle Bedeutungszuweisung zieht die "ästhetische Grenze" (Michalski) zwischen Kunst und Wirklichkeit, will das Theater als Extra der Gesellschaft sehen. Da Strauß sich jedoch immer für die Literatur, für den Dichter als Überlieferer und Zentrum ausspricht, ist der "Rest" auch das, was hier und jetzt noch übrig bleibt. Eine ununterbrochen maskierte Gesellschaft, Theater als Gesamtveranstaltung, das ständig Identitäten produziert, um die Angst zu besiegen. Da in der nachmodernen Gesellschaft kaum einer mehr ignorieren kann, daß das jeweils aktuelle "Ich" ständig bestreitbar bleibt, findet ein andauernder Versuch statt, Masken zu erhalten oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, diese schnell mit einer anderen Maske aus dem Fundus, dem "Supermarkt" (KDWF 76) zu vertauschen, um das Nichts dahinter nicht sehen zu müssen. Dabei wäre, so Heidegger, ein Zulassen der Angst der erste Schritt zum Erkennen des Wesentlichen. Denn die Sprache ist der Identität, der Zeit und dem Raum immer voraus. Ohne sie weiß das "Ich" der Frau nicht: "bin ich die oder die?", (KDWF 73) und der Mann: "bin ich der oder der?" (KDWF 73) Die Fragwürdigkeit einer eindeutigen Identität macht die Spannweite der möglichen Charaktere deutlich. Extrem polarisiert und damit sich gegenseitig aufhebend und austauschbar zeigen sich die Charaktere: "Lynn, die Hexe oder Lynn, das Goldstück?", "Hans, der Esel oder Hans, der Herzensbrecher?" (KDWF 73) Auch die Zeit ist nicht unabhängig von der Sprache. Im Erkennen des Fehlens einer eindeutigen Identität zeigt sich auch das Fehlen der eindeutigen Zeit: "Die Frau: Was sagst du gerade? Der Mann: Weiß nicht mehr, was ich damals sagte. Die Frau: Mir kommt es vor, als sei's gestern gewesen." (KDWF 73) Die Abhängigkeit des "Ichs" von der Sprache erscheint der Frau "fürchterlich": "Da zappelt jeder mit der Schlinge um den Hals - wie sind wir da bloß lebend rausgekommen?"(KDWF 74) Die Frau denkt, mit der Reflexion der Situation ist das Problem erkannt und gelöst. Doch die Lösung des Problems ist nur möglich aufgrund der Konstanz des Problems. Es existiert, so Foucault, kein Fixpunkt außerhalb der Geschichte. Die Entwicklung der Geschichte negiert die Entwicklung der Geschichte, ein "Fehler der Geschichte" (KDWF 74) läßt die Geschichte sich selbst zerstören: "Nichts geht mehr. Nur auseinander noch." (KDWF 74) Der Fehler war, das Ziel der Geschichte aus dem Jenseits in das Diesseits, in die Zeit zu holen und den Menschen zum Zentrum zu machen. Im 19. und 20. Jahrhundert behauptet der
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kulturelle Text vermehrt die Abhängigkeit des Individuums von äußeren Umständen. So fehlt das ganz andere und es fehlt die Descartessche, vom Ich abhängige Vernunft. "Die Frau: [...] Die Herzen sind hin", der andere bleibt ohne Herz, wenn er nur als Struktur ohne Zentrum, als Derridasches Spiel existiert. Er ist der Transporteur des großen Archivs, das zeit- und ortlos ist: "Ist[!] das alles wirklich geschehen? [...] Das ist[!] - das Geschehen." (KDWF 74) Im "ist" als Wort steckt Vergangenheit und Zukunft zugleich, die Ontologie wird zum Zentrum, bei Heidegger zur Fundamentalontologie. Die Sprache enthält alles: Ha! alles gibt es noch, so ist das nicht. Diese Zeit, die sammelt viele Zeiten ein; da gibt's ein Riesensammelsurium, unendlich groß ist das Archiv: Alles da, und ist zuhanden. Viele brauchbare Stoffe noch in den Beständen, im Fundus der Epochen. Das Beste freilich können wir nicht mehr halten in unseren Armen, nicht mehr tragen in den Köpfen aber verschwunden, wirklich verschwunden ist in Wahrheit nichts, kein Reich und keine noch so winzige Gebärde. (KDWF 74)
Das Halten wäre der Be-Griff, doch im Bewußtsein, im Begreifen des einzelnen ist das Ganze nicht mehr, sondern in der symbolischen Ordnung, dem Unbewußten. Der Mann ruft durch den Schlitz, durch die Differenz, die die Identität als Zusammenhalt in der Nachmoderne ablöst, auf die Bühne der maskierten Gesellschaft: Los, los, ihr Überlebenskünstler! Nehmt euch, was ihr gebrauchen und erhalten könnt! Schafft und schleppt euch ab, überliefert was noch zu Uberliefern ist! Für wen? Das fragt jetzt nicht. (KDWF 74f.)
Denn das Individuum gibt es nicht mehr. "Worüber verfügt der Mensch? Über viel, sehr viel Vergangenheit. Die allein ist reich, und die bleibt immer unerschöpflich." (KDWF 75) Nach Jacques Ranciöre ist Geschichte als jeweils neu erdichtete aufzufassen. Jeder Blick auf die Vergangenheit bedeutet eine Neu-Schöpfung der Geschichte, sie bleibt deshalb "unerschöpflich". "Und was da fällt und abgetan wird, fangt alles auf, bewahrt es gut, denn dies Finale muß noch lange halten." (KDWF 75) Das vermeintlich Redundante ist das Unterdrückte, so daß jeder Versuch, Ordnung in den unendlichen Text zu schaffen, unweigerlich zur Unwahrheit führt. Der ganze Text, das Heideggersche Sein wird gebraucht, um das Überleben zu gewährleisten. Denn im ewigen, sich wiederholenden Höhepunkt, im ewigen Anfang und Ende, im ewigen Übergang, dem andauernden "Finale" braucht es viele Masken, Zeiten und Räume. Am Ende des paradoxen Zwischenaktes, der eine Differenz be-zeichnet, einen Raum zwischen den Zeichen, treten sie wieder in das Spiel ein, in dem sie sich ja schon befinden. Der Zwischenakt spiegelt die Therapie oder den lebenslänglichen Versuch, sich mit Hilfe der Sprache über das Leben, das Sprache ist, zu erheben, den Versuch, sich selbst zu beobachten. Der Versuch, den Berg zu besteigen, bedeutet, sich begrifflich soweit über das andere zu erheben, daß es gut beobachtbar ist. Dies soll durch eine Differenzierung vom Rest geschehen ("Ein weißer Vorhang fällt über die Szene." (KDWF 68)). Dabei kommt es zu einem "circulus vitiosus". Der Beobachter beobachtet den Beobachter beobachtet den Beobachter usw. Der Zwischenakt ist getrennt von der Bühne und zugleich ein Teil der Bühne. Eine eindeutige ästhetische Grenze wird hier unterlaufen. Wer soll bestimmen, wer der letztgültige Beobachter, der letztgültige Autor, der letztgültige Rezipent ist? Die Trennung des Beobachters vom Beobachteten, wie sie der Theaterrahmen und die Rampe markiert, ist ein Konstrukt. Die Zentralperspektive ist
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künstlich, sie führte zum idealen Schaupunkt der Fürstenloge. Die Macht bestimmte, was richtig ist. Nach Stephen Greenblatt ist auch das Theater nicht solitär, das Geschehen auf der Bühne erweitert sich in die Kultur und umgekehrt. Eine Bühne als abgetrennter Schaukasten wäre totalitär, denn sie provoziert in der Nachmoderne die Frage: Wer oder was legitimiert die aufgeführte Perspektive? Innerhalb des kulturellen Textes muß der Bühnenrahmen überall hin verschiebbar sein.
2.2.5. Dazwischen, auf der Grenze Nietzsches Genealogie ist die Historie als "konzertierter Karneval" (Foucault). Hiermit ist der Bereich des Zeichens in den Zentralpunkt versetzt. Metaphysik und somit jedweder begreifbare Sinn wird diskreditiert: "Stop Making Sense" ist das Thema des Pop (Talking Heads) und der Philosophie (Norbert Bolz), die Hierarchie verschwindet im anhaltenden Karneval. Nachdem Lynn die Masken dekonstruiert hat und dem Karneval hinter dem Karneval auf die Spur gekommen ist, gilt es nun, etwas mit dem neu erkannten Zustand in den fortlaufenden Signifikantenketten der aufeinanderfolgenden Interpretationen anzufangen. Das Leben als Therapie offenbart nicht die Kontinuität, sondern die Diskontinuität und den Mangel als Ordner. Wenn nichts mehr gültig ist, jedes Zuhause auch Exil und umgekehrt ist, dann bleibt nur die Grenze als letzter Fluchtpunkt. Der Zwischenakt, die Unterbrechung der Handlung auf der Bühne als Versuch der Reflexion zeigt, daß jeder Ausgang nur wieder der Eingang in die nächste Rekluse ist. Das Begehren ist in seiner Erfüllung immer schon weiter, man sehnt sich nach "Kalldewey", aber der ist nicht mehr da, obwohl er immer da ist: "Nachdem uns Kalldewey durch die Lappen [!] gegangen ist",(KDWF 85) nachdem er aus dem Text des zweiten Akts verschwunden ist, bleibt ihnen nur noch die Erinnerung, die jede Interpretation der Welt bestimmt. Die Suche nach einem Ausgang, nach einem Übergang zu etwas anderem endet im Korridor. In der Vielfalt der Nachmoderne ist die Glaubwürdigkeit jedes Imaginären in besonders hohem Maße gefährdet. In einer Zeit der "Gegenwartsschrumpfung" (Lübbe) kann sich das "Subjekt" keiner eindeutigen Identität mehr sicher sein, denn diese wird sofort innerhalb der symbolischen Ordnung in Frage gestellt. So findet sich das "Subjekt" auf dem Korridor, der Grenze, dem Punkt des ewigen Übergangs wieder. Das Heraustreten wird zum "perpetuum mobile". Die ehemals religiös motivierte Ekstase wird zum säkularen Dauerbetrieb, die Maske wird nie mehr abgenommen. Die Zeichen, das Treiben der Signifikanten als ewiges Spiel der Masken macht die Welt zu einem säkularen Theater, zu einer riesigen Medienshow. Im dritten Akt verweigert die Frau die Einfügung in eine feste Ordnung, da die Ordnung, auch wenn sie sich bewegt, nicht mehr göttlich legitimiert ist und so totalitär geworden ist. Strauß verhandelt hier die Ausweglosigkeit des unendlichen Textes der Nachmoderne. Es bleibt nur noch der ewige Karneval des Konsums, das Begehren der Quizshows. Mit dem Denken Deleuzes und Guattaris im oberflächlichen Hintergrund situiert sich die Frau auf der Grenze, um der Ordnung zu entkommen. Aber diese Freiheit ist eine illusorische Freiheit, die den kurzen Weg von der entleerten Moderne in die entleerte Postmoderne
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gegangen ist. Der van Gennepsche Angliederungsritus führt nicht in eine neue stabile Ordnung, sondern in den Umlauf, in den Korridor, auf die Grenze. Die Musik aus dem Supermarkt bezeichnet den Korridor akustisch als Gang durch den Supermarkt. Unendlich viele Waren, unendlich viele Meinungen und Milieus konstituieren die Wunschmaschine. Der Mann geht im Korridor auf die Frau zu, das eine Bewußtsein trifft das andere, denn die Frau sieht zum Fenster ihres Hauses, ihres sprachlich konstituierten Bewußtseins hinaus auf ein anderes Haus, auf einen anderen, gleichzeitig geht dieser andere, der Mann, dieses Imaginäre in ihrem Bewußtsein auf sie zu. Der Mann, der zugleich außerhalb und innerhalb des Bewußtseins der Frau existiert und doch nur imaginär ist, wird getrieben von der Vielfalt der symbolischen Ordnung innerhalb und außerhalb des Bewußtseins. Da die symbolische Ordnung das Unbewußte ist und dieses das Begehren des Individuums erzeugt, sagt der Mann: "Wie du willst! Wie du willst!". Das Unbewußte kann sich auf der Grenze nicht entscheiden. Solange sich das Unbewußte nicht entscheidet, sind dem Subjekt die Hände gebunden, es sind ihm die einheitsstiftenden, illusionären Begriffe abhanden gekommen, bzw. ihre Gültigkeit kann nicht mehr angenommen werden. Der Mann schaut ins Publikum und erschrickt. (KDWF 76) Denn dort sieht er die Vielfalt der anderen, die sich ihm durch die symbolische Ordnung und deren Vielfalt mitteilt. Die Frau beschwert sich, daß es zieht im Korridor, denn dieser ist der Durchgang, in dem die Signifikanten treiben. Der Durchgang ist der Korridor, ist der ewige Übergangsritus, der innerhalb des kulturellen Textes überall hin verschiebbare Rahmen der Bühne: "Nur weil wir den Kalldewey nicht gekriegt haben, hasten wir hier durchs Niemandsland zwischen zwei Büros der Therapieagentur." (KDWF 85) Κ und Μ gehorchen als Teil der männlichen symbolischen Ordnung dem männlichen Super-Signifikanten. Doch wo einen finden, der sich im Durchgang auch sichtbar halten kann? Das Spiel von "Groß und klein" macht den Kellner zum Chef. Er, der vorher Wäscheausfahrer (KDWF 84f.) war, also einer, der Text-il verteilt und somit den Journalisten, aber auch den Dichter symbolisiert, textet die Leerstelle, die die Medientreibenden gegen die Zeit spielen läßt, um noch kurz einen Halt zu erwischen: "K: Schnell, schnell! Weiter, Weiter! Spielen, spielen!" (KDWF 97) Der Mann und die Frau spielen die Rollen in der Show des Lebens, um nicht abzustürzen. Κ und Μ arbeiten als Angestellte der Medien, als Teil des großen Medientextes. Aber zugleich bemerken sie die Absenz des Absoluten: der Chef "sagt, er fühlt sich überfordert. Kein Wunder!" (KDWF 81) Das Wunder bleibt aus im modernen Text. Im Korridor, in der van Gennepschen Zone des Übergangs treibt sich alles mögliche herum, auch der Zuschauer. Er markiert beobachtend den Bereich zwischen den verschiedenen festen Sinn-Inseln, den Büros. Aber auch den Zustand zwischen Sammlung und Auflösung, zwischen "Gerade" und "Ungerade", zwischen 32 und 33, zwischen Kattrin und Merrit. Während in früheren Gesellschaften diese Zone des Übergangs nur kurz betreten wurde, ist sie in der Nachmoderne ein Dauerzustand. Dem Mann ist dieser ungewohnte Zustand unheimlich, er hat sich bisher in seiner männlichen und fixierten Ordnung ganz wohl gefühlt. Der Drang, sich dem Chef zu unterwerfen, wird im Korridor übermächtig. Für ihn gilt die Beobachtung Strauß' aus "Paare, Passanten":
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Niemand, der sich herausgestellt hat aus seinen unmittelbaren Verhältnissen, seien es die des Geldverdienens oder die eines blinden Forschungsdrangs, einer selbstberauschten Vernunft, wird leben können ohne irgendwo Zuflucht zu suchen. Ein Höheres als den Gipfel seiner Freiheit wird er nötig haben, in dessen Schutz und Namen er erst das Äußerste an Kräften sammelt. Je aufrechter er sich herausgestellt hat, um so stärker wird er durch seinen Unterwerfungsdrang. (PP 177f.)
Alles ist offen im Korridor, die Figuren sind aus den vermeintlich sicheren SinnInseln herausgefallen, auch die Wahrnehmung und Begriffszuweisung des Publikums ist dort offenkundig, die Interpretationsmöglichkeiten werden vielfältig. Der Korridor verstärkt den Durchlauf der Images, der Mann sieht das Publikum, "erschrickt und verstummt", "es zieht - ist alles offen dort". (KDWF 76) Der Frau ist dieser Zustand egal, sie "zuckt die Schultern". Der Mann drängt auf eine Entscheidung der Frau, aber diese ist wie Lotte in "Groß und klein" in das Treiben des Textes eingegangen, in der der eindeutige Begriff ungültig wird. So kann der Mann die Frau nicht mehr in den Griff, unter den Be-Griff bekommen: "Der Mann: [...] Weißt du, mir sind solange die Hände gebunden." (KDWF 76) Er sehnt sich wieder nach einem Raum mit einer fester Ordnung, die in einer ökonomisch bestimmten Gesellschaft nur ein Büro sein kann, er wartet "zur Ergebenheit bereit" (KDWF 77) vor einer der Türen. Aus den Büros erscheinen Teile von menschlichen Körpern, so das "Bein eines Mannes", des "Chefs", oder "der entblößte Arm von M". (KDWF 77) Im "Korridor" zeigt sich, daß auch der Körper keine Einheit mehr ist. Strauß rekurriert hier auf Lacan, über dessen Ansicht zur Sprache und zum Körper er in "Paare, Passanten" schreibt: So "hat Lacan noch um einiges tiefer hingehorcht als Freud. Das zu Sagende ist unendlich lang. Und eigentlich läßt es sich auch nicht nach den Gesetzen der Grammatik und der Alltagsvernunft 'gliedern'. Gliedern heißt den Körper, die Anatomie zum Maß aller Dinge, zum Maß vor allem der Sprache zu nehmen". Das Zerreißen des Körpers, die Zerstückelung des Körpers des Mannes ist im Korridor evident. Der Chef, der Ersatz des nicht mehr wahrnehmbaren transzendentalen Signifikats, ist andauernd auf Reisen: "Es kommt zu keiner ordentlichen Behandlung - Sie haben nur ihre Reisen im Kopf - unentwegt reden sie von ihren Reisen - wir brauchen einen Therapeuten, der auch für uns da ist - es genügt nicht, daß sie uns Patienten zu ihren Mitarbeitern ernennen." (KDWF 78) Der Korridor zeigt eine Gesellschaft, in der der Kellner zum Chef wird, die Patienten zu Therapeuten und der Wahnsinn zur Normalität. Der Grund dafür ist die Umwandlung des Mythos, der das Theater begründet hat, als gemeinschaftsstifitendes Element und stabilitätsgebende Institution zur fragmentierenden Medienshow. Die Show wird in "Kalldewey, Farce" im Theater inszeniert. Und der Schlüssel zur Ordnung verwandelt sich in ein Mikrofon, das "Mikro" in der "Fernsehshow" ist der "Schlüssel", um den Chef einzusperren. Die Medien sind der einzige Halt. Diese Situation verhindert aber, daß der lächerliche Substitut eines Chefs zum wahren Therapeuten werden kann, denn jedes Mikrofon verweist in einer endlosen Rückkoppelung nur wieder auf sich selbst: Der Kellner ist der Chef ist der Kellner ist der Chef usw. Die einzige Drohung, die noch wirkt, ist die Drohung mit der Öffentlichkeit: Sie können sich nicht hinter Programmen und Medikamenten verstecken - nehmen sie Leitverhalten an - wenn sich der Betrieb hier nicht bessert, werde ich Ihnen ein grelles
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Licht verschaffen, indem ich unseren kurzen Briefwechsel in die Zeitung werfe. (KDWF
78) Im Endeffekt hat der "Chef' dann auch nichts "groß" (siehe "Groß und klein") gesagt, denn der Chef ist selbst ein Produkt der Zeitung, mit dem ihm gedroht wird. Die Bedrohung eines Zeitungstextes mit einem Zeitungstext führt nicht zur Größe, sondern zur Rilckkoppelung. Im gedruckten Dramentext läßt Strauß die Wahl zwischen zwei Schlüssen. Die Wahl ist aber nur eine scheinbare. Denn es kommt auf den Punkt an, an dem man das Spiel des Lebens und "Kalldewey, Farce" abbrechen will. Dieser Abbruch ist in jedem Fall ein künstlich gesetzter, denn das Spiel auf dem unabgeschlossenen Korridor wird immer weiter gehen. Strauß zeigt hier, daß der Rezipient in jedem Fall wie der Dramatiker irgendwo eine Entscheidung trifft, indem er einen Beobachtungsrahmen setzt. Aber wie er sich auch entscheidet, das Ganze erwischt er nie. Immer wird er einen Schluß ohne guten Grund ausschließen, einen Ausschluß produzieren. Denn er entscheidet sich entweder für die Rezeption bzw. die Inszenierung eines Schlusses, dann schließt er den anderen aus. Oder er liest bzw. inszeniert beide Schlüsse, dann gibt es keinen richtigen Schluß und er muß sich doch wieder fur einen Schluß entscheiden usw. Der eine Schluß, den Strauß vorgibt, zeigt den unendlichen Abschied, mit dem das Stück beginnt, noch einmal. Der Blick Orpheus auf Euridike wiederholt sich unendlich, man "furchtet sich vor dem, der das letzte Wort behält", (KDWF 112) aber jeder, der etwas ist, behält das letzte Wort, also keiner, also jeder usw. Das andere Ende erlaubt eine kurze Unterbrechung des Wahnsinns durch das gemeinschaftliche Hören eines Kunstwerks. Während Κ und Μ endlos streiten: M: Du machst mir doch seit Jahren mein Wissen streitig. K: Du machst mir mein Wissen streitig. M: Sie weiß mir die schönsten Sachen weg. Und was die weiß, will ich nicht mehr wissen. Interessiert mich nicht. (KDWF 121)
hat nur die Kunst für Strauß die Chance, dort noch das andere des Diskurses durchscheinen zu lassen: "Der Mann: Pssst!". Und: "Alle horchen in die Luft. Es erklingt das 'Zauberflöten' - Motiv." (KDWF 121)
2.3. Der Park 2.3.1. Der "Park" und der "Zirkus" im Kopf Die Welt der Liebe, der Shakespearesche Wald, von der Stadt abgetrennt, wird bei Strauß zum dreckigen Park, der den "Zirkus" der Postmoderne ein- und ausschließt. Der Park stellt ein Paradox dar: er ist das Natürliche, das eigentlich künstlich geschaffen ist. Der Park und der Zirkus fungieren als mentaler Raum, als Innen und Außen, als Bewußt- und Unterbewußtsein in Text-Form und zugleich als gesellschaftlicher Text. Im Shakespearesschen Original ist der Wald ein Ort, an dem das Gesetz Athens nicht mehr gilt. Die Figuren im "Park" sind wie die Jüngerschen "Waldgänger" im Text unterwegs, der ein postmoderner verdreckter Text aus Mythensplittern und "wertlosem" Gegenwartstext geworden ist. Zeit und Raum sind
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im Park zusammengezogen in einem Textspeicher der Posthistoire. In diesem trifft die mythische kreisförmige auf die lineare Zeit. Der Park beinhaltet als unendlicher Text die ganze Zeit und faltet die Zeit aus. Das Paradox der Zeit in der Nicht-Zeit, die Zeit ist, erläutert Augustinus so: Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich's, will ich's aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht. [...] es gebe drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vielleicht sollte man richtiger sagen: es gibt drei Zeiten, Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen. Denn diese drei sind in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht. 34
Im ersten Akt zeigt sich der Park als mentaler Raum und als durchlaufender Text im Bühnenbild: Das "mannshohe[.] Holundergebüsch" symbolisiert die Überreste einer "mannshohen" Individualität, die als Text ihre eindeutige Form verloren hat. "Holun-der" verweist - nicht etymologisch, aber mit den Worten spielend wie Edmond Jab6s - mit "holo", von griechisch "hölos", "ganz", "heil", "gesund" darauf, daß der Baum sich als Identität so kahl zeigt, wie die Sprache der Gegenwart ohne "Anklang" (Heidegger) ist. Er enthält "[E]tliche[n] Unrat". (P 9) Die "Tiere", die Triebe sind nicht sichtbar, aber man kann sie hören, sie werden noch im Käfig, im abgetrennten Teil des mentalen Raums gehalten. Der "Sandkasten", die "Wüste" des Edmond Jab£s, ist ebenso mit Zivilisationsmüll verdreckt, wie der Holunderbusch. Der Park ist als verdreckte Sprache und verdrecktes Bewußtsein dem Zirkus des Lebens angeschlossen, der Maskerade des Gesellschaftsbetriebs, dessen "starkes Licht" (P 9) die Zone der Auf-Klärung markiert. Aus dieser Sphäre fällt ein Licht auf die Zustände in der Sprache und im sprachlich konstituierten Bewußtsein: "Während die Bühne noch dunkel ist, streift ein Scheinwerfer über die Hecke und den Fries der Reste hin." (P 9) Der Zuschauer sieht auf der Bühne - fokussiert und aufgehellt mit dem Scheinwerfer - die Zustände seines eigenen sprachlichen Seins und Bewußtseins. Strauß benutzt hier den Rahmen des Theaters wie ein Forscher sein Mikroskop. Mit dem "Scheinwerfer über die Hecke" wird der Zuschauer wieder der Beobachter des Beobachters, der Text des Textes. Das Theater im Theater, in Shakespeares Original das Spiel der Handwerker, ist ein theatrales Mittel, die "ästhetische Grenze" aufzuheben und den Zuschauer als Bühnenfigur und die Bühnenfigur als Beobachter kenntlich zu machen. Die Zone der Auf-Klärung wird abgegrenzt durch einen "dunkelrote[n] geteilte[n] Vorhang" (P 9) auf der Bühne, es konstituiert sich eine Bühne auf der Bühne. So beobachtet der Zuschauer auf der Bühne Figuren, die Figuren auf einer Bühne auf der Bühne beobachten, die Zuschauer werden so zu Beobachtern zweiter Ordnung. Eine Figur "liegt am Boden, den Kopf in eine Landkarte gehüllt", sie sieht im Text nur die leitenden Begriffe, die Ordnung. Währenddessen sitzt eine andere Figur neben der ersten "auf einem Stuhl, blickt in den Park" (P 42): dort sieht sie die Unordnung, den erweiterten Text. Dieses Gegeneinander, aber nicht dialektisch abschließbare "Groß und klein" ist auf der Bühne von "Der Park" als Interaktion, aber auch als Differenz von Chaos und Ordnung zu beobachten. Es spiegelt sich in der Gleichzeitigkeit von Natürlichkeit und Ordnung im Park und im Auftritt der Figuren Erstling und Höfling. Diese überlagert sich mit dem Treiben der Signifikanten: der fixierenden Haltung der Sprache wird ein Begehren eingegeben, das die 34
Aurelius Augustinus: Bekenntnisse, München 1982, S. 312/318.
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jeweils eingenommene Perspektive zum Befriedigenderen zu überwinden sucht, der Sammlung folgt immer die Auflösung und dieser wieder die Sammlung usw. Eine Spannung auf der Bühne besteht auch zwischen der Helle des Zirkus der Aufklärung als im Moment geordnete Welt und der komplexen Welt der Sprache, des verdreckten Textes des Parks als Reservoir, aus dem die jeweils als geordnet wahrgenommenen, aber nie stabil bleibenden Abstraktionen stammen. In Shakespaeres Original ist der Wald noch ein Ort außerhalb der Reichweite der Gesetze Athens, aber unter der Herrschaft der Feen und Kobolde. Ein Ort auch des anderen der Vernunft. Nun ist dieser Wald als der "Wald der Fiktionen" (Eco) der zur Verfügung stehende Text, ein von Heideggers Standpunkt aus gesehen armer Text, keine reine Dichtung mehr.
2.3.2. Der Mythos als Trugbild oder Zeichen und der Formen Wechsel in der linearen Zeit Die Kritik an Strauß, daß in "Der Park" zuviel oder überhaupt Götter und Mythen erscheinen und thematisiert werden, kann Peter Stein nicht verstehen: Ja, aber ich muß doch sagen, ich halte das für das Logischste, was geschieht. Ich meine, wenn man die Götter von der Bühne aussperrt, dann versperrt man die Möglichkeit von Theater überhaupt. Wenn man den Tod von der Bühne verbannt, ob er nun auftritt als leibhaftiger Uhu oder als Frau oder w e i ß der Teufel was, dann würde man das Theater völlig verarmen und kaputtmachen. Ich meine, selbst so ein maulheldiger Besserwisser wie der Brecht ist j a auch ohne Götter nicht ausgekommen. Und weil er eben irgendwie ein bißchen was vom Theater verstanden hat, ich meine v o m Theater als Knalleffekt, finde ich das alles andere als absonderlich oder schwer für das Publikum verkraftbar. [...] ich weiß nicht genau, was die Leute daran plötzlich stört. 35
Die Götter sind in "Der Park" aber nicht nur als Theatereffekte zu verstehen, sondern verweisen auf tiefere Schichten der Sprache im Sinne von L6vi-Strauss, als dem Normal-Diskurs immer unterschobene, teils unbewußte Strukturen. Die zweite Szene im vierten Akt hat den Titel "Troja". Das Paar, das den Text als gleiches Blickfeld hat, wird zusammengehalten durch die gleichen Ausformungen aus einem uralten Text, ohne sich dessen immer bewußt zu sein: Helma: [...] Immerhin ist man nicht ganz umsonst auf der Welt. Was wird, wenn die einst nichts mehr senden?! Aus Troja unten, aus tieferer Schicht, käm hier kein Ton mehr zu uns rauf... ! Ich könnt ihn ganz bestimmt nicht halten. Ich allein besäße nicht die Kraft. [...] Wir sitzen doch überall wie die Krähen nebeneinander und teilen das gleiche Blickfeld. Ein Vis-ä-vis wäre das Ende. (P 89f.)
Ihr Mann liebt sein Vaterland als Mediendiskurs, als "Gemisch von Akkordeonmusik und Politikerreden". (P 89) Der Bühnenboden wird zum Heimatboden, der bei Strauß aus Text besteht, "Wolf drückt ein Ohr an den Asphalt". (P 89) Der Zusammenhalt ergibt sich aus den Strukturen, ein wirkliches "Sehen" des anderen wäre eine Katastrophe. In diesem Zustand des sehenden Nicht-Sehens zeigen sich die Götter auf der Bühne des "Park" einmal als unbewußte Strukturen, die die menschliche Ordnung bestimmen. Des weiteren als Reales, Ganzes hinter den Strukturen, 35
Stein: Spökenkieker, von einer Furie gejagt, a.a.O., S. 49.
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das sich nur indirekt zeigen kann durch die Bewegung der Signifikantenkette. Eine Archäologie im "Park" der Zeichen, die Strauß hier versucht, ist also eine Spurensuche nach dem ganz anderen im großen Archiv. "Der Park" spielt exemplarisch durch, was passiert, wenn die Spur der Götter im Text aufscheint, wenn sich die Götter in dem Text zeigen, den sie selbst initiiert haben. Wenn die Götter außerhalb der Zeit und des Raums stehen, dann kann der Kontakt mit ihnen eine andere Zeit, ein anderes Alter bewirken und die Formen und die Masken wechseln, eine neue Sammlung ergibt sich in der Auflösung. Im Park ereignet sich dann auch ein Ritus, wenn die Überzeitlichkeit und -örtlichkeit des Mythos einen Einbruch bewirkt in der linearen Zeit und im koordinierten Raum. Wenn das Göttliche auf sich selbst als Text im Text trifft und seine Einheit behält, zerstört es den Text des menschlichen anderen, der sich als "Ich" stabilisiert hat. Wenn es in der Begegnung nicht die Identität des Individuums zerstören will, muß es in den fragmentierten Text eingehen und zerstört seine göttliche Einheit. Im Shakespeareschen Original ist es die dichterische Fiktion, die "benennt / Das luft'ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz". Wenn sich das Göttliche in der Zeit zeigt, dann kann der Zerreißung entgangen werden, indem der Dichter den entstehenden Text als Kunstwerk anlegt, es als Geheimnis nicht offenlegt und damit gegen eine Kultur der zuschließenden Interpretation opponiert. So stellt der Dichter die Formausprägung in der Zeit her, die unbewußten Schichten in der Sprache bilden immer wieder neue Masken. Nun kommt es auf die Qualität der Formen an. Wenn diese zu eindeutig werden, dann ist das Göttliche in den Kunstwerken verschwunden. Der Mythos, in dem sich das Göttliche zeigt, wird so eindeutig, daß aus den Spuren des Göttlichen ein "Mythos des Alltags" (Barthes) wird. Unter den Formen ist das ursprüngliche religiöse Erlebnis verschwunden. In welcher Maske sich das Göttliche zeigt, ist also nicht so wichtig. Relevant ist, ob die Maske auf das Göttliche verweist. "Der Park" behauptet also eine Kontinuität durch die Geschichte hinter den Masken. Der andere als der Fremde übernimmt für Strauß Formen, die schon seit dem Ursprung bestehen. So wird in "Der Park" die Homersche Helena, um die in der Antike noch Kriege geführt wurden, zu Helen, die nach einem "Mißgriff' nicht einmal mehr als Zirkusattraktion arbeiten kann. Daß sich insgesamt zeitdiagnostisch die Perspektive vom Diachronen zum Synchronen verlagert, zeigt der Wandel des ehemaligen Geschichtslehrers zum Fahrlehrer. Als der Fahrlehrer sich nicht mehr erinnern kann, ist es aus mit der Beziehung zur Frau, die ja auch aus alten Formen schöpft. Strauß schreibt über das Fahren auf den Bahnen der Gegenwart: Die Großen Maschinen unseres Jahrhunderts: das Auto, das Fernsehen, die Datenverarbeitung haben zuallererst etwas dem Menschen Benehmendes (wie es Ernst Jünger schon sehr früh am Blick des Autofahrers beobachtet hat) - die Benommenheit im Antlitz des totalen Konsumenten, die Benommenheit im Antlitz des nicht mehr fantasierenden, nicht mehr sich erinnernden Fernsehzuschauers angesichts des ungeheuerlichen Archivs von ubiquitärer Gegenwart, abgesichts des wahren Terminals des kulturellen Gedächtnisses: der Endstation der sinnlichen Wahrnehmung. (PP 195)
In diese absoluten Gegenwart bricht in "Der Park" das Göttliche ein. Damit bricht es quasi in sich selbst ein. Es spiegelt sich im Blick des Menschen auf sich selbst. So wie das Theater dem Menschen einen Blick auf sich selbst gestattet, so ist der 126
m e n s c h l i c h e Text, auf sich selbst b e z o g e n , ein Theater für die Götter, das d e n Weltinnenraum markiert. Pierre K l o s s o w s k i schreibt dazu: Die Gottheit in zwölf Personen gibt sich selbst ein ständiges Schauspiel: ihr 'Leben' besteht also darin, sich in ihrer grenzenlosen Freiheit und in ihrem unerschöpflichen Reichtum an ihren verschiedenen Theophanien zu ergötzen. Kein Wunder, daß die Götter selbst das Theaterspiel bei den Menschen eingeführt haben. Die verschiedenen Modifikationen des göttlichen Gedankens, die nur reines Spiel an sich sind, ohne jeden Nutzen, es sei denn der Verbrauch von Energie in ständig neuen Formen, ohne einen anderen Zweck als den, sich von jeder Unterwerfung unter einen Zweck, j a sogar von einer Unterwerfung der Gottheit unter die Gottheit freizuhalten, preisen den Sterblichen, der aus seiner Sphäre der Knechtschaft heraustritt, sobald bei der Begegnung mit dem Menschen diese Modifikationen und Spiele für ihn, den Menschen ein Ereignis darstellen, von dem aus sich sein bis dahin einer gestaltlosen Notwendigkeit unterworfenes Leben auf die Höhe der Sage von solchen Spielen erhebt: dergestalt haben die Götter die Menschen gelehrt, sich selbst im Schauspiel zu betrachten, so wie die Götter sich selbst in der Einbildungskraft der Menschen betrachten. 36 K l o s s o w s k i spielt die U n m ö g l i c h k e i t und Paradoxien einer Theophanie d e s e i n heitlichen Göttlichen in der zeichenhaften W e l t als Gedankenspiel durch am B e i spiel des M y t h o s v o n Diana und Aktaion: Gewiß denkt die unsichtbare Diana, die Aktaion betrachtet, wie er dabei ist, sie sich vorzustellen, an ihren eigenen Körper; aber diesen Körper, in dem sie sich selbst erscheinen wird, entlehnt sie der Einbildungskraft des Aktaion. Diana hätte eine andere sichtbare Form - Hindin oder Bärin - wählen können, oder, insofern sie Wert darauf legte, ihr eigenes Prinzip zur Erscheinung zu bringen, eine Form, die Aktaion in Schrecken versetzt und ihn von ihr ferngehalten hätte. Aber ganz im Gegenteil: sie, die als Göttin anbetungswürdig ist, will es nun auch als Frau sein, in einem Körper, der auf den ersten Blick einen sterblichen Mann um Sinn und Verstand bringt. 37 In "Der Park" gelingt das um den Sinn und Verstand Bringen nicht mehr in einer Gesellschaft, die schwere Probleme mit ihrem Sinn und Verstand hat. Im B e w u ß t sein des e i n z e l n e n erscheinen Titania und Oberon als Exhibitionisten, als das O b s z ö n e , als das sich auch D i o n y s o s als K a l l d e w e y nur z e i g e n kann. Ä h n l i c h der modernen B e d e u t u n g s z u w e i s u n g an den M y t h o s als das zu negierende andere der Vernunft wird das Göttliche nur noch als das Verdrängte, N e g a t i v e z u g e l a s s e n . Dieser m o d e r n e Blick, so w i e er in "Der Park" als problematischer entlarvt wird, ist, w i e Foucault in e i n e m A u f s a t z über K l o s s o w s k i zeigt, als Sicht auf den M y t h o s als Z e i c h e n auch ein falscher: Für die Linguisten besitzt das Zeichen seinen Sinn einzig durch das Spiel und die Souveränität aller anderen Zeichen. Es hat keine autonome, naturgegebene oder unmittelbare Beziehung zu dem, was es bezeichnet. Seine Gültigkeit beruht nicht allein auf seinem Kontext, sondern auf der ganzen möglichen Breite, die sich wie eine Punktarbeit auf derselben Ebene wie das Zeichen entfaltet: durch diese Gesamtheit aller Signifikanten, die die Sprache in einem gegebenen Augenblick festlegen, ist das Zeichen gezwungen, das zu sagen, was es meint. Auf religiösem Gebiet findet man häufig ein ganz anders strukturiertes Zeichen; es sagt, was es sagt, auf Grund einer tiefen Zugehörigkeit zum Ursprung, auf Grund einer Konsekration. Es gibt keinen Baum in der Heiligen Schrift, nicht eine grüne oder verwelkte Pflanze, die nicht auf den Kreuzesstamm verweisen - auf dieses Holz des ersten Baumes, an dessen Fuß Adam der Versuchung erlag. Eine solche Gestalt
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Pierre Klossowski: Das Bad der Diana, Berlin 1982, S. 32. Klossowski: Das Bad der Diana, a.a.O., S. 31.
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fUhrt durch bewegliche Formen in die Tiefe, und das verleiht ihr jene doppelte und seltsame Eigenschaft, keinen Sinn zu zeigen, sondern in einer Beziehung zu stehen zu einem Modell (zu einem einfachen, dessen Verdoppelung es wäre, das es aber wieder in sich aufnähme wie seine Brechung und seine vorübergehende Abspaltung) und an die Geschichte einer Kundgebung gebunden zu sein, die niemals abgeschlossen ist; in dieser Geschichte kann das Zeichen stets auf eine neue Episode bezogen werden, in der ein noch einfacheres Einfaches, ein noch früheres (aber in der Offenbarung späteres) Modell erscheinen wird, um ihm, dem Zeichen, einen ganz entgegengesetzten Sinn zu verleihen: so ist der Baum des Sündenfalls eines Tages zu dem geworden, was er immer schon gewesen ist, zu dem Baum der Versöhnung. Ein solches Zeichen ist gleichzeitig prophetisch und ironisch: gänzlich abhängig von einer Zukunft, die es im voraus wiederholt und die ihrerseits es im Lichte der Geschichte wiederholen wird; es sagt bald dies, bald jenes, oder vielmehr, es sagte bereits, ohne das man es hätte wissen können, bald dies, bald jenes. Es ist seinem Wesen nach Trugbild - da es alles gleichzeitig sagt und fortwährend etwas anderes vortäuscht, als es sagt. Es bietet ein Bild, das von einer stets zurückweichenden Wahrheit abhängt - Fabula; es bindet in seine Form, gleichsam wie in ein Rätsel, die Verkörperungen des Lichtes, das ihm zuteil wird, zusammen - Fatum . Fabula und Fatum verweisen beide auf die erste Verlautbarung, von der sie stammen, auf jene Wurzel, die die Lateiner als Wort auffassen und in der die Griechen überdies die Essenz ftir die Sichtbarkeit des Lichts sehen. Zweifellos muß man eine strenge Trennung zwischen Zeichen und Trugbildern vornehmen. Sie hängen nicht von derselben Erfahrung ab, auch wenn es zuweilen vorkommt, daß sie sich überlagern. Denn das Trugbild legt keinen Sinn fest; es gehört zur Ordnung des Scheinens in der Entfaltung der Zeit: Verherrlichung des Mittags und Ewige Wiederkehr. Vielleicht kannte die griechische Religion nur Trugbilder. Die Sophisten und dann später die Stoiker und die Epikureer wollten diese Trugbilder wie Zeichen lesen, eine späte Lesart, bei der die griechischen Götter verschwunden sind. Die christliche Exegese, deren Heimat Alexandrien ist, hat etwas von dieser Interpretation übernommen. 38 Strauß schließt sich in "Der Park" der Deutung Foucaults an. D i e Erfahrung und die Erzählung, die eigentlich zusammengedacht werden müssen, verlieren durch die Interpretation der Erzählung als Zeichen ihren Kontakt zur Erfahrung. Denn die Erfahrung des Göttlichen und jedes anderen ist nur erzählbar, wenn die Erzählung keine Eindeutigkeit behauptet, sondern Luft läßt für die Ganzheit, auch die Fremdheit.
2.3.3. Der "Tod des Autors" durch den Verlust des göttlichen Ursprungs
'Wer', sprach Cyprian, 'wer vermag dir darin zu widersprechen. Doch bleibt es ein gewagtes Unternehmen, das durchaus Phantastische ins gewöhnliche Leben hineinzuspielen und ernsthaften Leuten, Obergerichtsräten, Archivarien und Studenten tolle Zauberkappen überzuwerfen, daß sie wie fabelhafte Spukgeister am hellen lichten Tag durch die lebhaftesten Straßen der bekannten Städte schleichen und man irre werden kann an jedem ehrlichen Nachbarn. (E.T.A. Hoffmann, Die Serapionsbrüder) Der Cyprian aus E.T.A. Hoffmanns "Die Serapions-Brüder" diskutiert die Grenze des Normalen zum Phantastischen, die für den Cyprian aus "Der Park" zum Pro38
Michel Foucault: Die Prosa Aktaions, in: Sprachen des Körpers, Berlin 1979, S. 25-38, hier: S. 30f.
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blem wird. Sie wird zur Gretchenfrage. An der Stelle der Schöpfung und Kopie eines Kunstwerks, eines dichterischen Textes entscheidet sich für Strauß das Heil oder Unheil, das derselbe Text verursacht. Die Figur des Cyprians ist als Künstler sowohl Dichter, als auch Techniker. Unter Dichter versteht Strauß auch den Kirchenvater Cyprian, der vor der Zeit von Augustinus und Gregor dem Großen die theologische Autorität der Kirche ist. Sein Diktum "Außerhalb der Kirche kein Heil" fuhrt zu einer für die Konsolidierung der Kirche notwendigen Dogmatik. Strauß zitiert mit der Figur des Cyprian in "Der Park" die Zeit, in der der Mythos die direkte Anbindung an das ursprüngliche religiöse Empfinden verliert und die Dogmatik im Frühchristentum wichtiger wird. Der Kirchenvater begründet damit als Dichter eine Tradition mit, die der richtigen Auslegung der Zeichen verpflichtet ist und in der Geschichte der Neuzeit als ausschließende Geste wirkt. Zudem verweist die Figur Cyprian auf den Erfinder und Vorfahren der heutigen Techniker Daidalos, wenn er Titania - im ursprünglichen Mythos Pasiphae - ihre Vorrichtung zur Täuschung des Stiers baut. Als Hersteller von Text ist er am Ursprung auch Hersteller von Technik, das Wort Text ist etymologisch mit "Technik" über das griechische "tichne" verwandt. Als Künstler benutzt Cyprian die Mittel des Parks, ist in der Gegenwart als Kopist tätig, jede seiner Ausprägungen wandelt als Maske einer Figur durch den Park. Ernst Jünger schreibt über den Dichter als Verbindungsglied zum Mythos als den Text, der die Spuren des Göttlichen trägt: Die Mythenwelt und Mythenerde ist stets vorhanden; sie gleicht dem Überflusse, den die Götter uns verbergen - wir wandeln als Bettler inmitten eines Reichtums, der unerschöpflich ist. Doch münzen die Dichter für uns aus. 39
Und dieses Verbindungsglied versagt: Oberon: Cyprian! Was hast du angestellt? Wer hieß dich denn, das ganz geheime Mittel an mündigen Menschen zu erproben und es in alle Welt hinauszustreuen? Für einen einzigen Auftrag lieh ich dir die auserwählte Gabe und tat dir ein Geheimnis kund; du hast es unerlaubt benutzt und münzt Naturgeist um in Massenware. (P 81)
Das Ausmünzen, das Verhärten des Trugbildes in für jeden verständliche und jeden ordnende Zeichen, der Versuch, das Augustinische Jenseits im Diesseits zu verwirklichen, muß scheitern. Cyprian, der Künstler, der zum ordnenden Techniker geworden ist, entschuldigt sich mit den Zwängen, denen er in der Gesellschaft unterliegt: Ich dien dir gern, mein Herr, doch nicht nur dir. Jetzt bin ich auch ein Untertan der Menge. Da fand ich einen neuen Herrn, nach dem ich mich bequemen muß. (P 83)
Das Verlangen der Götter, in die Sphäre der rationalen Welt zu gelangen, ist aber in "Der Park" ebenfalls eine Ursache der Profanisierung. Als Grund für das Bemühen der männlichen Götter wird Ruhmsucht genannt: Titania: Du! Du willst nur Ruhm, Altare von den Menschen. Sperrst mich in dieses Gerippe ein und läßt mich leiden. Ich will nach Haus. Ich will in meine freien Flure zurück. (P19)
39
Ernst Jünger: Strahlungen I, München 1988, S. 357.
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In das "Gerippe" der Wörter der männlichen symbolischen Ordnung eingezwängt, bleibt Titania gar nichts anderes übrig, als ihr Begehren als Obszönität in den Signifikanten auszuleben, Oberon ermahnt sie zwar, sie solle nur "erscheinen können, nicht [sich] untermischen", (P 20) da die Schrift aber eindeutig die des männlichen Gottes ist, der seine Macht bewahren will - "[Z]erstörst das Bild und spaltest unseren Glanz, worin allein sich unsere Macht bewahrt" (P 20) - fühlt sich Titania gespalten in der Differenzierung einer begrifflichen aggressiven Ordnung: "Ich will nach Haus ... Wo sich alles löst und wir verständigt sind." (P 20) Die symbolische Ordnung, in der sich die Götter zeigen, die in ihrer "Menschlichkeit" an die Homerschen erinnern, zwingt jede Einheit in die Zerstückelung und Cyprian kann gar nicht anders, als sich als Künstler an die Welt anzupassen. Als Dichter, der später als Kopist auch Exeget ist, macht er nur noch kleine, funktionelle Formen, nicht mehr die großen Figuren, in denen auch der Gegensatz Platz hat. Diese Wandlung vom Dichter zum Hersteller von eindeutigem Text macht aus Titania einen feststehenden Götzen. Als eindeutiger Text wirkt Titania dann sofort auf die Spiegelung der Individuen in sich selbst, auf ihre Identität. Folglich kann Helen ihre dunklen Seiten nur als obszönen Text leben, mit ihren dunklen Seiten geht sie in den Text des Rassismus ein. Die kleinen Kunstwerke Cyprians, die nur noch eindeutige Kunstwerke - nicht welche, die sich öffnen und schließen - sind, also nicht wie ein reicher Text unzählige Interpretationen zulassen, stellen das Seiende vor das Sein. Titania wird von einer Kunst, die Technik ist, fixiert. Sie wird zum alten Schriftgut, das nicht mehr lebt, zu einem Mythos aus alter Zeit. Die Kunstwerke, einst göttliche Texte, erstellt von einem dem Göttlichen nahen Dichter, sind nicht mehr geeignet, positiv zu wirken, der Dichter nähert sich der Schrift, dem schwarzen Jungen nur mit Hilfe von Gewalt, nicht mehr als Liebender. Das Heilige wird dadurch zum Obszönen. Im "Park" werden die Folgen augenscheinlich. Cyprian, der von Oberon entlassen wurde und dessen Werke alle entmachtet wurden (P 83), erweist sich endgültig als zahlengläubiger und durch Aus- und Absondern ordnender Techniker, er "hat Meterband und Schere bei sich und mißt und korrigiert alles, was ihm in die Quere kommt." (P 85) Der Dichter nimmt den Text nun gewaltsam in seinen profanen Dienst und provoziert damit das Unheil, den "Tod des Autors". Die Schrift erschlägt den Künstler, der sie mit Obszönitäten zwingen will, Obszönes zu tun. Als Folge wird Helen endgültig in die nun "tote", vom Ursprung entfernte Schrift eingeschlossen. Der rechte[!] Raum, der Raum der Schrift (der linke Raum ist auf der Bühne des "Parks" der des "Zirkus" der Aufklärung) zeigt Helen, die ohne den Halt des anderen in der erkalteten Schrift, in der sie als ganzheitlich Denkende ebenfalls keinen Standort und Halt mehr einnehmen kann, dem "Tod" entgegentreibt. Der Name des "schwarzen Jungen", "Norman", bedeutet das Norm-Man, das genormte "Man" (Heidegger). Mit diesem Mord am Ursprung, am lebendigen Dichter zitiert Strauß in "Der Park" den Blanchotschen Gedanken der Unberührbarkeit eines materialisierten Sprechens im Gesprochenwerden in der verhärteten Form des Blanchotschen "Ich bin tot". Die Welt als Text ohne Prä-Text, als scheinbar progressive Rückführung des einstmals sinnstiftenden und auf einen Sinn deutenden Textes auf die sinnentleerende Materialität der Wörter und Zeichen im Sinne Mallarmis und Nietzsches, schleudert die Figuren im Park - ganz besonders Helen - in den Satelliten des "toten", vom Leben abgetrennten Wortes. Oberon kommentiert diesen Vorgang: "Das hab ich nicht gewollt, mein Cyprian. [...] Das
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Spiel, das ich ersann, hat meine eigene Entartung vorgesehen. Der Streit ist aus, Titania: die Liebe hat verloren! Sieh zu, daß du der Zeit entkommst, bevor ihr langer Arm dich packt." (P 94) Die Augustinische Jenseitserwartung, die in der linearen Zeit ins Diesseits gezwungen wurde, erfüllt sich nicht im Sinne von Hegel, sondern persistiert in der nietzscheanischen und Batailleschen Grenzerfahrung, die nichts dialektisch aufhebt. Der Künstler wird durch den Verlust der Anbindung an das Göttliche zum reinen Kopisten, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nur noch als Durchgangsstation für die Materialität der Schrift dient.
2.3.4. Die Säkularisierung der Heiligen Texte in der Neuzeit Augustinus schreibt in seinen "Bekenntnissen": 'Siehe, du hast Lust zur Wahrheit, denn wer sie tut, kommt ans Licht.' Ich will sie tun, in meinem Herzen, indem ich vor dir mein Bekenntnis ablege, aber auch mit meinem Griffel vor vielen Zeugen.
Das geschriebene Wort geht in die nun lineare Geschichte ein und erlangt spätestens in der Neuzeit als Säkularisat ein Eigenleben. Zum Problem, daß in der Neuzeit die Schrift unfähig wird, religiöses Erleben adäquat wiederzugeben, wenn sie ihre Erinnerung an den Ursprung verliert und das Göttliche als gerade Abwesendes zeigt, schreibt Pierre Klossowski: "Und wird nicht der Hellsichtigste ihrer Schüler, der Frömmste und Kenntnisreichste [die Göttin] am schlimmsten profanieren?" 4 " Denn die Schrift bietet sich, wenn man sie nur als Zeichen betrachtet, zur Profanierung geradezu an, um mit ihrer Hilfe die "Entzauberung" der Gesellschaft voranzutreiben. Pierre Teilhard de Chardin schreibt zu der Folge dieser "Entzauberung", der Mechanisierung der Gesellschaft: Die Liebe in allen ihren Schattierungen ist nichts Anderes und nichts Geringeres als die mehr oder minder direkte Spur, die das Universum in seiner psychischen Konvergenz zu sich selbst in das Herz des Elementes einprägt. Irre ich mich oder ist dies nicht der Lichtstrahl, der uns helfen kann, klarer zu sehen? Mit Schmerz und Sorge stellen wir fest, daß die modernen Versuche, menschliche Kollektivitäten zu schaffen, entgegen aller theoretischen Voraussicht und allen unseren Erwartungen, nur zur Erniedrigung und Knechtung der Gewissen führten. - Doch welchen Weg haben wir bisher gewählt, um uns zu einigen? Die Verteidigung einer materiellen Situation. Die Erschließung neuer Industriezweige. Bessere Bedingungen für eine soziale Klasse oder benachteiligte Nationen ... Nur auf diesen Gebieten - von mittelmäßigem Interesse - haben wir bisher eine Annäherung versucht. Ist es verwunderlich, daß wir nach Art der Tiergesellschaften der Mechanisierung verfallen sind, gerade indem wir uns vergesellschaftet haben.41
Die Vergesellschaftung auch mit Hilfe einer säkularisierten Schrift führt in die kulturellen Situation, die Foucault die alexandrinische nennt: In der großen Wende, die wir heute erleben und in der wir versuchen, das ganze Alexandrinertum unserer Kultur zu umgehen, ist Klossowski derjenige, der auf dem Boden der christlichen Erfahrung das Ansehen und die tiefere Bedeutung des Trugbildes Uber alle
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Klossowski: Das Bad der Diana, a.a.O., S. 31. Pierre Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, München 1981, S. 34. 131
gestrigen Spiele hinaus wiederentdeckt hat: die mit dem Sinn und dem Unsinn, mit dem Signifikanten und dem Signifikat, mit dem Symbol und dem Zeichen. 42
Das "Dogma", im antiken Griechenland das gut Scheinende, die Meinung, der rein weltliche Beschluß, ist nicht ein rein Wahres in Bezug auf die griechische Religion. Glauben darf im antiken Griechenland grundsätzlich jeder wie er und was er will (Ausnahmen von dieser Regel gibt es natürlich, siehe den Asebie-Prozeß gegen Sokrates). Später wird das Dogma zur Wahrheit. Und mit der Aufklärung zum säkularisierten Text, der ausschließt. So bleibt nur noch das kalte Spiel von momenthafter Wahrheit und Ausschluß, von groß und klein, von Sammlung und Auflösung, von Erstling und Höfling. Diese einzig noch mögliche Bewegung von Text im Bewußtsein, das Halten und Fortbewegen spielen Erstling zu Höfling im Park bis über das bittere Ende ohne Ende hinaus: "Erstling: [...] Ich habe dich mit einem mir teuren Etui verglichen, das sich nicht schließen läßt und mit dem man sich als mit einem unergründlichen Gegenstand nicht müde wird zu beschäftigen." (P 110) Erstling treibt den Signifikanten zu einem neuen Signifikat. Er "vergleicht" neu: Höfling: Du besitzt ein untrügliches Geschick, gewisse haarstreubende Vergleiche im nachhinein zu deinen Gunsten zu fälschen. Nur weil ich der Schwächere von uns beiden bin und dies nur deshalb, weil ich aufgrund meiner NaturgUte stärker an dir als du an mir hängst - hänge, äh, und deshalb glaubst du, du könntest mich behandeln wie ein Etui, das immer klein beigibt, und behauptest hinterher, du hättest mich ganz im Gegenteil als einen ebenso unergründlichen wie nicht zuklappbaren Gegenstand bezeichnet. Dies ist die Unwahrheit. Aber bitte sehr, du bist der Mächtigere. Du kannst die Geschichte fälschen. Du kannst auch die Geschichte unserer Freundschaft fälschen, so daß am Ende ein Esel dabei herauskommt, der hinter seinem Karren herläuft ... (Ρ 1 lOf.)
So löst in diesem Beckettschen Endspiel eine Interpretation die nächste ab, die Schrift "Norman", das genormte "Man" (Heidegger) hat längst mit Erstling und Höfling als spielendes Zentrum die Macht übernommen. Das Schicksal des Künstlers Cyprian in "Der Park" symbolisiert die in der Geschichte sich vollziehende Säkularisierung der Heiligen Texte. Am Anfang der christlichen Lehre formuliert der Kirchenvater Cyprian die theoretischen Grundlagen des Kirchenverständnisses: er erreicht eine eindeutige Trennung der Häresie von der Großkirche, die Richtigkeit der Lehre wird nun sehr ernst genommen. Diese Operation ist notwendig, damit sich die Kirche überhaupt durchsetzten kann. Erkauft wird dies durch die Eliminierung der Freiheit des Zugangs zum Göttlichen, die zugelassene Schrift ist nun das Zentrum. Das Problem ergibt sich dann mit der zeitlich zunehmenden Entfernung vom Ursprung, die Interpretation als Zeichen ergibt Widersprüche. Was ist die richtige Interpretation der Welt? Wenn Oberon in "Der Park" konstatiert: "Die Liebe hat verloren!/Sieh zu, daß du der Zeit entkommst,/ bevor ihr langer Arm dich packt", (P 94) dann meint er damit, daß die Heiligen Texte nun als Grundlage des Textes der abendländischen Welt ohne die Erfahrung des Ursprungs in das Gegenteil umschlagen in Bezug auf ihre ursprüngliche Intention. Die lineare Zeit begrüßt gegenüber der mythischen Zeit nicht die Verwandlung, sondern die Entwicklung, und mit Hegel eine Zuspitzung: das Ziel ist klar und eindeutig. Damit wird Totalitarismus, welcher Art er auch sein mag, 42
Foucault: Die Prosa Aktaions, a.a.O., S. 31.
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möglich. Heideggers Zitat "Nur ein Gott kann uns retten" konvergiert mit der Traurigkeit des Fabel-Sohns als des Textes, der die Göttin in der Welt erscheinen läßt. Er hat in der Neuzeit jede Kraft verloren, jeden Eros. Die fünf Gäste als die f ü n f Weltreligionen reichen nicht aus, um das Fest zu gestalten, das notwendig ist, damit sich der Text wieder mit seinem Ursprung verbindet.
2.3.5. Ich und der andere - die Dramaturgie der Aufspaltung Duo cum faciunt idem, non est idem. (lateinisches Sprichwort nach einem Vers des Terenz) Für Sigmund Freud ist jede sexuelle Beziehung zwischen Frau und Mann ein Vorgang zwischen vier Individuen. In Shakespeares "Sommernachtstraum" und Strauß' "Park" ereignen sich fundamentale Täuschungen der von Freud angenommenen Art. Shakespeares Talent der Verschränkung der verschiedenen Welten des Dramas zitiert und radikalisiert Strauß in seiner Dramaturgie der Aufspaltung. Diese zeigt sich auch in dem nur vorgeblichen Zusammenhang der Kommunikation zwischen den Paaren. Wenn die vierte Szene des ersten Aktes (P 23ff.) übertitelt ist mit "Es stimmt", obwohl die sieben Begegnungen die Dreierbeziehung zwischen Helen, Georg und Wolf nur in der Verkennung zeigen, dann kann es sich hier nur um momentane "Stimmungen" im Sinne von Abstimmung, Anpassung handeln, nicht um Wahrheit im engeren Sinn. Mit dem jeweils anderen Gegenüber spricht jeder anders, die Formausprägungen in der Zeit schieben sich bei Strauß ineinander, der Traum der Posthistoire macht dies möglich. Hier zeigt sich in der Multiperspektivität, radikalisiert in der Nachmoderne, das Problem der unhintergehbaren Verkennung. Der Adomosche Verblendungszusammenhang, das Freudsche und Lacansche automatische Verkennen ist in "Der Park" das Resultat des Verlustes der ursprünglichen Erkenntnis der Einheit und Ganzheit des ganz anderen und anderen. In der Moderne bleibt nur die Materialität der Sprache, der Fabel-Sohn, der kein Fest mehr mit seiner Mutter, die ihn erschaffen hat, feiern kann. Denn die Göttin ist in "Der Park" mit Oberon in die Immanenz der Zeichen eingegangen. Damit ist sie wie die Menschen im Spiel des gegenseitigen Spiegeins gefangen. Das geht so weit, daß sich Titania vom Schrift-Setzer Cyprian ein Imaginäres bauen läßt, das beschrieben werden kann. Mit ihrem großen Begehren, eingezwängt in die Signifikantenkette, will sie als das Weiße beschrieben werden. Sie bietet sich als Projektionsfläche für den Stier an, um diesem als Spiegelbild zu dienen. Dieses Spiegelbild baut ihr der Künstler, er produziert den Text, der "Ich" als den anderen erscheinen läßt. Titanias Begegnung mit der Immanenz der Welt als Text endet in "Der Park" blutig. Denn eigentlich ist den Göttern der zu nahe Kontakt mit dem eindeutigen Text nicht zu empfehlen, sie werden verletzlich in der Zeit. Während im noch ursprünglichen Mythos die Begegnung mit dem Stier kein Problem ist, da er als Trugbild im Foucaultschen Sinne funktioniert und nichts bezeichnet, sondern "ist", kommt es bei dem Aufeinandertreffen zweier Mythensplitter, die ihren Ursprung verloren haben, in der Welt zum blutigen Zusammenstoß. Diese Unverträglichkeit ereignet sich ähnlich den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Welt, in der
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sich die Mythen nicht mehr an ihren gemeinsamen Ursprung als Ver-Wörterung des religiösen Erlebnisses erinnern und als Dogmatik und Ideologie unvereinbar werden. Die Schrift, die die Götter gestiftet haben, wird in der Welt dogmatisch und verhindert das Erkennen des anderen, die Interpretationen sind unendlich, ein Signifikant verweist auf den anderen, der Traum dauert an. Die Figuren Erstling und Höfling treiben als Sammlung und Auflösung in "Der Park" dieses moderne Spiel voran. Höfling ist ein arbeitsloser Architekt, dabei weist das Wort Architekt auf den Text, denn es beruht etymologisch auf griechisch "tökton". Er ist arbeitslos und kann den Text, das Haus der Sprache nicht stabilisieren. Das Göttliche, das selbst im menschlichen Spiegelbild in einem zeichenhaften Text zerrissen wird, treibt die Menschen in das Spiel der Interpretationen. Denn weder das ganz andere noch das andere als das Fremde ist jemals durch die Schrift darstellbar, der Versuch, es mit Wörtern zu fixieren, bleibt immer defizient. Die Zerstückelung der Identitäten hält das Spiel im Wald am Laufen. Wolf sorgt mit seiner bei Cyprian bestellten Figur "Das Grauen" (P 37), dem aufhellenden "Morgengrauen" (P 37), ftlr eine Sicht von Georg auf Helen, die vom Text der einsperrenden, reinen Vernunft geprägt ist. Das Spiel der "Liebe" im Zeitalter der die ganzheitliche Liebe ausschließenden Vernunft im Wald der Fiktionen kann beginnen. Georg "liebt" nicht mehr die dunkle Helen, sie ist ihm, als vernünftig Denkenden, unheimlich geworden. Ziel seines nun in den gesellschaftlichen Text eingebundenen Begehrens ist Helma, die zu einem fixierten Teil des unendlichen Textes, zu einem Baum im Park geworden ist. (P 72) Helen ist hingegen im Park nicht fixiert und geistert - für die Männer zu frei - als unbewußter Text durch die Signifikanten. Die Männer buhlen um die helle Helma, Helen, die Dunkle, will keiner haben. Während Georg bei Helen nur den nackten Körper, alles ohne Text sieht und bei ihr seiner Lust und seinem Gefühl allein folgt, sieht er Helma als Mischform von Text und Körper, von "Vernunft und Lustgefühl" (P 72), von Begehren im vernünftigen Text. An die dunkle Helen traut er sich nicht mehr heran: Helen: Mit mir, da hättest du etwas wagen müssen! Soviel Unbekanntes, soviel Einziges habe ich mir für dich aufgespart. Aber du bist schwach und willst mich nicht erkennen. Du wählst das Rinnsal, den Schlupfwinkel, das Abendbrot, das Armaturenbrett - . (P 74) Helen erinnert als Name und Form an die Homersche Helena, die ja immerhin einmal der Grund eines fürchterlichen Krieges gewesen war, deren Text aber vom analytischen modernen Wolf in den Be-Griff genommen wurde. Helma lockt die Männer mit dem säkularisierten Text, der das Individuum einsperrt, aber auch absichert, sie trägt als "Lockmittel" die Figur von Cyprian als "Schmuck", die sie eingemauert und leidend im fixierten Text zeigt und als analytisches Bild die aufklärende Reflexion fördert: Helma: Was tut nur dieser Schmuck mit mir? Wohl hab ich Zulauf plötzlich, doch mit ihm schwillt der Argwohn schmerzlich an und zwingt mich, jede Falschheit zu entdecken. So wahrheitskrank will ich nicht sein! Lieber täusch ich mich und laß mich täuschen. Ach nein. Dann krieg ich wiederum nicht alles mit... (P 75) Hier thematisiert Strauß das Paradox in der Aufklärung, daß die aufhellende Reflexion den Verblendungszusammenhang erst konstituiert. Georg sieht in Helma, im vernünftigen Text, nicht die Ganzheit, die er ja bei Helena verabscheut, sondern den fragmentierten Text der Nachmoderne. Er will nicht das Dunkel, den "Raben", 134
sondern die "Taube", das Helle: "Georg: Bist du nicht eine Taube, sanft und rund und liebestoll? Bei dir allein find ich das unerschöpfliche Vergnügen." (P 75) Denn er hat mit Helma als den unerschöpflichen Text genügend Projektionsfläche um ihren Körper herum, um dort unendlich durch die Signifikanten zu reisen. "Du weißt ja nicht, wie fürchterlich mein Verlangen dich schon zerstückelt hat. Nur abgeschnittene Teile seh ich innerlich, nur unerreichte Dinge: Brüste, Schenkel, Hüfte! Ab der Kopf und ab die Füße! Eine Killerbestie massakriert nicht wollüstiger als meine blinde Fantasie." (P 75) Denn er sieht im anderen, in Helma, nur sich selbst als fragmentierten Text. Helma ist nicht glücklich. Zwar hat sie aufgrund der Figur von Cyprian, der als "Puck" zwischen sie und die anderen den vernünftigen, fragmentierten Text schiebt, den Durchblick, ist vernünftig und leidet unter dem vernünftigen Blick auf die "wahre" Welt, aber sie möchte als Ganzes, nicht als (fragmentierter) Text geliebt werden: "Helma: Es steckt mehr in mir, weit mehr in mir als bloß dies Lärvchen." (P 78) Helen, die die Männer der Aufklärung auffordert, sich wieder daran zu erinnern, wie sie um sie als Helena einmal gekämpft haben, erntet damit radikale Ablehnung bei ihrem aufgeklärten Mann: "Ich bin als Mann und Mitmensch nicht verpflichtet, mein Leben an eine rechtsfanatische Person zu hängen. Du bist verrückt!" (P 80) Helen gibt sich geschlagen, die Stadt als Träger der Kultur will sie verlassen: "Ich habe mich mit keinem einzigen Gefühl entfernt von dir. Jetzt will ich meine Verrücktheit recht vorsichtig aus der Stadt hinaustragen und sie in dieses abgeschlossene Gefäß hier einsperren - damit ihr sicher seid vor ihr." (P 80) Als von der Vernunft Ausgeschlossene, als Figur, in der sich die ursprüngliche Ganzheit und Fremdheit jedes anderen nur als Ausbruch des Verdrängten im Obszönen, in der Fremdenfeindlichkeit zeigen kann, wird sie für die anderen, um sie aus der Sicht der anderen in den Be-Griff zu bekommen, in den "toten" Text eingehen, ein Rendezvous mit dem "Tod", der der reine Text ist, haben. Die Verkennung zwischen Helen und Georg beginnt mit dem ersten Kontakt zwischen beiden in der ersten Szene. Helen ist bereits abgestürzt, nachdem (Blaise) Pascal sie verfehlt hat. Mit dem blinden Vertrauen ist es bei Helen nun vorbei, sie verläßt sich auf das Sehen, das Mißtrauen und beginnt eine Normalbeziehung. Die Folge ist Helens Begegnung mit der reinen Materialität des Signifikanten, dem Tod als das Nichts, als Nihilismus, wie ihn Nietzsche als abgehobenes Treiben der Wörter ohne Metaphysik beschreibt. Dieses Ausgesetztsein des Menschen in das nackte Wort macht den Menschen zum "Platzhalter des Nichts" (Heidegger). Heideggers Einleitung in die Metaphysik ist das Entree in das Fragen der fundamentalen Frage: Wieso ist eigentlich Seiendes und nicht eher Nichts? Das Sein ist für Heidegger nicht das Nichts. Und deshalb besiegt Helen am Ende den "Tod", indem sie ihm seine Sicht nimmt, die Fixation im Sehen unterbricht. Vor dem Sieg Helens über die Verhärtung im Wort beobachten Georg und Wolf die im treibenden Text abgedriftete Helen mit dem "Feldstecher", (P 106) mit einem Apparat, der in das Feld der Zeichen sticht und es kurz fixiert. Helen ist "allein im Vorstadthaus. Sie erhebt sich vom Sofa. Auf dem Laken der schwarze Abdruck des Skeletts", (P 107) der "tote" Buchstaben zeichnet ihren Körper. Der Versuch Georgs, Helen und damit seine eigene Identität zu fassen, wird ein Kampf mit den toten Zeichen, mit der Figur des "Todes" in "Der Park". Georgs Identität, die sich mit Hilfe des anderen, Helen, konstituiert, die sich den erkalteten Buchstaben hingibt, hat nach dem
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Kampf "schwarze[.] Flecken im Gesicht" (P 107) und sitzt "auf dem Sandhaufen". (107) Der Kampf mit dem verhärteten Text, der ihn "mächtig zersaust" (P 107), also in seiner Identität zerrissen hat, hat Spuren hinterlassen auf seiner unbeweglichen Maske. Georg hat den sich bewegenden Text "gar nicht richtig zu fassen gekriegt". (P 107) Im Gegenteil. Da er selbst der Text des anderen ist, hat der verhärtete Text ihn zu fassen bekommen: "Georg: Kunststück! Wenn man jemanden zu fassen kriegt wie mich, dann kann man ihn auch umwerfen." (P 107) Wolf hat Georg gewarnt. Denn der Gegner, der sich bewegende Text, ist nicht auf Dauer fixierbar: "Wolf: Ich habe dich gewarnt. [...] Ich weiß, daß man sie nicht unterbrechen darf, solange der Kraftprotz mit ihr im Gange ist." (P 107f.) Der Anwalt Georg fühlt sich schuldig gegenüber Helen, er sieht, daß Wolf die Dinge als Analytiker "versteht", (P 108) aber auch, daß er selbst Helen, den anderen, als Fremden, als nicht zu begreifende Ganzheit hätte lieben sollen, nicht unter dem Einfluß seiner berufsdeformierten Sicht: "Wie juristisch, wie unwahr die Seele doch urteilen kann! Ich habe mich vergangen an diesem Menschen, Wolf." (P 108) Die Unterbrechung der Herrschaft der toten Signifikanten gelingt Helen, indem sie dem "Tod" ein "Tuch um die Augen bindet" (Ρ 111), das Sehen, die reine Theorie ist unterbunden und das Treiben stoppt. Georg kann zwischen "Stop" und "Go", zwischen Erstling und Höfling das Bewußtsein von Helen betreten. Natürlich ist der "tote" Buchstabe nicht endgültig besiegt, er wird am Ende im "Zirkus" am Trapez als "Mann in Schwarz" über die Szene schweben. (P 120)
2.3.6. Das Göttliche in der menschlichen Welt der Spiegelungen Mit Augustinus, Pascal und Heidegger thematisiert Strauß in "Der Park" die Anwesenheit und Absenz des Göttlichen und der Liebe als das Ganze in der Welt, das zu der weltlichen Ordnung der Gesellschaft in Opposition steht. In dem geordneten Natürlichen kann das ursprüngliche Begehren und Verlangen, symbolisiert durch die Feen und Kobolde im Wald der Fiktionen, nicht mehr ungeordnet erscheinen. Obwohl die Menschen abhängig von einer "alten unergründlichen Komödie" sind, eine Erinnerung aufgrund des die Teile des ursprünglichen Mythos tragenden Textes an eine ursprüngliche Ganzheit besitzen, können sie diese in einer symbolischen Ordnung, in einer geordneten Natur, einem Park nicht natürlich "befriedigen", sie bleiben sinnlich unerfüllt. Um der "Entartung" der einst das Ganze tragenden Schrift entgegenzuwirken, tritt in "Der Park" das Göttliche in die Immanenz der Zeichen ein. Doch mit der Auflösung in die Signifikantenkette verliert das Göttliche wie die Menschen seine Einheit. Vor seinem Eintritt in die diesseitige Welt ist die Erscheinung des Göttlichen nicht zu ertragen, da es nicht unter den BeGriff zu bekommen ist. Wenn es also im Park erscheint, dann nur unter der Maske des Textes. Wenn der Text ein vernünftiger ist, dann zeigt sich das Göttliche in der Maske des Ausgeschlossenen, als Obszönität, als Exhibitionist im Park. Der vernünftige Mensch will jedoch dieses verkehrte Spiegelbild seiner selbst, das an den ursprünglichen Mythos nur noch erinnert, als dessen Leerstelle fungiert, endgültig unter den Be-Griff bringen: Georg kann den Rassismus Helens nicht akzeptieren. An der Spiegelung der Welt in sich im Modus "Ich ist ein anderer" im Text ist
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primär das den Text schöpfende Göttliche beteiligt. Dazu tritt der Mensch, durch dessen Blick in die Welt sich der Text als Be-Deutung vor das Chaos schiebt. Und so wirkt das Göttliche in "Der Park" und das Menschliche verhält sich als Spiegelung synchron. Wenn das Göttliche in die Signifikantenkette eingeht, wird der Dichter als Kontaktstelle versagen und das Individuum Georg den anderen als den Fremden verkennen und die Obszönität Helens mit der klaren Vernunft unter den Be-Griff zu bekommen suchen. Georg handelt so wie alle Menschen im Park, die innerhalb der beschränkten Sicht einer vernünftigen Diskursordnung das Fremde ausschließen. So sehen sie nicht, daß das Negative, Obszöne, Gewalttätige gerade die Folge der Mittel ist, mit denen sie das Negative zu bekämpfen suchen. Wenn das Trugbild des Göttlichen gewaltsam als Zeichen begriffen wird, verliert das Göttliche aus der Sicht des Menschen endgültig seine Einheit. Und so wirft Oberon in "Der Park" seinem Dichter Cyprian vor, daß er den Geist, den er ihm gegeben hat, zu menschlich Beschränktem verwendet hat. Strauß rekurriert hier auf Augustinus, wenn er dem Dichter vorwirft, die diesseitige Erfüllung eines einst auf das Jenseits ausgerichteten Heilsversprechens erlangen zu wollen. Borges schreibt über den Ursprung der im "Park" thematisierten Verbindung von Buchstaben und Verheißung: "In der Antike gibt es etwas, das für uns schwer zu begreifen, das nicht mit unserem Buchkult in Einklang zu bringen ist. Immer wird das Buch als Ersatz für das gesprochene Wort angesehen, aber dann kommt aus dem Orient ein neuer Begriff, der der klassischen Antike völlig fremd war: der Begriff des heiligen Buchs". Gemeint ist "die 'Bibel' oder, genauer, die 'Thora' oder der 'Pentateuch'. Man meint, diese Bücher seien vom Heiligen Geist diktiert worden. Das ist eine merkwürdige Sache: die Zuweisung von Büchern verschiedener Autoren und Zeitalter an einen einzigen Geist; aber in der Bibel selbst heißt es, daß der Geist weht, wo er will. Die Hebräer kamen auf den Gedanken, verschiedene literarische Werke aus verschiedenen Epochen zusammenzufassen und aus ihnen ein einziges Buch zu machen, dessen Titel 'Thora' ist ('Bibel' auf Griechisch). All diese Bücher werden einem einzigen Autor zugeschrieben: dem Heiligen Geist."" Dieses Bild des "Heiligen Geistes" zeigt sich, über die "FormVerschiebung" bei Shakespeare und Strauß zum "Naturgeist" verwandelt, im Park. Der "Naturgeist" sieht seine Ohnmacht in der Welt der Zeichen, in der er nur noch als Obszönität erscheint und so greift Oberon zu einem letzten Mittel: er geht in den Text der Gesellschaft vollständig ein, kappt die Verbindung zu seiner Sphäre: "Nehm meine Macht, den Ruf und das Gehabe und lös den Stoff von meiner Wesenheit in ihrer Menschenatmosphäre auf. Vielleicht gelingt's und sie verbessern sich." (P 83) Damit tritt Oberon in seine eigene Schöpfung, in die ewigen Spiegelungen, die in der Moderne nicht mehr auf etwas ganz anderes verweisen. Weil der Text aber nur wieder auf den Text verweist, verliert Oberon seine Macht im Säkularisat, da die Immanenz der erkalteten Zeichen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kaum mehr vom Göttlichen spricht: "Oberon: Das Spiel, das ich ersann, hat meine eigene Entartung vorgesehen. Der Streit ist aus, Titania: die Liebe hat verloren! Sieh zu, daß du der Zeit entkommst, bevor ihr langer Arm dich packt. [...] Meine Macht, mein Ruf sind leer, mein Gesicht so flach und allgemein, wie eine Maske aus Papier, die ein vergnügtes Kind verwarf, und treibt im Staub, wohin der Wind sie will." (P 94) Titania fühlt sich 43
Borges: Das Buch, in: Die letzte Reise des Odysseus, a.a.O., S. 13-22, hier S. 16. 137
bereits von vornherein sehr unwohl in der Haut der symbolischen Ordnung, sie erscheint nur noch als perverse Verkehrung des Eros in der Welt der Zeichen. So findet sie sich gefesselt im "Netz" (P 64) wieder, im "Geknüpften" eines sehr groben Koordinatennetzes, die "drei Jungen und das Mädchen" fangen den Mythos mit Hilfe von sehr groben vernünftigen Begriffen, ihre Wünsche, ihre Liebe und ihre Hoffnungen drücken sich im "Wachdienst" (P 64) der Aufklärung in sehr trivialen Formen aus. Im Schlaf des 1. Jungen befreit sich die gefesselte Titania um den Preis eines zerrissenen Kostüms, eines fragmentierten Mythos' im Traum des Jungen. (P 67) Um dem Text zu entkommen, versucht Titania, die Schrift, den schwarzen Jungen, einzutauschen gegen das Weiße des Textes, die Leerstelle zwischen den Buchstaben, die nach Edmond Jab£s das Zentrum ist. Als Spiegelung der Leerstelle mit der Leerstelle, des ursprünglichen, aber abwesenden Mythos mit einem anderen ursprünglichen, aber abwesenden Mythos wird die von Cyprian ermöglichte Begegnung von Titania mit dem Stier jedoch blutig enden, denn beide Leerstellen potenzieren sich, ein Treffen eines nietzscheanischen Übermenschen auf einen anderen Übermenschen kann nur zur Gewalt führen. Nach der von Oberon mit Hilfe von Höfling durchgeführten Fixierung Titanias im Text wird diese zur "Frau aus einer anderen Zeit". (P 39) Als überzeitlicher und überörtlicher Mythos trifft sie wie in einem Ritus auf die lineare Zeit. Doch wird er hier nicht als lebendige Erinnerung aufgefaßt, sondern als alter Text, als Text aus der Vergangenheit. Borges schreibt über den Übergang von der mythischen Zeit zur linearen Zeit: "Es ist die Idee von der zyklischen Zeit, die von Augustinus im Gottesstaat widerlegt wurde. Augustinus sagt mit einer schönen Metapher, daß das Kreuz Christi uns aus dem kreisförmigen Labyrinth der Stoiker erlöse. Die Idee einer zyklischen Zeit wurde auch von Hume, Blanqui und zahllosen anderen aufgegriffen". Nach Borges steht in der Bibel: "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig"44. Der als Schrift fixierende Höfling begegnet seinem Ursprung nicht ohne Veränderung vor dem Hauseingang von Höflings "Haus" (P 55) der Sprache, seiner Fixierung im "Park", im komplexen Text: Höfling verschließt sein Haus, macht den Text eindeutig. Aber Titania als mythischer Text kann diese Eindeutigkeit überwinden, öffnet die eigentlich verschlossene Türe mit Leichtigkeit. Titania geht ins Haus, Höfling wundert sich, wieso sein Text schon wieder offen ist, schließt die Tür wieder. Da er aber selbst sein Haus ist, bemerkt er, daß jemand im Haus ist. Die darauf erfolgende Berührung mit dem eigentlich überzeitlichen und überörtlichen Mythos macht den erwachsenen Höfling zum Kind der Schrift. In der Berührung mit dem Ursprung wird der sich selbständig wähnende eindeutige Text zum kleinen Text in der großen Wüste - siehe Edmond Jab£s - , er sitzt auf einmal im "Sandkasten" (P 56), in der Gesamtheit der Sprache und blickt von dort auf den Zirkus der vernünftigen Gesellschaft. Die Berührung mit dem Mythos macht aus dem allein herrschenden Seienden einen Teil des Seins, einen Teil nur im Ganzen der - leider verdreckten - Sprache. Jedoch ist Titanias Kraft geschwächt, sie "steht steif und blickt angstvoll wie ein gefangener Vogel" (P 39), wird verspottet, kann aber ("Das kam von oben" (P 41)) noch einen Abglanz ihrer Stärke wirken lassen. Dem von der Kälte der modernen Gesellschaft bedrückten
44
Borges: Die letzte Reise des Odysseus, a.a.O., S. 14.
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Mädchen bringt sie bei, den Verlust seiner Ganzheit zu empfinden, sie berührt sie und diese "macht [...] ein schmerzverzerrtes Gesicht." Die Folgen des weiteren Eingehens in die Immanenz der Zeichen sind fatal. Das Göttliche ist gespiegelt und zerstreut. Titania ist in der Immanenz des Narzißmus gefangen, sie "schminkt, pudert, kämmt sich, betrachtet sich im Spiegel der Puderdose" (P 85). Oberen verliert sich in "Seinesgleichen" (P 96): Da er in der Spiegelung gefangen ist, gibt es nun im Prinzip unendlich viele Kopien von Oberen. Eine Spiegelung der Spiegelung der Spiegelung usw. analog zur Interpretation der Interpretation der Interpretation usw. bis in den unendlichen Regreß: Titania: Nun, du unerweichlicher Hüter meines Glücks, jetzt sprachen sie alle drei mit einem Mund, und es ist dein wunderschöner, dein grausam müder Mund, mein Herr. Ich sehe wohl, daß ich vergeblich nach dir rief. Gegen deine Gleichgültigkeit werde ich niemals siegen. Ich kann nicht mehr. Du bist unkenntlich geworden und ich werde dich nicht finden. (P 103)
Titania sucht im Text, den Oberen selbst initiiert hat und über Cyprian in die Welt gebracht hat, nach dem geistigen Ursprung dieses Textes, nach dem verlorenen Ganzen. Aber in der Differenz des Textes ist nichts gegenüber dem anderen hervorzuheben. Am Schluß der Szene (P 96ff.) fehlt einem der drei männlichen Figuren, von denen einer Oberen sein könnte, der rechte Handschuh, er hat also in der Rechten, im rechten Text keinen begrifflichen, fest umrissenen Text. Die Stelle ist nackt, bei Strauß bedeutet dies immer das Undeutbare, das Fremde. Hier zeigt sich kurz Oberen als rechter Text, als rechter Be-Griff, als rechter Zu-Griff. Nur in der Rechten kann sich für Strauß noch das Göttliche indirekt zeigen. Dies bedeutet jedoch nicht die Apologie der Rechten. Denn das Göttliche zeigt sich auch verzerrt und verkehrt im Obszönen. Höfling, der zuvor vom überzeitlichen Mythos Titania auf seinen Rang als Kind des Mythos zurückgestuft wurde, wird wieder groß und liest die Zeitung, er spiegelt sich im zerrissenen Spiegel der Medienwelt. Oberen wird währenddessen zu "Mittentzwei", zur Differenz, die er ertragen muß, denn das Ganze wird, wenn es in den Text eingegangen ist, der Differenz unterworfen, das raubt ihm den "vollen Ton". Augustinus schreibt in seinen "Bekenntnissen" zu diesem "Mittentzwei" und zum Problem des Negativen in der Welt: Hinweg von deinem Angesicht, Gott, mögen sie verderben wie die 'Schwätzer und Verführer' verderben, die behaupten, weil sie bei ihrer Selbstbeobachtung zwei Willen wahrgenommen haben, es gebe nun auch zwei geistige Naturen, eine gute und eine böse! Wahrhaft böse sind sie selbst, wenn sie solch Böses denken, und gut werden sie sein, wenn sie Wahres denken und der Wahrheit zustimmen. Dann sagt ihnen dein Apostel: 'Ihr wäret einst Finsternis, nun aber seid ihr ein Licht in dem Herrn.' Jene aber, die ein Licht sein wollen, nicht im Herrn, sondern in sich selber, und glauben, die Seele sei von Natur dasselbe, was Gott ist, sie sind um so schwärzere Finsternis geworden, je weiter sie in abscheulicher Anmaßung sich entfernt haben von dir, dem 'wahrhaftigen Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen'. Darum gebt acht, was ihr sagt, und errötet, 'tretet hin zu ihm und laßt euch erleuchten, so braucht euer Gesicht nicht schamrot zu werden'. Damals nun, als ich mit mir zu Rate ging, dem Herrn, meinem Gott zu dienen, wie schon lang mir vorgenommen, war ich es, der wollte, ich auch, der nicht wollte, ich allein war's. Aber weder mein Wollen noch mein Nichtwollen waren voll und ganz. Darum stritt ich mit mir selbst und war in mir zerspalten. Diesen Zwiespalt erlitt ich wider Willen, aber er bekundete nicht das Dasein eines fremden Geistes, sondern nur die Strafe meines eigenen. So war er nicht so sehr mein Werk, sondern das 'der Sünde, die in mir wohnt', und Straffolge einer freieren Sünde, denn auch ich war Adams Sohn. Denn wenn
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es so viele entgegengesetzte Naturen gibt wie miteinander streitende Willen, dann sind's nicht nur zwei, sondern noch mehr. Wenn jemand sich Uberlegt, ob er zur Versammlung der Manichäer oder ins Theater gehen soll, schreien diese: Siehe da, die beiden Naturen! Die eine, gute führt ihn hierher zu uns, die andere, böse führt ihn hinweg dorthin. Denn woher sonst das Zögern der sich widerstreitenden Willen? Ich aber sage: Sie sind beide böse, sowohl der zu ihnen hinführt, als auch der ins Theater hinwegführt. Doch sie halten nur den für gut, der zu ihnen führt. Aber wie? Wenn nun einer von den Unsern sich überlegt und, da zwei Willen sich befehden, schwankt, ob er ins Theater oder in unsere Kirche gehen soll, werden dann nicht auch sie schwanken, was sie antworten sollen? Denn entweder müssen sie gestehen, was sie doch nicht wollen, daß man kraft guten Willens in unsere Kirche kommt, wie diejenigen dahin kommen, die in ihre Geheimnisse eingeweiht sind und im Glauben stehen, oder sie müssen sich zu der Annahme bequemen, daß zwei böse Naturen und zwei böse Seelen in einem Menschen einander bekämpfen. Dann aber ist's nicht wahr, was sie immer sagen, die eine sei gut, die andere böse. Oder sie müssen sich zur Wahrheit bekehren und dürfen nicht länger leugnen, daß, wenn jemand sich hin und her überlegt, die eine Seele von verschiedenen Willen in Erregung versetzt wird. Wenn sie also merken, daß zwei Willen in einem Menschen sich widerstreiten, dürfen sie nicht sagen, es seien zwei verschiedene Seelen verschiedenen Wesens und verschiedenen Ursprungs, die eine gut, die andere böse, die gegeneinander ankämpfen. Denn du, Gott der Wahrheit, sprichst nein dazu, widerlegst und überführst sie. Zeigte es sich doch, daß es zwei böse Willen gibt, so wenn jemand sich überlegt, ob er einen Menschen durch Gift oder Dolch umbringen, ob er nach diesem oder jenem fremden Grundstück seine Hand ausstrecken soll, wenn er sich beider zugleich nicht bemächtigen kann, ob er sein Geld in Wollust vergeuden oder es geizig aufspeichern, ob er zum Zirkus oder ins Theater gehen soll, wenn in beiden an demselben Tage Vorführungen sind. Ich füge noch ein drittes hinzu: oder ob er, wenn gerade die Gelegenheit sich bietet, in fremdem Hause einen Diebstahl verüben soll, und noch ein viertes: ob er vielleicht, wenn auch dazu zur selben Zeit die Tür sich öffnet, einen Ehebruch begehen soll. Wenn das alles in dem gleichen Zeitabschnitt sich zusammendrängt und in gleicher Weise für begehrenswert gehalten wird und doch nicht alles zugleich getan werden kann, wird die Seele von vier oder, bei großer Fülle begehrenswerter Güter, von noch mehr streitenden Willen zerrissen, und doch pflegen sie in diesem Falle nicht von der gleichen Menge verschiedener Wesenheiten zu reden. Ebenso ist es auch beim guten Willen. Denn frage ich sie, ob es gut sei, sich an der Lesung des Apostels zu erfreuen, ob es gut sei , sich an einem frommen Psalm zu erfreuen, und ob es gut sei, das Evangelium auszulegen, werden sie jede dieser Fragen bejahen. Aber wie? Wenn nun alles in gleicher Weise und zur selben Zeit Freude machte, würden nicht auch dann verschiedene Willen des Menschen Herz in Zwiespalt bringen, wenn er sich überlegt, wonach von alledem er nun zuerst greifen solle. Lauter gute Willen sind's und streiten doch so lange miteinander, bis man eines erwählt, auf das sich nun der eine ganze, vorher zerteilte Wille wirft. So auch, wenn die Ewigkeit höhere Freude verheißt und das Verlangen nach zeitlichem Gut uns drunten festhält, ist's dieselbe Seele, die nur nicht mit ungeteiltem Willen jenes oder dieses will und darum sich qualvoll zerrissen fühlt, weil sie das eine in Wahrheit vorzieht, das andere aber aus langer Gewohnheit nicht lassen mag. 45 Augustinus setzt sich hier gegen die Manichäer ab, denen er einst angehört hat. Für Strauß hat auch die Aufklärung einen manichäischen Charakter. Es gibt gut und böse, normal und unnormal usw. Im "Park" wird Helen verkannt, weil sie die "bösen" Gedanken äußert. Für Strauß entsteht das Problem der Verkehrung der Sehnsucht nach dem Ganzen in das Negative erst durch die radikale Verdrängung des Dunkeln im aufgeklärten Text. Augustinus jedoch zeigt, daß im Menschen immer auch das Negative zu finden ist, wenn man ihn vollständig erkennt, und daß es nicht leicht ist, das Gute vom Bösen zu trennen. D a alles unter dem Licht einer
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Augustinus: Bekenntnisse, a.a.O., S. 209ff.
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linken, vorgeblich vernünftigen Kultur betrachtet wird, kommt es zum Unfall der Geschichte, den Oberon als nun verweltlichter gespaltener Text anrichtet. Nachdem die aufklärende Seite der Bühne, die "linke[sic!] Hälfte der Bühne hell" (P 80) geworden ist, erkennt Oberon das Problem unter dem analytischen Blick der Linken und macht aufgrund dieser einseitigen, nur links ausgeleuchteten Erkenntnis das falsche: er verbindet sich mit dem Text der Vernunft, um die Gewalt zu beenden. Nun wird alles noch schlimmer. Oberon verursacht einen Fahrunfall, blickt nach links, obwohl etwas von rechts kommt, wird blind für die Unplanbarkeit und das Unvernünftige der Existenz und muß sich dann noch einer aufklärerischen Untersuchung und Verurteilung stellen: der Mythos ist schuld an der verunfallten Geschichte, an den Verbrechen des 20. Jahrhunderts, wenn er sich nicht regelgerecht verhält, obwohl oder gerade weil er sich verweltlicht hat. Vor dem Hintergrund des Welt-Zirkus "und seine[r] helle[n] Öffnung" (P 113) wird Oberon als Mittentzwei "eingeladen, obwohl" man mit ihm "verunfallt" wurde (P 113). Strauß thematisiert hier die Schuldfrage: Wer ist schuld an den Katastrophen der westlichen Nachkriegsgesellschaft, an den Problemen der dritten Welt, an Umweltzerstörung, Überrüstung, Lieblosigkeit, usw. ? Nicht die Linke, sondern die Rechte, der Geist und das Gefühl und nicht die technokratische Intelligenz sollen schuld sein, Oberon soll den "Verkehrsunfall" verursacht haben. Nun wird nach den Ursachen, der Kausalität geforscht. "Wolf: Sie haben doch bereits zugegeben, daß Sie unentwegt in die Kreuzung hineingestarrt haben, und zwar nach links, obwohl sie doch nach rechts abbiegen wollten. Sie haben, mein Lieber, die gesamte rechte Fahrbahnhälfte überhaupt nicht im Auge gehabt." (P 114) Wolf, der ehemalige Historiker, der nicht "von Haus aus" (P 114) "Fahrlehrer" ist, behauptet, daß Oberon/Mittentzwei plötzlich aus einer "Parklücke herausgeschossen" (P 114) kam, er also aus einer Lücke im Text einbrach. Er wird von Erstling verteidigt, er wäre "längst eingefädelt" (P 114) im Text gewesen, der Mythos war nicht plötzlich da, sondern der Text, auch der Text der Vernunft besteht j a aus ihm selbst. Aber Oberon/Mittentzwei kann nichts dafür, es gab eine "Aufprallverzerrung", der Mythos wurde verzerrt in sein Gegenteil, die einst heilsame Ganzheit, zu der auch die Rechte gehörte, wurde in der Negation der Aufklärung zur unheilbringenden Rechten. Zerstört wurde einiges in der Gegenwartskultur: Das ästhetische, die "Zierleisten flogen", die Instrumente der Aufklärung, "Scheinwerferbruch", die Kühle in der Gesellschaft ("Kühlergrill flog") und das linke Image wurde angeknackst ("Linkes Ausstellfenster zertrümmert"). Es sieht nun alles aus wie ein "modernes Kunstwerk", wie die Zerstörungen der Moderne. Das Rechte, der Geist und die Dichtung können sich nicht mehr wehren, Titania versucht Oberon umsonst daran zu erinnern, wer er einmal war: "Titania: Ich kenn ein Ufer - [...] Wo wilder Thymian - [...] Blüht! [...] Weißt du es denn nicht mehr? [...] Ach, mein Herr. So wird es nichts. So kommen wir nie wieder raus aus unserer Haut. [...] Komm her. Es hat j a keinen Zweck. Nur ein Gott kann uns retten." (P 119) Das berühmte Heidegger-Zitat, an dieser Stelle von Strauß eingefügt, meint, daß Oberon zwar den dichterischen Text noch nachspricht, so wie jedes Individuum einen Text spricht, der einmal ein dichterischer war, aber den Geist, der dazu gehört, nicht mehr hört. Auch Oberon wird nun durch den erkalteten Text der Nachmoderne getrieben: "Wie wissen auch, daß Mittentzwei noch hinter seiner Form
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herläuft." (Ρ 119) Er kann nun sogar "auto[-]fahren", also selbst-fahren als isoliertes, aufgeklärtes Individuum. Nach einer langsamen Verwandlung sieht man die ganze Gesellschaft im aufgeklärten Zirkus, die "Holunderhecke bildet nun die rückseitige Begrenzung dieses Ausblicks" (P 120), der Text, so aufgeklärt er war, ist nun nicht mehr vom Zirkus rechts, in einem "hortus conclusus" separiert, sondern bildet den Hintergrund des Festes, schutzlos dem "Ausblick" ausgeliefert. So ist die Dichtung für Strauß vollends zum Text der Technik und des gesellschaftlichen Systems geworden. Tianias Fabel-Sohn könnte, wenn sich die Menschen an den Ursprung erinnern würden, wieder mit seinem Ursprung, dem göttlichen Erlebnis, eine Verbindung im Fest eingehen. In der letzten Szene (P 12Iff.) gehört die Bühne der "Träne" und dem "Ohr", dem Schmerz über den Verlust der Ganzheit und dem noch möglichen Hören des Seins. Der in der Moderne übrig gebliebene Text beklagt sich über die Kälte und reine Materialität eines aufgeklärten Gesellschaftstextes, der er selbst geworden ist: Der Sohn: Herr, warum hast du uns heute keinen Feiertag beschert?! Und einen jener hellen Sommerabende, an denen du mit leichter, gütiger Hand einige Dutzend deiner lustigen Geschöpfe in unseren Garten geworfen hättest, und er wäre mit Leben erfüllt gewesen und mit Hochrufen auf meine Mutter. (P 126) Die Geschöpfe sind die Vielzahl an kleineren Religionen und Mythen, erinnernde und vergegenwärtigende textliche Formen des religiösen Erlebens. Strauß zitiert den Kirchenvater Augustinus, dessen "Bekenntnisse" in Kontrast stehen zu den erkalteten Formen des noch bestehenden Textes: 'Da werden wir feiern und schauen, schauen und lieben, lieben und preisen'... Auf fünfzig Tuchservietten ließ ich das Wort des Augustinus drucken. Für wen? Für ein ohnehin wogendes Bankett, das den Überschwang, selbst ins Religiöse hinein, nicht scheut. Für die reichliche Menge hab ich es drucken lassen, die seit Urzeiten an den Jubel gewöhnt und imstande ist, überall ohne viel Federlesens aus sich herauszugehen. Aber fünf verlorene Hausfreunde? Der Augustinus auf der Serviette wird ihnen das kalte Grausen Uber den Rücken jagen. Ständig fühlen sie sich aufgefordert, eine Stimmung zu verbreiten, die fünf uralte Bekannte nirgends auf der Welt verbreiten können. (P 126) Die übrig gebliebenen fünf Weltreligionen, das Judentum, das Christentum, der Islam, der Buddhismus und der Hinduismus können alleine das religiöse Erlebnis nicht mehr vermitteln. Aus Augustinus wird in der Geschichte der lustfeindliche, strenge Kirchenvater: Der Augustinus wird sie in die allergrößte Verlegenheit bringen. Er wird das gerade Gegenteil bewirken, was er verheißt. Statt zu feiern werden sie frösteln, statt zu schauen werden sie unter sich blicken, statt zu lieben werden sie witzeln, statt zu preisen werden sie nörgeln. Anders kann es gar nicht kommen. Denn: was immer man von den Fünfen halten mag, eines kann man ihnen nicht absprechen: ein Gefühl dafür, daß dieser Dienstag nicht so hätte ausfallen dürfen wie jeder x-beliebige Dienstag in der langen Geschichte der Dienstage. Dabei wird sich einerseits jeder ans eigene Portepee fassen und andererseits wird er sich unablässig kritisch mit der ausgebtiebenen Menge beschäftigen, in der er gerade dieses Mal unauffällig zu verschwinden gehofft hatte. Auch ich hätte die Menge gebraucht. Auch ich habe mich danach gesehnt, mit ihr in der Menge unterzutauchen. Sie in der Menge zu jagen, sie, in der Menge versteckt, zu küssen, und nach dem Abendbrot noch einmal hinaus in die Menge, die im Dämmer auf der Wiese steht und Wein trinkt, bis es Schlafenszeit ist, und ich hätte ihr die weiße Angorajacke um die Schultern gelegt
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und sie, in der Menge, an mich gerissen, oh, die Augen der Menge, vor aller Augen, vor aller Augen! (P 126f.)
Vor der Erkenntnis der Welt hätte sich der Text mit dem ganz anderen verbunden: Ja, der Abend war hell. Hell und wolkenlos. Einer dieser feierlichen Sommerabende. Alle Leute waren fein angezogen und traten nach dem Abendbrot noch einmal hinaus in den Park hinter dem Haus und warteten im Dämmerlicht, bis es Schlafenszeit ist. (P 127)
Nach dem Ritus würden alle das feste Haus, die geregelte Sprache verlassen und in den dichterischen Text eingehen. "Ja, ich küßte sie im Schutze der Menge", in der Communio. "Das ist das Paradies, mein Sohn, sagte sie. Ja, sagte ich, das ist das Paradies, Mama". Das Paradies als Zustand, in dem der Text so nahe dem ganz anderen ist, daß er nicht trennt, daß er das Ganze beisammen hält. Aber niemand hört die Klage des säkularisierten Textes, der sich wieder mit seinem göttlichen Ursprung verbinden will. "Das Mädchen im Sessel [als Spiegelbild des Zuschauers] fährt erschrocken in die Höhe. Haben sie mich verstanden oder lauschen sie nur?" ( P 127)
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3. 1984-1988: Das Ganze als das Undarstellbare Als er die Treppe hinabschritt, begriff er plötzlich. 'Wenn wir wollen, daß alles bleibt wie es ist...' (Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Der Leopard) Jeder, der das Gesicht seines Gefährten vor den Vielen erbleichen läßt, ist, als ob er Blut vergieße. (Talmud, Bawa mezia 58b) Im Labyrinth des Netzes im Kopf In "Der Junge Mann" tritt der Ethnologe die Reise nach Innen an, erforscht das Netz in seinem Kopf, im "Gründschen Forst", (DjM 111) und dessen Gedanken als fremdes Volk, beauftragt und mißtrauisch beobachtet von einem "zwischenstaatlichein] Gremium, das eigens zur Untersuchung und Kontrolle der neuen Gründungsbewegungen bestellt worden war und seine Hauptgeschäftsstelle in Frankfurt unterhielt". (DjM 117) Diese "Behörde", so nennt Strauß das Denken der "Frankfurter Schule" und dessen Vertreter nun, "beugte sich natürlich besorgt und verständnislos über dies 'neue Bewußtsein', wie sie es nannte, das sich über die Länder hin breitmachte, und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie so etwas einem Menschenhirn von mitteleuropäischen Prägungen plötzlich entspringen konnte." (DjM 117) Der Forscher kann sich der Faszination des Netzes nicht entziehen, er gibt die Reflexion zugunsten des Bildes, des Existentiellen, des im Netz des Gehirns situierten Ursprungs auf. Der Kontakt zu den "[gjesellschaftslosen" (DjM 109) "Synkreas" erlaubt ihm den Eingang in das kulturelle Gedächtnis, welches das Netz des Gehirns beinhaltet. "Ihr ganzes Sozialgebilde war ja ein traumförmiges und wurde beherrscht vom Gesetz der offenen Verwandlung." (DjM 132) Das Eingehen in das Netz, das große Archiv ist analog der Erfahrung des Ethnologen, nach Claude L6vi-Strauss wird dieser in der Feldexploration in einem Modus der Initiation zu einem anderen Individuum, mit dem Kostenaufwand einer andauernden Emigration eignet er sich ein "geheimes Wissen" an. Diese Initiation ereignet sich für den "jungen Mann" zu Anfang des Romans am Theater. Die "Synkreas" erweisen sich als "existentielle Communitas", die nach Turner 1 "eine Phase, ein Augenblick, kein dauerhafter Zustand" sind. Denn: "Sobald ein Grabstock in die Erde gebohrt, ein Fohlen domestiziert [...] wird, entsteht Sozialstruktur". Doch als "existentielle Communitas" im Gehirn fehlt ihnen die Sozial struktur, ein ewiges Entgleiten ist ihnen eigen. Hier verbindet sich im Kopf das Denken des Neostrukturalismus mit dem der Systemtheorie und der Himforschung. Der ein nicht ableitbares Bewußtseinsresiduum zurückweisende Neostrukturalismus verkoppelt sich als Vorstellungswelt leicht mit dem Paradigma der Selbstreferenz, das in einer selbstüberzeugten Exklusivität im Diskurs der radikalen Konstruktivisten mit den Systemtheoretikern thematisiert wird, und mit den Erkenntnissen über die Struktur des Hirns als neuronales Netz. Strauß ist auch hier wieder auf der Höhe der Zeit. 1984 veröffentlicht Niklas Luhmann den ersten "Grundriß einer allgemeinen Theorie", die "Sozialen Systeme", deren aktuell innovativer Gedanke der Begriff der Turner: Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, a.a.O., S. 134. 144
"Autopoiesis" ist. Und in der neurowissenschaftlichen Forschung etablieren sich in den achtziger Jahren, nicht unwesentlich getragen von der Euphorie, die sich mit den ersten Schritten zu einer physikalischen Beschreibung der Reaktionseigenheiten derartiger Systeme verband, [...] auch die neuronalen Netze.2 Da die "Erregungsbahnen, die Trajektorien, in denen sich die Erregung im Nervengewebe bewegt [,] keine festen Größen" sind, sondern "Aktivitätszustände über einer neuronalen Matrix, die auf diese selbst, aber auch untereinander zurückwirken", 3 ist ein Text mit einer linearen Handlung und Dramaturgie nicht dem Funktionieren des Netzes adäquat. Das Netz befindet sich als Netz im Netz, als Text im Text, der wie das Netz auf sich selbst rückgekoppelt ist. Somit ist das "Ich" eine Descartessche Illusion, das für Strauß - so seine Kritik in "Der junge Mann" immer noch von der Intelligenz hochgehalten wird, obwohl Neostrukturalismus, Systemtheorie und Hirnforschung zeigen, daß ihr Denken nicht dem Wissen der achtziger Jahre entspricht. In "Niemand anderes" schreibt er: Natürlich ist es eine Donquichotterie - es ist sogar ein großer Unfug, Ich zu sein. Vermutlich das letzte Ich, das letzte Ich überhaupt: nach mir die Systeme, die Programme ... Aber dennoch. Was weiß man schon von unseren tragischen Progressionen? Es könnte alles auch anders kommen. Das Allgemeine wird funktionieren und seine Funktionen werden wesenlos lächeln. Der Einzelne aber wird einzelner sein als je zuvor in der Geschichte. (NA 192) Der Vereinzelte ist gefangen in der Immanenz des allmächtigen Netzes, der unendlichen Schrift, als Schriftsteller kann man nur noch wie Amiel agieren und die Schrift durch sich hindurchlaufen lassen: "Amiel. Schönes Wort. Man trägt keinen Namen. Man ist einer wie Amiel. Vielleicht ist auch das kein Name, sondern ein Begriff, nämlich für ein Verfahren, alle seine Tage zu verzeichnen und mit Schrift zu füllen; sie auslöschend ungelebt zu bezeugen." (NA 193) Im Netz stellt sich die Frage nach dem Haltepunkt des unzweifelhaft erlebenden und existierenden Individuums und der Möglichkeit des Zusammenlebens. So bleibt für Strauß nur das Existentielle im Sinne von Heidegger oder Blumenberg und das oder der Fremde als plötzliche Erscheinung des Existentiellen. Denn da, so Manfred Frank, das "vom jüngeren Dekonstruktivismus (der sonst dem Ausgeschlossenen so wortmächtig zu Hilfe eilt) eigentlich Ausgeschlossene, so scheint mir, [...] das Individuum" 4 ist, bilden die Kritiker der Subjektivität unbeabsichtigt eine Koalition mit den historischen Formen des Rationalismus und der Naturwissenschaft, die die Einzigartigkeit jedes menschlichen Individuums in der Hypothesengenerierung tunlichst negiert haben wollen. Und so plädiert Manfred Frank für einen "irreduziblen Bewußtseinsrest" als erkenntnistheoretische Bedingung seiner hermeneutischen Vorstellung von Individualität. Auch Descartes' Modell der Selbstreflexion führt in eine Aporie. Denn jedes Bewußtsein definiert sich durch den Bezug auf sich selbst, muß sich also auf ein anderes Bewußtsein beziehen, für das, um selbst zu existieren, wiederum ein Bezug auf ein anderes, drittes Bewußtsein nötig ist, und so ad infinitum. Der Idealismus hat diesen Regreß zwar erkannt, aber nicht
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Breidbach: Die Materialisierung des Ichs, a.a.O., S. 374. Breidbach: Die Materialisierung des Ichs, a.a.O., S. 376f. Frank: Was ist Neostrukturalismus?, a.a.O., S. I6f. 145
aufgelöst. Manfred Frank5 zeigt dies auch an anderen Beispielen (Rickert, Natorp, Russell), Subjektivität kann in keinem Fall zirkelfrei aus einer Erkenntnisrelation abgeleitet werden: In diesem Modell bleibt nämlich prinzipiell unverständlich, wie ich Bewußtsein von einem Seienden ausmachen kann, für welches Gegenstände gegeben sind, das aber selbst nie gegenständlich gegeben ist.6 Egal, wie gedacht wird, der andere und dessen wahrnehmendes Bewußtsein ist notwendigerweise anzunehmen. Die Pointe des Rekurses auf die Hermeneutik ist eben, daß in Ermangelung eines transindividuellen (metaphysischen) Kriteriums für die Identifikation von Einzeldingen und die Verifikation von Aussagen Uber Sachverhalte die individuelle Weltdeutung der Kommunikationspartner ins Spiel gebracht werden muß - sie aber unterbricht den hermeneutischen Schlummer des strukturalistischen Code-Modells ebenso wie den analytischen Traum von einer prästabilisierten semantischen Identität der Terme, in deren Verwendung wir unsere Welt ja nicht nur ausdrücken, sondern auch aktiv (und je anders) schematisieren.7 Frank stellt damit all jene Theorien in Frage, die das Subjekt als integrierenden Faktor negieren. Für John R. Searle ist das größte Problem [...] derzeit: Wir haben ein gewisses Bild von uns selbst als Menschen, das zu unserer gewöhnlichen Alltagsauffassungen gehört; dieses Bild des gesunden Menschenverstandes ist sehr schwer mit unserer 'wissenschaftlichen' Vorstellung von der materiellen Welt in Einklang zu bringen. Wir denken uns selbst, daß wir einen Geist haben, daß wir bewußt, frei und rational in einer Welt handeln, von der uns die Wissenschaft sagt, sie bestehe ausschließlich aus Materie-Teilchen ohne Geist und Bedeutung. Wie können wir diese beiden Vorstellungen miteinander vereinbaren? Wie kann es beispielsweise sein, daß die Welt nichts außer Materie-Teilchen ohne Bewußtsein enthält und trotzdem auch Bewußtsein in ihr ist? Wie kann ein mechanisches Universum Menschen mit Intentionalität enthalten - das heißt Menschen, die für sich die Welt repräsentieren können? Kurz, wie kann eine wesentlich bedeutungslose Welt Bedeutung enthalten? 8 Searle wehrt sich gegen die vorherrschende reduktionistische Sicht, denn der Geist hat mehr als nur eine Syntax, er hat eine Semantik. Kein Computerprogramm kann jemals ein Geist sein, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ein Computer-Programm bloß syntaktisch und der Geist mehr als bloß syntaktisch ist. Der Geist ist semantisch semantisch in dem Sinne, daß er mehr hat als eine formale Struktur; er hat einen Gehalt.9 Jedoch bleibt auch hier als letztes das Rätsel der Individuation. Und dieses Rätsel deutet Strauß positiv. Gerade das Unbekannte, Fremde, Unaussprechbare fungiert bei ihm als geheimes Zentrum, das sich nur verkehrt als Verfehlung im Text zeigt. Zwar ist für Strauß "Niemand anderes" noch vorhanden, aber dieses "Niemand anderes" ist wichtig als Stabilisationsfaktor des Selbst. Oktavio Paz schreibt: 3
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Vgl. Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer 'postmodernen1 Toterklärung, Frankfurt 1986. Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer 'postmodernen' Toterklärung, a.a.O., S. 18. Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer 'postmodemen' Toterklärung, a.a.O., S. 22. Searle: Geist, Hirn und Wissenschaft, a.a.O., S. 12. Searle: Geist, Hirn und Wissenschaft, a.a.O., S. 31
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Leben heißt sich trennen von dem, was wir waren, um uns in das zu verwandeln, was wir in einer unbekannten Zukunft einmal sein werden, und die Einsamkeit ist der tiefste Grund der Conditio humana. Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich einsam weiß, das einzige, das nach dem 'andern' sucht. Seine Natur - sofern man bei ihm überhaupt davon sprechen kann, da er sich selbst gefunden hat, indem er nein zur Natur sagte - ist ein einziges Streben, sich selbst im 'andern' zu verwirklichen. So ist der Mensch Sehnsucht und Suche nach Kommunion. Immer wenn er sich seiner selbst bewußt ist, fühlt er die Abwesenheit des 'andern': die Einsamkeit.10 Und genau diese Abwesenheit bezeugt die Anwesenheit. Nur wenn der andere absolut fremd und unbegriffen ist, ist er da. Im Einsetzen der Wörter entfernt sich der andere und zurück bleibt nur das Spiegelbild. Der wahrnehmbare Zustand des "Ich" in den Spiegelungen des Textes reflektiert Strauß so: "Beunruhige dich nicht, mein Herz, mein tägliches Bereitsein, es gibt kein Du. Still, meine Wachsamkeit, es gibt niemanden. Du bleibst grenzenlos." (NA 68) Das neuronale Netz im Kopf als ganze Welt als Text kann den anderen nicht wirklich erkennen, da es die Wirklichkeit konstituiert. Egal, wohin das Individuum blickt, immer ist das Heideggersche "Man" schon da, auf das sich Strauß' "Niemand anderes" bezieht: Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat. [...] Allerdings ist das Man so wenig vorhanden wie das Dasein Uberhaupt. Je offensichtlicher sich das Man gebärdet, um so unfaßlicher und versteckter ist es, um so weniger ist es aber auch nichts. Dem unvoreingenommenen ontisch-ontologischen 'Sehen' enthüllt es sich als das 'realste Subjekt' der Alltäglichkeit. [...] Zunächst 'bin' nicht 'ich' im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir 'selbst' zunächst 'gegeben'. Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so. Wenn das Dasein die Welt eigens entdeckt und sich nahebringt, wenn es ihm selbst sein eigentliches Sein erschließt, dann vollzieht sich dieses Entdecken von 'Welt' und Erschließen von Dasein immer als Wegräumen der Verdeckungen und Verdunkelungen, als Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen sich selbst abriegelt."
Dichterischer Mythos und dichterischer naturwissenschaftlicher Text - die Nachmoderne als Neoromantik Die Immanenz, die den Blick auf den anderen als den Fremden dadurch verstellt, daß sie ihn erst ermöglicht, wird konstituiert durch das große Archiv, in dem sich der Text aller Zeiten und Räume befindet und das Innen -und Außen des Individuums verbindet. Auch Mythos und Naturwissenschaft ist hier als Text nicht von vornherein differenziert, über die Gemeinsamkeit beider schreibt Kurt Hübner: Wissenschaft und mythische Erfahrung haben die gleiche Struktur. Sie verwenden dasselbe Erklärungsmodell. In beiden können wir reine Erfahrung von einer solchen unter Voraussetzungen unterscheiden. Die Unterschiede zwischen wissenschaftlicher und mythischer Erfahrung liegen also ausschließlich im Inhaltlichen. Die rationale Struktur ihrer Erklärung und intersubjektive Begründung bleibt davon unberührt.12
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Octavio Paz: Das Labyrinth der Einsamkeit, Frankfurt 1996, S. 189. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 128f. Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 287.
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Mythische Dichtung und naturwissenschaftlicher Text sind im zentrumslosen unendlichen Archiv außerhalb einer bestehenden Diskursordnung letztlich nicht voneinander zu trennen. Die von Strauß in den achtziger Jahren vermehrt unterstützte Koinzidenz von Poesie und Naturwissenschaft ist schon in der Romantik Konzept. Als Europas letztmöglicher geräumiger Kultur-Zeitraum funktioniert die Romantik als widerständiger Reflex auf das unilaterale Übergewicht der Vernunft in der Aufklärung, als Harmonisierung von Leben und Kunst, von Geist und Natur. Nicht zufällig mit Beginn der Industrialisisierung und der damit einhergehenden Arbeitsteilung, spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts grenzen sich Dichtung und Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Musik soweit gegeneinander ab, daß ein Resümee unter einem eigenen Terminus innerhalb der Ordnung der Epochen nicht mehr zweckmäßig ist. Die Neubelebung einer totalitären Vorstellungswelt in Opposition gegen die mechanistische Welt-Sicht der Aufklärung ist eine Angelegenheit der Romantik, da nun die Natur wieder als Ganzheit interpretiert wird. Philosophen, welche auch in der externen Welt die Erfahrung eines göttlichen "Ichs" machen, wie Plotin, Giordano Bruno und Jakob Böhme, werden als Lehrmeister angesehen. Wider der funktionalisierten Welt-Sicht placiert Schlegel das vieldeutige Potential des Mythos: Wie schon in den alten Kosmologien gelehrt ward, daß die Nacht die Mutter aller Dinge sei, dies erneuert sich in dem Leben eines jeden Menschen: aus dem ursprünglichen Chaos gestaltet sich ihm durch Liebe und Haß, durch Sympathie und Antipathie die Welt. Eben auf dem Dunkel, worin sich die Wurzel unseres Daseins verliert, auf dem unauflöslichen Geheimnis beruht der Zauber des Lebens, dies ist die Seele aller Poesie. Die Aufklärung nun, welche gar keine Ehrerbietung vor dem Dunkel hat, ist folglich die entschiedenste Gegnerin jener und tut ihr allen möglichen Abbruch. 11
Unter anderem in der Beachtung des Dunkeln zeigen sich Parallelen von Strauß' Denken zur Vorstellungswelt der Romantik. Im Zugeständnis der Ungebundenheit für eine gänzlich individuelle Interpretation der eigenen Präsenz antizipiert die Romantik ein Denken, welches als gegenwärtiges Denken im radikalen Konstruktivismus diskutiert wird. Das Ich, das in der Romantik seine ausgeprägte Erhöhung kennenlernt - beobachtbar in der Verherrlichung der künstlerischen Genialität - steht auch bei Strauß als weltkonstituierendes im Mittelpunkt, der sich aber zugleich im Außen, das Innen ist, verschiebt. In der Zusammenkunft mit dem Werk der Kunst soll die nachhaltige Erfahrung im Vordergrund stehen. So kann der Rahmen dessen gesprengt werden, was als Wissen funktioniert und dominiert, der Rahmen der Vernunft. Hier folgt die Romantik Kants Ästhetik, einer Philosophie, die sich radikalisiert wiederfindet in Strauß' und George Steiners Ablehnung der sekundären Diskurse und der Forderung einer Haltung der Erwartung gegenüber dem Kunstwerk. In der Gesellschaft der Nachmoderne ist eine Renaissance der Romantik festzustellen. Für Manfred Frank ist der verbreitete "Wunsch nach Dezentrierung, auch nach Dezentralisierung [...] wesentlich ein Wunsch nach Rettung des Individuellen:
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August Wilhelm Schlegel: Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der deutschen Literatur, in: ders.: Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters, Stuttgart 1974, S. 63ff.
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eine Wiederkehr der Romantik."14 Auch in der heutigen Naturwissenschaft ist eine Annäherung an geisteswissenschaftliche und künstlerische Paradigmen zu erkennen, "Wissenschaft als Kunst"15 ist nicht mehr undenk- und unsagbar in einer Zeit, in der viele wissenschaftliche Probleme mit den Methoden eines harten Positivismus nicht mehr gelöst werden können: "Hier können nicht außer acht bleiben die neueren Erfahrungen der Biologie und Physik: daß Geist und Materie im empfindlichsten Bereich nicht zu trennen sind, daß ihr uralter Gegensatz - Paradigma des religiösen wie des wissenschaftlichen Denkens bis in unsere Tage - als aufgehoben gelten muß." (NA 149) Strauß hält es für den modernen Dichter unabdingbar, daß dieser sich fur die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft interessiert. Der Dichter ist bei Strauß ein "Ergänzer der technischen Metapher, von dieser selbst auf den Plan gerufen, um sie zu brechen, zu öffnen, wieder einschweigbar zu machen und den Geist vor eine abrupte, unergründliche Schönheit zurückzuführen." (FU 48) Das Programm der Romantik analogisiert Strauß mit der heute zu beobachtenden Sympathie eines Teils der Naturwissenschaft für das Denken der Geisteswissenschaft und der Kunst. Dem Bestreben der "anderen Seite" will Strauß mit seinem Verständnis von zeitgemäßer Dichtung entgegenkommen.
Das Paradies und die Urdifferenz, das Ganze und die Sehnsucht nach Transzendenz Das "Paradies" bestand für Strauß vor der Differenz durch den Text, in seinem Gedicht "Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war" schreibt Strauß über die Möglichkeit, die Wunden, die die Differenzen schlagen, zu heilen: Und zieht im nachhinein Uber all dein Tun der Sinn / wie zuheilend die Haut über die Wunde. / Schlimm wär, wenn nicht die Kraft des Gewesenen / schüfe den endlich Naiven. / Schlimm, wenn Erinnerung stiege wie Augendruck / und sich nicht löste in freundliches Sehen. / Zu schwer im Alter ein übertriebenes Bewußtsein. N o c h bin ich begierig, bald aber verständig. / Und eines Tages, endlich, verständnislos zufrieden. Unerklärlich lächelt die Welt / dem findigen Menschen. / Denn findig, das ist er. / Kein Denker. Die umschlüssige Sphäre stiller Maschinen / wird ihn mit Leer-Geist erfüllen / und sein Handeln mit spurlosem Spiel. (ETG 73)
Es geht nun darum, dem nietzscheanischen Nihilismus den passenden Text - die passenden Kleider - überzuziehen: Die großen Desillusionskünstler von Flaubert bis Freud haben die fälligen Entblößungen am Menschen vorgenommen. Wer aber legt ihm jetzt die passenden Kleider an? Wie wunderbar gelang es der Ironie Flauberts, bis in das gesellschaftliche Herz eines Menschen vorzudringen! Wie hilflos steht Ironie, die kritische Grazie aus vergangener, erzählbarer Zeit, nun vor den harten Schründen unserer Paradoxe! Gewiß, man kann hingehen und die Wissenschaftsgläubigen ebenso wie die Gesellschaftsgläubigen von heutzuta14
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Manfred Frank: Zwei Jahrhunderte Rationalitäts-Kritik und ihre 'postmoderne' Überbietung, in: Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt 1987, hg. v. Dietmar Kamper und Willem van Reijen, S. 9 9 - 1 2 1 , hier S. 119. Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt 1984
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ge demaskieren. Stoff, Kraft und Standpunkt könnte bei einem solchen Verfahren der Erzähler freilich nicht gewinnen. Unser Bewußtsein ist bereits eine einzige Maskerade von Entblößungen, von entblößten Ideen. Wir sind enttäuscht genug. (NA 149) Der passende Text kann aber nur der dem Sein, dem Ursprung nahe Text sein. Das Ganze sollte hinter den Teilen, hinter den Differenzen zumindest erahnbar werden. Damit wendet sich Strauß gegen jede zu eindeutige Fest-Stellung, jeden fixierenden Begriff: 'Wir mußten das doch alles mit uns herumschleppen: erst das marxistische, dann das freudianische und strukturalistische Zeugs'. Mit den 'Schulen' sei es jetzt vorbei. 'Was hat nicht die 'edition suhrkamp' für einen Seminarunsinn über uns gegossen!' Es gelte, zum 'Parasystematiker' zu werden.16 Man darf nicht doktrinär sein. Die orthodoxen Äußerungen sind immer die falschen. 17 U m über das Seiende hinaus zum Sein zu gelangen, vertraut Strauß neben der Reflexion der Intuition, dem Heideggersche Hören, der Dichtung und der Mystik. Gesellschaftskritik als gegenwärtige Legitimation des Schreibens hält Strauß für nicht mehr zeitgemäß: Strauß hat sein Schreiben einmal auf [...] Kritik gegründet, und er glaubt nun nicht mehr, daß das fortzusetzen sei. Das 'kritische' Denken, an das sich viele klammern, reiche zur Durchdringung des Gegenwärtigen nicht mehr aus. Man müsse intuitiv vorgehen, nach seiner Meinung auch mystisch - wobei er weiß, zu welchen Mißdeutungen solch Bekenntnis führen kann. 'Mystik hat eine lange deutsche Tradition', sagt er. Auch das Wort 'Esoterik' gelte es in Schutz zu nehmen, etwa gegen die modische Vereinnahmung durch okkultistische Kreise. 'Ich erwarte, daß die Leute noch wissen, wo es herkommt'. Dies alles sei wohl auch der Grund, warum man seine Literatur nicht mehr wolle. 'Der Literaturkritiker will die gesellschaftskritische Literatur'.18 Diese kann für Strauß aber die wahre Wirklichkeit nicht beschreiben, die hinter den Erscheinungen liegt. Nach Plotin ist die Ewigkeit als Konstanz, Totalität und Unendlichkeit das Wahre und generiert aus sich zunächst das irdische Diesseits, den Logos und die Zeit, die die Differenz, das Werden und die Endlichkeit spiegeln. Natürlich kann das Ganze nie in Worte gefaßt werden, aber für Strauß sollte es immer erahnt werden, mitklingen: "Odeon. Zerbrochene Schule. Neue Werkstätte. Ohne Anklang eines Ganzen tönt das Einzelne nicht." (NA 152) So ist für Strauß die Intuition nahe am Ursprung, sie ist ein letztlich nicht erklärbarer emergenter Vorgang, der nicht nur dem Dichter als Muse begegnet, sondern auch dem Naturwissenschaftler. Wissenschaftstheoretisch gesehen reiht sich an die primäre Aktion der spontanen und irrationalen Inspiration, die sich als Hypothese verallgemeinernd zum Begriff ver-"dichtet", die zweite Aktion der logischen, vernunftgemäßen, empirischen Kontrolle. Karl Popper schreibt über die Intuition: Unsere Auffassung, daß es eine logische, rational nachkonstruierbare Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt, pflegte man oft dadurch auszudrücken, daß man sagt, jede Entdeckung enthalte ein 'irrationales Element', sei eine 'schöpferische Intuition'.19
16 17 18 19
Hage: Schreiben ist eine Söance, a.a.O., S. 213. Hage: Schreiben ist eine Seance, a.a.O., S. 216. Hage: Schreiben ist eine Seance, a.a.O., S. 212f. Karl Popper: Logik der Forschung, Tübingen 1976, S. 7.
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Popper zitiert hier Albert Einstein, der spricht über "das Aufsuchen jener allgemeinsten [...] Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen [...] Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition". Mit der Fokussierung auf die Intuition einher geht auch eine Aufmerksamkeit für das Heideggersche Hören, das sich vom Sehen, vom kalten, sezierenden und differenzierenden Blick unterscheidet. Denn wie die Intuition vor der Hypothese steht, also dem Ursprung näher ist, so soll das Sein gehört und nicht immer schon das Seiende befolgt werden: Dieser Mann ist nicht zuhaus in seinem verschlossenen Mund. Er ist hinausgetreten in das Hören. In das freie und grenzenlose Zuhören. Fern der Entgegnung, um Lichtjahre. Im Zuhören schwindet das eigene, trotzige Verstehen, und Einverständnis, das immer nur vag ist und sein kann, nimmt zu. (NA 45)
Edmond Jab£s schreibt über die hörende Haltung, die der Schriftsteller, will er kreativ sein, einnehmen muß: Man muß sich dem Text gegenüber eine gewisse Passivität auferlegen. Man kann nicht gleichzeitig reden und zuhören; wo es aber um Schrift geht, wird das Hinhören wesentlich. Nicht was ausgesagt werden soll ist wichtig, sondern das, was in Wirklichkeit unter der Schreibfeder entsteht. Solche Passivität ist einem jeden Autor derart bewußt, daß sie zum eigentlichen Zentrum seiner schöpferischen Arbeit wird. Es geht also weniger darum, den Wörtern freien Lauf zu lassen, als vielmehr darum, sie in Reichweite ihrer Möglichkeiten festzuhalten. Da liegt unsere Freiheit. 20
Das Hören ist immer nahe am Ursprung. Für Martin Heidegger stellt "Poiesis" den fundamentalen Leitgedanken seiner Interpretation von Sein dar. Für ihn zeigt sich in der Herstellung von etwas der primäre und unmittelbare Zusammenhang zum Sein eines Seienden. So rekurriert Strauß immer auch auf Heidegger, wenn er wiederholt fordert: Der Dichter zuerst: Die Erklärungen können noch nicht das letzte Wort gewesen sein. Das letzte Wort hat der Dichter. Nicht jetzt. Nicht zwischendrin, solange alle noch laut und getrennt vor sich hin reden. Aber später, wenn die Stimmen verebben und die Erde ganz Ohr wird - . (NA 151 f.)
Über die Quelle, an der noch keine kommunizierbare Bedeutung herrscht, philosophiert Edmond Jabfes, indem er wie ein Kind mit den Wörtern spielt: Es versteht sich von selbst, daß mit all dem die Etymologie nichts zu schaffen hat, und ich sehe durchaus ein, daß ein Grammatiker sich sogar darüber lustig machen könnte. Es versteht sich ebenfalls von selbst, daß meine LektUre gewisser Wörter ganz und gar persönlich ist und nur im Kontext dessen - ich wiederhole es - einen Sinn hat, was ich zum Ausdruck bringen suche. Letztlich geht es mir vielleicht einzig darum, des ursprünglichen Sprachrausches erneut teilhaftig zu werden, jener Trunkenheit des Kindes, welches dem Wort instinktiv das entnimmt, was ihm unvergänglich zu sein scheint. 21
Das Erleben am Ursprung kommt dem religiösen Erleben gleich. Dieses soll sich auch nach seiner schriftlichen Fixierung in der Ordnung und kommunizierbaren Bedeutung einer gemeinsamen Schrift zumindest erahnen lassen: Man braucht die Romantiker des Wissens, wie Novalis und Friedrich Schlegel es waren.
20 21
Jabäs: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 32f. Jabös: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 38f.
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Jedes große Wissen braucht ein mystisches Geleit, wodurch es in den gesellschaftlichen Geist eingeführt wird. Ohne vorherige Verschmelzung wird es nicht symbolfähig. (NA 150)
Jeder Text, der die Verbindung zum ganz anderen verloren hat, ist für Strauß so bindungslos, daß er einerseits zu Paradoxa und Ambivalenzen führt, andererseits mißbraucht werden und zur Gewalt führen kann.
Emmanuel Levinas - die Philosophie des Sokratismus als Grundlage der Gewalt In der Immanenz des "Niemand anderes", der Immanenz des Textes ist der andere immer nur ein Spiegelbild des "Ichs". Gefangen in den unendlichen Spiegelungen ist fur Strauß das wahre andere nur als Fremdes, als Epiphanie zu empfangen. Dieses Empfangen hat durchaus etwas mit Intuition, Hören und Mystik zu tun. Der andere soll bei Strauß wie das Kunstwerk nicht begrifflich zugetextet, sondern, wenn überhaupt, als Äquivalent eines dichterischen Textes empfangen werden. In seinem Essay "Anschwellender Bocksgesang" kritisiert Strauß am "'Typus' des Deutschen als Repräsentanten der Bevölkerungsmehrheit": (BG-P 12) Er hat "offenbar das sinnliche Gespür - und das ist auch oft: ein sinnliches Widerstreben und Entsetzen - für die Fremdheit jedes anderen, auch der eigenen Landsleute, verloren." (BG-P 12) Die existentialistische Vorstellungswelt, daß jeder andere ein Fremder ist, gründet bei Strauß auch in der Philosophie von Emmanuel Levinas. Für Levinas, dessen Familie zu einem großen Teil in deutschen Vernichtungslagern umgebracht worden ist, ist eine Philosophie dann wahr, wenn sie dafür sorgt, gewaltsame Übergriffe des Subjekts auf den anderen, wie sie sich in potenzierter Weise im Holocaust realisierten, zumindest theoretisch und philosophisch nicht zu unterstützen oder zu legitimieren. Denn wenn der andere durch das Erkenntnisraster der Überlieferung der Philosophie des Sokratismus beobachtet wird, wird die Selbstbestimmung des Individuums zum Fundament der Gewalt.
3.1. Die Fremdenführerin 3.1.1. Der Sündenfall der Erkenntnis Der Anfang der "Fremdenführerin" initiiert mit der Erkenntnis des anderen den "Sündenfall", der paradoxerweise die Bedingung des Sehens des anderen ist: Auf der Spitze meines Ideals dreht sich freilich ein verneinendes Absolutum: die Unfruchtbarkeit von Adam und Eva. Meine Religion reicht zurUck bis zum Augenblick der Erkenntnis. Ihr Anfang ist der Sündenfall. Mein Glaube beginnt mit der Hintergehung Gottes. Nur ohne Eden bin ich dir begegnet. Nur im Fallen, nur in der Vertreibung habe ich jene Umklammerung erfahren, die mir jeden Sinn für eine höhere, letzte Verheißung geraubt hat. Nur ohne Eden werde ich dich Wiedersehen. Ich weiß wohl, daß dies eine unhaltbare und absurde Religion ist, gewiß sogar eine frevelhafte Abirrung, die darauf hinausläuft, den Sündenfall zu verherrlichen, da aus ihm erst, aus dem unaufhörlichen Sturz der Lichtfunke des Paars entsprang. Aber ich spüre nur zu deutlich, daß mich Glück und Fluch mit einem einzigen Bannstrahl getroffen haben. (NA 42)
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So ist das Paar Kristine und Martin von vornherein in eine Geschichte eingeschrieben, die schon zu Ende ist: Kristine: Was glaubst du: ob unsere Geschichte ein gutes Ende nimmt? Martin: Was wäre denn ihr gutes Ende? Kristine: Daß sie überhaupt keins hätte! (FF 63)
Der Lehrer Martin will zurück an den Ursprung des abendländischen Denkens und trifft hier die Frau, der Ursprung ist das Paar: Weil mir manches schiefging, dachte ich, ich sollte eine Zeitlang zu den Quellen gehen, dorthin, wo unsere Ideenwelt entstanden ist. (FF 21)
An der Quelle trifft die Vernunft der griechischen Antike, der Lehrer, auch auf die Religion des Christentums, auf Kristin-e, Athen trifft Jerusalem. Martins Wunsch ist es, den Quell der philosophischen Klarheit zu finden: "Wo ursprünglich alles heiter und gerade war. Harmonisch. Vernünftig." (FF 21) Er begegnet aber als Urelement nicht dem Geraden, sondern der Wiederkehr, nicht der Harmonie, sondern der Verfehlung. Der Anfang ereignet sich im Stadion von Olympia, in dem Frauen nicht zugelassen waren, in einer Sprache der männlichen Ordnung. Der Lehrer doziert, kopiert die symbolische Ordnung, die Frau lebt aus der Verbindung zu einer Erfahrung des anderen, die die Liebe erhält, zu Vassiii. Dieser symbolisiert als Archäologe das Ausgeschlossene der Ordnung, er ist für den Mann Martin das störende Element in der Ordnung von Olympia. Olympia verweist auf die Ordnung im Homerschen Text, denn erst die als Familie dargestellte, hierarchisch gestaltete Macht der olympischen Götter bringt Ordnung in den Mythos. Das Treffen des Mannes mit der Frau ist bereits zu Beginn exklusiv, außer dem Paar, außer "Ich" und der andere, ist am Ursprung niemand zu sehen: "Sehen Sie nach, ob da noch ein anderer kommt." (FF 9) Im Durchgang zur "Wettkampfstätte", zur Stätte, an der im Theatertext um den anderen gerungen wird, wie Jakob mit dem Engel gerungen hat um seinen Glauben, ist "Niemand anderes" (FF 9). Der Beginn ist zugleich das Ende, der Ursprung biegt sich auf sich selbst zurück, das Paar ist am "Ende [seines] Rundganges angelangt." (FF 9) Vor den Augen des Paares zeigt sich das ganze Schauspiel der Welt, das sie auf der Bühne von "Die Fremdenführerin" nun wiederholen: Das Sehen, das Schauspiel, die Theorie und das Theater "erstreckt sich vor [ihren] Augen" (FF 9) als Spiegel ihres eigenen Textes. Die "Olympiaden sind aus religiösen Feierlichkeiten hervorgegangen" (FF 10) wie die Sprache selbst. Der Wettkampf, der die Zeit determiniert, denn nach "den Sportlern, die hier beim Wettlauf siegten, wurden nicht nur die Olympiaden benannt und sie gingen damit in die offizielle Geschichtszählung ein" (FF 9), konstituierte im antiken Griechenland die Sprache am Ursprung: Der Ruhm der Sieger war so groß, "daß man sie den unsterblichen Göttern gleichstellte." (FF 9) Die Welt der Religion war noch verbunden mit der Welt der Sprache. Die Zahl hatte noch nicht wie in der Neuzeit als Messung die totale Herrschaft übernommen: "Rekorde wurden nicht gemessen." (FF 11) So wird am Ursprung noch eine Nähe des Wortes zum Göttlichen vernehmbar sein, während mit zunehmendem Abstand und der Selbstreferentialität der Sprache die Liebe sich im Gerede verliert. Die Sprache stiftet die Liebe und verhindert sie zugleich, der Anfang ist schon das Ende:
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Kristine: Aussprache. Alles ausgesprochen. Ein gutes Stück weitergekommen. Aus, aus, aus. [...] Martin: Alles falsch, von Grund auf falsch. Von Anfang an - Kristine: Still. Es ist nicht wahr. (FF 74ff.)
3.1.2. Die Liebe als das andere der Vernunft in der gemeinsamen Sprache Eine Figur fehlt im Personenverzeichnis, obwohl sie als Figur auf der Bühne erscheint: Vassiii. Zwischen dem Paar kann sich nur noch einer befinden, es muß sich auch jemand dort befinden, denn: "Kein Schmetterling kennt seine Farbe. Du bist das, was dir geschieht. Der reine Zwang." (FF 42) Der eine trifft auf den anderen und mit dem Blick in des anderen Augen tritt jeder in den Text ein, der schon da ist. Die Geschichte zwischen dem Individuum ist schon geschehen und weist gleichzeitig in die Zukunft. Oder mit Lacan gesagt: Die Sprache war von Anfang an da als Voraussetzung der Subjektheit eines Individuums und sie bietet allen Abenteuern seines Seins das ihnen zugrundeliegende, schwankende Muster. Selbstverständlich kann die Sprache als abstraktes System konstruiert und zu diesem Zweck um ihre persönlichen Inhalte gebracht werden. Doch sobald die Sprache wieder die Form der Rede annimmt, übernimmt sie auch wieder ihren intersubjektiven Charakter: Sie wird dann zu 'einem dritten Ort'.22
Der dritte Ort ist der grenzenlos mobile Raum, in dem das Subjekt und sein anderes generiert, zerstreut und wieder generiert werden. Zu Beginn ist der Raum noch ein Bungalow, die Sprache kann sich bewegen, ein- und austreten. Im zweiten Akt verhärtet sie sich. Diese Verhärtung wiederholt die Entwicklung der Sicht auf die Welt am Ende des 19. Jahrhunderts. So etikettiert Saussures Dichotomie der humanen Rede in Sprache und Sprechen Sprache in der Form einer diskursiven Ordnung, die als Ordnung der Symbole arbeitet. Diese wirkt imaginär in jedem einzelnen Subjekt und zugleich komplett in der Totalität der Individuen. Im 20. Jahrhundert wird die Sprache in der Philosophie als Zentrum angenommen, siehe Wittgenstein, siehe Heidegger, Bühler, Austin, Searle, Habermas etc. Der nietzscheanische Mittag, in "Die Fremdenführerin" der zweite Akt, ist angebrochen. Er zeigt sich als ewiger Traum, den die "Hirten" der Herden träumen und in dem sie selbst geträumt werden, das transzendentale Signifikat hat sich nun in die Undarstellbarkeit verabschiedet: Martin: Die Hirten stöhnen im Schlaf unter den ölbäumen. Kristine: Es gibt keine Hirten hier. Martin: Natürlich gibt es welche. Kristine: Hirten? Echte? Du träumst. Früher, ja. Aber heute? (FF 55f.)
Der Dritte "zwischen" Kristine und Martin ist Vassiii, er ist noch ganz jung. Er ist ein Genie. Er könnte alles machen. Er spricht sechs Sprachen fließend. Er kann ganze Bücher auswendig. Er ist Archäologe. Er hat immer die Führung gemacht, die ich jetzt mache. (FF 18)
Jeder ist der Fremde des anderen und geführt hat einst der Text, der nun der andere ist. Ähnlich wie Levinas analogisiert Strauß in "Die Fremdenführerin" die Liebe zu 22
Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, in: ders.: Schriften. Band 2, a.a.O., S. 15-55, hier: S. 51.
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Gott mit der Anerkennung des anderen als Fremden, die Liebe zu Gott ist die Liebe zum anderen. Vassiii repräsentiert den einstmals dem Göttlichen nahen Text, den reichen Mythos. Der Name Vassiii verweist auch auf den Be-Gründer der - der Begriff ist wörtlich zu verstehen - gegenstandslosen Kunst, Wassily Kandinsky. Strauß spielt hier mit der Bedeutung der Begriffe, eine Kunst ohne Gegenstand ist analog zu sehen wie ein Diskurs, der sich nicht mehr als Repräsentation versteht, sondern als Zentrum. Nun ist Vassiii als die gegenstandslos gewordene Liebe, welche die auf das ganz andere verweisende Dichtung nicht nur symbolisiert, sondern wie der Mythos auch ist, unter dem Blick der Aufklärung, die vor allem vom Mann, vom Lehrer vorangetrieben wird, nicht lebensfähig. Kristine erkennt die Wichtigkeit von Vassiii: Er hat uns alle durchschaut. Er hat, von uns aus, als einziger noch einmal dahintergeblickt. Was hinter dem Mensch-Sein ist. (FF 16) Das Heilige zeigt sich hier noch in der Sprache. "Er ist es" (FF 18). seine Erscheinung verweist auf Christus, er ist der "Sohn des Dirigenten" (FF 25). Als Heiliger Text wird er jedoch nicht mehr wahrgenommen, Vassiii wird immer mehr zum verzerrten Text, der "Bacchus" (FF 22) ist kein vitaler Dionysos mehr. Als der ausgeschlossene Teil der göttlichen Einheit kann er nur "krank" sein "zur Zeit" (FF 12). Er schafft es nicht mehr, die Liebenden aus dem Gefängnis der differenzierenden Sprache zu befreien: Ein junger Mensch, der weit hinausgegangen ist und doch unverrichteter Dinge heimkehren mußte, bevor er die Pforte zum Leben wirklich aufstoßen konnte. (FF 44) Nur Kristine konnte mit ihm kurz den Blick aus dem Sichtbaren, dem Theater, der Sprache machen, als Christin konnte sie das ganz andere noch ahnen, das sich im Verkehrten, Ausgeschlossenen als Spur zeigt : "Du bist an seiner Seite gewesen. Du hast mit ihm im Dunkeln ausgeharrt." (FF 44) Martin kann das Dunkle, das Ausgeschlossene in seinem Bewußtseinsraum nicht akzeptieren. Als sich Vassiii hinter der Scheibe des Bungalows, in Martins Bewußtsein befindet, wird er prompt aufgehellt: "Vassiii verschwindet ins Bad." (FF 26) Das Dunkel wird "gereinigt", "aufgeklärt". Kristine provoziert in Martin nur gereinigte, aufgeklärte Texte (Kleider), die sie aus Martins Bewußtsein trägt. Man kann die Texte nun sehen, sie sind im "Vorgarten", in der strukturierten Helle des Tages. Vassiiis Verschwinden als dritte "Figur" aus dem gemeinsamen Text ist analog dem zunehmenden Erkalten der Sprache in der Zeit, die von ihrem göttlichen Ursprung bis zu ihrer Selbstreferentialität reicht. In "Niemand anderes" beschreibt Strauß diese Entwicklung: Das viele Reden, das langsam versiegt. Sie haben sich um Seele und Sehen geredet. Sie haben den ganzen Atem der Sprache ausgehaucht, sie haben ihn verbraucht. Der Hauch, gottgegeben, Menschensprache, verbraucht, verpufft, vergeudet. Nach der Beschwörung wurde das Wort Gesetz. Nach dem Gesetz wurde das Wort Gespräch. Nach dem Gespräch wurde das Wort Kommunikation. Nach der Kommunikation wurde das Wort - ausgestoßen aus der menschlichen Gemeinschaft. Sinnlos irrt es nun von Mund zu Mund und läßt uns zurück in einer unberufbaren Welt. Ewiger armer Wanderer... Wir vergehen in Ausgesprochenheit. (NA 44f.)
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Für Strauß ist die Begegnung mit dem anderen als Fremden jeweils kurz die Erinnerung an den Ursprung. Um so länger mit dem anderen geredet wird, umso mehr erkaltet die Sprache zwischen beiden und die Beziehung: Kristine: "[...] Mir ist kalt!" (FF 44) Denn Martin verweigert es, ein "Nistplatz für anderer Leute Leidenschaften" (FF 24) zu sein. Er wirft Kristine vor, sie wolle ihren "dreckigen Bacchus" in sein "Bett legen" (FF 22): "Willst du mir zumuten, daß ich mich neben deinen betrunkenen Liebhaber ins Bett lege, oder wie denkst du?" (FF 25) Den Übergriff mißversteht Martin gründlich, er ist als Angebot Kristines gedacht, den feststellenden Begriffen zu entkommen: "Du kannst mit zu mir kommen." (FF 25) Die Frau will den Mann von seinem vernunftszentrierten Skeptizismus abbringen: "Spotte nicht! Geh einen anderen Weg!" (FF 22) Er soll einen anderen, einen ausgeschlossenen Weg gehen, im Sinne von Christus' Wort: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben". Vassiiis Kopf umfaßt nicht nur die Engfuhrung der Diskursordnung, sondern das Ganze: "Ein Kopf wie ein Universum." (FF 22) Damit gerät er aber in den Konflikt mit der Ordnung der Vernunft in Martins Kopf. Vassiii ist dort der ausgeschlossene, der nicht zugelassene Text, den die Anwesenheit Kristines in ihm evoziert: Martin: Was hast du gedacht, als du mich zum ersten Mal sahst? Kristine: Ich dachte: trinkt, Lügt. Leidet. Martin: Ich trinke nicht. Ich lüge nicht. Das war der andere. Kristine: Du flunkerst manchmal. Martin: Du tust es. (FF 53)
Martin ist ebenfalls der andere, den er in sich verleugnet. Als Vassiii als der andere verschwindet, sucht Kristine ihn in Martins Kopf, sie sucht Vassiiis eingeschlossenes Ausgeschlossenes, den "Kulturbeutel" (FF 43). Martin verleugnet sein anderes der Vernunft: "Hier ist nichts mehr von ihm." (FF 43) Kristine will mal "nach[]sehen[!]". Aber gerade das Sehen wird Vassiiis Text erst recht verschwinden lassen, "bei Licht sieht man natürlich diese Dinge gerade nicht" (FF 45). Kristine vermißt nun genau den Text, der nicht zu verstehen ist und auf das andere der Vernunft verweist: "Kristine: [...] Irgendetwas hat er noch gesagt, das ich nicht verstanden habe." (FF 43) Der Glaube kann nicht restlos verstanden werden. Κ will die Ek-stasis wiedererleben, will mit Martin schlafen. Er jedoch ermahnt Kristine: "Vernünftig sein!" (FF 44) Und Kristine weißt Martin im Foucaultschen Sinne darauf hin, daß Vernunft in der Moderne Wahnsinn bedeutet: Vernünftig? Bist du wahnsinnig? Weißt du, was mir passiert ist? Ich wach mit einem Toten auf! Und ich soll vernünftig sein?! (FF 44)
Nach dem Aufwachen, am Tag ist die Sprache ohne die Anbindung an das Göttliche nur "tote" Materie, Vassiii ist aus dem Text verschwunden. Für Levinas bricht der fremde andere ein in die Wahrnehmung des einzelnen wie eine Epiphanie. So ist Vassiii ein Verweis auf die Epiphanie des immer fremden anderen als Ahnungsträger des "Ganz Anderen" (NA 41). Nachdem Vassiii durch das ewige Gerede zum Verschwinden gebracht wurde, kann er nur noch als emergentes Ereignis in das erkaltete "Haus" der gemeinsamen vernünftigen Sprache, in das vernünftige Bewußtsein durch die selektive Wahrnehmung, das "Fenster" durchbrechen als verzerrtes schreckliches anderes der Vernunft:
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In diesem Augenblick erscheint im Fenster eine Pan-Gestalt. Kristine springt auf, und beide dreschen unverzüglich aufeinander ein, sie mit dem Fächer, die Gestalt mit einer Narrenpritsche. (FF 66)
Das erschreckende Fremde ist Martin selbst als das andere der Vernunft. Dieses wird Kristine auch von Martin wieder entfernen, es wird als Begehren die nun erkaltete Sprache zwischen beiden, die erkaltete Beziehung, hinter sich lassen: "Mit einem Hufbein wird kurz und bös gegen das Haus gepocht." (FF 75) Strauß sieht die Möglichkeit zur Erkenntnis der Ganzheit des anderen nur im momenthaften emergenten ersten Blick, der noch nicht begreift, und indirekt im Einbruch des Fremden als das verdrängte Unheimliche. In seinem Text "Der junge Mann" versuchen die "Synkreas" eine Näherung an das in die Wirklichkeit unkopierbare Musterbild des Parzival, des makellosen Toren, der kein Vorurteil hat, der keine vorher festgelegte Perspektive beibehält. Eine solche Annäherung an das Undarstellbare wäre im zweiten Akt der "Fremdenfuhrerin" der unselektierende Blick oder der Sprung aus dem Fenster. Aber dies geht nicht, im Fenster ist das "Buch", das die Aussicht versperrt. Und das ist auch gut so, denn zu sehen wäre nur das Chaos der physikalischen Welt der Wellen, das Rauschen des Hintergrunds, vor dem sich die Form erst bilden muß. Die Situation der Immanenz des Buches der Welt, in der jedes Bewußtsein eingeschlossen bleibt, wird durch die letzte Handlung von Martin symbolisiert. Er geht zum Fenster, nimmt von dort das Buch. [...] Er liest... : [...] 'Wie da Pan, der Syrinx schon meinte gefangen zu haben, statt eines Nymphenleibes nur Schilf in Händen gehalten. Wie dann der Wind, indes der Gott dort seufzte, das Röhricht streichend, erzeugt einen Ton von zartem, klagendem Klange, und wie der Gott, berückt von der neuen Kunst und der Stimme Süße, gerufen: 'Dies Gespräch mit dir wird mir bleiben!', Rohre verschiedener Länge mit Wachs zusammenfügt und wie er im Namen der Flöte den N a m e n des Mädchens bewahrt hat. - All dies wollte Merkur noch erzählen, da sieht er, daß all die Lider gesunken, und Schlaf die Augen aller bedeckte. (FF 76f.)
Trotz des Traums der Individuen der Moderne verschwindet im Lesen der Dichtung, in der Erkenntnis des Verlusts des Ganzen und des Ursprungs, das fürchterliche Denken einer rein materiegläubigen Moderne, die Kunst erinnert an den Verlust: "Der Mittag vergeht." (FF 76)
3.1.3. Die Dramaturgie der Verkennung Die "Führung" der Identität des Individuums durch den anderen ereignet sich in einer Sprache, die nach dem "ursprünglichen" ersten Kontakt mit dem anderen zunehmend erkaltet. In "Niemand anderes" schreibt Strauß: Sie sitzt da mit leicht geöffneten Knien unter dem zimtfarbenen Sommerkattun, beißt auf den Rücken des Zeigefingers. Sie sieht dich, weil du ihr Fremder bist, ingrimmig an. Mit dem Ingrimm und der Kälte des Begehrens. Wie du auch handeln wirst, sie handelt von nun an. Dies jedenfalls behauptet das Auge. Aber es erzählt ja die ganze Geschichte, die kommen wird. Daher schimmert in seiner Kühle auch Ende, Kränkung und Schmerz. ( N A 40)
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Der Blick auf die Frau reflektiert auch die Geschichte der nun ablaufenden Verkennung. Der andere als der hinter der Sprache nicht Begreifbare wird die Handlung bestimmen: Und doch ist es allein der andere, der uns erhält. Mögen wir ihn noch so sehr mit eigenen Einbildungen und Illusionen ausstopfen und umgarnen, gerade indem wir durch ihn so viele Reflexe von uns selbst empfangen, erfahren wir doch, daß der andere zuletzt ein Unantastbarer, ein Unerweichlicher ist. (NA 40f.)
Kristine reflektiert diese Situation, indem sie von ihrem anderen den Be-Griff, die "Hand" fordert, da sie nun "weiß" und da sie die weitere Geschichte zwischen beiden als "Ausbluten" erkannt hat: Du mußt mir vertrauen. Dann geht alles leicht. Gib mir deine Hand. Wir sind ein gutes Stückchen weitergekommen, Vassiii und ich. Ich weiß jetzt, daß ich von ihm loskommen werde, und er weiß auch, daß das geschehen wird. Es ist wie ein langsames Ausbluten. (FF 32)
Diese unaufhebbare Verkennung zwischen Mann und Frau, von deren Liebe am Ende nur das "Gespräch" (FF 76) bleibt, analogisiert Strauß mit der Erwartung der Wiederkehr Christus' in der "Zwischenzeit", die durch das Wort tradiert wird: Kristine: Alles rührt daher, daß die drei Reiter nicht eintrafen. Martin: Die drei Reiter trafen nicht ein? Kristine: Es rührt daher, daß das Ende ausgeblieben ist. Wir hatten mit dem Ende gerechnet. Vassiii und ich. (FF 40)
Kristine zitiert hier die "apokalyptischen Reiter" aus der Offenbarung des Johannes. Diese sind eigentlich vier an der Zahl - siehe Off 6 - . Eventuell deutet Strauß den vierten apokalyptischen Reiter, den Tod, als erkaltete Schrift, die den "Tod" der Liebe bereits bewirkt hat. Die Ankündigung der Ankunft Christus' in der Offenbarung des Johannes initiiert die Erwartung und die Zwischenzeit in der durch den Text konstituierten Erinnerung. So bleibt das Wort in der linearen Zeit, das die Frau und den Mann sich gegenseitig lieben und gleichzeitig sich verkennen läßt. Der säkularisierte Text der Nachmoderne radikalisiert die Verkennung: "Alles scheint auf schreckliche Weise immer anfaßbarer und entschwindender zugleich zu werden." (NA 193)
3.1.4. Die Archäologie des Ursprungs und die Rückkehr zum Neuplatonismus Um JNC zu packen, legte sie sich folgendes zurecht: Jahwe Nemo Caesar. Ja, das mußte es sein: Herr Niemand Kaiser. Oder weiter gedacht: Ewig Nie Zeit. Wiederum der Dreifaltige. Nach wie vor. Zufrieden mit der Lösung? Die Abkürzung JNC hatte alle übrigen Initialen der Erde getilgt, aufgelöst, in sich einbezogen. JNC war allgegenwärtig und einzig. [...] In diese drei Buchstaben zog sich die Schrift von der Erde zurück und verschwand. Sie waren ihr letztes, reines, absolutes Symbol. Jedenfalls war das ihre These. (NA 61f.)
In "Die Fremdenfuhrerin" steht zwischen der Frau und dem Mann als Verbindung und zugleich Trennung Vassiii. Er ist "Archäologe", (FF 18) sein Beruf symbolisiert die Schichtenstruktur des Textes der Welt. Wie in "JNZ", in "Ewig Nie Zeit", ist die Sprache für Strauß ein "Gefäß", in dem das Ganze und das Differenzierte, die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft enthalten ist. Evident wird diese
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Fülle am ehesten in der Dichtung. So ist die Figur Vassiii der Dichtung näher, als der nach seinem Verschwinden zwischen Frau und Mann kursierende erkaltete Text, das Steinhaus, in dem sich die Frau und der Mann wiederfinden im zweiten Akt. Ähnlich Ldvi-Strauss' Vorstellungen von den unbewußten Strukturen, die der Ethnologe im Rekurs auf die Geologie als Sediment-Form abstrahiert, ist in der Sprache der Gegenwart immer etwas dahinter, bzw. darunter. Strauß sieht in der Tiefe der Zeit die Schichten als Verwandlungen der Masken, nicht als deren lineare Verbindung in einem Fortschrittsmodell. Es geht Strauß nicht mehr, wie Hegel, um die Geschichte als linearen Zusammenhang, sondern neuplatonisch gedacht um das Ganze, das als Ewigkeit außerhalb der Zeit undifferenziert ein Zentrum bildet und von dort in der Zeit die verschiedenen Formen und Masken ausprägt. Natürlich ist Hegels Weltgeist ein Erbe des vom Neuplatonismus beeinflußten christlichen Denkens, Strauß nimmt aber nicht mehr wie Hegel an, daß das Heil im Diesseits erlangt werden kann. Er macht ganz im Gegenteil die Vernunft für die Differenzierungen in der Welt, die die Ganzheit verhindern, verantwortlich. Wie Foucault traut Strauß dem Streben nach dem Ganzen im Diesseits nicht. Foucault schreibt über sein Archäologie-Paradigma: Es handelt sich [...] um eine Untersuchung, in der man sich bemüht festzustellen, von w o aus Erkenntnisse und Theorien möglich gewesen sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat, auf welchem historischen Apriori und im Element welcher Positivität Ideen haben erscheinen, Wissenschaften sich bilden, Erfahrungen sich in Philosophien reflektieren, Rationalitäten sich bilden können, um sich vielleicht bald wieder aufzulösen und zu vergehen. Es wird also nicht die Frage in ihrem Fortschritt zu einer Objektivität beschriebener Erkenntnisse behandelt werden, in der unsere heutige Wissenschaft sich schließlich wiedererkennen könnte. Was wir an den Tag bringen wollen, ist das epistemologische Feld, die episteme, in der die Erkenntnisse, außerhalb j e d e s auf ihren rationalen Wert oder ihre objektiven Formen bezogenen Kriteriums betrachtet, ihre Positivität eingraben und so eine Geschichte manifestieren, die nicht die ihrer wachsenden Perfektion, sondern eher die der Bedingungen ist, durch die sie möglich werden. In diesem Bericht muß das erscheinen, was im Raum der Gelehrsamkeit die Konfigurationen sind, die den verschiedenen Normen der empirischen Erkenntnis Raum gegeben haben. Eher als um eine Geschichte im traditionellen Sinne des Wortes handelt es sich um eine 'Archäologie'. 23
Foucault wendet sich damit gegen die "ganze Quasi-Kontinuität auf der Ebene der Ideen und der Themen", sie ist "wahrscheinlich nur eine Oberflächenwirkung". 2 4 Die Archäologie in "Die Fremdenfuhrerin" trägt die Schichten ab, um in der Gegenwart den unendlichen Untergrund aller Zeiten festzustellen. Abweichend von Foucaults Diktum, daß es keinen Fixpunkt außerhalb der Geschichte gibt, nimmt Strauß, indem er sich wieder christlichem Denken nähert, wie Augustinus das wahre Zentrum außerhalb der Zeit, im Jenseits an. In der Zeit geht Strauß nicht von einem linearen Übergang, wie ihn die Geschichte nachzeichnet, aus, sondern vom emergenten Systemwechsel. Bei Strauß ist jedes eigene System die Ausprägung einer Maske in der Zeit. Alle Masken sind in der Sprache enthalten. Vassiii ist der Grund aller Zeiten und Masken.
23 24
Foucault: Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 24f. Foucault: Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 25.
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3.1.5. Sprache und Raum und Zeit Das Wort ist der Garant der Erinnerung. Gleichzeitig mit der Vergegenwärtigung des Ursprungs entzieht das Wort jedoch den Ursprung und so erzeugt es eine Leerstelle, übrig bleibt nur das Gefühl des Verlusts. Um so differenzierter das Wort jedoch erinnert wird, um so genauer aus dem unendlichen Archiv die Erinnerung geschieden wird, umso weiter entfernt man sich vom Ursprung: Martin: Wenn man sich nur genau genug erinnern würde, dann wär wohl kaum etwas der Erinnerung wert. Aber das Vergangene ist eingelegt in den Glibber des Verlusts ... das schmeckt so gut. Stell dir eine Droge vor, die erzeugte nicht Rausch, nicht Schlaf, sondern die reine Vergegenwärtigung - . (FF 53f.)
Im emergenten Moment ist alles Gegenwart, die Zeit wird zur Ewigkeit. Dagegen steht die "genaue" Erinnerung, sie bedeutet eine Erinnerung als Linie, eine auf den Begriff gebrachte Erinnerung. Denn hier wird die Vergangenheit vom Gedächtnis in eine genaue Ordnung gebracht. Eine solche Ordnung verhindert die wahre Einheit durch die Differenzierung der Wahrnehmung. Erst eine "reine Vergegenwärtigung" läßt in der Zeitlosigkeit der Emergenz das Ganze, die Einheit erleben, ist somit eine nicht auf den Begriff gebrachte, ungeordnete, undifferenzierte Einheit. Für Strauß ist die emergente Begegnung mit dem anderen als Fremden jeweils kurz die Erinnerung an den Ursprung. Um so länger mit dem anderen geredet wird, umso mehr erkaltet die Sprache und die Erinnerung als Wörterkette schiebt sich zwischen die Fremden, sie erkennen sich und verfehlen sich zugleich. So ist jede Begegnung mit dem anderen als Fremden ein Zeitraffer der linearen Geschichte, die sich seit dem Ursprung des Wortes ereignet hat. Im Raum der Posthistoire ist dies möglich. Die lineare Zeit biegt sich auf die voraugustinische mythische Zeit zurück und umgekehrt. Dieser Wechsel findet für Strauß andauernd statt. Der "Raum in einem kargen Berghaus" (FF 49) symbolisiert die karge Sprache in der Höhe der Übersicht. Dies ist die Situation der Sprache nach dem Ursprung, in der Geschichte, wobei Geschichte sowohl die historische, als auch die zwischen Mann und Frau und speziell zwischen Kristine und Martin ist. Die "Reisetaschen" (FF 49) verweisen auf die Situation des Menschen als Pilger, wie sie bereits Augustinus beschreibt. Und das Begehren treibt die beiden auf die "Reise" durch die Signifikanten. Das Sehen, die Theorie, die Reflexion zeigt beiden nun ihren Zustand der Immanenz in den Wörtern: "Siehst du? Das ist es nun. Ein sehr kleines, ein sehr armes Haus" (FF 49), das Haus der Sprache (Heidegger) befindet sich nun unter der Auf-Hellung der Sonne in der Zeit der Auf-Klärung: "Außerdem ist es sehr heiß. Das Haus steht ungeschützt." (FF 49) Wie in "Der junge Mann" befinden sich die Frau und der Mann im unendlichen Netz der Wörter und Verbindungen des Gehirns, in einem mehrzeitigen Gefiige, der Wildnis von gleicher Zeit. Als letzter Orientierungspunkt bieten sich in dieser Unendlichkeit nur noch kurze Zeiträume an. Nicht der Geschichtsschreiber, sondern der Diarist kommt zum Zug. Die kleinen Szenen im zweiten Akt sind die kleinen Ordnungsinseln, die man "Gegenwart" nennt, sie markieren die Wiederkehr des immer gleichen Tages: "Nur das Tagebuch kann einen physischen Eindruck davon geben, was Lebenszeit in rauher Menge ist. Die Täglichkeit. Alle Tage. Etwas, das keine Biographie erfaßt. Diese graue Masse, die schmierige, zähflüssige
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Tagtäglichkeit, in der jedes 'Ereignis' untergeht." (NA 193f.) Die "graue Masse" ist im zweiten Akt der "Fremdenführerin" das "Berghaus" und die ermüdende Helligkeit. Zu Beginn der Liebe gehen die Frau und der Mann noch im Glas-Bungalow Martins, in dessen offenem Bewußtsein ein und aus, der Text kann durch die hellen Glasfronten hindurch gehen, ist sichtbar. Dann gerät der eine in die Gefangenschaft der feststellenden Be-Griffe des anderen. Diese Gefangenschaft wiederholt das Erlebnis von Blanchots "Thomas der Dunkle", der in einem Text-Keller mit dicht abschließenden und einschließenden Text-Mauern aufwacht, nachdem sein anderes Ich im Meer des Textes verschwunden ist, er also in die Sprache eingefügt wurde. Das Steinhaus des zweiten Akts erweist sich als erkaltete Sprache, als Käfig der unendlichen Sprache, in dem die Liebe keine Chance mehr hat: [...] Das Haus steht offen ... alles frei. Kannst gehen, wohin du willst. Sieh zu, wie weit du kommst. Du sitzt genauso in meinem Gefängnis wie ich in deinem. So einfach kommst du nicht raus aus der Geschichte. (FF 61)
Kristine reflektiert hier eine Situation, vor der Martin noch gewarnt hat: "Martin: [...] Wir gehören getrennt, sofort." (FF 40) Aber Kristine ist mit dem kurz aufleuchtenden "Gesicht", mit einer kurzen Affaire ("Gesicht", lateinisch "facie", daher stammt "Affaire") des anderen nicht zufrieden, sie will mehr erfahren und die "Geschichte" beginnt: "Kristine: [...] Keine Geschichte, doch nur eine Affäre?" (FF 40) Doch die "Geschichte" fuhrt paradoxerweise in das unendliche Buch. Da das Zentrum im Jenseits im 20. Jahrhundert in den meisten Texten negiert wird, das Zentrum, an dem Augustinus noch seine lineare Geschichte festmacht, gehen Kristine und Martin in einen Raum der Zeiten ein wie der "junge Mann" am Ende der linearen Straße, nachdem er in den Genetschen "Zofen", auf dem Genetschen "Theater", das sich in die Realität fortsetzt, durch die "peitschenschwingende Initiationswärterinnert" in die Relativität von Raum und Zeit eingeführt wurde. Da die Sprache im zweiten Akt der "Fremdenführerin" als unendliches Buch immer "ist", gibt es keine lineare Handlung, jedes "Zeitzeichen", jeder "Lichtbruch" zeigt, daß es immer nur um "Sammlungen" zwischen den "Auflösungen" geht. In einer Sprache, die ohne Ursprung als reine tote "Materie" am Mittag persistiert, fungieren die "Zeitzeichen" und "Lichtbrüche" als Zeichen der Eigenbewegung der Sprache, deren haltloses Kommen und Gehen. Schon im ersten Akt hat der reiche Text, hat Vassiii Schwierigkeiten mit der linearen Zeit: Er kann nicht mehr vor die Leute treten und sagen, hört mal, das ist früher und das ist später, das sind die Griechen, das die Römer. Er schmeißt alles um. (FF 25)
Denn einmal ist Christus Alpha und Omega, Anfang und Ende. Und im Ritus, in dem die Erinnerung vergegenwärtigt wird, verschwindet die lineare Zeit durch den Einbruch des Göttlichen. Zum anderen ist Vassiii dabei, aus dem erinnerungsreichen Text zu entweichen. Damit wird die durch die Hoffnung auf seine Wiederkehr gestiftete lineare Zeit wieder aufgelöst, aber nicht in den paradiesischen Zustand vor der Differenzierung, sondern in den Zustand der Relativität der Differenzierung. Andauernd Umordnungen, aber die Gefangenschaft in den Wörtern bleibt. Das "Zeitzeichen" simuliert das Einbrechen des zeit- und ortlosen Mythos im Ritus in die Zeit nur, denn der Mythos ist zersplittert. Die Blanchotsche "Zeitekstase" erlaubt zwar den Sprung durch die Zeiten im unendlichen Buch:
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Erleben, wie die Zeit aussetzt, erleben, wie mit blitzschneller Bewegung zwei Augenblikke, die unendlich weit auseinanderlagen (allmählich und doch im Nu) aufeinander zustreben, sich miteinander vereinigen, als würde durch die Metamorphose der Sehnsucht aus zwei Gegenwartszuständen ein einziger und gleicher - das heißt, die gesamte Wirklichkeit der Zeit durchmessen, heißt, indem man sie durchmißt, die Zeit als Raum und leeren Ort, das heißt als einen vom Geschehen entblößten Ort, von dem er sonst erfüllt ist, erleben. Reine Zeit, Zeit ohne Geschehen, bewegte Leere, erregtes In-die-Ferne, werdender Innenraum, in dem die Ekstasen der Zeit in einem faszinierenden Allzugleich ihren Ort finden - was hat es mit alldem auf sich? Was ist es anderes als die Zeit der Sage selbst, jene Zeit, die nicht außerhalb der Zeit ist, aber als ein Außerhalb erlebt wird, indem sie sich in Form eines Raums darstellt, jenes imaginären Raums, in dem die Kunst ihre Darstellungsmittel findet und entfaltet.25 Aber die Fülle des Mythos, der eine ganzheitliche Erfahrung transportiert, ist verloren. Das Ganze in den Zwischenräumen ist nur noch das verwirbelte Echo der Sätze, die Kristine und Martin in den Szenen gewechselt haben. Die Sätze verhalten sich wie die in der Chaostheorie beschriebenen Turbulenzen hinter den Steinen eines Flusses. Bei Strauß sind diese Turbulenzen im Heraklitischen Fluß des Seins. Der Einfall geschieht aus der Wiederholung, daher nähert sich das "Echo von Sätzen, [...] fällt in den Raum ein und zieht wieder ab". (FF 50) In der sich ewig wiederholenden Zeit des Nietzscheschen Mittags gibt es keinen Punkt des Archimedes mehr: "Kristine: Hier oben kriegt man sicher niemals Post." (FF 54) Ein "festgesetzter Aufenthaltsort", italienisch "posta", von dem etymologisch "Post" herstammt, wäre notwendig, um eine eindeutiges Koordinatennetz zu erstellen, an dem sich eine eigene Identität und die Kausalität festmachen könnten. Physikalisch gesehen sind in der Zeit und im Raum des 20. Jahrhunderts nach der Einsteinschen Relativitätstheorie Raum und Zeit relativ, es gibt keinen absoluten Raum, die Konstante ist die Lichtgeschwindigkeit. Martin zeigt sich in "Die Fremdenführerin" physikalisch versiert: "Martin: Post? Och. Das Licht ist ständige Post. Was willst du mehr erfahren?" (FF 54) Strauß analogisiert im zweiten Akt die Lichtgeschwindigkeit als physikalischen Fixpunkt mit dem "Mittag" in der Philosophie Nietzsches und der Helle der höchsten Aufklärung der Nachmoderne: "Kristine: Ist hier denn ewig Mittag? [...] Martin: Geraume[!] Zeit." (FF 54) Raum und Zeit gehen ineinander über und kapitulieren vor dem Licht als letzten Fixpunkt. Alle Zeit fällt mit der Zeitlosigkeit in eins: "Es ist jetzt ganz still draußen. Ich hör gar nichts mehr [...] Ich hab keine Zeit..." (FF 55) Und zugleich: "Ich hab Zeit genug ... Ich hab nur Zeit. Wieviel brauchst du?" (FF 55) In der Unendlichkeit gibt es keinen Anfang mehr, Beginnlosigkeit herrscht: "Kristine: Es gibt etwas in mir, das will nicht beginnen." (FF 51) Denn mit "dieser Aufräumarbeit beginnen" (FF 51) wäre sinnlos, es wäre nur ein Umräumen. Es bleibt nichts, was die eigene Identität und den anderen fixieren könnte, "Nichts, was dich aufhalten könnte." (FF 57) Damit ist auch der Zeitfluß gestört, eine Handlung oder zeitliche Entwicklung muß sich an einem Fixpunkt außerhalb seiner selbst orientieren können: "Es gibt nichts, was an der Reihe wäre. Das nächste Jetzt fällt aus." (FF 58) So wird die Kausalität unmöglich, denn deren Grundbedingung ist, das eins auf das andere folgt, erst die Ursache, dann die Wirkung. Da sich im zweiten Akt der "Fremdenführerin" die Frau und der Mann bereits gegenseitig so im Text gefangen haben, daß der Text allein regiert,
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Blanchot: Der Gesang der Sirenen, a.a.O., S. 24.
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bleibt die Zeit stehen. Für Strauß gibt es eine Entwicklung im unendlichen B u c h nur noch, w e n n der Fremde, v o m T e x t nicht Umfaßbare, in die W a h r n e h m u n g d e s anderen tritt und kurz als L e v i n a s s c h e Epiphanie einbricht. D i e s e Punkte d e s Einbrechens lassen die Zeit, die im T e x t stillsteht, weiterlaufen. U n d so w ü n s c h t sich Kristine im Stillstand des z w e i t e n Akts, daß Martin noch einmal als v ö l l i g Fremder den G l e i c h l a u f ihres T e x t e s plötzlich stört und ihn umordnet: Kristine: Ich möchte wissen, was dich dazu bringen könnte, einmal rund um das Haus zu gehen [...] Nur eine Minute! Wo du draußen bist. Wo ich dich höre draußen, wie du ums Haus gehst. Wie du in die Luft horchst. Und diesen Augenblick, wo du in der Tür erscheinst, wo du wieder hereintrittst. Wo du wiederkommst. (FF 58)
3.2. Tetralogie über das Theater und das Theater der Welt Körper, in andre Gestalten verändert, will ich besingen; / Götter, fördert mein Werk (ihr habt j a auch jene verwandelt), / Schirmend geleitet das Lied, das vom Anbeginne der Welten - Verse an Verse gereiht - bis zu unseren Zeiten herabfiihrt! (P. Ovidius Naso, Verwandlungen) 3.2.1. L e x i s : Das Werk - die Dramaturgie der Wirklichkeit
Madame Irmas: Sie müssen nun heimgehen; nach Hause, wo alles - dessen können Sie ganz sicher sein - noch künstlicher ist als hier. (Jean Genet, Der Balkon) Die neuen Technologien, sagt Weick, finden mindestens ebensosehr in den Köpfen der Menschen und in den Kommunikationen zwischen ihnen statt wie in den Hallen der Fabriken. (Dirk Baecker, Karl E. Weick zitierend, Postheroisches Management) Die Frau: Kind! Was redest du? So schnell sagts du etwas und sagst doch nur, was nicht ist. So schnell geht das Stimmchen mit dir durch und du schreist 'Sieh!' oder 'Da! 1 ... Niemand kommt. Niemand hat das Werk verlassen. Niemand verläßt es. Vermauerte Fenster, vermauerte Türen, vermauerte Mauern, mehrfach vermauert das Ganze und jede Pore. (Wk 266) In s e i n e m A u f s a t z "Jenseits des Lustprinzips" 2 6 erörtert S i g m u n d Freud das Verhalten e i n e s eineinhalbjährigen Jungen: Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles ο o - o - o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber de-
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Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: ders.: Gesammelte Werke, Band XIII, hg. v. Anna Freud u.a., London/Frankfurt 1940ff., S. 12f.
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ren Erscheinen jetzt mit einem freudigen 'Da'. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur den ersten Teil zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing.
Das Kind erfährt sein Spiel als frühzeitiges Agieren, das erst aufgrund seiner Einflußnahme möglich wird. Die Spule wandelt sich als gesteuertes Objekt zum Symbol. So kann das Kind die Angst vor dem Alleingelassenwerden durch die Mutter und damit das Erlebnis der Entfremdung umfunktionieren in die symbolische Kontrolle der Lage. Imaginär kontrolliert wird nun das Reale im abgeschlossenen und abschließenden Bereich der symbolischen Ordnung der Sprache. Lacan bezieht sich auf diesen Passus bei Freud und kopiert ihn in seine Thesen: Wir können heute daran begreifen, daß das Subjekt in diesem Vorgang nicht nur einen Verlust bewältigt, indem es ihn auf sich nimmt, sondern daß es sein Begehren durch ihn zur zweiten Potenz erhebt. Denn sein Handeln zerstört das Objekt, das es in der antizipierenden Provokation seiner Anwesenheit und Abwesenheit erscheinen und verschwinden läßt. Dieses Handeln negativiert damit das Kräftefeld des Begehrens, um sich selbst zum eigenen Objekt zu werden. Und dieses Objekt, das sogleich in dem symbolischen Paar zweier elementarer Stoßgebete Gestalt annimmt, verkündet im Subjekt die diachronische Integration einer Dichotomie von Phonemen, deren synchronische Struktur eine bestehende Sprache ihm zur Assimilation anbietet; so beginnt das Kind sich auf den konkreten Diskurs seiner Umgebung einzulassen, indem es mehr oder weniger näherungsweise in seinem 'Fort!' und in seinem 'Da' die Vokabeln reproduziert, die es aus jenem System erhält.27
Die "vermauerte[n] Mauern" im Theatertext "Das Werk" sind das zwangsläufige Ergebnis des Eintritts in die symbolische Ordnung. Der eine Zeit lang der Gruppe der Surrealisten - deren Denken auf Freuds Thesen rekurriert und mit denen Jacques Lacan in persönlichem Kontakt steht - angehörende Antonin Artaud intendiert eine Unterbrechung der funktionierenden Herrschaft der konventionellen Begriffe und Formen. Artauds Versuch, der Immanenz des dominierenden Diskurses zu entkommen, bedeutet, daß das Signifikat wieder mit dem Signifikanten kongruieren soll. In den Kontext der historischen Avantgarde ist Artaud einzuordnen aufgrund deren Programms, den Hiatus zwischen Kunst und Leben zu überwinden. Jedoch ist Artauds Vision als "Realität" eben nur kurz oder so kurz möglich, daß man von einer gegen Null gehenden Möglichkeit, die Vision zu verwirklichen", sprechen muß. Denn die Sprache ist unhintergehbar, wenn die Welt und damit auch die eigene Identität Sprache ist. Die Immanenz der symbolischen Ordnung erstellt ein symbolisches Labyrinth, in dem sich die fragwürdigen Identitäten bewegen und bewegt werden. Die Tragödie des 20. Jahrhundert wird nicht allein definiert durch die Hybris, denn dieser fehlt das wahrgenommene transzendentale Signifikat, gegen das gefrevelt werden kann. Die Frage nach dem "Warum?", nach dem Sinn bekommt keine eindeutige, längerfristige und ubiqitär gültige Antwort mehr. Das Denken der Differenz verweigert die Hegeische Aufhebung des Unterschieds zum dialektischen Widerspruch, der das Telos der Einheit in der Synthese in sich trägt, und entläßt so die tragische Erfahrung aus der Verknotung mit totalisierender Weltdeutung [...]. Vielmehr sucht man nach dem Verfall der Metaphysik Figuren der Grenzerfahrung 27
Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse (= Rede von Rom), in: ders.: Schriften. Band 1, Ölten 1973, S.165.
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im Bereich der Kunst. Die tragische Erfahrung situiert sich nicht im Widerspruch und Paradox vor dem Hintergrund einer metaphysischen Ordnung und eines letzten Sinns, sondern im Zerplatzen aller Sinngebung. 2 8
Hans-Thies Lehmann rekurriert hier auch auf Jacques Derridas Feststellung, daß das Tragische im 20. Jahrhundert die radikale Abgeschlossenheit der Immanenz der symbolischen und entfremdenden Ordnung sei. "Niemand hat das Werk verlassen, mein Schatz, niemand wird es je verlassen", so heißt es im Theatertext "Das Werk", das "Warten auf Godot" nimmt kein Ende und die Wiederholung bleibt die einzige Abwechslung: "Wer Wache schiebt, der wartet auf nichts. Wartet doch nicht, daß irgendetwas passiert. Bereit ist er, bereit immerzu." (Wk 267) Die Spiegelungen sind unendlich und nicht zu überwinden, die Repräsentation persistiert als Gefängnis ohne wahrnehmbares Außen: Die Geschlossenheit der Repräsentation zu denken, heißt daher die grausame Macht des Todes und des Spiels zu denken, das es der Präsenz ermöglicht, sich selbst zu entspringen und sich selbst durch die Repräsentation, in der sie sich im Aufschub (difförance) entwendet, zu genießen. Die Geschlossenheit der Repräsentation zu denken, heißt das Tragische zu denken: nicht aber als Repräsentation des Schicksals, sondern als Schicksal der Repräsentation. Ihre willkürliche und grundlose Notwendigkeit. Und weshalb es in ihrer Geschlossenheit fatal ist, daß die Repräsentation weitergeht. 29
Sigmund Freuds Feststellung, daß in einer Begegnung zwischen Frau und Mann immer vier Personen beteiligt sind, koinzidiert mit Jacques Lacans Entlarvung des einheitlichen "Ichs" als trügerische Spiegelung, die sich im System der Signifikanten bewegt. Das Problem, das Strauß von Beginn an beschäftigt, ist das Paradox der Subjektivität, die zugleich sprachlich und damit intersubjektiv gegeben ist. Maurice Blanchot schreibt dazu: Zwischen Ahab und dem Wal spielt sich ein Drama ab, das man mit einem weitgefaßten Begriff metaphysisch nennen könnte; es ist derselbe Kampf, der sich zwischen Odysseus und den Sirenen abspielt. Jeder der beiden Partner will das Ganze sein, will auf absolute Art die Welt sein, was ihr Zusammenbestehen mit der anderen absoluten Welt unmöglich macht; und doch hat jede der beiden Welten kein größeres Verlangen als mit der anderen zusammen zu bestehen und ihr zu begegnen. In gleichem Raum Ahab und den Wal, die Sirenen und Odysseus zu vereinigen, das ist der geheime Wunsch, der aus Odysseus Homer, Ahab Melville werden läßt, und aus der Welt, die dieser Vereinigung entspringt, die furchtbarste und schönste aller möglichen Welten, ein Buch, leider nur, nichts als ein Buch. 30
Der Mensch geht, so Foucault, in die Zeichen des unendlichen Buchs ein, er verschwindet wie ein Abdruck im Sand. Im "Sand" vermischen sich Tag und Nacht. Das mit Wörtern ummauerte Bewußtsein im ersten Akt von "Das Werk" wird begleitet von der durch die Wörter ermöglichte Weite des Denkens im zweiten Akt, im "Morgengrauen". (Wk 268) Der Raum, der bei Strauß der Raum des Theatertextes und der Bühne ist, konstituiert sich in jedem Fall als Raum der Wörter, ob er nun als Einschluß oder frei erscheint, ob als Nacht oder als Tag. Die Schrift läßt in
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Hans-Thies Lehmann: Tragödie und Trauerspiel, in: Fischer Lexikon Literatur. Band 3, Frankfurt 1996, S. 1857-1883, hier S. 1877. Derrida: Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 379. Blanchot: Der Gesang der Sirenen, a.a.O., S. 18.
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ihrer Verräumlichung nicht mehr den genau definierbaren Unterschied zwischen Traum und Realität zu: Das Eigentliche der Schrift haben wir an anderem Orte, in einem schwierigen Sinn dieses Wortes, Verräumlichung genannt: Zwischenräumlichkeit und Raumwerdung der Zeit, Entfaltung ebenfalls von Bedeutungen in einer ursprünglichen Lokalität, die die unumkehrbare lineare Abfolge, die von Präsenzpunkt zu Präsenzpunkt voranschritt, nur hinhalten konnte und deren Verdrängung ihr in gewissem Maße nicht gelang. Insbesondere in der phonetisch genannten Schrift. Das Einverständnis zwischen dieser und dem durch das Prinzip des Nicht-Widerspruchs beherrschten Logos (oder der Zeit der Logik), dem Grund der gesamten Metaphysik der Präsenz, ist sehr tief. In jeder schweigsamen oder nicht rein phonetischen Verräumlichung der Bedeutungen sind Verkettungen möglich, die der Linearität der logischen Zeit, der Zeit des Bewußtseins oder des Vorbewußtseins, der Zeit der 'Wortvorstellung' nicht mehr gehorchen. Zwischen dem nicht-phonetischen Raum der Schrift (sogar in der 'phonetischen' Schrift) und dem Raum der Traumszene ist die Grenze ungewiß.31 Auf der Bühne des "Werks" gehen die Figuren ein und aus, man sieht nur ihre momentanen Identitäten, ihre Masken, nie jedoch ihr "Reales". Die "Gesichter" sind sprachlich vorgegebene Ur-Gesichter, die immer nur - gleichbleibend in der Wiederholung - von der Abwesenheit des "Realen" zeugen: Niemand kommt! Tag Null geht heut nicht zur Neige und morgen nicht und vielleicht in aller Herrgottsferne einmal. (Wk 266) Nur die Beendigung der "Zwischenzeit" durch die Wiederkehr Christus' wäre das Ende der Herrschaft der Wörter. Bis dahin geschieht alles nur "einmal" in der "Ferne" des "Herrgotts", denn jede Wiederholung ist das erste Mal, obwohl es sich wiederholt. Alles ist diese "Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war". Die Erinnerung, der durchlaufende Text, ist in jedermanns Kopf, der die Bühne und die Welt ist. Strauß selbst sieht sich als Durchlauferhitzer von Textfragmenten, als Kopist, der Gehörtes zusammensetzt, einen Intertext produziert und dabei "Fehler" macht, die "evolutionär" für das Neue im Alten, für die "Umtaufe" im Sein sorgen. Und so ist die Sprache, auch wenn sie so klingt, bei Strauß nie eine "realitäts"-nahe Sprache, sondern eine symbolhafte Sprache, die dabei ihren Charakter als Intertext keineswegs verleugnet. Peter Stein, der diese Strauß-Sprache inszeniert hat, sagt dazu: Man wird niemals bei Strauß das, was mehr oder weniger genau abgelauscht ist, dekkungsgleich als Versatzstück wiederfinden. Sondern grundsätzlich kommt ein spielerisches Element dazu, so daß die Punksprache, die im Park gesprochen wird und die man , wenn man sie hört, absolut als Original-Ton empfinden kann, bei der Nachkontrolle grundsätzlich freies Spielmaterial ist, ausschließlich Strauß gehört und niemals so auf der Straße gesprochen wird. Diese Spannung, die er natürlich - ich weiß nicht, wo es herkommt - entweder intuitiv oder aus professioneller Klugheit bestens verstanden hat, diese Spannung zwischen real Abgelauschtem und dann spielerisch nach vorne gebrachtem, tatsächlich szenischen Material ist fllr einen Regisseur ein ständiges Entdeckungsfeld, eine große Freude, ein großer Spaß und für mich unausgesetzt Gegenstand der Bewunderung.32 Strauß konstruiert mit seinen Wörtern die Wirklichkeit genauso, wie die Wirklichkeit - und damit auch Strauß - durch die Wörter konstituiert wird. Der Titel "Das
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Derrida: Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 330f. Stein: Spökenkieker, von einer Furie gejagt, a.a.O., S. 49.
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Werk" verweist einerseits auf das Wort "Wirklichkeit", eine Wirklichkeit, die nicht mehr in der Repräsentation, sondern in der Inszenierung erscheint, andererseits auf die Dramaturgie als komplexitätsreduzierende Bedingung der Inszenierung. Die Begriffe "Drama", "Dramaturgie", "Werk" und "Wirklichkeit" lassen etymologisch und von ihrer Bedeutung her eine Gemeinsamkeit erkennen, die Strauß zum Anlaß nimmt, seinen Theatertext als "Das Werk" zu bezeichnen, einen Text, der auch im Kopf des Individuums und auf der Bühne spielen soll. So stammt der Begriff "Drama" vom griechisch-lateinischen "drama" (Grundbedeutung: "Handlung, Geschehen"), zugrunde liegt dieser Bildung wiederum das griechische "dran", "tun", "handeln", zu dem sich das griechische Adjektiv "drastikos", "wirksam", stellt. "Wirksam" bedeutet "mit Erfolg wirkend". Zu "wirken" gesellt sich "wirklich", das "real, wahr, tatsächlich" bedeutet. Und "Wirklichkeit", welches das "als Gegebenheit oder Erscheinung Faßbare" ist. "Wirken" hängt etymologisch mit "Werk" zusammen. "Werk" ist herleitbar aus dem griechischen "ergon", das "Arbeit, Werk" bedeutet. Wahrscheinlich auch vom altindischen "vrajä-h", der "Hürde", "Umhegung", vom griechischen "eirgein", dem "Einschließen" und dem altirischen "fraig", der "Wand". Alle diese Wörter haben als Grundbedeutung wahrscheinlich "flechten, mit Flechtwerk umgeben". Strauß' Benutzung des Symbols der Kleider - so zum Beispiel in "Angelas Kleider" - für den Text, der zum Text-il wird, bekommt durch die Benutzung des Begriffs "Werk", wenn man diesen auf "flechten" zurückführt, eine Alternative. "Flechten" erinnert an die Tätigkeit des Dichters, des "Rhapsoden", der über das griechische "rhapsodos" auf "rhaptein", "zusammennähen, zusammenfügen" zurückfuhrbar ist. Der Theatertext ist das "Werk" des "zusammenführenden", "flechtenden" Dichters. Auch der Begriff "Dramaturgie", von griechisch "dramatourgia, dramatourgös", das "Schauspielmacher, -dichter" bedeutet, führt zum "Werk" des Dichters: das Grundwort [-turgie] ist auf das griechische "drgon", das "Werk", zurückführbar. Die Wahrheit und die Wirklichkeit wird für Strauß konstruiert, der Text bildet die wahrnehmbare symbolische Welt, die nicht hintergehbar ist, er spiegelt kein Objekt, sondern inszeniert nur sich selbst. Zeit, Raum, Figuren und Handlung sind als Eigenbewegung des Textes zu verstehen. Die Folge ist, daß sowohl der Zuschauer, als auch der Regisseur des Theaters der Welt durch den Begriff nicht faßbar ist: In irgendeiner Weise muß also, wer die Weltgeschichte (die Totalitat eben) auf den Begriff bringen will, immer auch welttranszendent, dh. Zuschauer - oder Regisseur - des Dramas sein.33 Das geht wohl nicht aufgrund des blinden Fleckes. Einen exklusiven Beobachter außerhalb der Geschichte gibt es nicht mehr. Diese Erkenntnis wiederholt sich selbst in der Geschichte, schon Georg Christoph Lichtenberg beklagt: Ich habe mir so oft gewünscht, daß ich ein Fleckchen finden könnte, wo ich sicher vor dem Schwanken der Mode, der Gewohnheit und aller Vorurteile einmal die eigene Bewegung dieses verwickelten Systems beobachten könnte. Nur einmal von Michaelis bis Ostern, und dann wollte ich es wagen, einen 'Versuch Uber den Menschen' zu schreiben. Aber leider sind die Beobachter des Menschen Übel dran, und sie hätten ein weit größeres
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Kohler: Vom ganz anderen hier. Über die Seßhaftigkeit des Nomaden, a.a.O., S. 168. 167
Recht sich über den Mangel eines genügsam festen Standorts zu beklagen als alle seefahrenden Astronomen und Sterngucker dieser Welt zusammengenommen. 34
Umberto Eco schreibt über dieses Gefühl der Haltlosigkeit im unendlichen Buch, das dem Menschen sehr gefährlich werden kann: Wo ein Spiegel ist, da ist ein menschliches Stadium, du willst dich sehen. Und hier siehts du dich nicht. Du suchst deine Position in dem Raum, in dem dir der Spiegel sagt: 'Du bist da, du bist du', und du plagst dich, du mühst dich ab, denn die Spiegel von Lavoisier, ob konkav oder konvex, enttäuschen dich, narren dich: du trittst zurück und findest dich, du bleibst stehen und verlierst dich. Dieses katoptrische Theater ist erdacht worden, um dir jede Identität zu nehmen und dich an deinem Ort zweifeln zu lassen. Wie um dir zu sagen: Du bist weder das Pendel noch der Ort des Pendels. [...] Der Saal Lavoisier des Conservatoire ist ein Bekenntnis, eine chiffrierte Botschaft, eine Kurzfassung des Conservatoire insgesamt, ein Hohn auf den Stolz des starken Denkens der modernen Vernunft, ein Raunen von anderen Mysterien."
Ecos Anspielungen auf Lacan ("Spiegel" und "Stadium"), auf postmoderne Denker wie Gianni Vattimo (dessen "schwaches Denken" dem "starken Denken[.] der modernen Vernunft" entgegensteht) und Foucault ("das [Foucaultsche] Pendel") zeigen, worauf Umberto Eco hier zielt: auf die Gefahr des postmodernen Denkens, ins beliebige Spekulieren abzugleiten und die aristotelische Vernunft vorschnell abzuschreiben. "Das Werk" als "Wirklichkeit" inszeniert eine Verabschiedung der Zentralperspektive und der "ästhetischen Grenze", die den Zuschauer von der Bühne und den Beobachter vom Beobachteten trennt. Analog dazu ist eine Trennung von Innen und Außen, zwischen der Innenwelt des Bewußtseins und materieller Außenwelt passe. Der Verlust des Überblicks erlaubt nur noch eine fragmentarische Beobachtung der Welt und entsprechend eine fragmentarische Sicht auf die Welt, man hat nie die Wahrheit oder Wirklichheit vor Augen, es gibt keine Erkenntnis ohne Täuschung. Zu sehen sind nur Fragmente, durch die das "Ganze" verschoben, undeutlich "hindurch"schimmert. Wegen der Rückbezüglichkeit und der Selbstreferenz der Dramaturgie und des Theaterrahmens kann sich auch keine Dramaturgie, keine Figur, keine Handlung, kein Ort, keine Zeit, kein Raum aus sich selbst begründen. Watzlawicks Beobachter zweiter Ordnung, dritter Ordnung etc., begründet durch die mathematischen Beobachtungen Gödels und die sprachphilosophischen Wittgensteins, verliert sich als Zuschauer in und zugleich außerhalb der Straußschen Theatertexte im Unendlichen. Das Zentrum ist das unendliche Buch, in dem das Wort an das Wort gebunden ist, nicht an Dinge, denn die Dinge - wie natürlich auch die Lebewesen - [gehören] im Buch einem All von Vokabeln [an]: ihrem eigenen Universum, in welchem sie Raum greifen. So findet sich denn die Welt im Buch. Die Erfassung des Alls geschieht durch Wörter, und sehr rasch wird uns klar, daß diese Erfassung nichts anderes ist ats unsere zunächst unbewußte, dann hingenommene Metamorphose ins Wort. Wir selber werden zu dem Wort, das dem Ding und dem Wesen Wirklichkeit verleiht. Schreiben heißt immer, sich an dieser Wirklichkeit
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Georg Cristoph Lichtenberg: Aphorismen, in: ders.: Schriften und Briefe: Band 1, München 1973, S. 272. Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel, München 1989, S. 20ff.
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messen, um sie bestehen zu können. Alles ist schließlich real, und kraft dessen sind wir es auch. 36
Für den hier zitierten Edmond Jab6s ist der Text wie eine vom Wind umgeformte und immer neu gestaltete Wüste. Wie die Thora ist er immer homogen und immer ungleichartig." Die Wörter künden lediglich von der Unmöglichkeit, sich die Dinge anzueignen, weil es die Wirklichkeit nicht gibt; weil die Wirklichkeit womöglich nur jene Abwesenheit von Wirklichkeit ist, welche die Wörter in ihrer Unfähigkeit, sie dingfest zu machen, hervorheben; sie dingfest zu machen - für ein Wort würde dies etwa soviel bedeuten wie der Versuch, seine eigene Wirklichkeit zu umschreiben. Doch auch dies bleibt unmöglich, weil es ja bloß Ausdruck einer illusorischen Wirklichkeit ist, eines Abgrunds. 3 8
Wenn Strauß seine Figuren und die Handlung abstrahiert, sie nur noch als Text im Text auftreten läßt, negiert er die abbildenden Funktionen des Theaters. Mit Foucault wendet er sich dabei durchaus gegen den Humanismus der Aufklärung. Wie im Mittelalter relativiert sich das Interesse an einer diesseitigen Realität zugunsten des - auf Mythen zurückfuhrbaren - Textes, die Aufmerksamkeit richtet sich nun im Rahmen einer Rechristianisierung auf das ganz andere, das jenseits der Welt als Text zu finden ist. Da im Diesseits das Jenseits nicht zu erreichen ist, bleibt nur das Schweigen und der Blick zum Ursprung. Das Schweigen scheint die letzte Lösung zu sein, wenn der Beobachter des "Werks" und der "Wirklichkeit" als "Ich", der immer ein "anderer" ist, in dem selbstreferentiellen System Wahrnehmung-InterpretationText-Individuum-Einstellungen-Wahrnehmung etc. eingeschlossen ist. Dieses erzeugt für Strauß eine Immanenz, die erstens in ihrem Treiben, ihrer Beliebigkeit, der Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats auf das ganz andere verweist, mystisch gesehen mit ihren Paradoxien ihre eigene Ungültigkeit und Auflösung anstrebt. Zweitens in der Erkenntnis der Immanenz als Problem gnostisches Gedankengut erkennen läßt. Drittens die Sehnsucht - siehe Plotin und Augustinus nach dem Auge des Wirbelsturms erzeugt. Die Charakteristik der Immanenz initiiert bei Strauß den Versuch der Durchdringung der "Wirklichkeit" als Totalität, in der die Widersprüche sich auflösen. Die Kritik Umberto Ecos an dem "anything goes", dem beliebigen Inszenieren der Wirklichkeit, in der - wie in dem Roman "Das Foucaultsche Pendel"- eine Wäscheliste als Plan einer Weltverschwörung interpretiert werden kann, ist auch eine Kritik an Strauß' "Werk". Der Dichter übergeht Aristoteles und nähert sich über die Vermittlung Heideggers dem Ursprung des abendländischen Denkens, der "dunkle" Philosoph Heraklit hat es ihm besonders angetan. Die Differenz zwischen Parmenides und Heraklit, zwischen der Statik und der Dynamik reflektiert die Einteilung von "Das Werk" in den ersten und zweiten Akt. Im ersten Akt bleibt alles gleich, die Wiederholungen täuschen nur eine scheinbare Bewegung vor. Im zweiten Akt ist die Weite des Textes eine ewige Bewegung. Die Akteinteilung zeigt jedoch keine Entwicklung, sondern dieselbe Situation aus zwei verschiedenen Perspektiven. Die Statik in der Bewegung und die Bewegung in der 36 37 38
Jab£s: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 26. Jab6s: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 24. Jabfcs: Die Schrift der Wüste, a.a.O., S. 30.
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Statik sind eins. Die äußerste Gegenwärtigkeit des Augenblicks und die äußerste Gegenwärtigkeit des Möglichen fallen im Text des Geistes zusammen und der Gegensatz von Ordnung und Unordnung wird reflektiert durch den Gegensatz zwischen dem ersten und dem zweiten Akts. Die Enge der Immanenz korrespondiert mit der Weite des Buchs. Der eine ist der Wächter des anderen, und das "Kind" in "Das Werk" wird es werden: Drinnen[im Bewußtsein] rollt das Werk auf Hochtouren. Die Maschinen sind voll ausgelastet. Die Männer schuften alle Schichten durch. Das Werk brummt auf vollen Touren und wird ein Lagerhaus werden und Ware lagert und lagert und kommt nie hinaus. Lagerhaus Uberlädt sich und zerfällt alles in eins, Ware und Arbeiter und Maschinen, wird ein Stoff, ein Staub. Und kommt nie hinaus. (Wk 267)
Im Bewußtsein des anderen wird Sinn solange produziert, bis er wieder zerfällt. Der Wächter des Bewußtseins ist immer der andere mit Hilfe der symbolischen Ordnung, die durch den anderen aufrecht erhalten wird: Draußen schieb ich die Wache. Niemals werde ich warten! Sondern schiebe die Wache, bereit ziellos bereit, selbst zu nichts und zu niemandem, wenn es denn sein soll, bereit vom Grund meines Herzens, bis ich einst aufhör und stehenbleib und du, Kind, groß bist wie ich und selber die Wache schiebst an meiner Stelle, hier im Schatten der Mauer, ohne Verzug. Wachen wirst du nach meiner Art und niemals mehr warten, wie es dir jetzt noch, Wunschkind und Liebling, gefällt, jetzt, wo du klein bist und spielst. (Wk 267)
Nur das Kind erwartet den anderen als den Fremden und verhindert die Verhärtungen der Sprache und der Gedanken, wird aber im "Fort"- und "Da"-Spiel in die symbolische Ordnung eintreten. Im zweiten Akt wird das Kind zum Mann, der den "Kellner" als sein Spiegelbild trifft, zwei "Telefonate" fuhrt - zwei Laute, Töne (von griechisch "phone"), die die Ferne (von griechisch "tele") des vermißten Objekts überbrücken: "Fort" und "Da" - , als Einheit sich im Spiegelbild konstituiert ("Der Kellner holt einen Kamm aus der Gesäßtasche und kämmt sich ausgiebig vor der Spiegelwand hinter dem Flaschenregal" (Wk 268)) und nach den Telefonaten in die symbolische Ordnung eingetreten ist. Nach dem "[s]chon erledigt" (Wk 268) wird er als Identität selbst "erledigt", denn der Text bewegt sich, ohne daß sich der Mann be-grifflich halten kann. Den Versuch, seine Einheit zu fixieren mittels des Be-Griffs, der "Hand", macht er umsonst, als er die "Hand auf das Büffet" legt, die Spiegelebene mit dem Begriff verbinden will.
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3.2.2. Ethe: Besucher Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen. (Rainer Maria Rilke, 7. Duineser Elegie) "Do you love me?" "Yes." "Really?" "Yes, really!" "But really really?" (Ronald D. Laing)
3.2.2.1. Der verschiebbare Bühnenrahmen Der "Nachfolger" des sich nicht einpassen könnenden Max ist so anpassungsfähig, daß er auf der Bühne der Nachmoderne nur noch mit Hilfe von Drogen den ständigen Richtungswechsel ertragen kann. Er landet in der Klinik. Hat sich Uberschnieft. [...] Anderthalb Gramm Schnee, vier Flaschen Weißwein. Um ein Haar hätte er sich gestern früh vom Balkon gestürzt. (B 2 3 5 )
Die Anspielung auf Jean Genets "Balkon" zeigt das in der Nachmoderne schwindlig gespielte, zu anschlußfUhige Individuum, das nicht einmal mehr seine gesellschaftliche Rolle auf dem "Balkon" spielen kann. Es muß in die Foucaultsche "Klinik", als nicht mehr diskursgerecht Funktionierender. Die Bühne und der Bühnentext, der nun zum Gesellschaftstext verkommen ist, spielt mit dem "jungen Mann" Katz und Maus: Der wußte nicht mehr, ob er Männchen oder Weibchen ist. Edna hat ihn umgedreht, Karl hat ihn wieder zurückgedreht. (B 236)
In seinem Text "Der junge Mann" steht am Anfang die Initiation in die spätmoderne Gesellschaft im eigenen Kopf durch die beiden Schauspielerinnen, die die Genetschen Zofen spielen. Karl Joseph und Edna als der alte selbstverständliche Text, als Träger des einstmals mythischen Textes, sind die Initiationsgehilfen und -hürden zugleich für Max. Volker - Volk-er - steht als der überwachende Regisseur für das opportunistische, erfolgreiche Heideggersche Man. Die Bühne ist der Ort und der Rahmen der Wahrnehmung, an dem sich Max und Lena treffen und verfehlen. Erst hat Max Probleme mit dem uralten Theater-Text, der mit dem erfahrenen, erkalteten Karl Joseph zu selbstverständlich geworden ist und mit Edna etwas verlogen, seine Einzigartigkeit nur noch vortäuschend. Max will sich dem Text, den er zur Wahrnehmung des anderen, Lena, benötigt, unterordnen und damit beherrschen, um mit ihm die Wahrheit, die wirkliche Wirklichkeit erkennen zu können. Mit diesem Glauben scheitert er im allgemeinen Diskurs, denn dieser ist bereits ein unhintergehbares Spiel geworden. Am Ende befreit sich Max von der "Hölle": "Ich will nach Hause. Nicht mehr spielen! Hört das denn niemals auf?!" (B 241) Der Preis für die Befreiung vom Spiel ist jedoch der Eingang in das Spiel, das vorher verweigerte "Ich liebe dich!" (B 241), das Max Lena nun zugesteht, ist ja wiederum der alte Text, der mit den Individuen spielt. Und so tritt Max in seinem Schlußsatz, diesmal ohne Widerstände, auf die Bühne des spielenden Textes, in den Text der Wahrnehmung ein. Die Bühne dient in "Besucher" als Rahmen der Wahrnehmung. Auf dieser agieren der alte Text und seine Textträger, Edna und Karl Joseph, und Volker als korri-
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gierende Gesellschaft, der sich die alten Schauspieler anpassungsfähig unterwerfen. Bereits in seinen ersten Stücken ist für Strauß der Auftritt auf der Bühne ein Eingehen in den gemeinsamen Text, der Innen und Außen zugleich ist. Jedes Eingehen und Versinken in den Boden oder in die Wand der Bühne oder auch der Austritt aus dem gesehenen Raum ist wie das von Foucault erzählte Eingehen des Menschen in den "Sand". Die Figuren können somit den Raum des Textes nicht verlassen. Erst auf der Bühne, im Rahmen des Begriffs, sind sie für sich selbst und für andere wahrnehmbar. In der Interpretation fällt Text und Kopf in eins. Einstellungen bedingen die Wahrnehmung, Vorurteile prägen den Prozeß des Verstehens (Gadamer), wie die Hypothesentheorie der Wahrnehmung zeigt. Und die Bühne setzt den gesellschaftlichen und individuellen Rahmen, die zur Komplexitätsreduktion notwendige erforderliche Perspektive. Das Theater, das als magischer Bezirk noch ein Kreis ist, entwickelt sich zur Perspektive. Die "richtige" Perspektive ist in der Renaissance das Ziel und in ihrer extremsten Form ist diese dem Fürsten vorbehalten. Die Multiperspektivität der Nachmoderne geht nicht mehr zurück zur Gemeinschaft des Kreises, zur von Strauß vermieten Communio. Es zeigt sich jedoch eine Fragmentarisierung durch ein "anything goes" der Rahmensetzung. Denn ein Rahmen muß im Sehen, in der Theorie gesetzt werden, sonst kann eine Wahrnehmung nicht stattfinden. Andererseits gibt es den einzig richtigen Platz, die einzig richtige Perspektive des Fürsten nicht mehr. Da dem "Rauschen" zu entkommen ist, muß, so Luhmann, immer eine System-Umwelt-Differenz gesetzt werden. Um dieser Fragmentarisierung des Ganzen zu entkommen, bleibt für Strauß nur noch das Heideggersche Hören des Seins und damit das Unterlaufen der Wahrnehmung durch das Sehen. Der Begriff "Theater" ist bereits vorbelastet, ist er doch etymologisch mit dem Begriff der "Theorie" verwandt, beide Begriffe lassen sich auf das griechische "thea", "Anschauen, Schau" zurückführen. Strauß' Differenz zwischen den "Paaren" und den "Passanten" zeigt sich auch im Rahmen der Rahmensetzung durch das Gegensatzpaar Zentralperspektive und Multiperspektivität. Das 20. Jahrhundert bringt ein Spiel der Rahmensetzungen hervor, das Nelson Goodman so beschreibt: Wir sind bei allem, was beschrieben wird, auf Beschreibungsweisen beschränkt. Unser Universum besteht sozusagen aus diesen Weisen und nicht aus einer Welt oder aus Welten.39 Auch in der Physik des 20. Jahrhunderst löst sich die strenge Trennung zwischen der Materie als unbeeinflußbarem Objekt und dem beobachtenden Subjekt auf: Das, was beobachtet wird, ist aber primür nicht objekthaft, sondern entspricht einem einheitlichen Quantenzustand oder einem Gemenge aus solchem. Erst durch den aktiven Eingriff einer Beobachtung werden Aspekte von Quantenzuständen in objektiv feststellbare Tatsachen verwandelt. Durch gewisse Verstärkungsmechanismen - instabile Systeme, die bei kleinsten Einwirkungen reversibel umkippen - werden Meßdaten, also für wechselseitige Mitteilungen geeignete makroskopische Dokumente geschaffen. Jede Objektivierung bedeutet Trennung, das heißt Zerstörung der nichtobjekthaften Einheit, in der Be·
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Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt 1990, S. 15.
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obachter und beobachtetes System miteinander verschmolzen sind. Ein Zuschauer ist immer gleichzeitig mitwirkender Akteur. 40 Der Beobachter und d e s s e n Rahmensetzung g e w i n n t g e g e n ü b e r d e m B e o b a c h t e t e n an G e w i c h t . W e n n Multiperspektivität als F o l g e vieler Beobachter als Voraussetz u n g akzeptiert wird, dann stellt sich die Frage, o b der g e m e i n s c h a f t l i c h e R a h m e n verhandelt (Habermas), v o n der Macht diktiert (Foucault) oder v o n selbstreferentiellen S y s t e m e n v o r g e g e b e n (Luhmann) wird. A u f j e d e n f a l l s ist der Rahmen selbst z u m T h e m a g e w o r d e n , die Deutung der Zeichen in der Geschichte ist erst der z w e i t e Schritt. In d i e s e m Sinne argumentiert auch Stephen Greenblatt: Bewußtsein über die eigene Methodologie zu erlangen, ist eines der Erkennungsmerkmale des Neuen Historismus in den Kulturwissenschaften, dies setzt ihn ab von einem Historismus, der auf blindem Vertrauen in die Verständlichkeit von Zeichen und interpretativen Vorgehensweisen beruht. 41 Strauß m ö c h t e d i e s e m Diskurs um die richtige R a h m e n s e t z u n g noch die Erinnerung an einen Verlust hinzufugen.
3.2.2.2. Welt als Theater, Theater als Beobachten, als unendlicher Regreß D a s Theater, das sich nur noch auf das B e o b a c h t e n reduziert, verliert seine "Aura" (Benjamin), wird zur Erinnerungsschleife im gesamten Feld der Posthistoire. M a x sagt am A n f a n g und am Ende denselben Satz: "Ich w e i ß nicht, o b Sie sich n o c h an mich erinnern." ( B 2 0 1 und 2 4 1 ) Strauß schreibt über den Unterschied z w i s c h e n der mit sich selbst identischen Erinnerung und der lebendigen Erinnerung: Zwei Wege des Schauspielers zur Nachwelt: Idolatrie oder Lehre. Wir können den toten Peter Ltlhr jeden Abend Wiedersehen. Das Theater verkauft schon selber die Kassette. Der Schmerz Uber den Verlust des Schauspielers wäre unaufhebbar durch die kultische Verfallenheit an ihn, die von der Monotonie seines technischen Wieder- und Wiedererscheinens getragen und gesteigert würde. Wir kämen vom Abschied los, das sagt die Kassette im extremen, sobald wir vom technischen Bild losgekommen sind, sobald seine unbegrenzte Iteration in Trance versetzt und wir zum Geisterglauben zurückgefunden haben. Technik und Magie kämen überein und schüfen diese andere Gegenwart, die Verlust wie erinnernde Vernunft außerkraft setzte. Das Lühr-Idol, das derart weiterlebte, hätte wohl kaum noch etwas mit dem Schauspieler gemein, den wir über Jahre hin gesehen und unterschieden haben. Wir könnten uns seiner nie wieder erinnern. Die Kassette birgt den Schatz der verschwundenen Wiederholung. Was sie zeigt und preisgibt, ist das Gegenteil der Wiederholbarkeit, die das Theater erfand. Nicht weil kein lebendiger Mensch auftritt - das ästhetische Vergnügen wertet nicht unbedingt zwischen dem anwesenden und dem gefilmten Schauspieler - sondern weil die Veranstaltung einer Theateraufzeichnung nur ein zeittotes, identisches, Ding ist. Die Stützen des Gedächtnisses sind zahlreich, die Speicher übervoll. Nichts bleibt in Erinnerung, alles besteht aus ihr. Angeschlossen einer immer jetzigen Zirkulation des Gewesenen und schon tief versunken in die Wiedersehen, haben wir gewisse Mühen, dem Vergänglichen noch recht zu trauen und ihm die alte Melancholie zu bewahren. Wenn, wie wir miteinander leben, noch das unsere wäre und
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Hans-Peter Dürr: Vorwort, in: Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren, hg. v. Hans-Peter Dürr, Bern 1988, S. 7 - 1 9 , hier: S. 16. Stephen Greenblatt: Grundzüge einer Poetik der Kultur, in: ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, S. 107-122, hier: S. 120.
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Kritik also noch an ihrem legitimen Platz, so müßten ihr heute die Stutzen des Gedächtnisses mindestens ebenso verdächtig und verderblich erscheinen wie einst im bürgerlichen Zeitalter die Stützen der Gesellschaft, ja sie könnte ohne weiteres als ihren Gegenstand und ihr Symbol die Kassette der häuslichen Schatzbehütung gegen die der verlorenen Erinnerung tauschen. Doch Kritik ist darin längst schon mitverfügt, verflossen und verschwunden. (TSPL 7) In einer Gesellschaft, in der jederzeit aus den Speichern die Images a b r u f b a r werden, wird die Erinnerung zum starren K o s t ü m f u n d u s , aus der sich j e d e r beliebig bedienen kann, die N a c h m o d e r n e markiert den Eingang in eine Inszenierungsgesellschaft: Unstrittig ist [...], daß heute auf allen Ebenen an die Stelle von Repräsentation die Inszenierung tritt. Und das hat vor allem für das Verhältnis der Menschen zu sich selbst entscheidende Konsequenzen. Hier bekommt ein Wort von Oscar Wilde brennende Aktualität: 'self-culture'. Man könnte von einer Theatralisierung des Alltags sprechen - die geringste Verrichtung wird zum Schauplatz der Selbstdarstellung. Und ich vermute, daß diese Theatralisierung die bisherige Ideologisierung des Alltags ablöst. Nach dem endgültigen Schiftbruch der politischen Utopien setzt unsere Kultur resolut auf Ästhetik. Man kann es auch so sagen: Nach der 'Erlösung durch Gesellschaft' kommt jetzt die Selbsterlösung durch Self-Fashioning. 42 Dieses Selbst-Fashioning ist ein G e b r a u c h der erstarrten Masken, wie sie Ernst J ü n g e r beschreibt: Man kann auch sagen, daß der Mensch im Walde schläft. Im Augenblick, in dem er erwachend seine Macht erkennt, ist die Ordnung wiederhergestellt. Der höhere Rhythmus der Geschichte kann überhaupt dahin gedeutet werden, daß der Mensch sich periodisch wiederentdeckt. Immer sind Mächte, die ihn maskieren wollen, bald totemistische, bald magische, bald technische. Dann wächst die Starre und mit ihr die Furcht. Die Künste versteinern, das Dogma wird absolut. Doch seit den frühesten Zeiten wiederholt sich das Schauspiel, daß der Mensch die Maske abnimmt, und dem folgt Heiterkeit, wie sie der Abglanz der Freiheit ist.43 D o c h in der Gesellschaft der N a c h m o d e r n e triumphiert das Spiel über die Jüngersche Freiheit: 'Postmoderne' sollte heißen: Ortschaft einer Niederlage: Einsicht, daß die Erkenntnis als Unterwerfung des Anderen gescheitert ist (Derrida); ein neues Spiel, in dem das Verhältnis zur Vergangenheit und zur Vorvergangenheit - da es nicht getilgt werden kann - in Gestalt der Ironie, der Maskerade, d.h. in der Uneindeutigkeit der Regeln wiedergewonnen wird (Eco); Stillstand der historischen Bewegung, des 'Projekts der Moderne' durch diese selbst (Lyotard); Erwachen aus den Träumen der Vernunft, die Ungeheuer hervorbringen (Benjamin, Adorno).44 Dieses n a c h m o d e r n e Spiel mit den erstarrten Masken zeigt "Besucher" in den Figuren des I m a g e s transportierenden Werbetreibenden und dessen Opfers, des P l a k a t m ä d c h e n s , die wir alle sind, d a wir die Images kopieren: Fotograf: Bleib an der Wand. Näher. Ich nagle dich fest. Stell den Fuß auf den Hocker. Knie hoch. Schenkel frei. Geige an den Hals. Zieh den Strumpf hoch. Bis oben hin. Pla42 43 44
Bolz: Die Sinngesellschaft, a.a.O., S. 224f. Ernst Jünger: Der Waldgang, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 7, S. 324. Dietmar Kamper: Aufklärung - was sonst? Eine dreifache Polemik gegen ihre Verteidiger?, in: Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmodeme, a.a.O., S. 37-45, hier S. 44.
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katmädchen: Ich kann nicht gleichzeitig Geige spielen und den Strumpf hochziehen. Fotograf: Was kannst du nicht? Ich werde dir zeigen, was du alles kannst. Ich hämmere dich an die Wand, daß nichts mehr von dir übrigbleibt... (B 224) A u c h L e n a fixiert fur sich M a x als Text-il. D a s Wiedersehen ist ein W i e d e r - S e h e n der M a x - F i g u r , des Textes: Lautsprecher: Lenas Stimme, während sie über die Mauerkrone abgeht, Max' Hemd hinter sich schleifend: Heute waren wir wieder zusammen. Er war mir lieb wie am ersten Tag. Es war schön, ihn wiederzusehen. Ich habe mich sehr gefreut. Die Sonne ist nun doch durchgekommen. (B 240) Lena zieht mit ihrer Beute, den unter den B e - G r i f f b e k o m m e n d e n , nun nur n o c h aus "toten" Wörtern bestehenden M a x , unter der "Sonne" der A u f - K l ä r u n g ab. G e g e n deren klärende Nüchternheit zieht Strauß zu Felde: Inzwischen hat die Nüchternheit ihr Soll erreicht, die alten Worte werden wieder jung, und man beginnt die Weihe und das Kunst-Fromme auf dem Wege monologischer Exerzitien wieder einzutreiben. Nur, wenn jemand fünf Stunden lang allein den gesamten 'Hamlet' vorführt, so spielt er ihn nicht. Wir erleben nicht den großen Schauspieler, sondern den Einzigen und sein Theater. Wir sehen irgend etwas zwischen Opferhandlung und Rezitationsabend. Wir gedenken der Kunst und blicken in die Bühne als eine Art öffentlicher Eremitage. Das Ende des Schauspiels bestünde somit in der Verwandlung aller Schauspiele in 'Das letzte Band'. (Ein Stück im übrigen, das den Monolog als Rolle zu einer solchen Vollendung führte, daß man meinen sollte, die monologische Erwartung der Moderne hätte sich bereits aufs Schönste erfüllt und ihre Epoche gehabt; doch der Text, wie machtvolle Kunstwerke oft, legt eher eine Matrix vor, nach der sich die Eremitagen weiterverbreiten auf unseren Bühnen bis hin zum schwächlichsten Abkömmling.) (BPL 7f.) D i e Eremitage Max' verringert sich nicht durch seine Orientierung an d e m alten Text, an Karl Joseph und Edna, s o l a n g e d i e s e ebenfalls eine Eremitage bilden. M a x sucht im Spiel nach einem A u s g a n g aus den unendlichen Wiederholungen, aus der Immanenz: Man muß aber bereit sein. Man muß Schneisen schlagen, nicht Girlanden knüpfen. Ich weiß es ganz genau: [...] wir müssen wieder ins Unbekannte vorstoßen! (B 207) Er will d e n "Realismus bekämpfen", das Theater "von den Übeln des kranken Realismus", v o n "falschen, kranken Konventionen" ( B 2 0 7 ) befreien. Es f e h l e an "Kunst", "Symbolkraft", "Stil", an e i n e m "Glauben an irgend etwas Großartiges", einer "gesteigerte[n] Ausdruckskraft" ( B 2 0 7 ) . Aber M a x erkennt, daß ihm der alte Text als nun säkularisierter nicht helfen will und kann: Du bist die Mauer. Nicht das graue schmutzige Ding, das Berlin zerschneidet. Du bist für mich die Mauer, Uber die ich nicht hinwegkomme. (B 207) A l s Figur im Spiel des v o m säkularen T e x t bestimmten L e b e n s kann er nicht über den T e x t hinaus, der er selbst ist. Theater bleibt als das Leben eine e w i g e W i e d e r holung: Karl Joseph: Nicht wahr, die Bühne, das Theater, das waren schon tausend Taten, tausend mehr oder weniger lebensentscheidende Handlungen. Und am Ende hat sich nichts getan. [...] Am Ende ist die Bühne gerade so leer wie am Anfang. (B 207f.) W e n n sich diese B ü h n e aus e i n e m erstarrten T e x t bedient, aus einem u n e n d l i c h e n Archiv, das nicht mehr lebendige Erinnerung, sondern stehender G l e i c h l a u f ist,
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dann haben es die Kunst und auch das Leben schwer, nicht als Maskentreiben zu erstarren. Schon zu Tolstois Zeiten gibt es, so Strauß in seinem Interview mit Volker Hage, 45 das Problem, daß Literatur durchtränkt ist mit der Tradition des Schreibens. Im großen stehenden Archiv nach dem "tiefere[n] Urbild" zu suchen, wäre die Aufgabe des Schriftstellers Strauß. Wenn das nicht gefunden werden kann, dann droht das Schauen des Nichts, des unendlichen Regresses auf der Bühne. Wenn der Dichter zum Werbefotografen und die Figur zum Plakatmädchen wird, dann droht die ewige Rückkoppelung. Der Werbe-"Guru" Gerd Gerken schreibt über diesen Zustand in der Nachmoderne: Evolutionäre Märkte laufen immer in ein offenes Werden. Es gibt also prinzipiell keinen kalkulierbaren Endzustand. Die Rückkoppelungen sorgen dafür, daß sich das System immer wieder öffnet. Es hat also keinen Sinn mehr, den Markt einmal richtig 'von oben' durchschauen zu wollen, was ein typisches Kriterium des alten Top-Managements ist.46 Das Paradox der Wahrnehmung zeigt seinen nihilistischen Charakter, jede Wahrnehmung, die ihre Bedingungen mitreflektiert, gerät in den unendlichen Regreß. Es ergibt sich das Russellsche, Gödelsche und Luhmannsche Problem, daß ein System diskutiert werden soll innerhalb des Systems. Ein Theater des Theaters ist dann der von Strauß gefurchtete Endzustand, der Blick eröffnet eine Unendlichkeit, die Blanchot schon in "Thomas der Dunkle" beschreibt: Schon als er sich noch über die Leere beugte, in der er sein Bild in der völligen Abwesenheit von Bildern erkannte und von allerheftigstem Schwindel gepackt wurde, einem Schwindel, der ihn nicht zu Fall brachte, sondern der ihn am Fallen hinderte, der den seinetwegen unvermeidlich gewordenen Sturz verunmöglichte - , da schon wurde die Erde um ihn herum dünner, und die Nacht umfing ihn, eine Nacht, sie fand keine Entsprechung mehr, er sah sie nicht und fühlte ihre Wirklichkeit nur, weil sie weniger wirklich war als seine eigene. Hinter allen Erscheinungen gewann er den Eindruck, als sei er ins Herz der Dinge vorgestoßen. Sogar an der Oberfläche dieses Bodens, in den er nicht hinein konnte, steckte er im Innern dieses Bodens, dessen Inneres ihn überall berührte. Auf allen Seiten Schloß Nacht ihn ein. Er sah, er hörte die nächste Nähe einer Unendlichkeit, in die er gerade wegen des Fehlens von Grenzen eingesperrt war.47 Gerade das Fehlen eines eindeutigen Bühnenrahmens konstituiert in seiner Unendlichkeit die Immanenz.
3.2.2.3. Die Suche der Figur nach ihrer Identität Fernando Pessoa schreibt in seinem "Buch der Unruhe": Sich kennen heißt irren, und das Orakel, das da gesagt hat: 'Erkenne dich selbst!' hat dem Menschen eine größere Aufgabe zugewiesen als die Arbeiten des Herkules und ein schwärzeres Rätsel aufgegeben als das der Sphinx. Sich bewußt verkennen, das ist der Weg. Und sich bewußt verkennen ist tätige Anwendung der Ironie.48 Auch Max sieht sich diesem unlösbaren Rätsel gegenüber: 45 46 47 48
Hage: Schreiben ist eine S6ance, a.a.O., S. 195. Gerd Gerken: Manager... Die Helden des Chaos, Düsseldorf 1993, S. 483. Blanchot: Thomas der Dunkle, a.a.O., S. 33. Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Frankfurt 1987, S. 271.
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Lena: Jedesmal, wenn du mich ansprichst, fragst du nach dir. 'Wer bin ich?1 'Was kann ich?' 'Warum bin ich nicht ein anderer?' So fragst du mich. (B 2 0 9 )
"Ich" ist in "Besucher" ein anderer, "[a]lle Menschen sind zweierlei und ich auch." (B 210) Zwischen dem Text, dem "Haus", und dem "Gast", dem anderen, konstituiert sich zumindest kurzfristig das "Ich": Wir sind wie Quarks, Wesen ohne jede Ausdehnung, weniger als ein Punkt in der Dauer, und immer zu dritt und unzertrennlich wie Raum und Zeit. Es ist nichts geschehen; unser Leben - die Zwischenzeit - war ein Ereignis auf der untersten, unbestimmbarsten Szene der Materie. Ein Ich, ein Haus, ein Gast. Masselos und ungemessen. (FU 65)
Das "Ich" benötigt den Text als Spiegel, um den anderen und damit sich selbst als Einheit zu fixieren. "Max betrachtet sich in einer Spiegelscherbe" (B 229), einem fragmentierten Text: Ist der Kerl noch des Spottes wert? Wahrscheinlich nicht. Aber man darf auch nicht so tun, als gäbe es ihn nicht. Max heißt das Gebilde. Mittelmax, Untermax, Hochmax oder Nebenmax? Wen wollen Sie sprechen? Jeden Tag verliere ich an Gesicht [...]. Ich schaue in den Spiegel und gewinne einen äußerst verwechselbaren Eindruck. Fast irgendwer. Nicht irgendein anderer. [...] ich selbst als irgendwer. Ich werde mir einen Bart stehen lassen, um den Gesichtsrutsch aufzuhalten. (B 229)
Im Spiegel des Textes sucht Max sich selbst als Einheit, es geht "stets ums Ganze". (B 229) Der Versuch, sich durch Re-Flexion vom allgemeinen Text abzuheben, sich aus dem Spiel herauszuhalten, um als Identität nicht unterzugehen, scheitert, da es einen Punkt außerhalb des allgemeinen Textes nicht mehr gibt: Max trifft sich selbst als "Wurfbudenmann", der Hauptgewinn ist etwas, das an Novalis' "Blaue Blume" erinnert, der erste und einzige "Hauptgewinn", "in blaues Seidenpapier gewickelt, am Grund der Blumenwanne" (B 229), Der Hauptgewinn ist aber niemals eine diesseitige Identität, bestenfalls kann Max sich als Spiegelbild, als "Wurfbudenmann", so passiv im Treiben des Spiels verhalten, daß er das Kommen und Gehen von Bedeutung und Nicht-Bedeutung gelassen über sich ergehen läßt: Die beiden - Max nach innen, Wurfbudenmann nach außen Uber die Theke lehnend kehren die Köpfe zueinander. Max: Ich sehe, Sie sind ein Narr. Wurfbudenmann: Sie sind ein Narr. Max: Es ist enttäuschend, am Ende seiner Wege anzukommen und dort als erstes jemanden wie sich selber zu treffen. [...] Wurfbudenmann: Ich bleibe in meiner Bude und warte, bis es wieder Jahrmarkt wird. Aufbauen, abbauen. Wiederaufbau. Wiederabbau. Das liegt mir nicht. Und dann: wiederaufbauen - wiederabbauen? Nein. Ich lasse alles, wie es ist. Der Jahrmarkt kommt ganz von selbst zurück. Bis dahin bin ich eben hier der Einsamste von allen. (B 230)
Eine solche passive Haltung läßt erkennen, daß das "sicherste Gelaß des Selbst [...] der unfeste Raum" (FU 49) ist. Dennoch will Max, vor allem am Anfang, von sich eine wahre, eindeutige Identität erlangen, er steht wie der Fotograf in "Schlußchor" vor dem sich bewegenden, unkontrollierbaren Text, vor Karl Joseph, Edna und dem Gesellschaftstext Volker, und versucht, sich mit ihrer Hilfe zu fixieren. Karl Joseph warnt ihn jedoch davor, daran zu glauben, daß im sich bewegenden Text ein Ab-Schluß möglich sei: "Ich warne Sie: Sie spielen von Anfang an auf einen falschen Schluß zu." (B 201) Denn Max sucht seine Identität in der vom Fernsehen und vom Westen determinierten, zu sehenden nachmodernen Form:
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Max: Ich dachte immer, mein größtes Idol und ich auf derselben BUhne, das übertrifft die kühnsten Erwartungen, ein Wahnsinn ist das. Ich bin eben immer noch viel zu aufgeregt. Sie sind für mich ein Begriff seit meiner Schulzeit drüben, seit ich Westfernsehen kenne. (B 205)
Das Wort "Idol" geht zurück auf griechische "eidolon", "Gestalt", "Bild", "Trugbild", "Götzenbild", das zur Sippe von griechisch "idein", "sehen", "erkennen", "wissen" gehört. Von "idein" kann wiederum die "Idee" und die "Ideologie" abgeleitet werden. Auf die "Idole" Karl Joseph und Edna trifft ein unfertiger Max: "Ich stehe noch ganz provisorisch da." (B 202) Max ist noch so ungefestigt, daß er dem gefestigten Text Karl Joseph als zu dunkel erscheint. Karl Joseph meint, er sei ein "Kasper": "Max: Ich will es ihnen gern erläutern, Herr Klaus. [...] Karl Joseph: Mit der Narrenpritsche gehörst du erschlagen, du Kasper." (B 213) Der Name Kaspar geht zurück auf den Namen eines der Heiligen Drei Könige. In den Dreikönigsspielen des Mittelalters soll dieser als Mohr inszeniert worden sein und vergnügliche Intermezzi gegeben haben. Das Dunkle, das das Ungefestigte ist, trifft hier eben auf den "Herr[n] Klaus" (B 213), der als Klausur, als Abschließung wirkt. Neben Karl Joseph soll Max auch Edna als identitätsstiftender mythischer Text dienen: Karl Joseph: [...] Was glaubst du eigentlich, wer du bist?! Max: Tja, da tappe ich selbst im dunkeln. Im Hintergrund, auf einem kleinen, mit Plane überzogenen Gerümpelhügel erscheint Edna Gruber. (B 212)
Der Hügel symbolisiert den durch Edna eine vorläufige Einheit bekommenden Bewußtseinsinhalt voller Text-Gerümpel, die Fragmente und Mythensplitter bekommen durch den Auftritt Ednas einen vorläufigen, eine Einheit vortäuschenden Überzug.
3.2.2.4. Figuren im fragmentierten Text Strauß zeigt seine Figuren auf der Bühne weniger dadurch, daß er eine individuelle Psychologie ausstellt, sondern als Involvierte in einen Diskurs, der innere und äußere Zustände zusammendenkt. Je nach Bühnenrahmen treten sie als mehr oder weniger großes Text-Fragment auf die Bühne. Zu den Figuren in "Trilogie des Wiedersehens" sagt Strauß: 'Natürlich haben die eine Geschichte. Nur: die Flachheit in einem Stück wie Trilogie macht quasi die persönliche Biographie überflüssig'. Das Verfahren sei geradezu das einer 'Verschleuderung von Biographie'. 49
Für Strauß ist die Kreation von Figuren für das Theater immer eine Strichelung und Andeutung'. Seine Vorstellung beim Schreiben: daß der Schauspieler mit seiner Verkörperung den eigentlichen Rest herstelle. Das funktioniere natürlich bei der Prosa nicht. 'Meine Schwierigkeit, Charaktere darzustellen, rührt einfach daher, daß ich keinen Begriff vom Individuum habe - was die bürgerlichen Autoren selbstverständlich noch hatten, auch wenn ihnen dieses Individuum in allen möglichen Einzelheiten zerfiel. Das Wahrnehmen von Menschen ist heute anders: Man geht eher von
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Hage: Schreiben ist eine Siance, a.a.O., S. 200.
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Strukturen aus. Es interessiert mich nicht, wie eine einzelne Figur beschaffen ist, mich interessiert eher das, was transindividuellen Charakter hat'.5"
Grundsätzlich sei es schwieriger geworden, verglichen mit dem neunzehnten Jahrhundert, einen Menschen in einer Handlung oder einem Konflikt zu definieren. 51
Der Grund sei die Psychoanalyse: Wir haben diesen komplizierten Kosmos der Begriffe dazu bekommen. Wer sich je mit Seelenkunde beschäftigt hat, dem gerät das beobachtete Leben in einen anderen Zusammenhang."
So gibt es für Strauß keinen Begriff vom Individuum mehr," das "Ich" versperrt den Weg zu einer symbolischen Arbeit. 34 In "Groß und klein" dreht sich Lotte, die das Zentrum, das Weiße im Text auf ihrem Rücken bemerkt, um und findet sich vor dem Buch wieder, das ebenfalls verletzt ist. Hier zeigt Strauß, daß für ihn der Körper, das individuelle "Ich" und der andere wie die Welt Text ist. Der BühnenRaum ist der gerahmte Raum der Sprache, in der sich die Individuen bewegen. Wenn sie gemeinsam im Raum sind, dann sind die Figuren und der Dialog Teil der symbolischen Ordnung. Bei Strauß gibt es keine autonomen Individuen mehr. Alles ist Text. (Neo-) Strukturalistisch gesehen trifft sich alles als Text im Text. Der eine nimmt den anderen als Text im Text wahr. Und da sich die Identitäten andauern verschieben, da kein Text den anderen als Einheit erfassen kann, gibt es Verwandlungen und Übergänge. Die Individuen sind als Figuren deshalb bei Strauß nur angedeutete, wie jeder wahrgenommene Mensch nur eine Andeutung ist, da keiner den anderen als Einheit wahrnehmen kann. So ist alles Text, ist Bewußtsein, ist Unterbewußtsein, ist Zeit und Raum, ist Bühne. Levi-Strauss' Anlehnung seines Modells des Unbewußten unter anderem an die Geologie setzt sich in Strauß' Bühnenraum fort als Übereinanderschachtelung von Räumen, die zugleich Innen und Außen sind. Das Serressche "Ich denke überall", die Erkenntnis des umherziehenden Denkens wendet sich gegen die Verengung auf die Zentrierung des "Ichs" im materiellen Kopf. Denn in Wirklichkeit ist der Körper überzogen von sich bewegendem Text. Im Theater emanzipiert sich der Körper von der Geschichte und wird gleichberechtigter Text: Wenn aber Obszönität und Pornographie gerade heute zu einem panischen Thema geworden sind, so war das Thema des Körpers (und seiner Emanzipation vom Theater) bereits in den sechziger Jahren in den Mittelpunkt des Theaters gerückt, und ist seither nicht verschwunden, sondern hat sich in den letzten drei Jahrzehnten unterschiedlich folgenschwer auf die Genese der Performance Art und die Entwicklung des modernen Dramas, des Performance Theaters und des Tanztheaters ausgewirkt. Mit dem Heraustreten des Körpers aus den alten dramatischen Grundkonstituenzien der theatralischen Illusion (Personenrolle, Raum, Zeit, Handlung, Dialog) begann die kritische Phase eines erneuten Versuchs, in der Nachfolge von Artaud, Brecht und der historischen Avantgarde, die Utopie eines künftigen Theaters, eines Experimentier- und Erfahrungsraums, in dem literarische oder optische Illusions- bzw. Interpretationsräume destruiert werden, konkret zu erproben und 50 51 52 53 54
Hage. Hage: Hage: Hage: Hage:
Schreiben Schreiben Schreiben Schreiben Schreiben
ist eine ist eine ist eine ist eine ist eine
Siance, Sdance, Sdance, Stance, Söance,
a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,
S. S. S. S. S.
192f. 191. 191. 192. 192.
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die Brüche und Differenzen zwischen der Zeit des Subjekts und der Geschichte zu radikalisieren.55 Aber immer bleibt der Körper Text, dem Text zu entkommen gelingt den Figuren Strauß' in keinem Fall, der Text bleibt unhintergehbar, die Figuren sind bei Strauß immer bekleidet: Die Wörter nehmen eine Haltung ein, nicht der Körper; die Wörter sind gewebt, nicht die Kleidung; die Wörter glänzen, nicht die Rüstungen.56 Denn daß "die Körper sprechen, daß wissen wir seit langem." 57 Auch Elias Canetti skizziert Figuren als hörbare Masken. Das sprachliche Verhalten determiniert die Identität. Mit Hilfe der Extrapolation eines einzelnen, bestimmten Merkmals unter Ausblenden der Wahrnehmung der anderen wird eine eigenständige Figur generiert, die als Imagination der Wirklichkeit am nächsten zu kommen scheint. Bei Strauß wird dieses Verfahren zur "symbolischen Arbeit", die jedem "Realismus" überlegen ist, Max fordert deshalb auch mehr "Symbolkraft" (B 207). Jede Figur ist als Form eine Art von Selektion und Musterbildung, "die gnadenlos bestimmte Dinge ausscheidet, die in der amorphen Lebendigkeit noch da sind". Zugleich eröffnet sich dem Schriftsteller aber aufgrund dieser Beengung die Möglichkeit, Entdeckungen zu machen, die in der amorphen Lebendigkeit nicht zu finden seien. 58 Nach Hans-Thies Lehmann, der mit Lacan argumentiert, konstituiert sich das Subjekt im Diskurs der antiken Tragödie.' 1 ' Dieses Subjekt hat sich in der Nachmoderne als Fiktion herausgestellt. Aber - und daran knüpft Strauß seine Weltsicht des Verlusts - die Sicherheit des Mythos, die vor dem Übergang zum Logos herrschte, ist mit dem Eingang des Subjektes in den Text nicht mehr erreicht worden. Nachdem Strauß* Figuren sich als eindeutiges Subjekt verloren haben, ist auch ihr Versuch, sich am überlieferten alten Text, an den Mythensplittern festzuhalten so wie Max versucht, Halt bei Karl Joseph und Edna Gruber zu finden - zum Scheitern verurteilt, da der ehemals mythische Text losgelassen im Raum der (Nach-) Moderne schwebt. Übrig bleibt die Figur, wie der Körper, nur noch als zerstückeltes, nur noch kurz aus der Sicht einer Perspektive einheitliches TextFragment. Da im 20. Jahrhundert das Subjekt von den wissenschaftlichen und philosophischen Diskursen zugunsten des Textes verabschiedet wurde und der Text als neues Zentrum immer mehr den Zusammenhang verliert, wird auch der TextKörper zerstückelt. Der Übergang von der Mimesis zur totalen Simulation verschärft die Situation. Das Fernsehen schafft zerstückelte Körper und setzt in seinem Fragmentcharakter alles mit allem in Verbindung, so daß kein Gefühl des Verlust entsteht, sondern ein paradoxer Zusammenhang des Fragmentierten durch den immer gleichen Schnitt. Max beklagt so in "Besucher" gerade im Fernsehen die
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Johannes Birringer: erschöpfter Raum - Verschwindende Körper, in: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, hg. v. Florian Rötzer, Frankfurt 1991, S. 491-518, hier S. 507. Gilles Deleuze: Pierre Klossowski oder Die Sprache des Körpers, in: Sprachen des Körpers, a.a.O., S. 39-66, hier: S. 46. Deleuze: Pierre Klossowski oder Die Sprache des Körpers, a.a.O., S. 43. Hage: Schreiben ist eine Söance, a.a.O., S. 191. Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991.
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Abwesenheit eines die Einheit verkörpernden Leviathans als Gemeinschaft erzwingende Figur: Max: [...] Ist mir auch prompt was schiefgelaufen, als ich nämlich sagte: Es gibt heute keinen Napoleon mehr unter den Schauspielern - . [...] Brüllt nach hinten: Realist! (B 218)
Das Theater bleibt für Strauß auch deshalb das letzte Medium, das noch an die ursprüngliche Einheit erinnert, das noch ein Gefühl des Verlusts vermittelt.
3.2.2.5. Besucher und Zuschauer Max befindet sich auf der Bühne der Nachmoderne in einem "Disney-Land", in einem Text, dem er sich auf zweifache Weise nähern kann: Max: Ich stecke fest, kann mich nicht rühren, eingepreßt in einen unschmelzbaren Eisblock unter der Seychellen-Sonne! Ja, ergeht euch nur in diesem riesigen Vergnügungspark mit seinen Horrorspielen, Untergangsballetten, wo keiner weiß vom anderen, ob er noch Besucher ist oder schon ein ausgestopftes Exemplar, das hier für alle Zeiten sein Wohlleben aus den Tagen der Diamanten vorführt. (B 223) Dem Theater der Welt kann als Be-Sucher, als Ahnender, oder als Zu-Schauer, als den anderen und damit sich selbst zu-schauend begegnet werden. Zu-Schauen kann hier auch gedeutet werden als Zu-Machen, als durch Sehen Verfehlen, indem man den anderen mit Theorie, mit Be-Griffen belegt. "Theorie" stammt vom griechischlateinischen "theoria", das "Zuschauen", "Betrachten", "Untersuchung", "wissenschaftliche Erkenntnis" bedeutet. Zugrunde liegt diesem Wort das griechische Substantiv "theoros", "Zuschauer", das zusammengezogen ist aus "thea-(u)oros", also aus "jemand, der ein Schauspiel sieht". Verwandt ist dieser Begriff mit dem griechischen "thea", dem "Anschauen", der "Schau", von dem sich wiederum das "Theater" herleitet. Und mit dem griechischen "horaein", dem "sehen". Der Titel "Besucher" kommt als Wort von "suchen", dessen zugrundeliegende indogermanische Wurzel "sag-" "witternd nachspüren" bedeutet. Dieses Wort bezog sich ursprünglich wohl auf den die Fährte aufnehmenden Jagdhund und ist verwandt mit dem lateinischen "sagire", "wittern", "spüren", "ahnen". Mit dem Gegensatz von "Besucher" und "Zuschauer" markiert Strauß also den Gegensatz von Ahnung und Sehen. Das Medium, das gegenüber dem Theater noch mehr vom reinen Sehen bestimmt wird, ist das Fern-Sehen. Der Spiegel des kursierenden Textes wird immer mehr zum Spiegel der Mattscheibe. Für Max ergibt sich zwischen ihm und dem anderen ein durch das Fernsehen immer mehr zum Sehen gezwungenes Verhältnis: Max: Alle Menschen sind zweierlei und ich auch. Er holt einen Brief aus der Hosentasche. Sieh dir das an. Sie laden mich zu einer Diskussion im Fernsehen. Ein untrüglicher Beweis für die überragende Bedeutung meiner Person. Worum geht's? Der Videoschock. Achte Runde. Der Schauspieler - ein Beruf mit Zukunft. Fragezeichen. Alle Kanäle brauchen Schauspieler. Versteht sich. Die eine Hälfte der Welt wird Schauspieler sein, die andere Zuschauer. (B 210) Das "Max-Double" ist dann auch das Ergebnis des fixierenden Starrens auf den Medientext. Als "Realisten", wie Max die Fernsehgesellschaft beschimpft, sind die
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Fernseh-Zuschauer die eigentlichen Fantasten, denn sie glauben immer noch an die subjektzentrierte, eindeutige Identität, die der Fernsehnaturalismus der Femsehnation als Wahrheit vorgaukelt. Das Fatale an diesem naturalistischen, realistischem Trugbild ist der Effekt der Nachahmung. So will Lena von Max unbedingt den vorgeprägten, allgemein gültigen Liebesschwur hören: Lena: Ich könnte alles sehr gut ertragen. Sogar deine Verdächtigungen und Verletzungen - Wann endlich die drei wenigen Worte? Wie lange noch dieser Zustand der nie erklärten Liebe? Die drei wenigen Worte, Max. (B 211) Max jedoch verweigert Lena diese Worte, da er außerhalb des Theaters die Sprache für verbraucht ansieht (zu Edna kann er die drei Worte sagen): "Wie steht es geschrieben bei Jeremias: Ich will meine Freundin in die Wüste führen und will ihr in ihr Herz sprechen!" (B 211) Nur noch in der Undeutlichkeit, durch die Flucht aus der geregelten Stadt in die Verwehungen der Wüste, die hier für die "Wüste" der sich bewegenden Wörter steht, glaubt er, Lena inmitten einer Mediengesellschaft seine Liebe zeigen zu können. In seiner rebellischen Haltung vergißt er aber, daß er seine eigene Identität und die Lenas untergräbt, wenn er die gültigen Formen verweigert, und so muß er am Ende nachgeben. Die Industriegesellschaften streben, ungeachtet ihrer ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Unterschiede, danach, qualitative Unterschiede, das heißt menschliche, in uniforme, quantitative umzuwandeln.60 Diese Umwandlung könnte, so Heidegger, wieder rückgängig gemacht werden, wenn das Technische sich wieder zum Dichterischen, das Sehen wieder zum Hören neigt. Das eigentlich nähere Sein muß wieder "hinter" der Mauer des Seienden hervorgeholt werden. Dies könnte unter den Medien für Strauß am ehesten das Theater erreichen. Im Dialog wäre für Strauß ein guter Schauspieler wie Peter Lühr hörig über die Grenze des reinen eindeutigen Interpretierens hinaus, er fragt auf den Text ein, bis dessen Rationalität erschöpft [ist]. Der Schauspieler fragt in der Regel, um etwas anderes zu erfahren, als die passende Antwort. Sein Fragen gleicht eher der Stimmfühlung bei Singvögeln und gilt dem Bestreben, sein Terrain zu sichern. Er spürt sich vor durch Frage und halbvernommene Antwort zum undeutbaren Grund der Rolle. (TSPL 7) Es ist immer etwas von Lühr auf der Bühne, wenn dort einer dem anderen dialoghörig ist. Seltene Gabe, erhabene Schwäche. (TSPL 9) Ein hörender Schauspieler auf der Bühne kann die Vereinzelung des nachmodernen Gesellschaftsmenschen überbrücken und eine "Communio" entstehen lassen: Offenbar haben die Göttlichen der Schauspielkunst in früherer Zeit nicht des Monodrams bedurft, um sich das Zentrum eines Theaterabends zu sichern. Es genügte die Hauptrolle. Sie erlangten ihre einsame Höhe dank und zusätzlich der anderen, mit denen sie die Handlung des Dramas zusammenhielt und die gewiß oft genug nur zu ihrem Dienst bestellt waren. Bei der Menge an guten und sehr guten Schauspielern, die heute bei uns die Ensembles bilden, ist es entsprechend schwieriger geworden, ein Uberzeugender Hauptdarsteller, ein legitimer Erster zu sein. Man erlebt im Gegenteil, daß selbst ein Laiendarsteller, ein interessanter Mensch für die schauspiellosen Stunden eines Monologs als rigoroser Virtuose überzeugt, während er wenig später in der Hauptrolle eines tatsächlichen Schauspiels nahezu nicht auffällt. Es scheint, der Schauspieler verliert zwischen autisti60
Paz: Das Labyrinth der Einsamkeit, a.a.O., S. 195.
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scher Inspiration und Beschränkung seine herkömmliche Souveränität. Peter LUhr galt mir immer als der Gegentyp des Monologisten, als einer der wenigen dialogftthigen, ja dialogabhängigen Schauspieler. [...] :einer des anderen erster und letzter, ewiger Geselle zu sein. [...] Ich sah, wie alles Schmuck und Klärung wird, was früher nervös und krisenhaft erschien. Auch in diesem Beruf löst das Alter die Spannung zwischen Artistik und Seelendunkel, erlaubt die freien Ornamente, die jonglierten Lasten. Es wird das ganze Spiel mit allen Finten und Gefahren noch einmal und letztlich als skurril erlebt. (TSPL 8f.)
Das Theater erweist sich auch deshalb als das von Strauß bevorzugte Medium, da es neben den Zwängen des gedruckten Textes noch die Freiheit des schauspielerischen Spiels zuläßt. Daher kreiert er die Figuren als 'eine Strichelung und Andeutung'. Seine Vorstellung beim Schreiben: daß der Schauspieler mit seiner Verkörperung den eigentlichen Rest herstelle.61
Das Eigentliche stellt sich für Strauß nur ein durch das Hören. Diese Zusammenkunft zwischen dem im großen Archiv treibenden Text und der immer neuen Interpretation ergibt das Zusammenspiel zwischen der für die Identität notwendigen Stabilität und der für die Erotik des Augenblicks unabdingbaren Öffnung. Die ideale Figur auf der Bühne und in der Welt wäre daher ein Zusammenspiel von Sehen und Hören, von Zuschauer und Besucher.
3.2.2.6. Das Theater als Ritual Und wie sie spielen! Sie wiederholen und wiederholen sich. Sie machen das Damals, sie lassen nicht nach. Und wiederum von vorn und noch einmal das Ganze. Du siehst: der Rest ist Theater. Der letzte unserer magischen Versuche, die Angst uns auszutreiben. (KDWF 73)
Das einstmals magische Theater ist zum Theater der Welt geworden, die "ästhetische Grenze" ist nicht mehr definierbar in einer Zeit, in der eine "durchgreifende Ästhetisierung der Welt" der Grund ist für die "heutige Identitäts- und Legitimationskrise der traditionellen Künste"". Der "Karneval des Denkens" als Delirium, als ewiger Traum, den Strauß schon im Titel von "Kalldewey, Farce" anklingen läßt. Die Sicht auf die Welt als ästhetische erlaubt dann den frechen Rückgriff auf die übrige Zeit, die im großen Archiv kursiert. Jeder Denker muß sich fragen lassen: "Inwiefern begriffen sich Philosophen als Zuschauer der Welt?"63 Der Zuschauer ist der Held der Nachmoderne. Und diesem stellt Strauß seinen Besucher gegenüber. Wenn alles Theater ist, dann wird alles zum Zeichen und dieses ist spätestens seit Saussure arbiträr. Der ehemals feste Grund schwimmt, in "Der junge Mann" wird der schwimmende Grund der deutschen Sprache symbolisiert durch eine "weitverzweigte unterirdische Kanalanlage" (DjM 83), die die "Grundwässer des Menschen, 'Ströme des Lebens'" (DjM 83) darstellen:
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Hage: Schreiben ist eine Siance, a.a.O., S. 192f. Helmar Schramm: Karneval des Denkens: Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 15. Schramm: Karneval des Denkens: Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, a.a.O., S. XII.
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Der geringe Teil, den man überblicken konnte, ließ keinen Schluß auf die Anordnung des Ganzen zu, so daß es den Anschein hatte, als herrsche eine willkürliche Nachbarschaft unter den Flüssen. [...] 'Das ist die große Reserve', erklärte der Detektiv seiner verwunderten Begleiterin, während sie auf eisernen Stegen und Gitterplatten die bunten Bahnen überquerten, 'sie gehört ebenfalls unserem Besitzer, den wir auch kurz nur 'den Deutschen' nennen. Dort hinten, wo Sie gar nicht mehr hinblicken können, sind auch jene Stoffe im flüssigen Zustand bewahrt, die oben, unter freiem Himmel, nur als mehr oder weniger materielose bekannt sind, vornehmlich die sogenannten geistigen Güter, Geschichte und Kunst, Magie und Technik und manch anderes mehr. Es ist also kein Mangel, Sie sehen es selbst, und wenn oben - oben in der Gesellschaft - einmal der eine oder andere Stoff zur Neige geht, so kann er [im Original kursiv] noch lange für Nachschub sorgen. Seiner Macht wird dann nichts gleichkommen. Denn so gut wie alles, was man oben zu einem menschenwürdigen Leben braucht, ist hier in Hülle und Fülle vorhanden, läuft um und wird frisch gehalten'. (DjM 83f.) Der "lebendige[.], kunterbunte[.] Daseinsprozeß" (DjM 84), dessen Grund das große, treibende Archiv ist, hat aber in der Gesellschaft seine Anbindung an das Heilige verloren, das Theater, entstanden aus dem Ritus, ist zum medialen Theater geworden, die Mythen werden nun in Hollywood gemacht: 'Wer schreibt die Lieder, die junge Mädchen singen? Oder die Geschichten, die alte Männer erzählen?' Richtig, es sind nicht die Dichter und Denker, sondern die Werbeleute und Filmregisseure. Die Mythen des Alltags stammen nicht aus den Tiefen abendländischer Überlieferung, sondern von den Oberflächen Hollywoods.64 Diese Oberflächen sind auch die Oberflächen eines Spiels von auf sich selbst verweisenden, auf das Objekt, das dann auch ein Kunstwerk sein kann, projizierten Interpretationen. Wenn sich die "Aura" nur noch als "Geheimnis der Oberfläche" erweist, wie in den Theater-Werken von Robert Wilson, die als "mentale Ereignisse" funktionieren, gestiftet von einer auraprojizierenden Rezeption, die als eigentlich produktiver Teil des Diskurses Kunst erst rezipierend herstellt, was sie als vorgestellt anzutreffen erwartet,45 dann stellt sich bei Strauß das "Grauen" ein über den "riesigen Vergnügungspark" (B 223), die Immanenz einer ewigen Spiegelung, in sich der das Kunstwerk nur noch als System/Umwelt-Differenz legitimiert nach dem Motto: Kunst ist, was als Kunst be-zeichnet wird. Für Strauß geht es "nie nur um gutgespieltes Theater", sondern auch um Theater als einen externen Ort, einen "hortus conclusus", in dem der "Geheime", als dessen Inkarnation fur Strauß Dieter Sturm gilt, nicht an der Oberfläche agiert. Denn für Strauß scheint zur Zeit [...] ja nichts dringender benötigt zu werden als gerade die anachronistischen Energien, über die [Dieter Sturm] verfügt, die Leidenschaft des Sammlers und des Rufers in der Geschichte, die nun um das Theater ein neues Kraftfeld von Anziehung und Ablehnung aufbauen werden. Und die ihm jeden Weg abschneiden, zur frivolen Amüsieranstalt oder emanzipatorischen Kasperbude zu verkommen. Diese Entscheidungen sind weit davon entfernt, selbstgefälligen, liebhaberischen Zwecken zu dienen. Es handelt sich um Kampf und Hoffnungsdrang, nicht anders als zu Beginn. (VE 254f.)
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Bolz: Die Sinngesellschaft, a.a.O., S. 228. Bernd Graff: Das Geheimnis der Oberfläche. Der Raum der Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons, Tübingen 1994, S. 159.
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Damit wäre für Strauß der Heraklitische "Kampf" nicht mit dem Übergang der "Mimesis zur Simulation" zu Ende. Der "Unausweichlichkeit des Ästhetischen" 66 versucht Strauß mit einem dritten Weg, jenseits von Mimesis und Simulation, zu entkommen. Dieser dritte Weg wird zum Problem in einer Zeit, in der das Profane das Sakrale nur simuliert, das Theater als einstmals magischer Kreis zum Theater der Welt wird und die Wirklichkeit überall und zu jeder Zeit bestimmt. Während früher eine eindeutige Grenze den heiligen Raum und die heilige Zeit vom profanen Raum und der profanen Zeit unterschieden hat, ist heute alles vermischt. Ein Ritus kann dann nicht mehr stattfinden, denn der Ritus definiert sich durch den Ort und die Zeit, wo die Mythen nicht nur erzählt werden, sondern auch geschehen. Im Ritus trifft der überzeitliche und überräumliche Mythos auf den real-räumlichen und real-zeitlichen profanen Ort. Die Zusammenkunft des Mythos mit dem Realen erzeugt eine magische Identifizierung, eine Gleich-Setzung, die nicht "aufgeklärt" werden kann. Im Ritual werden Himmel und Erde, Heiliges und Profanes miteinander eins, der Mittelpunkt der Welt konstituiert sich durch das Ritual an Ort und Stelle. Wenn im Raum der Postmoderne alle Zeiten und Räume sich im großen Archiv versammeln, dann wird aufgrund der nun erreichten Zeit- und Ortlosigkeit der Posthistoire ein Ritual nur vorgetäuscht, dem magischen Kreis des ursprünglichen Theaters ist ein Theater der Welt nachgefolgt, das aber jede Anbindung an das Heilige verloren hat. Ohne Bindung an den gültigen Mythos verliert auch das Theater als Institution im Sinne einer System/Umwelt-Differenz seine Einzigartigkeit und wird wie das Theater der Welt zum bodenlosen Grund des unendlichen Regresses. Diesen als Folge des Verlusts der Anbindung an das Transzendente beklagt der "Zuschauer" in "Besucher": Ich gehe ins Theater, um mir die Sorgen zu vertreiben. Was sehe ich aber auf der Bühne: haargenau meine Sorgen. Ein Stück, wie es alltäglicher nicht sein könnte. Man kommt von der Garderobe und betritt den Zuschauerraum. Der Vorhang öffnet sich, und man sieht vor sich wiederum die Garderobe. Ein Mensch tritt auf, einem selbst zum Verwechseln ähnlich, jemand, der offenbar überstürzt ein Schauspiel verlassen hat und sich nun bei der Garderobenfrau darüber beschwert, daß ihm das Theater zu alltäglich, zu gegenwärtig, zu wirklichkeitsnah und persönlich nur allzu bekannt vorkommt. Womit ich mir meine eigenen Worte des Abscheus sparen kann. (B 227)
Die Klage Strauß' "Wo wohnen? Es gibt nur Zimmer ohne das Haus" (ETG 13) ist die Klage des unbehausten nachmodernen Menschen: Mit der Beschleunigung der Welt wächst das Bedürfnis nach Remythisierung, nach der Prägnanz und Bedeutsamkeit des Ereignisses - also nach "Nichttheorie', denn Theorie schließt Bilder und Geschichten aus. Der Mythos ist gleichsam ein Sicherheitsnetz von Geschichten, das über die Sinnlosigkeit gespannt ist. [...] an die Stelle der großen Erzählungen ist die 'Beobachtung 2. Ordnung' getreten.67
Und deren Haltepunkt ist die Beobachtung dritter Ordnung usw. Der "Rufer nach 'Beobachtung 1. Ordnung'"68 bekommt nur nach das Echo der Spiegelungen, des großen Lochs des unendlichen Regresses zur Antwort. Das profane Theater der Welt ist eine ästhetische Welt im Kopf: 66
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Werner Jung: Von der Mimesis zur Simulation. Eine Einführung in die Geschichte der Ästhetik, Hamburg 1995, S. 233. Bolz: Die Sinngesellschaft, a.a.O., S. 230f. Bolz: Die Sinngesellschaft, a.a.O., S. 231.
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Was ist Glashaus, was ist Welt? Was innen, was außen? Was Automat und was Organ? Nicht mehr zu unterscheiden. Wir fühlen unseren Kopf Globus werden und gehen auf einer Erde, die sich anschickt, ein einziger Kopf zu werden. Die verschaltete Welt ist das komplette artificium, die künstliche Kunst nur ihr oberster Verdichtungsgrad. Das hermetische Lustspiel ist kein satirisches Gleichnis mehr, sondern inzwischen ein Gestaltteil, Modul einer radikal erfundenen Wirklichkeit. Wir haben im Hochkünstlichen noch einmal die ganze Welt. Kein Einlaß, kein Auslaß: nach Schließung des Kunstwerks. (DEeK 127f.) In der Immanenz, in der alles anschlußföhig geworden ist, besteht immer noch das Bedürfnis des Menschen, aus der Zeit und dem Raum zu treten, das KünstlichProfane zu verlassen: Man könnte ein ganzes Buch schreiben über die Mythen des modernen Menschen, über die getarnten Mythologien in den Schauspielen, die er bevorzugt, und in den Büchern, die er liest. Das Kino, diese 'Traumfabrik', macht sich zahllose mythische Motive zunutze: den Kampf zwischen dem Helden und dem Ungeheuer, die Kämpfe und Prüfungen der Initiation, exemplarische Gestalten und Bilder (das "junge Mädchen", der "Held", die paradiesische Landschaft, die Hölle usw.). Selbst die Lektüre hat eine mythologische Funktion: sie ersetzt nicht nur die Mythenerzählung in der archaischen Gesellschaft und die mündlich überlieferte Dichtung, die heute noch in den ländlichen Gemeinschaften Europas lebendig ist, sondern sie bietet dem modernen Menschen vor allem die Möglichkeit, 'aus der Zeit herauszutreten', ähnlich wie die Mythen es früher taten. Ob man mit einem Kriminalroman die Zeit 'totschlägt' oder in das zeitlich fremde Universum eines Romans eindringt, das Lesen trägt den modernen Menschen aus seiner persönlichen Zeit heraus, es fügt ihn anderen Rhythmen ein und läßt ihn in einer anderen 'Geschichte' leben.69 Doch dieses Heraustreten kann nicht verglichen werden mit der eigentlichen Funktion des Mythos, denn die 'Privatmythologien' des modernen Menschen - seine Träume und seine Träumereien erheben sich nicht mehr zum ontologischen Rang der Mythen, eben weil sie nicht mehr vom ganzen Menschen erlebt werden und eine private Situation nicht in eine exemplarische Situation umformen. 70 In dem nachmodernen Netz, in dem alles mit allem verbunden ist, kann sich nichts mehr als "große Erzählung" (Lyotard) legitimieren, der Sinn ist dahin. Wenn der Sinn noch diskutiert werden soll, dann wäre für Bolz das Theater die zuständige Institution, denn hier geht es ums 'Ganze'. Und das Ganze, die Einheit, den Sinn gibt es eben nur als Kulturereignis. Mit unterschiedlichen Titeln präsentiert das Theater immer wieder zwei Stücke, nämlich: 'Der Weg der Seele zu sich selbst' und 'Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn'.71 Doch Strauß zeigt in "Besucher", daß auch das Theater gelitten hat unter der gnadenlosen Säkularisierung der Welt und der Einebnung der Grenzen zwischen dem heiligen und dem privaten Raum. Für Strauß bleibt auf der Bühne nur der Mythensplitter als untergründig wirksame Spur der ehemals wirksamen Mythen. Da deren Anspruch aber verdrängt und vergessen ist und da nach den Lehren der Psychoanalyse das Verdrängte nicht direkt an der Oberfläche erscheint, sondern meist verkehrt, wird auch Edna Gruber als alter Text des Theaters fur Max keinen end69 70 71
Eliade: Das Heilige und das Profane, a.a.O., S. 177. Eliade: Das Heilige und das Profane, a.a.O., S. 181. Bolz: Die Sinngesellschaft, a.a.O., S. 227.
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gültigen Halt bieten können. Zwar bildet sie den leitenden T e x t im B e w u ß t s e i n v o n M a x , so w i e der M y t h o s fragmentiert und ohne B i n d u n g das große Archiv bildet: Edna Gruber tritt als helle Erscheinung auf einen Mauervorsprung. [.. .] Edna Gruber: Du schlenderst. Ich muß allgegenwärtig sein. (B 219) Aber in der profanen W e l t wird sich der M y t h o s für M a x als profane W i e d e r h o l u n g erweisen. W i e Titania und Oberon im "Park" verlieren die M y t h e n auf der B ü h n e der W e l t ihre Einzigartigkeit und Macht, das G a n z e nicht nur zu repräsentieren, sondern auch zu sein. Edna Gruber ist für M a x (Weber?) die letzte H o f f n u n g in einer "entzauberten Welt": Max: [...] Sie sind es, Sie, die einzige, die noch die Kraft besitzt, die ihre Stimme erhebt über das nervöse Gemurmel, über alles Kleinmütige, Mäßige und Triviale. Für Sie ist das Spiel noch etwas Heiliges. Sie zeigen uns, Sie beweisen es: Wir Menschen sind Wesen von höherer Art, als uns selbst bewußt ist. Und jeder, mag er noch so ein kleiner Alltagszwerg sein, spürt es, erlebt es durch den Schauder, der nie ausbleibt, wenn Sie, die Schauspielerin, ihn freisprechen von seiner Kläglichkeit - Edna Gruber: Ach Lieber... Was versäume ich - was versäume ich wirklich, wenn ich es lasse? Ist das alles so wichtig? Gestern hat mich meine Tochter besucht. Eine schöne erwachsene Frau ist sie geworden. Sie hat einen Freund mitgebracht, den sie heiraten will. Einen Optiker, der ein Brillengeschäft in Kuwait eröffnen will. In Kuwait. Sie geht also auch fort. Ich kann gar nichts tun, sie geht und ich bleibe hier. Mein Mann ist gestorben vor zwei Jahren, und ich bin in meinem Haus geblieben. Seinetwegen habe ich aufgehört zu spielen. Ich habe ihn sehr geliebt und sein Leben war mir wichtiger als meins - und dann hat er's verloren, so früh. Es wird einem nur genommen. Tod und Abreise regieren das Leben. Ich hätte längst fortgehen müssen. Aber ich komme nicht los von meinem Platz, nicht los von den Tieren. Ich sage das nur, weil ich so traurig bin und andauernd meinen Text vergesse. (B 221) Der M y t h o s o h n e B i n d u n g an das Transzendente ist nur n o c h ein Text o h n e Halt. D a s Theater ist für Peter Stein nun einmal ein Ort, der mit den immer gleichen Grundmustern und Grundbildem, Grundsituationen und Grundempfindungen arbeitet. In immer wieder neuer Weise. Theater ohne die Perspektive nach hinten und ohne Perspektive nach vorne ist eigentlich gar keins. Es ist dann allenfalls ein punktueller Jux oder eine Pflichtveranstaltung, aber kein Spiel. 72 U n d s o sollte sich, s o Strauß einer, der jetzt fllr Theater schreibt, [...] bewußt sein oder es in seinem Instinkt bewegen, daß er nicht mehr für das öffentlichste, sondern für das älteste öffentliche Medium schreibt, das die Menschheit besitzt. [...] Ein Medium, wahrhaftig, aber eher eines im vorigen, vortechnischen Wortsinn. Das gesprengte Urritual, das in tausend Wesensteilchen, Form- und Wirkungsgesetzen auf uns gekommen ist. Jede neue Figur, fllr die Bühne entworfen, besteht, wenn sie spielbar sein soll, zu zwei Dritteln aus Theaterkamerad, rollengeschichtlicher Synthese, Funduskreation und nur zu einem Drittel aus Zeitgenosse und aktuellem Stoff. Das ist die Bindung, der Anspruch der Überlieferung, die man beachten muß; die Freiheit, die man daraus empfängt, ist groß. (DEeK 136) A l s "kleine[r], unendlich tiefe[r] Raum" ( D E e K 136) ist das Theater [...] der Ort, wo die Gegenwart am durchlässigsten wird, wo Fremdzeit einschlägt und gefunden - und nicht wo Fremdsein mit den billigen Tricks der Vergegenwärtigung getilgt oder überzogen wird. [...] Viel anwesender ist das Theater dort, wo es zum Schauplatz seines eigenen Gedächtnisses, seiner originalen Mehrzeitigkeit wird. (DEeK 136)
72
Stein: Spökenkieker, von einer Furie gejagt, a.a.O., S. 49. 187
Hier unterstellt Strauß der fröhlichen Postmoderne, mit "billigen Tricks der V e r g e genwärtigung" alle Zeiten beliebig zu benutzen, so w i e das Fernsehen die g a n z e W e l t z u m intimen Ereignis im e i g e n e n W o h n z i m m e r aufbereitet. Jeder andere soll s o w o h l auf der B ü h n e der Welt, als auch auf der B ü h n e des Theaters w i e d e r als eigentlich Fremder erkannt werden. W i e Levinas, der den anderen als Fremden, als Epiphanie geachtet sehen möchte, will auch Strauß, daß man sich s o w o h l d e m Theater als Kunstereignis als auch d e m M i t m e n s c h e n nicht als profanierender Zuschauer, sondern als Besucher nähert. Dabei ist das Theater selbst als ein Kunstwerk anzusehen, das, wie in einem Mythos, nur existieren kann, wenn es zu jeder Zeit von Berufenen aufs neue vollendet wird; [...] Wo es aber gelingt und das Fernste durch die Schauspieler in unfaßliche Nähe rückt, gewinnt Theater eine verwirrende Schönheit und die Gegenwart Augenblicke einer ungeahnten Ergänzung. (DEeK 137) D i e s e Ergänzung kann aber nicht stattfinden, w e n n das Theater der W e l t als das Theater der Zuschauer das Theater der Besucher als anschlußfähigen Teil seiner selbst vereinnahmt: Selten hat die große, geräumige Metapher, die Bühne und Welt miteinander verknüpft, Rücksicht genommen auf die professionelle Wirklichkeit des Schauspielers. Auch eine ihrer berühmtesten Wendungen, ausgerechnet von einem Theatermann, die Shakespearesche vom Leben, das nichts weiter sei als 'ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht'/ Sein Stündchen auf der Bühn1, und dann nicht mehr / Vernommen wird 1 ... hinterläßt den kleinen Fehlbetrag, daß eben der Schauspieler per definitionem keine Person sein kann, die nur ein einziges Mal die Bühne betritt und dann für immer ihr den Rücken kehrt. Der Schauspieler kehrt immer wieder, oder er ist keiner. Ohne die Konstruktion der Wiederholung ist dieses Wesen gar nicht lebensfähig. Allein der Nicht-Schauspieler verfällt der Einmaligkeit jeder seiner 'Stündchen'. Der Schauspieler verbringt, erlebt viele, sehr viele unter gleiche Bedingungen gestellte Stunden auf der Bühne. Sein Ritus erstrebt vielleicht sogar die vollendete Wiederholung, wie sie aus lebensphysikalischen Gründen unmöglich ist. Der vorige Abend kann niemals wiederhergestellt werden. Wie die heraklitische Sonne, die neu ist Tag für Tag, ist auch der Abend des Schauspielers je ein eigenes, neues Ereignis - die Kunst-Zeit beginnt immer wieder von vorn. Und doch bezieht jeder Abend sein Leben aus den Tiefen der Wiederholbarkeit, denen auch das berühmte einmalige Gelingen, die unübertrefflich gute Vorstellung abgewonnen sind. Wenn ein großer Schauspieler stirbt, ist das immer ein etwas unsicheres Ereignis. Zu lange stand er auf der Bühne in der Gegensphäre des Todes, welche nicht 'das Leben' ist, sondern das geschlossene Spiel und seine Zeit. Wer stirbt? Ein alter Mann. Den kannten wir nicht. Wir kannten die persona, seine Maske, sein Idol. Der Teil von ihm geht ein in die Gründe der Großen Wiederholung, vermehrt das Gedächtnis, das Theater heißt. (TSPL 6) A l s "Idol" für M a x fungiert Karl Joseph in "Besucher", und um d i e s e m gerecht zu werden, m u ß sich M a x in das Gedächtnis, in die Worte einordnen. W e n n er v o m Zuschauer z u m hörenden Besucher wird, kann der Ritus auf der B ü h n e d e s Theaters für Strauß stattfinden, die m a g i s c h e Identifizierung des M y t h o s und d e s Realen, die v o n d e m griechischen Ausdruck "symbolon" ausgedrückt wird. D e r Realismus, s o Strauß, m ü s s e zugunsten des S y m b o l i s c h e n zurücktreten, auch für Eliade eröffnet erst das S y m b o l das Universelle: Die Tätigkeit des Unbewußten liefert dem modernen Menschen unaufhörlich zahllose Symbole, und jedes Symbol hat eine bestimmte Botschaft zu übermitteln, eine bestimmte Mission zu erfüllen, die dazu dient, das seelische Gleichgewicht zu wahren oder wiederherzustellen. Das Symbol macht, wie wir gesehen haben, nicht nur die Welt 'offen', es verschafft dem religiösen Menschen auch Zugang zum Universellen. Mit Hilfe des Symbols verläßt der Mensch seine besondere Situation und 'öffnet' sich zum Allgemeinen und
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Universellen. Die Symbole wecken das individuelle Erleben und verwandeln es in einen geistigen Akt, in ein metaphysisches Erfassen der Welt. Vor einem beliebigen Baum Symbol des Weltbaums und Bild des kosmischen Lebens - findet ein Mensch der vormodernen Gesellschaft den Zugang zur höchsten Geistigkeit: indem er das Symbol versteht, vermag er das Universelle zu leben. 71
3.2.3.
Opsis: Die Zeit und das
Zimmer
3.2.3.1. Ewigkeit und Zeit bei Augustinus, Piaton und Plotin Ausgangspunkt aller gedanklichen Expeditionen in Zeit und Raum in Strauß' "Die Zeit und das Zimmer" sind Augustinus' Reflexionen über Zeit und Raum in seinen "Bekenntnissen", in denen er v o m Ineinander von Unwandelbarem und Vergänglichem, von der Ewigkeit als Basis der Zeitlichkeit spricht. Über die Gedanken zu dem wahren Verhältnis von dem unwandelbaren Gott zu dem diesseitigen Raum berichtet Augustinus: Denn selbst das Unvergängliche, Unverletzliche, Unwandelbare, das ich dem Vergänglichen, Verletzlichen und Wandelbaren vorzog, könnt' ich mir, wenn auch nicht in menschlicher Leibesgestalt, so doch nicht anders als körperlich und räumlich ausgedehnt denken, sei es die Welt durchströmend, sei es noch über die Welt hinaus ins Unermeßliche sich verströmend. Denn hätte ich einem Wesen auch diese Räumlichkeit entzogen, wäre es mir als nichts erschienen, und zwar als ein völliges Nichts, nicht etwa bloß als etwas Leeres, wie wenn aus einem Raum der Körper, sei er nun aus Erde, Wasser, Luft oder himmlischer Natur, entfernt wird und nur noch der entleerte Raum bleibt, immerhin ein leerer Raum und gleichsam ein ausgedehntes Nichts. So hielt ich denn stumpfen Geistes und unfähig, mein eigenes Wesen zu erfassen, alles, was sich nicht irgendwie räumlich dehnte oder ergoß, sich ballte oder blähte, oder was nicht etwas derartiges umschloß oder umschließen konnte, für ganz und gar nichts. [...] Gleichwie dem Sonnenlicht die körperliche Luft oberhalb der Erde keinen Widerstand leistet, so daß es sie strahlend durchdringen kann, ohne sie zu zerbrechen oder zu zerreißen, sondern sie ganz erfüllt, so meinte ich, für dich sei nicht nur des Himmels, der Luft und des Meeres, sondern auch der Erde Körper durchlässig und in seinem größten und kleinsten Teilen durchdringlich und fähig, deine Gegenwart zu fassen, so daß du nun mit geheimnisvollem Geisteswehen drinnen und draußen alles ordentlich durchwalten konntest, was du schufst. So vermutete ich, weil ich anders es nicht denken konnte. Aber es war falsch. Denn auf diese Weise würde ein größerer Teil der Erde einen größeren Teil von dir in sich enthalten, und ein kleinerer einen kleineren, und alles wäre dermaßen von dir erfüllt, daß eines Elefanten Leib mehr von dir erfaßte als der eines Sperlings, weil er größer ist und größeren Raum einnimmt, und so würdest du stückweise großen Teilen der Welt mit großen, kleinen mit kleinen Teilen von dir gegenwärtig sein. Nein, so ist's nicht. Doch du hattest meine Finsternis noch nicht erleuchtet. 74 Und weil meine Seele sich nicht soweit erfrechte, daß auch mein Gott ihr mißfiele, wollte sie nicht, daß dein sei, was ihr mißfiel. So war sie auf die Meinung gekommen, es gebe zwei Wesenheiten, aber sie fand keine Ruhe und redete irre. Davon sich abwendend, hatte sie sich einen durch die unendlichen Weiten aller Räume hingedehnten Gott gemacht und
73 74
Eliade: Das Heilige und das Profane, a.a.O., S. 182. Augustinus: Bekenntnisse, a.a.O., S. 163f.
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gewähnt, das seist du, hatte ihn in ihrem Herzen aufgestellt und war so wiederum zum Götzentempel geworden, ein Greuel für dich.75 Damals aber, als ich jene Bücher der Platoniker gelesen und in ihnen die Mahnung vernommen hatte, die unkörperliche Wahrheit zu suchen, hab' ich wohl 'dein unsichtbares Wesen durch die Werke der Schöpfung im Geiste erblickt', aber zurückgeschleudert, zu spüren bekommen, was ich bei der Finsternis meiner Seele noch nicht schauen konnte. So war ich dessen gewiß, daß du bist, unendlich, doch nicht durch endliche und unendliche Räume hingedehnt, und daß du in Wahrheit bist, weil du immer derselbe bist, keineswegs, sei's auch nur teilweise oder durch irgendeine Regung, ein anderer oder anders, und daß alles übrige von dir ist, aus dem einen unerschütterlichen Grunde, weil es ist. Dessen war ich zwar gewiß, aber allzu schwach noch, dich zu genießen. Ich schwatzte daher, als hätte ich's bereits gefunden, doch hätte ich nicht in Christus, unserm Heiland, deinen Weg gesucht, ich hätt' es nicht gefunden, sondern wäre verloren. Denn schon fing ich an weise scheinen zu wollen und stand doch noch unter dem Druck meiner Strafe; ich weinte nicht, sondern wähnte mich groß in meinem Wissen. Wo war jene Liebe, die auf dem Grunde der Demut, nämlich auf Jesus Christus, das Haus baut? 76 Erst mit d e m Glauben erreicht A u g u s t i n u s sein Ziel, Raum und Zeit bleiben dabei im Diesseits. Dabei ist die Ewigkeit außerhalb der Zeit die B e d i n g u n g der Zeit. Die Paradoxie der Zeit, die fließt, obwohl sie nie ist, ist der u n m ö g l i c h e F i x p u n k t im Diesseits, undenkbar ohne die Ewigkeit. Strauß sieht analog das "Ich" als anderen in der Sprache als existierend-nichtexistierend: Wir sind wie Quarks, Wesen ohne jede Ausdehnung, weniger als ein Punkt in der Dauer, und immer zu dritt und unzertrennlich wie Raum und Zeit. Es ist nichts geschehen; unser Leben - die Zwischenzeit - war ein Ereignis auf der untersten, unbestimmbarsten Szene der Materie. Ein Ich, ein Haus, ein Gast. Masselos und ungemessen. (FU 65) Alle Zeit, aller R a u m und das ganze unendliche Buch fällt als Vorstellung gegenüber der Ewigkeit in einem Punkt o h n e A u s d e h n u n g zusammen. D e r platonische Standpunkt, daß vor der eigentlichen W a h r n e h m u n g bereits auf irgendetwas die Kognition des Identischen basieren muß, bestimmt - u n d hier zieht sich die A u s d e h n u n g der historischen Zeit z u s a m m e n - noch das physikalische D e n k e n über die Materie im 20. Jahrhundert: 7 7 So ist für Werner Heisenberg nicht die Materie im landläufigen Sinn, sondern die Symmetrie mathematischer N a t u r g e setze die letzte Wurzel der Erscheinungen. 7 8 Und Carl Friedrich von Weizsäcker leitet die Symmetrien der Natur als N ä h e r u n g e n aus der Logik der Zeit ab. 79 Insofern hat Strauß recht, wenn er in "Die Fehler des Kopisten" schreibt: Klüger als Piaton ist nie ein späterer Mensch geworden. Auch bei reichster Entfaltung von künstlicher Intelligenz wird das menschliche Denken nie Wissenswerteres erkunden, als seine Dialoge es taten. (FdK 136) Und mit d e m Wissen wird sogleich der f ü r die Existenz des Wissens und der Welt n o t w e n d i g e G l a u b e erörtert:
75 76 77 78
79
Augustinus: Bekenntnisse, a.a.O., S. 181. Augustinus: Bekenntnisse, a.a.O., S. 186f. Vgl. Klaus Mainzer: Materie. Von der Urmaterie zum Leben, München 1996, S. 55. Werner Heisenberg: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, Stuttgart 1959. Carl Friedrich von Weizsäcker: Aufbau der Physik, München 1985.
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Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts. Einen tieferen Glauben als den christlichen kann auch heute kein Mensch erlangen. (FdK 136) Glaube und Wissen sind sowohl bei Augustinus als auch bei Strauß die B e d i n g u n g der wahren Erkenntnis. Das Christentum hellenisiert und dogmatisiert sich mit Hilfe des Neuplatonismus, auch Augustinus' Schriften sind v o m ihm beeinflußt. S o sind die Vorstellungen Plotins über Raum und Zeit in B e z u g auf die Ewigkeit denen von Augustinus nicht unähnlich. Für Plotin entfaltet sich die Zeit aus dem Logos: In der Seele nämlich war eine unruhige Kraft, sie wollte das dort Geschehene immerfort auf Anderes übertragen und war nicht zufrieden, daß das Ganze in ihr versammelt gegenwärtig war; wie aus ruhendem Samen der Logos sich selbst entfaltend den Durchgang ins Viele, wie er glaubt, schafft, wobei er das Viele durch Teilung verschwinden macht und anstelle des in ihm Einen das Eine nicht in ihm selbst verschwendet und in schwächerer Erstreckung hervorgeht, so hat auch die Seele, indem sie in Nachahmung der geistigen die sinnenfällige Welt schuf, die sich nicht in der dortigen Bewegung bewegt, jedoch in einer dieser ähnlichen, welche Bild jener sein möchte, zuerst sich selbst verzeitlicht, anstelle der Ewigkeit die Zeit schaffend. Dann aber gab sie der gewordenen Welt, der Zeit zu dienen, indem sie sie als ganz in Zeit seiend schuf, und alle ihre Umläufe in Zeit umfaßte; da sich die Welt nämlich in der Seele bewegte - denn es gibt außer der Seele keinen anderen Ort für dieses All - , so bewegt sie sich auch in der Zeit der Seele. Denn indem die Seele ihre Tätigkeit als immer wieder andere nacheinander gewährt, erzeugte sie zusammen mit ihrer Tätigkeit das Nacheinander und mit hervor ging mit dem immer verschiedenen Denken das, was vorher noch nicht war, da weder das Denken in Tätigkeit war, noch das jetzige Leben dem vor ihm ähnlich war. [...] Jedoch darf man nicht außerhalb der Seele die Zeit ansetzen, ebensowenig wie die Ewigkeit dort außerhalb des Seins, auch ist Zeit nicht 'Folge' oder 'Später' (gegenüber der Seele), ebensowenig wie die Ewigkeit solcherart ist, sondern sie wird in ihr befunden, als ihr inne- und mitseiend, wie auch dort die Ewigkeit. 80 In "Die Zeit und das Zimmer" ist das Ganze der unerreichbare Grund, der Zustand vor der (Luhmannschen) Differenz.
3.2.3.2. Die symbolische Ordnung konstituiert Zeit und Raum B e v o r Zeit und Raum erkennbar sind, muß bereits das System von der U m w e l t , die Figur v o m Hintergrund getrennt werden können, um Ordnung im "unmarked state" schaffen zu können. In Heideggers "Sein und Zeit" ist das Sein bereits da, bei Strauß wirkt es als "Text vor der Schrift". Irgendetwas muß die Wahrnehmung anleiten und mit dem Wechsel des Zentrums im 20. Jahrhundert v o m Subjekt zum großen Archiv trägt letzteres die Verantwortung fur die Konstituierung v o n Zeit und Raum. Für Lacan agiert die Sprache als "dritter Ort",81 als ein Raum, in dem sich das Subjekt bewegt, zerstreut, wieder fixiert usw. Und so b e w e g e n sich die Figuren in "Die Zeit und der Raum" von Spiegelung zu Spiegelung. Da der Diskurs fragmentarisch geworden ist, sind es auch Zeit und Raum. Strauß destruiert in "Die Zeit und das Zimmer" die normale Vorstellung von Zeit und Raum total. Es gibt
80 81
Plotin: Über Ewigkeit und Zeit, Frankfurt 1967. Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud", a.a.O., S. 51. 191
weder eine Sukzession der Zeit als lineare, noch ein Koordinatensystem, das als absoluter Raum in der Lage wäre, den jeweiligen Raum eindeutig zu lokalisieren. Alles ist im Kopf als sich bewegender Text. Ähnlich den Trauminhalten, die die Surrealisten indirekt sichtbar machen, fehlt auf Strauß' Bühne der logische Zusammenhang von Zeit und Raum. Die letzten Fixpunkte sind nur noch die gleichbleibenden Masken, die Namen der Figuren, obwohl auch diese wechseln und man nie weiß, wer unter was steckt. Das Zentrum ist die Unsicherheit Strauß', ob nun alles ein enger Spiegelsaal ist, sich also alles in einem Raum ereignet, oder eine unendliche Weite ist, die paradoxe Enge der Wüste der Wörter. So ist die Trennung von ersten und zweiten Akt in "Die Zeit und das Zimmer" dann doch ein differenzierendes Ordnungssystem zwischen der Enge des Innenraums und der Weite des Innenraums. Die Sprache, die Wörter halten die Räume und Zeiten zusammen, in ihnen bewegt sich alles und schafft Ordnungsinseln. Ein allumfassendes Koordinatensystem in der sich bewegenden Sprache verneint Foucault: Der Bruch vollzog sich an dem Tag, als Ldvi-Strauss für die Gesellschaft und Lacan für das Unbewußte zeigten, daß der 'Sinn' vermutlich nichts als eine Art Oberflächenwirkung, eine Spiegelung, ein Schaum sei; daß das, was uns im Tiefsten durchdringt, was vor uns da ist, was uns in der Zeit und im Raum hält, eben das System ist.82
Foucault, der sich hier an Heidegger orientiert, dekonstruiert die Historie und rekonstruiert sie im Anschluß an Ldvi-Strauss als Archäologie. Die Räume und Zeiten in "Die Zeit und das Zimmer" sind wie die geologischen Schichten ohne direkten Zusammenhang übereinander und gegeneinander geordnet. Eine "prima causa", die notwendig wäre, um die konventionelle Handlung eines Dramas zu konstituieren, gibt es nicht mehr, der Wechsel von Szene zu Szene hängt nur noch zusammen über den wahrnehmungsbedingenden gemeinsamen Text. Damit verabschieden sowohl Foucault als auch Strauß die Dialektik und offerieren eine Vielgestaltigkeit, innerhalb der sich die Masken auch als Zeiten und Räume durch den Text bewegen.
3.2.3.3. Das Ganze als das Zentrum als das Schweigen Das Punkt des Archimedes liegt nicht in der Zeit, sondern außerhalb des differenzierenden Textes, Augustinus zeigt, daß dieser die Ewigkeit ist. Borges über die zentrale Funktion der Ewigkeit: So haben wir also das Problem der Zeit. Es läßt sich nicht lösen, aber wir können die vorgeschlagenen Lösungen betrachten. Die älteste stammt von Piaton, später wurde sie von Plotin und schließlich von Augustinus vorgetragen. Sie bezieht sich auf eine der schönsten Erfindungen des Menschen. Ich halte sie jedenfalls für eine menschliche Erfindung. Sie mögen, wenn sie religiös sind, anderer Meinung sein. Ich sage: diese schöne Erfindung Ewigkeit. Was ist die Ewigkeit? Die Ewigkeit ist nicht die Summe all unserer Gestern. Die Ewigkeit ist all unsere Gestern, alle Gestern aller bewußten Wesen. Die ganze Vergangenheit, von der wir nicht wissen, wann sie begann. Und dann die ganze Gegenwart. Dieser gegenwärtige Moment, der alle Städte, alle Welten, den Raum zwischen den Planeten umfaßt. Und dann die Zukunft. Die Zukunft, die noch nicht erschaffen ist, die S2
Dosse: Geschichte des Strukturalismus. Band 1: Das Feld des Zeichens, a.a.O., S. 477f.
192
1945-1966,
aber doch existiert. Die Theologen nehmen an, daß die Ewigkeit ein Augenblick ist, in dem sich all diese verschiedenen Zeiten wunderbar zusammenfügen.* 3 Über das G a n z e kann man aber nichts Wahres aussagen, also kann man auch über das Zentrum nichts Wahres sagen. D a m i t ist für Strauß jeder m e n s c h l i c h e Versuch, den Grund der D i n g e vollständig zu erkennen, z u m Scheitern verurteilt. Wir sind nicht einmal in der Lage, zu erklären, w a s Zeit und Raum überhaupt ist. Mehr als A u g u s t i n u s konnte bis heute keiner herausfinden. Über das Zentrum läßt sich am Ende nur durch S c h w e i g e n "berichten", Wittgensteins "Worüber man nicht sprechen kann" und H e i d e g g e r s durchgestrichenes Seyn erörtern die Mystik als letzten Außen/Innen-Punkt.
3.2.3.4. D i e Zeit als Zwischenzeit: das Erinnern und das Erwarten des g a n z anderen S o ist für Strauß die Zeit eingespannt z w i s c h e n dem Erinnern und d e m Erwarten des g a n z anderen, eine Z w i s c h e n z e i t , die nur aufgrund der E w i g k e i t m ö g l i c h ist. B e l t i n g schreibt über dieses Bewußtsein, das auch die Wahrnehmung der frühen Kunst bestimmt: Die Gegenwart liegt zwischen zwei Realitäten mit einem wesentlich höheren Rang: der vergangenen und der zukünftigen Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte. Die Bewegung der Zeit zwischen diesen beiden Polen war im Bewußtsein immer präsent. Erinnerung hatte deshalb einen retrospektiven und, so merkwürdig das klingt, prospektiven Charakter. Ihr Gegenstand war nicht nur das, was geschehen, sondern ebenso das, was versprochen war. Dieses Zeitbewußtsein ist uns außerhalb der Religionen ferngerückt. 84 Mit "Die Zeit und das Zimmer" erinnert Strauß daran, daß die Kunst einmal nicht allein der Simulation v o n Wirklichkeit diente, sondern auf die Entfaltung der E w i g k e i t in R a u m und Zeit wies.
3.2.3.5. D i e "Säule" als Zeichen der Leerstelle In "Niemand anderes" erörtert Strauß das Verhältnis v o n E w i g k e i t und Zeitlichkeit: Um JNC zu packen, legte sie sich folgendes zurecht. Ja, das mußte es sein: Herr Niemand Kaiser. Oder weiter gedacht: Ewig Nie Zeit. Wiederum der Dreifaltige. Nach wie vor. Zufrieden mit der Lösung? Die Abkürzung JNC hatte alle übrigen Initialen der Erde getilgt, aufgelöst, in sich einbezogen. JNC war allgegenwärtig und einzig. Wie das Markenzeichen eines allesherstellenden, alles versorgenden Universalkonzerns. Wie der Reklamesticker für eine erdumspannende Festveranstaltung. In Schwärmen, in bakteriellen Dimensionen breitete er sich aus und überdeckte alle Wände und Straßen. In diese drei Buchstaben zog sich die Schrift von der Erde zurück und verschwand. Sie waren ihr letztes, reines, absolutes Symbol. Jedenfalls war das ihre These. Man kann das Ganze als einen Vorgang der höchsten Massenverdichtung beschreiben, sagte sie. Die Masse wäre in diesem Fall die Summe aller Differenzen, aller nur denkbaren Unterschiede, das Vielfältige schlechthin. (NA 61 f.)
83 84
Borges: Die letzte Reise des Odysseus, Vorträge und Essays 1978-1982, a.a.O., S. 64. Belting: Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, a.a.O., S. 21.
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Zwischen "Ewig" und "Nie" spannen sich Zeit und Raum und mit der Sprache die Differenzen. Wo ist dann das transzendentale Signifikat? Natürlich außerhalb der Differenzen und damit außerhalb der Wörter. Wie kann man dieses sichtbar machen? Durch ein Symbol, das aber, da die Sprache nicht mehr die wahrnehmbare Anbindung an das ganz andere besitzt, immer seine eigene Verfehlung beinhaltet. Strauß offeriert in "Die Zeit und das Zimmer" die "Säule" als das Symbol für das fehlende transzendentale Signifikat, als Platzhalter der Leerstelle, als Signifikant der Signifikanten. Wie das "Buch" sich zu Lotte in "Groß und klein" wendet, so spricht die "Säule" als unendliches Buch zu Marie Steuber, die selbst das unendliche Buch ist. Die Säulen markieren wie die in den Boden gesteckten Pfähle das Koordinatensystem der Welt. Im Luhmannschen "unmarked state", im kosmologischen Chaos erstellen sie die Welt. So verjüngen sich die mykenischen steinernen Säulen des 2. Jahrtausends vor Christus nach unten wie die Holzpfähle, die in die Erde gesteckt werden. 85 Raum und Zeit, "temp-lum" und "temp-us" konvergieren an der Wurzel und diese Wurzel ist die Säule als geographische und zeitliche Markierung. Die Säule stabilisiert das "Haus" der Sprache. Sie ist das, woran sich Raum und Zeit in der Sprache halten. Für Heidegger ereignet sich das Wohnen in der "Einfalt des Gevierts". Die Säule symbolisiert im "Haus" der Sprache die Verbindung von Himmel und Erde, sie hält die Dinge zusammen. Daß die Säule in "Die Zeit und das Zimmer" eine "holz[!]verkleidete Säule" (ZZ 143) ist, weist auf den "Wald" Ernst Jüngers und auf den "Waldgänger" Strauß. Und die Säule spricht: Ich die Säule der Pfahl. Männlich Weiblich. Schmerzlich. Ich habe es versucht. Ich fand den Ton. Ich war in den Worten. Es war die Hölle. [...] Verzeih mir, Mensch. Ich bin aus dem Herzen der Dinge verstoßen. (ZZ 160)
Daß ein Objekt sprechen kann, darauf weist schon Pessoa hin: Das Ambiente ist die Seele der Dinge. Jedes Ding hat seinen eigenen Ausdruck, und dieser Ausdruck kommt ihm von außen zu. Jedes Ding ist der Schnittpunkt von drei Linien, und diese drei Linien machen die Sache aus: eine Quantität Materie, die Art, wie wir sie interpretieren, und das Ambiente, in dem sie sich befindet. [...] Ich meine daher, daß kein menschlicher oder literarischer Irrtum vorliegt, wenn man den Dingen, die wir unbelebt nennen, eine Seele zuschreibt. Ein Ding sein heißt Gegenstand einer Zuschreibung sein. 86
Im "leisdröhnenden Jenseits-jetzt" (FU 27) ist für Strauß das Ganze das volle Leere, das redende Schweigen: Du aber bist das unerweichliche Schweigen, dem der Begriff meiner Verworfenheit entsprang. Du hörst auch, daß ich der Einschluß bin im Stein, ohnmenschlich geworden und doch noch Stimme. Du hörst, daß ich nicht heute schreie. Denn hier bin ich, aber nicht jetzt. Du hörst jede Ader, jede Ablagerung in meiner Stimme. Das war der Grund für die verfehlte Nähe unter meinesgleichen, daß jeder mich hörte, als spräche ich jetzt zu ihm, heute, und so erfuhr er nie, was ich ihm sagte. (FU 53f.)
Die Wörter sind zur Materie geworden und die Materie zu Wörtern. Diese Sicht koinzidiert mit den Erkenntnissen der neuesten Physik. Alles und eben auch die Materie spricht: 85
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Wörterbuch der Antike, begr. von Hans Lamer, fortgef. von Paul Kroh, Stuttgart 1995, S. 642. Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, a.a.O., S. 266f.
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Todesangst treibt die Stille über die äußerste Grenze zum Laut. Irgendwann ganz leise, aus dunkelster Entfernung, aus Chaos fast, brüllt auch der Baum. So wie Licht zu uns dringt aus maßlosem Einst, erreicht uns der Schall aus den Urgründen der Stille, aus der Wahnzeit der Dinge, und selbst der Stein umschließt einen heiseren Hauch. Auch er ist aus Stimme verwittert. (FU 35)
Aber im Sprechen der Dinge ist auch wieder das Schweigen enthalten. Nur der schweigende Fels ist beständig. Dabei wird die Materie zum Symbol, paradoxerweise zum sprachlichen Symbol für das Schweigen, das aus dem sich selbst aufhebenden Sprechen resultiert. Da aber die Materie selbst wieder Sprache ist, hebt sich das Sprechen gegenseitig im Schweigen auf, das wiederum symbolisiert wird, also gesprochen wird durch den Fels, der als Sprechen im Schweigen wieder sich selbst aufhebt usw. Der unendliche Regreß droht sogar im Anblick der eigentlich fest scheinenden Materie: Und doch ist der endlose Blick, ist die innere Monotonie die einzige Antwort, die wir dem Immerwährenden geben können: sehen und sehen ... Der wache Geist bedarf der Gewißheit von Vergänglichkeit und Wiederkehr. Er bedarf des Blicks auf Verkehr, um seine feineren Messungen vorzunehmen. Der Fels aber zersetzt die Zeit, und unsere Zeit besteht aus Wörtern und die Wörter zerfallen mit ihr und werden vielleicht, kurz vorm Ende, noch einmal Beschwörung. Dann aber der Art entfremdete Werkzeuge, deren Gebrauch niemand mehr versteht. Die letzte Schönheit der Dinge offenbart sich nicht in ihrem Reichtum an Wechsel und Wandel. Sondern in ihrer leisdröhnenden Gleichheit. In ihrem leisdröhnenden Jenseits-jetzt. (FU 27)
Somit hebt sich die Zeit als Bewegung im Raum auf, Materie als Sprache wird ein Problem für die Kinesis. Der Raum ist und ist nicht, so wie das absolute Schweigen brüllt. Der Pfosten, die Säule ist ein Erinnerungszeichen, ein Monument. Es erinnert an das, was überall da ist: Himmel und Erde, die Welt. 87
Am Ursprung des Theaters markiert die Säule einen Mittelpunkt, der heute durch den beweglichen Rahmen der Bühne selbst beweglich geworden ist: Der gespaltene Marmor solcher Worte wie Utopia (Kreis), Solitudine (Säule), Follia (Busch), Deserto (Fenster). (FU 36)
Die Sprache, die Wörter, die heute kursieren, haben ihre wahrnehmbare Transzendenz verloren, die "Säule" ist die Markierung einer Verfehlung. Der "Rechte" Strauß befürchtet, daß mit dem Verlust des Halts in der heutigen Ökonomie, dem "Markt", im Streit, von dem die Mythen erzählen und der nach Heraklit der Vater aller Dinge ist, der Zusammenhalt der Gesellschaft, der Zivilisation nicht mehr gegeben ist: Die Ausgräber antiker Städte haben nur eine Verlassenheit zutage gefördert, niemals eine Vergangenheit. Wer weiß, ob nicht die Reiche und die alten Streite plötzlich wiederkehren. Auf dem leeren Markt, im Zwielicht der Zeit, steht alles bereit. (FU 35)
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Hannes Böhringen Arche, verschollen. Ein Artikel Architektur, in: Herbstschrift 2/91, S. 12-16, hier: S. 12f.
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3.2.3.6. Die "Säule" als entgleitender "Mittelpunkt" von Zeit und Raum Als Marie Steuber sich im Heideggerschen Sinne - sie "wohnt", sie spricht vom "Zeug" - "hörend" "passiv" verhält, sprechen die Dinge, spricht die "Säule": Marie Steuber: Ich wohne inmitten der Stadt und mitten im tosenden Verkehr umgeben mich die großen stillen Räume, in denen niemand zuhaus ist. Nicht einmal mein Brot, mein Tisch, mein Radio, meine Zuckerdose. Wir alle sind hier lediglich vergessen worden. Stehen- und liegengelassen. Nicht aufgeräumt. Hals über Kopf Vermachtes, das sind wir, mein Zeug und ich. Ich wohne: Ich teile die unendliche Passivität meines Tischs. Meiner Zuckerdose, meines Radios. Ich höre, ich weile. Die Säule: Jahr um Jahr tiefer und tiefer. Um soviel wie die Glücklichen wachsen. Marie Steuber: Du redest? Wie kannst du reden? Die Säule: Alles spricht. So auch ich. (ZZ 160)
Sie "hört" die "Säule", da sie die "Nacht" im "Tag", den Traum im Wachen wahrnimmt, so wie einer in "Fragmente der Undeutlichkeit": Noch nach dem ersten Hahn sah ich auf ein finsteres Fenster. Die Nacht stand voll entseeltem Wasser. Ich habe kein Geheimnis zu verbergen. Nichts zu verbergen wie der schreiende Mund, wie der Stein. Ich habe diesen Raum und ich räume in ihm." (FU 60)
Das "Umräumen" im Raum der Sprache ergibt immer neue Räume und Zeiten, die alle vorhanden sind im großen Archiv. Da "templum" und "tempus", der Raum, der den Göttern vorbehalten ist und in späterer Zeit das Vor-Bild zum Haus ist, und die Zeit seit frühester abendländischer Zeit in einer Beziehung zueinander stehen, schaffen sie in einem "Raum-Zeit-Kontinuum" (Minkowski) eine gemeinsame Bewegung, die sich um die "Säule" als verlorenes Zentrum der Sprache herum ereignet. Die "Gruppierung" der Zeit und des Raumes um die "Säule" herum ergibt zwangsläufig Paradoxien: In der Zeit verändert sich - siehe Heraklit - das "Ich" und bleibt trotzdem gleich. Und Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sind in der Gegenwart, die als Punkt, der mathematisch keine Ausdehnung hat, gar nicht existiert - siehe die Paradoxien des Zenon, den Wettlauf der Schildkröte mit A c h i l leus. Man erwischt die Gegenwart nie. Wenn man sagt: "In diesem Augenblick", dann ist der Augenblick schon vergangen (Paz). Der Raum ist der Raum der Sprache. Wem gehört der Raum? Allen und keinem. Im Raum ist etwas und ist nicht etwas, da er durch den Text-Raum bestimmt wird und gleichzeitig davon ausgeschlossen wird. Damit untergraben Paradoxien und Übergänge der Zeit in den Raum und umgekehrt unsere letzten Haltepunkte in der "normalen" Welt. Sogar die "Säule", um die sich als "templum" und als "tempus" Raum und Zeit in der Sprache ordnen, ist ohne erkennbare Metaphysik nur mehr der Markierungspunkt einer Leerstelle. So bleibt als letzter Halt für Strauß nur noch das ganz andere.
3.2.3.7. Identität im unfesten Raum und in der nicht zu fassenden Zeit So wie alles sich ereignet in der Zwischenzeit, die eigentlich gar nicht vorhanden ist, und in einem Raum, der ebenfalls fraglich ist, so wird auch das "Ich" und der andere zum Problem. Für Octavio Paz befindet sich das "Ich" als "Nicht-Ich" in einem "Labyrinth der Einsamkeit":
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Leben heißt sich trennen von dem, was wir waren, um uns in das zu verwandeln, w a s wir in einer unbekannten Zukunft einmal sein werden, und die Einsamkeit ist der tiefste Grund der conditio humana. 88
Und dieses Labyrinth ist wie das Labyrinth in Ecos "Der Name der Rose" das unendliche Buch, das Borges als Symbol der Symbole gefunden hat. Für Maurice Blanchot ist es "die furchtbarste und schönste aller möglichen Welten, ein Buch, leider nur, nichts als ein Buch." 89 Wenn die Welt das Buch ist, das auch Marie Steuber bestimmt, dann muß sich Marie als beobachtendes Subjekt von der Welt als Objekt im Buch, also von sich selbst trennen. Die Verfehlung ist dann die notwendige Bedingung zur Beobachtung. Wenn Marie sich also selbst definieren, beobachten will, muß sie sich verfehlen. Und wenn Marie die Säule wahrnimmt, nimmt sie sich selber wahr, aber natürlich verfehlt. Da die "Säule" spricht, spiegelt sie den Text Marie Steubers wider, aber etwas verzerrt. Marie Steuber hält damit den Text in "Die Zeit und das Zimmer" zusammen, bestimmt ihn und wird zugleich von ihm bestimmt. Schon der Name Marie verweist auf ihre Determiniertheit als "Marionette", ein Wort, daß sich herleitet vom französischen "marionnette", das wiederum abgeleitet ist von dem Mädchennamen "Marion", der eine Verkleinerungsbildung zum französischen Namen "Marie" ist. Marie Steuber ist aber nicht nur die Marionette der Wörter, sondern zugleich auch deren "Mittelpunkt". Ihr Nachname Steuber verweist auf das althochdeutsche "stiura", das ursprünglich "stützender Pfahl" bedeutete. Gleichzeitig verweist "Steuber" über das Wort "Staub" auf "stieben", das mittelhochdeutsch "sich schnell bewegen", "fliegen" bedeutete. Marie Steuber ist als identitätsstiftender und -auflösender Text im Text sowohl als "Säule" der Fixpunkt als auch als Zerstäubung oder "Wüste der Wörter" die "Bewegung", sie ist die "Linie" und zugleich der "Fleck", sie ist "Paare" und "Passanten". Der Raum von Marie Steuber ist der Bühnenraum und in keinem Fall vom Raum des Traumes zu unterscheiden: "Traum ist: Unterschlupf suchen in Umbildung und Umtaufe. Das sicherste Gelaß des Selbst ist der unfeste Raum." (FU 49) Die Wände des Raums sind aus derselben Konsistenz wie die Kleider Marie Steubers, die Wände sind also auch ihre Identität, der Text, der sich bewegt. Hannes Böhringer schreibt über die Gemeinsamkeit von Raum-Wand zu Ge-wand: Nachdem die große Flut sich verlaufen hat, baut Noah Wein an. Seine Söhne finden ihn eines Tages nackt und betrunken in seinem Zelt liegen. Sie bedecken seine Blöße taktvoll mit einem Gewand. - Nackt, ohne Rüstung und Schutzmauern der Philosophie erliegt der Mensch den Leidenschaften. Das Zeltdach allein reicht nicht aus, der Mensch braucht textilen Schutz: Wand und Ge-Wand. [...] Die Umfriedung, der Zaun, die Wand ist ursprünglich im Sinne der Geschichte des Wortes und der Herstellungstechnik Flechtwerk. 9 "
Selbst die Zeit ist, so Jünger, Text-il: [...], daß das Wort 'Zeit' die verschiedensten Bedeutungen besitzt. Aber es handelt sich nicht nur um Wortbedeutungen, sondern um Schichten, die uns umlagern und auch durchdringen wie ein Labyrinth. Wenn uns bei einer Zeitbetrachtung dieser ihr labyrinthischer Charakter aufgeht, ist bereits viel gewonnen, denn das Rätsel der Zeit wird niemand auf-
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Paz. Labyrinth der Einsamkeit, a.a.O., S. 189. Blanchot: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, a.a.O., S. 18. Böhringer: Arche, verschollen. Ein Artikel Architektur, a.a.O., S. 14.
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lösen. Doch ihre Mannigfaltigkeit schafft Spiegel, in denen auch das, was wir 'unsere' Zeit nennen, deutlicher und damit deutbarer werden kann.91 Und da die Zeit wie Marie Steuber selbst eine "Marionette" des Textes ist, kann sie nicht unabhängig von der Identität, und die Identität nicht unabhängig von der Zeit sein. Damit unterscheidet sich die Zeit nicht von der Person. Pessoa beschreibt das Gefühl, daß die Zeit eine Person ist: Ich weiß nicht, was die Zeit ist. Ich weiß nicht, welches ihr wahres Maß ist, falls sie überhaupt eines hat. Ich weiß, daß die Uhrzeit falsch ist: sie unterteilt die Zeit räumlich, von außen. Die gefühlte Zeit, weiß ich, ist ebenfalls falsch: sie unterteilt nicht die Zeit, sondern die Empfindung von der Zeit. Die Zeit der Träume ist gleichfalls falsch; in ihnen streifen wir das eine Mal eine verlängerte, das andere Mal eine verkürzte Zeit und, was wir erleben, ist übereilig oder langsam infolge irgendeines Vorgangs beim Verfließen der Zeit, dessen Natur ich nicht kenne. Zuweilen meine ich, alles sei falsch, und die Zeit sei nur ein Rahmen, um das einzufassen, was ihr fremd ist. In der Erinnerung an mein vergangenes Leben sind die Zeiten auf sinnlosen Ebenen angeordnet, und ich bin bei einer bestimmten Begebenheit meiner feierlichen fünfzehn Jahre jünger als bei einem anderen Vorkommnis meiner unter Spielzeugen sitzenden Kindheit. Das Bewußtsein verwirrt sich mir, wenn ich an diese Dinge denke. Ich ahne einen Irrtum in alledem; ich weiß jedoch nicht, auf welcher Seite er steckt. Es ist, als wohnte ich einer Art Zauberkunststück bei, bei dem ich mich, weil es ein solches ist, betrogen fühle, aber dennoch nicht herausbringen kann, worin Technik oder Mechanik des Betrugs bestanden haben. Dann Uberkommen mich absurde Gedanken, die ich jedoch nicht als vollkommen absurd abweisen kann. Ich überlege mir, ob ein Mensch, der langsam in einem schnell fahrenden Wagen nachdenkt, nun rasch oder langsam fährt. Ich überlege mir, ob die identischen Geschwindigkeiten wirklich gleich sind, mit denen der Selbstmörder sich ins Meer stürzt und jemand anderer auf der Esplanade das Gleichgewicht verliert. Ich überlege mir, ob die Bewegungen wirklich synchron sind, die die gleiche Zeit beanspruchen, in denen ich eine Zigarette rauche, diesen Abschnitt niederschreibe und auf dunkle Weise nachdenke. Von zwei Rädern an derselben Achse können wir uns vorstellen, daß immer eins weiter vorn rollt, auch wen es sich nur um Bruchteile von Millimetern handelt. Ein Mikroskop würde diese Verschiebung übertreiben, bis es fast unglaubhaft erschiene und unmöglich, wenn es nicht wirklich wäre. Und warum sollte das Mikroskop nicht recht behalten gegen das unzureichende Sehvermögen? Sind das unnütze Betrachtungen? Ich weiß es wohl. Sind es Illusionen der Betrachtung? Das räume ich ein. Was ist das aber für ein Ding, das uns mißt ohne Maß und uns tötet, ohne zu sein? Und in diesen Augenblicken, in denen ich nicht einmal weiß, ob die Zeit existiert, fühle ich sie wie eine Person und habe Lust einzuschlafen.92 So ist jede Person, jeder Raum und jede Zeit in "Die Zeit und das Zimmer" einerseits verbunden über den gemeinsamen Text, da sich dieser aber bewegt und da der Text, wenn er sich in Subjekt und Objekt spaltet, um sich zu beobachten, verfehlen muß, hat jeder Raum und jede Figur ihre eigene Zeit. Als "selbstreferentielle" Systeme (Luhmann) bilden Figuren, Zeiten und Räume Ordnungsinseln im unendlichen Buch. Aus der Sicht der Thermodynamik zeigt sich in der Materie das Phänomen der dissipativen Selbstorganisation. Diese findet fern dem thermischen Gleichgewicht statt. Die Ordnung ist dann das Vorhandensein stationärer Gleichgewichte, in dem sich die Materie stabilisieren kann. In die Attraktoren münden die Entwicklungsspuren des materiellen Systems, so daß der Bifurkationsbaum eines offenen, kom-
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Ernst Jünger: Das Sanduhrbuch, in: Sämtliche Werke, Band 8, S. 105-259, hier S. 113. Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, a.a.O., S. 253f.
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plexen Systems eine Vielfalt von dissipativer Selbstorganisation offenbart." In "Die Zeit und das Zimmer" zeigt sich dann die Materie als Text, der sich selbst organisiert. Die stationären Gleichgewichte, die hier erreicht werden, haben jeweils für sich eine "interne Zeit" (Prigogine). Diese kann nicht durch einen Parameter von außen gemessen werden, sondern an der Anzahl der durchgeführten Verwandlungen, einer Anzahl, die zu dem System gehört. Die jeweiligen lokal sich bildenden Gleichgewichte, seien es Figuren oder Räume, altern nach der Anzahl der Verwandlungen, jeder "Topologie entspricht auf diese Weise ein internes Alter des Systems.'" 4 Die Zeit ist nicht mehr, wie man früher in der Physik angenommen hat, reversibel, sondern wird über den Bifurkationsbaum in eine Richtung gezwungen: Die interne Zeit wird mit Hilfe einer Uhr gemessen, aber sie hat einen ganz anderen physikalischen Sinn: Sie entsteht im Chaos, da sie es nur in instabilen Systemen gibt; wir können sie nur auf einen Mittelwert der räumlichen Zeit der klassischen Dynamik einstellen. Sie hat die charakteristischen Merkmale der Dauer, der qualitativen Zeit Bergsons. Wie die Zeit in einem Musikstück kann sie zögern und in ihrem Fortgang bestimmte Elemente der Vergangenheit wieder aufnehmen. Seltsamerweise sehen wir, daß sich eine ganze Hierarchie interner Zeiten abzeichnet: Einerseits besitzt jedes Lebewesen seine Durchschnittszeit, die sich aus Funktionen ergibt, von denen jede ihre eigene Zeit hat, andererseits hat es teil an den Zeiten der Gruppen und Gesamtheiten, zu denen es, wie auch immer, gehört. So entstehen verschiedene Ordnungen von Zeitlichkeit; und diese Feststellung erklärt die verschiedenen Zeitlichkeitskonflikte, die sich in unserer 'inneren Mitte' und in unserem Austausch mit der sogenannten 'Außenwelt' entwickeln können. [...] Die Entropie [...] kann als eine Funktion dieser internen Zeit, dieses Alters der Dinge, verstanden werden. Wie die Dauer Bergsons bläht sich die interne Zeit bei ihrem Fortschreiten auf: sie enthält die ganze Vergangenheit, aber sie läßt die Zukunft offen. 95
Insofern ist auch in "Die Zeit und das Zimmer" von einem Fortschreiten der Zeit auszugehen, zumindest kann die Zeit nicht rückwärts fließen. Aber wohin sie fließt, oder was genau passieren wird, daß bleibt weiter offen. Den "Laplacesche Dämon", die bei totaler Übersicht determinierte Zukunft, kann es nicht mehr geben, welche Ursachen in Strauß' Theatertext welche Wirkung hervorrufen werden, bleibt unklar. So ist die Handlung in "Die Zeit und Zimmer" nicht eine Handlung, die sukzessive aufeinander aufbaut. Es ergibt sich nicht eine Szene aus der anderen. Die Zeiten und Räume sind "Stops" im Text, dissipative Selbstorganisationen und die klassische Handlung macht einer Bühne Platz, die jeweilige Attraktoren zur Schau stellt.
3.2.3.8. Das Spiel von Fleck und Linie im Bewußtsein konstituiert die Zeit In der Chaostheorie wird die These vom Vorhandensein des Phänomens der Intermittenz vertreten. Diese hat eine fraktale Struktur, "in der sich die Details von Rauschen und Stille auf immer kleineren Skalen wiederholen." 96 Der Mathematiker 93 94
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Vgl. Klaus Mainzer, Materie, a.a.O., S. 63. Ilya Prigogine und Serge Pahaut: Die Zeit wiederentdecken, in: Zeit. Die vierte Dimension in der Kunst, hg. v. Michel Baudson, Weinheim 1985. Ilya Prigogine und Serge Pahaut: Die Zeit wiederentdecken, a.a.O. John Briggs und F. David Peat: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaostheorie, München 1997, S. 152.
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Georg Cantor beschreibt bereits im 19. Jahrhundert diese Art von intermittenter Struktur. Cantor, der entdeckte, wie man Uber die Unendlichkeit hinaus zählen kann und wie man transfinite Zahlen konstruiert, war von der unendlichen Anzahl der Punkte auf einer Linie fasziniert. Nehmen wird an, so sagte er sich, wir entfernen das mittlere Drittel einer Strecke, nehmen dann aus den verbleibenden zwei Linienstückchen wiederum die mittleren Drittel heraus und setzen diesen Prozeß der Entfernung der mittleren Drittel bis ins Unendliche fort. Das Ergebnis ist ein 'Diskontinuum', eine staubartige Punktmenge. Mandelbrot verglich diesen 'Cantorschen Staub 1 mit den Lücken, die entstehen, wenn Milch gerinnt. Der Cantorsche Staub hat eine fraktale Dimension von 0,6309, liegt also halbwegs zwischen einer Linie und einem Punkt. Die Cantorsche Menge läßt einen an die Bewegungsparadoxa des griechischen Mathematikers Zeno denken, die einen fliegenden Pfeil als von einem Abschußpunkt bis zu einem Zielpunkt sich kontinuierlich bewegenden Pfeil und zugleich als einen in den unendlich vielen Punkten der Flugbahn stillstehenden Pfeil beschreiben. Der Cantorsche Staub ist zugleich unendlich unterteilbar und doch unstetig. 97
Und ebenso ist Marie Steuber sowohl "Säule", als auch "Staub". Wie eine Meeresküste hat Marie Steuber eine gewisse, meßbare Form und ist zugleich unendlich. Und wie der Pfeil des Zeno bewegt sich die "Handlung" in "Die Zeit und das Zimmer" von Attraktorfeld zu Attraktorfeld und hat zugleich keine "Handlung", da jeder Raum und jede Zeit und jede Figur für sich steht, sich selbst als Ordnung konstituiert. Das Spiel von Ordnung und Chaos auf der Bühne setzt sich als Ordnung im Kopf von Marie Steuber fort und zeigt sich dort als Olaf und Julius. Beide Figuren fungieren als Bedingung des Verlaufs der Zeit: "Julius: Wir, Olaf und ich, zerbrechen uns den Kopf darüber, wie die Geschichte zusammenhängen könnte." (ZZ 153) Die Zeit als Bewegung von Attraktorfeld zu Attraktorfeld konstituiert sich durch den Wechsel von Chaos und Ordnung, den Olaf und Julius initiieren. Olaf, O-laf, der "verantwortlich [ist] für das Schließen von Schränken", symbolisiert die kreisrunde Zeit, die mythische Zeit und steht dazu noch für die Zerstreuung, den Fleck. Wenn er dominiert, dann sieht man die Weite des unendlichen Archivs und die Zeit dehnt sich zu allen Zeiten aus, so daß sie stillsteht, alles gleich gültig wird. Es gibt dann keine Rang-Ordnung mehr, keine Kausalität, kein Oben und Unten, kein Vor und kein Danach: Olaf: [...] Ich bin gleichgültig [...]. Ohne eigentlich der Typ des Gleichgültigen zu sein. Oder etwa eine neue Hervorbringung der ewigen Gleichgültigkeit. Ich bin weder ein ZuFrüh-, noch ein Spätgeborener der unersättlichen, immergleichen Gleichgültigkeit, der Siegerin über Erde und Himmel, die keinen anderen Helden neben sich duldet. Ich weiß alles über die Geschichte der Gleichgültigkeit, ich bin ihr bester Kenner und Erforscher und doch unterscheide ich selbst mich in nichts, mit keiner Faser meines Wesens von den tausenden und abertausend Gleichgültigen, die es je gab und die es immer geben wird. (ZZ 154)
Dem Namen Olaf als Symbol für den "Fleck" steht der Name "Julius", das durch Verwaltungsakte Geordnete, gegenüber. Im römischen Reich, dem das Abendland sein Rechtssystem zu verdanken hat, ordnet Julius Cäsar den Kalender und zieht die Verwaltung die Linien. Der Name Julius steht in "Die Zeit und das Zimmer" also für die Linie, die Ordnung im Rauschen, in der Unordnung, in der alles "flitzt 97
Briggs und Peat: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaostheorie, a.a.O., S. 152f.
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und stiebt. Allein das menschliche Bewußtsein, wenn es wohltut, ist die Pause der Materie." (NA 140) Und so ändert sich in "Die Zeit und das Zimmer" das "Wetter", je nachdem, wer aus dem Kopf, aus dem Zimmer durch das Fenster, den Wahrnehmungsapparat, nach draußen schaut, wobei natürlich das Draußen zugleich das Drinnen ist, wenn die Welt ein Kopf ist: Julius: Wir sind selber sehr wetterfühlig. Wenn er aus dem Fenster sieht und ich ins Zimmer blicke, dann wird es regnen oder schneien. Wenn ich aus dem Fenster blicke und er ins Zimmer, dann haben wir bald Sonnenschein. (ZZ 144)
Olaf und Julius hängen wie die Figuren eines "Wetterhäuschen[s]" (ZZ 144) zusammen und das Mädchen von der Straße fragt nach dem "Thermometer", nach der hohen und tiefen Temperatur, und nach dem "Barometer" (ZZ 144), nach dem hohen und tiefen Druck. Hier wird in "Die Zeit und das Zimmer" direkt auf die neueren Erkenntnisse in der Thermodynamik hingewiesen, in der man auf Selbstorganisationsmuster, die sich nicht am thermischen Gleichgewicht finden lassen, zeigt. Olaf und Julius fungieren als "Stop" und "Go" in der Bewegung der Signifikanten und zusammen als Spiel zwischen stationärem Ordnungszustand und dessen Auflösung. So umfassen Olaf und Julius als Spiel von "Fleck" und "Linie" zugleich, als "leisdröhnendes Jenseits-jetzt" (FU 27) die Ordnung des Theatertextes und der Welt als Text: Julius: aus dem Fenster blickend zu Olaf: Wir wollen nichts. Wir haben nichts vor. Wir sind zwei sich liebende Skeptiker. Wie lange haben wir nicht mehr gesagt: Man könnte, man sollte, man mllßte. Wir genießen die gemeinsame Seelenruhe, die innere Schönheit: nichts zu wollen. Und doch liegt uns manchmal der Plan auf der Zunge. Leuchtet die Idee im Auge. Aber Ideen sind scheu. Schon mit dem ersten Wortlaut sind sie verschwunden. Es wird niemals von uns ein Plan gefaßt werden. Er ist nicht zu fassen. Wenn man alles genau durchdenkt. Wenn man alles sorgfältig mit sich geschehen läßt. Wir w o l l e n im Grunde nichts. Das ist eine sehr weitreichende Position, mein Lieber. (ZZ 147)
Zusammen symbolisieren Olaf und Julius einen paradoxen Zustand der Ruhe im Chaos, einen Standpunkt, den Strauß in "Niemand anderes" so beschreibt: Kein Ort, keine Stellung, kein Ausgangspunkt. Nur wandernde Reizbarkeit. Krise ist immer. Alle lebenden Systeme sind instabil. Übergang ist jederzeit und überall. Das B e w e gungsprinzip genau zu wissen - Mit-Wisser des Seienden, dies allein ist ein Zustand der Ruhe. Ein Ort. ( N A 141)
Die Intermittenz bedeutet, daß sowohl das Chaos in die Ordnung einbricht, als auch die Ordnung in das Chaos. Was und wo nun der absolute Raum bzw. die absolute Zeit ist, die jeweils das Chaos aus der Sicht der Ordnung definiert und umgekehrt, diese Frage erübrigt sich in "Die Zeit und das Zimmer". Es gibt nur das "Spiel" zwischen Ordnung und Unordnung analog dem "Spiel" zwischen Olaf und Julius. Im unendlichen Archiv gibt es Selbstorganisation und Auflösung, sonst nichts. Für Strauß kann man dem sich bewegenden Text nicht entkommen, die Differenz herrscht immer: Chaosforschung. Ende des Determinismus. [...] dies Chaos ist in Wahrheit nur ein höherer Ordnungszustand, ein größerer Informationsreichtum. Es gibt wohl kein Chaos, sondern lediglich bisher unentdeckte komplexere Ordnungen. ( N A 141)
Dies bedeutet, daß auch die Unordnung, die Auflösung im Text noch im Text stattfindet und man der Immanenz nicht entkommt. Die Differenz zwischen System und 201
Umwelt setzt sich je nach Beobachter unendlich fort. Sobald eine erster Beobachter existiert, gibt es Differenz, das reine Chaos kann es nur vor der Wahrnehmung geben, kann also niemals erkannt werden, denn im Erkennen verschwindet es. Olaf und Julius symbolisieren den paradoxen Gleichlauf der Ruhe in der Bewegung. Alles fließt und genau diese Erkenntnis ist der Punkt der Ruhe. Ruhe und Bewegung gehen ineinander über. Wenn in "Die Zeit und das Zimmer" ein Hotel brennt, dann geht es den Figuren wie Blanchots "Thomas der Dunkle", der in seinem Hotel dem schwarzen Loch des unendlichen Regresses begegnet. Denn es bleibt auch für Strauß unsicher nach wie vor, ob diese Welt, wie Valerio behauptet, ein 'ungeheuer weitläufiges Gebäude' oder ob sie vielmehr, wie Leonce entgegnet, nur ein enges Spiegelzimmer ist, in dem man kaum wagt, die Hände auszustrecken, aus Furcht Uberall anzustoßen, so daß die 'schönen Figuren in Scherben auf dem Boden lägen und ich vor der kahlen, nackten Wand stünde'. (DEeK 127) Entweder besteht völlige Dispersion oder totales Eingemauertsein. Und beides zugleich, so wie sich Olaf und Julius ergänzen. Der Brand des Hotels ist das Symbol für den Übergang, die Verwandlung. Für Heraklit stellt das Feuer das Zentrum des Übergangs dar. Wenn das Hotel brennt, dann befindet man sich am Ursprung des Heraklit. Und die "Einweg-feuerzeuge" geben die Richtung, den "einen Weg" vor: "Die Ungeduldige: Sie haben alle ihr Einwegfeuerzeug auf den Fensterbänken liegengelassen. Sie kommen bestimmt nicht wieder." (ZZ 151) Denn die Auflösung, die Verwandlung treibt die Figuren über den Text aufgrund der sich vergrößernden Entropie voran, so daß die Zeit zu laufen beginnt. Die Situation, die Olaf und Julius symbolisieren, zeigt sich als Zeit in der Zeit, als Akt im Akt, als Figur in der Figur und als Text im Text. Die Differenz zwischen Parmenides und Heraklit, zwischen der Statik und der Dynamik reflektiert die Einteilung von "Das Werk" in den ersten und zweiten Akt. Im ersten Akt bleibt alles gleich, die Wiederholungen täuschen nur scheinbare Bewegung vor, im zweiten Akt ist die Weite des Textes eine ewige Bewegung. Die Akteinteilung zeigt jedoch keine Entwicklung, sondern dieselbe Situation aus zwei verschiedenen Perspektiven, die in sich selbst rückgekoppelt sind. Die Statik in der Bewegung und die Bewegung in der Statik sind miteinander verschlungen. Die Akteinteilung von "Die Zeit und das Zimmer" ist noch einmal enthalten im ersten Akt als Olaf und Julius. Denn wenn Julius ins Zimmer blickt, den sieht er das "Netz" im Gehirn, so wie Olaf es draußen "regnen" läßt. Wenn Julius nach draußen blickt, ergibt sich die Sonne der "Aufklärung", die Linie. Ebenso ist im ersten Akt alles als geordnetes Spiel im Kopf, sowie es sich im zweiten ausbreitet im großen Archiv und Marie Steuber sich von Attraktor zu Attraktor bewegt. Innen ist Außen und die Differenz zwischen Innen und Außen bildet sich noch einmal im Kopf ab etc.: Was ist Glashaus, was ist Welt? Was innen, was außen? Was Automat und was Organ? Nicht mehr zu unterscheiden. Wir fühlen unseren Kopf Globus werden und gehen auf einer Erde, die sich anschickt, ein einziger Kopf zu werden. Die verschaltete Welt ist das komplette artificium, die künstliche Kunst nur ihr oberster Verdichtungsgrad. Das hermetische Lustspiel ist kein satirisches Gleichnis mehr, sondern inzwischen ein Gestaltteil, Modul einer radikal erfundenen Wirklichkeit. Wir haben im HochkUnstlichen noch einmal die ganze Welt. Kein Einlaß, kein Auslaß: nach Schließung des Kunstwerks. (DEeK 127f.)
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Im Text begegnet sich der Beobachter selbst, die Differenz spiegelt sich nach innen, das zugleich außen ist, in einer ewigen Rilckkoppelung weiter. Das "Haus" fungiert als Fixpunkt der Sprache, die "Straßen" als fließende Sprache und die "Stadt" als Sprache: Der Druck der Stadt: von allen Seiten her. Die Häuser sind nicht da, daß man dort wohne, sondern nur, daß es Straßen gebe, und in den Straßen das unaufhörliche Gewoge der Stadt.9»
Dieses "unaufhörliche Gewoge" im Text findet sich in "Die Zeit und das Zimmer" nicht nur auf einer Ebene, auch die Identitäten verweisen aufeinander, hinter jeder Maske steckt ein anderer. Olaf und Julius symbolisieren als Welten in Welten aufgrund selbstähnlicher Rilckkoppelung das bereits von Blanchot in "Thomas der Dunkle" beschriebene Abdriften im unendlichen Regreß, im unendlichen Text. Diese Rückbezüglichkeiten auf sich selbst treiben die Zeit im Text an. Der ReEntry einer Form in sich selbst, den der Logiker George Spencer-Brown,99 von dem Luhmann viel übernommen hat, beschreibt, treibt als Paradox, das immer wieder in sich selbst eingeht, die Zeit an. Das selbstbezügliche Paradox erzeugt eine Mischung von Chaos und Ordnung, einen verwirrenden Output auf der Bühne von "wahr" und "unwahr". Dieses Spiel, symbolisiert durch Julius und Olaf, zeigt mit jeder Iteration ein weiteres Einrasten der Zeit. George Spencer-Browns These ist, daß jeder Re-Entry die Zeit in die Logik einschleust, sowohl in die Logik der Mathematik, als auch in die der Mehrzahl der Denk-Prozesse. Auch und gerade die Sprache ist dann die Bedingung der Zeit mit ihren Rückbezüglichkeiten. Da sie keine Transzendenz mehr behauptet, kann jedes Signifikat sich nur aus einem anderen Signifikat herleiten usw. Die Bedeutung eines Bühnengeschehens ist nur sicher aufgrund der anderen Bedeutungen im Theater der Welt. Im Wechsel des Bühnenrahmens entsteht Bedeutung und so geht das Spiel von Julius und Olaf unendlich weiter und läßt die Zeit von Attraktor zu Attraktor weiterlaufen.
3.2.3.9. Mythische und lineare Zeit In "Die Zeit und das Zimmer" geht es immer um das Durchscheinen des Ganzen im Differenzierten. Die Meinungen sind das Uneigentliche: Rudolf: Ich bin anderer Meinung - Marie Steuber: Meinung? Keine Meinung! Es geht um das Gefühl, das unendlich große, so königlich, so königlich, stolz und schwarz und fremd und ALLES! [...] Du scheinst nicht zu begreifen, daß Medea da ist. Daß sie ihr Recht fordert. Daß wir nicht einfach so tun können, als gäbe es sie nicht. Wage nicht, sie zu verstoßen. Spiel nicht mit dem Gedanken. Sei klüger als Jason. (ZZ 159)
Das Theater als "kleine[r], unendlich tiefe[r] Raum" (DEeK 136), als "gesprengt e ^ ] Urritual[!]" (DEeK 136) ist der Ort, wo die Gegenwart am durchlässigsten wird, wo Fremdzeit einschlägt und gefunden - und nicht wo Fremdsein mit den billigen Tricks der Vergegenwärtigung getilgt
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Blanchot: Warten Vergessen, a.a.O., S. 32. George Spencer-Brown: Laws of Form, New York 1972.
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oder überzogen wird. [...] Viel anwesender ist das Theater dort, wo es zum Schauplatz seines eigenen Gedächtnisses, seiner originalen Mehrzeitigkeit wird. (DEeK 136) Strauß differenziert hier die zu profane "Vergegenwärtigung" der Postmoderne von der "originalen Mehrzeitigkeit". Das eine bleibt eine nietzscheanische ewige Wiederkehr des Gleichen im ewigen Re-Entry einer profanen Posthistoire: Wir sind nicht mehr von der linearen, historischen Zeit, die aus der Vergangenheit in die Zukunft strömt, mitgerissen. Wir stehen, auch wenn das problematisch scheint, Uber der Zeit, und wir können sie regulieren. Zum Beispiel können wir, wie beim Kitsch, Vergangenes vergegenwärtigen oder sogar, wie bei Futurisierungen, Vergangenes in die Zukunft projizieren. Das ist der Grund, weshalb ich vorschlage, dieses Modell ein 'posthistorisches' zu nennen.100 "Der moderne Diskurs der Zeit bricht in den postmodernen des Raumes."1"1 Und die Konzentration von Gegenwart hat Konsequenzen fllr das Verständnis von Zeit, die sich von der Linearität des Vektors zu einem Zeitamalgam gegenwärtiger Augenblicke aufbläht, einen Raum der Möglichkeiten, in dem Erfahrungen gemacht werden müssen, aber nicht gemacht werden können.102 Auch das freie Handeln, das eine "littdrature engagöe" voraussetzt, ist für Strauß im Treiben der Signifikanten eine Illusion, so daß der von Heidegger inspirierte Sartre zugunsten einer Renaissance des Denkens seines Lehrers bei Strauß in den Hintergrund tritt. Ldvis-Strauss schreibt: Sartre wollte die menschlichen Phänomene anhand eines Begriffsmodells untersuchen, das unseren Gesellschaften entspricht, das heißt Gesellschaften, die sich an die Geschichte gebunden haben, sich in der Geschichte fortbewegen. Alle Gesellschaften sind an die Geschichte gebunden, aber die unsrigen haben sich freiwillig und bewußt an sie gebunden und versuchen, aus der Geschichte den Motor des eigenen Fortschritts und der eigenen Veränderung zu machen; während andere Gesellschaften, wie die von den Ethnologen untersuchten, die ebenso in der Geschichte angesiedelt sind wie alle anderen und eine ebenso lange Vergangenheit haben, der Geschichte gegenüber dennoch nicht die gleich Einstellung haben. Sie übernehmen sie nicht, sondern versuchen vielmehr so zu tun, als ob die Geschichte nicht existierte, obwohl sie existiert. Sartres Engagement zwang ihn unvermeidlich dazu, bestimmte Formen auf Kosten anderer Formen zu bevorzugen. Aus ethnologischer Sicht war dies unzulässig.1"3 Saussure und Heidegger zusammengedacht ergeben die Grundlage des Neostrukturalismus, den mitklingenden Nietzsche will Strauß so weit als möglich draußen halten. Denn der völligen Verabschiedung jeder Metaphysik tritt Strauß mit der Heideggerschen Frage und der Beschäftigung mit dem Undarstellbaren entgegen. In "Die Zeit und das Zimmer" zeigt Strauß ein Raum-Zeit-Kontinuum, das sich selbst in ewigen Rückbezüglichkeiten verschlingt, so daß - man denke an die These Cantors - aus dem Kontinuum Fragmente werden. Und nicht nur die Zeit verliert sich als "alle Zeiten" im Raum, sondern auch der Raum ist nicht mehr
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Vil6m Flusser: Die Revolution der Bilder, Mannheim 1995, S. 12f. Graff: Das Geheimnis der Oberfläche. Der Raum der Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons, a.a.O., S. 50. Graff: Das Geheimnis der Oberfläche. Der Raum der Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons, a.a.O., S. 68. Claude L6vi-Strauss: Mythos und Bedeutung. Vorträge, Frankfurt 1992, S. 259.
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absolut, so daß man sich fragen muß, wo die Zeiten nun sind. Denn auch in der Mathematik ist man schon lange von der euklidischen zur nichteuklidischen Theorie übergegangen. 104 Nikolai Lobatschewskij und Wolfgang von Bolyai finden eine Geometrie, die sich von der bis dahin gebräuchlichen von den Axiomen her nur beim Parallelenaxiom unterscheidet, eine Geometrie, die den alltäglichen Anschauungen widerspricht, heute aber als fester Bestandteil der Mathematik gilt. Das Parallelenaxiom, also die Annahme, daß sich zwei Parallelen an keiner Stelle im Raum schneiden, ist neben dem Punkt und der Linie die Grundlage der euklidischen Geometrie und unserer normalen Wahrnehmung des Raumes. Wenn wir z.B. auf einer Kugel leben würden, wäre das Parallelenaxiom nicht haltbar. Eine Geometrie auf der Kugel ist in nichts einer Geometrie unterlegen, in der das Parallelenaxiom gilt. Was denn nun eine Gerade oder ein Punkt, die weiteren Grundlagen der euklidischen Geometrie, ist, kann man nicht definieren. Die nichteuklidische Geometrie stellt eine Herausforderung an die allgemeine Vorstellung von der Mathematik dar. Und die orientiert sich an Piaton, für den die Ideen wirklicher sind als die Dinge. Die Axiome lassen sich auf die platonischen Ideen zurückführen. So stellt sich die Frage: Wenn die Axiome eines euklidischen Raums nicht den Axiomen eines nichteuklidischen vorangestellt werden können, da es keinen Punkt außerhalb der Axiome gibt, der eine Hierarchie begründen könnte, sind dann die Axiome der nichteuklidischen Geometrie ebenfalls Ideen im Sinne von Piaton? Oder anders gefragt: Welcher Raum ist denn nun der absolute Raum? David Hilbert schreibt am Anfang seiner "Grundlagen der Geometrie": "Wir denken drei verschiedene Systeme von Dingen: [...] Wir denken [...] und bezeichnen [...]". Die Punkte, Geraden und Ebenen werden gedacht und bezeichnet und es wird nicht mehr darüber nachgedacht, was sie überhaupt sind. Für Hilbert steht fest, daß "das anschauliche Substrat der geometrischen Grundbegriffe mathematisch belanglos sei und ihre Verknüpfung durch die Axiome in Betracht komme". Für Hilbert muß man "jederzeit an Stelle von 'Punkten, Geraden und Ebenen' 'Tische, Stühle, Bierseidel' sagen können." 105 Hier befindet sich die Mathematik in einer Position, in der sie nur noch die Wissenschaft von den formalen Systemen ist, mit der Wirklichkeit hat die Mathematik keine eindeutige Verbindung mehr. Welche mathematischen Gesetze dann benutzt werden, um zum Beispiel in der Physik die Wirklichkeit zu beschreiben, wird bestimmt von der jeweiligen Fragestellung und der von der Fragestellung abhängigen aktuellen Brauchbarkeit. So wird man in der Astrophysik mit der euklidischen Geometrie nicht weit kommen. Nun bleibt im durch die Axiome begründeten Raum die Frage, wie sich dieser Raum begründet. Mit dem berühmten Satz Gödels: Falls das System y der Zahlentheorie widerspruchsfrei ist, dann ist die Widerspruchsfreiheit nicht mit den Mitteln des Systems selbst zu beweisen.
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Vgl. zum Übergang von der euklidischen zur nichteuklidischen Theorie: Herbert Meschkowski: Mathematik. Eine Entwicklungsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1997, insbes. S. 46ff. Vgl. Herbert Meschkowski: Wandlungen des mathematischen Denkens, Braunschweig 1969, S. 149. Gödel, Kurt: Über formal unentscheidbare Systeme der Prinzipa Mathematica und verwandter Systeme, I, in: Monatshefte für Mathematik und Physik, 38/1938, S. 173ff.
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ergibt sich eine erkenntnistheoretische Folge, die von Stegmüller so formuliert wird: 'Eine Selbstgarantie' des menschlichen Denkens ist, auf welchem Gebiet auch immer, ausgeschlossen. Man kann nicht vollkommen 'voraussetzungslos' ein positives Resultat gewinnen. Man muß bereits an etwas glauben, um etwas anderes rechtfertigen zu können.107 Auf den Satz von Gödel baut auch Watzlawick seine Theorie des radikalen Konstruktivismus 108 auf, die wiederum Niklas Luhmann beeinflußt. Zusammen mit den Erkenntnissen der Physik in diesem Jahrhundert eröffnet Gödel ein weites Feld der Unentscheidbarkeit und Mehrdeutigkeit. Positiv gedeutet: Was bleibt heute von der Verwirrung, die die Entdeckung der Unvollständigkeit und Unentscheidbarkeit in den dreißiger Jahren stiftete? Beide sind geblieben und werden wohl auch weiterhin bestehen, aber die Bestürzung und das Gefühl der Demütigung sind vergessen. Im Gegenteil, wir merken, daß die Entdeckung der Unvollständigkeit der Mathematik diese 'befreit' hat. In der neuen, nicht mehr deterministischen Sicht der Welt (einer Sicht, zu der ebensoviel oder gar mehr als die Mathematik die Quantenphysik und Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip beigetragen haben) ist die Ungewißheit ein notwendiger und kein subjektiver Aspekt der Wirklichkeit. Es ist eine Weltsicht, die menschlicheres Maß hat.1M Negativ gedeutet: Die Suche nach letztgültigen Haltepunkten fuhrt in den unendlichen Regreß und in die Unsicherheit, die mit kognitiven Dissonanzen einher geht. Der Evolutionsforscher Stephen Jay Gould deutet ganz im Einklang mit den aktuellen Paradigmen die Evolutionstheorie neu, nicht die lineare Entwicklung in Richtung auf wachsende Komplexität bringt den Menschen hervor, sondern der Zufall. Die These, daß nicht die notwendige Folge zum Menschen als Höhepunkt fuhrt, lehnt der Mensch instinktiv ab, Gould glaubt nicht, daß es für unsere Anhänglichkeit an diese falschen Ikonographien von Leiter und Kegel [zur visuellen Darstellung der Entwicklung in der Evolution] besonders geheimnisvolle, unerklärliche oder ungemein subtile Grtlnde gibt. Wir halten an ihnen fest, weil sie uns in der Hoffnung bestärken, daß die Welt einen für uns Menschen erfaßbaren Sinn hat.110 In dieser Situation, in der nicht nur die Philosophie, sondern auch die Naturwissenschaft die Unentscheidbarkeit betont, muß, wie Stegmüller bemerkt, ein Glaube am Anfang stehen, um etwas zu rechtfertigen. Und dieser Glaube, oder besser gesagt, die Notwendigkeit des Glaubens, um nicht in das tiefe Loch des unendlichen Regresses zu fallen, beschäftigt Strauß bis heute. Um durch die unendlichen Rahmensetzungen der Bühne, durch den ewigen Verweis des Beobachters auf einen Beobachter, der ihn selbst beobachtet, zu entgehen, sollte im Theater nicht nur der Zuschauer sitzen, sondern auch der Besucher, sollte im Auftritt des Textes nicht nur ein profanes Beobachtungsspiel, sondern durchaus auch ein Ritual stattfinden. Das 107 108
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Vgl. Meschkowski: Wandlungen des mathematischen Denkens, a.a.O., S. 149. Paul Watzlawick, Janet Η. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1990. Andrea Sgarro: Unentscheidbarkeit und Mehrdeutigkeit, in: Die Natur ist unser Modell von ihr. Forschung und Philosophie, hg. v. Valentin Braitenberg und Inga Hosp, Reinbek 1996, S. 111-118, S. 117. Stephen Jay Gould: Zufall Mensch. Die Wunder des Lebens als Spiel der Natur, München 1994, S. 41.
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bedeutet, daß nicht postmoderne Beliebigkeit einen im großen Archiv, in der Erinnerung kursierenden Text auf der Bühne kurz ausstellt und wie im Fernsehen als Bekannntes in Besitz nimmt. Sondern es soll der ferne Text auch fern erscheinen, wie der andere soll er nicht mit Begriffen in Besitz genommen werden, damit der überzeitliche und überörtliche Mythos seinen eigenen heiligen Raum auf der Bühne hat und nicht sofort durch den Beobachter begriffen und profaniert wird. Der Zyklus des Mythos soll nicht eine nietzscheanische Wiederkehr des Gleichen sein, sondern als Fest, als Unterbrechung des profanen Zeit-Raums sich ereignen. Das Problem, das Strauß in der Nachmoderne hat, ist, daß der Zugriff auf das große Archiv so schnell und so beliebig geworden ist, daß die Schwelle, der van Gennepsche Übergangsritus, zur Dauerveranstaltung geworden ist. Jede Bewegung von Olaf und Julius, jeder Wechsel von Ordnung zu Unordnung hebt im Kopf des einzelnen einen anderen Text, eine neue Bedeutung ins Bewußtsein: "Krise ist immer. Alle lebenden Systeme sind instabil. Übergang ist jederzeit und überall." (NA 141) Es ist also alles Ritus oder nichts ist Ritus. Entweder ist alles profan oder alles ist heilig. Wie soll dann im profanen Text noch an etwas anderes als die diesseitige Welt geglaubt werden, wenn es keinen heiligen Bezirk mehr gibt, der vom profanen getrennt ist. In "Die Zeit und das Zimmer" reden die Figuren von einem Fest, daß aber nie stattgefunden haben kann, da es als Bereich im großen Archiv nicht mehr vom profanen Bereich getrennt werden kann: Siehst du, Olaf, wie sie sich täuschen, die Menschlein. Alle verwechseln einander. Hier hat nie ein Fest stattgefunden. Nicht gestern, nicht vorgestern. Nicht vor einem Jahr und vermutlich seit dem Richtfest des Hauses keines mehr. (ZZ 145f.) Die Figuren sehen sich selbst als Maske immer wieder, egal was sie tun: "Jedes Wiedersehen zerbricht einen Zeitpfeil." (FU 38) Keine Entwicklung, nur Rekluse und derselbe Text. Da bleibt dem Dichter in der "herrschsüchtigen Ausgesprochenheit, die die Gesamtheit der Begriffe kontrolliert" nur noch die Aufgabe und der Versuch, "das 'andere Wort' einzuschleusen." (FU 46) Diese Einschleusung wäre die Unterbrechung, der Ritus könnte stattfinden durch das plötzliche Fremdwerden des sonst Gewohnten, das "Stop" and "Go" wäre zumindest soweit unterbrochen, daß man kurz den Verlust des Festes wahrnimmt, das früher die profane Zeit unterbrochen hat: So gravitierten die Wahrnehmungen in Athen auf das Gleichbleiben der Welt - und in diesem Rahmen konnten sie dann so weitgehend im Rhythmus der Jahresperiode des Wechsels von Alltag und Fest aufgehen." 1 Octavio Paz beschreibt den Ort des Festes: Es gab einmal eine Zeit, die nicht Folge und Fortgang, sondern ständiges Fließen aus einer ewigen Gegenwart war, in der alle Zeiten, Vergangenheit wie Zukunft enthalten waren. Der Mensch, von der Ewigkeit getrennt, in der - wie gesagt - alle Zeiten eins sind, stürzte in die 'meßbare Zeit', wurde ein Sklave der Uhr, des Kalenders, der 'vergehenden Zeit'. Seit der Teilung der Zeit in Gestern, Heute und Morgen, in Stunden, Minuten und Sekunden ist der Mensch nicht mehr eins mit ihr und so auch nicht mehr eins mit der Wirklichkeit. Wenn man sagt: 'In diesem Augenblick', ist dieser schon vergangen. Die räumliche Zeitmessung trennt den Menschen von der Wirklichkeit, die ewige Gegenwart ist, und macht - nach Bergson - alle Formen der Gegenwart, in denen die Wirklichkeit 111
Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S. 60. 207
sich kundgibt, zu lauter Trugbildern. Wenn man über das Wesen dieser beiden gegensätzlichen Ideen nachdenkt, gewahrt man, daß die 'meßbare Zeit' eine gleichartige Folge ohne jede Besonderheit ist. Immer sich selbst gleich, verachtet sie die Lust wie den Schmerz, vergeht nur. Die 'mythische Zeit' dagegen ist keine Folge ewig gleicher Einheiten, sondern von allen Besonderheiten unseres Lebens geprägt: lange wie die Ewigkeit oder kurz wie ein Atemzug, unheil- oder verheißungsvoll, fruchtbar oder unfruchtbar. Dieser Gedanke legt die Annahme einer Pluralität der Zeit nahe. Zeit und Leben verschmelzen zu einem einzigen Block, zu einer unspaltbaren Einheit. Für die Azteken war die Zeit mit dem Raum und jeder Tag mit einer Himmelsrichtung identisch. Das mag für jeden religiösen Kalender gelten. So ist auch die 'Fiesta' mehr als Datum oder Jahrestag. Sie feiert nicht, sondern vergegenwärtigt ein Ereignis. Sie teilt die 'meßbare Zeit', damit eine kurze, nicht meßbare Spanne lang ewige Gegenwart herrsche. Die 'Fiesta' macht die 'Zeit' schöpferisch. 'Vergegenwärtigung' wird Empfängnis. Die Frucht der 'Zeit' ist die Rückkehr des Goldenen Zeitalters. Hier und Jetzt, wenn der Priester die heilige Messe zelebriert, steigt Christus wahrhaftig vom Himmel herab, um für die Menschen dazusein und die Welt zu erlösen. Die wahrhaft Gläubigen sind - wie Kierkegaard sagte - Zeitgenossen Jesu. Aber nicht nur in das religiöse Fest oder in den Mythos bricht eine Gegenwart ein, die die belanglose Folge der Zeiten hemmt. Auch Liebe und Poesie offenbaren uns flüchtig die ursprüngliche Zeit. 'Mehr Zeit heißt nicht mehr Ewigkeit', bemerkte Juan Ramön Jimenez, als er sich auf die Ewigkeit des 'poetischen Augenblicks' bezog. Zweifellos ist die Auffassung der Zeit als feststehende Gegenwart und reines Jetztsein älter als die der 'meßbaren Zeit', die j a kein augenblickliches Erfassen der verströmenden Wirklichkeit, sondern eher ein verstandesmäßiges Erschließen ihres Vergehens ist. Diese Zweiteilung kommt im Gegensatz zwischen Geschichte und Mythos wie zwischen Geschichte und Poesie zum Ausdruck. Die Zeit des Mythos, des religiösen Festes oder der Kindergeschichte kennt kein Datum: 'Es war einmal ...' oder 'In der Zeit, als die Tiere noch sprachen ...' oder 'Am Anfang ...' Dieser Anfang, der nicht diesem oder jenem Jahr oder Tag entspricht, enthält alle Anfänge und führt uns in die 'lebendige Zeit' ein, wo tatsächlich alles in jedem Augenblick beginnt. Kraft des Ritus, der sich in der mythischen Erzählung, in Poesie und Märchen immer wieder vollzieht, betritt der Mensch eine Welt, in der alle Gegensätze sich auflösen. Nach Van der Leeuw haben alle Rituale die Eigenschaft, jetzt, 'in diesem Augenblick', stattzufinden. Jedes Lesen eines Gedichtes ist daher Wiedererschaffung, will sagen, Ritus, Zeremonie, Fiesta. Theater und Epos sind ebenso Fiesta, Zeremonie. Im Schauspiel wie in der Gedichtrezitation hält die 'gewöhnliche Zeit' in ihrem Fluß inne und weicht der 'ursprünglichen Zeit'. Dank unserer Teilhabe fällt diese mythische, ursprüngliche Zeit - Vater aller Zeiten, die die Wirklichkeit verhüllen - mit unserer inneren, 'subjektiven Zeit' zusammen. Der Mensch, Gefangener der Zeitenfolge, bricht aus dem unsichtbaren Gefängnis der Zeit aus und findet Zugang zur 'lebendigen Zeit': Die Subjektivität identifiziert sich schließlich mit der 'äußeren' Zeit, denn diese ist nun kein Raummaß mehr, sondern Quelle reiner Gegenwart geworden, die unerschöpflich sich selbst ergänzt. Mittels des Mythos und der Fiesta, der weltlichen wie der religiösen, zerbricht der Mensch seine Einsamkeit und wird mit der Schöpfung wieder eins. Und so erscheint der Mythos - verhüllt, verborgen, versteckt - in fast allen Handlungen unseres Lebens und greift entscheidend in unsere Geschichte ein: er öffnet die Tore der Kommunion. Der moderne Mensch hat den Mythos verstandesmäßig zergliedert, ohne ihn zerstören zu können. Viele unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie etwa der größte Teil unserer moralischen, politischen und philosophischen Anschauungen, sind nur neue Ausdrücke für Tendenzen, die vorher von mythischen Formen verkörpert wurden. Die rationale Sprache unserer Zeit vermag kaum diese alten Mythen zu verdecken. Die Utopie - und besonders die politische Utopie - bringt, trotz aller rationalen Schemata, die sie maskieren, die Tendenz jeder Gesellschaft zum Ausdruck, vom Goldenen Zeitalter zu träumen, aus dem die Gruppe einst vertrieben wurde und in welches die Menschen am Ende der Tage zurückkehren wollen. Die modernen Feste - politische Veranstaltungen, Paraden, Kundgebungen und andere rituellen Handlungen - lassen das Kommen jenes Tages der Erlösung ahnen. Alle hoffen auf die Rückkehr zur Urfreiheit und zur Urreinheit. Die Geschichte wird zu Ende gehen. Die Zeit - der Zweifel, der Zwang, zwischen Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Wirklichkeit und Phantasie zu wählen - wird uns dereinst nicht mehr
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quälen. Das Reich der ewigen Gegenwart, der ständigen Kommunion wird kommen. Die Wirklichkeit wird ihre Maske ablegen, und wir werden endlich sie selbst und unsere Mitmenschen erkennen. Jede totkranke oder steril werdende Gesellschaft, die nach Rettung strebt, schafft sich einen Erlösungsmythos, der zugleich Fruchtbarkeits- und Schöpfungsmythos ist. Einsamkeit und Sünde lösen sich in Kommunion und Fruchtbarkeit auf. Auch die Gesellschaft, in der wir heute leben, hat sich einen Mythos geschaffen. Die sterile bürgerliche Welt wird in Selbstmord enden oder an einer neuen Form des Schöpferischen teilhaben. Dies ist, mit einem Titel Ortega y Gassets ausgedrückt, das 'Thema unserer Zeit', die Substanz unserer Träume und der Sinn unserer Handlungen. Der moderne Mensch behauptet, wach zu denken. Doch hat dieses wache Denken uns in das Labyrinth wirren Alpdrucks geftlhrt, wo die Spiegel der Vernunft die Folterkammern vervielfachen. Beim Verlassen entdecken wir, daß wir mit offenen Augen geträumt haben und die Träume des Verstandes schrecklich sind. Vielleicht beginnen wir dann wieder mit geschlossenen Augen zu träumen." 2 Paz schreibt dies 1950, er beschreibt das Problem, das auch Strauß zu lösen versucht, zu einer Zeit vor dem Denken und der Gesellschaft der Nachmoderne. In der gegenwärtigen Zeit geht es nicht mehr nur um die Unterbrechung einer linearen Zeit durch den Mythos. Sondern es kommt für Strauß erschwerend hinzu, daß die Nachmoderne eine Vorstellung von der Zeit und dem Raum hat, die die mythische Zeit und den Ritus simulieren. Der Unterbrecher des Profanen hat es nun noch schwerer. D e n n was soll unterbrochen werden, w o soll unterbrochen werden? D i e lineare Zeit mit d e m Mythos zu unterbrechen, ist in der Vorstellung einfacher, als ein N e t z zu unterbrechen. Denn ohne Kausalität keine Folge und ohne Folge eigentlich keine Unterbrechung. Der Übergang, die Verwandlung ist überall: Immer erst künftig, immer schon vergangen, immer gegenwärtig in einem so jähen Anfang, daß es uns den Atem verschlägt, und dabei gleichwohl sich entfaltend wie ewige Wiederkehr oder ewiger Wiederbeginn. [...] Diese Begebenheit stürzt die gewohnten Zeitverhältnisse um, doch bestätigt sie zugleich die Zeit, in der besonderen Art nämlich, wie die Zeit sich erfüllt, und es ist dies die Zeit, die der Sage eigens zugehört, die in den Daseinsverlauf des Erzählers umwandelnd eingreift, Zeit der Metamorphosen, die innerhalb imaginärer Gleichzeitigkeit und in dem Raum, den die Kunst zu verwirklichen trachtet, die unterschiedlichen Ekstasen derZeit koinzidieren läßt." 1 W o soll die Unterbrechung stattfinden, wenn alles Unterbrechung ist? Strauß' Antwort ist: In der Tätigkeit des Kopisten und Diaristen, der das Pazsche "Labyrinth der Einsamkeit" ausläuft, indem er den Text, der allen gemeinsam ist, durch sich hindurchlaufen läßt, so daß der andere, der eigentlich "Niemand anderes" ist, lesen kann, wer er selbst in seinem "Labyrinth" ist. Die Spiegel und das Labyrinth, die Wörter, die haben alle gemeinsam: Der Diarist ist der Meister ohne Werk, der ecrivain manqud (g6nie manqud heißt es bei Senancour). Er hat sich selbst zum Stoff, versagt sich der großen Form. Mitleidlos gegen sich selbst und andere, erspart er doch manch einem, der ihn liest, das Risiko der eigenen Selbst-Sucht, dem nicht jeder gewachsen ist. Er ist fraglos der am wenigsten unterhaltsame, aber vielleicht in mancher Hinsicht ein äußerst nützlicher Autor. Wie kein anderer spricht er den heimlichen Schriftsteller in jedem Leser an. Der Typus des in sich versunkenen Autors sieht dem Leser schon zum Verwechseln ähnlich. Seine untröstliche Aufrichtigkeit wirkt ausgesprochen tröstlich auf andere, schwierig lebende Einzelwesen, weil
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Paz: Das Labyrinth der Einsamkeit, a.a.O., S. 202 ff. Blanchot: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, a.a.O., S. 20f.
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sie hier mit täuschender, glänzender Ähnlichkeit ausgedrückt finden, was eigentlich nur sie selbst hätten schreiben können. Das intime Buch - unzählige Bruchstücke eines einzigen unglücklichen Eingeständnisses: kein Schriftsteller zu sein - ist unmittelbar aus dem Herzen des Lesers bekundet. Es liefert im übrigen eine Art öffentliche Versicherung dafür, daß niemandes Einsamkeit grenzenlos ist, sondern daß sie von einem Berufenen konsolitär geteilt wird. Es zeigt sich, daß gerade der Diarist, der sich an kein Du wendet, einem anderen zuweilen die lebhafteste und zuweilen erbaulichste Ansprache zu bieten hat. Gerade weil er sich vom Leser letztlich überhaupt keinen Begriff macht. Wenn seine fleißige Schrift überhaupt von einer auswärtigen Vorstellung begleitet wird, dann ist es die von der unermeßlichen Bürokratie eines weltweiten Subjekt-Betriebs, in dem Heerscharen von Beamten des Ichs ihre tägliche Pflicht tun. Niemand liest den anderen, doch alle gemeinsam produzieren sie die Ordnung, die jedem einzelnen das Schreiben ermöglicht. Mit einer gewissen Berechtigung führt er daher seine Herkunft zurück auf die altägyptische Schreiber-Kultur. Hier gab es nichts Höheres als die Kunst, Schriftzeichen zu verfassen, die nicht jedem etwas sagten: 'Wer diese Texte kennt (versteht), ist der Autor selbst'. Oder: 'Schreibe bei Tag mit deinen Fingern und lies bei Nacht; mach dir die Papyrusrolle und die Schreibpalette zu Brüdern: die sind angenehmer als Rauschtrank.' Oder. 'Sei ein Schweiger und Schreiber.' (NA 195f.)
Da der Text, den alle gemeinsam haben, jedoch in der durch Technik und elektronische Medien bestimmten Gesellschaft für Strauß kein dichterischer ist, arbeitet der Dichter zusätzlich noch an der Poetisierung des durch ihn kopierten Text. Das Ziel ist, in der Immanenz das Ganze zu erahnen, hinter der dichten Wand der nur noch technischen und gesellschaftlichen Wörter die Ewigkeit zu vermuten, Heidegger folgend den einstmals dichterischen Text wieder zu seinem Ursprung zu führen. In praxi sieht es Strauß' als seine Aufgabe an, als Kopist durch "'fehlerhafte' Überlieferung das unpoetische Wissen" seiner Zeit zu verderben, zu "Faulstoff' zu verwandeln "und wieder zur Krume einer poesia seriosa." (FdK 134)
3.2.4. Mythos: Sieben Türen - die Paradoxie der Frage Denn niemals sind die Werke des Verstandes, weil sie der Menschen Wille mit dem Drehen des Himmels ändert, dauerhaft gewesen. (Dante, Paradiso XXVI)
3.2.4.1. Zwischen Dogmatik und Mystik, zwischen Akt und Sig6 - die Handlung als Turmbau zu Babel Jede Handlung lügt, behauptet die Handlung. Jede Entscheidung ist, von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen, falsch. Jeder Absolutismus endet im Paradox. Jede Antwort evoziert noch mehr Fragen, jede Handlung ergibt noch mehr Handlungen und jede Komplexitätsreduktion lügt. Im "Labyrinth der Einsamkeit", im unendlichen Buch, im komplexen Netz der Verschaltungen entstehen Paradoxa und Entscheidungsprobleme en masse, wenn man versucht, alles zusammen auf einmal zu beobachten, also einen Stand-Punkt außerhalb des Textes und damit der eigenen Identität einzunehmen - ein Unternehmen, das ebenfalls wieder am Paradox scheitert. Und so ist der Versuch, in einer Zeit, in der die Komplexität zum Thema wird, eine Handlung zu erstellen, die der Forderung einer Mimesis gerecht werden würde, genauso zum Scheitern verurteilt wie der Versuch, durch Extrapolation der 210
Vergangenheit in die Zukunft etwas über die unmittelbare Zukunft hinaus vorherzusagen. Ein solches Bemühen scheitert schon an der Unsicherheit, wie und was die prima causa von irgendetwas in der Vergangenheit gewesen ist. Natürlich gibt es in der gesellschaftlichen und in der bewußten Realität sich selbst erhaltende Ordnungen, die dem Menschen die notwendige Stabilität zum Leben liefern. Aber diese könnten auch - so Luhmann: welches ist die primäre System-UmweltDifferenz? - anders sein. Im Netz des Gehirns und im unendlichen Archiv und damit in der Welt als Kopf gibt es mehr Möglichkeiten zur Ordnung als die bestehende. Doch die Individuen "wollen doch nichts anderes als ein wenig Ordnung, um [sich] vor dem Chaos zu schützen." 114 Zwar verlieren [wir] fortwährend unsere Gedanken. Deshalb krallen wir uns so verbissen an verfestigte Meinungen. Wir wollen doch nichts anderes, als daß unsere Gedanken und Ideen sich nach einem Minimum an konstanten Regeln verknüpfen, und die Ideenassoziation hat nie einen anderen Sinn gehabt: die uns schützenden Regeln zu liefern, Ähnlichkeit, Kontiguität, Kausalität, die uns gestatten, ein wenig Ordnung in die Gedanken zu bringen, von einem zum anderen überzugehen gemäß einer Ordnung von Raum und Zeit, die unsere 'Phantasie' daran hindert, das Universum im Augenblick zu durchqueren, um darin geflügelte Pferde und Feuerdrachen zu erschaffen." 5
Der Philosoph und der Dichter haben hier die Möglichkeit, sich noch mehr als das in eine gesellschaftliche Funktion direkt eingespannte Individuum mit dem Möglichen und Unmöglichen zu beschäftigen. Dabei kommt ihnen der grundsätzlich erhöhte Komplexitätsgrad der nachmodernen Gesellschaft entgegen. Wenn es nicht mehr um Mimesis gehen soll, sondern um Simulation, dann werden die Möglichkeiten für jeden größer. Für Strauß reagiert die nachmoderne Gesellschaft aber paradoxerweise mit der Integration des Komplexen und Gegensätzlichen im vereinheitlichenden Schnitt, mit der medialen Inkorporation der Welt, so daß das eigentlich Fremde und Ferne so nah erscheint, wie früher der Raum und die Zeit des eigenen Dorfes. Diese mediale Vertrautheit verhindert, daß sich der Gesellschaftsmensch mit dem Wahnsinn der Komplexität beschäftigen muß. Strauß hingegen setzt sich mit der Heideggerschen Frage auch der Heideggerschen Angst aus und sieht sich plötzlich eben nicht mehr nur einem vorgebahnten Weg, sondern "Sieben Türen" gegenüber. Aber natürlich stellt sich diese Entscheidungsfreiheit als Trugbild heraus, denn welche Wahl bleibt dem Individuum als sich selbst stabilisierende Einheit in einem sich bewegenden Text, die ihr Zentrum nicht mehr wie noch Descartes im "Cogito" wahrnimmt, sondern im Text? Die philosophische Frage - die natürlich unlösbar ist - nach der Freiheit oder der Determination des einzelnen stellt sich hier. So ist jeder Versuch, einen Überblick über das Ganze zu bekommen, als Dichter das Ganze zu repräsentieren, ein maßloser Anspruch, der Dichter wird zum Turmbauer in Babel. Daher bezeichnet sich Strauß nicht mehr als Chronist, sondern als Diarist und als Kopist. Umberto Ecos Figur Jacopo Belbo gibt ihrem Computer in "Das Foucaultsche Pendel" den Namen "Abu", eine Anspielung auf den Kabbalisten Abulafia. Der Computer erlaubt ihm als großes Gedächtnis das Spiel mit dem unendlichen Text analog dem Spiel mit dem kulturellen Gedächtnis in der Postmoderne. Aber Belbo erzeugt bei Eco am Ende ein großes
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Gilles Deleuze und Felix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt 1996, S. 238. Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie?, a.a.O., S. 238.
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Monster, e i n e n "Golem" postmoderner Art. W a s als Spaß b e g o n n e n hatte, wird in e i n e m A k t selbsterfüllender Prophezeiung, w i e ihn Watzlawick gern beschreibt, zu e i n e m "Weltverschwörungsplan", der v o n e i n i g e n Leuten so ernst g e n o m m e n wird, daß am E n d e blutiger Ernst daraus wird. A b u l a f i a ist ein Z e i t g e n o s s e Dantes, der in seiner "Göttlichen K o m ö d i e " v o n den "Sieben Toren" spricht, die nach d e m s c h w e b e n d e n Zustand der Ungetauften folgt: Ich war bei denen, deren Los im Schweben. In Wahrheit nun befand ich mich am Rande/Des schmerzvollen, abgrundtiefen Tales/Das widerhallt von Klagen ohne Ende. So dunkel war es, tief und so voll Nebel,/Daß ich die Blicke wohl zum Grunde bohrte, /Doch nichts dort unten unterscheiden konnte. /"Nun steigen wir hinab zur blinden Tiefe", / Begann der Dichter, gänzlich sich verfärbend, / "Ich geh zuerst, du wirst als zweiter folgen." Und ich, der seine Blässe wohl bemerkte, / Sprach: "Wie soll ich denn gehn, wenn du dich fürchtest, / Der sonst in meinen Zweifeln mich getröstet?" / Und er zu mir. "Die Qualen dieser Leute, die drunten sind, verfärben mir das Antlitz/ Vor Mitleid, was du dann für Furcht gehalten. Gehn wir, es treibet uns des Weges Länge". / So trat er selbst und ließ mich mit sich treten / Zum ersten Kreise, der den Abgrund gürtet. / Dort gab es, wenn man auf das Hören achtet, / Kein andres Klagen als nur Seufzerlaute, / Die jene ewige Luft erzittern ließen. Und dies geschah durch Schmerzen ohne Qualen, / Bei jenen Scharen, die gar groß und viele, / Von Kindern und von Frauen und von Männern. / Der gute Meister sagte zu mir: "Warum / Fragst du nicht, welche Geister hier zu sehen? / Nun sollst du wissen, eh du weiterschreitest, / Daß sie nicht sündigten, doch die Verdienste / Genügten nicht, da noch die Taufe fehlte, / Die erst das Tor zu deinem Glauben öffnet. / Und wenn sie vor dem Christentume lebten, / So haben sie nicht richtig Gott verehret. / Ich selbst gehöre auch zu diesen Leuten. Durch solche Mängel, nicht durch andre Sünde, / Sind wir verloren, und nichts andres drückt uns, / Als das wir hoffnungslos in Sehnsucht leben." / Wir hatten nicht gehalten im Gespräche, / Wir gingen immer weiter in dem Walde, / Dem Walde, sag ich, dicht gescharter Geister. / So sind wir bis zum Lichte hingegangen, / Von Dingen redend, die ich gern verschweige, / so wie ich gerne dort davon geredet. / Dann kamen wir vor eine stolze Festung, / Die siebenmal umfaßt mit starken Mauern / Und rings geschützt von einem schönen Bache. / Den kreuzten wir, als wär es fester Boden. / Durch sieben Tore schritt ich mit den Weisen, / Dann kamen wir auf eine grüne Wiese." 6 V o n d e m T e x t D a n t e s spricht Strauß in seiner Vorrede: Manchmal, in Minuten mit Überlänge, scheint das große Huschhusch, unser alltägliches Leben, am Saum des Feuers zu tanzen. Dann sieht man nicht eine Tür, sondern es stehen derer sieben halb offen. Das könnte das wahre Ende bedeuten: die Ausgänge hoffnungslos in der Überzahl! Nicht ein freier Ausgang, sondern eine Serie von gleichen freien Ausgängen, die uns keine Chance lassen, den einzig richtigen Weg einzuschlagen. Angesichts der erbrochenen Geheimnisse - angesichts einer Arena von halb offene, lockenden Türen ist Sitzenbleiben die beschlossenste Sache der Welt. Denn wenig später löst sich der Trug: es war nur ein tückischer Scherz, den sich der Teufel mit unseren Sinnen erlaubte. Hier ist nicht limbo, hier nicht die mildere Hölle, und der Teufel steckt allein im hinkenden Vergleich. Dantes "limbo" als das L o s im S c h w e b e n vor den Türen, das S c h w e b e n z w i s c h e n H ö l l e und H i m m e l , vergleicht Strauß eben gerade in der Verneinung durch die N e n n u n g . D e n n der Vergleich ö f f n e t das unendliche Archiv und der e n g e S p i e g e l saal der e i g e n e n Identität als "Ich ist ein anderer" weitet sich zu den vielen A u s g ä n gen, die auch der T e x t Dantes ermöglicht. Strauß eröffnet mit seiner Vorrede das Paradox und läßt den Leser damit ebenfalls vor den "Sieben Türen" stehen. D e n n er
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Dante Alighieri: Die göttliche Komödie, Stuttgart 1945-1951.
vergleicht seinen eigenen Text mit dem Text Dantes, indem er Dantes "limbo" zitiert. Und kaum ist der Leser hereingefallen und vergleicht, sagt Strauß, daß genau dieser Vergleich die Ursache sei für den Trug. Strauß behauptet also etwas, analogisiert seinen Text mit einem anderen. Und zugleich sagt er: Ich lüge, der Vergleich "hinkt". Damit erzeugt Strauß das Kreter-Paradoxon. Der damit erzeugte Re-Entry, der sich so fortpflanzt, ergibt die Attraktoren, die dann, so George Spencer-Brown, die Zeit laufen lassen und die Handlung, die es eigentlich nicht gibt, weitertreiben. Da jeder Vergleich einen Fehler produziert, der analogisierende Kopist einen Fehler macht, wird die Handlung durch diesen Fehler, der den Kopisten in das Spiel der Interpretationen der Interpretationen und damit in das unendliche Archiv schleudert, weitergeführt von Iteration zu Iteration. Der Kopist scheitert also immer an der Interpretation, die dem Vergleich vorausgeht. Denn jede Interpretation ist falsch, wie unter anderem Derrida zeigt, so auch Strauß' Vergleich seines eigenen Textes mit Dantes Text. Jeder Versuch einer wahren Interpretation läßt den Kopisten vor den "Sieben Türen" stehen. Das Ganze, das Ursprüngliche ist nicht mehr zu sehen. So scheitert sowohl die Figur Ecos mit ihrem Computer "Abu", denn diese erzeugt wie der "Demiurg" nicht die wahre Welt, sondern das Grauen einer sich verselbständigenden Text-Welt, eine "verfehlte[.] Schöpfung", 117 die als kopierte immer unvollständig ist. Als auch jeder, der mit der Sprache zu Gott gelangen will. Denn dieser scheitert am Paradox, daß sich mit zunehmendem Wissen das Unwissen, mit zunehmendem Bemühen, zu interpretieren die Interpretationen und damit die Einsicht in die Unmöglichkeit einer wahren Interpretation ergeben. Wie im Turmbau zu Babel endet alles in einer totalen Verwirrung der Sprachen. In der "Suche nach der vollkommenen Sprache" referiert Eco über die Gedanken Abulafias und Dantes über die von Gott gegebene vollkommene Sprache: Für Abulafia war das Hebräische historisch gesehen die 'Ursprache' gewesen, die aber das auserwählte Volk im Laufe seines Exils vergessen hatte. Daher war, wie Dante im 'Paradiso' sagen wird, die Sprache Adams bereits zur Zeit der babylonischen Sprachverwirrung 'ganz erloschen'." 8
Eco zitiert dann ein unpubliziertes Manuskript eines Schülers von Abulafia: 1 " Wer an die Schöpfung der Welt glaubt und meint, daß die Sprachen auf Übereinkunft beruhen, der muß auch annehmen, daß es zwei Arten von Sprache gibt: eine erste göttlicher Art, entstanden durch einen Pakt zwischen Gott und Adam, und eine zweite natürlicher Art, gegründet auf einen Pakt zwischen Adam, Eva und ihren Kindern. Die zweite ist aus der ersten abgeleitet, und die erste war nur Adam bekannt und ist an keinen seiner Nachfahren weitergegeben worden außer an Seth [...]. So gelangte die Überlieferung an Noah. Und die Verwirrung der Sprachen zur Zeit der Zerstreuung hat nur für die zweite Art von Sprache, die natürliche, stattgefunden.
Kommentiert wird dieser Text von Eco so: Wenn wir uns erinnern, daß der Begriff'Überlieferung' auf die Kabbala verweist, so spielt der zitierte Passus ebenfalls auf ein sprachliches Wissen an, auf eine forma locutionis als
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Eco: Das Foucaultsche Pendel, a.a.O., S. 26. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1997, S. 61. Eco zitiert hier Moshe Idel: Language, Torah, and Hermeneutics in Abraham Abulafia, Albany 1989, S. 17.
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ein Ensemble von Regeln zur Fabrikation verschiedener Sprachen. Wenn die ursprüngliche Form nicht Sprache, sondern universale Matrix aller Sprachen ist, so bestätigt das sogar die historische Wandelbarkeit des Hebräischen, aber es bestärkt auch die Hoffnung, daß die ursprüngliche Form wiedergefunden und von neuem fruchtbar gemacht werden kann (selbstverständlich für Dante und Abulafia auf verschiedene Weise). 120
So weist der Fehler des Kopisten, und hier "überliefert" der Kopist Strauß kabbalistisches Denken, auf die Ursprache als vollkommene Sprache, auf das Ganze "hinter" dem Spiel der Signifikanten. Und so ist auch die "Verfehlung" in der Schöpfung für Strauß die Ursache der Stiftung von Identität und Liebe: Nur ohne Eden werde ich dich Wiedersehen. Ich weiß wohl, daß dies eine unhaltbare und absurde Religion ist, gewiß sogar eine frevelhafte Abirrung, die darauf hinausläuft, den Sündenfall zu verherrlichen, da aus ihm erst, aus dem unaufhörlichen Sturz der Lichtfunken des Paars entsprang. Aber ich spüre doch nur zu deutlich, daß mich Glück und Fluch mit einem einzigen Bannstrahl getroffen haben. (NA 42)
Der gnostische Gedanken der "verfehlten Schöpfung", der sich aus der neostrukturalistischen Sicht auf die Welt als spielenden Text speist, läßt den Trug der "Sieben Türen" als Verweis auf das ganz andere gelten. Dabei verschärft Strauß mit philosophischen Spitzfindigkeiten die Lage so weit, daß er paradoxerweise in den denkbaren Zustand der "erbrochenen Geheimnisse" (ST 360) gerät, den er beklagt. Und so ist das ganz andere für ihn, der die Immanenz der Wörter mit seinem Denken unüberwindlich macht, nur im ganz anderen zu finden. Damit gerät Strauß automatisch in den Konflikt zwischen Dogmatik und Mystik. 28 Sätze Meister Eckeharts werden am 27. März 1329 durch eine Bulle Papst Johanns XXII verdammt. Unter anderem schreibt der Papst: Fürwahr, mit Schmerz tun Wir kund, daß in dieser Zeit einer aus deutschen Landen, Ekkehart mit Namen, und, wie es heißt, Doktor und Professor der Heiligen Schrift, aus dem Orden der Predigerbrüder, mehr wissen wollte als nötig war, und nicht entsprechend der Besonnenheit und nach der Richtschnur des Glaubens, weil er sein Ohr von der Wahrheit abkehrte und sich Erdichtungen zuwandte. 121
Natürlich muß Meister Eckehart die Amtskirche herausfordern, zumal er seine Thesen der Öffentlichkeit in seinen Predigten zugänglich macht. Unter anderem soll der folgende Artikel Meister Eckharts sowohl seinem "Wortlaut nach wie nach dem Zusammenhang ihrer Gedanken Irrtum oder das Mal der Häresie enthalten": Gott ist weder gut noch besser noch vollkommen; wenn ich Gott gut nenne, so sage ich etwas ebenso Verkehrtes, als wenn ich das Weiße schwarz nennen würde.
Dieser für die alltäglichen Ohren sicher immer noch provokante Satz klingt annehmbarer, wenn man hinzufügt, daß Meister Eckhart als Mystiker eben nur verhindern will, das Gott als Vorstellung in ein differenzierendes Wörtchen wie "gut" gepreßt wird. Die Sprache muß vor der Ewigkeit kapitulieren und es wäre wohl auch Hybris, als Mensch mit der unvollkommenen Sprache Gott zu definieren. Jedoch ist auch der Standpunkt des Mystikers nicht unproblematisch, denn sofort gibt es Probleme mit der gemeinschaftlichen Ordnung und mit der Ethik. Der Papst
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Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, a.a.O., S. 61. Bulle Johanns XXII. "In agro dominico", in: Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate, hg. und übersetzt von Josef Quint, Zürich 1979, S. 449-455, hier: S. 448.
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(bzw. seine prüfenden "Doktoren der heiligen Theologie") erkennt das Problem, er schreibt in der Bulle: Damit nun derartige Artikel oder ihr Inhalt die Herzen der Einfaltigen, denen sie gepredigt worden sind, nicht weiter anstecken und bei ihnen oder anderen nicht irgendwie in Schwang kommen können, verdammen und verwerfen Wir ausdrücklich auf den Rat Unserer genannten Brüder die ersten fünfzehn angeführten Artikel sowie die beiden letzten als häretisch.122
Das ethische Problem mit der Mystik ergibt sich analog dem Problem der Ethik in der Postmoderne. Wenn das Wort nur mehr als reine Meinung zu gelten hat, auf was baut dann die Ethik, wie legitimiert sie sich? Diesen Vorwurf muß sich auch ein nachmoderner Theoretiker wie Niklas Luhmann gefallen lassen. Die Differenz zwischen System und Umwelt ist eine Entscheidung, die sich bestenfalls aus einem autopoietischen System heraus legitimiert, am Anfang steht jedoch immer eine unbegründbare Entscheidung. Diese erinnert an die Thesen Carl Schmitts, mit denen sich auch das "Führerprinzip" rechtfertigen läßt. Um dem zu entgehen, baut die heutige Verfassung und das Recht im Rechtsstaat auf dem Grund des "Naturrechts". Zum Glück befassen sich nur wenige rechtsphilosophisch mit der Frage, was denn "Naturrecht" ist. Denn dieses läßt sich, wenn es denn überhaupt definierbar ist, auf gar nichts begründen, ist letzten Endes wieder nur eine Entscheidung, womit wir wieder bei Luhmann und Schmitt wären. Genau dieses Labyrinth der Fragen, die noch mehr Fragen erzeugen, konstituiert das "Labyrinth der Einsamkeit" des Botho Strauß, das ihn zum Mystiker werden läßt, worauf sich wieder das Problem der Ethik stellt usw. Die "Sieben Türen" sind überall und machen das richtige Handeln, aber auch die Kreation einer richtigen, also für unsere Zeit und unseren Ort repräsentativen Handlung zu einer Unmöglichkeit. Wie die "Suche nach der vollkommenen Sprache" führt die Durchsetzung einer richtigen Perspektive immer zu einer "verfehlten Schöpfung". Und genau diese Verfehlung verweist für Strauß auf das ganz andere. Aber Strauß vertritt nicht nur den Standpunkt des Mystikers, er erkennt ganz genau, daß keine Gemeinschaft ohne Dogmatik auskommt, ohne normierte Ethik und fixiertes Recht. So befindet sich bei Strauß hinter diesem plichtgetreuen Porträtisten furchtbarer Ambivalenzen, überstürzter Paradoxe [...] zugleich aber ein Zeitgenosse mit ziemlich altmodisch festen Überzeugungen." (AA)
Strauß nimmt also zugleich die Perspektiven Meister Eckeharts und des Papstes Johanns XXII ein (was natürlich wieder zu einem Paradox führt). In den "Fragmenten der Undeutlichkeit" zeigt sich der aufeinander wirkende Gleichlauf - in der Form zweier hintereinander gestellter Teile - von Sigd und dem gesetzten Akt, dem Jeffers-Akt. Für Strauß muß also eine Handlung, ein Akt, gesetzt werden, um Akteur zu bleiben, die völlige Dispersion würde zur völligen Apathie führen, "Sitzenbleiben" wäre die "beschlossenste Sache der Welt." (ST 360) So ist "Sieben Türen" eine Handlung über die Notwendigkeit von Handlung, die aber sogleich vor die "Sieben Türen" führt. Damit löst sich "Sieben Türen" andauernd in sich selbst auf, führt von einem Paradox zum nächsten, aber gerade diese Rückbezüglichkeiten schieben die Zeit und damit die Handlung weiter. "Sieben Türen" handelt von einer 122
Bulle Johanns XXII. "In agro dominico", a.a.O., S. 454.
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Handlung, die jede Handlung negiert. Roland Barthes schreibt über den unzusammenhängenden Zusammenhang: Wie? Ist denn keine Organisation möglich, wenn man Fragmente aneinanderreiht? Doch: das Fragment ist wie die musikalische Idee eines Zyklus [...]: jedes Stück ist sich selbst genug, und dennoch ist es immer nur der Zwischenraum der Nachbarstücke: das Werk besteht nur aus Außer-Text. 123
Somit gestaltet Strauß die Handlung als unbeantwortete Frage, die Frage ist das einzige, was der Mystiker Strauß noch als Handlung empfindet, er schreibt im mystischen Teil von "Fragmente der Undeutlichkeit", in "Sigö": Was kann ich noch tun? Ich kann nur zu Dir sprechen. Haltlos, hemmungslos abfließend wie der Strom. Denn jeder, der mir Antwort gäbe, hätte meine Frage nicht verstanden. (FU 53)
Aber dennoch muß, auch oder gerade im Netz der Posthistoire, entschieden werden: Die Zukunft erscheint als Ziel, das sich dem geöffneten Blick als notwendig Kommendes und zugleich völlig Neues, noch nicht bestimmt zu denkendes darbietet. Ihr Noch-nicht verlangt trotz allem vom Einzelnen den Entschluß, sie zu wollen. Und eben dies verschafft dem Jetzt den Sinn: Zeit der Entscheidung. 124
Ein Heideggersches Hören allein reicht nicht. Sieben halboffene Türen als sieben Wege im Text auf einmal ergeben den Fleck. Und dann sind sie plötzlich alle wieder zu und die Ordnung ergibt sich durch den Einschluß in das jeweilige Wort, die jeweilige Identität. Wie in "Kalldewey, Farce" suchen alle den "Notausgang", aber jeder Ausgang führt entweder in einen anderen Raum oder in den "Korridor", auf die zugige Grenze, zu den "Passanten". Der Signifikantenkette ist niemals zu entkommen. Denn die Wörter, ihre Immanenz kann nie überwunden werden. "Sieben Türen", untertitelt als Bagatellen, also als un-be-deutende Kleinigkeiten, erörtert das wörtliche "alltägliche[.] Leben" (ST 360), die Kleinigkeiten, die ihre Schwierigkeit mit der Be-Deutung, mit dem Sinn haben. In den "Minuten mit Überlänge" (ST 360), in der Verlängerung der Fragmente, im Versuch, die momentan gespiegelte Einheit in der Fixation als Sinn zu dechiffrieren, werden wieder nur Fragmente, nur kurz beständige Einheiten erzeugt. Die letztgültige Dramaturgie, der Sinn, das Ganze ist nicht direkt zu erkennen.
3.2.4.2. Die Suche nach dem Heraklitischen Ursprung ergibt eine Leerstelle Das Auf und Zu der "Sieben Türen" zeigt das Spiel zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Linie und Fleck. Zwar müßte in irgendeiner Weise [...] also, wer die Weltgeschichte (die Totalität eben) auf den Begriff bringen will, immer auch welttranszendent, dh. Zuschauer - oder Regisseur - des Dramas sein. 125
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Roland Barthes: Über mich selbst, München 1978, S. 103. Kohler: Vom ganz anderen hier. Über die Seßhaftigkeit des Nomaden, a.a.O., S. 169. Kohler: Vom ganz anderen hier. Über die Seßhaftigkeit des Nomaden, a.a.O., S. 168.
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Aber das Spiel des Textes zeigt, daß das wohl nicht geht aufgrund des blinden Fleckes. Die "Sieben Türen" führen nicht in den Himmel, aus den Wörtern hinaus, sondern in die Untätigkeit, da man nie genau weiß, welche Tür, welcher Begriff, welche Perspektive die richtige ist. So treten in "Sieben Türen" Figuren durch eine Tür auf die Bühne, in den Bewußtseinsraum. Aber wer hinter der Maske der eintretenden Figur sich verbirgt, läßt sich nicht klären. Der Dantesche Himmel wäre bei Strauß auch der reale andere, der noch nicht unter den Begriff gebrachte Fremde. Aber im Treiben der Signifikanten, im Werden, ist der andere nur das Spiegelbild des eigenen Textes. Man "scheint" nur in die Nähe des Heraklitischen Ursprungs, des Feuers zu kommen. Strauß schreibt über diese Nähe in "Sieben Türen", über "das große Huschhusch, unser alltägliches Leben", das dann "am Saum des Feuers zu tanzen" (ST 360) scheint, wenn man es, wie der Fotograf in "Schlußchor" fixierend unter den Be-Griff bringen will. Der "Saum" als Rand des "Feuers" wäre die Nähe zum wahren Zentrum, das nach Heraklit das Feuer, der Logos ist. Etymologisch ist "Saum" mit der in "Die Zeit und das Zimmer" zitierten "Säule" verwandt. In den "Minuten mit Überlänge" (ST 360) glaubt man sich manchmal nah am Ursprung, am Zentrum, denn die Überlänge simuliert eine in der Zeit beständige Einheit. Aber wie die aus den Dingen verstoßene "Säule" in "Die Zeit und das Zimmer" ist auch der "Saum" in "Sieben Türen" nicht nahe am Ursprung, sondern täuscht dies nur vor. Der "Vergleich" (ST 360), die Analogie ist keine richtige, denn jede Ana-Logie wäre - über Ana-Logos und dem Heraklitischen "Logos" - dem "Logos" entsprechend. Aber die moderne Analogie entspricht nicht der Kreation durch die Verwandlung durch das Heraklitische Feuer, sondern durch die einheitsstiftende Identität mit dem Text. Da sich der Text aber bewegt, resultiert daraus eine Verfehlung und die Ausgänge erweisen sich nicht als Zugang zur Erkenntnis des Ganzen, sondern nur als kurze Inseln der Ordnung im unendlichen Archiv. So markieren die "Sieben Türen" wie die "Säule" in "Die Zeit und das Zimmer" die Leerstelle, die auf das ganz andere verweist.
3.2.4.3. Die "Sieben Türen" der "Sieben Türen" Der Psychologe George Miller stellt fest, daß im Kurzzeitgedächtnis die Zahl Sieben eine besondere Rolle spielt. Die besondere Bedeutung der "Sieben" fllr unsere Zwecke liegt darin, daß das menschliche Gedächtnis durch diese Zahl gebunden zu sein scheint. [...] Millers Schlußfolgerung ist durch viele Untersuchungen gestützt worden, die die Regel bestätigen, daß die durchschnittliche Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses etwa bei sieben nicht verbundenen Informationseinheiten liegt. Die Einheiten können sich jedoch hinsichtlich ihrer Größe unterscheiden und einige - wie Wörter, die aus Buchstaben bestehen - enthalten tatsächlich mehrere miteinander verbundene Teile. Der Erkenntnis folgend, daß ein neues Konzept zur Beschreibung der Einheiten des Kurzzeitgedächtnisses nötig wurde, verlieh Miller ihnen die Bezeichnung chunks. Chunks unterscheiden sich sowohl nach Größe, als auch nach Komplexität und können bei jedem anders aussehen. 126
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Philip G. Zimbardo: Psychologie, Berlin 1992, S. 276f.
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Diese Einheiten portionieren die Realität individuell in sieben Teile. So sind die "Sieben Türen" für den sich mit Hirnforschung beschäftigenden Strauß auch die Anzahl der Informationseinheiten, die ein Individuum in seinem Kurzzeitgedächtnis, in den "Minuten mit Überlänge", behalten kann. Da jeder seine Chunks individuell ausgestaltet, sind sie abhängig von den Hypothesen, die die Wahrnehmung konstituieren. Was die "Sieben Türen" zeigen werden, bestimmt der Text, der im Individuum kursiert, die Einstellung, die die Wahrnehmungen prägt. So ergibt sich ein kybernetisches Verhältnis zwischen dem Gehirn und der wahrgenommenen Umwelt. Die Hypothesen im Kopf determinieren die Wahrnehmung der Umwelt, wobei die so wahrgenommene Umwelt wiederum die Hypothesen im Kopf beeinflußt. Dieser Kreislauf ist auch am Werk bei der Betrachtung des eigenen Leibes im Spiegel. Der Leib im Spiegel suggeriert eine Einheit, die dem Bewußtsein im Kopf den Zusammenhalt garantiert. Daraufhin ist das Bewußtsein im Kopf als geordnetes in der Lage, die Einheit des Leibes festzustellen usw. Wenn die "Sieben Türen" alle auf einmal aufgehen, dann steht das Subjekt der Gefahr der Auflösung gegenüber. Aber die imaginierte Einheit der eigenen Identität verhindert, daß sich das Individuum völlig verliert. So erhält die imaginierte Einheit des Leibes auch die Ordnung im Park, im Netz des Gehirns und im Bewußtsein des Textes. In "Sieben Türen" erhält der Leibwächter den Parkwächter: Parkwächter: Nun haben Sie die erste Probehalbestunde schon hinter sich! Geschafft! Mein Gott, was filr eine Erleichterung! Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen. Ein anregendes Gespräch ist doch der beste Schutz, den ein Mensch genießen kann ... Sehen Sie: dort! ... Leibwächter: Oh Gott! Was ist das? Ein Ungeheuer ... ein Koloß! Parkwächter: Ja. Ein wirklicher Riese. Sehen Sie nur... Nicht! Nicht schießen! Er geht. Sehen Sie, er geht ganz von allein. Er muß. Seine Zeit ist um. Und er hat mich nicht gekriegt! (ST 381)
Nachdem die "Sieben Türen" wieder zugegangen sind, verschwindet der "Riese" der Auflösung. Das ungleiche Verhältnis zwischen einheitlichem Leib im Außen und Bewußtsein im Innen, zwischen dem Größenverhältnis zwischen der Welt und der Welt im Kopf, gespiegelt in dem unüblichen Arbeitsverhältnis zwischen einem Parkwächter und seinem Angestellten, dem Leibwächter, erhält die Ordnung im Kopf und damit in der Welt. Der Leibwächter als Spiegel des Parkwächters verhindert das haltlose Eingehen in das unendliche Archiv, das zugleich das unendliche Gedächtnis ist. In "Beginnlosigkeit" beschreibt Strauß das Verhältnis zwischen Park- und Leibwächter so: "Es besteht kein Zweifel, daß der Mensch seine Orientierung ebenso im Gesehenwerden wie im Sehen findet." (BL 95) Auf der "Erde", die für Strauß "ein Kopf' ist, befindet sich die ganze Welt als Text im Kopf des Wahrnehmenden. Karl Popper schreibt über eine solche Sicht, die der oft kolportierten Ansicht, der Mensch sei nur ein unwichtiger Kohlenstoffhaufen in einer riesigen materiellen Welt, widerspricht: 'Zwei Dinge', so sagt Kant im 'Beschluß' seiner 'Kritik der Praktischen Vernunft', 'erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Erfurcht ...: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.' 'Der bestirnte Himmel' symbolisiert filr ihn das Problem unseres Wissens vom physikalischen Universum und die Frage nach unserer Stellung darin. 'Das moralische Gesetz' betrifft unsere unsichtbare Seele, unser Ich, die menschliche Persönlichkeit und damit, wie Kant erklärt, die menschliche Freiheit. Das erste macht unsere Bedeutung zunichte: Es läßt die Bedeutung des Menschen als Teil des physikalischen Universums zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Das zweite erhebt dagegen unseren Wert als intelligente und verantwortliche
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Wesen ins Unermeßliche. Ich glaube, Kant hat im wesentlichen Recht. Josef PopperLynkeus drückte es einmal so aus: Immer wenn ein Mensch stirbt, wird ein ganzes Universum zerstört (was man sofort verstehe, wenn man sich mit diesem Menschen identifiziere). Menschliche Wesen sind unersetzlich; und dadurch unterscheiden sie sich deutlich von Maschinen. [...] Sie haben Bewußtsein, sie haben ein Ich, eine Seele. Eine Person ist Zweck, nicht Mittel zum Zweck, wie Kant betont. Diese Auffassung scheint mir mit der materialistischen Lehre unvereinbar zu sein, wonach Menschen Maschinen sind. 127
Bei Strauß ist die Welt im Kopf durch den Text determiniert und dieser Text verweist immer nur auf sich selbst. So irrt das moderne Individuum durch das Labyrinth des Textes in seinem Kopf: Sein Lebtag war er durch die Straßen gewandert, ruhlos, abseits und gehorsam, als wäre ihm aufgegeben, nur ihm allein, ein Labyrinth auszuschreiten, das nur einen Ausgang hat, während alle anderen in Unkenntnis und Gleichmut es bewohnten, da sie alle Durchgänge filr Ausgänge hielten und die unzähligen verschachtelten Bahnen, auf denen sie sich bewegten, ftlr ihre Wege ins Freie. (FU 40)
Und im Netz des sich bewegenden Textes finden und verfehlen zugleich sich die Figuren in "Sieben Türen". Der Versuch, den Herrn des Hauses der Sprache auszumachen, muß scheitern, denn einen "Hausherrn" im traditionellen Sinne gibt es nicht mehr. In einem Netz, in dem immer ein Signifikant auf den anderen verweist, in dem sich alles im Paradox und dem unendlichen Regreß auflöst, wird auch der "Hausherr" ein paradoxes Zentrum sein, das nicht verantwortlich und damit auch kein Zentrum ist. Die Frage nach der Verantwortlichkeit weist immer auf etwas anderes, es befindet sich ein "Haus" im "Haus" im "Haus" etc. Der "Hausherr" wird in "Sieben Türen" mit einem Problem konfrontiert, das mit seiner eigenen paradoxen Stellung als "Herr", den es in einem Netz nicht geben kann, zusammenhängt: "Es geht darum, daß sich in diesem Haus - dem Haus meines Hausherrn - bereits ein anderes Haus befindet." (ST 363) Der unendliche Regreß ist aber nicht zu beseitigen, wenn das Zentrum nach Derrida nicht mehr im Descartesschen Subjekt, sondern im Spiel der Signifikanten zu suchen ist: Der Vorstandsvorsitzende: Es ist Ihnen gelungen, bis in die Chefetage vorzudringen. Aber sie suchen offenbar den großen Unbekannten. Der Mieter: Ich habe meinem Hausherrn etwas zu sagen. Der Vorstandsvorsitzende: Sie wissen so gut wie ich, daß es heutzutage einen persönlichen Hausherrn, wie Sie es nennen, kaum noch gibt. Der Mieter: Ach? Sondern? Der Vorstandsvorsitzende: Es gibt Gesellschaften, Treuhandorgane, Konsortien, Verflechtungen über Verflechtungen. Der Mieter: Hören Sie auf! Das sind die Fantasien eines Wahnsinnigen! Eines Paranoikers! Ich will nichts davon wissen! (ST 362)
Doch reflektiert das Treiben der Sprache nur das Treiben im Kopf. Die nicht linear geschalteten "Nervenbündel" spiegeln sich in der zunehmend netzartiger strukturierten nachmodernen Gesellschaft: Der Mieter: Sie sind das geborene Nervenbündel. Sie sind von Geburt an immer ein Nervenbündel gewesen. Der Vorstandsvorsitzende: Da täuschen Sie sich. Der Mieter: Ich täusche mich ganz gewiß nicht. Der Vorstandsvorsitzende: Wenn sie wüßten, wie viele Entscheidungen ich täglich einschneidend treffe! (ST 365)
Jede Entscheidung ist eine Selektion im Netz, bekommt dieses aber nie unter Kontrolle, so wie es auch im Gehirn kein eigentliches Zentrum gibt. Daher ist jede 127
Karl Popper und John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn, München 1991, S. 21.
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Handlung als komplexitätsreduzierender Akt zwar notwendig, um zu handeln, um zum Akteur zu werden, aber zugleich eine Lüge, so das man den "Sieben Türen" auch durch "einschneidende" Versuche, das "Netz" der Umwelt, die zugleich Innenwelt ist, abzubilden und damit zu repräsentieren, nie entkommt. Das Ganze wird nie darstellbar sein. Die Konstruktion einer Handlung muß in einem Netz etwas selektieren, während sie anderes stehen läßt. Was aber selektiert wird und was stehengelassen, das läßt sich nicht mehr begründen, sondern ist willkürlich. Wer den Grund, den wahren "Hausherrn" sucht, versucht es dann nochmal, mit einer anderen, "verbesserten" Handlung. Aber auch diese Selektion wird ihre Gültigkeit nicht legitimieren können. Und so entsteht das "Haus" im "Haus", so daß der Mieter wiederum den "Hausherrn" sucht, wobei dann ein weiteres "Haus" im "Haus" im "Haus" entsteht. Wie Gödel zeigt, läßt sich eine System nicht aus sich selbst begründen. Watzlawick regt diese Erkenntnis zu seinem Modell des radikalen Konstruktivismus an und der darauf rekurrierende Niklas Luhmann nennt seine umfassenste "Kommunikation" nicht "Die Gesellschaft", sondern "Die Gesellschaft der Gesellschaft". Das Paradox der Wahrnehmung zeigt sich immer dann, wenn die Wahrnehmung versucht, ihre Bedingungen mitzureflektieren. Sie gerät in den unendlichen Regreß und diesen zeigt Strauß in "Sieben Türen" auch als Folge des Versuchs der Selbstbeobachtung der Gesellschaft durch die Medien. In der "Bagatelle" "Heimkehr" (ST 366f.) schildert der "Regisseur", was auf der Bühne und im Fernsehen passiert. Der Regisseur ist die Bühne ist der Fernseher ist der Regisseur etc. Die Gesellschaft erweist sich als unendlicher Regreß vor und im TV-Screen. "Heimkehr" bedeutet nicht mehr die Heimkehr in das "Haus" der dichterischen Sprache (wie sie Peter Handke in seiner "Langsamen Heimkehr" andeutet), sondern das Rotieren in einem selbstreferentiellen System. Damit wird die Aristotelische Kausalität in Frage gestellt. Vernetzung und Rückkoppelung verhindern den Abschluß der Suche nach einer "prima causa". Der Hegeische Ansatz, die Richtung der Geschichte vorbestimmt zu denken, weicht einer evolutionären Sicht der Geschichte. Wenn die Kausalität und der Überblick über die Geschichte nicht mehr möglich sind, dann kann die Handlung überall hin verlaufen. Lorenz, einer der Begründer des chaostheoretischen Denkens, zeigt, daß bereits minimale Änderungen in der Ausgangsposition, die seit Heisenberg sowieso nicht mehr genau bestimmbar ist, große Auswirkungen haben kann. Wohin die Reise gehen wird, ist so prinzipiell nicht vorhersehbar. Auf diese Erkenntnisse reagiert Strauß, indem er die Identität und deren Geschichte, die Figuren und die Handlung so offen zeichnet, daß sie eine Chance haben, glaubwürdig zu sein in einer evolutionären Kultur des Werdens. Denn nur eine offene und komplexe Handlung ist einer offenen und komplexen Umwelt "angemessen": Da in einer komplexen Umgebung alles, was geschieht, in mehr oder weniger gleichem Umfang von allem anderen Geschehen abhängt, kann es keinen Anfang, keine Ursache geben. Diese Erkenntnis bedeutet nicht nur ein notwendiges Umdenken in der Vorstellung von Schuld und Sühne, sondern auch eine andere Dramaturgie der Theaterstücke.
"Angemessen" bedeutet nicht, daß die Handlung die Umwelt repräsentiert, das kann sie sowieso nicht, sondern daß sie einen "angemessenen" Komplexitätsgrad aufweist. Das Individuum benötigt als autopoietisches System im Netz eine Eigen-
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Stabilität, die sich auch in seiner Wahrnehmung spiegelt, eine Reduktion der Komplexität ist überlebenswichtig: Alles ist immer zu allen Zeiten da. Doch wird nur ein Bruchteil aus dem Nebel gehoben, um dessen Anagramm zu bilden, Leben. Ein Schock Wissen zuviel zu einem gegebenen Zeitpunkt könnte uns leicht zerstören. Geschieht also nicht alles zur rechten Zeit? (FU 4 8 )
Dazu muß sich das autopoietische System in einer immer komplexeren Umwelt dadurch stabilisieren, daß es in sich ebenfalls die Komplexität erhöht. Diesen paradoxen Effekt, daß eine Reaktion auf äußere Komplexität durch innere Zunahme an Ordnung erst recht zur Angreifbarkeit des Systems beitragen kann, thematisiert Dirk Baeker: Wenn man möglichst kompliziert an die Sache heranzugehen versucht, hat man schließlich immer mehr Lösungen zur Hand, als sich Probleme stellen. Das heißt, man kann wählen. Und man verfällt, wenn man Glück hat, auf kleine Lösungen, die manchmal mehr bewegen als die großen und die fllr andere immer ein Rätsel bleiben. 1 2 8
Strauß schreibt über den Drang des Menschen nach Vereinfachung: Längst widerlegte Weltanschauungen bilden im Bewußtsein eine ideelle Rücklage und werden in der Sehnsucht des Komplexen nach seiner Andersheit wieder aktiv. Es ist unser Bestreben, die Welt zu begradigen, wo immer wir das Geringste von ihr erkennen. D e m entspricht, daß wir in der Krise immer auf das Einfache zurückgreifen, als läge es der Menschennatur näher als das Komplexe, das letztlich fllr eine überflüssige Verwicklung gehalten wird, obgleich die Flechte mehr Halt verspricht als der stramme Faden. (BL 69f.)
Um der Komplexität der Umwelt mit seinen Handlungen so gerecht zu werden, wie die Menschen der komplexen Umwelt jeden Tag gerecht werden müssen, nähert Strauß die Form seiner Theatertexte einem fraktalen Gleichklang von Fleck und Linie. Es geht vorwärts, obwohl paradoxerweise alles stillsteht: "Wer ist draußen, wer ist drinnen? Wo findet Handlung statt, wo Warten?" (K) Die "Sieben Türen" öffnen sich, nichts geht mehr, und sie schließen sich wieder, und wieder geht nichts mehr. Die Handlung entwickelt sich in "Sieben Türen" wie die Cantorsche Menge, die an das Paradox des Zenon erinnert. Jede "Bagatelle", jeder Versuch, das "Unbedeutende" zu deuten, zu interpretieren, fuhrt zur Verfehlung, deren Erfahrung wieder als Re-Entry in den neuen Interpretationskontext eingeht. Dann versucht es der Lauf der Dinge in der nächsten "Bagatelle" wieder und scheitert wieder und so entwickelt sich die Handlung als "Re-normalisierung" des Unwahrscheinlichen (Luhmann). Das Unwahrscheinliche, den emergenten Moment aufzuhalten, in der man kurz das Fremde des anderen wahrnimmt, das Ganze erahnt, bedeutet in "Sieben Türen" nur, daß sich die "Parkbank", also der Standpunkt im Netz, im "Park", auf dem sich der Mann und die Frau begegnen, zur "langen Bank" wird. Die Bank wird dann mit zunehmender Bewegung des Textes und analoger Belegung des anderen mit Begriffen immer länger und es droht das Spiel der Rückkoppelungen, das Julius in "Die Zeit und das Zimmer" so kommentiert: "So: Nun ist sie wieder weg. Plötzlich. Genaue wie damals. Tempo der Türen. Nichts sonst. Auf zu. Auf zu. Man verklappt Leben. Das war's dann aber auch." (ZZ 151) So versucht man, nach dem emergenten Zwischenfall, dem Versehen des ersten Kontakts, diesen zu erhalten. Man versucht, die Minute zu verlängern. In diesen "Minuten mit Überlän-
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Dirk Baecker: Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin 1994, S. 81.
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ge" (ST 360) erkennt aber jeder den anderen, so daß die paradoxe Verdunkelung durch die Aufklärung via Begriffe nicht aufzuhalten ist: '"Seit ich Sie kenne, beginnen meine Fotos zu dunkeln'. 'Seit ich Sie kenne, ist meine Schrift auf der Flucht'." (NA 168) In der "Bagatelle" "Idole" (ST 394ff.), deren Titel etymologisch auf das "Sehen" verweist, sitzen der Mann und das Mädchen noch auf der "Parkbank". Da der Text aber nicht stillsteht, sitzen der Mann und das Mädchen - nachdem die "Minute" in die Verlängerung, in die "Überlänge" gegangen ist - auf der langen Bank, getrennt von Personen, "z.T. in Theaterkostümen" (ST 396), die sich als weiterer Text, der Theater und Leben in der postmodernen Hochzeit der Ästhetik miteinander vermischt, zwischen sie geschoben haben. Schon am Anfang, in der "Bagatelle" "Idole" sehen sich beide nach der "Ankunft" (siehe die TWA-Tasche) nur als Bild, dann entfernen sie sich aufgrund der "Talking Heads", des ewig sich bewegenden Textes in den Köpfen immer weiter voneinander. Im Kopf des "Ich" als ein "anderer" spiegelt sich die Begegnung mit dem Fremden, sobald der Fremde im Text "gefangen" wurde. So ist der Text-Raum des Selbst auf der Bühne von "Sieben Türen" der "Auto-Salon". In der "Bagatelle" "Autosalon" (ST 369ff.) führt Sokrates' "Ich weiß, daß ich nichts weiß" auf das "Auto", das Selbst rückgekoppelt, zur Entgleitung, zum andauernden Zusammenbruch des "Selbst": Erster Mann: Auf jede unserer Fragen brechen Sie vornüber zusammen. Beide Männer richten ihn auf. Zweiter Mann: Na, was gibt's für Neuigkeiten? Erster Mann: Waren Sie dem Wahnsinn nahe oder wo kommen Sie her? Zweiter Mann: Sind Sie uns nicht gewachsen? Erster Mann: Solche Kunden - philosophisch angehauchte Kunden - sind Ihnen vielleicht ein Greuel. Zweiter Mann: Aber vor einem Auto dieser Preisklasse macht der Sokrates in uns nicht halt. Wir fragen uns ganz allmählich an das Ding - das Objekt heran. Erster Mann: Getragen von der Überzeugung: Es wäre schön, mit diesem Auto eine Lücke zu füllen. Zweiter Mann: Ob es dazu in der Lage ist, kann nur eine Probefahrt mit einem vorher nie zur Probefahrt herangezogenen Exemplar dieser und keiner anderen Klasse erweisen. (ST 370)
Die Suche nach dem Selbst kann aber nicht zum Erfolg fuhren, der "Traumschlitten" (ST 370), das "Selbst", das im sich bewegenden Text verschwindet, kann nicht gesehen werden, wenn es genau betrachtet wird. Sich selbst betrachten aus der Sicht des Selbst kann nur zum Blick in das Loch des unendlichen Regresses werden. Der "Erste Mann" verlangt daher nach etwas Unmöglichem: "Ich habe mir da ein Auto in Form[!] eines komfortablen Selbstverschluckersf!] vorgestellt. Davon ist hier leider nichts zu sehen." (ST 371) Zu sehen ist immer der auf sich selbst rückgekoppelte Text. Nur in den kleinen Zwischenräumen, bevor die Wörter alles verschließen, in der Levinasschen Epiphanie, im Ver-Sehen, ist das Ganze, das ganz andere wahrzunehmen. Im fragmentierten Verlauf der Handlung wird, da fur Strauß die Piatons das Wahrscheinliche und Christus das Unwahrscheinliche ist, Christus als das Unwahrscheinliche, als die Öffnung, "renormalisiert". Die platonische Idee und damit auch die euklidische Geometrie ist analog der linearen Handlung, in der das ganz andere als das Unwahrscheinliche in der Emergenz einbricht. Kurz ist das Ganze zu ahnen, bevor der Be-Griff das ganz andere wieder mit Wörtern einzusperren versucht, worauf das ganz andere nicht mehr zu sehen ist. So verschwindet das Göttliche im Versuch, es in die Immanenz zu holen, aber die Geschichte und die Handlung bewegt sich von Attraktor zu Attraktor weiter. Und so muß in der nächsten "Bagatelle" wieder versucht werden, das ganz andere ein-
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zuholen. Daher gelingt v o n "Bagatelle" zu "Bagatelle" immer nur die kurze Ö f f nung als V e r w e i s auf das g a n z andere. D a s Ganze ist nie darstellbar. In dieser Einsicht läßt Strauß die Erkenntnisse d e s Neostrukturalismus, der Chaostheorie der Fraktale und der Luhmannschen Systemtheorie koinzidieren und zeigt, daß ihre Erkenntnisse einen g e m e i n s a m e n Kern haben. Strauß' Handlungen spiegeln nichtlineare N e t z e . U n d so ergeben sich die Ü b e r g ä n g e z w i s c h e n den Szenen, d e n "Bagatellen", in "Sieben Türen" als Verwandlungen, die angeregt werden durch das Unwahrscheinliche, durch die Verfehlung, durch das kurze Aufblitzen der Emergenz, b e v o r der B e g r i f f zuschlägt: Er selbst hatte sich nie gefragt, nie fragen können, ob er an die christlichen Wunder glaube (zur Frage fehlte ihm die Einfalt des Vorbehalts). Er hatte sie stets ftlr das Anschwellen im Strom der großen Verwandlung gehalten, ja, für Verwandlungen eben. Und da er sich auch nicht fragen konnte, ob er einer Musik, die ihn bereits davontrug, traue oder nicht, kam er nie dazu, die christlichen Verwandlungen in Zweifel zu ziehen. (BL 46) D i e platonischen Ideen und der euklidische R a u m sind erst die geordnete, unter d e n B e g r i f f gebrachte Welt, die sich aber sofort als eine Lüge, als eine V e r f e h l u n g erweist. D a b e i spiegeln die nichtlinearen Handlungsverläufe Strauß' das nichtlineare Gehirn wieder. Prigogine sagt dazu: Es ist wohlbekannt, daß das Herz im Prinzip regelmäßig schlagen muß, weil wir sonst stürben. Das Hirn aber muß im Prinzip unregelmäßig arbeiten, sonst würden wir epileptisch. Dies zeigt, daß Unregelmäßigkeit, Chaos, zu komplexen Systemen führt. Das bedeutet nicht etwa Unordnung, im Gegenteil, ich würde sagen, gerade das Chaos macht das Leben und die Intelligenz möglich. Das Gehirn ist im Verlauf des Selektionsprozesses so instabil geworden, daß die kleinste Einwirkung zum Entstehen von Ordnung fuhren kann. 129 Ein der H a n d l u n g v o n "Sieben Türen" adäquates M o d e l l d e s nichtlinearen Gehirns, das Strauß in "Beginnlosigkeit" ( B L 6 9 ) zitiert, ist das der S y s t e m w i s s e n s c h a f t l e r William Gray und Paul LaVioIette: Nach ihrem Vorschlag beginnt das Denken als ein hochkomplexes, j a chaotisches Bündel von Empfindungen, Nuancen und 'Gefühlstönen', die vom limbischen System aus durch den Kortex kreisen. In diesem Rückkoppelungskreis wählt die Gehirnrinde einige dieser Gefühlstöne aus oder 'abstrahiert' von ihnen. Diese Abstraktionen werden dann in die Schleife zurückgeschickt. Der fortgesetzte Abstraktionsprozeß führt zur nichtlinearen Verstärkung einiger Nuancen, die dadurch zu Gedanken oder Emotionen werden, die nun ihrerseits wieder die komplexen Bündel nuancenreicher Empfindungen und Gefühle organisieren. 'Gedanken sind Stereotype oder Vereinfachungen von Gefühlstönen', sagt LaVioIette. 'Sie sind wie Karikaturen der Wirklichkeit.' Nach diesem Modell verbinden sich die abstrahierten Gedanken oder Emotionen miteinander zu größeren Strukturen, bis diese 'organisatorisch abgeschlossen' sind. Die organisatorische Abgeschlossenheit bedeutet dabei, daß der Reichtum an Nuancen durch Gedanken oder Emotionen zusammengefaßt (vereinfacht) worden ist, die ein Gefühl der Abgeschlossenheit erwecken. Fast alles an unseren Meinungen und an unserem Wissen ist organisatorisch abgeschlossen. Wir haben aufgehört, den vielen Gefühlstönen noch viel Aufmerksamkeit zu schenken, die mit unseren gewohnten Gedanken oder den Nuancen unserer emotionalen Vorlieben und Abneigungen zu tun haben. Doch unterhalb jedes Gedankens oder jeder einfachen Emotion liegen Schichten von Empfindungen und Gefühlen, die weiterhin in den Rückkoppelungsschleifen des Gehirns zirkulieren. Und wegen des weiteren Umlaufens dieser Nuancen
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Briggs und Peat: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaostheorie, a.a.O., S. 251 f.
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bleibt die Möglichkeit, daß in einer chaotischen oder besonders aufgeladenen Situation eine andere Nuance abstrahiert und verstärkt wird, so daß diese nun der organisierende Gedanke wird. Dadurch können sich organisatorisch abgeschlossene Gedanken und emotionale Reaktionen gelegentlich doch ändern.130
Die Riickkoppelungen des Gehirns sind analog den Rückkoppelungen im großen Archiv. Und die Interpretationen der Interpretationen halten die Straußsche Handlung und im "Werk" die Wirklichkeit zusammen. So ist die Poesie, die aus dem großen Archiv schöpft, die Form, die Strauß als Zentrum setzt: Allein die Poesie hält die Verknüpfung, welche selbst der 'komplexen Vernetzung' an Dichte Uberlegen ist. Die poetische Vernunft ist die Führerin des Wissens, das sich selbst erforschen will. (FU 49)
Dabei ist die Selbstähnlichkeit, die fraktale Welt, die Welt der Rückkoppelungen, eine Welt, die den Mystiker auf das ganz andere verweisen läßt. Heinrich Seuse sieht den "aidos kyklos" der kreatürlichen Welt als mystischen Weg der Seele. Der Ring der Gottheit wiederholt sich in kleiner Form im Engel und in der menschlichen Seele: Er ist das Analogon des göttlichen Seins in der vernunftbegabten kreatürlichen Welt. 131
Der Verweis auf das ganz andere ist die positive Seite, die negative ist die Gefahr, daß die Rückkoppelungen das Abgleiten des "Ichs" in das Nichts fördern, wenn der Halt durch den anderen, durch die Gemeinschaft fehlt. Der anhaltende Blick nach innen ist der Blick ins Nichts des unendlichen Regresses. In der "Bagatelle" "Der Selbstmörder und das Nichts" (ST 383ff.) ergibt sich eine "unendlich durchschnittliche Begegnung" (ST 384). Immer wieder wird wie in einem Fraktal der Versuch des Durch-Schnitts, des Schnitts gemacht. Jedesmal steht man dabei wieder vor den "Sieben Türen", worauf diese Form der Verfehlung wieder im Re-Entry in sich selbst eingeführt wird usw. Im unendlichen Traum der Moderne betrachtet der "Selbstmörder" als "Mörder" des "Selbst" seine eigenen Träume. Als postmoderner Faust will er alles wissen und sucht sein Selbst in dem sich bewegenden Text seiner Träume, worauf er sein Selbst auflöst und vor dem "Nichts" steht. Da er wie der "Parkwächter" keinen "Leibwächter" hat, entleibt er sich durch die radikale Innenschau und verschwindet im Nichts. Er hat eine Anlage entwickelt, mit der man die Träume des Menschen, seine tiefsten Abgründe hätte aufzeichnen können, sichtbar auf dem Videoschirm, speichern, sammeln, wieder abspielen, wie jeden beliebigen Film. Das geht dir wohl über den Verstand? Über den meinen ging es auch ... (ST 385)
In dem Moment, als der "Selbstmörder" einen "Adapter" benutzt, schließt er den Traum mit dem Traum der allgemeinen Kultur, den sich bewegenden Text mit dem sich bewegenden Text kurz: Selbstmörder: Du quälst mich! Ich versuche dir einen Begriff davon zu geben, was ein forschender, denkender Mensch vollbringen kann, an welch fürchterliche Grenze ein vom
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Briggs und Peat: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaostheorie, a.a.O., S. 257f. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Dritter Band. Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München: Beck, 1996. S. 464f.
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Forschungsdrang beseeltes Individuum stößt und weshalb es dann unter unglücklichen Umständen zu jener Tat kommen muß, die ich schließlich zu tun bereit war. Ich versuche dir einen Begriff davon zu geben, daß ich in dem Augenblick, als ich vor meinem Gerät, dem Traumadapter, kurz vor seiner Vollendung stand, daß ich in diesem Augenblick der einsamste Mensch auf der ganzen Erde war. (ST 385) Die Erkenntnis, daß jeder Text nur wieder auf Text verweist, läßt Strauß w i e Paz sein "Labyrinth der Einsamkeit", die Immanenz wahrnehmen. Der W e g des Mystikers ist, wenn der "Aufstieg" zum ganz anderen nicht gelingt, der W e g in die radikale Immanenz, in das Nichts: Selbstmörder: [...] Du mußt wissen, daß es mir schließlich im Selbstversuch gelang, sämtliche Traumphasen einer Nacht lückenlos aufzuzeichnen. Ich habe mir die Schlacht am nächsten Morgen angesehen. Mein Freund! Fünf Stunden später war alles vorbei. Aus, zerstört, gelöscht, vernichtet: alles, was die geistig-technische Entwicklung dieser Teufelsmaschine ermöglicht hatte: Software, Hardware und, um ganz sicher zu gehen, die eigene Existenz. Keine Spur mehr unter den Menschen von meinem Traum. (ST 386) Alles verschlingt sich selbst so gründlich, daß nicht mal mehr eine FreudscheDerridasche "Spur" im Text v o m Unbewußten übrig bleibt, nur die Wörter allein: Das Nichts: Du polterst immer noch deine Empörung gegen den Himmel. Du brauchst nicht mehr nach oben zu gucken. Hier gibt's nur mich. Nichts davor und nichts dahinter. Nichts drüber, nichts drunter. Auch hier kommt niemand mit dem Kopf durch die Wand. Der einzige Unterschied ist der, daß man es hier unendlich viele Male versuchen kann, während drüben - . (ST 386) Die "Hölle" zeigt sich für Strauß im unendlichen Geschwätz im unendlichen Text, das immer nur in sich selbst rückgekoppelt ist: Das Nichts: Tja. Was gibt es hier sonst? ... Ich meine, es gibt hier im Prinzip nichts anderes, als sich ein bißchen zu unterhalten. Essen, Schlafen, Träumen - fällt alles weg. Was soll man groß tun? Man redet eben miteinander. Ist j a nicht das Schlimmste. Selbstmörder: Die Hölle ist es! Die Hölle! Das Nichts: Natürlich, natürlich. (ST 386f.) Das ununterbrochene "Sehen", der "Augen-Blick", die unendliche Theorie korrespondiert mit dem unendlichen Reden: Selbstmörder: Und du wirst mich keinen Augenblick allein lassen? Das Nichts: Das kann ich nicht. Das gibt mein Naturell nicht her. Selbstmörder: Also reden wir. Reden wir und reden. Reden wir bis zum Gehtnichtmehr. Das Nichts: Gibst's hier nicht. (ST 387) So hofft Strauß in der Immanenz der Wörter auf die kurze Öffnung durch den "Fehler des Kopisten", um dem Nichts, das den N i h i l i s m u s Nietzsches bis ins Unendliche spiegelt, zu entgehen.
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4. 1989-1997: Glaube und Wissen Ohne die Unordnung des Lesens gibt es keinen Dichter. (Elias Canetti, Aufzeichnungen 1942-1985) Gleich mit jedem Regengusse/ Ändert sich dein holdes Tal,/ Ach, und in demselben Flusse/ Schwimmst du nicht zum zweitenmal. (Johann Wolfgang von Goethe, Dauer im Wechsel) Klüger als Piaton ist nie ein späterer Mensch geworden. Auch bei reichster Entfaltung von künstlicher Intelligenz wird das menschliche Denken nie Wissenswerteres erkunden, als seine Dialoge es taten. Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts. Einen tieferen Glauben als den christlichen kann auch heute kein Mensch erlangen. (Botho Strauß, Die Fehler des Kopisten) Heraklit und die Logos-Stiftung der Sprache Bis zum Text Mallarmös verblieb "jede Geisteshaltung [...] im Vertrauen auf die Logos-Stiftung der Sprache." (AW 316) Diese Stiftung durch den "Logos" am Ursprung umfaßt für Strauß das Ganze, das sich mit zunehmender Entfernung vom Ursprung differenziert und als Bewegung im Sein artikuliert. Der Ursprung ist in einem Archiv, das alle Zeiten und Räume enthält, nicht mehr am Anfang oder vor einer historischen Zeit zu situieren, sondern überall und nirgends. Der Dichter und das Kunstwerk sind für Strauß nahe am Ursprung: Jedes Kunstwerk tritt [...] absolut unerwartet in die Welt. Sobald er uns einleuchtet, so ein Gedanke, ist er in Relation zu seinem Entstehungssprung bereits ein 'spätes Produkt'. Sein Eintritt durch plötzliche Verengung des Unsagbaren. Der Erfahrene sucht die Mitte des Schleudergrunds, das Auge des Wirbels (in dem sich alles für Bruchteile von Sekunden klärt), der Ungeübte trägt Abgeschleudertes hinaus. (BL 18) Die Aufgabe des Dichters ist für Strauß, das nietzscheanische Treiben der Signifikanten so zu unterbrechen, daß der Ursprung der Wörter wieder erahnbar wird: Der Poet wird die Metaphern einer entzückten Nüchternheit nicht noch einmal Ubertragen. Er, der Verbinder der Zeiten, der hoch integrierte Archivar, [...] die enorme Hälfte, zur Ergänzung klaffend, bis beide, Wissen und Schauen mit ihren offenen Enden sich berühren, der Poet, der Ergänzer der technischen Metapher, von dieser selbst auf den Plan gerufen, um sie zu brechen, zu öffnen, wieder einschweigbar zu machen und den Geist vor eine abrupte, unergründliche Schönheit zurückzuführen. (FU 47) Im unendlichen Archiv gehen für Strauß Schöpfung und Erhaltung, Fleck und Linie ineinander über. So sind die Statik in der Bewegung und die Bewegung in der Statik eins. Diese paradoxe Weltsicht beschreibt Böhringer anschaulich in Bezug auf die Architektur: Es gibt also zwei Ströme, das Diluvium der Zerstreuung, Zerstückelung und Auflösung in endlos viele Einzelteile - in diesem Strom gibt es keinen Anfang und kein Ende ohne Willkür und Gewalt, auf diesem Strom treibt die Arche als politische und theologische Notarchitektur und lebensrettender Kasten - , und es gibt den Strom des ununterbrochenen
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Anfangs ohne Ende, des immer überquellenden Neuen, Frischen und Erfrischenden, in dem jederzeit alles in allem enthalten ist. Gegen diesen Strom braucht man keinen Schutz. Im Gegenteil: Wand und Gewand behindern nur den direkten belebenden Kontakt. Dieser Strom ist selbst Architektur, zeichenhaft repräsentiert in der Brunnen und Gartenarchitektur.1
So geht es Strauß um die Schaffung einer Form in der komplexen Umwelt, was zwangsläufig eine Selektion bedeutet, und zugleich, um der "Lüge" zu entgehen, um das Aufbrechen der zu eindeutigen, zu erstarrten Formen, die im unendlichen, komplexen Archiv treiben. Dieses Bestreben, im Chaos das Feste zu suchen, und, nach dem "Durchgang durch den Spiegel", im Festen das Chaos zu suchen, ist sowohl in der Chaostheorie als auch bei Heraklit als Vorstellungswelt zu finden. Aber auch der Neostrukturalismus denkt ähnlich wie Heraklit, wenn, wie bei Derrida, das Spiel das Zentrum ist. Denn hier zeigt sich eine Dauer im Wechsel, indem jede Bedeutungszuweisung von der nächsten abgelöst wird, da sie im Moment der Aktualisierung zur "Lüge" wird. Und mit dem Diktum der Luhmannschen Systemtheorie, daß jede Differenzierung zwischen System und Umwelt auch anders hätte stattfinden können, wird jeder Beobachtungsrahmen wie die Derridasche Bedeutungszuweisung zu einer "Lüge", wenn sie sich als "Wahrheit" verkauft. Diese paradoxe Situation läßt sich mit einem veränderten nachmodernen Blick und damit veränderten Interpretationskontext auch in den Heiligen Texten finden: Der Baum der Erkenntnis ist zugleich der Grund für die Vertreibung aus dem Paradies. Kain als Seßhafter, der den Hirten Abel, den Nomaden umbringt, wird zur Strafe verurteilt, flüchtig und unstet zu sein auf Erden. Die Gewalt, die der Seßhafte, der die Ordnung erzwingen will, anwendet, trifft den Täter selbst, er wird zu der Bewegung gezwungen, die sein nomadischer Bruder ausgeführt hat. Die Kritik Poppers an Piaton, daß dessen Denken mit schuld sei an den Verbrechen der totalitären Systeme, hat hier einen Vorläufer. Der Turmbau zu Babel scheitert als Versuch, zu Gott als dem Ganzen zu gelangen. Um so höher der Turm und ambitionierter der Versuch der Menschen, der Immanenz zu entkommen und Gott als das Ganze zu erreichen, umso differenzierter wird die Sprache und damit die Welt. Alle diese Versuche der Menschen, mittels begrifflicher Fixierung das Ganze zu erkennen und in eine begriffliche Ordnung zu zwingen, die Bestand hat, werden vereitelt. So ist die Erkenntnis der modernen Systemtheorie, daß sich Systeme nicht dadurch in der Komplexität und im Chaos halten, indem sie erstarren, sondern indem sie sich als kybernetisches und autopoietisches System immer wieder an ihre Umwelt anpassen und sich so darin stabilisieren, nichts Neues. Bereits einer der Begründer des abendländischen Denkens, Heraklit, sieht im Wandel die Wahrheit. Martin Heidegger beschäftigt sich aus diesem Grund mit den Vorsokratikern, Emmanuel Levinas macht das Sokratische Denken sogar verantwortlich für die totalitären Systeme und deren Gewalttaten, denen immer begriffliche Übergriffe auf den eigentlich fremden anderen vorausgehen. Damit denkt bereits Heraklit eine Philosophie des Werdens, die heute aufgrund eines Paradigmenwechsels nicht nur in der Intelligenz, sondern auch in der Wirtschaft und der Gesellschaft allgemein immer populärer wird, man denke nur an die Abkehr vom Taylorismus, dessen Unmenschlichkeit nun erkannt wird, nachdem er sich als unproduktiv erwiesen hat, und den Abbau der Hierarchi-
Vgl. Böhringen Arche, verschollen. Ein Artikel Architektur, a.a.O., S. 14.
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en in den Unternehmen, die sich mit einer verkrusteten Struktur als System in einem immer komplexer werdenden Markt nicht mehr stabilisieren können und daher ihre Innenkomplexität erhöhen und den Kontakt zur Umwelt verstärken müssen. Initiiert und beschleunigt wird dieser Paradigmenwechsel durch die Computerisierung und Vernetzung der Welt, ganz allgemein durch die fortschreitende Substitution der materiellen Güter durch Information. Für Heraklit ist der Fluß aller Dinge das Ergebnis der prinzipiellen Gegensätzlichkeit in der Welt. Ein Gleichgewichtszustand konventioneller Art kann in Permanenz nie erreicht werden, da immer wieder opponierende Positionen aufeinander stoßen. Und so bezeichnet Heraklit den Krieg als "Vater aller Dinge, aller Dinge König". 2 Dabei sind für Heraklit der wirkliche Krieg und die Auseinandersetzung in der Gesellschaft besondere Fälle des allgemeinen Prinzips. Innerhalb des sozialen Bereichs hält Heraklit den Konflikt für notwendig, Stagnation sieht er als negativ an. Das Feuer ist für ihn als die Umwandlung aller Dinge ein vernünftiges Feuer, Strauß benutzt es in seinen Theatertexten an einigen Stellen als Symbol. Die Vernunft ist bei Heraklit der "Logos", der das Widerstreitende in der Welt zur Einheit bindet und das Denken der vernünftigen Menschen verbindet. Während die Beobachtung zur Vielwisserei führt, enthüllt die Einsicht, die verborgen ist, die Wirklichkeit, die unsichtbare Harmonie ist mächtiger als die sichtbare. Die Einsicht ist nur dann möglich, wenn die individuelle Vernunft mit dem "Logos" in Einklang ist. Nach Wolfgang Röd - hier würde Strauß ihm zustimmen - ist die Ansicht Hegels, die auch heute noch verbreitet ist, daß Heraklit der Wegbereiter des dialektischen Denkens sei, nicht ganz richtig: Tatsächlich wird man [...] Heraklit weder eine Auffassung zuschreiben dürfen, die die Aufhebung des Widerspruchsprinzips nach sich zieht, noch wird man ihn zum Ahnherrn der dialektischen These machen können, der zufolge die werdende Wirklichkeit selbst 'widerspruchsvoll' ist.3
Heraklit sieht den "Logos" als religiösen Ursprung: "Der Logos als das Eine Weise ist göttlich und kann, wenn man nicht an den allzumenschlichen Olympier denkt, auch Zeus genannt werden."4 Strauß wird in "Ithaka" "Zeus" als "Logos", als heilende Kraft am Ende auf der Bühne erscheinen lassen. Von Heraklit übernimmt Piaton die Einsicht, daß alle wahrnehmbaren Dinge der Veränderung unterworfen sind. Ein zeitlos gültiges Wissen ist also nicht über die Dinge, sondern nur aufgrund der Ideen zu erlangen, an denen die Dinge teilhaben sollten. Die Bestimmung der Teilhabe wird von Piaton nicht unternommen, so daß Aristoteles diese Lücke dadurch füllen muß, daß er das Allgemeine als das Wesen der Dinge selbst annimmt, das in den Dingen als Möglichkeit angelegt ist und sich in der Entwicklung der Dinge allmählich verwirklicht. Nicht wie bei Piaton mathematische Strukturen, sondern aufgrund der Wahrnehmung der Dinge durch Abstraktion erzeugte Strukturen konstituieren das Wesen der Dinge. Die Entelechie Aristoteles', die Ansicht, in allen Dingen sei eine Form bereits von Anfang an vorhanden, wird zwar einerseits heute als unmodern angesehen. Ande1
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Vgl. zu Heraklit, Piaton und Aristoteles: Wolfgang Röd: Kleine Geschichte der antiken Philosophie, München 1998, S. 39ff. Röd: Kleine Geschichte der antiken Philosophie, a.a.O., S. 45. Röd: Kleine Geschichte der antiken Philosophie, a.a.O., S. 45f.
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rerseits zeigt sie sich in der Moderne in der Evolutionstheorie und in der Hegelschen Dialektik. Und so ist die Aristotelische Entelechie ein geeigneter Vor-Text für die Wahrnehmung der Immanenz des Menschen: er sieht sich eingeschlossen in die Grenzen der Möglichkeiten seiner Gene und in den Weg, den das Utopie-Ziel des Fortschritts als Leitkoordinate vorgibt. 5 Auch wenn das Ziel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für einige nicht mehr klar ist, bleibt die Wahrnehmung der Immanenz der symbolischen Ordnung.
Mystik, Gnostik - Immanenz, Weltinnenraum Die Wahrnehmung der Immanenz, des Weltinnenraums als abgeschlossenen läßt Strauß über einen "Ausweg" philosophieren. Da der Heraklitische Ursprung immer vor dem bedeutungstragenden Wort liegt, das Wort also nur als Spur, als Hinweis auf etwas anderes, das selbst nicht darstellbar ist, funktionieren kann, befindet sich auch der Dichter Strauß in der Situation des Mystikers, der von seinem religiösen Erleben nie ganz und richtig erzählen kann, da das Wort das ganzheitliche Erleben differenziert, so daß die Ganzheit zerstört wird. Und da die Identität und die Umwelt sich erst durch den differenzierenden Text konstituiert, ist der Ursprung als das Göttliche immer außerhalb der Welt als Text, so daß Strauß die Vorstellungswelt eines Gnostikers nicht fremd ist. Für diesen ist die gegenwärtig existierende Welt das Produkt eines bösen oder unfähigen Demiurgen, in die die Seele des Menschen als fremde von anderswo hineingeraten ist. Solche gnostischen Welterklärungen, in denen das Positive nur aus einem vom Dasein Verschiedenen, einem ganz anderen, kommen kann, haben ihre geschichtliche Hochzeit, bevor sie der christlich-augustinischen Heilserwartung weichen müssen, deren Säkularisate die neuzeitliche Geschichtsphilosophie und die modernen Utopien sind. 6 Eine Renaissance gnostischer Lehren in der Gegenwart bietet für viele eine Antwort auf die Probleme in der Nachmoderne. Welcher Unterschied besteht nun zwischen der Gnosis und der christlich-augustinischen Heilserwartung? Die letzten vier Bücher des "Civitas Dei" von Augustinus 7 enthalten dessen Eschatologie. Vereinfachend auf den Punkt gebracht ist die Botschaft an das gegenwärtige Subjekt: Nur in der Hoffnung auf ein "himmlisches" Jenseits kann das Elend des diesseitigen Lebens ertragen werden. Das Hier und Jetzt funktioniert nur als Durchgangsstation zur jenseitigen Erlösung. So ergeht die Forderung an den Menschen, sein Leben auf die Zukunft, die allemal eine bessere sein wird, auszurichten. Jedoch: Der Zukunftsglaube schmälert die Wahrnehmung der Gegenwart in ihrer Gegenwärtigkeit. Die Grundannahmen der Onto-Theologie verdecken die abgründige Koinzidenz: Sein=Nichts, das Mysterium der Immanenz."
Als Konsequenz ergibt sich die Negation einer absolut eigenständigen Gegenwart, eine Verschiebung der Verantwortung für das Negative in der Welt von einem für 5 6
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Peter Strasser: Die Kunst des Blitzstrahls, in: Herbstschrift 1/91, Graz, S. 1 Iff. Vgl. zur Geschichte der Gnostik zwischen Antike und Nachmoderne. Kohler: V o m ganz anderen; hier. Über die Seßhaftigkeit des Nomaden, a.a.O. Augustinus: V o m Gottesstaat, Zürich 1955. Kohler: V o m ganz anderen; hier. Über die Seßhaftigkeit des Nomaden, a.a.O., S. 176.
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die fehlerhafte Schöpfung haftbar zu machenden Demiurgen auf den erbsündebelasteten Menschen, und die Verminderung der Potentialität des Menschen, seine Situation aufgrund von theoretischer oder praktischer Vernunft in der Gegenwart zu bessern. Letzteres ändert sich mit dem Beginn der Neuzeit, in welcher sich der Mensch zum Mittelpunkt erklärt und mit der ihm nun zugefallenen Verantwortung das Menschenmögliche zu verwirklichen sucht. Dabei wird der Glaube an die Geschichte beibehalten: Die Neuzeit ist zunächst zwar die Epoche der Selbstbehauptung gegen das christlichaugustinische Mittelalter, aber sie ist ebenso dessen Erbe und säkulare Wiederholung. Insofern nämlich als sie an der zur Geschichtsphilosophie mutierten Heilstheologie festhält.'
In den folgenden Utopien der Neuzeit, seien es Morus' "Insel Utopia", Bacons "Nova Atlantis", Marx' "Verein freier Menschen" oder Blochs "Heimat", ist der Egoismus des einzelnen aufgelöst in der realisierten Idee einer besseren Gesellschaft in der auf die Gegenwart folgenden Zukunft. Während Augustinus seine Utopie noch im ganz anderen, im Jenseits, verortet, ist in der Neuzeit eine bessere Welt bereits im Diesseits zu erhoffen. Die Versuche in der Moderne, die Utopie mit der Kraft der Vernunft zu verwirklichen, rufen als unerwünschte Nebenwirkung die bekannten Barbareien des 20. Jahrhunderts hervor. Mit der Diskreditierung der Utopien und Fortschrittsideologien im Versuch ihrer Realisation verliert die Geschichte ihr Zugpferd. Der archimedische Punkt der wahren Übersicht, welche jeden Begriff von Vernunft legitimiert, verschwindet, und damit auch jedes Konzept von Geschichte. In der nachmodernen Gesellschaft verliert das Futur seine dominante Stellung an das Präsens. So reduziert sich das Denken der Gegenwart auf den abgeschlossenen Raum einer durch Eschatologie nicht mehr durchbrechbaren Immanenz. In dieser Situation sieht auch Strauß das menschliche Subjekt, seine Vorstellungen über die Welt korrespondieren mit der Vorstellung einer Renaissance von gnostischen Paradigmen. Ein Gott als begreifbare Vorstellung steht dem Menschen nicht mehr zur schnellen Verfügung, denn dieser befindet sich außerhalb des Wortes, der Gedanken und Ideen und damit der Welt: Gott ist Gott. Und kein Gedanke. Die endlosen metaphorischen Versuche, das Numinose einzuberaumen in unsere Sprache, grenzen ans Lächerliche oder an Asebie. ER gehört nicht in einen paradoxen Gedanken hinein. ER wäre dort ein Wörtchen bloß. [...] Und dies sind die geheimen Blasphemien selbst der ehrwürdigsten Kirchenväter! (BL 45)
Ohne eine begreifbare Vorstellung eines Gottes, des ganz anderen, gibt es keinen Ausgang aus dem Gefängnis der Wörter. Strauß schildert die Immanenz des Subjekts so: Sein Lebtag war er durch die Straßen gewandert, ruhlos, abseits und gehorsam, als wäre ihm aufgegeben, nur ihm allein, ein Labyrinth auszuschreiten, das nur einen Ausgang hat, während alle anderen in Unkenntnis und Gleichmut es bewohnten, da sie alle Durchgänge für Ausgänge hielten und die unzähligen verschachtelten Bahnen, auf denen sie sich bewegten, für ihre Wege ins Freie. (FU 40)
Diese unüberbrückbare Kluft zwischen dem Hier und dem ganz anderen erinnert an Heideggers "ontologische Differenz" zwischen dem Seienden und dem "vorausei9
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Köhler: Vom ganz anderen; hier. Über die Seßhaftigkeit des Nomaden, a.a.O., S. 177.
lenden" Sein, welche als Modell des Menschen in der Gegenwart gelten kann. Das Sein ist kein Seiendes, es ist nichts und doch prägend: in der Immanenz des Seins. So bleibt dem Subjekt nur noch der "Reklusiasmus" (BL 11) und das Mystische. "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische." 10 Und: "Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.'" 1 Gerade in der Unbeweisbarkeit Gottes liegt der Hinweis seiner Existenz. Paul Valöry, dessen Versuche, einen Atheismus zu legitimieren, Strauß als "philosophische^] Spitzfindigkeit" und "unruhige[s] Auf- und Abtrippeln[.] vor einer versperrten Beweisführung" beurteilt, wird in seinem Scheitern zum Gewährsmann für die Existenz des ganz anderen: Vom Absoluten gleitet der Scharfsinn ab wie die Messerspitze auf der Glaskugel. [...] Was der wagemutigste und sicherste Denker so unbeholfen verfehlt, das muß anwesend sein, das muß es geben. (BL 46) Analog dem gnostischen Paradigma läßt das mythisch-kreisförmige Treiben der Wörter als absolute Immanenz das ganz andere vermuten, jedoch nicht am Ende des Lebens oder der Geschichte, sondern gegenwärtig. Denn eine Grenze zum ganz anderen in der Zukunft kann nur unter der Bedingung einer linearen Zeitvorstellung angenommen werden. In einer Zeit ohne Beginn und Zukunft bleibt allein noch Raum im Gegenwärtigen. Strauß läßt sein Alter Ego in Beginnlosigkeit philosophieren: Wenn er das Wort G o t t schreiben wollte, rundete sich gegen seinen kräftigsten Widerstand das anfängliche G zum Ο und entließ die Hand und den Stift nicht mehr; und sie kreisten darin, bis sein Kopf, plump vor Müdigkeit, vornüber auf den Tisch sank. (BL 105) Diese Immanenz ist in Strauß' Stücken nicht nur inhaltlich zu diagnostizieren, sondern auch formal. In Hans-Peter Bayerdörfers Aufsatz "Raumproportionen" 12 zeigt die Analyse des Bühnenraums eine Abgeschlossenheit, die auf ein nicht erreichbares anderes verweist: Es ist ein Innen, das nicht nur im entscheidenden Moment surreale Raumqualität annimmt und in das surreale Gestalten einbrechen wie in 'Bekannte Gesichter' und in der Farce [Kalldewey], sondern das auch insgesamt Schwellencharakter, Übergangscharakter aufweist, ohne daß ein Übergang in ein Außen möglich wäre. Dieselbe Symbolqualität eignet auch der Stationenfolge, in welcher sich Innen- und Außenräume als gleichermaßen 'unbewohnbar' erweisen, da sie nur als Durchgangsstationen auf ein nicht erreichbares Anderes präsentiert erscheinen. Unter Berücksichtigung der gnostischen Vorstellungswelt des Autors kann das andere auch als das Numinose interpretiert werden. Das Geschehen im Weltinnenraum ist sowohl aus heraklitischer, als auch aus gnostischer Sicht immer durch den Widerspruch geprägt. Da in der gnostischen Hochzeit des zweiten Jahrhunderts nach Christus genau wie in der nachmodernen Gesellschaft viele Wahrheiten parallel existieren, gilt nicht mehr das logische Prinzip 10 11 12
Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., S. 115. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., S. 114. Hans-Peter Bayerdörfer: Raumproportionen. Versuch einer gattungsgeschichtlichen Spurensicherung in der Dramatik von Botho Strauß, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 1983, Heft 16, S. 31-68, hier: S. 66.
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des ausgeschlossenen Dritten, einander Widersprechendes ist zugelassen. "Wenn die Bücher nun aber die Wahrheit sagen, auch wo sie einander widersprechen, dann ist jedes ihrer Worte eine Anspielung, eine Allegorie."13 Die wahre Botschaft ist daher nicht in den Bedeutungen der Wörter zu finden, sondern konstituiert sich als "Offenbarung" jenseits des Textes. Somit erschließt sich der Sinn nicht direkt, sondern bleibt als tiefe Weisheit eine geheime Weisheit. Die Wahrheit wird mit dem gleichgesetzt, was nicht gesagt wird oder was auf dunkle Weise gesagt wird, liegt also jenseits der Wörter, des Scheins: "Die Götter sprechen [heute würden wir sagen: das Sein spricht] durch hieroglyphische und enigmatische Botschaften.'" 4 Andererseits betont Strauß das "Zusammenwirken" der im Archiv treibenden Texte mit dem Unerwarteten oder dem ganz anderen. So sind zumindest die Texte interpretierbar. Die Schwierigkeit der Texte, die sich nicht nur durch einen erhöhten äußeren Lesewiderstand auszeichnen, sondern auch durch einen schwer verständlichen Inhalt, reflektiert damit auch die Elitisierung des gnostischen Denkens. Elaine Pageis berichtet, daß das Christentum gegenüber den Gnostikern als "Sklavenreligion" reüssiert, denn die gnostische "Reise ins Innere" setzt Bildung und Muße voraus, über die nicht jeder verfugt, ist also nur einer "intellektuellen und geistigen Elite zugänglich." 15 Am Beispiel seines Freundes Dieter Sturm demonstriert Strauß die Charakteristika eines Neo-Gnostikers: Vielleicht ist der Typ des Esoterikers, den er verkörpert, weniger unzeitgemäß, als es zunächst scheinen mag. Vielleicht weist er im Gegenteil erst recht in die Zukunft. Der Geheime ist heute schon der einzige Ketzer, der einzige wahrhaft Oppositionelle gegenüber der allesdurchdringenden, allesmäßigenden Öffentlichkeit. Gegen den totalen Medienverbund, gegen die Übermacht des Gleich-Gültigen wird und muß sich eine Geheimkultur der versprengten Zirkel, der sympathischen Logen und eingeweihten Minderheiten entwickeln. Kunst und schönes Wissen werden die Kraft der Verborgenheit, die Rosenkreuzer-Vereinigung dringend benötigen, um fortzubestehen und der verrückten, tödlichen Vermischung zu entgehen. Was sonst noch ist, gehört den Gewitzten und Amüsierten. Oder gehört einer plündernden, brandschatzenden Kultursoldateska, deren Gelalle schon jetzt aus den Journalen dröhnt. (VE 252)
Die Straußsche Hermetik, die den Text und das undarstellbare ganz andere im Vorstellungsraum zusammendenkt, sieht Helga Kaussen in der Tradition des platonischen Gnosis-Begriffs, der charakterisiert ist durch eine Doppelseitigkeit aus Wissen und Intuition: Die Strauß'sche Offenbarungspoesie, in der sich 'Wissen' und 'Schauen' zum 'Schönen Wissen' [...] zusammenfinden sollen, richtet sich, so aufklärungsfeindlich sie sich auch geriert, doch jedenfalls nicht gegen das diskursive Denken als solches, sondern sie grenzt sich im Bewußtsein seiner Defizienz von ihm ab, um sich letztlich wieder mit ihm zu verbinden. 16
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Eco: Das Irrationale gestern und heute, a.a.O., S. 13. Eco: Das Irrationale gestern und heute, a.a.O., S. 14. Elaine Pageis: Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien, Frankfurt 1987, S. 207. Helga Kaussen: Kunst ist nicht für alle da. Zur Ästhetik der Verweigerung im Werk von Botho Strauß, Aachen 1991, S. 351.
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Kaussen interpretiert die Schwierigkeiten, die sich dem Rezipienten entgegenstellen, als "Provokationen zu eingehendster Reflexion." 17 So entzieht sich das Werk einerseits als hermetisches der oberflächlichen Lektüre, andererseits verführt es gleichzeitig zu einer intensiveren Auseinandersetzung.
Das Buch des Buches Damit bewegt sich das unendliche Buch des Jorge Luis Borges und des Edmond Jab6s in sich so, daß sich Ordnung und Unordnung in der Bewegung und abhängig von der jeweiligen Perspektive halten und auflösen. Die Hermetik spiegelt dabei auch dieses Spiel, das den schnellen Griff oft in den unendlichen Regreß jagt. Schon für Mallarmö ist das absolute Buch als ein sich bewegender Text im immanenten Effekt und im Werden bestimmt. Es ist keineswegs das Resultat der Aktion des Künstlers, allerdings sein Anlaß und Antrieb. In jedem Akt verweist es allein auf sich selbst, wobei eine solche Selbstreferenz, wie man bei Niklas Luhmann sehen kann, in den unendlichen Selbstspiegelungen ein "schwarzes Loch" erzeugt, so daß dem Individuum nichts anderes übrigbleibt, als zum Mystiker oder Gnostiker zu werden oder zumindest zu einem, der über das Treiben der Signifikanten hinaus das transzendentale Signifikat außerhalb des Weltinnenraums annimmt. Peter Handkes frohe Ankündigung Ja, wir sind in einer chancenreichen Situation. Wir können wirklich loslegen, von neuem - nicht postmodern, aber im Sinne einer neuen Moderne. Wir haben die Chance, ohne all diese Ideologien universell zu werden 18
beinhaltet dabei immer auch die drängende Frage, an was sich diese Universalität denn nun halten soll und wie und wer sie legitimiert. Denn legitimiert wird nichts mehr im unendlichen Buch. Der letzte Haltepunkt ist wie der Aufhängepunkt des "Foucaultschen Pendels", der, da ohne Dimension, selbst nicht rotiert, ohne Selbst ist. Als letzter Fixpunkt gehört er selbst nicht dem geometrischen Raum oder der verlaufenden Zeit an. Wie in Augustinus' Zeitparadoxon, in dem es eine Gegenwart als Ort nicht gibt, gibt es auch den Aufhängepunkt des "Foucaultschen Pendels" nicht. Und so konstituiert sich die räumliche und die zeitliche Welt um ein Zentrum, das als Punkt gar kein Selbst hat und eigentlich gar nicht vorhanden ist. Der "einzige[.] feste[.] Punkt im Kosmos, de[r] einzige[.] rettende[.] Anker" im "panta rhei"" erzeugt im Protagonisten in Umberto Ecos "Das Foucaultsche Pendel" einen "Schauder des Unendlichen" bei der "Begegnung mit dem Einen, dem Έ η - S o f , dem Unsagbaren". Er ist nun bereit, alles zu glauben, denn dieser nicht vorhandene Fixpunkt macht im Weltinnenraum alles zum Resultat eines Spiels, die Analogie ist: Wenn es den zentralen Punkt nicht gibt, nicht einmal in der Physik, dann ist alles relativ. Umberto Eco kritisiert in seinem Roman nur wenig verschlüsselt die Hermetik der neostrukturalistischen Denker. Denn für Eco setzt die Erfahrung des Mystikers nicht jede Wahrschein17
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Helga Kaussen: Kunst ist nicht für alle da. Zur Ästhetik der Verweigerung im Werk von Botho Strauß, a.a.O., S. 9. Peter Handke: "Gelassen wär' ich gern", Interview im Spiegel 49/1994, S. 170. Eco: Das Foucaultsche Pendel, a.a.O., S. 12.
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lichkeit außer Kraft, zwar ist jede Interpretation möglich, aber nicht sinnvoll. Das Spiel im unendlichen Buch, das auch für Strauß nur noch eines von Ausschluß und Einschluß, System und Umwelt, Chaos und Ordnung ist, wird ohne die "Grenzen der Interpretation", die Eco noch eingehalten sehen möchte, unheimlich beliebig. Auch Michel Serres' Philosophie der Gemenge und Gemische behauptet, daß das Vermischte das Elementare und das Geschiedene das Artifizielle ist. Serres vertritt die These, daß die Wissenschaft das Denken im Muster Einschluß/Ausschluß von der Religion, die das Profane vom Heiligen getrennt hatte, als Säkularisat imitierte: Der Raum der Wissenschaft fasziniert uns: Darin ähnelt er dem Tempel, dem Bezirk, den der Priester genauestens mit Hilfe eines rituellen Stabes absteckt, welchen niemand berühren darf. Dies ist der Gegenstand, dies ist das Objekt, dem wir allergrößte Aufmerksamkeit schenken müssen. Eine ganze Gruppe gibt sich dieser Faszination hin, ist sich in dieser Objektivität einig. [...] Wir sind immer noch voll von der wunderbaren Erscheinung des richtigen Wissens in unserer Mitte. Das verlangt eine Deutung, wie es das göttliche Wort tat. [...] Ich betrachte die Wissenschaft niemals als ein Objekt oder als äußeren Raum, die es zu beschreiben, zu analysieren, zu beurteilen, zu begründen gelte, als eine Stadt, die wir erobern, einen Ort, den wir einschließen, einen Tempel, den wir von allem Unreinen befreien müßten. Ich setzte sie voraus. Ich setze sie nicht nur als unterstellt, als unbestritten oder gewußt voraus, sondern in einem absoluten Sinne. Ein Objekt hat seinen Platz vor uns. Ein Raum umgibt uns, wir können in ihn eintauchen.20 Wenn die Religion von einer säkularisierten Gesellschaft an den Rand gedrängt wird und zwar soweit, daß sie keinen heiligen Bezirk mehr aufrecht erhalten kann, da alles "durchleuchtet" wird, dann werden einerseits die Grenzen im Weltinnenraum durchlässig und andererseits der Ort des Heiligen außerhalb der Immanenz angenommen. Die lineare Ordnung wird durchbrochen durch die Auflösung in den Fleck, eine eindeutige Kausalität steht immer unter Verdacht, mit Heidegger und gegen Aristoteles und Eco ist fast alles möglich im Akt der Interpretation. Der Unterschied zwischen den einen und den anderen besteht darin, ob man der Linie oder der Emergenz die größere Aufmerksamkeit schenkt. Die Idee der 'kreativen' oder 'emergenten' Evolution [...] verweist auf die Tatsache, daß im Verlauf der Evolution neue Dinge und Ereignisse mit unerwarteten und tatsächlich unvorhersehbaren Eigenschaften auftreten; Dinge und Ereignisse, die in dem Sinne neu sind, in dem ein großes Kunstwerk als neu bezeichnet werden kann.21 Karl Popper deutet hier auf die Parallelen zwischen dem Kunstwerk und dem unvorhersehbaren Ereignis, der Emergenz hin. Gaston Bachelard, der Strauß "beeindruckt", 22 schreibt über die Emergenz im dichterischen Werk: Das dichterische Bild ist ein plötzliches Hervortreten des seelischen Geschehens, ein Hervortreten, das in den subalternen psychologischen Kausalitätsbeziehungen schlecht zu studieren ist. Eine Philosophie der Poesie kann Uberhaupt keine Basis in allgemeinen Zuordnungen haben. Der Begriff Prinzip, der Begriff Basis - hier wären sie vernichtend. Solche Begriffe würden die wesenhafte Aktualität, die wesenhafte psychische Neuheit des Gedichtes versperren.23
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Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt 1993, S. 454f. Popper und Eccles: Das Ich und sein Gehirn, a.a.O., S. 44. Hage: Schreiben ist eine Sdance, a.a.O, S. 200. Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt 1987, S. 7.
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Bachelard verfaßt dies zu einer Zeit, in der eine moderne Chaosforschung noch gar nicht existiert. Erst mit deren Einsichten in chaotische Vorgänge beginnt das Undeutliche und Unberechenbare, das viele Künstler schon immer erkunden und darstellen, auch in der Wissenschaft zu einem Thema zu werden. Strauß gehört zu den wenigen Schriftstellern, welche die Entwicklung der modernen Systemtheorie mit Spannung verfolgen und deren Ergebnisse in ihrer literarischen Arbeit berücksichtigen. Wenn er sich als "pflichtgetreuen Porträtisten furchtbarer Ambivalenzen, überstürzter Paradoxe" (AA) bezeichnet, dann verweist er dabei auch auf eine Optik, die noch nicht die der Allgemeinheit ist. Als neues Paradigma im Sinne von Thomas S. Kuhn24 ist zu bezeichnen, was sich als Ergebnis der modernen Systemforschung in die allgemeine Vorstellungswelt einzubringen versucht. Daß Strauß sich damit intensiv beschäftigt, beweist Form und Inhalt seiner neueren Texte, vor allem von "Beginnlosigkeit", und das Zitieren von Pionieren der Chaosforschung, wie Paul La Violette und Ilya Prigogine. Aus der Chaostheorie abgeleitet ist die Vorstellung von Strauß, daß jeder Augenblick für das Individuum eine Station der unbegrenzten Möglichkeiten sein kann, im emergenten Augenblick fallen die Würfel neu: "Gegenwart ist immer unentschiedene Totale, Meer." (BL 79) In der Emergenz als unvorhersehbaren Moment in der Geschichte zeigt sich eine weitere Desillusionierung des Subjekts. Zu den "drei Kränkungen der menschlichen Eigenliebe", der ersten, "als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist", der zweiten, "als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich [...] hinwies" und die dritte, daß das menschliche Ich "durch die heutige psychologische Forschung erfahren" muß, "daß es nicht einmal Herr im eigenen Haus"25 ist, gesellt sich nun für Strauß die Erkenntnis, daß jede zu einfache und zu langfristige Hochrechnung der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft und damit jede Geschichtsphilosophie zunichte gemacht werden kann durch das emergente Ereignis. Was für eine Legitimation bleibt dann noch für Utopia jeder Art? Jedwedes aufklärerische Denken ist angewiesen auf eine durch den Menschen erkennbare Entwicklung in der Geschichte mit finaler Erlösungsmöglichkeit. Starre Systeme und Vorstellungswelten sind jedoch einer komplexen Umwelt wenig angemessen. Als vorzügliches Beispiel dient Strauß der unerwartete Zusammenbruch der sozialistischen Systeme, den Strauß wie folgt kommentiert: "Das Unvorhersehbare hatte sich sein Recht verschafft und zerschnitt das scheinbar undurchdringliche Geflecht von Programmen und Prognosen, Gewöhnungen und Folgerichtigkeiten." (AW 305) Als höchstes "Ziel" für die Hoffnung des nun im Diesseits ohne Utopie auskommen müssenden Menschen bietet sich nur das ganz andere an, man kann es das Mystische oder auch Gott nennen.
Die Umwelt als Gedanke Das "Labyrinth der Einsamkeit" (Paz), das Strauß ausläuft, ist zugleich in seinem Kopf, der die Welt als Vereinzelter im Modus "Niemand anderes" beinhaltet. So 24 25
Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1993. Sigmund Freud: Studienausgabe. Band 1, Frankfurt 1972, S. 238f. 235
bewegt sich Strauß wie Ernst Jünger durch eine Welt, die der Text ist und in der "der Geist einer Zeit ja immer nur von Einzelnen getragen"26 wird. Dabei sind die Bilder, die das Individuum von sich und der Welt hat, nur Spiegelungen seines Textes im Kopf: "Was ist Glashaus, was ist Welt? Was innen, was außen? Was Automat und was Organ? Nicht mehr zu unterscheiden." (DEeK 127) Der andere ist nicht unmittelbar präsent, sondern muß interpretiert werden. Die Rekluse des nun Vereinzelten ist eine Folge des neuzeitlichen Denkens, wie Belting am Beispiel des Umgangs des Menschen mit der bildenden Kunst aufzeigt: Die Einheit von äußerer und innerer Erfahrung, die im Mittelalter den Menschen leitete, zerbricht in einem rigorosen Dualismus von Geist und Materie, aber auch von Subjekt und Welt, der in der Lehre Calvins seinen Ausdruck fand [...]. Der Blick findet weder auf Bildern noch in der Welt, in der Gott nichts als sein Wort hinterlassen hat, einen Anhalt für die Präsenz Gottes. Das Wort als Träger des Geistes ist ebenso abstrakt, wie der neue Gottesbegriff, die Religion ein ethisches Lebensprogramm. Das Wort bildet nichts ab, sondern ist Zeichen der Verständigung. Die Distanz Gottes verbietet seine Präsenz in einem gemalten Abbild fllr die Sinneserfahrung. Das Subjekt der Neuzeit, das sich der Welt entfremdet, sieht die Welt gespalten in das bloß Faktische und den verborgenen Sinn der Metapher. Das alte Bild ließ sich gerade nicht auf eine Metapher reduzieren, sondern erhob den Anspruch auf eine unmittelbare Evidenz von Augenschein und Sinn. Nun wirkt (heute) das gleiche Bild plötzlich als Symbol eines archaischen Lebensgefühls, in dem noch die Harmonie von Welt und Subjekt versprochen war. An seine Stelle tritt die Kunst, die zwischen den Augenschein des Bildes und das Verständnis des Betrachters eine neue Sinnebene legt. [...] Das Subjekt ergreift die Herrschaft Uber das Bild und sucht in der Kunst die Anwendung seines metaphorischen Weltverständnisses. Das Bild, das nunmehr nach den Regeln der Kunst entsteht und sich nach ihnen auch entziffern läßt, bietet sich dem Betrachter zur Reflexion an. Form und Inhalt treten ihren unmittelbaren Sinn an den vermittelten Sinn einer ästhetischen Erfahrung und eines verborgenen Arguments ab.27 In der Nachmoderne wird die Kluft zwischen Geist und Materie und zwischen Subjekt und Objekt zwar immer geringer, aber der Akt der Interpretation bleibt. Zwischen dem Erkennen und der realen Welt schiebt sich die Interpretation, die Welt wird zum inneren Text und findet nun allein im Kopf des Interpretierenden statt. Außerhalb ist nur noch die chaotische physikalische Welt: Allein das menschliche Bewußtsein, wenn es wohltut, ist die Pause der Materie. Wozu gehört es? Es kann nicht nur Ruhe stiften, es kann auch alles durcheinanderbringen. Es scheint keiner uns bekannten Ordnung zu gehorchen. Es ist die einzige Kraft, die gegen sich selbst und jedes Naturgesetz verstoßen kann. Die einzige Kraft, die (schlimmstenfalls) mächtiger ist als alle übrige Natur zusammen. Und doch aus ihr hervorging. Die einzige Kraft womöglich, die das menschliche Wissen niemals erforschen kann. Ist das die offene Zone der Schöpfung? Der Beginn des Ganz Anderen inmitten unserer biologischen Identität? (NA 140) Die Welt als Gedanke ist ein Erkenntnismodell, welches der radikale Konstruktivismus vertritt. Dieser setzt sich deutlich von der herkömmlichen Erkenntnislehre ab: Der radikale Unterschied liegt in dem Verhältnis zwischen Wissen und Wirklichkeit. Während die traditionelle Auffassung in der Erkenntnislehre sowie in der kognitiven Psychologie dieses Verhältnis stets als eine mehr oder weniger bildhafte (ikonische) Überein26
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Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, in: Sämtliche Werke, Band 5, a.a.O., S. 40f. Belting: Bild und Kult, a.a.O., S. 25f.
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Stimmung oder Korrespondenz betrachtet, sieht der radikale Konstruktivismus es als Anpassung im funktionalen Sinn. 38
Das bedeutet, daß das Subjekt seine Umwelt mit derjenigen Deutung belegt, mit der es am meisten Erfolg hat. Somit ist das Erkennen ein originär schöpferischer Akt: Unser Gehirn besitzt keinen unmittelbaren Zugang zur Welt. Es ist vollkommen auf sich selbst bezogen. Es liefert die selektiven Muster, konstruiert die Modelle und Invarianten, das gesamte evolutionsgeprüfte Programm zur Herstellung einer uns verfügbaren Wirklichkeit. Erkennen hat nicht mit Gegenständen zu tun, es ist effektives Handeln, rastloses Erschaffen. (BL lOf.)
Strauß argumentiert nicht nur mit den Theoremen des radikalen Konstruktivismus, sondern auch mit den Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaften, welche aus naturwissenschaftlicher Sichtweise die Komplexität des Gehirns höher einschätzen als die Komplexität der Weltbilder, die das Gehirn produziert: Immer wird das Bild, daß wir uns von der Welt machen, primitiver sein als die gehirnliche Technik, aus deren Fabrikation es stammt. Hirn und wirkliche Welt stehen sich näher als Weltbild und Welt oder das Hirn und seine Vorspiegelungen. (WDL 182f.)
Da das Subjekt nicht in der Lage ist, die Umwelt ohne Verlust an Komplexität in einen Gedanken zu fassen, konstituiert es immer eine Umwelt der Fantasie und verwischt damit die Grenzen zwischen Innen und Außen. In der Weltvorstellung des griechischen Mythos sind Berührungspunkte mit dieser Theorie zu erkennen. Nach Kurt Hübner unterscheidet sich das mythische vom modernen Verhältnis von Innen und Außen im Denk- und Erfahrungssystem: W o alles Materielle zugleich ideell, alles Ideelle zugleich materiell aufgefaßt wird, w o deshalb zwischen Physikalischem und Psychologischem wie wir es verstehen, keine scharfe Grenze gezogen wird, da existiert auch nicht der für uns so selbstverständliche Unterschied von Innen und Außen. 2 9
Das Spiel im unendlichen Buch, das im Gehirn interpretiert werden möchte, zeigt sich als Ausdruck des Wechsels von Interpretation und Auflösung im Auf- und Abtauchen der Gedanken. Peter Handke findet für dieses Gefühl die richtigen Wörter: "Ich wäre gern Epikureer, doch ich bin ein Hin- und Hergeworfener." 3 " Die Vorstellung von der Nichtidentität des Subjektes bei Adorno, bei Heidegger und bei den Neostrukturalisten ist auch bei Strauß zu finden. Das Individuum ist fur Adorno, "so real es in seiner Beziehung zu anderen sein mag, [...] als Absolutes betrachtet, eine bloße Abstraktion." 31 In der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie wird die Vorstellung von der monolithischen Struktur des menschlichen Geistes seit einiger Zeit von verschiedenen Forschern in Zweifel gezogen. Einer der Hauptvertreter dieser Richtung ist Robert Ornstein. Dieser hält "die Vorstellung, daß wir einen in sich konsistenten und einheitlichen Geist besitzen" für
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Ernst von Glasersfeld: Einführung in den radikalen Konstruktivimus, in. Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben. Beiträge zum Konstruktivimus, hg. v. Paul Watzlawick, München 1985, S. 1 6 - 3 8 , hier: S. 19. Hübner: Die Wahrheit des Mythos, a.a.O., S. 118. Handke: "Gelassen wär' ich gern", a.a.O., S. 176. Adorno: Minima Moralia, a.a.O., S. 197.
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"eine eingebaute, konstruktionsbedingte Illusion. [...] Meistens sind wir nicht in der Lage zu berücksichtigen, daß andere Menschen komplexer sein könnten (und höchstwahrscheinlich sind) als die Vorstellung, die wir uns von ihnen gemacht haben". Omstein spricht von der "Horde in unserem Inneren",32 von vielen einzelnen Geistern, aus denen unsere Identität zusammengesetzt ist. Für Strauß besteht das Bewußtsein aus der "Gesamtheit" aller Texte, die aus dem Einst und im Jetzt ihr Spiel mit dem Bewußtsein treiben. Melanie erwähnt diese Geister in "Angelas Kleider": "Ich herrsche - ich herrsche über ein kleines kriegerisches Volk. Sie deutet auf ihre Brust. Alle da drin. Toben, schlafen, toben wieder." (AK 64) Das Treiben im Kopf, das Ertrinken im Gedankenstrom ist aufhaltbar durch die Störung des Treibens durch den plötzlichen Einbruch des anderen als Fremden. So ist der andere in der Lage, dem Subjekt seine eindeutige, komplexitätsreduzierte Identität zu geben. Da das Subjekt für sich selber nur eine Identität der Bewegung feststellen kann (wenn es den "hellsten Stand seiner Einsichten" erreicht hat), wird die Identität, die fest und regelrecht ist, durch den beobachtenden Mitmenschen eindeutig fixiert: Er dachte an die langsamen Worte der Frau, die nebenan, irgendwo auf der Welt, gerade Uber ihn sprach, ihre vernünftigen, empfindsamen Urteile, während er hier in Gedanken dahinhetzte; doppelt, dreimal so langsam wie er selbst sprach sie - und unbeirrbar sprach sie Uber ihn, der doch überzeugt war, in diesen Sekunden den hellsten Stand seiner Einsichten, seiner Identität überhaupt erreicht zu haben. "Sie spricht mich auf: meine Grenzenlosigkeit, meine höchste Anstrengung wird von einer einzigen ruhigen Silbe aus ihrem Mund bedeckt und getilgt. Sie spricht in langer Welle und Uberlagert alles, was ich hier äußere - ohne mir je zu antworten, je mir zu widersprechen ... Ihre Schritte erschreiten das Regelrechte. Ohne ihren Grad wär ich ein Wirbel zwischen Fieber und Frost. Eine sinnlose Wehe, eine flüchtige Turbulenz'. (BL 114f.)
Dabei ist der andere nie begrifflich zu fassen, er bricht immer als Epiphanie in den Gedankenstrom des Vereinzelten.
Glaube und Wissen Carl Gustav Jung differenziert den Introvertierten vom Extrovertierten aufgrund dessen Lenkung der Libido nach innen. Wenn die "Erde" ein "Kopf' ist, gibt es kein Innen und Außen mehr. Die Libido sammelt sich in jedem Fall im Innen, das zugleich Außen ist. Die Folge ist, daß das Denken [...] sich leicht in die immense Wahrheit des subjektiven Faktors [verliert]. Es schafft Theorien um der Theorie willen, anscheinend im Hinblick auf wirkliche oder wenigstens mögliche Tatsachen, aber mit deutlicher Neigung, vom Ideellen zum bloß Bildhaften überzugehen. Dadurch kommen zwar Anschauungen von vielen Möglichkeiten zustande, von denen aber keine zur Wirklichkeit wird, und schließlich werden Bilder geschaffen, die überhaupt nichts äußerlich Wirkliches mehr ausdrücken, sondern 'bloß' noch Symbole des schlechthin Unerkennbaren sind. Damit wird dieses Denken mystisch [...]."
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Robert E. Omstein: Multimind. Ein neues Konzept des menschlichen Geistes, Paderborn 1989, S. 143. Carl Gustav Jung: Psychologische Typen. Zürich 1921, S. 547.
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Baudrillards Simulation wird zur paradoxen Verabsolutierung des Subjektiven ins Allgemeine. Um anschlußfähig zu bleiben, wird der Traum zum Gemeinschaftserlebnis. Das Denken ist nun nicht mehr als Repräsentation zu verstehen, sondern als Spiegelung des Bewußtseins in sich selbst, es wird mystisch. Dabei spiegelt das neuronale Netz des Gehirns den vernetzten Text des unendlichen Archivs. Die Aristotelische Kausalität wird damit für Strauß zur reinen Konstruktion eines begradigenden Bewußtseins. Wo Strauß jetzt unsicher wird, war früher eine eindeutige Ursache-Wirkungs-Korrelation unumstritten: Wir müssen [...] den gegenwärtigen Zustand des Universums als die Auswirkung des vorhergehenden Zustands betrachten und als die Ursache dessen, was folgen wird. Nehmen wir [...] eine Intelligenz an, die alle die Kräfte, durch die die Natur bewegt wird, kennen könnte und, für einen bestimmten Moment, die genauen Zustandsgrößen aller physikalischen Objekte, aus denen sie besteht.
Für diese Intelligenz wäre nichts ungewiß; und die Zukunft wie die Vergangenheit läge klar vor ihren Augen. 34
Eigentlich bereits seit Werner Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip, spätestens aber seit den Erkenntnissen der modernen Systemforschung ist der Laplacesche Dämon, die Intelligenz, die über alles einen Überblick hat, die vorurteilende Vorstellung einer determinierten und damit vorausberechenbaren Bewegung aller Körper in der Zeit, ein Auslaufmodell. Denn viele Geschehnisse in der Umwelt sind nur mithilfe der Hypothese eines nichtlinearen Verlaufs des Beobachteten zu beschreiben. "Ein Vorgang verläuft immer dann chaotisch, wenn die Bewegung einen völlig anderen Verlauf nimmt, sobald wir nur die Anfangswerte [...] ein klein wenig ändern"." Da in einer komplexen Umgebung alles, was geschieht, in mehr oder weniger gleichem Umfang von allem anderen Geschehen abhängt, kann es keinen Anfang, keine Ursache geben. Diese Erkenntnis bedeutet nicht nur ein notwendiges Umdenken in der Vorstellung von Schuld und Sühne, sondern erfordert auch eine andere Dramaturgie der Theaterstücke: Welches der ursprüngliche Fehler ist, den jemand beging, woraufhin er sich weiter in Unheil verstrickte, das Problem der Atriden, des ödipus, der Psychoanalyse, des Dramatikers Ibsen, der Kriminalliteratur, es verschwindet mit dem Reduktionismus im Weltbild der Kybernetik. Dies alles gibt es nicht in der erkennbaren Wirklichkeit: prima causa, Unschuld, Erstes an sich. Bevor also aus Urgründen überhaupt ein Grund geboren wird, gehen zahllose zufallsgesteuerte Entscheidungsprozesse voraus. Was wir den Anfang nennen, ist bereits das Resultat langwieriger vor- und zurückfragender Selektionen. Ein Verbrechen läßt sich überhaupt nicht aufklären, es kann nur beurteilt werden. Die Schöpfung wie das Verbrechen sind zwar emergente, plötzliche Akte, entstehen aber weder aus dem Nichts noch aus einer einzigen Ursache. Die Schuld ist nur ein subjektiver isolierter Knoten innerhalb einer zu keinem Ende hin verfolgbaren Verstrickung. Gott schuf den Mythos des Anfangs. (BL 38)
Die Iterationen, die Rückkoppelungen durch den anhaltenden Re-Entry des schon Bestehenden in das Bestehende erzeugen Paradoxa und Ambivalenzen. Der Text,
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Pierre Simon Laplace, zitiert in: Popper und Eccles: Das Ich und sein Gehirn, a.a.O., S. 44. Herrmann Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken, Frankfurt 1988, S. 128.
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der durch die Individuen geht, trifft sich selbst, wenn die Individuen sich begegnen. In diesen Spiegelungen ist jede Figur nie ein in sich geschlossener Charakter: Selbst wenn ich die Erkenntnis unterdrücken würde, daß es geschlossene Figuren weder im Alltag noch sonst irgendwo gibt - ich könnte keine Charaktere schaffen wie Märquez. Das ist einfach etwas, was sich mit meiner Wahrnehmung von Realität nicht vereinbaren läßt. Für mich ist da nur Diffusion. Es ist mir undenkbar, anderes als Strömungen und Überlagerungen zu sehen, die durch Menschen, Gefühle, Ideen mitten hindurch gehen. Und ich versuche einfach, so viel wie möglich davon in mir zu sammeln und wieder zu zerstreuen.36 Das Selbst als gefestigte Identität, als autonom und rational Denkendes und Handelndes, geht nicht mehr konform mit den Beobachtungen, die Strauß in der Gesellschaft mit den Erkenntnissen der Wissenschaft, Philosophie und Kunst der Nachmoderne macht. Ambivalenzen, Unscharfen und Paradoxa überall: Nun schreibe ich diese sonderbaren Stücke, in denen nichts klar ist, die Unscharfe selbst der Held, wie es meiner Meinung nach gar nicht anders sein kann, will man der Schwankungsbreite des Realen, einschließlich Gesinnung, Gesittung, Gefühl, nur annähernd Wahrnehmungsgerechtigkeit widerfahren lassen. Dies ist noch nicht die Optik aller Theaterzuschauer, aber doch, man darf sagen, schon eine recht geläufige, keineswegs exzentrische Anschauung. Als "pflichtgetreue[r] Porträtist[.] furchtbarer Ambivalenzen" (AA) registriert Strauß die Verwerfungen des Realen und führt diese auf die Lüge der Ideen zurück, welche die Welt als ideale zeichnen, als Linie, obwohl sie doch als komplex, als Fleck sich erweist. In der Chaostheorie und der Kybernetik ist der Urgrund die Selbstbezüglichkeit. Das Individuum kann sich nur aufgrund des Re-Entry als autopoietisches System im Chaos des sich bewegenden Textes halten. Der Preis dafür ist die Rekluse und das Ende der Welt im Spiegelbild. In der Immanenz ist die Öffnung nur im Moment der emergenten Umordnung möglich, in der Störung des eigenen Gedankenflusses durch die Epiphanie des anderen. Für den Dichter Strauß bleibt die von Elias Canetti formulierte Aufgabe, den durch ihn hindurch gehenden Text weiterzutragen: "Die bescheidene Aufgabe des Dichters ist am Ende vielleicht die wichtigste: das Weitertragen des Gelesenen." 37 Und dabei sollte der Dichter nach Strauß bei jedem Re-Entry des Gelesenen in das Gelesene das Treiben in der Immanenz etwas stören: Jede Epoche hat ihre Ausgesprochenheit, ihr geschicktes und erschöpfendes Sich-SelbstBenennen. Dieser herrschsüchtigen Ausgesprochenheit, die die Gesamtheit der Begriffe kontrolliert, das 'andere Wort' einzuschleusen, ist sein geheimer, wichtigster Einfluß. (FU 46) Damit erzeugt der Dichter den Bruch, der das Bekannte plötzlich unbekannt den begrifflich erfaßten anderen als Fremden erkennbar werden läßt. Nahe heraklitischen Schleudergrund werden die Bedeutungen so unzureichend, daß Text der Welt uninterpretierbar wird, die Wörter nicht mehr differenzieren und Ganze erahnbar wird als das Sein des Seienden. Dann tritt Piaton als Stütze
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und am der das der
Volker Hage: Der Dichter nach der Schlacht. Eine Begegnung mit Botho Strauß im Sommer 1993, in: Weimarer Beiträge 2/1994, Wien, S. 179-189. Elias Canetti: Aufzeichnungen 1942-1985, München 1993, S. 460.
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Immanenz zurück, das Wahrscheinliche wird transparent und das Unwahrscheinliche zeigt das ganz andere als Zentrum, denn: Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts. Einen tieferen Glauben als den christlichen kann auch heute kein Mensch erlangen. (FdK 136)
4.1. Schlußchor Die meisten bisherigen Interpretationsversuche und Kritiken zu "Schlußchor" gingen vom Ereignis des Falls der Mauer und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten aus. Das historische Ereignis soll jedoch in der vorliegenden Arbeit nicht im Vordergrund stehen. Wichtig ist an ihm die Emergenz, der unvorhergesehene Systemwechsel. Diese verändert nicht nur das System auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch die Geschichte des Individuums. Sie läßt das ganz andere hinter den Wörtern, hinter dem Text durchscheinen. Für Strauß ist das geschichtliche Ereignis der ideale Aufhänger, um an ihm seine Vorstellungswelt, in der die Emergenz einen prominenten Platz innehat, darzulegen. Die Bezeichnung des Textes deutet auf den abschließenden Satz der "Neunten Symphonie" von Ludwig van Beethoven. Diese wird, als Zeichen der Dekomposition und Neuordnung zugleich, 1989 zum Zeitpunkt der Demontage der MauerGrenze, dirigiert von Leonard Bernstein, zur Aufführung gebracht und dann noch einmal 1990 am Tag vor der Wiedervereinigung, musikalisch geleitet von Kurt Masur. Der Übergang der Dirigentenposition von einem Amerikaner zu einem Deutschen ist fast symbolisch, der Anlaß für das Konzert soll eine Feier der Freiheit sein, obgleich die Freiheit sowohl in der Politik als auch in der Kunst dirigiert werden muß. Mit dem "Schlußchor" wäre der Übergang in eine neue, freie Gesellschaft endgültig und das Phänomen der dirigierten Freiheit weist auf das Paradox denn gerade Freiheit muß gesetzt und verteidigt werden 38 - , fur das sich Strauß interessiert. Das Ende der Geschichte, das der Rechtshegelianer Francis Fukuyam a " konstatiert, wäre ein liberales, marktwirtschaftliches und demokratisches. Für Strauß herrscht jedoch auch hier der Chor der im unendlichen Archiv treibenden Gedanken, die nie unter einen Begriff zu bringen sind, so daß das "Ich" und der andere nicht abschließend erkannt werden können. Der Mann und die Frau, die sich als "Ich" aus dem Chor des anderen herausheben (wollen), obgleich sie aus ihm bestehen, können ihre Identität und das Bild des anderen aber nicht dauerhaft halten, ihre Begegnung wird zur Verfehlung und der Chor des sich bewegenden Textes wird sowohl den Mann als auch die Frau zerstören. Die Geschichte als eben nicht nur lineare Geschichte zwischen Frau und Mann wiederholt sich, die Freiheit des Schlußchors bleibt die Freiheit/Unfreiheit des Be-Griffs "Schlußchor". Für Strauß gibt 'Schlußchor' [...] von der Wiedervereinigung lediglich einen Ereigniszeitraum [wieder], den Ruck, den Schrei, den Augenblick, der Seele und Sozietät - für kurz nur - geschicht-
38 39
Vgl. Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Wien 1957. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. 241
lieh erhebt, erregt und auch verwirrt. Es handelt in allen drei Teilen vom Auge und vom Augenblick, den man nicht gewärtigen, nicht 'sehen' kann. (AA) Alle Teile des Stücks reflektieren den Moment der Gegenwart, der, wie Augustinus gezeigt hat, zwar wirkt, aber als Ort und Zeit nicht unter den Be-Griff zu bekommen ist. Der Drei-Schritt Sehen-Spiegel-Gesellschaft ist daher eben nicht als Hegelscher zu denken, sondern als Perspektivenwechsel in dem Versuch der Annäherung an ein Zentrum, das wie die "Säule" in "Die Zeit und das Zimmer" Mittelpunkt eines dramatischen Gravitationszentrums ist, ohne genau definiert werden zu können.
4.1.1.
Perspektive I als Versuch, den Raum und die Zeit des "Jetzt" zu sehen: Sehen und Gesehenwerden
Das Wahre ist das Ganze. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) Das Ganze ist das Unwahre.
(Theodor W. Adorno)
4.1.1.1. Der einzelne in der Gesellschaft der anderen. Ein Machtverhältnis Der Fotograf agiert wie ein Dirigent, er ordnet die Gruppe. In seinem philosophischen Hauptwerk "Masse und Macht" beschreibt Elias Canetti die Position des Dirigenten: Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten [...]. Sein Blick, so intensiv wie möglich, erfaßt das ganze Orchester. Jedes Mitglied fühlt sich von ihm gesehen [...]. Die Stimmen der Instrumente sind die Meinungen und Überzeugungen, auf die er schärfstens achtet. Er ist allwissend, denn während die Musiker nur ihre Stimmen vor sich liegen haben, hat er die vollständige Partitur im Kopf [...]. Es ist ihm genau bekannt, was jedem in jedem Augenblick erlaubt ist. Daß er auf alle zusammen achtet, gibt ihm das Ansehen der Allgegenwärtigkeit. Er ist sozusagen in jedermanns Kopf. Er weiß, was jeder machen soll, und er weiß auch, was jeder macht. Er, die lebende Sammlung der Gesetze, schaltet über beide Seiten der moralischen Welt. Er gibt an, was geschieht, durch das Gebot seiner Hand, und verhindert, was nicht geschehen soll. Sein Ohr sucht die Luft nach Verborgenem ab. Für das Orchester stellt der Dirigent so tatsächlich das ganze Werk vor, in seiner Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge, und da während der Aufführung die Welt aus nichts anderem bestehen soll als aus dem Werk, ist er genau so lange der Herrscher der Welt.40 Die Untersuchung von Elias Canetti über den Dirigenten als perfektes Paradigma eines Machtausübenden ist vorzüglich mit der Situation des Fotografen vor der Gruppe analogisierbar. Die Masse fängt in Strauß' Text genau in dem Moment an, sich gegen ihren "Dirigenten" zu stellen, als bekannt wird, daß er nicht nur den einzigartigen historischen Moment, den wichtigsten Augenblick, verpaßt hat, sondern daß er dessen Symbol M8 überhaupt nicht sehen konnte. Das hätte ihm, als von der Gruppe in der Rolle des Allgegenwärtigen Akzeptierten, nicht passieren 40
Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt 1980, S. 442ff.
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dürfen. Die Gruppenmitglieder erwarten, da sie sich selbst untereinander nicht sehen können, daß der Fotograf alles überblickt: "M5: Sie entblößt sich. F 6 : Sieht j a niemand beim Geradeaussehen. M i l : Der Fotografierer da vorn, der sieht es, und nicht zu knapp!" (SC 194) Der Fotograf besitzt die Freiheit der Wahl des Betrachtungsstandpunkts, er bedient drei Kameras an verschiedenen Positionen, außerdem kontrolliert er die Wahl des Ausschnitts, der Blende usw., aber vor allem hat er das Vorrecht, die Gruppe zu "bauen", in eine bestimmte ästhetische Ordnung zu zwingen. Seine Macht legitimiert sich aus seiner Übersicht, aus seiner Allgegenwärtigkeit, er ist somit ein geeignetes Symbol für das Descartessche Individuum. Und in dem Glauben an die Übersicht des "Cogito" deutet sich bereits das Problem an. Mit den Erkenntnissen der Chaostheorie (eigentlich schon der Quantenphysik) ist eine Allgegenwart in Form eines Laplaceschen Dämons zumindest in der diesseitigen Welt nicht mehr denkbar. Der Fotograf sollte eigentlich alles im (Be-)Griff haben, mit der Emergenz rechnet er jedoch nicht. Da sich herausstellt, daß der Fotograf nicht weiß, was jeder in jedem Augenblick macht, wird seine Qualifikation angezweifelt ("Besitzen Sie irgendeine nachweisbare Qualifikation für ihren Beruf?", (SC 195)) muß er sich Kritik gefallen lassen, wird sogar sein Äußeres zum Anstoß der Kritik ("Gichtkranker", "fettige[.] Haare". (SC 196)) Sein größter Fehler ist, daß er der Gruppe den Dialog erlaubt. Der Chor bildet eine "Schar von fünfzehn Frauen und Männern in vier Stufenreihen", (SC 189) die Anordnung ist als Diagramm im Nebentext festgelegt. Die Ordnung der Männer und Frauen in der Reihe ist offensichtlich vom Zufall bestimmt. Dies deutet auf eine komplexe Gesellschaft hin, deren Ordnung sich nur im ständigen Diskurs manifestiert: "Ungewiß, wer zu wem gehört, und wenn: für wie lange?" (SC 189) Der Dialog unter der Gruppe geht kreuz und quer durch die Reihen, sein Schema ähnelt chaotischen Abläufen. Zwischen die Ordnungsinseln, in denen der Dialog einen Sinn erkennen läßt, schieben sich unvorhergesehene Brüche und Schnitte. Zu diesen äußert sich Strauß: Es herrscht der Drill des Vorübergehenden, gegen den keine Instanz der Erde sich noch auflehnen kann. Dieser wird im wesentlichen mit 'Schnitten' ermöglicht; aber die Schnitte haben entgegen dem Wortsinn nichts Trennendes, sie bringen es vielmehr zustande, daß eine unendliche Kette der Berührungen entsteht, daß letztlich alles mit allem in Berührung gerät.
Auch auftretende Mißverständnisse stören den Dialog nicht, "die Öffentlichkeit faßt zusammen, sie moduliert die einander widrigsten Frequenzen - zu einem Verstehensgeräusch." (BG 19) "Verstehensgeräusch" ist sowohl als KonsensDialog im Sinne von Jürgen Habermas, als auch als Gleichlauf von Verschiedenem, wie es die Denker der französischen Gegenwartsphilosophie definieren, zu verstehen. Es ist die Akustik von "Lebensformen, in denen wir voneinander immer unabhängiger, vom Ganzen aber immer abhängiger werden sollen." (PP 17) Der Film bannt so Gegensätzliches wie das Opfer und den Täter eines Mordversuchs auf Zelluloid und macht sie dadurch gleich. Zweifel kommt auf bei F7, daß das Foto, die fixierte Umwelt und damit das gespiegelte fixierte "Ich" als Einheit, die Wahrheit zeigt, ohne daß es als Kunstwerk in der Verbindung zum Dunkeln steht: "Wird dieser Film seinen sicheren Weg gehen? Wird er im Dunkeln entwickelt, gebadet und getrocknet? Wird er die ganze Wahrheit festhalten? Werden wir uns j e auf
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Bildern Wiedersehen?". Während sie als Beweis ihrer Verletzung der Kamera die Narbe zeigt, stellt sie fest: "Auf dem Foto wirst du [, der Täter,] lächeln, wenn ich deine Greueltat zeige". M8 kommentiert den Vorfall im Sinne von Strauß doppeldeutig: "Der Teufel steckt mitten im Miteinander." (SC 194) Da aber alle in einem Konsens/Dissens zusammenleben müssen oder wollen, ist keiner, auch nicht das Opfer, bereit, den Täter zu verraten ("Ich ihn verraten? Das fehlte noch"). Der Konsens im Dissens bewirkt nicht nur einen Schutz der Täter, sondern auch der Opfer. Beide sind auf die Aufrechterhaltung des ihnen lebensnotwendig erscheinenden Illusionstextes angewiesen. Denn, so Strauß: "Wir leben konillusionär. Einer von des anderen Illusionen, niemals in Täuschung allein. Auch die Lebenslüge ist keine autonome Leistung des Einzelnen" (NA 202), denn jedes "Ich" besteht aus den vielen Texten, die alle mehr oder weniger gemeinsam haben. Nach der Erörterung des Verbrechens taktet ein schneller Themenwechsel ("Hast Du die Einladung noch?") das "Verstehensgeräusch", der radikale Schnitt von der Gewalttat zur Einladung zu einem Sommerball. Durch seine Übergangslosigkeit enthierarchisiert der schnelle Schnitt die Bedeutung der Einzelthemen, die Medienästhetik dominiert das Kommmunikationsverhalten der Gesellschaft. Der Chor ist durch seine Geschlossenheit in der Verfehlung eine Totalität, eine unbegrenzte Begrenzung. Gerade die unüberblickbar vielen bilden die Immanenz des abschließenden "Schluß-Chors", für Strauß ist somit ganz allgemein "die Unschlüssigkeit in Gefahr". (AW318)
4.1.1.2. Die Suche des Chors der Zeichen und der Gesellschaftsmitglieder nach seinem Zentrum. Das emergente Ereignis, welches dem Fotografen zum Verhängnis wird, ist nicht vorhersehbar. Erst im zufalligen Zusammentreffen der Gerüchte in M8 kommt es, da dieser keinen Nebenmann mehr hat, dem er das Gerücht ableitend weitererzählen kann, zum Ausbruch: "Deutschland". Dem Fotografen wird das Unvermutete zum Verhängnis, aber als Schuldiger im klassischen Sinn kann er nicht bezeichnet werden: Von Ibsen bis heute haben wir Fortschritte in der Erfahrung dramatischer Ursachen gemacht. Wir kennen jetzt das unanfängliche Verhängnis als den 'komplexen Zusammenhang'. Dieser kommt ohne Urversagen und prima causa über uns. (NA 202)
Der Fotograf hat von vornherein keine Chance, den Augenblick zu erwischen, da das im Unerwarteten "Unsichtbare" durch die modernen Maschinen nicht reproduziert und schon gar nicht erzeugt werden kann. Dem Foto fehlt die Aura, denn, so Walter Benjamin, "unverkennbar unterscheidet sich das Abbild, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau es in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jenem. Die Entschälung des Gegenstands aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für alles Gleichartige auf der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen
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abgewinnt."41 Der Augenblick, vor allem der unerwartete, enthält das Geheimnis, welches auf den Film nicht gebannt werden kann. Denn der Film reproduziert zwar den Augenblick, aber läßt ihn in der Erstarrung falsch werden. Damit ist eine Fotografie wie eine erstarrte, absolut setzende Ideologie: Im Grunde unerklärlich, wie man so lange an immer denselben, an einigen besonderen festhalten konnte - als wäre der Verstand ein Verfestiger oder Fotograf und nicht selber das Wasser. (BL 15)
Der Fotograf ist also, da er die Gesellschaft als die anderen und die die Wahrnehmung konstituierenden treibenden Gedanken im eigenen Kopf auf den Punkt, in eine erstarrte Ideologie zwingen will, der Vertreter eines wissenschaftlichen Aufklärungsbegriffs. Gegenüber der Gruppe legitimiert er sich mit einer These, die Strauß auch in "Beginnlosigkeit" vertritt: Bedenken Sie aber: Sein ist Gesehenwerden. [...] Und selbst Sie, werte Damen, Herren, verzehren sich nach dem einen Auge, daß Sie Uberblickt, das ihre wahre Gestalt ans Licht befördert! Erkannte wollen Sie sein!" (SC 197)
Obwohl die Gruppe jemanden benötigt, der sie überblickt und damit definiert, zerstört sie diesen, denn der sich bewegende Text im großen Archiv bleibt niemals stehen. Im Verhältnis des Fotografen zur Gruppe wird das Programm der Postmoderne problematisiert. Denn wer gibt der Gruppe die Identität, wenn es außerhalb der Geschichte keinen Fixpunkt mehr gibt (Foucault), wenn das transzendentale Signifikat (Derrida) im Moment seines Herrschaftsantritts der Dekonstruktion anheimfällt, wenn "Metaerzählungen" (Lyotard) nicht mehr gelten? Durch die Fixierung der Köpfe der Fotografierten in die Richtung des Kamerastandpunktes konstituiert sich für einen Moment, im Raum und der Zeit des Wahrnehmenden, die Fiktion eines Zentrums. Den Mitgliedern der Gruppe ist es in dieser Haltung unmöglich, das Antlitz des anderen zu sehen. Der Chor repräsentiert eine Gesellschaft, in der "neben den Projekten der Rationalisierung in Wissenschaft, Lebenswelt und Kunst, die in der Tat ins Stocken geraten sind, [...] drei Programmatiken [existieren], die bis zur Perfektion einer je spezifischen Wirklichkeit geführt haben: die Immanenz der menschlichen Welt, die Machbarkeit der Dinge, das Selbst als Natur des Menschen. Erst neuerdings sind diese produzierten Wirklichkeiten - produziert, als seien sie nicht produziert - in eine Art 'Ekstase' eingetreten, die ein Wahrnehmen ihrer Kehrseite ermöglicht: die geschlossene Hölle der Bilder, die Rache der malträtierten Dinge, das Selbst als 'nature morte' der Anthropologie. - Nolens volens stehen die Menschen unter dem Gesetz dieses Durchschlags: monadenhaft aufs neue, isoliert gegeneinander, in parzellierten Räumen und zerstückelten Zeiten, verbissen kämpfend gegen ihre Depressionen und Totstellreflexe." 42 In einer solchen Gesellschaft ist es dem einzelnen selten möglich, den anderen nach Levinas als den ganz anderen zu erwarten. Die Gruppenmitglieder benötigen den profanen Führer in der Abwesenheit eines real vorge-
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42
Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, in: ders: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, Frankfurt 1977, S. 4 5 - 6 4 , hier: S. 58. Dietmar Kamper: Aufklärung - was sonst? Eine dreifache Polemik gegen ihre Verteidiger, in: Die unvollendete Vernunft. Moderne versus Postmoderne, hg. v. Dietmar Kamper und Willem van Reijen, Frankfurt 1987, S. 3 7 - 4 5 , hier: S. 38.
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stellten Bildes Gottes, einen Leiter, der sie alle sieht und den sie alle sehen und über den sie sich verständigen. Der Gruppen-Konsens wäre angewiesen auf das Zentrum des Photographen. Aber der Fotograf kann seine exponierte Stellung nicht glaubhaft legitimieren in einer Zeit des "anything goes". In der Terminologie von Levinas bedeutet dies, daß er nicht in der Lage ist, das ganz andere zu repräsentieren. Da der Chor sein Zentrum braucht, weil er sich einem profanen Überblicker, einer Ideologie unterworfen hat und nicht im Nebenmann den ganz anderen und damit das Absolute erkennen kann, wird an den Fotografen der hohe Anspruch gestellt, ein Zentrum zu sein. Diesen kann er als Fotograf, der mit einem Instrument der Aufklärung arbeitet, nicht erfüllen. Denn der Apparat ist fehlbar, wie das NichtWahrnehmen-Können des emergenten Momentes zeigt. Die Gruppe wird vom Fotografen nicht als das ganz andere betrachtet, sondern mit dem Apparat in Ideen seziert. Das fotografierte Antlitz erstarrt zur Ideologie. So muß sich der Fotograf den Vorwurf gefallen lassen: "Sie schießen ein Pauschalfoto nach dem anderen!", und: "Haben sie überhaupt den Versuch unternommen, an uns das Wesentliche zu entdecken, die - (Durch die Reihen auf- und abwärts läuft in Silben getrennt das Wort Ίη-di-vi-du-al-i-tät')." (SC 196) Denn das ganz andere jedes Einzelnen und der Gemeinschaft ist nicht auf ein Foto zu bannen. Die Aussage des Fotografen "Ich habe euch nicht richtig gebaut" spiegelt seine subjektbezogene Weltsicht wider: Das "Ich" baut die anderen wie es den Text der Welt baut. Als aufklärendes Subjekt mit dem Jagdinstrument der Kamera glaubt der Fotograf daran, ein eigenständiges, seine Umwelt kontrollierendes Selbst zu besitzen. Er will die Gruppe auf den von ihm vorgegebenen Begriff bringen: "Sie sind - Sie alle, - wie Sie da stehen und eine beliebige Anzahl bilden - Sie sind ein einziges Wesen, ein Wesen mit einem völlig neuen Gesicht." (SC 197) Die Gruppe, die einerseits das Zentrum dringend benötigt, aber andererseits nicht mehr an die Existenz eines solchen glaubt, sich also in der paradoxen Situation des Individuums in der Nachmoderne befindet, belehrt ihn eines Besseren. Als er zu dominierend wird, warnt sie ihn: "Ein Wort noch, ein letztes, von Meute zu Mann: Geraten Sie nicht außer Kontrolle!" (SC 196) Der Fotograf stellt sich stur und versucht, auf seinem Bild das Wahre dieser Diskursgesellschaft durch die Objektivierung der Gruppe herauszuarbeiten: "Ich fotografiere euch so lange, bis ihr ein Gesicht seid. Ein Kopf - ein Mund - ein Blick. Ein Antlitz!" (SC 196) Das Abbild des Levinasschen Antlitz kann aber nicht gelingen, denn eine durch das Subjekt vorherbestimmte Ordnung läßt das Unerwartete nicht zu, sondern weiß im Voraus, wie das andere zu sein hat. Der Chor entlarvt das Zentrum mittels Dekonstruktion und entzieht ihm seine Macht dadurch, daß sie dem Fotografen sein Selbst als Illusion aufzeigt. Wenn Strauß konstatiert: "Ich habe meine Gedanken nie über die des anderen hinaus entfalten können. Ich habe nie über die Augen des anderen hinausdenken können. Ich bin klug mit den Klugen, stumpf mit den Stumpfen, verspielt mit den Verspielten", (NA 201) dann definiert er sein Verhältnis als Subjekt zum anderen. Die willenlose Befolgung der "Kanonade kurzer lauter Befehle, einzeln oder zu mehreren abgegeben" (SC 197) durch den Fotografen zeigt dieses Verhaltensmuster. Verschärft wird die Abhängigkeit des Fotografen von dem anderen durch den Umstand, daß der andere eine gesellschaftliche Gruppe und zugleich ein nicht unter den Begriff zu bekommender fragmentierter, sich bewegender Text ist. Zu diesem psychischen Vorgang schreibt Strauß:
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Man möchte annehmen, daß vielfach angeblickt werden, die Lebensgeister eines Menschen sammelt, züchtigt und zu größerer Leistung antreibt. (BL 95)
Der Fotograf paßt sich der jeweiligen Forderung der Gruppe und des Textes an ihn an, dabei löst sich seine Identität vor dem Spiegel der sich bewegenden Gruppe und des sich bewegenden Textes in einer Unzahl von Kleinstidentitäten und dann in Nichts auf. Das Treiben der Ideen, der Wörter in der Nachmoderne läßt nur noch die Kleider als Symbol dafür übrig, daß das Individuum eben nur aus den Identitäten, welche der Diskurs bereithält, besteht, aber nicht als festes Selbst. "Endlich sind wir wieder unter uns" stellt F4 befriedigt fest, der Konsens in der Differenz ist wiederhergestellt, der Text bleibt selbstreferentiell. Eigentlich könnte der Chor jetzt "frühstücken gehen" (SC 197). Damit wäre er aus der "eingeschränkte[n] Bewegungsfreiheit" (SC 189), aus der durch die Wahrnehmung erzwungenen momentanen Ordnung, die Strauß im Nebentext vorgibt, entlassen. Aber: Es ist wichtig, als erstes einmal festzustellen, daß die Masse sich nie gesättigt fllhlt. Solange es einen Menschen gibt, der nicht von ihr ergriffen ist, zeigt sie Appetit.43
Der weibliche Dialogpartner, der Ersatz für den entindividualisierten Fotografen erweist sich erst als widerstandsfähig gegenüber den Ansprüchen und Anmaßungen der Gruppe. Die Frau bricht die Einheit der Gruppe auf, indem sie einen einzelnen als Dialogpartner aus dem Chor anspricht, ihn individualisiert, indem sie ihn vor den anderen als momentane "Wahrheit" heraushebt. Dabei läßt sie diesem seine Illusionen nicht. "Solche, die sich gern was vormachen" werden mit dieser Aktion aus dem Konsens herausgebrochen und der Sinn des Diskurses, die Zementierung einer illusorischen Gleichheit aller Diskursteilnehmer, wird unterlaufen. Gleichzeitig klagt die Frau den Ent-Individualisierten im Namen von Strauß der mangelnden Leidensfähigkeit an: "Du siehst, wie die Erde verdirbt und die Güter der Erde ungerecht verteilt werden - und du willst nicht leiden?". Die entschuldigende Antwort: "Ich kann doch nicht immerzu daran denken", läßt die Frau nicht gelten: "Das mußt du aber." (SC 198) Ihre Qualitäten werden vom Chor anerkennend gewürdigt: "Sie nehmen es unwahrscheinlich genau mit den Lichtwerten, stimmt's?", und: "An jedem Handgriff hat man seine Freude. Gnadenlos präzis!" (SC 198) Die Frau agiert differenzierter, versucht jedoch immer noch, mit dem Apparat den Chor in den Be-Griff zu bekommen. Aber der Chor fängt am Ende des ersten Aktes bereits wieder "leise an zu summen", (SC 199) beginnt mit seinem "Verstehensgeräusch" und wird wahrscheinlich auch sie vereinnahmen: "Fl: Bei der wird es etwas länger dauern, bis sie in der Schlinge steckt. F7: Aber [...] es wird sich lohnen." (SC 199) Am Ende gelingt es weder der Frau, noch dem Mann, aus dem Chor herauszutreten, um als Subjekt einen Dialog zu beginnen und zu stabilisieren. Der Chor, der schon immer vorher da ist, wird in jedem Falle triumphieren, das Subjekt wird als Täuschung nicht herausgestellt, sondern wieder im sich bewegenden Chor, im Treiben der Signifikanten unkenntlich gemacht.
43
Canetti: Masse und Macht, a.a.O., S. 18.
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4.1.2. Perspektive II als Versuch, den Raum und die Zeit des "Jetzt" zu sehen: Vor dem Spiegel des Textes Der zweite Akt kopiert den von Ovid aufgeschriebenen Diana-Mythos aus den Metamorphosen in den Straußschen Text. Ovids Verwandlungen verwandeln sich, der Urtext, der Mythos bedient sich einer neuen Aus-Formung im gegenwärtigen Zeit-Raum und als Durchlaufstation des Dichters und "Kopisten" (FdK) Strauß. Im Stück heißt Diana (griechisch: Artemis) Delia, da die Göttin auf der Insel Delos geboren wurde. Zwei Szenen teilen den zweiten Akt. Während die erste Szene im umzubauenden Haus von Delia spielt, ist dessen Vestibül der Ort der Handlung in der zweiten Szene.
4.1.2.1. Das Versehen als Subversion des Be-Griffs und Öffnung zum ganz anderen
Gott ist von allem, was wir sind, wir ewig Anfangende, der verletzte Schluß, das offene Ende, durch das wir denken und atmen können. (PP 177) Lorenz befindet sich in der Immanenz des Daseins, sucht Licht, (die Situation ähnelt der Osternacht, in der das Göttliche, durch das Licht symbolisiert, von den Menschen erwartet wird), und reißt die Tür auf zum ganz anderen, zum Nächsten, zum im Augenblick der Fremdheit Göttlichen. Die Analogisierung des anderen als ganz anderen und nur im Moment Gegenwärtigen hat ihren philosophischen Hintergrund in den Arbeiten von Emmanuel Levinas. Der emergente Moment im Versehen als Durchscheinen des Göttlichen und als Verbindung zur Fremdheit des anderen ist ein Thema, das Strauß seit längerem beschäftigt, er schildert ihn in "Fragmente der Undeutlichkeit": Irgendwo auf dieser Bühne reißt man aus bloßer Erregung die falsche Tür auf, und jemand Stilles sitzt dort oder kauert in der Dekoration. Sofort fliegen zwei Hände auf und wimmeln das Licht ab. Nicht sehen! machen sie wie zwei rüttelnde Schwingen und stemmen sich dann gegen den Einblick wie gegen einen stürzenden Schrank, um zu verhüten, was offenbar ist. Nicht sehen! Und was nicht? Daß Türaufreißer und Stuhlaufsitzer sowie Innen und Außen, Jähe und Stille schlichtweg untrennbar, augenblicklich einunddasselbe, ja daß sogar Tür und Stuhl ein inniges Ding sind, womit verbunden der Verdacht anschwillt, daß wir in unserer Sphäre wohnen als aus dem Tod Verscheuchte und alle Tage in einem lautlosen Schrei etwas hineingesprochen haben. (FU 41) In "Beginnlosigkeit" schreibt Strauß: Jede Frau kann zur Heiligen des Begehrens werden, wenn die Flüchtigkeit, mit der wir sie erblickten, eine hochauflösende, scharf-umrissene Imagination hinterläßt. Wenn sie uns für den einen Augenblick überaus gegenwärtig wurde, in gewisser Weise sogar absolut gegenwärtig, so daß in diesem einzigen Zeitpunkt jedes Abenteuer, jede Geschichte, jedes Wort verschwindet wie Materie jenseits des Ereignishorizonts. Es ist im übrigen dieselbe Kraft, die auch im Banalsten wirkt und unsere Sinne verwirrt, wenn im Hotel das Zimmermädchen plötzlich, d. i. aus VERSEHEN, die Tür aufreißt, uns in unserer Stille, Abgewandtheit erblickt (was in jedem Fall eine Form der Nacktheit ist), sich entschuldigt und wieder umkehrt. Jede Begierde ist derart auf ein schnelles und gewaltiges Versehen zurückzuführen. Jede aufgenommene Liebesbeziehung ist dann aber auch der Beginn einer Entgegenwärtigung. Das Versehen kämpft mit allen Mitteln blinder Leidenschaft um
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seine Selbsterhaltung, kämpft gegen die aufklärenden Tendenzen, die sich in der LiebesGeschichte zwangsläufig entfalten. (BL 103f.)
Diesen erfolglosen Kampf führt Lorenz dann in der zweiten Szene des zweiten Aktes. In "Niemand anderes" beschreibt Strauß das Levinassche "Antlitz": Der erste Blick ist hier einer, der nicht sieht, sondern sich zeigt. Die Welt vor dem Lächeln, dem Gruß. Alle Hoffnung liegt darin verschlungen mit bitterer Erfahrung. Wir waren bereits, sagt der gedrungene Aufblick, ich komme zurück. Jede ernste Geschichte geht hervor aus dem Nu ihres Durchlittenseins. (NA 40)
Und: Wie der Heilkundige im Auge die verborgenen Organe inspiziert, erschaut der ursprüngliche Blick das ganze Mögliche zwischen zwei Menschen. (NA 38)
Als das Versehen geschieht, befindet sich Lorenz im Haus von Delia, das gleichzeitig das Haus der Göttin ist. Wie Aktaion im Mythos dringt er in den göttlichen Bereich, in den Bereich des ganz anderen ein: "Reißen Sie immer die Türen auf in fremden Häusern?" (SC 200) beschwert sich dann auch Delia. Er begeht den Tabubruch durch Ausleuchtung des Numinosen. Das Problem von Lorenz ist, daß "die Kunst des Jagens, die doch eigentlich immanent ist, sich nun zur Transzendenz emporschwingen" 44 soll. Denn mit den Mitteln der Aufklärung, der Jagd nach Beute, dem Griff nach der Welt, kann das Numinose nicht erlegt werden. Daß Strauß einen Architekten auf einen Hausbesitzer treffen läßt, die Begegnung zwischen Mensch und dem ganz anderen in einem Haus stattfindet, erinnert an Heidegger, für den sich das "Wohnen" unter anderem "im Erwarten des Göttlichen, im Geleiten des Sterblichen ereignet". 45 Das Versehen wird zu einem Verhängnis, wird somit zu etwas, das der aufgeklärte Architekt Lorenz aufgrund ordentlicher statischer Berechnungen und den rechtlichen Vorschriften der Feuerpolizei ausgeschlossen glaubt. "Delia: Wie konnten Sie das tun? Lorenz: Es tut mir leid. Es war ein Versehen. So etwas kann passieren. Delia: Kann. Darf aber nicht." (SC 200) Das Verhängnis des Aktaion ist auch das Verhängnis des modernen Gesellschaftsmenschen, dem dieser zwar in der Illusion einer berechenbaren Welt zu entkommen trachtet, aber in jedem Moment seines Lebens schutzlos ausgeliefert ist. Der Architekt, der aufgrund seiner beruflichen Zwitterstellung sowohl dem künstlerischen, als auch dem wissenschaftlichen Bereich zugeordnet werden kann, ist die ideale Figur, um sowohl offen zu sein für die Epiphanie, als auch so wissenschaftsgläubig, daß er diese unbedingt mit den Mitteln des Diskurses wiederholen will. Unmittelbar nach dem emergenten Moment beginnt Lorenz mit der wissenschaftlichen Aufklärung: "Also gut, unterbrechen wir den Dachausbau. Beugen wir uns ungestört über den Vorfall, wie er nun einmal geschah. Überlassen wir uns seiner kaltblütigen Erörterung". Delia warnt ihn: "Die Auslegung wird Sie töten, Fremder. Vorsicht!" (SC 201) Ein "Fremder" ist bei Strauß jeder andere, jede Begegnung mit dem Mitmenschen ist eine Begegnung mit dem Numinosen: "Jeder, auch der Vertrauteste, kommt aus der Fremde zu dir." (NA 43) So ist die Begegnung von Lo-
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Pierre Klossowski: Das Bad der Diana, a.a.O., S. 16. Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken, in: ders.: Vortrage und Aufsätze, Teil II, Pfullingen 1967, S. 25.
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renz mit der Göttin auch als Begegnung von Lorenz mit Delia, dem (begehrten) Mitmenschen zu interpretieren. Jede unmittelbare Begegnung ist aber als im unendlichen Archiv gespeicherte Geschichte bereits zu Ende, wenn der Augenblick vorüber ist: Sie sieht dich, weil du ihr Fremder bist, ingrimmig an. Mit dem Ingrimm und der Kälte des Begehrens. Wie du auch handeln wirst, sie handelt von nun an. Dies jedenfalls behauptet das Auge. Aber es erzählt ja die ganze Geschichte, die kommen wird. Daher schimmert in seiner Kühle auch Ende, Kränkung und Schmerz. (NA 40)
Im ersten Moment, da noch kein Text die Fremdheit des ganz anderen zerstört, indem er totalitär auf den anderen übergreift, erwartet Lorenz das andere und erobert es noch nicht mit dem Blick: "man selbst ist blind vor Überraschung bei solch einem Irrtum in der Tür ... Vor meinem plötzlichen Gesicht standen sie ganz unverletzbar, in Bann und Rüstung dar." (SC 200) Erst in dem Erörtern des Unerwarteten wird Delia ihrer Schutzhülle der Fremdheit beraubt und Lorenz sich seiner Scham bewußt: "Jetzt, glaub ich, laufe ich rot wie ein Puter an, jetzt erst, wo wir davon sprechen, erscheinen sie mir hüllenlos." (SC 201) Wie die ersten Menschen sich erst, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis genascht haben, ihrer Nacktheit bewußt werden. Die Erkenntnis kann Verhängnis sein, oder, wie im Programm der Aufklärung, der Ausgang aus der Unmündigkeit: Was vom Baum der Erkenntnis zu essen lehrte, bleibt demgemäß die erste Erscheinung des erlösenden Wissens, das aus dem Garten der Tiere, ja aus dem entsetzlichen Vaterhaus dieser Welt herausführt: die Paradiesschlange ist die Raupe der Göttin Vernunft. 46
Und Vernunft als Gegenspieler zum Glauben an das Numinose, als erstarrte Idee, sieht Strauß als begradigten Text, der zwar die selektive Wahrnehmung des anderen ermöglicht, zugleich aber die Verfehlung zwischen Mann und Frau und damit das den Text bewegende und die Identität des einzelnen unterlaufende Begehren erst begründet. Nach seiner Vorstellung führt die in Worte geronnene Vernunft nicht, wie Ernst Bloch verspricht, zum diesseitigen Paradies, sondern im Gegenteil aus ihm heraus: "Dann fallen die Worte. Und mit ihnen wir. Der Blick enthält noch in Spuren 'Hintergrundstrahlung' von Urzeit und Fülle. Mit den Worten beginnt die Vertreibungsgeschichte" (NA 39) aus dem Paradies. Die Utopie des Botho Strauß ist im Außerhalb des differenzierenden Textes zu situieren. Indem Delia und Lorenz wie "nebenbei" (SC 199), sehr abrupt das Gesprächsthema wechselnd, innerhalb der Erörterung des Dachausbaus das Versehen diskutieren, stellt Strauß Einst und Jetzt, das in alter Zeit geschehene und sich jetzt Wiederholende und die alltägliche Geschäftsbeziehung direkt nebeneinander und betont damit die leeren Stellen in unserer Sprache, die die modifiziert und zerstückelt erhaltene Leidenschaft zwischen den Zeilen enthalten, aber nicht mehr benennen. Diese aufzudecken, wäre die Aufgabe des Dichters und das versucht Strauß auch mit seinen Texten. Die Einschränkungen, die Lorenz aufgrund behördlicher Vorschriften der Feuerwehr und der Bauaufsicht dem Dachausbau des Hauses der Göttin abverlangt, sind alles Erleichterungen, etwaige Feuer zu löschen, um die Leidenschaft an sich zu kühlen und die Grenze zum ganz anderen durchlässiger zu machen. Alte gnostische Abbildungen zeigen "die Abriegelung der irdischen Welt nach oben durch den dunklen 46
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1990, S. 1498.
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Feuerkreis", 47 welcher die Götter von der schlechten Welt trennt und die Gestalt einer Kuppel hat. Wenn Lorenz ein "Kuppelgrab" (SC 201) vorschlägt, dann würde er die Göttin gerne in der Immanenz (der runden Erdenwelt, bestehend aus Wörtern) einmauern, sie den Sterblichen zufuhren. "Niemals etwas Rundes! Keine Kugel" wehrt Delia den Vorschlag des Architekten ab. Delia steht auch für das ganz andere in der Kunst. Wenn Lorenz in Delias Haus als Architekt die Vorschriften der Feuerwehr vertritt, dann trifft er als rationale Sphäre eine Vorsichtsmaßnahme, denn die Begegnung mit der Göttin ist der Kontakt mit dem Feuer, der Manie, der Leidenschaft. Später mutiert Delia für Lorenz zum "Eiswürfel". (SC 211) Diese Charakterisierung verkehrt sich nur dann kurz wieder in ihr Gegenteil, als Lorenz tatsächlich an Delia herankommt und dem Publikum (oder sich selbst) verkündet: "So eng mit ihr, daß kein Löschblatt[!] zwischen uns mehr paßt." (SC 209) Diese Dualität Feuer und Eis ist nach George Steiner konstituierend für große Kunst: "Durchgehend [...] ist große Kunst in unserer umstrittenen Moderne, wie alle großen Gestaltungen zuvor, angerührt vom Feuer und vom Eis Gottes." 48
4.1.2.2. Die Prophezeiung der Wiederholung: Das Ge-Sehene wiederholt das Ge-Sehene wiederholt das Ge-Sehene etc.
Lorenz: Der Anblick, wie er war. Delia: War alles. Sie wollten gar nicht, was sie bekommen haben: so viel. Mehr als jede Geschichte, die Mann und Frau gemeinsam haben. Anfang und Ende auf einmal. Das konnten Sie gar nicht wollen. Ich aber will. Lorenz: Was? Delia: Ich will ihn wiederholen, diesen Blick, von ihnen, mir, bei einer anderen Gelegenheit. Lorenz: So ein Versehen läßt sich niemals wiederholen. Die reine, aufgeschreckte Kreatur, die Sie im Bruchteil der Sekunde waren - Delia: Eine Kreatur? (SC 201)
Die Etymologie des Wortes "Kreatur" läßt sich auf kirchenlateinisch "creatura", "Schöpfung", "Geschöpf' zurückführen. Lateinisch "creo" bedeutet "erschaffen", "erzeugen", "verursachen". So weist die Bezeichnung Delias als "Kreatur" nicht nur auf ein minderwertiges Geschöpf hin, sondern auch auf die Erschaffung aus dem Bewußtsein von Lorenz. Dieser hält sie für eine "Imago", "wie der Künstler sie erschafft". Er vergleicht sich mit Degas, der die "Frauen nach dem Bad" in ihrer "Nacktheit endlich erschaffen hatte". In Lorenz moderner Vorstellungswelt erklärt sich die emergente Schönheit als reiner Bewußtseinsakt physikalisch als "in die Welt hineingeschaffen [...]. Die Welt ist wirklich leer, das ist kein bitteres Wort, das ist die nüchterne Physik, wirre schwarze Strahlung alles, wenn nicht das Auge Schöpfer wär." (SC 201) Diese Vorstellung geht zum Teil konform mit der von Strauß, wenn er in "Beginnlosigkeit" feststellt: "Unser Gehirn besitzt keinen unmittelbaren Zugang zur Welt." (BL 10) Aber eben nur zum Teil. Denn in der Emergenz bricht der andere als Fremder durch. Auch das Kunstwerk kann nach Strauß, der darin George Steiner folgt, auf das ganz andere verweisen, es kann im Spiel der Interpretationen auf die "Blöße" verweisen, "die es einmal gab, nur im Versehen, und also niemals gab, weder im Garten Eden noch im Bordell". (SC 201) 47 48
Hans Leisegang. Die Gnosis, Stuttgart 1985, S. 24. George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München 1990, S. 291.
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Lorenz weiß dies alles, aber er begeht den Fehler, den Augenblick des Versehens diskursiv festhalten zu wollen. Als Architekt und damit funktional denkender Mensch setzt er seine Vorstellungswelt über ein Denken, das das ganz andere indirekt als Abwesendes wahrnimmt. In dem Moment, in dem Lorenz mit Delia den Vorfall erörtert, ist das ganz andere verschwunden. Und Delia beklagt dann auch ihre diskursive Einordnung in eine "Galerie von Aktmodellen", (SC 201 f.) wobei das Negative nicht die Aktmodelle, sondern die durch Sprache eingeleitete Profanisierung des Unsagbaren und Nivellierung des Einzigartigen ist. Der sekundäre Diskurs erweist sich als unvollständig, "die tiefschürfenste, eingehendste Reaktion [trifft] immer auf eine nicht zurückführbare 'Andersheit'."49 "Der Zustrom an Kälte", (SC 202) den Delia auf ihn lenkt, ist ein Zustrom vom Subjekt Lorenz auf das Subjekt Lorenz, Ursache und Wirkung bleiben in der Immanenz. Indem Lorenz den Vorfall erörtert, nimmt er in seiner Rekluse seinem Bild von Delia den Charakter des ganz anderen, reduziert im Diskurs das unendlich Komplexe zum Begriff, das vormals Lebende erstarrt in der Kälte der Abstraktion. Lorenz postuliert die unüberwindliche Grenze zwischen dem Profanen und dem Göttlichen und zugleich zwischen Mann und Frau als jeweils für den anderen das ganz andere: "Lorenz: Ich denke mir: Ihr Alltag kennt sie mit ganz geordneten Begierden. Eine Frau, die ihre Liebschaft pflegt, die sich umarmen läßt. Sie bleiben, Delia, auch ohne Keuschheit, unberührt." (SC 202) Das Negative, so meint er, das die gewöhnlichen Begierden der diesseitigen Welt-Ordnung erzeugen könnte, trifft die Göttin nicht, denn diese ist nicht im selben Raum wie der Blickende, der nur sich selbst erblickt. Nur die Idee, die vom Subjekt als Schönheit in die Welt hineinprojiziert wird, erstarrt und kippt in das Negative um, wenn man an ihr zu lange festhält: "LORENZ [...] Ich frage mich, was aus ihrer Schönheit würde, wenn ich bliebe." (SC 202) Lorenz realisiert nicht, daß er den Raum des anderen berührt und verletzt hat. Und während er über seine Beziehung zum Göttlichen, zum ganz anderen philosophiert, denkt Delia über die Bestrafung des Frevlers nach: "Den Erblicker zu zerreißen, birgt die Gefahr, aus jedem seiner Fetzen wüchs ein neuer. [...] jedes Teil ein neuer Ganzer." (SC 202) Denn die Zerstörung des nachmodernen Individuums kann nicht mehr gelingen, da es aus dem sich bewegenden Text zusammengesetzt ist, so daß jede Zerstörung seiner Einheit wie ein Schlag ins Wasser wäre. So muß sein "Untergang [...] neu erfunden werden". (SC 202) Lorenz interessiert das nicht ("anderer Fall"), er fühlt sich sicher in seiner Immanenz der Wörter und zitiert David als Beispiel für einen ungestraften "One-Night-Stand", in dem der Mann die sexuelle Ober-Hand behält. Sein Vorstellungshorizont ist jedoch, wie er selber anführt, "eng beschnitten". (SC 202) Strauß bezeichnet "Gedanken [als] Organisationsderivate der Gefühlstöne. Abstraktionen vermitteln ein Abgeschlossenheitsgefühl, alles Denken kommt aus dem limbischen System und bleibt mit der Witterung in engster Beziehung." (BL 70f.) Wie die Linse einer Kamera bündelt die Mauerscharte die Sicht, so wie die Abstraktion das Derivat der Gefühle ist. Lorenz verdichtet seine Gefühle in Wörter, sperrt sich damit aber in deren Immanenz. Somit entfernt er sich von Delia als der ganz anderen, als dem Schweigen (Sig6). Und in dieser Situation übersieht Lorenz, daß es allein seine Sicht der Dinge ist, die er beschreibt. Wenn Delia dann entgegnet: "Ich hüllenlos. Bathseba hüllenlos. Wie oft bringen sie das
49
Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, a.a.O., S. 275.
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noch über die Lippen?", (SC 202) dann weist sie Lorenz darauf hin, daß seine Vorstellungen einer hüllenlosen Delia die Abstraktionen selbst sind. Die Gleichsetzung von Entblößung und Abstraktion postuliert Strauß in "Beginnlosigkeit": "Abstraktionen: Entblößungen, mit denen der Geist sich in Erregung versetzt." (BL 71) Und diese Erregung durch die Abstraktionen wird Lorenz auch zum Verhängnis. Denn er wird durch die Wörter, die das Ganze versprechen, aber nie geben können, in den "leeren Umlauf' (FU 44) getrieben und kann deren Immanenz nicht durchbrechen. Seine Erregung ist in dieser Situation auch nicht mehr zu dämpfen, denn "Abstraktionen sind die höchsten Verdichtungszustände von Leidenschaft und sie suchen ihre Wirkung in sofortiger Erregung neuer Leidenschaft." (BL 71) So entgleitet Lorenz die Kontrolle der von ihm so trefflich auf den Begriff gebrachten Beziehung, die Signifikatenkette bewegt sich. Seine Vorstellung der perfekten Begegnung zwischen Mann und Frau als Nicht-Berührung kann er nicht realisieren, er will den emergenten Moment wiederholen, der dann doch etwas anderes war, als nur die Kreatur seines Bewußtseins. Der emergente Kontakt zum ganz anderen war eben nicht der Kontakt, bei dem beide Parteien unberührt bleiben. Und so leidet Lorenz und wenn er das Vestibül der alten Villa betritt, ist er "gealtert, eingefallen, zur komischen Figur verändert" (SC 203), seine Einheit beginnt, sich aufzulösen. Nicht mehr in seiner eigenen Existenz, welche die Umwelt totalitär definiert, sondern im anderen, in Delia sieht er seinen Sinn. Daher versucht er im zweiten Teil des zweiten Aktes seine Immanenz zu durchbrechen und Delia als das ganz andere zu gewinnen. Weil der erste Augenblick vorbei ist, beabsichtigt Lorenz, diesen diskursiv zu konservieren oder wiederauferstehen zu lassen. Dabei will er den chaotischen Anfang in eine geordnete Beziehung überfuhren, das Komplexe in der Abstraktion bändigen, er "muß" mit Delia "ins reine kommen". (SC 203)
4.1.2.3. Die Immanenz des Textes Der "Eintritt" in die Fixierung der Identität vor dem Spiegel Nachdem der Mensch Lorenz in den Bereich des Göttlichen eingedrungen ist, wird er wieder in den Zwischenbereich des Lebens, den Teil zwischen Vor-dem-Leben und Nach-dem-Leben, in die "Zwischenzeit" zurückgeworfen. Davon ausgehend versucht er wiederholt, das ganz andere zu erreichen, der Immanenz zu entkommen. Die Position von Lorenz im Vestibül läßt sich mit Heideggers Philosophie vorzüglich interpretieren. Im Raum vor dem Spiegel befindet sich Lorenz in einer Vorhandenheit, der Alleinherrschaft des Seinsinns. Die Haustür entläßt ihn auf die Bühne der Welt als Text, man kann auch von Geworfenheit in eine bestimmte Situation sprechen, der Zugang zum Saal repräsentiert den Entwurf in eine mögliche Zukunft. Die Gegenwart von Lorenz im Vestibül ist daher im Sinne von Heidegger nicht Erstes, sondern etwas mit der Zukunft (im Saal) und Gewesensein (außerhalb des Hauses) Gleich-Ursprüngliches. So funktioniert der Ort der Handlung auch als Symbol des Lebens. Zugleich ist der Ort der Ort und die Zeit der Fixierung eines momenthaften Sinns vor dem Spiegel im Sinne von Lacan. Der Spiegel bestätigt die momenthaft feste Identität.
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In der "Rekluse" der Immanenz des Textes, der den Text spiegelt Sie, die 'Göttin des Draußen', wird zur fortwährenden Erregung der unterjochten Gefühlsregung im Inneren. (Pierre Klossowski) Wäre ich, wie es meiner innersten Verfassung entspricht, ein Zuhausegebliebener, dann sähen sie mich jetzt meinem eigenen Schatten gleich an den Zimmerwänden entlangstreichen und mit spitzer Kohle darauf einen Schlußstrich nach dem anderen ziehen. (SC 204)
Lorenz wäre sich dann seines Lebens in der Immanenz des Textes (an den Zimmerwänden) bewußt und würde sein Verhalten der Flut unablässiger Weltbild- und Beziehungsstürze anpassen und an den Grenzen seiner Immanenz jeder selektierenden und komplexitätsreduzierenden Form kurz vor ihrer Erstarrung entkommen (indem er einen Schlußstrich nach dem anderen zieht). Jede Einheit, die sich im Spiegel des sich selbst begegnenden Textes bildet, wäre durch das Begehren nur ein kurzes Bestehen gegönnt. "Ach Spiegelatur! Sie will eine ganz andere Sprache von mir hören. Welche?" klagt Lorenz dem Spiegel und damit sich selbst sein Leid, den er in Anspielung auf Jacob Böhmes Signatur Spiegelatur nennt. Vom Neuplatonismus und der Mystik tradiert sich die Auffassung der Signatur als die externe Form als der Ausdruck des Wesens eines Dinges und begründet sich in der Annahme einer Teilnahme aller Komponenten des Weltganzen. Mit Hilfe des Begriffs der Signatur widmet sich Jakob Böhme dem von ihm so wahrgenommen Oberen im Unteren, einem scheinbar paradoxen Unternehmen einer Metaphysik in der Empirie 50 . Die Verbindung der Ewigkeit - bei Böhme der "Ungrund" - mit dem Diesseits ist, vergleichbar dem indirekten Weg zum Licht im Platonschen Höhlengleichnis, eine mehrfache Spiegelung: als erstes Spiegelbild des ganz anderen entsteht das innere Licht, das die Ideen erzeugt. Als eine zusätzliche Spiegelung zeigt sich dann die wirkliche Welt. Der Spiegel in Delias Vestibül ist also auch ein Symbol der inneren und damit auch äußeren Reflexion der Individuen als Ordnungsinseln im unendlichen Archiv, die sich vor ihn stellen. Für Lorenz "schweigt" der Spiegel erstmal "und mustert einen unbegreiflichen Menschen", (SC 206) der nicht auf den Begriff zu bringen ist. Der Spiegel sagt nichts und "mustert", erstellt ein Muster, zugleich. Lorenz erkennt im Nicht-Erkennen, daß sein Selbst in der Reflexion nicht dadurch beherrschbar ist, daß man es auf den Be-Griff bringt. Die Immanenz der Böhmeschen Spiegelungen wäre nur zu überwinden durch das Einlassen auf das Unbegriffene. Der Name Lorenz verweist auf die neuesten Erkenntnisse der modernen Systemforschung. Als deren Vertreter unter den Literaten sieht sich Strauß, wenn er einen Teil von sich selber als Fulguristen tituliert: Darauf wird nun derjenige entgegnen, den man den Fulguristen nennen könnte, also jemand, der [...] von den Göttern und der modernen Wissenschaft gelernt hat, daß ein geringer abrupter Wechsel innerhalb eines 'Systemganzen' zuweilen genügt, um die Heraufkunft von etwas völlig Unvorhergesehenem und Neuem zu bewirken. Kein noch so komplexes, hoch entwickeltes, gleichgültiges, liberales und strapazierfähiges Gemeinsames
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Günther Bonheim: Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jakob Böhme, Würzburg 1992, insbesondere S. 62ff.
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vermag sich gegen den Blitz zu schützen, der es umordnet. Wenn der Schein wild wird nach Gestalt, wird er den Spiegel zum Bersten bringen. (AW 318f.) Wenn der Schein der Immanenz die Wahrheit zeigen will, dann bricht der Spiegel des Textes, der sich selbst begegnet, und das Göttliche hat in der Emergenz Zutritt. Der Fulgurist erörtert ein Phänomen, welches in der Biologie als "Emergenz" bezeichnet wird. Emergenz ist, wie oben schon angesprochen, eine Form der Genese von Nova, welche aus der bisher bestehenden Konstellation nicht extrapolierbar und daher nicht voraussagbar sind. In seinem Buch "Die Rückseite des Spiegels" behauptet Konrad Lorenz, daß der organische Schöpfungsvorgang durch die Wörter "Entwicklung, Development, Evolution usw." nicht zutreffend beschrieben sei. Denn diese "besagen j a etymologisch alle, daß sich etwas entfaltet, daß schon vorher in entwickeltem oder zusammengefaltetem Zustand vorhanden gewesen war, wie die Blume in der Knospe oder das Hühnchen im Ei."" Konrad Lorenz glaubt hingegen, daß das Wesen des Schöpfungsaktes darin bestehe, daß jedesmal etwas Neues entstehe, "etwas, was vorher einfach nicht da war". Durch "Fulguration", einen Ausdruck aus der mittelalterlichen Mystik und Theosophie, läßt sich für Lorenz dieses Phänomen angemessen bezeichnen. "Fulguration" bedeutet "Blitzstrahl" und bringt die "unmittelbare Einwirkung von oben, von Gott her" zum Ausdruck. Eine solche unvorhergesehene Entstehung von Eigenschaften, "die vorher nicht, und zwar auch nicht in Andeutungen, vorhanden gewesen waren", wird von Konrad Lorenz in Anlehnung an Max Hartmann als "irrationaler oder nicht rationalisierbarer Rest" erklärt. Daher sind zwei Möglichkeiten der Erklärung dieses Phänomens gegeben: Der Immanentist beharrt auf Eigenschaften des Zufalls oder auf mangelnde Erkenntnisse und fehlende Daten rückfuhrbares Nichtwissen, während der Fulgurist einen Hinweis auf das ganz andere vermutet. Die "Rückseite des Spiegels" ist für Lorenz der menschliche Erkenntnisapparat. Um diesen zu beschreiben, muß das Subjekt aus seiner Immanenz hinausgelangen, sozusagen hinter den Spiegel treten. Dort kann aber nur vom Standpunkt eines mechanistischen Weltbilds her argumentiert werden, eine Beschreibung des Erlebens scheitert am Leib-Seele-Problem: "Die Eigengesetzlichkeiten des Erlebens können grundsätzlich nicht aus den chemisch-physikalischen Gesetzen und aus der wenn auch noch so komplexen Struktur der neurophysiologischen Organisation erklärt werden." 52 Da Strauß in der Nachfolge von Heidegger die Welt als Sprache und in Übereinstimmung mit den radikalen Konstruktivisten als Konstituiertes vom Subjekt her sieht, ist der Blick hinter den Spiegel wie bei Lorenz nicht mehr möglich. Denn auch das naturwissenschaftliche Modell des menschlichen Erkenntnisapparates ist ein Text, der aus dem Bewußtsein, das selbst Text ist, in die Umwelt projiziert wird. So bleibt das Subjekt in seiner Rekluse und in der Erwartung des ganz anderen. Daher befindet sich im "Schlußchor" die Figur mit dem Namen Lorenz im zweiten Akt "Lorenz vor dem Spiegel" eben vor dem Spiegel und damit als Subjekt in seiner unüberwindbaren Immanenz.
31 52
Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München 1977, S. 47ff. Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, a.a.O., S. 216. 255
Der Name Lorenz verweist nicht nur auf den Verhaltensforscher Konrad Lorenz, sondern auch auf Edward Lorenz, einem Meteorologen am Massachusetts Institute of Technology. Dieser erkennt 1960 als erster, wie Iteration Chaos erzeugt. Bei der Lösung von nichtlinearen Gleichungen durch den Computer stellt er fest, daß minimale Änderungen an der Ausgangszahl (an der vierten Stelle hinter dem Komma) sehr große Änderungen im Ergebnis nach sich ziehen.51 So ist der Name auch ein Hinweis auf die Erkenntnisse der modernen Systemforschung, die in die Texte von Strauß eingehen. Die Immanenz, in der sich Lorenz und die anderen Figuren befinden, kann auch aus chaostheoretischer Sicht erklärt werden. Sogenannte Grenzzyklen, also der Käfig, in dem das System sich nach der Vorstellung der Chaosforschung befindet, solange das System in Ordnung ist, versuchen mit Hilfe von Rückkoppelungen einer Veränderung zu widerstehen. Lorenz befindet sich in so einem Grenzzyklus: "Ich sehe mich mich sehen." (SC 212) Seine Versuche, die Immanenz mit Hilfe der Sprache zu beenden, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn die Sprache stellt selbst einen "höchst zirkelartigen und selbstbezüglichen Apparat"54 dar. Durch den "Feuerreif' will Lorenz als "Tiger" springen: "scheuen, fauchen, und dann: ein Satz - ein herrlicher Satz!" (SC 209) Der perfekte Satz soll die Immanenz aufbrechen. Aber Lorenz kommt nicht aus der Abgeschlossenheit der Wörter heraus. Um so mehr er versucht, die Situation auf den Be-Griff zu bringen ("Muttersprache! Deine Hand!" (SC 205)), um so weniger findet er das adäquate Zeichen für das Bezeichnete: "Wie sagt man denn, wie heißt es treffend: 'was mir vollkommen undurchsichtig ... was mir völlig schleierhaft- gänzlich nebulös'? Ein Meer von Varianten! Ich stehe wie gelähmt vor dem Reichtum meines Deutschs!". Das Benennen, welches das Sein zerstört, da es in ideelle Gebilde, in Zeichen verwandelt wird, läßt den Spiegel undurchsichtig werden: "Undurchsichtig? Ach Spiegelatur! Rede, wie dir der Schnabel gewachsen ist! ... Ist mir ein Schnabel gewachsen? Undurchsichtig [...] Un-durch-sichtig- ... Kreuzundurchsichtig- ... Kreuzschnabel ..." (SC 205) An dieser Stelle exemplifiziert Strauß seine Theorie der Abgeschlossenheit der Wörter, die an das Spiel aufeinander verweisender Signifikanten von Derrida erinnert. In den "Fragmenten der Undeutlichkeit" heißt es: "Die Treiber jagen uns in den leeren Umlauf, Verwandlung von diesem in jenes, die nichts mehr zum Ziel hat, weder das Gold noch den Stein der Weisen." (FU 44) In der Unmöglichkeit, das Zeichen "Schnabel" eindeutig einem Bezeichneten zuordnen zu können, bleibt diesem nur noch die Möglichkeit, sich mit anderen Zeichen zu verbinden: "Kreuzschnabel"; ein Signifikant konstituiert sich mit Hilfe des anderen, die Anbindung an ein Reales, an ein Außen kann nicht mehr wahrgenommen werden, da die Wahrnehmung ja wieder konstituiert wird durch den Text, der die Immanenz verursacht. George Steiner verurteilt den Nihilismus, der von der Philosophie des Poststrukturalismus noch besonders zementiert wird und damit die Immanenz verstärkt: "In neuerem Kunstschaffen und Denken ist es nicht ein Vergessen, das am Werk ist, sondern ein negativer Theismus, ein besonders lebhaftes Gefühl der Abwesenheit Gottes oder, um präzise zu sein, Seines Abtretens." 55 Die "reale Abwesenheit" 53 54 55
Briggs und Peat: Die Entdeckung des Chaos, a.a.O., S. 96f. Briggs und Peat: Die Entdeckung des Chaos, a.a.O., S. 94. Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, a.a.O., S. 298.
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wird dabei ebenso von Poststrukturalismus und Dekonstruktion forciert. "Innerhalb der Deutungen ä la Derrida liegt eine 'Null-Theologie' des 'immer Abwesenden'. Der Urtext ist 'da', doch bedeutungslos gemacht durch einen ursprünglichen Akt der Abwesenheit. [...] Es geschieht in dieser 'Abwesenheit', daß wir Schattenboxen oder, wie es im Deutschen so treffend heißt, 'Spiegelfechterei' betreiben". Mit der Gladiole, dem "kleinen Schwert" (lateinisch "gladiolus"), wie sie aufgrund ihrer schwertförmigen Blätter heißt, tritt Lorenz an und muß am Ende erkennen, daß sein Werben um Delia und sein Kampf mit dem Konkurrenten eine im Wortsinn "Spiegelfechterei" war.
Die Grenze des Textes ist als Grenze des "Ichs" als "Ich" unüberwindbar Undurchdringliches Kristall. Ich sehe mich mich sehen. Das ist alles. Doch eines Morgens wird man sein warmes Bett verlassen, im kalten Badezimmer vor den Spiegel treten und unter dem Dampf des eigenen Atems endgültig verschwunden sein. Ein Tropfen löst sich aus dem Beschlag und rinnt wie eine letzte Träne, die der Spiegel selber weint. (SC 2 1 2 )
Lorenz thematisiert hier die Konstanz der Immanenz als Sein zum Tode und die Existenz als Entropie, als Umschlag von Ordnung in die Unordnung des Dampfes. Die Entropie korreliert mit dem Wandel, welchem die unperfekte Welt unterworfen ist. Denn sie ist nach Stephen W. Hawking die Ursache der Zeit: Unser subjektives Empfinden für die Richtung der Zeit, der psychologische Zeitpfeil, [wird] im Gehirn vom thermodynamischen Zeitpfeil bestimmt. Wie ein Computer müssen wir uns an die Dinge in der Reihenfolge erinnern, in der die Entropie anwächst. [...] Die Unordnung wächst mit der Zeit, weil wir die Zeit in der Richtung messen, in der die Unordnung wächst. 56
So unterscheidet sich die Immanenz als Bereich, welcher der Entropie, der Zeit, dem Wandel unterworfen ist, vom Bereich des Göttlichen, der keine Zeit kennt. Lorenz' Problem ist, daß er diesem Zustand des unabänderlichen Wandels entkommen will, indem er mit dem Wort die Situation herzustellen beabsichtigt, welche im einmaligen Augenblick bestand und welche ihm für den Moment das Ewige durchscheinen ließ. Er kann aber keine dem ersten Moment adäquaten Wörter finden, alles gerät ihm zu einer lächerlichen Vorstellung. Kurz vor der Auflösung seiner Identität durch den "Selbstmord", durch das freiwillige Eingehen in die "toten" Wörter, definiert er seine Lage: "Lächerlich. Einfach lächerlich" (SC 2 1 6 ) In "Beginnlosigkeit" schreibt Strauß zu dieser Lächerlichkeit: "Die endlosen [...] Versuche, das Numinose einzuberaumen in unsere Sprache, grenzen ans Lächerliche oder an Asebie." ( B L 4 5 ) Mit der Sprache an die Grenze zum ganz anderen anzurennen, führt nicht zum Durchbruch, sondern wie an einer Gummiwand zum Rückschlag. Die Energie verläßt den abgeschlossenen Raum nicht, alles dreht sich gegen den Verursacher: Faß du nirgends hin ... Es dreht sich dir auf der Stelle alles um: der Wasserhahn spritzt an die Decke. Die gedrückte Klinke verriegelt die Tür. Dem Kuß entfährt ein Schimpfwort.
56
Stephen W. Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Hamburg 1988, S. 186 (Strauß zitiert Hawking in B L 10).
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Der was mal und
gefaßte Entschluß zerquetscht die Blume in der Hand. Irgend etwas in mir, irgend etzwischen Hirn und Zunge dreht, was ich sagen will, im letzten Augenblick noch einum! Sie müssen, liebste Delia, ungeheure Scheußlichkeiten vernehmen, wenn ich zart geständig sein will. (SC 209f.)
Wie im Turmbau zu Babel verwirrt sich alles in dem Versuch der Annäherung an die göttliche Sphäre. Während sich Lorenz mit Hilfe der Sprache immer mehr dem Bereich des Göttlichen nähern will, erlebt er den Rückschlag wie seine Vorfahren Adam und Eva, die im Versuch (in der Versuchung), Gott zu erkennen, vom Paradies in die Immanenz gejagt werden. Ähnlich ergeht es den Naturwissenschaftlern heute, wenn sie feststellen müssen, daß ihre Versuche, die Weltformel aufzustellen, ihre Grenzen oft im Umschlag ins Paradoxe finden (man denke nur an die Erkenntnisse der Quantenphysik). Lorenz erfährt damit eine ähnliche Zurückweisung wie Don Quichotte, der gegen den Text seiner Einbildung kämpft, wenn er gegen die "Windmühlenflügel" des sich bewegenden Textes anrennt. Michel Foucault setzt Don Quichotte als historisches Zeichen für den Übergang zur Immanenz der Zeichen: Die Schrift und die Dinge ähneln sich nicht mehr. Zwischen ihnen irrt Don Quichotte in seinem Abenteuer. [...] Don Quichotte ist das erste der modernen Werke, da man darin die grausame Vernunft der Identitäten und Differenzen bis ins Unendliche mit den Zeichen und den Ähnlichkeiten spielen sieht. Die Sprache zerbricht darin ihre Verwandtschaft mit den Dingen, um in jene einsame Souveränität einzutreten, aus der sie in ihrem abrupten Sein erst als zur Literatur gewordene wieder erscheinen wird.57
Der Zufall als emergenter Moment ist am Ende jeder Reflexion überlegen. Er treibt das Individuum von Einheit zu Einheit, von Attraktor zu Attraktor. Und so wird auch Lorenz Opfer eines Zufalls. Der Versprochene und die Versprochene diskutieren über den Ausgang aus der Immanenz durch Selbstmord. Jedoch haben sie das Ereignis bereits versprochen, sie haben es zu oft "hin und her gesprochen". (SC 205) So bezweifelt auch die Versprochene, daß es trotz aller Vorbereitungen zur Tat kommen wird: "Ich fürchte, wir werden nichts mehr [mit dem Revolver] anfangen. Wir beide. Wir haben schon zu oft davon gesprochen." (SC 205) Sie fungieren vordergründig als Gegenstück zu Lorenz. Während dieser der Immanenz durch das Begehren entkommen will, versuchen sie es durch Selbstmord. Da das Begehren die Auflösung der Einheit des Individuums im Spiegel bewirkt, ist das Begehren im Endeffekt Selbstmord. Sowohl Lorenz als auch die Versprochenen aber haben erstmal keinen Erfolg, da sie im Diskurs den "geeignete[n] Augenblick" (SC 205) nicht erzwingen können. Die Emergenz zeigt ihre Dominanz über die Planung dann im Zufall, der Lorenz die Waffe in die Hand spielt. Hier gibt es für die Tat keine ursächliche Bedingung, keine Urschuld mehr. "Bevor [...] aus Urgründen überhaupt ein Grund geboren wird, gehen zahllose zufallsgesteuerte Entscheidungsprozesse voraus." (BL 38) Das dem Versehen folgende Verhängnis ist nicht mehr Destination, wie in der Geschichte des Aktaion, sondern dummerweise hat der "Versprochene" einen Revolver dabei, und zufälligerweise zieht Lorenz den falschen Mantel, den falschen Text zur falschen (richtigen?) Zeit an. Jedoch muß differenziert werden. Nur in der diesseitigen Welt ist das Leben ein Konglomerat von Zufällen. Ob die Göttin aus ihrem Raum heraus auf die Welt einwirken kann und dem Menschen
57
Foucault: Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 80f.
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die Unvorhersehbarkeit seines Lebenslaufes nur im Diesseits als Schicksal und die Umwelt als unendlich komplex erscheint, kann aus der Immanenz des Daseins nicht beantwortet werden. Immerhin ist die Göttin im Gegensatz zum Menschen der Zeit und dem Wandel nicht unterworfen. Überlegungen dieser Art führen zum alten theologischen und philosophischen Problem der Freiheit oder Determination des Menschen, welches zumindest aus philosophischer Sicht unlösbar ist. Im Diesseits erscheint Lorenz' Verhängnis vom Zufall bestimmt, aber es wird von der Göttin angekündigt: "Die Auslegung wird Sie töten, Fremder." (SC 201) Den abrupten und unstetigen Wechsel eines Systems von einem Zustand in den anderen erlebt Lorenz nach der Dramaturgie der Chaostheorie, während er vor dem Spiegel seine Taktik für das Finale, dem Agon mit dem Rivalen, einem gedanklichen Probelauf unterwirft. Am Anfang ist die Ordnung des Systems, stabilisiert durch die durch den Spiegel garantierte narzißtische Ordnung, noch vorhanden: "Läuft wie am Schnürchen. Ich wollte nur schnell sehen, ob äußerlich alles stimmt ... in Ordnung ist." (SC 214) Lorenz hat das Gefühl der Kontrolle wie das von Freud beobachtete Kind im Fort-Da-Spiel (siehe "Läuft wie am Schnürchen"): er vergewissert sich noch "schnell" der durch den Spiegel garantierten Ordnung seiner Identität. Dann geschieht das, was der französische Mathematiker Rend Thorn 58 die "Knuspen-Katastrophe" nennt. Thom untersucht Systeme, die nicht aufgrund ihrer Eigenschwingung, sondern durch äußere Einflüsse einer plötzlichen Änderung unterworfen werden. Als einfaches Beispiel nennt er das Platzen eines Luftballons. Ab einem bestimmten Punkt überschreitet das System eine Grenze, der Luftballon platzt. In diesem Beispiel hängt das System von nur einer Kontrollvariable, dem wachsenden Luftdruck ab. In Lorenz' Situation gibt es zwei Kontrollvariablen, zwischen denen er sich in seinem Dialog mit dem Spiegel befindet: Wut und Angst. Während die Angst vor den körperlichen Folgen eines gezielten verbalen Angriffs, den er gegen den Rivalen führen will, die geplanten Unverschämtheiten immer harmloser werden läßt, nimmt unbemerkt die Wut über seine Angst innerlich zu. In dem Moment, in dem sein Konkurrent eine belanglose laute Bemerkung macht, wird bei Lorenz eine Grenze überschritten, sein äußerliches Verhalten kippt plötzlich um und er stürmt den Saal. Lorenz' Verhalten zeigt, wie durch unmerkliche Änderungen scheinbar stabile Systeme plötzlich umkippen können, ohne das dieses von außen vorhersehbar ist. Das Unbewußte schlägt plötzlich durch, die Gewalt als verkehrtes Begehren macht sich Luft. Aber der Immanenz des Textes ist nicht zu entkommen, denn das Unbewußte ist selbst sprachlich konstituiert. Lorenz wird aus dem "Saal" des sich bewegenden Textes wieder in den Raum vor den Spiegel gezwungen. Denn ohne Spiegel keine Identität, der andere bleibt begrifflich unerreichbar.
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Briggs und Peat: Die Entdeckung des Chaos, a.a.O., S. 120ff. 259
Das "Finale" der durch den Spiegel fixierten Identität des narzißtischen Ichs Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich ganz erkennen, so wie ich auch ganz erkannt bin. Also bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; am größten unter ihnen ist die Liebe. (Paulus, 1. Brief an die Korinther) Denn wovon man spricht, das hat man nicht.
(Novalis)
Das viele Reden, das langsam versiegt. Sie haben sich um Seele und Sehen geredet. Sie haben den ganzen Atem der Sprache ausgehaucht, sie haben ihn verbraucht. Der Hauch, gottgegeben, Menschensprache, verbraucht, verpufft, vergeudet. Nach der Beschwörung wurde das Wort Gesetz. Nach dem Gesetz wurde das Wort Gespräch. Nach dem Gespräch wurde das Wort Kommunikation. Nach der Kommunikation wurde das Wort - ausgestoßen aus der menschlichen Gemeinschaft. Sinnlos irrt es nun von Mund zu Mund und läßt uns zurück in einer unberufbaren Welt. Ewiger, armer Wanderer... Wir vergehen in Ausgesprochenheit. (NA 44f.)
Dieses Zitat aus "Niemand anderes" faßt Strauß' pessimistische Diagnose über die ausweglose Lage des Einzelnen im Diesseits der differenzierenden Wörter zusammen. Lorenz erkennt diese erst spät (zu spät?) im Moment der zweiten Erscheinung von Delia im Spiegel. Die "Flüchtigkeit" des Augenblicks, in welchem Delia im Moment des primären Versehens zur "Heiligen [seines] Begehrens" (BL 103) wird, hinterläßt "eine hochauflösende, scharfumrissene Imagination". In diesem Augenblick der absoluten Gegenwärtigung verschwindet jedes "Abenteuer, jede Geschichte, jedes Wort jenseits des Ereignishorizonts". (BL 104) Die Imagination bleibt bei Lorenz nur als Text von Delia zurück. Denn wenn der erste Augenblick vorbei ist, kann dessen Fortführung nur ein Festfrieren der Situation und eine Reduktion der Komplexität auf die Form sein. Da Lorenz weiter festhält an der Form von Delia, die ihren Ursprung in seinem eigenen Bewußtsein hat, dort aber nur aufgrund der kybernetischen Verbindung zwischen dem Einst und dem Jetzt eine Mischung von "Mythossplitter" aus dem Einst und jetzigem Alltagsmythos ist, muß sein Bemühen verhängnisvoll enden. Denn was er sucht, ist die Idee in der Wirklichkeit, die jedoch nur die Spiegelung des Textes ist, aus dem die Idee besteht. Lorenz sieht sein Verhalten als Wiederkehr des David-Mythos, der ungestraft eine Frau mit Hilfe seiner Macht beim Waschen erblicken und sexuell besitzen kann. Delia weist ihn darauf hin, daß es "ein zweites Waschen in der Geschichte" (SC 202) gibt, das, wenn es nicht die abschließende Reinigung im David-Mythos ist, sondern die im Diana-Aktaion-Mythos, für Lorenz tödlich ausgehen wird. Im Originalmythos wird der Jäger zum Gejagten. Die Hunde jagen und zerreißen ihren Herrn. Heute ist der indiskrete Blick das Jagdinstrument der AufKlärung: "Die Autoperipherie, die Bögen, Kreise, Ringe und Sphären des eigenen Interesses, alles gemittelt auf ein jagendes Ich, so weit das Auge und die Stammeslinie reichen: im Blickfeld, im Tötungsrahmen." (BL 115) Während Aktaion getötet wird, begeht Lorenz Selbstmord: er wird von seinem eigenen Blick erlegt. Da der Blick in der Vorstellung des radikalen Konstruktivismus nur nach Innen gehen
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kann, zerstört das Jagdinstrument seinen Benutzer wie die Hunde des Aktaion ihren Herrn, der Text als das Mittel der Wahrnehmung sorgt mit seiner Eigenbewegung für die Auflösung der Identität, die aus demselben Text besteht. Ovid ist nicht nur der Dichter des Mythos von Delia und Aktaion, sondern auch des Mythos von Narziß. Sigmund Freud und Jacques Lacan berufen sich auf diesen Mythos, den sie als das Spiel von Erkennen und Verfehlen interpretieren. Narziß begehrt sich selbst im Spiegel und der Ausweg aus dem Dilemma, daß er sich nicht von sich selbst spalten kann, ist die eigene Vernichtung, die so die Vereinigung des Textes mit sich selbst zuläßt. Denn Lorenz als Text kann die andere, also Delia nur erkennen, da er selbst als Text dem Text gegenüber tritt. Ein Text kann aber nur sich selbst erkennen, wenn er sich etwas gegen sich selbst verschiebt. So ist einerseits der Text die Bedingung, daß Lorenz Delia erkennen kann. Andererseits ist diese Bedingung auch die Ursache der Verfehlung. Narziß muß sich also selbst töten, um zu sich selbst als Spiegelbild zu gelangen, und so ist das Begehren der Einheit immer auch der Antrieb zur Auflösung der Einheit. Dieses Spiel zwischen Linie und Fleck erzeugt das Spiel der Verwandlungen, bei Ovid die "Metamorphosen". Umberto Eco schreibt über den Spiegel und den Menschen im Spiegel: Daß der Mensch ein semiosisches Tier ist, scheint zwar gesichert, aber es schließt nicht aus, daß er es gerade kraft einer uralten Spiegelerfahrung ist. G e w i ß scheint der Mythos von Narziß ein schon sprechendes Tier in Szene zu setzen, aber inwieweit kann man dem Mythos trauen? Aus phylogenetischer Sicht gleicht die Frage der nach dem Ei und der Henne, oder auch nach dem Ursprung der Sprache. Mangels guter Protokolle über die 'Morgenröte' der Gattung empfiehlt es sich, hier zu schweigen. Auch aus ontogenetischer Sicht sind die Garantien spärlich. Einerseits wissen wir nicht genau, ob die S e m i o s e die Wahrnehmung begründet oder die Wahrnehmung die Semiose. Andererseits legen uns Lacans Reflexionen über das Spiegelstadium nahe, daß Wahrnehmung und Spiegelerfahrung Hand in Hand gehen. Somit erscheinen Wahrnehmung, Denken, Bewußtsein der eigenen Subjektivität, Spiegelerfahrung und Semiose als Momente eines ziemlich unentwirrbaren Knäuels, als Punkte einer Kreislinie, auf der sich schwer ein Anfang bestimmen läßt. 59
Und diese Kreislinie selbst konstituiert die Immanenz, denn ein Ursprung ist niemals mit Wörtern beschreibbar, da die Wörter im Moment ihres Entstehens differenzieren und somit immer schon nach dem "Paradies" des undifferenzierten "Bereichs" zu finden sind. Das Heraustreten aus dem "Schluß-Chor" läßt das Spiegelbild entstehen, aber der Versuch, die Einheit nun zu fixieren, muß wieder zum Eingehen in sich selbst, in den reflektierten Text fuhren, dem Heraustreten aus dem Text folgt immer die Auflösung im Text: Erinnern wir nebenbei daran, daß das, was Lacan das Symbolische nennt, das Semiosische ist, wenngleich ein Semiosisches, das mit der verbalen Sprache identifiziert wird. In der jubilatorischen Annahme des Spiegelbildes manifestiert sich eine symbolische Matrix, in die das Ich in ursprünglicher Form sich hineinstürzt und in der die Sprache ihm seine Funktion als Subjekt im Allgemeinen wiedergeben muß. Wie wir noch sehen werden, müßte diese Wiedereinsetzung 'ins A l l g e m e i n e ' j e d e m semiosischen Prozeß eigentümlich sein, auch wenn er nicht verbaler Art ist. Als Moment, in dem sich die 'Wendung' des
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Umberto Eco: Über Spiegel, in: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, a.a.O., S. 2 6 61, hier: S. 27.
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Spiegel-Ichs zum sozialen Ich abzeichnet, ist der Spiegel eine 'strukturelle Wegkreuzung' oder, wie gesagt, ein Schwellenphänomen/'"
In einem statischen Zustand des Wandels verabsolutieren sich der van Gennepsche Übergang, die Ovidschen Metamorphosen, das Individuum findet keinen Halt mehr, befindet sich immer auf der Schwelle, fährt nur eine Amplitude aus, ein Spiel zwischen Ordnung und Unordnung. Gleichzeitig mit der Sühne ftlr den Tabubruch als Bruchteil eines alten Mythos trifft Lorenz im Spiegel auf sein Ich als lächerlichen Mann. Was er auch versucht, er wird immer nur sich selbst begegnen, in "Besucher" ist der Spiegel eine "Wurfbude": Die beiden - Max nach innen, Wurfbudenmann nach außen über die Theke lehnend kehren die Köpfe zueinander. Max: Ich sehe, Sie sind ein Narr. Wurfbudenmann: Sie sind ein Narr. Max: Es ist enttäuschend, am Ende seiner Wege anzukommen und dort als erstes jemanden wie sich selber zu treffen. (B 230)
Wie Sisyphos rennt Lorenz gegen sein Schicksal an, obwohl er als aufgeklärter Zeitgenosse weiß, daß das Subjekt konstruktivistisch die Welt im Bewußtsein aufbaut: "Die Welt ist wirklich leer, das ist kein bitteres Wort, das ist die nüchterne Physik, wirre schwarze Strahlung alles, wenn nicht das Auge Schöpfer wär!" (SC 201) Das wahre Verhängnis ist aber sein Nichtglauben. Er weiß um die Rekluse, erkennt aber im primären Augenblick, in der Emergenz nicht das ganz andere, das Göttliche. Als moderner Mensch beurteilt er den Zufall, den Durchschlag des Göttlichen in die Immanenz der scheinbar berechenbaren Welt, als Versagen der Wissenschaft. Zudem hält er sich als Subjekt für autonom. Daß das Göttliche ihn dazu zwingen kann, sein eigenes Verhängnis aktiv herbeizuführen und daß der Zufall nie berechnet werden kann, ist eine Vorstellung, die ihm erst am Ende klar wird. Mit dem Aufzeigen der Lächerlichkeit der Figur Lorenz holt Strauß zu einem Rundumschlag gegen die moderne abendländische Kultur aus. Das Streben nach philosophischer Einheit, wissenschaftlicher Beherrschbarkeit, politischer Machbarkeit und ökonomischer Unabhängigkeit ist für ihn ein absurder Versuch des Individuums, sein Schicksal vollkommen zu beherrschen oder von ihm abzulenken. Als einzigen Ausweg, der aber nicht begangen, sondern nur erahnt werden kann, bietet uns Strauß die Möglichkeit des ganz anderen an, seine Stücke sind daher (auch) theosophische Schauspiele. 61 Delia ist als Idee so schön, daß Lorenz verhindern will, daß sie ins Gegenteil umschlägt. Aber auch das Göttliche wandelt sich im Kontakt mit der Welt und schlägt um in das Negative. In dem Moment, in dem Delia im Spiegel als Projektion von Lorenz' eigenem Text, als das andere des "Ichs" erscheint, hält die Wirklichkeit des Spiegelbilds dem Vergleich mit der Erinnerung an den emergenten Moment nicht mehr stand, der Versuch, innere und äußere Realität zur Deckung zu bringen, kann nicht gelingen. Die Idee als Reduktion von Komplexität scheitert an der unendlichen Komplexität, Lorenz kann die Einheit nicht in einen Gedanken fassen, das Absolute ist nicht denkbar, sein Begehren der Ganzheit wird die Form sprengen. Die Erkenntnis, daß die Einheit nie erlangt werden kann, wird für ihn
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Eco: Über Spiegel, a.a.O., S. 28. Vgl. Peter Strasser: Versuch, Angelas Kleider zu verstehen, a.a.O.
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gefährlich: "Alles ist immer zu allen Zeiten da. Doch wird nur ein Bruchteil aus dem Nebel gehoben, um dessen Anagramm zu bilden, Leben. Ein Schock Wissen zuviel zu einem gegebenen Zeitpunkt könnte uns leicht zerstören." (FU 48) Lorenz erkennt das Absurde als Zwiespalt zwischen der eigenen Vernunft, die nach Einheit und absoluten Sinn sucht und dem irrationalen, wandelbaren und fremden Dasein. Sein "Heimweh nach der Einheit, dieses Verlangen nach dem Absoluten enthüllt das wesentliche Agens des menschlichen Dramas."62 Da Lorenz im Spiegel im Augenblick seines Todes die nackte Delia erblickt, verbinden sich für den finalen Moment der Einheit Erotik und Tod. Für Georges Bataille63 liegt die anziehende Wirkung der Erotik in dem Versprechen, der Diskontinuität subjektiven Lebens in einem Erlebnis intensiver Kontinuität zu entkommen. Der Akt des Übergangs von einem diskontinuierlichen Sein in ein kontinuierliches verweist jedoch auf den Tod. Für Bataille enthält die Erotik die Vor-Täuschung der Kontinuität, die dem Vereinzelten den Aufbruch aus seiner Rekluse verspricht. Der Selbstmord von Lorenz stellt die Einheit her zwischen der Idee und dem Dasein, indem er aus der Rekluse führt. Der emergente Moment, in dem Lorenz Delia als Fremde sehen kann, in dem das Göttliche in seine Immanenz einbricht, ist der Moment, in dem Lorenz die Einheit aller potentieller Ideen mit der Welt erlangt. Um diesen Moment zu repetieren, muß er sich umbringen. Diesen Moment beschreibt Pierre Klossowski in Bezug auf den historischen Aktaion-Mythos so: "Sie willigt darin ein, gesehen zu werden, sofern sie weiterhin morden und töten kann; doch indem sie tötet, gibt sie sich hin. Mag man sie mit dem Blick beflecken, sie wird töten; aber sie wird denjenigen erhöhen, der sie im Sterben gesehen hat."64 Delia holt sich den Blick zurück, die Göttin muß den sterblichen Blick in das Unsterbliche hineinholen und erwirkt Lorenz' Tod. Daß sie das tun muß, liegt auch an den Gesetzen, welche die verschiedenen Sphären trennt. Wenn Diana sich aus dem Bereich des Unendlichen und damit Zeitlosen in den Bereich der dem Wandel unterworfenen Welt begibt, dann kann sie ihre Reinheit, die auch darin besteht, daß sie nicht dem Wandel der Welt unterworfen ist, nur dadurch wiedererlangen, indem sie den Erblicker in das Reich des Unendlichen holt. Delia holt sich so, wie angekündigt, den Blick zurück, sie macht ein Stück Welt (Lorenz) zu einem Stück göttliche Sphäre, um nicht den Gesetzen der Welt unterliegen zu müssen. Das Göttliche, immer Schöne wird also nicht mehr ins Negative entgleiten, wenn der Erblicker Lorenz ihm in das "Außerhalb" folgt. Den Vorteil des Selbstmordes von Lorenz haben also beide. Lorenz erlangt die ersehnte Einheit und das Göttliche wird nicht auf eine Idee, auf Wörter reduziert, durch die es ins Negative umschlagen würde. Im Moment der Erkenntnis, der die Immanenz zementiert, der Erkenntnis, daß die "Wiederholung" des Bilds als narzißtische Projektion einerseits Teil seiner eigenen Identität und andererseits Teil des durch ihn durchlaufenden, ursprünglich mythischen Texts ist, stülpt sich Lorenz seinen Hut über den Kopf, um die endlosen Spiegelungen der Form mit dem Bewußtsein und des Bewußtseins mit den Formen, welche die Immanenz konstituieren, zu unterbrechen. In der gnostischen Verabsolutierung des Subjekts kann dieses seine religiösen Phasen immer nur im 62 63 64
Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos, Hamburg 1985, S. 20. Georges Bataille: Die Tränen des Eros, München 1981. Klossowski: Das Bad der Diana, a.a.O., S. 31.
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Rückbezug auf sich selbst bewahrheiten. Wenn Lorenz in den Spiegel schaut, dann erwartet er eine Identität des Spiegelbildes mit seinem Grund-Bild. Er findet sich jedoch positioniert im Paradoxon eines Spiegels, der sich spiegelt. Die Bilder in einem solchen Spiegel des Spiegels haben wie der selbstreferentielle Text keinen Grund außerhalb ihrer eigenen Spiegelungen. Wenn Lorenz im Moment seines Todes Delia im Spiegel betrachtet, dann ist diese einerseits nichts anderes als eine Spiegelung einer Spiegelung, ein Text, der sich selbst beobachtet. Kein GrundBild, nur Resultat der eigenen Rekluse. Andererseits ist Delia im Spiegel als Idee der göttliche Funke, welcher nach den Vorstellungen der Gnostiker in jedem Menschen steckt. So folgt Lorenz der Versprechung des göttlichen Funkens in ihm selbst, die ihm die Existenz des ganz anderen vermuten läßt, und schießt sich eine Kugel in den Kopf. Mit der Aufgabe seiner eigenen Einheit und damit auch der imaginierten Einheit des anderen geht Lorenz in den ewigen Wandel des Textes ein, erlaubt dem Treiben der Signifikanten, auf das Abwesende, das ganz andere als das Eigentliche und Wesentliche zu verweisen.
4.1.3. (Meta-Meta-etc.-) Perspektive III als Versuch, das "Jetzt" als Mythos zu be-greifen: Der Mythos verliert sich im Identitäts-Text des Gesellschaftsmenschen als Text im Text Ein letzter Versuch, das "Jetzt" im sich bewegenden Text zu begreifen, wäre die Interpretation des Mythos. Strauß zeigt jedoch, daß der Versuch, den Mythos als Raum-Zeit-Koordinate festzuhalten, dazu führt, das er profaner Allerweltstext wird und als Text im Text verschwindet. Der gebieterische Griff nach dem Mythos verwandelt diesen in Text, der eben nicht die letzte Wahrheit darstellt, sondern nur wieder auf weiteren Text verweist. Die Verwandlung der Dekoration enthüllt die unbewußte Nachtseite, die im Sinne von Freud und Jung dem Mythos zugewandte Seite der Identität von Anita. Am Gesicht von Patrick, welches sich aus der glatten Oberfläche des Tages im Dialog von Anita in "Wangen, bedeckt mit tausendjährigen Flechten, die wiederum ein Wachstum sind aus einer Erde von zerfallenen Gesichtern" (SC 228) verwandelt, zeigt sich die Bewegung des dichterischen Textes als Beziehung zwischen Einst und Jetzt, welche im unendlichen Archiv, das alle Zeiten und Räume beinhaltet, persistiert. Anita geht mit der Verwandlung sozusagen unter die glatte Oberfläche des als Orientierungskonvention fungierenden Mainstream-Textes, der allein das Seiende gelten läßt. Am Gehege, in dem das Nationale als Mythos im Kopf gezähmt und eingesperrt ist, öffnet Anita das Gitter, das die Gesellschaft, die Strauß hier als mediengeübte Gaffer, die "in Freiheit [rumstehen] und schlabbern mit dem Mund" (SC 228) diskreditiert, aus Sicherheitsgründen errichtet hat. Damit öffnet Anita das "Tor" zum Sein, blickt hinter die Maske des anderen. Dort sieht sie aber nicht den Chor als identitätsauflösenden Text der Texte, die wiederum nur auf Texte verweisen, auch nicht den Spiegel des Narziß. Sondern den Mythos, der "ist". Ernst Jünger interpretiert den Blick des Dichters als einen Akt der Freiheit: Man kann auch sagen, daß der Mensch im Walde schläft. Im Augenblick, in dem er erwachend seine Macht erkennt, ist die Ordnung wiederhergestellt. Der höhere Rhythmus der
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Geschichte kann überhaupt dahin gedeutet werden, daß der Mensch sich periodisch wiederentdeckt. Immer sind Mächte, die ihn maskieren wollen, bald totemistische, bald magische, bald technische. Dann wächst die Starre und mit ihr die Furcht. Die Künste versteinern, das Dogma wird absolut. Doch seit den frühesten Zeiten wiederholt sich das Schauspiel, daß der Mensch die Maske abnimmt, und dem folgt Heiterkeit, wie sie der Abglanz der Freiheit ist.65
Anita erklärt dem Adler den Unterschied zwischen dem auf Selektionen, auf eindeutige Interpretationen angewiesenen Menschen und der in sich konsistenten unwandelbaren mythischen Dichtung: Wir sind ja unter unsern Kleidern sehr, sehr bloß. Davon ahnt ein Vogel nichts, wie arm das ist, so nackt und hilfsbedürftig, ohne Kleid. Damit hast du schon bei mir gewonnen, daß du nichts ausziehen mußt. Daß du so schön bist, wie du aussiehst. Stolz in einem Stück. Nichts darunter, nichts dahinter. Federkleid vom Schädel bis zum Lauf. Mmmh: gute Lösung! (SC 228)
Der ohne sekundären Diskurs erlebbare, ohne zu enge, eindeutige Interpretation verstehbare Mythos, die Kunst-Leidenschaft, ist der Halt, den Anita braucht. Anita lockt den Mythos, indem sie sich ihm als Ort eines zu vollziehenden "Ritus", als lebendige Materie, welche von einem Mythos besetzt werden will, anbietet ("Nun hol dir, was du brauchst"). Da der Erfolg ihrer Werbung erst einmal ausbleibt, erinnert sie den Adler an den emergenten Moment der Wiedervereinigung, der noch am Tag stattfand. In diesem offenbarte sich der Mythos im Augen-Blick ihrer Entstehung als göttlicher Funken. Dieser scheint aber in der Erstarrung des Mythos zum Monument verschwunden zu sein: "Du scheinst mir reichlich abgemattet, verglichen mit dem liebesbösen Auge von heute morgen!" (SC 228) Da sich der Mythos nicht locken läßt, versucht es Anita mit dem Mittel der Erregung seiner Eifersucht durch Erwähnung eines konkurrierenden Textes. Der Kontakt mit dem ganz anderen kann jedoch nicht über den rationalen Diskurs stattfinden: "Ein Vogel, der die Worte nicht versteht, muß doch die Töne immerhin erkennen." (SC 229) Erst als sich Anita dem Mythos anpaßt, sich emotional - mit dem Herzen ausdrückt, kann sie ihn locken. Als der Mythos sich mit ihr "verbinden" will, formuliert sie ihren Anspruch: Kastrierte Chimäre! Wo ist dein Doppelbild? Schlappes Wappen! Erstarrte Ankunft! Puppe des Entsetzens! Du Ausgeburt des Zauderns, du halbherziger, halbkröpfiger Greif! Ich will deine Klauen auf glühende Kohlen binden. Ich will dich festsengen auf dampfenden Teer! An die Erde mit dir! Auf den Boden gebrannt! (SC 229)
Anita lockt das Wappentier als Mythos, um es aus seiner einseitigen Erstarrung wieder zur "Realpräsenz" (AW 310) zu animieren. Das Doppelbild als das positive Bild hinter dem negativen Bild will Anita durch die Befreiung enthüllen. Nicht nur erstarrter mythischer Text soll der Adler sein, sondern auch als Anwesendes, als Ereignis wirken. Der Mythos soll "auf den Boden gebrannt" in der Welt des Textes, in der "Realität" wirken. Anita will den göttlichen Funken, der im emergenten Moment der Wiedervereinigung durch das Nationale als Ereignis entsteht, dauerhaft in die Welt holen. Mit dem Ausdruck "Puppe des Entsetzens" identifiziert Strauß den profanierten Mythos als Puppe, als Figur der Nationalsozialisten, die aus der Sicht von Strauß 65
Jünger: Der Waldgang, a.a.O., S. 324.
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den Mythos als erstarrte Ideologie mißbrauchen. Vormals erstarrter Mythos, will Anita das Wappentier wieder als spirituellen Halt restituieren, aber seinen Umschlag ins Negative nicht zulassen. So beschimpft sie den Adler auch als schwach, als "Ausgeburt des Zauderns" und als Ideologie, als "erstarrte Ankunft". Anita sehnt sich nach dem rituellen Ereignis, aber nicht nach seiner Erstarrung als totalitärer, tödlicher Text: Bloß weil Du nicht spielen kannst, soll ich in Fetzen gehen - soll ich die Erde röten um mich herum? Bloß aus blödem Ernst werde ich ausgenommen und gesäubert von triefenden Innereien, ein kahlgefressener Rippenkorb, den jeder Wind zur Seite rollt und auf die Steine prellt? [...] Wie selbstlos kann ein großer Vogel sein, wie schützend sich um einen Menschen sorgen! Du könntest mich nähren, statt zu kröpfen, könntest mich leiten, statt zu rupfen. (SC 229)
Eben da sich der Mythos verhärtet hat, wirft ihm Anita vor, daß er als säkularisierter Mythos in der Moderne nur noch Körpertext, Körperhüllen, begriffene Körper und nicht mehr den ganzen Menschen konstituiert. Sie sehnt sich nach dem Ganzen: Doch kein Grauen ist so eins mit sich, daß es nicht aus tausend winzigen Schönheiten bestünde. Keine Roheit so wild, daß sie nicht aus unzähligen Zärtlichkeiten gemacht wäre. Deshalb: Laß mich nicht häßlich leiden! Eine süße Wunde soll es sein, ein milder Krieg, ein glücklicher Zorn! (SC 229f.)
Strauß betont, daß Liebe und Gewalt nur zwei Seiten einer ganzheitlichen Medaille sind. Wenn der Text nur ein vernünftiger ist, dann wird er ganz automatisch das Gegenteil evozieren. Hier klingt noch das Adornosche Theorem nach, die Dialektik zwischen dem Begriff, der Idee, der, so Strauß, in die kalte Welt projizierten Schönheit, und deren Umschlag in das Negative, dem Grauen. In Anlehnung an das Denken von Jünger geht es Strauß aber nicht mehr um die Rettung des Gedankens der Aufklärung. Die Angst vor Tod und Destruktion, die Adorno noch mobilisiert, ist, da Strauß sich immer mehr am Ganzen orientiert, mehr zu einer Imagination des Grenzganges geworden. Das Grauen, bei Adorno noch mit dem verbrecherischen Irrsinn des Nationalsozialismus identifiziert, wird in eine Position der aktiven Existenz uminterpretiert, die sich bei Ernst Jünger als Erfahrung von Krieg und Drogen durch den Text ausdrückt. Da, so Ernst Jünger, "der Realismus unausweichlich zum Nihilismus, der Idealismus zur leeren Utopie"66 führt, bleibt allein noch die "totale Mobilmachung" als an der Grenze situiertes Mittel zur Sinngestaltung, die Ekstase in der Form(-ation), der Entäußerung an ein diesseitiges transzendentales Signifikat, welches allein noch als anregende Imagination fungiert. An Jünger reizt Strauß, so kann vermutet werden, auch dessen Eintreten für die Übergabe an eine Bedeutung und Aufgabe in einer Welt des Nihilismus. Nicht als "Übermensch" im Sinne von Nietzsche, sondern in der Anbindung an das Numinose, welches sich bei Ernst Jünger als "Verschworenheit mit der Welt" zeigt, man kann es als "Metaphysik von unten"67 bezeichnen. Wenn sich Strauß im Bocksgesang gegen die "Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität" (BG 11) ausspricht, so plädiert er für 66 67
Jünger: Heliopolis, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 16, a.a.O., S. 389. Christian Graf von Krockow: Grübler, Deuter, Wegbereiter, in: Zeit-magazin 12/1995, S. 2 0 - 2 6 , hier S. 26.
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eine "Manie", (AW 319) eine "Leidenschaft", (AA) ein "Überwältigenlassen", (AW 312) das in einer Gesellschaft des "anything goes" selten vorkommt. Die Gesellschaft der Nachmoderne prägt das Individuum, Weltbildstürze am laufenden Band verhindern, daß das Individuum einen Text absolut setzt und diesen als Körper und Identität annimmt. So bewegt sich das Individuum durch den Text und die Masken wechseln und Strauß konstatiert in "Beginnlosigkeit": Wie lange erträgt man es zu wissen, daß nichts dahintersteckt...? Daß wir mit unzähligen Schichten von Fäden, Geweben, Netzen vollauf genug haben, und auch der Geist nicht mehr tun kann als ein um das andere Mal die Fäden zusammenzuziehen oder anderswo aus Knäulen zu lockern. (BL 72)
Daher besteht Anita am Ende wie der Fotograf des ersten Aktes nur noch aus den Kleidern, die die Texte symbolisieren. Der Mythos, mit dem Anita flirtet, um ihn zu einem "rituellen" Akt zu motivieren, trifft auf ein nachmodernes Individuum, das nicht in Besitz genommen werden kann, da es nur aus unzähligen Texten besteht. Und so nimmt Anita als Text den mythischen Text in sich auf: Du fluggewordenes Erz. Alt und grau und machtlos. Wie ich dich täuschen konnte! Denn ich bin Wäsche, Wäsche durch und durch, überall Wäsche. Unmöglich, mich bis auf meine Haut zu treffen. Unmöglich mich beinschrötig zu schlagen, mich zu rupfen und zu kröpfen, ohne dabei an Garnen, Zwirnen, Filzen zu ersticken. Ist das nicht wunderbar? (SC 230)
Der Mythos läßt sich in die Immanenz locken, verliert dort aber sofort seine Kraft im Kontakt mit dem Diesseits, wird gleichberechtigter Text zwischen den anderen Texten. Nach dem emergenten Moment schließt sich die Öffnung wieder, es folgt die Verfehlung und diese treibt für Strauß die nichtlineare Handlung voran. Im letzten Satz skandiert Anita: "Wald ... Wald ... Wald ... Wald." (SC 230) Parallelen lassen sich ziehen zum "Waldgänger" des Ernst Jünger. Mit ihm hat Jünger seinen dritten Mythos und seinen dritten mythischen Helden geschaffen, in welchem sich der geächtete Held der Mobilmachung der Moderne, der gescheiterte Arbeiter und Krieger, als Anarch und Einsamer wiederzuerkennen vermag. [...] hier ist das Sich-Wiedererkennen-Können in der Tragödie der Beginn der Befreiung oder Erleichterung vom Leiden/' 8
Der "Wald" symbolisiert den Mythos und das Sein und damit für Jünger und auch für Strauß die differierende Ebene außerhalb der konventionellen Zeit neben der primären Ebene der Historie. Der "Waldgänger" befreit sich von der Wüste der Zivilisation und dem "Urwald" der Anarchie, er symbolisiert im Stück von Strauß den dem Herrschaftsbereich des Mythos offen gegenüber stehenden Menschen. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Der Nationalsozialismus ist für Jünger eine Kooperation von formalisiertem Nihilismus und tumultuarischer Anarchie. Die Truppe des "Oberförsters" Hitler produziert Anarchie, während seine Funktionäre, die "Mauretanier" mit ihrem Nihilismus die Macht gestalten. Der "Urwald" des "Oberförsters" ist jedoch nicht(!) der "Wald" der Freiheit, den Jünger und mit ihm Strauß als Raum des Mythos, des Seins hervorheben. Die Frau trifft auf den Mythos, den sie aufgrund der Leidenschaft, die sie für den Mann empfindet, aus dem "Käfig"
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Peter Koslowski. Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers, München 1991, S. 84.
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holt, indem sie die Sperren zum Unbewußten öffnet. Das Sein geht in ihren Text ein, die mythische Dichtung verbindet sich mit ihr, aber sie selbst kann als weltlicher Text keine Einheit halten und damit wird der Mythos als Einheit im sich bewegenden Text der Nachmoderne zerstört, übrig bleiben nur noch Mythensplitter. Doch der Kontakt zum Sein bleibt der Frau in Erinnerung und so wird sie zum "Waldgänger", sie kann jetzt hinter dem Seienden das Sein, das eigentlich vor dem Seienden steht, erahnen. Ernst Jünger schreibt über die Erkenntnis, daß das Sein das Eigentliche ist: Das Schiff bedeutet das zeitliche, der Wald das überzeitliche Sein. In unserer nihilistischen Epoche wächst die Augentäuschung, die das Bewegte auf Kosten des Ruhenden zu mehren scheint. In Wahrheit ist alles, was sich heute an technischer Macht entfaltet, ein flüchtiger Schimmer aus den Schatzkammern des Seins. Gelingt es dem Menschen, auch nur für unermeßbare Augenblicke in sie einzutreten, so wird er Sicherheit gewinnen: das Zeitliche wird nicht nur das Drohende verlieren, sondern ihn sinnvoll anmuten. 69
4.2. Angelas
Kleider Die großen Desillusionskünstler von Flaubert bis Freud haben die fälligen Entblößungen am Menschen vorgenommen. Wer aber legt ihm jetzt die passenden Kleider an? (NA 149)
Wer ein Engel sein will, wird ein wildes Tier. (Blaise Pascal)
4.2.1. Der Versuch einer nicht durch den Text determinierten Freundschaft als auf der Bühne ausgestellte Bewegung zwischen begradigendem, linearem Tag und der Nacht des (romantischen) Unbewußten, das wie eine Sprache strukturiert ist Das Stück "Angelas Kleider" besteht wie "Die Fremdenführerin" und "Fragmente der Undeutlichkeit" aus zwei Teilen. Der erste, der "Fang", präsentiert die Begegnung zweier Frauen. Die Handlung wird dominiert durch die OberflächenPerspektive 70 eines der beiden beteiligten Subjekte: Melanie gerät in die Wahrnehmungs- und Realitätszone von Angela, sie wird von ihr mit dem totalitären Blick eingefangen. Die Raum- und Zeitstruktur des ersten Teils ist bestimmt durch eine Sphäre des Außen, des Tages, in der die Idee, das Feste, die Linie im Vordergrund steht. Im zweiten Teil, in der Gefangenschaft, wechselt der Schauplatz der Handlung auf die Seite des (auch romantischen) Innen, der Nacht, in der die Klarheit zugunsten des sprachlich strukturierten Unbewußten verschwindet, die Ideen ihren 69 70
Jünger: Der Waldgang, a.a.O., S. 328f. "Oberflächen-Perspektive" deshalb, weil Melanie sich in demselben Text bewegt, wie Angela. Da ein reales, individuelles "Bewußtsein" aus der Sicht des gemeinsamen Textes genausowenig zu begreifen ist, wie aus der Sicht einer materialistischen Empirie, und da die Perspektive im Text ein Bewußtsein zumindest simulieren kann, ist auch hier ein Perspektivenschwerpunkt interpretierbar.
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vermeintlich festen Ankerplatz verlassen und das Subjekt in den Umlauf und das Spiel der Texte im unendlichen Archiv, im "Nachthaus" treiben. Das Verhältnis beider Teile zueinander ist nicht antagonistisch, die Differenz ist das Resultat eines Perspektivenwechsels. Es spiegelt das nach Strauß für das Leben notwendig komplementäre Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, von Außen und Innen, von Idee und Auflösung, von Ordnung und Chaos, von Linie und Fleck. Die Grenzen zwischen Tag und Nacht, Innen und Außen, Traum und Wirklichkeit sind nicht eindeutig zu bestimmen, die Unscharfen des nachmodernen Textes lassen die Wahrnehmungen und damit die Dinge ineinander übergehen. Denn genau definierte Grenzen würden alles, auch die Nachtseite, unter die Herrschaft der Linie, der erstarrten Idee, des Tages bringen. Die dominierende Oberflächen-Perspektive des zweiten Teils ist ebenfalls das Bewußtsein von Angela, in dem Melanie einen Parcours von einem Begriff zum anderen durchlaufen muß. Angelas Kleider sind als Textfragmente zugleich die Räume, die Boxen des Nachthauses. Der Rhapsode, der Sänger im antiken Griechenland, fuhrt seinen Namen auf das griechische "rhaptein" zurück, das "reihen" und "nähen" bedeutet. "Einer, der Lieder näht", dh. kunstreich erfindet und aneinanderreiht, "näht" als Dichter die "Kleider" und "reiht" die "Boxen" des Nachthauses aneinander. Der undeutliche Übergang rückt die Philosophie von "Angelas Kleider" in die Nähe des mythischen Denkens. Ernst Cassirer konstatiert, daß für das mythische Denken und die mythische 'Erfahrung' zwischen der Welt des Traumes und der objektiven 'Wirklichkeit' ein stets schwebender Übergang besteht. Auch in rein praktischem Sinne, auch in der Stellung, die sich der Mensch nicht in der bloßen Vorstellung, sondern im Handeln und Tun zur Wirklichkeit gibt, eignet bestimmten Traumerfahrungen dieselbe Kraft und Bedeutsamkeit, kommt ihnen also unmittelbar dieselbe 'Wahrheit' zu, wie dem, was im Wachen erlebt wird.71
Für Strauß wirken ebenfalls Traum und Wirklichkeit in der Wahrnehmung der Wirklichkeit, die ein Traum ist, zusammen: Wir träumen, wenn wir sehen. Wir sehen, wenn wir träumen. Stehen wir nicht immer im selben Zwielicht? Und scheint nicht bloß nachts die Sonne von unten herauf? Und überschreiten Dämonen nicht jede Helligkeitsschwelle? [...] Traum ist: Unterschlupf suchen in Umbildung und Umtaufe. Das sicherste Gelaß des Selbst ist der unfeste Raum. (FU 49)
Und zum Verhältnis von Tag und Nacht schreibt Strauß: Jede Nacht legt nahe, daß du alles Erblickte umkehrst und Sehen an sich ein anderes wär. Jede Nacht geschieht Umwälzung bis zur Schöpfung. Und jeder Schlaf hinterläßt einen Dichter, der sein Werk versäumte ... und wie es in der Morgenfäule zerfällt. Denn die Nacht ist hell und trübt in den Tag. Fragende See, stumme Küste. (FU 50)
Die Nacht negiert nicht wie der Tag die Bedingung: "Alles umtaufen." (FU 44) So wird, (neo-) strukturalistisch gesehen, das feste Gefüge, das im ersten Teil von "Angelas Kleider" noch weitgehend intakt erscheint, indem es den konventionellen Fernsehnaturalismus weitgehend spiegelt, im zweiten Teil fortwährend umgewälzt und neu geordnet und verliert seinen festen Bezugspunkt. Das Nachthaus zeigt die
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Ernst Cassirer: Philosophie der Symbolischen Formen II. Das mythische Denken, Darmstadt 1953, S. 210.
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Schrift in ihrer Verräumlichung, in der nach Jacques Derrida kein Unterschied zwischen Traum und Realität mehr gemacht werden kann: In jeder schweigsamen oder nicht rein phonetischen Verräumlichung der Bedeutungen sind Verkettungen möglich, die der Linearität der logischen Zeit, der Zeit des Bewußtseins oder des Vorbewußtseins, der Zeit der 'Wortvorstellung' nicht mehr gehorchen. Zwischen dem nichtphonetischen Raum der Schrift (sogar in der 'phonetischen' Schrift) und dem Raum der Traumszene ist die Grenze ungewiß. 72
Der zweite Teil, die "Gefangenschaft", folgt einer Dramaturgie der "Rites de passage". In Turners "Les Rites des passage"73 wird die These vertreten, daß das Dasein der Menschen keine kontinuierliche Aufeinanderfolge lebensbeschreibender Fakten ist, sondern sich aus einigen entschieden voneinander isolierten Lebensabschnitten zusammensetzt. Jeder Anfang eines aktuellen Stadiums des Lebens ist durch einen Initiationsritual markiert, welches in drei Phasen abläuft. Analog der Metamorphose der Raupe in einen Schmetterling über die Zwischenphase der Verpuppung bewegt sich das Individuum von einer Lebensspanne in die andere über die Zwischenphase der Initiation und erfährt dabei selbst eine Metamorphose: Als Phase zwischen zwei klar definierten Situationen weist sie Merkmale der Unstrukturiertheit, Ambiguität und des Paradoxen auf. Initianden oder Neophyten - ganz gleich, in welcher Gruppe sie aufgenommen werden sollen - , sind in dieser Phase Personen, die einen Seinswechsel durchlaufen und der alten Kategorie nicht mehr und der neuen noch nicht zugehören. Die negativen Aspekte dieses 'Zwischenzustandes' werden deshalb mit Hilfe von Symbolen des Todes, des Verwesens und der Auflösung, die positiven dagegen in Analogie zu Schwangerschaft, Geburt und Wachstum rituell dramatisiert.
Da sich das Individuum in der heutigen Gesellschaft keiner Theorie oder Vorstellungswelt mehr ganz verschreiben kann, ohne an Wahrnehmungsverengung zu leiden, ist es eine gefangenes der Passagen im "Basar der Erkenntnismoden" (FU 31), der leeren Umläufe der Wörter und der "Sintflut unablässiger Weltbildstürze": "Krise ist immer." (NA 141) Das nachmoderne Individuum befindet sich in einer stetigen Verwandlung. Jeder Versuch des Subjekts, den Kerker der Immanenz mit Hilfe des Festhaltens an religiösen oder politischen Erlösungsversprechen zu durchbrechen, schlägt nach einer kurzen Phase des Höhepunkts und der Schönheit in das Gegenteil um. Am Beispiel des Kindes, das dem "Treiben der Wörter" noch nicht im selben Maße ausgesetzt ist, wie ein Erwachsener, und daher noch jeweils etwas länger in einer stabilen Phase verweilen kann, beschreibt Strauß die Verwandlungen: Von Stufe zu Stufe umgab das Kind seine komplette Welt. In ihr war es der Bestangepaßte, was das Verhältnis von Können und Wollen betraf. Ging nicht also Entwicklung von Rund zu Rund, von Fertigsein zu Fertigsein, war nicht jede Etappe ein kleiner Kosmos für sich, eine kleine geschlossene Weile, ein jeweils angemessenes Verstehen und Wahrnehmen der Welt, das so lange beibehalten wurde, bis sich gewisse Unstimmigkeiten einstellten? Von solchem Rund zu Rund schreitet man später weiter, etwa: von einer Illusion zur nächsten. (BL 133)
Im zweiten Teil durchläuft Melanie in der Gewalt des durch den sich bewegenden Text determinierten Blicks von Angela eine Etappe nach der anderen. 72 73
Derrida: Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 331. van Gennep: Übergangsriten, a.a.O., S. 146.
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Die Sehnsucht nach dem ganz anderen motiviert die meisten Figuren im Stück zu ihren Handlungen. Vor allem Angela, die Melanie in ihren Blick, der die Immanenz erzeugt, zwingen will, aber auch ihren Vater, welcher der unperfekten Welt den göttlichen Funken einzusetzen versucht. Eine gnostische Vorstellungswelt unterliegt wie eine Folie der Handlung des "theosophische[n] Schauspiels] unter der Bedingung einer Welt äußerster Gottverlassenheit". 74 Der Schauplatz ist erkennbar die Welt als Bühne. Eine Garderobiere sorgt für den reibungslosen Ablauf des Kleiderwechsels, das Bühnenhaus ist als Ruine noch Spielort, die Stellwände betonen einerseits den theatralen Aspekt, andererseits symbolisieren sie den Wechsel zwischen dem Schwarz und Weiß des Buchstabens: die Bühne ist die Rahmung im Meer des Schwarz und Weiß des Textes. Am Ende wird der Vater Melanie vor der Gewalt, ausgelöst durch den durch die Helle der aufklärenden Vernunft bestialisierten kalten Blick, mit Hilfe eines Flaschenzugs retten, der "deus ex machina" kommt zu neuen Ehren. Strauß selbst schreibt über sein Stück: "Zuerst wollte ich nichts anderes geben als eine längere Variation über ein Thema in schwarz-weiß, Rites de passage einer Freundschaft, einer Probe unter zwei Frauen." (BPS) Angela als Symbol einer Heilsverkünderin, als das Helle, Engelhafte, steht Melanie gegenüber, deren Namen auf das Dunkel hinweist, auf die Fremde. In Maurice Blanchots "Thomas der Dunkle" fühlt sich Thomas in seinem Zimmer im Hotel während des Lesens eines Buches von Wörtern eingeschlossen, aus denen er selbst besteht: Mit Vergnügen sah er sich im Auge, das ihn sah. Sein Vergnügen wurde sogar beträchtlich größer. Es wurde so groß und unbarmherzig, daß er sich ihm gewissermaßen mit Schrecken unterwarf und sich, unerträglicher Augenblick, ohne von seinem Gegenüber ein erwiderndes Zeichen des Bündnisses zu erhalten, aufrichtete und die ganze Seltsamkeit sah, die darin lag, von einem Wort wie von einem lebenden Wesen angeschaut zu werden, und nicht nur von einem Wort, sondern von allen Worten, die in diesem Wort steckten, von allen, die es begleiteten und wiederum in sich andere Worte enthielten, wie eine Reihe Engel, die sich unendlich weiter bis zum Auge des Absoluten fortsetzt.75
Angela spiegelt sich in den Wörtern, kann ihnen aber niemals entkommen, da sie aus ihnen besteht. Melanie wechselt in Angelas Bewußtseinstext andauernd die Identität. Angela ist für Melanie das ganz andere, wie ebenfalls Melanie für Angela absolute Fremdheit bedeutet. Und da Melanie in ihrem Bewußtsein von den dort vorhandenen unzähligen Gedanken daran gehindert wird, eine eindeutige Identität aus eigener Kraft zu konstituieren, beugt sie sich den Identitäten, die ihr Angela aufzwingt. Angelas Intention, Melanie von einem Kleid ins andere zu treiben, ist der generelle Wunsch, die Immanenz zu verlassen, indem sie die andere in ihre Rekluse holt. Doch wird sie am Ende scheitern, denn jeder Versuch Angelas, die Grenze zu Melanie zu überwinden, ist ein totalitärer Versuch, der aber das "Ich" Angelas nur wieder auf sich selbst zurückwirft. Die Kleider, die Texte, die Angela Melanie überstülpt, sind nur abstrakte Ideen, die der unendlichen Komplexität der anderen nicht gerecht werden. Und so verläßt Melanie auch jedes der Kleider, der Identitäten, der Ideen möglichst schnell wieder, bevor die Idee erstarrt und in das Negative umschlägt. Am Ende wird sie sich weigern, überhaupt noch ein Kleid zu
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Peter Strassen Das Experiment Crucis des Botho Strauß. Versuch, "Angelas Kleider" zu verstehen, in: Herbstschrift 3/91, Graz, S. 19. Blanchot: Thomas der Dunkle, a.a.O., S. 21 f.
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tragen, indem sie sich ganz in ihre Rekluse zurückzieht und die unzähligen Gedanken, den Gedankenstrom in ihrem eigenen Inneren akzeptiert. So bleibt Melanie, die Dunkle, in ihrem Nicht-Begreifen die Klügere. Sie stellt für sich fest: "Ich überblicke die Spiele." (AK 61)
4.2.2. Die symbolische Ordnung generiert die Taxonomien, die in einer kybernetischen Bewegung die Verbindung zwischen dem Lebendigen und dem Text garantieren In "Angelas Kleider" ist der Vater der Demiurg, der in der gnostischen Vorstellungswelt oft mit dem Gott (Vater) des Alten Testaments identifiziert wird. Als "Jaldabaoth" erschafft er die materialistische Welt, in der das wahre Göttliche ausgesperrt bleibt. Die Figur des Vaters ist in Strauß' Stück nicht zufällig auch Arzt. Denn als Naturwissenschaftler und gelernter Schulmediziner hat dieser eine rein materialistische Auffassung vom Leben und vom menschlichen Körper. Nur ein Materialist kann auf die Idee kommen, Mythen und Fantasien mit dem Leben zu verbinden, den offenen Mythos in das Diesseits zu holen und damit einer eindeutigen Interpretation zu unterwerfen. Der Vater "pfuscht" an den Texten des Mythos und der Kunst als Materialist wie der Demiurg in der gnostischen Vorstellungswelt. Beide versuchen vergeblich, das Göttliche im Menschen auf die Materie zu bannen. Der Mediziner diagnostiziert die "Hauptlaster des Jahrhunderts" im Gesicht seiner Geschöpfe: "Die Fratze der Psychologie, das gehetzte Lächeln des Profits, der Geifer des politischen Fanatismus', die Ausdrucksleere der Maschine." (AK 29) Diese negativen Entwicklungen in der von ihm vertretenen Zivilisation sind jedoch sein Werk, in der Welt des Textes erzeugt eine diagnostische Wissenschaft auch durch die ausschließenden Taxonomien die sozialen Probleme, die sie diagnostiziert, der Text koppelt sich auf sich selbst zurück. Strauß spielt hier mit der doppelten Bedeutung des Begriffs Taxonomie. Einerseits ist er aus biologischer Sicht das System der Ordnung des Lebendigen, andererseits bedeutet er aus sprachwissenschaftlicher Perspektive einen Begriff der Linguistik, der als aus Botanik und Zoologie übernommener Terminus zur Bezeichnung von sprachwissenschaftlichten] Analysen, die sich überwiegend oder ausschließlich auf klassifikatorische Merkmale der Distribution von sprachlichen Merkmalen oder Strukturen stützen, 76
dient. Der Vater agiert also als System der Ordnung im Bereich des Textes und der Naturwissenschaft des Lebendigen gleichermaßen. So erörtert "Angelas Kleider" unter anderem auch die Begegnung von Text und Leben und deren Auswirkung auf den vorprägenden und protokollierenden Text. Indem die Figur des Vaters Mythen, Kunst und das andere des Mitmenschen auf die lebende Materie bannt, verfolgt er dieselbe Strategie, wie die Verwirklicher von Utopien im Diesseits, wenn diese das schöne Ideal an der Realität erproben. In einem Interview bezeichnet Strauß Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung" als "ein großes Märchen", eine schöne Idee, welche sich in der Berührung mit der Wirklichkeit in sein böses Gegenteil verkehrt: 76
Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 1990, S. 771.
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Das hängt mit der gesamten Verdüsterung des politischen und intellektuellen Lebens zusammen, die das Prinzip selber in Frage stellt. Man muß sich doch fragen, wie es zum Beispiel die französischen Nouvelles Philosophes getan haben, ob nicht schon in der positiven Hoffnung ein unglaublicher Betrug steckt, der - wie Glucksmann sagte - v o m 'Kapital' direkt in die stalinistischen Lager führte. 77
4.2.3. Die symbolische Ordnung als Vortext der Taxonomien zerstört die Freiheit der Mythen und der Kunst und damit deren Wesen und Wirken Die ehemaligen Kunstwerke, die dichterischen Mythen leben nicht mehr alterungslos im Raum der künstlerischen Imagination des Kopisten, sondern werden von dem Demiurgen in die Welt als Materie und zugleich in die Welt als Text, die als kybenetische Beziehung zwischen These und Leben das Diesseits konstituieren, versetzt und deren Gesetzen unterworfen. Die zeitlosen Mythen altern, da sie in die differenzierende biologische und zeichengenerierte Zeit gezwungen werden. Wenn man die Mythen der neuzeitlichen Technik unterwirft, die sich nicht mehr als öffnende Kunst versteht, sondern Seiendes dem Sein vorzieht, dann sind sie nur noch historisch, kommen aus einer anderen Zeit und sind veraltet und altern umso mehr, als sie dem Ursprung ihrer Herstellung entfernt sind. Alice ist nicht mehr im Wunderland und das gepfefferte Ferkel, die Raupe mit der Wasserpfeife, die falsche Suppenschildkröte sind nicht mehr Imagination, sondern aus Kunst-Stoff, die Kunst wird zum Stoff, zur Materie. Man erkennt Shakespeares "lustige Weiber", "einmal: die Herrinnen der Unordnung. Jetzt drei faule stinkende Leiber" (AK 29). Fontanes Effi Briest ist bereits "von ihrem eigenen Ingrimm dahingerafft" (AK 30) worden. Einige Kreaturen laufen "frei" herum. Unter ihnen eine "Überlebende eines weltbekannten Kinostreifens" (AK 30), deren Körperlichkeit, so Roland Barthes, für jenen flüchtigen Augenblick [steht], in dem der Film eine existentielle Schönheit aus einer essentiellen Schönheit gewinnt, in dem der Archetypus das Faszinierende vergänglicher Gesichter durchscheinen läßt; in dem die Klarheit des Fleisches einer Lyrik der Frau Platz macht. 78
Als "Mythos des Alltags" entgeht auch sie nicht der Profanisierung durch die erzwungene Bindung an eine biologische und textformale "Realität", die nur die Ordnung des Diskurses mit der Materie ist. Die Verbindung der Kunst mit der Materie durch den Demiurgen kehrt das Verhältnis der behandelten Geschöpfe zum Raum um, die im Kunstraum Ausbrechenden (Alice, Effie, die lustigen Weiber) werden im Realraum in Boxen gesperrt, die Fixierten (der Filmstar) durch den Raum gejagt. Die Boxen als die Immanenz des eindeutigen Textes sind, wie es sich für eine Ordnung des Textes im Diesseits gehört, nach Alphabet geordnet, bei "Z" kann man noch Queneaus Zazie betrachten und Richard Strauß' Zerbinetta. Auffällig ist, daß in den Schauräumen des Nachthauses nur Frauen zu finden sind. Angela
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Dieter Bachmann: Das Ende der Liebe. Lektüre des Schriftstellers Botho Strauß und eine Begegnung mit ihm, nebst Sätzen aus seinem Werk, in: Tagesanzeiger Magazin 2 3 . 9 (1979), hg. v. Tages-Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich AG, S. 10. Roland Barthes: Das Gesicht der Garbo, in: ders.: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 74.
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sucht zwar eine Freundin und so kommen nur Frauen als Opfer in Frage. Aber Melanie ist ein Mitmensch, während die übrigen Schauobjekte im Nachthaus aus dem Reich der künstlerischen Imagination stammen. Der Demiurg sorgt als Überich dafür, daß in Angelas Bewußtsein sein Fang nach der Behandlung in seiner Freiheit, in der Freiheit der Interpretation, beschnitten wird. Alice wird getrennt vom Reich der Fantasie, Effie und die lustigen Weiber von der Freiheit, die Filmdiva von ihrer narzißtischen Sexualität, die sie zuvor in einer "Liebesszene, in der sie bis zum äußersten Verstummen ihren Körper genoß" (AK 30), ausleben konnte. So formuliert Strauß hier auch eine Kritik an der phallozentrischen Vorstellungswelt, die bewußt oder unbewußt das Maskuline in der symbolischen Ordnung als originalen Machtausgangspunkt konstituiert, welchem sich das so konstituierte Feminine zu fugen hat. Indem der Demiurg die Weiblichkeit in seine von ihm definierten Kategorien zwingt, ihnen seine "realistische" Präsenz aufzwingt, macht er sich zum "Zentrum", zum Super-Signifikanten, der an die Stelle des nicht mehr wahrnehmbaren transzendentalen Signifikats tritt. Madeleine Gagnon erörtert diese Verhaltensform: Der Phallus steht für das, was beobachtet, analysiert, sanktioniert. Der Phallus steht für alles, was sich selbst als Spiegel hochhält. Alles, was Reglementierung und Repräsentation anstrebt. Das, was nicht zurücktritt, sondern begehrt. Das, was Dinge in historischen Museen aufstellt. Das, was sich ständig mit der Macht der Unsterblichkeit mißt.7''
Diese Definition eines männlichen Macht- und Autoritätssystems paßt vorzüglich zu dem Charakter von Angelas Vater, der im Kopf von Angela als symbolische Ordnung, als Lacansches 'grand Autre Α1 agiert. Zwar sind die in die Immanenz der symbolischen Ordnung gezwungenen Kunstgestalten von Anfang an weibliche Ausgeburten männlicher Imaginationskraft, die sich wiederum speist aus dem unendlichen Archiv, in dem die Frau praktisch nicht vorkommt. Während ihrer Schöpfung bereits in eine männliche symbolische Ordnung gedrängt, werden sie aber durch die erzwungene Bindung an die durch Taxonomien geordnete Materie endgültig männlicher Totalität unterworfen. Gleichzeitig sorgt der Vater dafür, daß die Texte, die in Angelas Bewußtsein persistieren, die Tochter nicht auf dumme Gedanken bringen, indem er sich bemüht, daß diese nicht in Freiheit gezeigt werden. Ebenso wie Angela will auch der Vater in die in der Immanenz verharrenden Welt das ganz andere, das Göttliche transferieren. Da seine "biotisierten" Kunstgestalten Teile aus Kunstwerken, aus Mythen, aus Dichtung sind, versucht er, die Epiphanie in der Begegnung mit dem Kunstwerk in seine Verfügungs-Gewalt zu bringen. Das kann ihm jedoch nicht endgültig gelingen. Denn, so Strauß, nur in der Erwartung, in der Akzeptanz des Kunstwerkes als Gast kann dieses auf das ganz andere verweisen. Der Versuch des Vaters ist ähnlich sinnlos, wie mancher positivistische Versuch eines (negativen) Gottesbeweises. In Anspielung auf sein Buch "Warum ich kein Christ bin" kritisiert George Steiner den Neopositivisten Bertrand Russell:
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Madeleine Gagnon: Body I. An exerpt from Corps I, in: New French Feminisms: An Anthology, hg. v. Eleine Marks und Isabelle de Courtivron, Amherst 1980, S. 180. Zitiert nach: Jeremy Hawthorn: Grundbegriffe moderner Literaturtheorie, Tübingen 1994, S. 245.
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Geistreich erklärte Bertrand Russell, daß Gott dem Menschen einfach viel zu wenige Hinweise auf seine Existenz gegeben habe, als daß religiöser Glaube plausibel sei. Doch ist seine Bemerkung in metaphysischer Hinsicht ohne musikalisches Gehör. Sie läßt die ganze Sphäre des Dichterischen aus, sei sie metaphysisch oder ästhetisch, sie läßt die Musik aus und die Künste, ohne die menschliches Leben vielleicht wirklich nicht zu leben wäre.®0
Ein Kunstwerk ganz in der Welt als eindeutig interpretierter Text ist keines mehr. In dem Versuch, Kunstgestalten in die Rekluse zu holen, repetiert der Demiurg seine Schaffung einer verpfuschten Welt.
4.2.4. Die Ambivalenz der Idee der Aufklärung Der Nebentext schreibt an der Seite der Szene eine Kordel "wie vor Gedenkstätten" vor. Ulrich und der Schliesser kommentieren, in der Kritik am Geschehen einig, "halb belustigt, halb verärgert" (AK 53) die Szene. Damit bekommt das Geschehen sofort musealen Charakter und bevor der Dialog beginnt, ist die Richtung, auf die diese Szene zielt, klar. Die ewig Gestrigen sind nun in der linken Ecke zu suchen. Ausdrücklich weist Strauß in der Bühnenanweisung die Charaktere als "BrechtKulis" aus, ein Seitenhieb auf die in linkem Dogmatismus erstarrte Nachkriegsintelligenz. Nicht zufällig sucht sich Strauß für seinen Rundumschlag gegen alles Linke in der Gesellschaft und auf der Bühne das umstrittenste Stück von Bert Brecht aus: "Die Maßnahme". Thematisiert wird in dem Lehrstück die totale Einfügung des individuellen Lebens unter das Ideal der kommunistischen Grundsätze und deren institutionellen In-Begriff, der Partei. Der Dialog der Kulis ist ohne Änderung als Intertext in das Stück eingefügt, 81 im Brechtschen Original ist er der Dialog des Kontrollchors, der das Parteigericht figuriert. Dessen Funktion hat, so Strauß, in der heutigen Gesellschaft die intellektuelle Linke übernommen, welche, so der Schliesser, "unbelehrbar mit diesem klobigen, zu keiner Pforte der Wirklichkeit passenden Schlüssel einer verschlagenen Einfalt" (AK 53) herumhantiert. Indem Ulrich einen der Brecht-Kulis individualisiert, zeigt er den Menschen hinter dem totalitären Ideal. Melanie, die das Kleid eines Brecht-Kulis trägt, gesteht, daß ihre Arbeit in der Gemeinschaft nicht durch das gemeinsame Ziel, sondern durch sehr individuelle Wünsche motiviert ist: "Wenn ich hämmere, denke ich nicht an den Hammer. Ich denke an meinen Liebsten und unser Bett. Wenn ich Geld zähle, so liebe ich es nicht, sondern bin mit ganzem Herzen an die unzähligen Sterne verloren." (AK 55) Strauß zeigt hier, daß gerade die Arbeit im Kollektiv ohne private Vorstellungswelten, ohne Träume und das Begehren, das infolge der Sehnsucht nach dem Ganzen entsteht, nie funktionieren kann. Die sichere Hand aufgrund der Eigenmotivation bewährt sich, so Ulrich, "besonders im Chor der unnütz Klugen, die ihre Arbeit nur zum Schein verrichten" (AK 55). Diese "unnütz Klugen", die ihre sozialistische Ideologie als Legitimation ihres intellektuellen Daseins als Schild vor sich hertragen, sich aber ansonsten in einer marktwirtschaft-
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Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, a.a.O., S. 297. Die Dialoge der Kulis in AK 53f. sind zu finden in: Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg, Frankfurt 1972, S. 14ff.
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liehen Gesellschaft jeden privaten Wunsch als erlaubte Sublimation erfüllen, werden hier kritisiert. Ihre Sprache besteht aus "Rätsel in der Klarsichtfolie" (AK 55), sie markiert das Revier und stabilisiert als Marken-Zeichen das Image nach innen und nach außen. Als Dominante des intellektuellen Diskurses funktioniert sie reibungslos: "Ameisen, die sich etwas mitzuteilen haben, tauschen ruckzuck ihren Mageninhalt aus. Das ist eine Sprache, mit der man leben kann." (AK 55) Gerade die gemeinsame Sprache der Frankfurter Schule ermöglicht es den Intellektuellen, sich als System (wie Luhmann sagen würde) zu stabilisieren, denn sie ist schwer zu überwindende Grenze und bewundertes Objekt zugleich. Strauß selbst erinnert sich an seine "intellektuelle Erziehung" durch die Kritische Theorie: "Man las alles von Benjamin und verschaffte sich mit einem Zitat das entsprechende Fluidum." 82 Die Elitisierung der Kritischen Theorie steht hier im Vergleich zu der Elitisierung, die Strauß betreibt. Beide Schotten sich gegen eine "triviale" Umwelt ab, aber nur die intellektuelle Linke propagiert den Konsens. Strauß wirft der heutigen Linken jedoch nicht nur ihren Standpunkt vor, sondern auch die Leidenschaftslosigkeit, die "Trance", (AK 54) mit dem sie diesen verficht, er erinnert an die "unnütz Klugen in ihren engen Bandagen" (AK 54). Indem Ulrich der diesseitigen sozialistischen Utopie den Gottesstaat nach Augustinus als kommunistische^!) Endzustand entgegensetzt, geht er in den Augen des Schliessers gegen Eiferer selbst als Eiferer vor. Dies sei nicht nötig, so sein ständiger Begleiter, denn die jetzige Linke sei nur "sich selbst gefährlich" (AK 54). "Melanie: Kein Haus wird nur um des Gebäudes willen gebaut. Begreifst du es nicht?" Darauf antwortet Ulrich: "Nein! Nein! Ich bin es müde, ewig von dir katechisiert zu werden!" (AK 55) Das Heideggersche Haus, die poetische Sprache wird durch diesen Dialog mit dem Bauen an einer besseren Gesellschaft im Sinne des Sozialismus konfrontiert. Der das Existentielle Erkennende muß eine Ausrichtung seiner Sorge auf eine diesseitige Utopie als Verengung in einen "Katechismus" verstehen. Der Titel des Straußschen Prosawerkes "Wohnen, Dämmern, Lügen" weist auf diese Problematik. Das "Wohnen" im Heideggerschen Sinne wird konterkariert durch die "geistig[e] Verschlafen[heit]" (BL 14) in der Aufklärung und die Lüge im Festhalten an starren Ideen. Das Finale der Gewalt, der Umschlag in das Negative findet auf der Beleuchterbrücke statt. Je höher die Sonne steigt, um so "tiefer sinkt [Ulrichs] freier Wille". Er geht "als einer, der sich gehen läßt. Die Sonne brütet einen Doppelgänger aus [seiner] Übernächtigung." (AK 57) Daß mit zunehmender Auf-Klärung die geistige Müdigkeit zunimmt, konstatiert Strauß in "Beginnlosigkeit": "Der nihilistischen, mittlerweile: der entropistischen Obsession, mag sie sich noch so radikal und welthaltig gebärden, haftet etwas geistig Verschlafenes an." (BL 14) In der Schläfrigkeit entsteht aus Dr. Jekyll Mr. Hyde, der von Ulrich angesprochene Doppelgänger, als zwangsläufige Folge des Festhaltens an der Idee der Aufklärung und des Nihilismus, der Spiegel des "Ich" als ein "anderer" fixiert eine Einheit, die sich selbständig macht, erstarrt und als Form alles andere in seine Wahrnehmungsform pressen will. Die Rollen sind bereits vor dem Aufstieg auf die Beleuchterbrücke, zum höchsten Punkt der Aufklärung und damit, nach Nietzsche, des Nihilismus verteilt: Ulrich tadelt den Schliesser für seine belehrende Aussage, daß "das rang82
Hage: Schreiben ist eine S£ance, a.a.O., S. 199.
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niedrige Tier [...] naturnotwendig den Blick des ranghöheren" (AK 56) meidet. Gerade das Wort "naturnotwendig" bewirkt, daß Ulrich die zu positivistische These des Schliessers über den Vorgang der intersubjektiven Kommunikation ablehnt: "Verschonen Sie mich mit Ihren biologischen Belehrungen. Das taugt für Ratten und für Gänse." (AK 56) Die Anspielung auf Lorenz ist hier unübersehbar. Dessen Betrachtungsweise des sozialen menschlichen Verhaltens, die der Verhaltensforscher selbst als "hypothetischen Realismus"' 3 bezeichnet, stellt das Instinkthafte in den Mittelpunkt, das durch kulturelle Einflüsse nicht geändert werden kann. Auf der Grundlage von Tierbeobachtungen formuliert Konrad Lorenz die These, die Aggression sei eine unmittelbare, im Innern positionierte Potentialität zur Auseinandersetzung, die für das Überleben eines Organismus relevant sei. Gegen einen solchen Reduktionismus verwehrt sich Ulrich und betont die mangelnde Kompetenz der naturwissenschaftlich geprägten Verhaltenswissenschaft in der Analyse einer Begegnung mit dem ganz anderen: "Nichts erklärt es von den kunstvollen Strafen des verweigerten Auges, des abschweifenden Blicks." (AK 56) Hier vertritt Ulrich die Position von Levinas. Denn im Gegensatz zu Konrad Lorenz, welcher den Augenkontakt eher als Provokation zur Aggression interpretiert, betont Levinas, daß das Gesicht des anderen keineswegs allein als Gesehenes, sondern vorwiegend zusätzlich als Sehendes sich als nicht innerhalb der puren Wahrnehmbarkeit vorhanden seiende Andersheit aktiv zeigt, während das Andersandauern des anderen sagt: "Du sollst nicht töten!" An dieser kleinen Meinungsverschiedenheit zeigt sich, wenn man sie polarisierend vereinfacht, die Erklärens-VerstehensKontroverse. Wenn der Schliesser die Ansicht des anderen als Rivalität interpretiert, dann repetiert er den Nihilismus Nietzsches, der den ganzen "ErkenntnisApparat" für einen "Abstraktions - und Simplifikationsapparat" hält " - nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge"84 Der nietzscheanische Blick als Griff nach dem anderen kontrastiert sich in diesem Dialog zwischen Ulrich und dem Schliesser von dem Levinasschen Blick als Anerkenntnis des ganz anderen. So steht hier der Schliesser für den von Strauß kritisierten Nihilismus der (Post-) Moderne, während Ulrich, wenn er die "Weisheit" der "keuschen Wüstenväter" in der "heiligen Grotte" (AK 57) zitiert, zumindest eine Ahnung von Tabu und Heiligem besitzt. Melanie passiert Ulrich und den Schliesser auf der Beleuchterbrücke in moderner Sportbekleidung. Die Begrüßung "Guten Morgen" definiert die Tageszeit. So wie Nietzsches "Zarathustra" auf der letzten Etappe seiner Entwicklung zum Übermenschen am Morgen die Sonne begrüßt: "Des Morgens aber nach dieser Nacht sprang Zarathustra von seinem Lager auf, gürtete sich die Lenden und kam heraus aus seiner Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt. 'Du großes Gestirn', sprach er, wie er einstmals gesprochen hatte, 'du tiefes Glücks-Auge, was wäre all dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest"85. Zarathustra gelangt nur zur "höchsten" Stufe seiner Entwicklung, indem er der Versuchung des Mitleidens widersteht. Während Nietzsche
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Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, a.a.O., S. 17ff. Friedrich Nietzsche: Werke in 3 Bänden, Band III, München 1960, S. 442. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Frankfurt 1976, S. 329.
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noch für die Umwertung aller Werte plädiert, nivelliert der Schliesser in postmoderner Manier alle Werte. Der Schliesser stellt die rhetorische Frage: "Warum Weisheit? [...] Warum Gut und Böse? Ist am Ende doch von einem Stamm. Nicht zu trennen. Helldunkel wie jeder Mensch. Woher kommt die künstliche Teilungssucht: oben-unten, gut-böse, Himmel-Hölle?" (AK 57) Wie ein Programm der "Neuen Unübersichtlichkeit" (Habermas) liest sich der Dialog des Schliessers an dieser Stelle. Er plädiert für das "endlose Ornament. Welches Chaos und Ordnung verbindet und umschließt. Die Linie des Ornaments, die Gestalt schafft und Gestalt wieder auflöst. Schönheit besitzt, Schönheit aufgibt. Die ständig zu neuen Formen findet und alles j e Erfundene weiterführt. Und die das Böse in das Gute hinüberwindet". (AK 58) Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Kennzeichen der Postmoderne wird angesprochen, wenn der Schliesser für das Abweichen von der Linie plädiert: "In dieser Gegend, glauben Sie mir, ist nur der Schritt vom Weg ein Schritt voran." (AK 56) Auch lehnt er die Bemühungen um "unnatürlichen Begradigung" (AK 58) ab, welche in einer Zeit der bevorzugten Wahrnehmung von Chaos nicht mehr opportun wären. Hier gibt der Schliesser Einsichten des Autors Strauß wieder, die in dessen theoretischen Schriften, vor allem in "Beginnlosigkeit", erläutert sind. Und genau bis an diesen Punkt folgen die meisten Interpretanten dem Autor, wenn sie in seinen Texten postmoderne Paradigmen erkennen. Aber Strauß geht über die Diagnose einer postmodernen Gesellschaft hinaus. Denn der Nihilismus der Moderne und "ihren [...] postmodernen Ausläufern" (BG 14) setzt, so Strauß, dem beliebigen Übergriff des Systems und des Individuums auf den anderen nichts entgegen. So fordert der Schliesser Ulrich zu einer Gewalttat auf, die im "anything goes" als eine solche nicht mehr erkennbar ist: Kommen Sie! Treten wir ein in die Linie! Verschwinden wir in den unbändigen Wirbeln und Schlingen und Falten der Linie! Genießen wir jetzt ihre Morgenfrische. Sie werden sehen, es wird Sie rasch erquicken. Hier oben gibt es niemand, der uns dabei stören könnte. Sehen sie nur: sie winkt uns schon herüber! Sie lädt uns ein zum Sonnentanz! (AK 58) Und sie treten ihr Werk der Gewalt an, wie Nietzsches "Zarathustra": '"Dies ist mein Morgen, mein Tag hebt an: herauf nun, herauf du großer Mittag!' Also sprach Zarathustra und verließ seine Höhle, glühend und stark wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt." 86 "Glühend" ist dann auch der Horizont, vor dem Ulrich und der Schliesser, nachdem sie Angelas Vater auf Veranlassung von Angela an ihren "Gürteln" (siehe oben bei Nietzsche: "Zarathustra [...] gürtete sich die Lenden") in die Luft gezogen hat, abgeworfen werden. Der Schliesser sieht Melanie winken. Für Heidegger zeigt sich das Wesen der Götter innerhalb des Nihilismus als unbeständige, unfeststellbare Erscheinung eines fast nicht erkennbaren, nicht begreifbaren, eher indirekt wahrnehmbaren Winkes. Er veranschaulicht dieses mithilfe eines Fragments von Heraklit, das in seiner Auslegung die "Art des Sagens" nennt, "wie sie den Göttern eignet": 'Der Herr, dessen Spruchort zu Delphi (Gott Apollo) ist sagt weder, noch verbirgt er, sondern winkt.' Das ursprüngliche Sagen macht weder nur unmittelbar offenbar, noch verhüllt es einfach nur schlechthin, sondern dieses Sagen ist beides in einem und als dieses Eine ein Winken, wo das Gesagte auf Ungesagtes, das Ungesagte auf Gesagtes und zu Sagen86
Nietzsche: Also sprach Zarathustra, a.a.O., S. 331.
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des weist; das Widerstreitende auf den Einklang, der es ist, der Einklang auf den Widerstreit, darin er allein schwingt.87 So mißdeutet der Schliesser die Geste, die sich als Zeichen in seinem B e w u ß t s e i n beim Anblick von Melanie manifestiert, als A u f f o r d e r u n g zum Objektbesitz, o b wohl sie das Zeichen des Göttlichen ist. N a c h d e m Ulrich von Angelas Vater daran gehindert wurde, Melanie zu vergewaltigen, klagt er sich selber an: "Ich h a b e sie nicht erkannt". (AK 58) In seiner B l e n d u n g durch das "Sonnenkleid" (AK 60), das helle Licht der A u f k l ä r u n g und der einrastenden Eindeutigkeit des "wahren" Begriffs, greift er nach Melanie, ohne in ihr das ganz andere, das auf das Göttliche hinweist, zu erkennen. Der Nihilismus als Kind der M o d e r n e und N a c h m o d e r n e ist das Hauptübel, dem Strauß mit der B e k e h r u n g des Einzelnen zur Erwartung des ganz anderen entgegenwirken will: Der Rechte hofft [...] auf einen tiefgreifenden, unter den Gefahren geborenen Wechsel der Mentalität, auf die endgültige Verabschiedung eines nun hundertjährigen 'devotionsfeindlichen Kulturbegriffs 1 (Hugo Ball), der im Gefolge Nietzsches unseren geistigen Lebensraum mit unzähligen Spöttern, Atheisten und frivolen Insurgenten übervölkert und eine eigene bigotte Frömmigkeit des Politischen, des Kritischen und All-Bestreitbaren geschaffen hat. (BG 15) In diesem Sinne kritisiert Novalis den Nihilismus, dessen Verkörperung an Nietzsches "Übermenschen" erinnert: Das Ideal der Sittlichkeit hat keinen gefährlicheren Nebenbuhler als das Ideal der höchsten Stärke, des kräftigsten Lebens, was man auch das Ideal der ästhetischen Größe [...] benannt hat. Es ist das Maximum des Barbaren und hat leider in diesen Zeiten der verwildernden Kultur gerade unter den größten Schwächlingen sehr viele Anhänger erhalten. Der Mensch wird durch dieses Ideal zum Tier-Geiste - eine Vermischung, deren brutaler Witz eben eine brutale Anziehungskraft für Schwächlinge hat.88
4.3. Das
Gleichgewicht Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle schönen Gedichte, und ebenso die rechten Liederdichter ... Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht länger in ihm wohnt. (Piaton, Ion) Complicate yourself.
(Karl Ε. Weick)
Das Stück, welches Strauß als seine "Bürgerliche Invention" bezeichnet, als "eine der schwersten Partituren, die er j e fürs Theater geschrieben hat - auch w e n n das
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Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen "Germanien" und der "Rhein", Frankfurt 1980, S. 127f. Novalis, zitiert nach: Thomas Mann: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in: Nietzsche: Also sprach Zarathustra, a.a.O., S. 333-368, hier S. 357.
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Stück so 'konventionell' aussehe", zeigt auf den ersten Blick eine traditionelle Dramaturgie. Die Intention des Autors war, etwas nach außen hin ganz schlicht erscheinen zu lassen und 'innen drinnen die größtmögliche Oszillation' zu erreichen. Es sei im Grunde das Gegenteil von allem, was er bisher gemacht hat: 'Das gesamte Geheimnis muß an der Oberfläche stattfinden, sonst hat es keinen Zweck!' 89
In "Gleichgewicht" wird mithilfe der Figur der Lilly das menschlich Ambivalente als Spiegel des Textes demonstrativ ausgestellt - komplementär als "lebendige Eintracht von Tag und Traum, von adlergleichem Sachverstand und gefugigem Schlafwandel" (DjM 11). Aus ihm resultiert ein nicht konventionelles Gleichgewicht. Dabei unterbricht der Einbruch von Szenenfragmenten die vordergründig lineare schwebende Ordnung, um die Dramaturgie nicht konventionell stehen zu lassen und die Handlung durch das Fenster des Einbruchs weiter zu treiben. Die "größtmögliche Oszillation" stört das konventionelle, nicht das unkonventionelle Gleichgewicht. Denn die traditionelle Vorstellung von Gleichgewicht vermeidet die ständige Öffnung zur Umwelt des Systems. Strauß beruft sich auf die Erkenntnisse der Systemtheorie und Chaosforschung, wenn er annimmt, daß sich die Individuen im sich bewegenden Text als selbstorganisierende Systeme nur halten können, wenn sie nicht in ihr eigenes Gleichgewicht einrasten: Wo ist mein Freund? Wo der vertraute Mitwisser, der leise Bemahner? Ach, Freunde! Zu hart oder fem und feig. Sie kippten alle - im letzten Augenblick - in ihr Gleichgewicht ein. (FU 53)
Denn eine Klausur gegenüber der Umwelt würde das Individuum nur im eigenen Gedankenstrom untergehen lassen. So ergibt sich für Strauß das Paradox, daß eine Reaktion der Verhärtung auf die Wahrnehmung der Unordnung in der Umwelt genau das bewirkt, was sie verhindern soll: die Zunahme der Unordnung im eigenen System und im gesellschaftlichen Netz. Die Folgen eines Festhaltens an erstarrten Rezepten und Ideologien beschreibt Strauß im "Anschwellenden Bocksgesang" : Mitunter aber will es ihm scheinen, als hörte er jetzt ein letztes knisterndes Sich-Fügen, hauchdünne Lamellen klimpern in den natürlichsten Vibrationen, und so, als sähe er gerade noch die Letzten, denen die Flucht in ein Heim gelang, vernähme ein leises Einschnappen, wie ein Schloß, ins Gleichgewicht. Danach: nur noch das Reißen von Strängen, gegebenen Händen, Nerven, dinglichen Kohäsionen, Kontrakten, Netzen und Träumen. Sogar von SchulterschlUssen und Marschkolonnen. (BG-P 9)
So zeichnet Strauß alle Figuren ambivalent, um ihr Überleben in einer komplexen Umwelt zu reflektieren mithilfe eines intellektuellen Hintergrunds, der die Erkenntnisse der gegenwärtigen avancierten Forschung berücksichtigt. Strauß' Wahrnehmung der Umwelt, in der "die Unscharfe selbst der Held" ist, und die voller "Ambivalenzen und überstürzter Paradoxe" (AA) ist, von den meisten Menschen aber als weitgehend eindeutig interpretierbar gedeutet wird, spiegelt sich im Inhalt und in der Form von "Das Gleichgewicht". Eine im schnellen Über- und Durchblick traditionelle Dramaturgie löst sich bei genauerer Betrachtung in immer klei-
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Hage: Der Dichter nach der Schlacht, a.a.O., S. 183.
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nere, sich selbst rückkoppelnde Einheiten auf: "Fraktale, überall Fraktale." 90 Chaostheoretische Vorstellungen unterlegen die Szenen mit einem Unsicherheitsfaktor." Jeder Versuch, die Beziehungen der Figuren zu anderen Figuren oder zu ihrer Umwelt zu interpretieren, führt zu Widersprüchen. Als Ambivalenz in den Figuren stabilisieren diese die Charaktere. Trotzdem wird im folgenden versucht, einige Schneisen der Abstraktion in das Dickicht des komplexen Textes zu schlagen. Denn auch der Mathematiker und Chaostheoretiker Benoit Mandelbrot, der "Urvater" der Fraktale, sagt: "Das Ziel der Wissenschaft ist es immer gewesen, die Komplexität der Welt auf simple Regeln zu reduzieren." 92 Widersprüche müssen dann aber zwangsläufig auftauchen und können nicht ganz aufgelöst werden. Das Gleichgewicht konstituiert sich deutlich in den Figuren. Jede Figur ist ambivalent angelegt, wobei ein "Teil" der Figur auf den anderen rückgekoppelt ist, so daß sich immer eine Öffnung ergibt, eine Verweigerung des passenden Einschlusses, und die Figur sich so im Gleichgewicht hält. Lilly, die Hauptfigur, vereinigt in sich und stellt in sich gegeneinander Glaube und Wissen, die "zwei Seelen in des Autors Brust", eine "kritisch-analytische" und eine "poetisch-phantastische", die Henriette Herwig 93 auch bei Strauß diagnostiziert. Markus ist Geliebter, abhängiger Sohn und Radikaler, Gregor Marxist und Schellingkenner, Christoph Wirtschaftsprofessor und archaischer Achill, Marianne setzt auf Sicherheit und träumt vom Abenteuer.
4.3.1. Die Relativität im Text-Raum: Gibt es einen absoluten Text-Raum? Ähnlich der physikalischen Diskussion zu Anfang dieses Jahrhunderts über die Existenz eines absoluten Raums, eines "Äthers", die Albert Einstein mit seiner berühmten Arbeit über die spezielle Relativitätstheorie beendet, erörtert Strauß die Existenz oder Nicht-Existenz eines absoluten Raums im Text-Raum. Bewegt sich das Text-Subjekt in einem absoluten-Text-Raum oder durchläuft der Text das Subjekt als archimedischer Punkt? In der ersten Szene des ersten Aktes befindet sich Lilly auf der "Bahnhofsebene", (GG 11) der Bus als statischer Raum, in dem sich Lilly bewegt, wird durch einen Wechsel des Standpunktes 94 zum Bahnhof, an dem Lilly steht und die Umwelt sich bewegt. Als Knotenpunkt im sich bewegenden Text, im Netz der Informationsströme, funktioniert Lillys Kopf als Durchgangssta90
Briggs und Peat: Die Entdeckung des Chaos, a.a.O., S. 151. Natürlich sind die Texte nicht formal oder inhaltlich streng nach den mathematischen Formeln der "iterativen Geometrie" gestaltet. Das ist aufgrund der Verschiedenheit von mathematischer und sprachlicher Abstraktion gar nicht möglich. Wenn hier also von Fraktalen die Rede ist, dann soll damit das Phänomen bezeichnet werden, daß sich im Versuch, eine Figur oder eine Handlung eindeutig zu interpretieren, das Objekt in Ambivalenzen und Paradoxa auflöst, sich mit seiner Komplexität gegen den Zugriff wehrt. 92 Briggs und Peat: Die Entdeckung des Chaos, a.a.O., S. 151. 9 ' Henriette Herwig: Verwünschte Beziehungen, verwebte Bezüge. Zerfall und Verwandlung des Dialogs bei Botho Strauß, Tübingen 1986, S. 9. 94 Vgl. Strauß "Kippbild" der Umwelt: Es ist "unsicher nach wie vor, ob diese Welt, wie Valerio behauptet, ein 'ungeheuer weitläufiges Gebäude' oder ob sie vielmehr, wie Leonce entgegnet, nur ein enges Spiegelzimmer ist, in dem man kaum wagt, die Hände auszustrecken, aus Furcht überall anzustoßen, so daß die 'schönen Figuren in Scherben auf dem Boden lägen und ich vor der kahlen, nackten Wand stünde'" (DEeK 127)
91
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tion für den Text der Welt. Dort sorgt die Ankunft und die Abfahrt der Züge für das andauernde Auf und Ab der für den Moment gültigen Weltbilder, der Gedankenstrom in Lillys Bewußtsein orientiert sich am "Stop" und "Go" der Attraktoren. Daß die Ebene Zugang sowohl zur S- (= Nah-) und Fernbahn bietet, garantiert die Anbindung des Nahen an die Ferne, des Jetzt an das Einst. Jeder, der diese Ebene betritt, muß an Lilly vorbei, die mit ihren "News" zu den täglichen Weltbildstürzen beiträgt, nicht umsonst steht ihr Zeitungsstand neben zwei "Entwertungsautomaten" (GG 11). Die "abgerissene^] und verhüllte[n] Gestalten" (GG 11) haben in dieser Zone des Durchgangs ihre durch die Kleidung und das Gesicht erkennbare Identität eingebüßt, die Masken verschwimmen, werden undeutlich. Der Tod eines Menschen als emergenter Moment, der das reibungslose Funktionieren des in sich geschlossenen Systems einer einzelnen Linie für kurze Zeit stört, wird mit dem technischen Begriff "dringende[.] Gleisarbeiten" (GG 11) umschrieben. Lilly benutzt einen jiddischen Ausdruck ("Schamott", GG 11) und ärgert sich darüber, daß der Verkehr, die Verbindung, die Erinnerung an "Wannsee" (GG 11), an die Wannseekonferenz, schon wieder "auf unbestimmte Zeit eingestellt" (GG 11) wird, weil ein Zeitgenosse erneut den Zug in die Vergangenheit zweckentfremdend benutzt und damit die Gewalt heraufbeschworen hat. So formuliert sie die Kritik von Strauß an der mangelnden Erinnerungsfähigkeit der auf die Gegenwart fixierten Gesellschaftsmitglieder, wenn es um die Verbrechen der Nationalsozialisten geht. Lilly erweitert die Funktion des Entwerters auf die des Eßtisches, was prompt einen Verweis aus dem Lautsprecher nach sich zieht, der mit Hilfe des Auges der Zivilisation, der Videokamera, überwacht, daß die Dinge auch so benutzt werden, wie sie die Theorie vorsieht. Nachdem Lilly scheitert, den Funktionsträger hinter dem Lautsprecher einschmeichelnd zu individualisieren ("Guten Morgen, mein süßer Verlautbarer [...]. Warum kommst du nicht ein paar Minuten rüber?" (GG 12)), fordert sie zur Revolution gegen die erstarrten Ideologen auf. Markus, der in diesem Moment hinzutritt, outet sich in seinem ersten Satz als radikaler Gegenaufklärer: "Du haßt die Bärtigen. Ich hasse die ganz und gar entschleierten Frauen." (GG 12) Der Satz ist doppeldeutig. Neben dem Hinweis auf eine radikale Gesinnung weist er auch auf den von Strauß oft beklagten Verlust der Sinnlichkeit infolge einer fortschreitenden Totalentblößung hin. So ist die Figur des Markus von Anfang an ambivalent angelegt. Er ermahnt Lilly, daß das ganze Haus "eine vollgestopfte Rumpelkammer" (GG 12) ist, mit Heidegger aufgeschlüsselt: daß ihre Sprache mehr als nur das technisch-liberale und ideologisch Notwendige enthält, also poetisch ist. Deshalb ist sie nicht vorbereitet auf die Ankunft von Christoph in ihrem Bewußtsein, dessen Sprache eher linearen und funktionalen Charakter hat. Lilly befindet sich in der ersten Szene an dem Punkt, an dem sich der Umschlag der Information mit der Entwertung der Information trifft, sie hat ihren Zeitungsstand hinter den Entwertern aufgebaut. Im Treiben der Informationen, in den andauernden Weltbildstürzen, dem "unaufhaltsamen Wegschlittern des Sinns"95, ist der Ort, an dem sich das Unendliche gerade darin zeigt, daß es sich jeder Norm entzieht. Denn, so die Logik des Hermetikers Strauß: wo sich keine gültige Norm finden läßt, dort muß etwas jenseits sein, das da ist, gerade weil es nicht faßbar ist. 95
Eco: Das Irrationale gestern und heute, a.a.O., S. 15.
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Markus' Bemerkung, daß Christoph mit dem Frühzug kommt, begegnet Lilly mit dem Hinweis, daß sie die "ganze Nacht auf den Beinen" (GG 12) war, um Jacques Le Coeur bei seinem ersten Konzert seit fünf Jahren zuzuhören. Hier zeigt sich die Dichotomie von Tag und Nacht in den Personen von Christoph, der am Anfang des Tages aus Brüssel, die Stadt der europäischen Zukunft, ankommen wird und Jacques Le Coeur, den man in der Nacht in Berlin in einem alten U-Bahn-Bunker, in der mythischen Vergangenheit, die anscheinend nicht gebraucht wird, aber dennoch im "Untergrund" persistiert, besucht.
4.3.2. Das Undeutliche als notwendiges Gegengewicht zum deutlichen System Christoph, dessen Name auf Christus und Jacques, dessen Name auf Jakobus, dem in der gnostischen Vorstellungswelt wichtigen Bruder Christus', zurückgeführt werden kann, sind die beiden Einflußsphären, denen Lilly unterliegt. In der Gegenüberstellung von Christoph und Jacques spiegelt sich der Gegensatz zwischen orthodoxem Christentum und gnostischen Häretikern, zwischen Hegel und Kierkegaard, zwischen System und Einzelnem. Bereits in der Frühzeit des Christentums ist diese Dichotomie feststellbar. So schreibt Elaine Pageis: Die orthodoxen Kirchen, die ihren Ursprung auf Petrus zurückführen, pflegten die Überlieferung - die bei katholischen und manchen protestantischen Kirchen bis heute aufrecht erhalten wird Petrus sei der 'erste Zeuge der Auferstehung gewesen', und daher der rechtmäßige Führer der Kirche. Schon im zweiten Jahrhundert waren sich die Christen darüber im klaren, daß 'den auferstandenen Herrn gesehen' zu haben mögliche politische Folgen mit sich brachte: in Jerusalem, wo Jakobus, Jesu Bruder, erfolgreich die Autorität Petrus' bestritt, besagte eine Überlieferung, Jakobus, nicht Petrus (und ganz bestimmt nicht Maria Magdalena), sei der 'erste Zeuge der Auferstehung' gewesen. 9 6
Jacques vertritt unter anderem auch das gnostische Denken als religiöses Gegenmodell zur orthodoxen Lehre, die von Christoph repräsentiert wird. Die französische Übersetzung des Nachnamens Le Coeur weist auf Christus hin, da in vielen bildlichen und allegorischen Darstellungen Christus mit dem Herz gleichgesetzt wird. So versinnbildlicht Jacques einen dunklen, gnostischen Zugang im Gegensatz zu dem hellen der orthodoxen Kirche. Er ist als Herz das fehlende Gegengewicht zu Christoph. Über das Herz schreibt Strauß: W o ist das Herz, wenn der Organismus in ein Vielfaches von Kreis- und Netzläufen, von Komplexen, Systemen und Untersystemen, 'sich selbst organisierenden', aufgelöst wird? Wissenschaft und Technik haben ihre kybernetischen Leitbilder bis in die feinsten Darstellungen von Blut und Nerv, Geist und Enzym getragen - aber das Herz, das Herz? Das Herz ist das Ganze. Wessen Herz dann? Sind wir eines anderen Mitte? W e m schlagen wir? ( F U 4 7 )
Nur mit Christoph als System und ohne Jacques als Herz fehlt Lilly das, was Strauß in den Ideen einer materialistischen Welt vermißt. Über die Anspielung Jacques Le Coeur auf Jacques Lacan verweist Strauß auf das Außerhalb des Textes, das das geheime Zentrum "verbirgt".
96
Pageis: Versuchung durch Erkenntnis: Die gnostischen Evangelien, a.a.O., S. 45f.
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Während Christophs Abwesenheit als stabilisierendes System erliegt Lilly den Gesängen von Jacques. Penelope wehrt sich nicht gegen die Verführung durch die Sirene(n). Sie kann und will sich nicht dem Selbstbeherrschungsgebot der Aufklärung beugen. Jacques' "seraphisch-satanische Vereinigung" (GG 69), eine himmlisch-teuflische Vereinigung, repräsentiert eine Gut-Böse-Dichotomie, einen ungetrennten Gedankenstrom, einen unzensierten ganzheitlichen Text am Ursprung der Gedanken tief im Unbewußten von Lilly, die vor der Ankunft von Christoph ohne differenzierenden, ordnenden Text auskommen muß. Ähnlich charakterisiert sind die erstmals in der Homerschen Odyssee erwähnten Sirenen. Diese Wesen sind einerseits die Vorgänger der christlichen Engel, andererseits aufgrund ihres Wissens und ihrer Verführungskünste Sinnbilder der Häresie.97 Wenn man die Figur Jacques' mit seiner Vereinigung identifiziert, dann weist sie Ähnlichkeiten mit den mythischen Figuren der Sirenen auf. Odysseus, der am Übergang zur Vernunft steht, lauscht zwar den Sirenen, plant jedoch zuvor vernünftigerweise, um seine Sicherheit nicht zu gefährden, das Vorgehen, damit er nicht dem Begehren nachgibt. Diese erzwungene und nur mit der Disziplin eines aufgeklärten Denkens haltbare Parallelität von Verstand und Empfindung ist eine Bedingung der modernen Zivilisation. Eine solche Parallelität wird bei Strauß durch das Zusammenwirken von Christoph und Jacques in Lilly symbolisiert. Über die Sphäre, die Jacques versinnbildlicht, schreibt George Steiner: In den meisten Kulturen, in den Zeugnissen von Dichtung und Kunst bis in die neueste Moderne wurde die Quelle der 'Andersheit' als transzendental dargestellt oder metaphorisiert. Sie wurde als göttlich, als magisch, als dämonisch beschworen. Es ist eine Gegenwart von strahlender Undurchdringlichkeit. Diese Gegenwart ist die Quelle von Kräften, von Signifikationen im Text, im Werk, die weder bewußt gewollt, noch bewußt verstanden werden. Es ist heute Konvention, diesen Überschuß an Vitalität dem Unbewußten zuzuschreiben. Eine solche Zuschreibung ist eine weltliche Formulierung dessen, was ich 'Alterität' genannt habe. Mit der Trope des Unbewußten, wie immer wir ihre empirische Gültigkeit festmachen wollen, wird in einen scheinbar rationalen Code Ubersetzt, was frühere Vokabulare und Denksysteme als den 'daimon' bezeichnet haben.' 8
So ist Jacques als das andere weniger als manifeste Idee zu begreifen, sondern mehr als das, was vermißt wird, zu erwarten. Er ist und bleibt im Stück der geheimnisvolle "daimon", dessen moderne Bezeichnung das sprachlich strukturierte Unbewußte ist. Nicht zufällig erinnert der Name Jacques Le Coeur, wenn man ihn hört, auch an Jacques Lacan. Wenn im dritten Akt versucht wird, die Verbindung von Jacques und Lilly nachzuweisen, dann funktioniert dies deshalb nicht, weil der materielle, sich im Diskurs zeigende, der Diskursordnung unterworfene Jacques nicht der fremde, ganz andere Jacques ist, der in Lilly das Gegengewicht zu Christoph bildet.
97 98
Wörterbuch der Symbolik, hg. v. Manfred Lurker, Stuttgart 1985, S. 632. Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, a.a.O., S. 276.
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4.3.3. Die Handlung als Un-/ Gleichgewicht zwischen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit verweist auf das Zentrum im ganz anderen Die Handlung stabilisiert sich in "Gleichgewicht" wie die Figuren im unendlichen Text nicht durch das konventionelle Gleichgewicht, sondern durch das Gleichgewicht des Begehrens, das ein andauerndes Ungleichgewicht ist und gerade dadurch die Handlung ermöglicht. Die Wahrnehmung Lillys durch Christoph fixiert und ruft daher das Negative hervor. Strauß zeigt an der Oberfläche eine lineare Handlung, die jedoch nur deshalb weiter besteht, weil am Ende das "Wunder" der Entstehung einer neuen Lilly geschieht. Wie die doppelte Doris in "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" ist gerade das Unwahrscheinliche der "Einbruch" in die wahrscheinliche, lineare Handlung, und im Sinne einer Luhmannschen Renormalisierung die Bedingung der Handlung. Für Strauß ist gerade das vordergründig Wahrscheinliche die Lüge: "Wenn eine Geschichte ein Ziel hat, wird sie schon unglaubwürdig, Folge und Ziel sind schlimme Gesellen" (BL 92). Da die Lüge als Tag jedoch die Bedingung der Nacht, des Text-Spiels ist und umgekehrt, hat die Handlung in "Das Gleichgewicht" ein Ziel und eine Folge und hat wiederum beides nicht. Denn die Dramaturgie des Stückes folgt gleichzeitig einem linearen Modell und einem kybernetischen Kreismodell. Die "Entwicklung" findet am Ende wieder fast an den Anfang zurück, sie ist keine Entwicklung im traditionellen Sinn mehr, sondern fungiert als Re-Entry, der eine Statik in der Dynamik erhält: die autopoietischen Strukturen ändern sich dabei, um sie "selbst" bleiben zu können. Die handelnden Personen und der Schauplatz sind am Ende, der der Anfang ist, annähernd dieselben, der Unterschied markiert den Fehler des Kopisten und bewirkt die Öffnung. Lilly macht in der Zeit ihre Erfahrungen, wird aber in der letzten Szene wieder in den Stand versetzt, in dem sie am Anfang des Stückes war, so daß der lineare Fluß der Zeit sich wie bei Zenon als Illusion erweist. Das Wunder der Heilung ist nicht nur durch ihren wiedergefundenen Glauben zu erklären, es dokumentiert gleichzeitig die mythische Zeitstruktur auf eindringliche Weise. Denn, so Thomas von Aquin, in einer linearen Zeit kann nicht einmal Gott ein solches Wunder der Spontanheilung bewirken. In seiner Philosophie gibt es eine "quaestio quodlibetalis", in der er sich fragt, "utrum Deus possit virginem reparare", 99 ob Gott einer Frau nach dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit eine Zurücksetzung in den alten Stand gewähren könne. Nach Thomas von Aquin gibt es nur zwei Möglichkeiten: Gott verzeiht der Frau und versetzt sie damit in den Stand der Gnade, oder er bewirkt durch ein Wunder die körperliche Unversehrtheit. Aber eine Verletzung der Zeitgesetze, welche das Geschehene ungeschehen macht, ist nach Thomas von Aquin auch für Gott nicht möglich. Denn deren logisches Prinzip lautet: "p ist geschehen" ist widersprüchlich zu "p ist nicht geschehen". In einer mythisch-kreisförmige Zeit, die der linearen entgegensteht, gibt es diesen Widerspruch nicht, denn der Beginn ist zugleich der Anfang, die Vergangenheit die Zukunft, die Aristotelische Kausalität ist außer Kraft gesetzt. Diese Vorstellung erlaubt nicht nur die Setzung Lillys im Ende an den Anfang des Stücks, sondern auch das Wunder der Spontanheilung. Gleichzeitig zeigt sich hier die gnostische Vorstellung des gegen-
99
Zitiert nach: Eco: Das Irrationale gestern und heute, a.a.O., S. 12. 285
wärtigen, nicht einer linearen Zeit und nicht der Welt unterworfenen Gottes, welcher nur im ganz anderen zu vermuten ist.100
4.3.4. "Credo ut intelligam" - Freispruch aus Mangel an Beweisen Jacques, der begrifflich Unfaßbare, ein "Mann, gegenwärtig, praktisch ohne Namen" (GG 71), benötigt an der ökonomisch-naturalistischen Wahrnehmungs-Oberfläche die finanzielle und fachmännische Unterstützung der Wirtschaft. "Niemand kennt ihn mehr", ohne professionelles Marketing ist das ganz andere im Verstehensgeräusch nicht mehr sichtbar. Der Text der Vernunft Christoph benötigt Jacques, um Lilly zu halten und Jacques benötigt Christoph, um im System als Form zu überleben. Obwohl beide Figuren jeweils für eine Sphäre stehen, sind auch sie ambivalent gestaltet und kommen ohne ihren Antagonisten nicht aus. Im dritten Akt treffen beide Sphären, Christoph, das Helle symbolisierend, und Jacques, Symbol für das Dunkel, aufeinander. Sie befinden sich jedoch nicht auf neutralem Boden, sondern auf dem Oberflächen-Terrain von Christoph. Lilly, die von Jacques "zum ersten Mal in [seinem] ganzen Leben" (GG 71) gesehen, an der Oberfläche wahrgenommen wird, gesteht, daß sie "zu ihm ging". Nach der Aussage des "Zeugen" Markus kann Lilly Jacques in der beobachtbaren, empirischen Welt nicht getroffen haben. So versucht Lilly, ihr mystisches Geheimnis in Worte zu fassen: Worüber ich jetzt spreche, wird nicht jedem sogleich einleuchten. Ich spreche jetzt von Dingen, die eigentlich nicht ausgesprochen gehören ... Ich ging aber zu diesem Mann wie früher vielleicht eine Frau, die zu einem berühmten Maler gegangen wäre, vielleicht eine viel bescheidenere Künstlerin, die hoffte, ein paar Funken von der höheren Begabung einzuheimsen, und nicht einmal nur für sich selbst, sondern es weitergebend, was sie erwärmte, an den Mann, mit dem sie in der Ehe lebte. Kein Verrat, nur ein kleiner Raub von einer höheren Begabung. Und so kam ich jedesmal von ihm, heller, stärker, ruhig, so anders, daß er, mein Mann, es merken mußte und es sah, daß ich berührt worden war. Obwohl er's niemals wahrhaben wollte, nicht ganz entdecken. Denn er genoß ja an mir, daß mich der andere liebte. Ich war nicht einerseits die Geliebte und andererseits die brave Gattin. Ich war auch nicht bei dem einen glücklich und bei dem anderen unglücklich. Freilich war ich auch nicht bei beiden gleich glücklich: denn ich war bei dem einen und dem anderen nicht dieselbe. Litt wiederum auch nicht an gespaltenem Bewußtsein, besaß weder ein doppeltes noch ein geteiltes Ich. Ich wog mit einem Ich zwei Lieben aus, gleich groß, gleich wichtig und unverzichtbar. (GG 73) Lilly, die, so Strauß, eine "innerliche Ortsverlagerung"101 verspürt, vertritt hier die Vorstellungswelt des Dichters, der in "Beginnlosigkeit" schreibt: Credo ut intelligam - nicht nur besteht zwischen Glaube und Wissenschaft kein letzter Widerspruch, denn Glaube und Erkennen sind im selben Menschengeist und nur in diesem angelegt; auch kann Wissenschaft niemals Geheimnisse an sich verplaudern oder gar lösen. Sie ist ihrem ganzen Bau und Streben nach in unseren zentralen, einzigen Auftrag gegeben: Zeuge des Alls zu sein, das unbeobachtet nicht existieren könnte. Das begonnen wurde, um gesehen zu werden. So wie zur Schöpferkraft Gottes seine Offenbarung gehört. (BL 107)
1H0 101
Einige Paradoxien werden hier nicht diskutiert, es soll nur das Prinzip erörtert werden. Hage: Der Dichter nach der Schlacht, a.a.O., S. 183.
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So wirken in Lilly Glaube und Wissenschaft, verkörpert durch Jacques und Christoph, zusammen. Jacques inkarniert den Bereich des Sigö: "Ich spreche doch. Nur nicht soviel." (GG 69) Daraufhin greift ihn Christoph an: "Ich will ihnen etwas anvertrauen, mein Junge. Ich bin in meinem Leben mit etlichen Schweigern zusammengekommen. Es stellte sich - bis auf einen einzigen Fall - immer heraus, daß sie am Ende viel größere Dummköpfe waren als unsereins." (GG 70) Die intendierte Beleidigung ist aber keine. Denn Dummheit ist für Strauß in diesem Fall die Absence der Wörter und Ideen, welche die Welt falsch wiedergeben: "Nun schon seit Descartes: res cogitans, res extensa. Und diese letztere eben begriff er nicht. Diese Worte für die 'Dinge' behandelte er, wie Matrosen zugerufene Befehle wiederholen." (BL 24) Strauß betont, daß die Wörter und Ideen nicht die Dinge sind, die Dinge nicht begriffen werden können, sondern ihre Bedeutung im Gebrauch erlangen. Er spielt auf Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen" an, dort heißt es: "Was bezeichnen nun die Wörter dieser Sprache? - Was sie bezeichnen, wie soll ich das zeigen, es sei denn in der Art ihres Gebrauchs."102 Hinter den lebensnotwendigen Wörtern, die nicht die Welt abbilden, sondern nur die Interaktion der Menschen möglich machen, ist nach Strauß etwas, das über den Gebrauch hinausgeht. Dort beginnt der Bereich des Sigd. Wenn Christoph von Dummköpfen spricht, dann setzt er seinen Bereich der Ideen und Wörter, seinen "Trotz-Kosmos zur Werdewelt" (BL 39) absolut und läßt darüber hinaus nichts gelten. In "Beginnlosigkeit" schreibt Strauß: "Die Verblödung interessierte Swift wie Flaubert". (BL 23) Denn das Ganze können die Ideen nicht erfassen. Das Schweigen, das ganz andere, muß mitgedacht werden. Und dazu benötigt man, so Strauß, auch die Dummheit. Im Disput mit Marianne über Gregor meint Lilly: "Intelligenz macht nicht den Mann. [...] Intelligenz, wie der Wortklang schon sagt: Schlangenzungenlispeln." (GG 19) Auf die Frage von Christoph, warum sie ein Doppelleben führt, antwortet Lilly: "Ich glaube, weil ich dafür geschaffen bin" (GG 73). Als Schöpfung Gottes ist sie gezwungen, beides zu leben. Die Worte widersprechen sich, die Welt funktioniert für Lilly nicht mehr widerspruchsfrei im Sinne der klassischen Logik: A=A, sondern folgendermaßen: A=B=C= ... Denn, so Manfred Frank, die Welt von Christoph, "das Benennen[,] zerstört das eigenständige Sein der Gegenstände und verwandelt sie in ideelle Gebilde, in Zeichen nämlich, denen die Grammatik eine ganz andere Ordnung zumißt als die, die sie von Natur innehatten.'" 03 Christoph aber befindet sich im Glauben an ein System der weitgehenden Widerspruchsfreiheit: "Es wird doch in Dreiteufelsnamen, wenn sich Worte völlig widersprechen, irgendwelche dinglichen Beweise geben?! So ein Abenteuer hätte schließlich Unterpfänder, die noch vorhanden wären?" (GG 74) Da in seinen Augen der Aufklärung nicht beide, Lilly und Jacques, rechthaben können, muß die Materie entscheiden. Weil aber alles auf der Nachtseite von Lilly, im sich bewegenden Text stattfand, auf der empirische Beweise nicht geführt werden können, sonst wäre es nicht mehr die Nachtseite, kann Lilly auch keinen materiellen Beweis vorlegen: "Beweise? [...] Hier meine Stimme 102 103
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 1975, S. 20. Manfred Frank: Die Dichtung als "Neue Mythologie", in: Karl-Heinz Bohrer: Mythos und Moderne, Frankfurt 1983, S. 15—40, hier S. 15. 287
... meine zittrige Hand ... mein Angstschweiß. Mein Gesicht, das es nicht fassen kann". (GG 74) In Strauß' gnostischer Vorstellungswelt ist der materielle Beweis nicht viel wert, denn, so Elaine Pageis: "Für [...] gnostische Christen waren reale Ereignisse verglichen mit ihrer empfundenen Bedeutung zweitrangig." 1 " 4 Der Versuch, die Verbindung zwischen Jacques und Lilly über den Diskurs zu rekonstruieren, eine sprachliche, diskursive Tatortbegehung mit den Verdächtigen zu veranstalten, fuhrt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Denn das alltägliche Verstehensgeräusch unterbindet, so Strauß, den Kontakt mit dem Numinosen. Da auf der wissenschaftlichen Beweisebene der "Ehebruch" nicht nachzuweisen ist, wechselt Lilly auf die andere Ebene: "Sag: 'Dein schwarzes Haar lag wie geschmolzene Nacht auf meiner Hand'". Daraufhin sagt Jacques, an der Oberfläche wirkend als poetischer Text, den verräterischen Satz: "Du kannst nur müssen, wenn ich will." (GG 75) Er gibt zu, daß die Schöpfung Lilly determiniert ist durch das Werk, den Text, den der Dichter geschaffen hat. Die poetische Sprache konstituiert im Sinne Heideggers das Subjekt Lilly. In der ersten und der letzten Szene (er-) lebt Lilly den Liedtext von Jacques. Auch in der "Vorszene" trägt sie "eine Perücke mit kurzem schwarzen Haar im Pagenschnitt" (GG 8), das schwarze Haar als Zeichen für die Nachtseite und die Buchstaben. Den Liedtext summt Lilly, wenn sie in der "Realität" auf das sie "vertretende" Zeitungsmädchen, die Doppelgänger-"Realität" der durch Konsenstext der Medienwelt konstituierten Identität, trifft: 'Ich stand vor dir im Morgennebel/ Versäumte meinen Zug/ Dein schwarzes Haar lag wie geschmolzene Nacht auf meiner Hand ... News-paper-Girl, sitting in the Railway-Station/ Dein schwarzes Haar im bleichen Morgenlicht'... Denk dran: Jacques Le Coeur! In der "Hand", im eigenen Begreifen wird das Eindeutige zum vieldeutigen unendlichen Buch, zum Meer der Buchstaben, wenn der "Fahrplan" der Oberfläche mißachtet, der Gesellschaftszug versäumt wird. Daß die Sprache das Dasein bestimmt, zeigt sich in der Rüge Lillys gegenüber dem Zeitungsmädchen: "Du kleine Schlafnase, wenn ihr schon nicht mehr wißt, wer euch erfunden hat! Jacques Le Coeur ... Kennst du 'Misty Morning' nicht? Du säßst hier gar nicht so, wie du dasitzt, wenn's das Lied nicht gäbe." (GG 37) Das Vergessen des ursprünglichen Textes, den der Dichter schuf, läßt, so Heidegger, den Menschen vergessen, daß er konstituiert wird durch eine Vorgegebenheit der Sprache, durch das Sein vor dem Dasein, das es zu hören gilt. Auch unter vier Augen kann Jacques Lilly nicht gestehen, daß er ihr Liebhaber ist. Denn es ist alles außerhalb des Systems der Wörter und Ideen geschehen. Lilly will begreifen, wo nichts zu begreifen ist: "Ich muß doch etwas wenigstens begreifen, glauben kann man's nicht" (GG 76). Aber genau da liegt der Fehler. Lilly will etwas in den Be-Griff bekommen, das man nur glauben kann. Im Festhalten wird das Numinose, das die Mystikerin Lilly ihrer wissenschaftlichen Umwelt beweisen will, unbeweisbar. Denn nicht eine materielle Beziehung zu Jacques soll bewiesen werden, sondern das ganz andere in der Begegnung mit dem Kunstwerk, mit Jacques. Lilly ahnt die Fremdheit des anderen, wenn sie zu Jacques sagt: "Was in dir vorgeht, ahnt kein Mensch. Vielleicht spricht aus dir das pure, rohe, endgültige andere zwischen Mann und Frau, das immer Wesensfremde." (GG 74)
104
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Pagels: Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien, a.a.O., S. 189.
Christoph verlangt Beweise und glaubt nichts, was er nicht beweisen kann oder will es auch nicht glauben, um seinen Halt, seine Ruhe nicht zu verlieren. Das Numinose ist in seiner Vorstellungswelt nicht eingeplant. Lilly beschuldigt ihn des typischen Verhaltens des aufgeklärten Menschens, der über den Systemhorizont nicht blicken will, auch wenn es Beweise geben würde für das ganz andere: Selbst wenn ich ein untrügliches Indiz besäße, es würde mir dennoch von der Hand gewiesen. Was ist schon eine Tatsache gegen deine blinde Überzeugung, daß sie nichts bedeutet! ... Himmel! Nur ein Tropfen Eifersucht! Nur einen Schatten von Verdacht! Um wieviel größer erscheint mir jetzt sogar der Argwohn und der von ihm besessene Mann, der sich zur Schlange bückt, Verdächtiges hören will und muß, eine wieviel größere Seele besitzt doch der Verdachtschöpfer als der Verdachtersticker! (GG 88)
Als Jacques geht, versucht Lilly noch, ihn zu "treffen": "Ich habe dir die neue Stimme gebracht! Kam kein menschlicher Klang mehr aus deiner Kehle. Du hattest keinen Freund" (GG 88) Denn Jacques kann als Text, so die These von Strauß in "Beginnlosigkeit", ohne einen Beobachter, einen Zuschauer, einen Zuhörer nicht existieren. Als treuer "Fan" ermöglicht Lilly in der erfolglosen Zeit dessen Existenz. Jacques ist als durch das ganz andere inspirierte Dichtung und damit auch als Welt als Text auf den Rezipienten angewiesen. Aber Lilly verhält sich gegenüber Jacques als Fremden, als Epiphanie nicht gemäß dem Diktum von Strauß: Gegenüber der Allmacht bleibt dem Menschen nur die Wahl zwischen zwei Verhaltensweisen: gehorchen oder vergessen. Alle übrigen Bemühungen seines Geistes sind zum Scheitern verurteilt. Er macht sich in jedem Fall zum Dummen. (BL 46)
Denn: Die endlosen metaphorischen Versuche, das Numinose einzuberaumen in unsere Sprache, grenzen ans Lächerliche oder an Asebie. (BL 45)
Nachdem Jacques gegangen ist, erkennt Lilly ihren Fehler, das andere in Worte zwingen zu wollen: "Alles, was aus dem Mund kommt, den ganzen Mund voll, im Mund, alles, was sich im Mund herumdreht, das macht mir Sorge, brennt wie Feuer. Ein Gefühl wie - Markus Groth: Scham? Lilly Groth: Ja, aber den ganzen Mund voll" (GG 77f.). Lilly macht ihren Mund, der nicht die richtige Sprache für das ganz andere gefunden hat, für das Verständnisdesaster verantwortlich: Der Mund "spricht nicht richtig. Er ist mir eine Qual. Ich will nichts gesagt haben. Habe so viel Kapseln mit Rede geknackt, im Maul, soviel Gift. Mich unglaubhaft gemacht mit Worten, unglaubhaft: filr ihn" (GG 78). So begeht Lilly den Fehler, den sie Gregor, der als Kommunist in der Tradition von Hegel das Wesen der Dinge nicht in der sprachlosen Anschauung erkennen will, sondern ihre Verwandlung ins Wort forciert, vorwirft: "Wenn du mit einem geliebten Menschen zuviel gesprochen hast, fühlst du dich hinterher so elend wie nach einer Nacht, die du mit einem ungeliebten verbracht hast. Meinst du es so, Gregor? Dasselbe Gefühl von ... Scham?" (GG 31) Zu dieser Scham schreibt Strauß: "Die Macht des Wortes in der Beichte ist nur noch und nur sporadisch in der haltlosen Scham zu erfahren, die den ergreift, der zu schnell gesprochen hat." (BL 102) Glaube und Rationalität sind also nicht zugleich darleg- und beweisbar: "Will einer etwas gläubig und rational zugleich wissen, so wird er zu spüren bekommen, daß beides nicht auf eine Wurzel zurück-
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zuführen ist, sondern daß - gegen die Lehre der Monisten - uns zwei Prinzipien ursprünglich eingegeben sind." (BL 30) Markus "entzaubert" (Max Weber) Jacques Le Coeur, indem er ihn als Abhängigen des ökonomischen Systems denunziert. Der Gnostiker Markus weiß, daß Hierarchie und Ordnung ein Werk des Demiurgen ist, daß Gotteserkenntnis nur über den Weg der Selbsterkenntnis möglich ist.105 Lilly aber verwechselt die Institution Jacques Le Coeur mit dem Glauben an das ganz andere in Jacques Le Coeur. Sie kann den anderen, also Jacques, nur definieren über sich selber, über ihre eigene Verbindung zum ganz anderen (Levinas). Der Jacques in der ökonomischen Realität ist nicht derselbe Jacques, wie der in der Realität des Glaubens an das ganz andere. Indem Lilly versucht, Jacques ein mündliches Geständnis ihrer Verbindung abzutrotzen, verhält sie sich als den anderen Definierende im Denken autoritär. Der auf der wissenschaftlichen, ökonomischen und beweiskräftigen Ebene befindliche Diskurs erkennt den anderen nicht als ganz anderen (an), und so hat Markus recht, wenn er über Jacques, der in einem Stop im Text eine eindeutige Bedeutung "aufrichtet" sagt: "Ich denke, er ist unbedingt aufrichtig gewesen." (GG 79) Für einen kurzen Moment erinnert Markus Lilly an das ganz andere, das sich aus ihr selbst konstituiert. Als gnostischer Prophet tritt er hinter Lilly und flüstert ihr "ohne Unterbrechung Fragen ins Ohr" (GG 78). um ihre Suche nach einer eindimensionalen, abstrakten Gewißheit zu unterminieren und die Suche selbst, die Frage im unendlichen Buch als Zentrum zu setzen. Am nächsten(?) Morgen und zugleich in der Nacht (-zone): Das Dummy zeigt den Seinszustand der Öffnung zum Archiv an. Lilly nennt es "mein gesichtsloses Gesicht. Mein begradigtes, blindes, versiegeltes, porenloses Gesicht. Mein Totenschädel voll strömender Musik" (GG 86). Das Dummy als paradoxe Form in der Form, als Linie, die sich auf sich selbst zurückführt, weist auf den Zustand hin, daß der fixierte eindeutige Oberflächen-Text verlassen wurde. Markus souffliert Jacques, weil dieser unter dem Text der ganz andere, der Fremde, das Göttliche ist, das Lilly in Markus sucht und begehrt. Denn - so Levinas - die Beziehung zum Mitmenschen besteht aus drei Mit-Wirkenden, dem Individuum (Lilly), dem anderen (Markus) und dem Fremden des anderen, das auf das Göttliche hinweist (Jacques). Der gnostische Prophet Markus verführt die Frau des Vertreters des Systems (Christoph) und hält sie dazu an, selbst zu prophezeien. Die Frage nach dem "Warum", die Lilly an Jacques stellt, beantwortet Markus mit: "Frag nicht, Lilly. Bekämst doch nur eine unbegreifliche Antwort." (GG 86) Denn das Verstehen des ganz anderen ist nicht auf den Be-Griff zu bringen. Wenn Lilly, bevor das "Wunder" der Wiederherstellung der Identität im Gleichgewicht geschieht, aus dem Kaffeebecher von Jacques trinkt, dann verweist dieses Bild auf die Wandlung in der christlichen Eucharistie. Auch Weihwässer bewirken nur eine Verwandlung, wenn man glaubt. Das Inkorporieren des Wassers als sich bewegender Text in den von Christoph gewaltsam mit einem Begriff fixierten Identitätstext von Lilly löst über die im Innen stattfindenden Bewegungen des unendlichen Buchs das Innere von dem im Gesellschaftstext vorgeschriebenen Rollentext. Lilly läßt somit in der Bewegung die alte Idee hinter sich und bewegt sich aufgrund der Verfehlung: sie kann das Ganze Jacques nicht mehr erkennen hinter den Begriffen 103
Pageis: Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien, a.a.O., S. 176fF.
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und so treibt sie das Begehren des Ganzen weiter durch den Text. Lilly glaubt in der letzten Szene, im Begehren des Ganzen hat sie ihr zugleich geschlossenes und offenes Gleichgewicht wiedergefunden.
4.4. Ithaka Kein Prinzip verträgt seine letzte Konsequenz. (Bruno Kreisky)
4.4.1. Die Ankunft des Mythos im nachmodernen Text des Bewußtseins In seinem Essay "Die letzte Reise des Odysseus" schreibt Borges über Dante: Er hatte es gewagt, die Geheimnisse darzulegen, die die Feder des heiligen Geistes kaum andeutet; das Vorhaben mochte bereits eine Schuld bergen. Er hatte es gewagt, Beatrice Portinari mit der Jungfrau und mit Jesus zu vergleichen."16 Er hatte es gewagt, die Urteile des unerforschlichen Weltengerichts, von dem die Seligen nichts wissen, vorwegzunehmen; er hatte die Seelen simonistischer Päpste gerichtet und verdammt, die des Averroisten Siger, der die Kreisförmigkeit der Zeit lehrte,1"7 jedoch gerettet. Welch beflissenes Trachten nach Ruhm, der jedoch ein hinfällig Ding ist!108
Borges wirft Dante vor, daß er über das Ferne und Fremde spricht, es unter den Begriff bringt, obwohl Dante selbst in seinen Texten ein solches Unternehmen als sinnlos ansieht in einer sich bewegenden Welt der Namen. Er zitiert Dante, um den "Widerspruch[.] [...] im Text" aufzuzeigen: "Der Lärm der Welt ist nichts als ein Windhauch, der bald von hier und bald von dort kommt und mit der Himmelsrichtung den Namen wechselt."109 Das Verhältnis zwischen der notwendigen Aussage über die Welt und die anderen einerseits, und die Vergeblichkeit der Bemühung, in der Immanenz des Daseins die Welt und die anderen so begrifflich zu fixieren, daß eine Wahrheit behauptet werden kann, andererseits, diese Differenz bestimmt die Ankunft des Mannes (Odysseus), erwartet von der Frau (Penelope), in Strauß' "Ithaka". Der Kurzschluß des Textes mit dem Text ereignet sich zugleich mit der Ankunft des anderen als Fremden. Im Homerschen Mythos der Ankunft Odysseus auf Ithaka wird für Strauß das erzählt, was sich immer wieder ereignen wird. Die Ankunft läßt als Levinassche Epiphanie kurz die Einheit des anderen aufblitzen, die vielen Begriffe, die den anderen zumauern, werden eliminiert. Jedoch - und davon erzählt sowohl der Mythos, als auch die vom Text determinierte Wirklichkeit wird die Verfehlung nicht ausbleiben. Und daß der Mythos dies erzählt, als Text durch die Zeiten auf den gegenwärtigen Text trifft, wird erreicht durch den Vergleich, der die Ursache der Verfehlung ist. Der Interpretierende der Welt als der interpretierende Leser des Textes der Welt muß die Wahrheit in einem sich bewegenden, differenzierenden Text verfehlen. Der Fehler des Kopisten ist immer auch der Fehler des Lesers: 106 107 108 109
Hier bezieht sich Borges auf Giovanni Papini: Dante vivo, III, S. 34. Hier rekurriert Borges auf Maurice de Wulf: Histoire de la philosophie m6di6vale. Borges: Die letzte Reise des Odysseus, Vorträge und Essays 1978-1982, a.a.O., S. 225. Borges: Die letzte Reise des Odysseus, Vorträge und Essays 1978-1982, a.a.O., S. 225.
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Dichtung ist die Begegnung des Lesers mit dem Buch, die Entdeckung des Buchs. Es gibt eine weitere ästhetische Erfahrung, nämlich den ebenfalls sehr seltsamen Moment, in dem der Dichter das Werk entwirft, in dem er es entdeckt oder erfindet. Im Lateinischen sind bekanntlich 'erfinden' und 'entdecken' synonym. All das stimmt mit der platonischen Lehre überein, der zufolge erfinden, entdecken nichts ist als erinnern. Francis Bacon fügt hinzu: Wenn Lernen Erinnern ist, dann ist Nichtwissen Vergessenkönnen; es ist längst alles vorhanden, wir müssen es nur sehen. Wenn ich etwas schreibe, habe ich das Gefühl, daß dieses Etwas bereits vorher existiert. Ich gehe von einem allgemein gehaltenen Entwurf aus; mehr oder minder genau kenne ich Anfang und Ende, und allmählich entdecke ich die mittleren Teile; ich habe aber nicht das Gefühl, sie zu erfinden, nicht das Gefühl, daß sie von meiner Willkür abhängen; die Dinge sind, wie sie sind. Aber sie sind verborgen, und meine Aufgabe als Dichter ist es, sie aufzufinden. 110 Für Strauß existiert vorher das große Archiv, er selbst kopiert als Dichter einen Text, der ebenfalls einen Text, den Homerschen kopiert, hier übersetzt hat: Dies ist eine Übersetzung von Lektüre in Schauspiel. Nicht mehr, als höbe jemand den Kopf aus dem Buch des Homer und erblickte vor sich auf einer Bühne das lange Finale von Ithaka, wie er sich's vorstellt. Abschweifungen, Nebengedanken, Assoziationen, die die Lektüre begleiten, werden dabei zu Bestandteilen der Dramaturgie. Der Dialog opfert, um beweglich zu sein, den Vers und den rhapsodischen Ton. Dennoch bleiben die großen Übertragungen von Johann Heinrich Voß und Anton Weiher zumindest im Anklang gegenwärtig: es möge genügen, um den Hörer wie eh und je in die Kindheit der Welt zu versetzen. (I 7) Dabei dringen die Texte als gelesene und als Kontexte auf den Kopisten Strauß ein und erstellen durch ihn hindurch eine Kopie. Am Beispiel der religiösen Texte erörtert Strauß dieses "Verfahren": "Ich bin weder Jude noch Moslem, weder Katholik noch Zen-Buddhist - und doch versuche ich am weißen Rand der Konfessionen ein überlieferter Mensch zu sein. Denn in die Schrift jedes Tages münden viele Schriften" (FdK 135). Der weiße Rand, das Weiße zwischen den Buchstaben ist die Leerstelle, die auf die Verfehlung des Dichters, auf die '"fehlerhafte' Überlieferung" verweist, die "das unpoetische Wissen ihrer Zeit verdirbt, zu Faulstoff wandelt und wieder zur Krume einer poesia seriosa." (FdK 134) Dabei wird der Dichter aufgrund der Verfehlung auf der Suche nach der verlorenen Einheit durch den Text getrieben, ein Lacansches Begehren läßt ihn unermüdlich den Text umwälzen. Die mythische Figur des Odysseus eignet sich bestens als Reflex-Bild der Lust des Künstlers, die ihn durch den zugleich unendlich großen zeiträumigen und unendlich kleinen punktförmigen Text-Raum/Punkt treibt und die ihn ohne Fixpunkt läßt und damit ohne Heimat. Odysseus wird zum Vor-Text des Künstlers. Die Heimatlosigkeit des Künstlers, der sich im unendlichen Buch und damit in dem unendlichen Netz des Gehirns, im großen heraklitisehen Fluß der Gedanken verliert, beschreibt Strauß in "Beginnlosigkeit": Wenn aber die Immerwiederkehrende im Fluß seiner Gedanken ein kurzes Bad nahm: vielleicht ihr allein gelang es, jedesmal an derselben Stelle einzutauchen. Denn der Fluß der Gedanken bewegt sich nicht von der Quelle zur Mündung. Arbeit und Feste, Orte, Gesichter, Geschichte, Tage, Reisen und Häuser, Treue und Abschiede - all dies trieb gleichgültig dahin auf dem ungeheuerlichen Gedankenfluß, der sich nur kurz vor den Katarakten, den Ereignisfällen, beschleunigte, um dann wieder mit schillernden Reflexen ungerührt dahinzuströmen. Verwirbelt tauchten die wunderbaren und traurigen Dinge auf, Lebensgüter, wie zerbrochene Teile eines Mobiliars, das aus stattlichen Häusern gespült 110
Borges: Die letzte Reise des Odysseus, Vorträge und Essays 1978-1982, a.a.O., S. 155f.
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wurde, kurz erschienen sie taumelnd an der Oberfläche, dahingeschwemmt leuchteten sie auf, phosphoreszierten wie Häupter ertrunkener Flußgötter, dann wurden sie wieder untergespült, in die Strömung gezogen und weiter sinnierend zermalmt; es war dieser breite, Iehmfarbene Fluß, in dessen Schnellen immer mehr Unrat tanzte. Unvermeidlich würde bald auch das Liebste und Geheimste, das er besaß, gleich mit dem übrigen Bruch an die glitzernde Oberfläche aufgetrieben, bis ihn irgendwann der Gedankenfluß endgültig von jeder realen Vergänglichkeit abgeschnitten hätte. Das Schlimme, das vielleicht sogar Unmenschliche war, daß dieser Strom einfach alles verschlang und daß er ihm niemals auch nur für eine Sekunde entsteigen konnte, daß ihm sogar Geburt und Verlust des GEDANKENS, sein Abenteuer, sein Kummer näher waren, ihn tiefer bewegten als irgendein Ereignis im wirklichen Leben. Es hatte ihm alles nur zur Gedankenvermehrung gedient. (BL 127)
Der eine wird ohne den anderen hilflos umhertreiben im Gedankenstrom: Er dachte: Ich bin Odysseus und bleibe zuhaus. Viele Heimsuchungen hatte ich zu ertragen. Diesmal war es Penelope, die auf meine Treue zählen konnte, während sie draußen auf den Spuren ihrer Kindheit und der verlorenen Jugend reiste. Und ich mich lästiger Menschen erwehren mußte, die meine Einsamkeit in Mengen anzog, als wäre sie Reichtum oder Orakel. (FU 39)
Jede Begegnung mit dem (geliebten) anderen ist eine Ankunft nach einer Odyssee, nach einem Bewußtseinsstrom und zugleich die Befreiung von den vielen Freiern, Odysseus und Penelope befreien sich gegenseitig vom Abgleiten in das unendliche Archiv. Die "Übersetzung von Lektüre in Schauspiel" (I 7) bringt den Mythos auf die Bühne, die auch die Bühne des Bewußtseins ist. Da für Strauß das "Theater [...] der Ort [ist], wo die Gegenwart am durchlässigsten wird, wo Fremdzeit einschlägt und gefunden - und nicht wo Fremdsein mit den billigen Tricks der Vergegenwärtigung getilgt oder überzogen wird", (DEeK 136) zeigt es innerhalb seines Wahrnehmungsrahmens die Ankunft des Mythos sowohl im Kopf, als auch beim anderen. Als "Schauplatz seines eigenen Gedächtnisses, seiner originalen Mehrzeitigkeit" (DEeK 136) ist das "Schauspiel" "Ithaka" der Spiegel der Abläufe in der sich begegnenden Welt, die für Strauß ein "Kopf' ist. Die Ankunft des gelesenen Mythos korrespondiert für Strauß mit der Anregung des Textes im Bewußtsein zur Darstellung eines überzeitlichen Schauspiels: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das paradoxe "lange Finale" ziehen sich im Theatertext und dann auf der Bühne zu einem gegenwärtigen Ereignis zusammen, wobei der Theatertext diesen Vorgang noch in sich selbst reflektiert. Dabei bleibt Strauß der Moderne treu, die mit Joyces "Ulysses" die Odyssee des modernen Bewußtseins thematisiert. Die Bühne im Kopf ereignet sich als innerer Monolog, der den "stream of consciouness" simuliert. Der innere Monolog des Kopisten Strauß reflektiert die Beschäftigung Strauß' mit Proust und Thomas Mann und die Weiterführung des Gedankens der Moderne, deren Verabschiedung eines einheitlichen Textes der Welt und der Einheit des Individuums. Wobei Strauß die Moderne insofern radikal interpretiert, als er deren Wiedergabe der Um-Welt als gespiegelten Ein-Druck der fragmentierten Umwelt im Inneren des Individuums völlig von der Welt löst, indem er ein kybernetisches, die Person-Umwelt-Grenze auflösendes "Spiel", ein Spiegelung der Spiegelung im Innen=Außen, auf die Bühne bringt und dabei das Reale nur noch in seiner Abwesenheit anwesend sein läßt und als letztes Zentrum den Text, der sich selbst setzt, nennt. Der "innere Monolog" ist bei Strauß der Dialog des Textes mit sich selbst im Kopf des Kopisten. Der Fehler des Kopisten muß gemacht werden,
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damit sich überhaupt noch etwas bewegt, damit die Zeit von Attraktor zu Attraktor weiterläuft und der andere hin- und wieder als der Fremde geahnt wird. Dabei entsteht für den kurzen Moment eine Einheit, eine Ordnung im Chaos des Gedankenstroms und diese Ordnung stellt im Mythos, der für Strauß dieses Spiel von Ordnung und Unordnung spiegelt, der gewaltsame Akt des Odysseus her. Doch läßt sich diese gewaltsame, menschliche Ordnung nicht halten. Und so ist nur der Ursprung der Sprache, der "Logos" als das Göttliche in der Lage, die Einheit wiederherzustellen in der Paradoxie, die Strauß so beschreibt: "Den Bruch der Statue noch einmal brechen, die zerstreuten Teile noch einmal zerstreuen, damit sie verjüngt aus den disjecta membra erstehe, die endgültige Statue, die errichtete Zerstörung." (FU 36)
4.4.2. Die Ankunft als Ritual Doch im Moment der Öffnung ist das Pazsche "Fest", von dem auch der "FabelSohn" der "Titania" in "Der Park" träumt, wahrnehmbar, der Ritus kann stattfinden: Athene erscheint, indem ein starkes Licht plötzlichf!] in den Saal fällt. Telemach: Vater: was ist das? Ich sehe ein Wunder. Ein furchtbar[!] festliches[!] Leuchten. Die Mauern des Hauses, die aufwärtsragenden Säulen, die Halle, die Balken, die Türen ... alles steht mir vor Augen in Flammen[!]... Es ist, als ob uns ein Gott besuchte, ein Herr aus heilichtem Himmel! (I 57)
Der Heraklitische Ursprung zeigt sich, indem der Text der Wand in "Flammen" steht, denn das Feuer ist für Heraklit der "Logos", das Zentrum aller Verwandlungen. Im Ritus identifiziert der überzeitliche und überörtliche Mythos die Bühne der Gegenwart, so daß die gegenwärtige Zeit ungültig wird im heiligen Bereich: "Athene: [...] Schont euch nicht, ihr mutigen Aufhalter der Zeit, ihr herrlichen Wiederbringer der Heldentage!" (I 37) Das profane nachnietzscheanische Archiv wird in seiner ungehinderten Ausbreitung gestört, der eigentlich unmögliche Schnitt ins Netz gelingt durch die Erstellung eines "hortus conclusus", einer Öffnung, in dem eine andere Welt, die Welt des Mythos einfließen kann: "Telemach: Große Worte rufst du mir ins Gedächtnis. Und immer staune ich noch ... Mein Vater, du kommst ja aus anderen Welten." (I 36f.) Dies gelingt in dem Moment, indem die im nachmodernen Gedächtnis kreisenden Mythensplitter plötzlich wieder ihre Fremdheit und Ferne erlangen und der andere plötzlich als unbegriffener Fremder erkannt wird.
4.4.3. Zum Bogen des Odysseus: Der Pfeil des Zenon als Zeichen des Ganzen Um sich dem Ursprung zu nähern, muß das Treiben der Wörter weitab vom Ursprung gestört werden, so daß in der plötzlichen Irritation wie in einem dadaistischen oder surrealistischen Akt alles umgeworfen wird. Im Einschlag des Mythos wird in der plötzlichen Ungültigkeit aller Zeiten und Räume im unendlichen Archiv zugleich das Ganze indirekt sichtbar. Denn Zeit und Ewigkeit vermögen die Freier nicht zu vereinigen. Als treibende Signifikanten in den Zeiten ist ihnen die Rück-
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kehr zum ursprünglichen Heil durch die Zusammenfassung des Fragmentierten zum Ganzen verwehrt: Knie: So mußt du dir's vorstellen: es ist Penelope die Kerze der Erwartung, unauslöschlich brennt sie bis auf den heutigen Tag. Herren aller Zeiten verkehren bei ihr, lagern im Hof und nisten in ihrem Palast. Die Freier sind Soldaten, sind Forscher, Händler und Philosophen, Staatsmänner und Sportler ... aber die Wiederkehr des Odysseus wischt alle Zeiten aus. (I 12)
Die Aufgabe, die Penelope stellt, ist somit für die Freier als Teile eines Textes unlösbar: Penelope: Hört mich, ihr Freier! Hier seht ihr den Bogen des großen Odysseus. Wer diesen Bogen am leichtesten spannt und durch alle zwölf Äxte hindurchschießt: dem werde ich folgen. Mit ihm verlasse ich dieses Haus. Haus meiner frühen, herrlichen Jahre, an das sich mein Herz künftig in Träumen erinnert. (I 73)
Der Zusammenhalt der Freier, wenn er denn funktioniert, unterscheidet sich erkennbar vom Zusammenhalt des Mythos. Zwar ist der Mythos auch aus verschiedenen Texten durch den Rhapsoden zusammen-"genäht" worden, besitzt aber die Nähe zum Ursprung des "Logos", faßt in sich den Wandel der Welt als Einheit. Die Textfragmente der Nachmoderne haben ihr Zentrum verloren, jeder beruft sich nur auf den anderen und damit sich selbst. Der Pfeil vom Bogen des Odysseus wird "langsam" durch die Äxte fliegen, wie im Paradox des Zenon wird er (fast) stehen und sich doch bewegen. Damit faßt er alle Zeiten zusammen im paradoxen Gleichlauf vom Werden im Sein. Nur der Mythos ist als das Fremde dazu fähig durch die "Gewalt" der "Auslöschung" aller engen Begrifflichkeit, die Freier treiben als Zeiten und Räume, als Textfragmente bindungslos i:n Raum.
4.4.4. Der vom ganz anderen gestiftete Urvertrag zwischen Frau und Mann Nachdem Odysseus als Mythos alles umgeordnet hat, den Lastwagen der Lust zum Lastwagen der toten Freier, also der toten Signifikanten, umgewandelt hat und die sich an jeden bindenden, "untreuen" Mägde verkehrt herum aufgehängt hat, also symbolisch den bindungslosen Text der Postmoderne ohne großen Widerstand in seiner Bedeutung umdrehen konnte, ist das Wiedererkennen zwischen der Frau und dem Mann möglich. Der Urtext, der vom "Logos" gestiftet wurde, wird nicht weiter unterlaufen durch den kalten Text der Nachmoderne. In "Ithaka" ist der Urtext, der vom Göttlichen gestiftete Vertrag zwischen Frau und Mann der "Pfahl", die "Säule", der jede Ehe zwischen Frau und Mann stiftet und seit Beginn der Sprache existiert. Der "Logos" stiftete den Urtext am Anfang der Zeiten und im Ritual jeder Begegnung mit dem Fremden und dem Mythos, am fanen Ort: "Zeus / Der Baum: [...] Dann will ich durch deinen Mund verkünden, was für alle das Rechte ist." (I 101 f.) Und Athene als der rationale Teil des "Logos", als Göttin, die aus dem Kopf des Zeus geboren wird, formuliert die Wörter des Vertrags, bringt den Spruch des "Logos" in die Immanenz der Welt der Wörter: "Athene: [...] Aus göttlichem Spruch entstand der Vertrag. Wer ihn nicht einhält oder vergißt, der fürchte den Zorn und die Strafe des Vaters, der weit in die Welt schaut." (I 103) Etymologisch ist der "Vertrag" über lateinisch "palus" mit dem Wort "Pfahl" verwandt und das
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Wort "Ehe" mit "Recht", "Gesetz" und "Vertrag". Denn aus dem ursprünglich umfassenden Sinn "Recht" und "Gesetz" des westgermanischen "e", "ewe" hat sich im Althochdeutschen die Bedeutung "Ehevertrag" abgesondert. Durch den Spruch des Zeus, in die Welt gebracht durch Athene, kursiert ein "Vertrag" zwischen Mann und Frau, der sich aber im großen Archiv nur dann in der Nähe des Ursprungs wieder aktiviert, wenn er durch die Ankunft des Mythos und des Fremden und die dadurch ausgelöste Abdrängung der störenden Begriffe wieder wirken kann. So ereignet sich das Wiedererkennen für Strauß durch die Abwesenheit der störenden Begriffe, durch das Heideggersche Hören, so daß die göttliche Liebe herrscht: "Handgelenk: So schwelgten sie beide wechselnd im Zuhören und in heftiger Liebe."(I 96)
4.4.5. Strauß' Version des Gesellschaftsvertrags Strauß zeigt in "Ithaka" mit der zweifachen Bedeutung des Begriffs "Vertrag", daß in der jetzt gebräuchlichen Sprache das Alte noch vorhanden ist, auch wenn es nicht wahrgenommen wird. Die jetzige Bedeutung des Vertrages, des Paktes vertreten die Freier: Eurymachos: [...] Der Mann will nicht ablassen von Blutgier und Rache. Darum entschließt euch zum Kampf, setzt euch zur Wehr. Allzulange habt ihr euren Verstand im Aushandeln von Pakten ertüchtigt und den Waffengang sträflich vernachlässigt. (I 81)
Sowohl der "Vertrag" zwischen Mann und Frau, als auch der Gesellschaftsvertrag wird, so kritisiert Strauß in "Ithaka", ohne Andenken an den Ursprung ausgehandelt. Ohne Metaphysik, ohne Transzendenz wird der Vertrag aber zum Mißbrauch des anderen: "Amphinomos: [...] Ich bin nicht wie die anderen. Die lustlos werben um sie und im geheimen beraten, wie sie die Königin für ihre neuartigen Pakte mißbrauchen." (I 49) Ein rein auf den Egoismus des einzelnen in einer nur durch die Ökonomie zusammengehaltenen Gesellschaft bauender Zusammenhalt wird in schweren Zeiten, so Strauß' Botschaft, nicht halten. Ein dauerhafter Friede ist nur durch die Erinnerung an die Stiftung des Vertrags durch das ganz andere zu erreichen.
4.4.6. Die Zeit der Freier als die unerträgliche Zwischenzeit Die Unterbrechung durch den "Einschlag" des Mythos, durch die Ankunft des anderen als des Fremden kann nur eine momenthafte Unterbrechung bewirken. Die Öffnung ist keine Öffnung, die ein Anlaß zum Hoffen auf eine Hegelsches Ende der Geschichte bietet. Für Strauß sieht sich der Dichter "weder in eine Aufbruchsnoch in eine Untergangsgesellschaft versetzt, sondern zwischen die Konstruktionen des Unaufhörlichen und des Vorübergehenden an sich." (DEeK 130) Und daher zitiert Strauß auch Dävila: "Die Welt verändern: Beschäftigung für einen Zuchthäusler, der sich abfand mit seiner Verurteilung." (AW 315) Die Zeit der Freier ist in "Ithaka" immer auch die Zeit der Erwartung des heilbringenden Königs, die Zeit zwischen Christus' Leben und seiner Wiederkehr. Damit reflektiert sie auch die 296
Lage der Kunst zwischen dem Karfreitag und dem Ostersonntag. (Siehe AW 317f.) In "Ithaka" hofft Eumaios, der Sauhirt, auf die Wiederkehr, die Ankunft des Fremden und damit im Levinasschen Sinne die Ankunft des ganz anderen: "Und uns bleibt nur ein stetig hoffend Gedächtnis." (I 21) Denn den Freiern fehlt als bindungslosen Signifikanten das Zentrum: Eumaios: [...] Nichts unheilvoller als ein Haufen von Adligen ohne den Fürsten, der sie im Zaum hält. Jetzt regiert uns Genußsucht. Sport. Prahlerei. Faule Jünglinge, keiner v o m Rang eines Königs, die Odysseus nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen. (I 21)
Sogar der freie Text hat von sich selbst als Zentrum genug: "Amphimedon: [...] Unmenschliches Warten entartet den Menschen." (I 70f.) Und so schickt Athene Odysseus, um die Zwischenzeit zu beenden: "Greuliches Interregnum. Du aber bist heimgekehrt und wirst es beenden." (I 18)
4.4.7. Der Spiegel der Prospekte verweist als Ungrund auf das ganz andere Nur die Verfehlung macht die Wiedererkennung und damit die Erinnerung an das Paradies vor der Differenzierung, die Erinnerung an das Ganze, möglich. Strauß referiert in "Niemand anderes" über seine gnostische Sicht auf die Welt: Meine Religion reicht nur zurück bis zum Augenblick der Erkenntnis. Ihr Anfang ist der Sündenfall. Mein Glaube beginnt mit der Hintergehung Gottes. Nur ohne Eden bin ich dir begegnet. Nur im Fallen, nur in der Vertreibung habe ich jene Umklammerung erfahren, die mir jeden Sinn für eine höhere, letzte Verheißung geraubt hat. (NA 42)
Und so kann in "Ithaka" die gegenwärtige Zeit im Ritual auch nur momenthaft angehalten werden. Odysseus besucht seinen Vater in der vorgestellten, durch die Dichtung ermöglichten Erinnerung an das Paradies im "hortus conclusus". Der wahrnehmende Odysseus spiegelt den Ursprung seines ihn konstituierenden Textes in die Welt, der Rahmen der Bühne zeigt kurz das Paradies, dabei bleibt der Baum der Erkenntnis als einzelner am deutlichsten, da er als erkennender Text diese Spiegelung als "Pfahl" oder "Säule", die auf die Leerstelle verweist, erst ermöglicht: "Prospekte mit blühenden Obstbäumen gehen über dem Vordergrund der Bühne nieder. Nur ein Apfelbaum steht in plastischer Gestalt hervor." (I 98) (Der Begriff "Prospekt" ist etymologisch über "prospicere" verwandt mit dem Begriff "Spiegel".) Zeus spricht in der Öffnung, in der Verfehlung, im Fehler des Kopisten aus dem Baum der Erkenntnis als Baum der Erkenntnis. Im Spiegel des Spiegels, in der Erkenntnis des Baums der Erkenntnis, öffnet sich der mystische Ungrund und verweist auf das ganz andere. Das Wort ist mit dem Sündenfall das Zeichen für etwas Abwesendes, fur das fehlende transzendentale Signifikat, das einst in der Wahrnehmung der Menschen durch das ganz andere bestimmt wurde: Die drei verlassen den Garten. Das Licht wird schwächer, der Apfelbaum beginnt zu leuchten. Pallas Athene in der Gestalt des Mentors tritt in den Garten. In der Nähe Gefechtslärm. Athene: Zeus Kronion: wie denkst du dir das Ende? Wo soll das hinführen? Sag mir: läßt du den Krieg zu und läßt das grausige Morden noch weitergehen? Oder meinst du: wir stiften besser Freundschaft zwischen den Streitenden? Zeus/Der Baum: Wir? Was fragst du mich, meine Tochter? Du selbst hast den Odysseus geleitet zu man-
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eher Gewalttat. Zuletzt ihn angetrieben zu blutgierigem Mord. Du selbst hast ihn in immer neues Unheil gestürzt. Jetzt weißt du nicht mehr, wie du den Liebling errettest? Laß es gut sein, Tochter. Komm selbst zur Besinnung. Dann will ich durch deinen Mund verkünden, was für alle das Rechte ist. (I 101 f.)
Zeus erinnert Athene daran, daß sie sich als rationale Seite des ganz anderen, als "Mentor" (I 102), als "Lehrer" und "Erinnerer", als Wort selbständig gemacht hat und nun ohne die Anbindung an ihren Vater Zeus als Text im Bewußtsein von Strauß die Gewalttaten allein bewirkt hat. Strauß erörtert somit in Ithaka auch seine politische Philosophie, die die vom göttlichen Ursprung entfernten Wörter und Ideen für die Gewalttaten des 20. Jahrhunderts verantwortlich macht. Den versöhnlichen Schluß von "Ithaka" erklärt folgendes Zitat aus "Die Fehler des Kopisten": Die Kindheit hat sich über der Wunde der Aufklärung, der Freudschen, wieder geschlossen. Dichter und kräftiger ist sie zugewachsen, als sie es vor der gewaltsamen Lichtung gewesen. Jetzt denkt man daran, die empfindlichsten Gefilde zu Totalreservaten zu erklären, deren Zutritt nur Magiern und Erzählern noch gestattet ist. (FdK 133f.)
4.4.8. Die bindungslosen Signifikanten weichen der mythischen Dichtung Die "Totalreservate" sollen den Text schützen vor den abschließenden Begriffen, die bindungslos zirkulieren. Die "lüsternen" Mägde werden in "Ithaka" von den "anständigen" differenziert analog der Differenz zwischen der Dichtung, gehegt und gepflegt im "hortus conclusus", und dem gesellschaftlichen Text der Gegenwart. Letzterer ist für Strauß der Text, der abschließt und nicht erwartet: In der Halle des Königspalastes. [...] Erotische Darbietung unter dem Fenster der Penelope. Eine Magd in der Pose der archaischen Mädchenfigur, die als Opfertier einen Hasen unter dem Busen trägt. Zwischen dem Brustband und dem Rock, der die nackten Füße freigibt, entblößt sie den leicht vorgewölbten Bauch. Sie tanzt um eine brennende Kerze 'die Kerze der Erwartung', Symbol der Penelope - und läßt sich mit gerafftem Rock Uber der Flamme nieder. (131)
Das Mädchen löscht die Flamme als Symbol des heraklitisehen Ursprungs und funktioniert diese in einen Phallus als dominierenden Signifikanten der männlichen symbolischen Ordnung um. Das Ganze geht über in das frei bindungslose Treiben der Signifikantenkette. Als Grund der Kultur wird nun nicht mehr der heraklitische Logos wahrgenommen, sondern die zur nietzscheanischen ewigen Wiederkehr des Gleichen führende Promiskuität der Signifikanten. Die "Paare" wechseln sich mit den "Passanten" grundlos ab. Penelope hat nun keine Verbindung mehr zum Logos, der Grund "unter" ihr ist nicht im Heideggerschen Sinne, der sich dabei auf Heraklit bezieht, grundlos, sondern im postmodern fröhlichen Sinne: "Unter dem Fenster des oberen Gemachs wird die Plane entfernt: ein Haufen ineinander verschlungener Paare" (I 31). Nach dem "Einschlag" und der totalen Umordnung der Signifikanten bleibt als gültiger Text nur noch der dichterische übrig. Der Mann und die Frau erkennen sich wieder, nachdem der verfremdende Text beseitigt wurde: "Odysseus und Telemach ziehen den Karren auf die Bühne, auf dem in II, I die verschlungenen Paare vorgeführt wurden. Sie ziehen die Plane herunter und bieten die Leichen der Freier dar. Vater und Sohn neigen sich vor der Fürstin." (1 87) Der
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Thespiskarren zeigt den nicht standhaften Text der Nachmoderne: das Theater ist für Strauß als ältestes Medium noch in der Lage, den mythischen und dichterischen Text vom Rest zu differenzieren. Der Mythos Odysseus als Homers ursprüngliche Dichtung soll am Ende von "Ithaka" die Begegnung zwischen Mann und Frau prägen: "Athene: [...] Da nun wiedervereint ist das Paar, tritt durch sie beide die heilige Ordnung wieder in Kraft. Odysseus gebietet über die Insel und alle Städte und Stämme, die um die kluge Penelope warben." (I 103) Nicht die frei beweglichen, bindungslosen Signifikanten, sondern die Dichtung soll das Zentrum sein.
4.4.9. Die Rechte des Dichters und die politische Rechte In "Ithaka" wird der Mythos als Dichtung, nahe dem Ursprung, rehabilitiert. Von den Nationalsozialisten mißbraucht, wird er von Strauß aus seiner Tabuzone ins Rampenlicht der Bühne geschoben: "Athene: [...] Wir aber verfügen, was recht ist: aus dem Gedächtnis des Volks wird Mord und Verbrechen des Königs getilgt. Herrscher und Untertanen lieben einander wie früher. Daraus erwachsen Wohlstand und Fülle des Friedens den Menschen." (I 103) Der König, dessen Tod in "Der junge Mann" dem überraschten Volk ein im Lauf der modernen Zeit zum Bösen mutierten Herrscher zeigt, soll wieder als Mythos in sein früheres Amt eingesetzt werden, die Menschen sollten für Strauß wieder an etwas glauben und nicht jeder mythischen Dichtung den Mißbrauch ihrer Macht unterstellen. Der Mythos ist für Strauß nicht primär ethisch. In ihm ist Frieden und Gewalt noch nicht getrennt. Nachdem sich in der heutigen Bürgergesellschaft eine friedliche Ordnung weitestgehend stabilisiert hat, gibt es, so Strauß, keine Achtung mehr vor dem Bösen und der Gewalt. Nicht als Verhängnis, sondern als behebbare Funktionsstörung wird das Negative gesehen. Für Strauß ist die Gewalt aber die andere Seite der Medaille des Friedens. Sie ist für ihn nie vollends aus der Welt zu schaffen. Ihre Vernachlässigung in der Wahrnehmung führt für Strauß ganz im Gegenteil zur Potenzierung ihrer Gefährlichkeit, da niemand mit ihr rechnet. Eine solche Sicht, die nicht an die Verbesserbarkeit des Menschen in der Entwicklung der Geschichte glaubt, sondern an eine Wiederkehr des Gleichen, ist eine "rechte" politische Sicht. Der Mythos, der hier als Vorlage in "Ithaka" fungiert, ist für Strauß eine Geschichte weit weg entfernt den Zensurmechanismen der heutigen Gesellschaft. Damit trägt er eine Wahrheit über den Menschen in sich, die lautet: Der Mensch ist - auch! - gewalttätig. Strauß' Annahme einer anthropologischen Grundkonstante dieser Art führt zu den Warnungen im "Anschwellenden Bocksgesang". In Ithaka nehmen die Freier als postmoderner Text das alte Dunkel nicht ernst, ein Freier empfiehlt, den Mythos nicht durchbrechen zu lassen, indem man ihn erst gar nicht in den gültigen Text läßt: Eurymachos: [...] Jetzt fehlt es an Übung, auch mit geringen Waffen und ohne Rüstung sich klug zu verteidigen. Doch wir sind in sicherer Überzahl, keiner braucht sich zu fürchten. Rücken wir fester zusammen und stürmen geschlossen vor gegen den alten Unhold. Vergeßt nicht: es ist bloß ein Held aus vergangenen Tagen, zu nichts mehr fähig als zu feigem Überfall. (I 81 f.)
299
Der Mythos ist bei Strauß im Zweifel stärker als der gegenwärtige fragmentierte Text. Er besiegt die Freier, indem er über sie ein "Viereck aus Segeltuchwänden" (I 82) spannt und sie damit einschließt. Dieses Symbol erinnert an die Erscheinung Edna Grubers in "Die Besucher", die "auf einem kleinen, mit Plane überzogenem Gerümpelhügel" (B 212) steht. Der mythische Text als allumfassendes Text-il umspannt das postmodern Fragmentierte und stellt die Ganzheit wieder her, in Ithaka wird der postmoderne Text nicht überleben. Strauß erörtert in Ithaka auch seine im "Anschwellenden Bocksgesang" angesprochene Angst vor der Diktatur. Für ihn ist in einer Gesellschaft des "anything goes" die Gefahr virulent, daß man sich wieder einen Führer als Ersatzheilsbringer wünscht, Carl Schmitts Legitimation des Führers als Entscheider wird als gefährlicher Gedanke wieder en vogue: Eumaios: [...] Jetzt murrt das Volk und drängt zur Entscheidung!!]. Es will endlich regiert sein, egal auch von wem, nur daß Ordnung herrsche über Haus und Arbeit. Denn das Land unter den wartenden Freiern ist völlig verwahrlost. Sie selber am meisten. Verprassen in Unmengen die Güter des Landes. Tag und Nacht wird sinnlos geopfert, geschlachtet, wird immer gehurt und gezecht. Unruhe gibt es im Volk, jedermann fordert, daß endlich feste Gesetze die Willkür beenden. Sonst droht uns der Bürgerkrieg. (121)
Die Aussage von Eumaios erörtert die Gefahr der Ordnungslosigkeit, die leicht einen neuen Führer an die Macht bringen kann. Ernst Jünger erklärt ähnlich die Macht des "Oberförster" und "Alten" Hitler in "Auf den Marmor-Klippen": Als Schutzherr der Vagantenheimat war der Alte auch draußen in der Welt von großer, verborgener und weit verzweigter Macht. Wo immer die Gebäude, wie Menschenordnung sie errichtet, brüchig wurden, schoß seine Brut wie Pilzgeflecht hervor. Sie wob und wirkte, wo Knechte dem angestammten Hause die Gefolgschaft weigerten, wo man auf Schiffen im Sturme meuterte, wo man den Schlachtenkönig im Stiche ließ. 111
So ist die Ankunft Odysseus in "Ithaka" auch als Ankunft einer Ordnung zu sehen, an die für Strauß die Menschen wieder glauben können. Die Freier symbolisieren das gegenwärtige, von Strauß kritisierte System. Auch und gerade für die Fremdenfeindlichkeit macht er nicht die intellektuelle Rechte, sondern die Gesellschaft der Linken im Verbund mit deren Gegenprinzip, der radikalen Rechten verantwortlich. Als "Fremder" kommt Odysseus nach Ithaka und hat mit dem Bettler Iros eine Auseinandersetzung. Die Freier schüren den Fremdenhaß des Bettlers, der so nie bemerkt, daß seine Probleme von den Freiern verursacht werden und nicht von den Fremden. Diese Szene spiegelt eine Beobachtung in der gegenwärtigen Gesellschaft, die zeigt, daß Ausländerfeindlichkeit in den ärmsten Schichten am virulentesten ist, obwohl doch Solidarität herrschen sollte zwischen den Ärmsten und obwohl die Ausländer am wenigsten und die jeweilige Elite am meisten schuld ist. Doch wie immer in der Geschichte herrscht die Elite solange, wie sich die Beherrschten untereinander bekriegen: Antinoos: Freunde! Ein neues Vergnügen bereitet sich vor! Seht nur, unser Gast und Iros gerieten in Streit. Sie wollen sich messen im Faustkampf. Hetzt noch ein bißchen, feuert sie an. (I 44f.)
111
Ernst Jünger: Auf den Marmor-Klippen, in. ders.: Sämtliche Werke, Band 9, a.a.O., S. 227f.
300
Bei Homer besteht die Differenz zwischen den Göttern und den Menschen auch darin, daß sich die Menschen entscheiden müssen. Ein Apfel steht am Anfang des Homerschen Krieges, drei Göttinnen zwingen Paris zu einer Entscheidung, die zum Krieg führt. Heraklit bezeichnet also nicht ohne Grund den Krieg als den Vater aller Dinge, denn die Bewegung im Homerschen Mythos ist die Folge des trojanischen Krieges. Da die drei Göttinnen Paris' Wahrnehmung beeinflussen (wie Athene Odysseus Gedanken beeinflußt), zeigen sie sich als Text, der immer zur Differenz und zur Entscheidung zwingt. Die drei Göttinnen, die am Anfang des Homerschen Mythos stehen, wirken über die Ankunft des "Odysseus" in "Ithaka" für Strauß bis heute, sie bestimmen jede Ankunft und damit jeden Versuch, den ungeordneten Gedankenfluß auf eine Linie zu bringen. Als Drei fragmentierte Frauen persistiert der Urzwang zur Entscheidung für immer im Gedächtnis der Menschheit und damit des einzelnen.
4.4.10. Das Paradox der politischen Ordnung und Strauß' Versuch einer Lösung Um sowohl der Paradoxie, daß das Erkennen durch die Begriffe verhindert wird, als auch der Paradoxie, daß zuviel Freiheit des "anything goes" den Totalitarismus Vorschub leistet, zu begegnen, ohne diese zu negieren, setzt Strauß auf Heraklit und Heidegger und agitiert gegen Nietzsche. In "Ithaka" wird die Fixierung des anderen als Gewalt, jede Idee als Gewalttat dargestellt. Athene leitet Odysseus nach Hause, um Ordnung zu schaffen. Da für Strauß die Mythen dem "Sein" näher sind als die Vernunft und da sie zugleich mehr als die Vernunft in der Lage sind, dem Leben einen Sinn zu geben, soll der Inspiration durch die Götter, die bei Homer die Gedanken eingeben, wieder Aufmerksamkeit geschenkt werden. Während bei Aischylos in der "Orestie" die diesseitige Rechtsprechung und das Gericht von den Göttern gegründet werden, werden Recht und Gesetz bei Euripides schon so sehr als von den Menschen gestaltet wahrgenommen, daß sie als beanstand- und änderbar aufgefaßt werden. So zeigt bereits hier jedes Gesetz und jede Ordnung ihr zweifaches Gesicht. Einerseits muß sie sich grundlegend legitimieren. Andererseits soll sie kritisierbar sein. Einerseits führt die Unkritisierbarkeit zum Totalitarismus und damit zur Gewalt. Und andererseits führt für den Rechten Strauß auch das "anything goes" der Nachmoderne zum Totalitarismus. So befindet sich Odysseus in "Ithaka" in einer paradoxen, auf den ersten Blick unentscheidbaren Situation. Er beendet die heillose "Zwischenzeit" der Freier, aber durch die Gewalttat ruft er wieder neue Gewalttaten hervor und durch die Umordnung der Bedeutungen der Wörter nur wieder neue Bedeutungen. Odysseus ist gefangen in der Form der Paradoxie als Ende der Welt als Text. Aber "Paradoxie-Erfahrungen, woher sie immer kommen mögen, haben wie avancierte Denker längst gemerkt haben - strukturverändernde Kraft, da in den ihnen beigegebenen Erschütterungserfahrungen das Potential einer eigentlichen Schocktherapie"" 2 liegt, die den Ausgang aus der Immanenz indirekt erkennbar werden lassen. In der kurzen Störung ereignet sich die Öffnung und zugleich die 112
Alois M. Haas: Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt 1996, S. 120. 301
Verfehlung, die auf das ganz andere verweist. Da jede Ordnung der Differenz wieder Differenz erzeugt, kann im Spiel zwischen "Fleck" und "Linie" das Ganze hinter der Mauer der Wörter erahnt werden und dies in der Offenheit der Dichtung und des dichterischen Mythos ganz besonders. Am Ende von "Ithaka" muß Zeus eingreifen, um über seinen rationalen Teil, über Athene, daran zu erinnern, daß das ganz andere das Wort als Dichtung gestiftet hat. Und so sieht Strauß die Situation äußerst pessimistisch wie Heidegger: Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen."3 Zum Glück erzählt der Dichter Strauß in "Ithaka" nicht vom Untergang, sondern von der Erscheinung des rettenden Gottes.
113
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