Im Krieg auf dem Balkan: Erinnerungen eines Soldaten an den Zweiten Weltkrieg 9783205792338, 9783205788515


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Im Krieg auf dem Balkan: Erinnerungen eines Soldaten an den Zweiten Weltkrieg
 9783205792338, 9783205788515

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Leopold Rosenmayr

IM K R IEG AUF DEM BA LK A N Erinnerungen eines Soldaten an den Zweiten Weltkrieg

2012 böhl au verl ag wien köln weimar

Gedruckt mit der freundlichen Unterstützung durch  :

MA7, Kulturabteilung der Stadt Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Privat © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Volker Manz, Kenzingen Umschlaggestaltung: Gerhard Sindelar, Wien Gestaltung der Bildtafeln: Gerhard Sindelar, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: finidr s. r. o. Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-205-78851-5

Inhalt

Widmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Teil I: Griechenland   1. Abfahrt in den »Einsatz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29   2. Auf den Trümmern einer Stadt  : Beograd im Februar 1944. . . . . . . 39   3. Beschuss durch Partisanen – Ankunft in Megalo Pefko. . . . . . . . . 45   4. Britischer Waffenschmuggel durch U-Boote und Fischer. . . . . . . . 48   5. Mütterliche Sorge einer Griechin für mich in Megalo Pefko . . . . . . 52   6. Erkundigung auf eigene Faust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54   7. Der Bürgermeister von Aspropyrgos und sein Sterben . . . . . . . . . . 57   8. Der Hirtenjunge Kostas als mein Helfer und Freund. . . . . . . . . . 62   9. Afroditi aus den Weingärten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 10. Überfall durch Partisanen – niederösterreichische Bauern als Opfer .. 78 11. »Es lebe die Rote Armee« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 12. Briefe von dem durch Partisanen getöteten Freund. . . . . . . . . . . 86 13. Bahnsprengung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 14. Eleni aus Athen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 15. Torpedos, Bomben und Tiefflieger zum Abschied aus Griechenland .. 103

Teil II: Balk an 1. Überfälle aus der Luft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Waldwunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ein Blick in die Moschee von Skopje.. . . . . . . . . . . . . 4. Unter Beschuss am Pass bei Prilep . . . . . . . . . . . . . . . 5. Einmal wacht die Urangst auf . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Rettung eines Verwundeten aus den mazedonischen Bergen. . 5

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Inhalt

  7. Die kleine Lutherbibel im Hosenbein des gefallenen Kameraden..   8. Die fast versäumte Rettung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9. Vergewaltigung und Tod auf dem Dorfplatz . . . . . . . . . . . . 10. Am Rande des Auwaldes – Brot von Miluše . . . . . . . . . . . . 11. Mundharmonika in der Kriegsnacht . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Im Bann des Ziegelwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Flucht vor der Panzerbüchse und Rückkehr um der Ehre willen . . 14. Duell der Scharfschützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Auf dem Turm von Našice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Die Freigabe durch den todgeweihten Freund . . . . . . . . . . . 17. Mein Tagebuch, das in meinem Brotbeutel am Ast hing . . . . . . 18. Gefangen im letzten Augenblick des Krieges . . . . . . . . . . . . 19. Ausbruch aus dem Gefangenenlager – Flucht in die Heimat . . . . 20. Der britische Posten auf der Brücke über die Drau nach Kärnten . 21. Der bittere Abschied von Kostas . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Im Dienste des London-Irish-Regiments der 8th Army . . . . . . .

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1. Miluše in Wien.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzlosigkeit im Nachkriegsösterreich . . . . . . . . . . . . . . . 3. Meine Verhaftung durch die Sowjets in Wien . . . . . . . . . . . . 4. Doppelrolle zwischen den Mächten . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Angebot im niedrigen Spionagemilieu . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Mein Vater kehrt aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft heim. . 7. Aktivität und Ordnung als rettende Kräfte im Lager. . . . . . . . . 8. Schlaf neben den Toten auf der Pritsche . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagungen . . . . . Geografisches Register.. Personenregister. . . . . Bildteil . . . . . . . . . Zum Autor . . . . . . .

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Teil III: Nachkriegszeit in Österreich

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Widmung

Ich widme dieses Buch dem liebsten Menschen, den ich kenne. Diese wunderbare Frau hat mir Einfühlungsvermögen und Zuwendung in einer Weise erfahrbar gemacht wie nie jemand zuvor. Aus vielerlei Schmerz und Verzweiflung, Krisen und Irrwegen hat sie mich gerettet. Sie hat mich menschlich, aber auch durch ihre reiche psychologische und historische Kenntnis über die in diesem Buch behandelte Zeit des Zweiten Weltkriegs kritisch und mit vielen Hinweisen hin zu neuer, eigener Erkenntnis begleitet. Auch insofern kann ich sie als Retterin bezeichnen. Durch die Gemeinsamkeit zwischen ihr und mir ist dieses Buch auch ein gemeinsames geworden. Allein wäre mir das Buch nie gelungen. Wir haben etwas ans Licht gebracht, das als schrecklich Erlebtes über viele Jahrzehnte hinweg tief in mir verborgen geblieben war. Jetzt konnte es befreit werden. Wirkliche und wirksame innere Freiheit kann man ja nur durch ein bewältigtes Leben samt seinen Erinnerungen gewinnen. So sehr das Vergangene unwiderruflich geschehen ist, so kann die ausgearbeitete Erinnerung daran, um Wahrhaftigkeit bemüht, Wege in eine bessere Zukunft aufscheinen lassen. Ohne Elfi hätte ich nicht die Kraft und nicht die Überzeugung gehabt, diese schmerzvollen Wege zu suchen und auch zu gehen. Intellektuelle Kapazität und bis ans Äußerste gehende Hilfsbereitschaft, beides zusammen bekam ich von ihr geschenkt. Durch ihre Großzügigkeit hat sie mich verändert und mir Chancen für diesen Weg eröffnet. Ich bekam Menschlichkeit und Liebe und moralische Unterstützung aus der reichen inneren Erfahrung eines anderen Menschen. Erst dadurch konnte ich mein Herz öffnen und eine Brücke bauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Trauer und Glück, zwischen einem grausamen Gestern und einem trotz allem hoffnungsvollen Morgen. Leopold Rosenmayr

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Vorwort

Professor Leopold Rosenmayr, geboren am 3. Februar 1925 in Wien, gehört einem Jahrgang an, von dem mindestens ein Drittel als junge Männer den Zweiten Weltkrieg nicht überlebte. Sie wurden in mehrere von Adolf Hitler und seinem NS-Regime begonnene Kriege einbezogen, die nur eine Minderheit von ihnen wirklich freiwillig mitmachte. Die jungen Männer fielen in den Reihen der Wehrmacht, der SS, der Luftwaffe, der Kriegsmarine oder des Volkssturms – an der Ostfront gegen die Rote Armee, auf dem Balkan gegen griechische und jugoslawische Partisanen, an der Westfront und in Italien gegen amerikanische, britische, französische, kanadische, australische, neuseeländische und polnische Einheiten, in Finnland und Norwegen gegen sowjetische oder britische Truppen, oder sie gingen mit ihrem Kriegsschiff im Atlantik und im Mittelmeer unter. Etwa ein weiteres Drittel kehrte mehr oder weniger schwer verwundet in ihre Heimat zurück – in zerstörte Städte, Industriebetriebe und Bahnhöfe, in geplünderte Häuser, Wohnungen, Geschäfte und Bauernhöfe. Die Traumatisierung der Soldaten und Zivilbevölkerung nach beinahe sechs Jahren Krieg ist den Nachgeborenen nicht mehr nachvollziehbar. Daher sind mündliche und schriftliche Erinnerungsberichte sowohl für die betroffene Generation als auch für alle nachkommenden Generationen unverzichtbar. Im Mai 2005 – also 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa – stellte Reinhard Koselleck, einer der führenden deutschen Sozialhistoriker und als Jahrgang 1923 Angehöriger der sogenannten »Kriegsgeneration«, die für die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg prinzipielle Frage  : »Welche Folgerungen ergeben sich aus dem Befund, dass wir in Europa zwar eine gemeinsame Geschichte haben, aber keine gemeinsamen Erinnerungen  ?« – Die Armeen der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens erzwangen Anfang Mai 1945 die totale Niederlage NS-Deutschlands und befreiten Dutzende Millionen vom NS-Terrorsystem Unterdrückte, Unterworfene und KZ-Häftlinge aus vielen europäischen Völkern. Die große Mehrzahl der Deutschen und Österreicher, die sich als »Besiegte« die totale Niederlage einzugestehen hatten, war keineswegs in gleicher Weise »befreit« wie etwa die Griechen und die Südslawen. Die meisten Deutschen und Österreicher waren auch nicht in gleicher Weise Opfer wie die von den Deutschen unterworfenen Nachbarn oder gar die zur Vernichtung 9

Vorwort

freigegebenen Völker. Daher Kosellecks Appell  : »Wir müssen also lernen, in der wissenschaftlichen Fragestellung wie im Alltag, mit den Differenzen zu leben, die nicht von heute auf morgen auflösbar sind.« Seit einem Vierteljahrhundert ist ganz Europa in ein »Zeitalter des Gedenkens« (Pierre Nora) eingetreten. Offensichtlich wurde sich die »Erlebnisgeneration« des Zweiten Weltkriegs in ihrem Pensionsalter der Differenzen zwischen den angebotenen und teilweise verordneten Deutungen und ihren konkreten Erinnerungen immer bewusster, und offensichtlich begann die Kinder- und Enkelgeneration konkretere Fragen zu stellen und auch konkretere Nachforschungen zu unternehmen. Jedenfalls stellte dieses »zweite Gedächtnis« nicht mehr die heroischen Leistungen im Weltkrieg in den Vordergrund, sondern die schmerzlichen und traumatischen Erinnerungen, die vorher verschwiegen oder verdrängt worden waren. Hierbei traten vier Großphänomene deutlich in den Vordergrund  : die Verbrechen des Nationalsozialismus, der NS-Völkermord an den Juden, die Verbrechen des Stalinismus und die Verbrechen im Zuge millionenfacher Vertreibungen. Ob allerdings die Verurteilung des Vergessens und die »Pflicht zur Erinnerung« (Henri Rousso) zu einem gemeinsamen europäischen Gedächtnis führen, muss offenbleiben. Rosenmayrs Erinnerungen führen uns von seinem Aufbruch aus Wien im Februar 1944 als gerade 19 Jahre alt gewordener Soldat (»Schütze«) und ausgebildeter Dolmetscher für Neugriechisch über Belgrad nach Mittelgriechenland, in den Bade- und Fischerort Megalo Pefko, unweit von Eleusis, wo er dem Stab des Jägerregiments 22 der 11. Luftwaffen-Felddivision zugeteilt wurde, das die Küste bei Salamis bis Theben im Norden und bis zum Kanal von Korinth im Süden bewachen sollte. Rosenmayr schildert in eindrücklicher, unter die Haut gehender Sprache die keineswegs selbstverständliche Gastfreundschaft in griechischen Privathäusern, seine lange Kameradschaft und Freundschaft mit dem griechischen Hirtenjungen Kostas, der ihm bis Mai 1945 nicht von der Seite wich, Rosenmayrs Auseinandersetzungen um die Erteilung von Fischereigenehmigungen (die Fischer besorgten auch Waffen von britischen U-Booten), Überfälle von griechischen Partisanen auf deutsche Stützpunkte und Verstümmelung der Ermordeten (unter ihnen Weinviertler Bauern), Folterungen von Geiseln, Hinrichtungen von Partisanen, Exekutionen durch den Sicherheitsdienst der SS sowie ein Attentat auf ein hohes Viadukt an der Bahnlinie Athen–Eleusis, das einen ganzen Zug in die Tiefe riss, in dem hauptsächlich griechische Frauen mit ihren Kindern saßen, die auf dem Markt in Athen ihre Produkte verkauft hatten. Knapp vor dem Beginn des Rückzugs aus Griechenland und der Einschiffung in Piräus geriet Rosenmayr sogar noch in die Versuchung, von einer gebildeten 10



Vorwort

Kurierin der Partisanen zum Überlaufen überredet zu werden. Zwar schaffte Rosenmayrs Schiffskonvoi eine gesicherte Abfahrt, wurde aber im Hafen von Saloniki von britischen Lightening-Bombern »empfangen«, die die Treibstofflager und Munitionsdepots in Brand schossen. Nun begann der lange Rückmarsch der deutschen Heeresgruppe E unter dem Oberbefehl des Generalobersten Alexander Löhr, eines gebürtigen Öster­ reichers, von Saloniki bis Kärnten. Im Jahre 1994 hat mir ein griechischer Chauffeur eines Lkw-Zuges in Saloniki erzählt, dass er für die Strecke Saloniki–Wien (Großmarkt), etwa 1.500 km, jeweils zwei Nächte und einen Tag gebraucht habe, mit kurzen Grenzkontrollen in Gevgelija und Spielfeld. Der Gefreite Rosenmayr sollte für die Strecke neun Monate benötigen, vom September 1944 bis Mai 1945. Bereits in der Nähe der Grenzstation Gevgelija gab es den ersten Fliegerangriff auf den Zug, der vor allem der Dampflokomotive galt. Von Prilep her versuchten Tito-Partisanen, den deutschen Rückzug zu stören, in Ka­ va­­darči griffen bulgarische Tiefflieger (mit deutschen Maschinen) die Kolonnen an. Vorerst ging es bis Skopje zügig voran, wo zwar die Synagoge, nicht aber die Moschee niedergebrannt war. In Vranje, in Südserbien, aber wurde der deutsche Vormarsch von bulgarischen Truppen, die mit der neuen Regierung auf die Seite der Roten Armee gewechselt hatten, gestoppt und zum Rückzug auf Kumanovo gezwungen. Der neue Regimentskommandeur Major Pabst, ehemaliger Offizier der k. u. k. Armee, führte nun die Abwehrkämpfe gegen die angreifenden Bulgaren und den Rückmarsch über Skopje und das Amselfeld (Kosovo Polje), von wo Schwerverwundete nach Hause geflogen wurden. Die Erlebnisberichte Rosenmayrs setzen erst wieder Anfang 1945 ein. Die Division dürfte – nach dem Vormarsch der Roten Armee über Serbien und die Vojvodina nach Ungarn und einer Stabilisierung der Front in Syrmien – über den Sandžak und Ostbosnien nach Ostslawonien gezogen sein. In der Nähe von Vukovar erstarrte Rosenmayr vor dem Leichnam einer vergewaltigten Frau. Später quartierte er sich bei noch nicht evakuierten Slawoniendeutschen ein. An der Drau geriet die Division in direkte Kämpfe mit der Roten Armee, die am linken Ufer der Drau nach Westen marschierte. Bei einem Duell der Scharfschützen fiel der steirische Kamerad Rosenmayrs  ; auch ein rheinländischer Kamerad wurde tödlich verwundet. Der Rückzug durch Našice, das überwiegend von kroatischen Partisanen besetzt war, endete bereits in einer Flucht. »Alles trieb dem Ende entgegen«, bemerkt Rosenmayr resignierend, apathisch. Auch ein Teil der Zivilbevölkerung war auf der Flucht, lange Trecks wälzten sich in Richtung österreichischer Grenze. Rosenmayr konnte sogar einige Tage auf einem Kosakenpferd reiten. In der Untersteiermark kapitulierte die deutsche 11

Vorwort

Heeresgruppe vor der jugoslawischen Armee, die Kriegsgefangenen mussten die Waffen abgeben, Zwangsarbeit in jugoslawischen Bergwerken drohte. Bevor die Kriegsgefangenen mit Stacheldraht umzäunt wurden, riskierten Rosenmayr und Kostas die Flucht in die Wälder und entkamen. Slowenische Bauern halfen ihnen weiter, dann stießen sie – schon in Südostkärnten (bei Ruden) – auf eine steinerne Brücke über die Drau, die von einem britischen Soldaten bewacht war. In Wolfsberg wurde Rosenmayr als Dolmetscher in britische Dienste übernommen und trug die Uniform des London-Irish-Regiments. In Begleitung britischer Offiziere traf er bei Spittal an der Drau auch auf viele Kosaken, die bald an die Rote Armee ausgeliefert werden sollten. Hingegen gab es ein gesundes Wiedersehen mit der Mutter, dem Bruder und dem aus sowjetischer Gefangenschaft völlig entkräftet heimgekehrten Vater. Seine Erzählungen beeindrucken noch heute. Erst im Herbst 1946 aus der britischen Armee entlassen, wurde Rosenmayr unter dem Vorwurf antisowjetischer Propaganda bei einer Studentenkonferenz in London vom sowjetischen Geheimdienst in Wien verhaftet und zur Zusammenarbeit gezwungen. Freilich vertraute er sich sofort dem britischen Geheimdienst an und erfuhr einiges über den seinerzeitigen britisch-griechischen Waffenschmuggel in Attika. Letzten Endes blieb es eine Episode »im niedrigen Spionagemilieu«. Wesentlich bedeutender war für Rosenmayr die direkte Ermunterung durch Bundeskanzler Leopold Figl  : »Wir brauchen Sie in Österreich […], Ihre Forschungen, die sind notwendig für den Aufbau unseres Landes.« Wien, im Herbst 2012 Univ.-Prof. Dr. Arnold Suppan, Vizepräsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

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Einleitung Warum und mit welcher Absicht ich dieses Buch schrieb

Das Foto des damals 19-jährigen Soldaten, heute 87 Jahre alten Autors auf dem Umschlagbild des Buches zeigt diesen Menschen im Bereich der Akropolis unterhalb des Tempels der Athene, der Göttin der Weisheit, sitzend und seltsam naiv in die Kamera lächelnd. Dem jungen Mann fehlte damals nicht nur Weisheit, sondern auch jegliches Überblickswissen über die Herausforderungen und Qualen, die den Griechen ab 1941 angetan worden waren. Auf Kommando Hitlers hatte die Wehrmacht das Land mit großer technischer Überlegenheit überfallen. Nach und nach entwickelten die Griechen mehr und mehr Widerstand mit den über die Seewege eingeschmuggelten Waffen. Sie spezialisierten sich auf Überfälle gegen die Sieger und wurden als Partisanen (Andartes) zu Helden des Widerstandes, besonders auf Kreta und am Peloponnes und auch sonst überall, wo es Berge und Wälder mit Verstecken gab. Bei der Ausbildung als Wehrmachtsdolmetscher in Wien hatten wir weder über den ideologisch-politischen Hintergrund noch über die Taktik und Techniken der Partisanen in Griechenland etwas erfahren. Ich wusste auch nicht, dass bei einer Unterstützung der Partisanen mit Lebensmitteln ganze Dörfer von der deutschen Wehrmacht angezündet wurden und dabei Menschen durch die Brände ihr Leben verloren. Man ließ sie manchmal einfach verbrennen. Das geschah in Griechenland 1942–1945, nicht überall, aber unter manchen Kommandeuren. Die deutsche Besatzungsmacht nahm Geiseln, und wo ein deutscher Wehrmachtsangehöriger bei einem Partisanenüberfall sein Leben verlor, wurde dafür, je nach dem Rachedurst des jeweiligen regionalen Kommandanten, eine Vielzahl von Geiseln, völlig unschuldig Festgenommene, hingerichtet. Erst durch Einzelaktionen und die Reaktionen auf sie, wie ich sie im über den Bürgermeister von Aspropyrgos in Kapitel 7 berichte, bekam ich Einblick in die Grausamkeiten als lokale Einzelfälle. Dass ich aber, so sehr ich sie auch individuell da und dort zu verhindern vermochte, als Teil, als kleines Glied in dieser Besatzungsmacht für den verbrecherischen großen Rahmen mitverantwortlich war, das stand mir damals nicht vor Augen. Das geschah auch dann nicht, als ich z. B. als Dolmetscher zu Hilfe gerufen wurde, um Frauen zu beru13

Einleitung

higen, die sich im Spital zu Kontrolluntersuchungen hatten einfinden müssen. In der Phase der größten Hungersnot hatten sich diese Frauen, um ihren Kindern Nahrungsmittel vom Schwarzmarkt kaufen zu können, im Wehrmachtsbordell als Prostituierte verdingt. Sie liefen Gefahr, wegen Infektionen nicht mehr weiter »beschäftigt« zu werden, sammelten sich in einer Gruppe auf dem Flachdach des Spitals und drohten, in einem kollektiven Selbstmord sich auf die Straße hinunterzustürzen. Ich sollte sie nun durch Beschwörungen in ihrer Muttersprache davon abhalten. Das gelang mir auch, und ich konnte sie schließlich überzeugen, nicht hinunterzuspringen. Ich beschwor sie, ihr Leben für ihre Aufgaben und ihre Kinder auch nach dem Krieg zu erhalten, und hatte schließlich Erfolg damit. Es war ein vager Begriff von »Pflicht«, dem ich mich als Soldat unterwarf. Und ich folgte einer Schwärmerei für das klassische Griechenland, seine Monumente, Tempel und Statuen, die aber nicht realitätswirksam werden konnte, und kaum zu einer verstärkten Anteilnahme an den Leiden und 1944 auch am Hunger der griechischen Zivilbevölkerung führten. Die Bilder der Antike hatte ich schon im Lehrbuch des klassischen Griechisch kennengelernt. Im Gymnasium in Wien hatte ich die Fundamente der Sprache des alten Hellas und seiner Götter fünf Jahre hindurch studiert. Das aber blieb eine abgehobene Zone, die mir als eine Art emotionaler Schutzmantel für die offensichtlichen Leiden diente, die ich im Alltag wahrnehmen und als mögliche Quelle offenen Aufruhrs beobachten musste. Ich war ein Rädchen in der Maschinerie der Schrecken und der Unterdrückung geworden. Warum hat das so lange gedauert, ehe es mir gelang, dies so deutlich zu sehen und es auch auszusprechen, wie es hier nun geschieht  ? Man muss sehr darauf achten, die eigenen Erinnerungen nicht zu »vergolden« und nichts ins Vergessen zurückgleiten zu lassen. Wer war also der junge Mann, der, aufgestützt auf Trümmer des alten Tempelbereiches, ein paar Stufen tiefer vor dem Parthenon saß und wie ins Leere blickte  ? Als wen kann ich heute den Menschen in der deutschen Tropenuniform erkennen  ? »Er ist noch so jung«, klagte meine Mutter, als ich mich mit dem Marschgepäck hochbeladen und mit der geschulterten Waffe zusammen mit meinem Vater, der als Reserveoffizier in die deutsche Wehrmacht eingegliedert worden war, knapp nach meinem 19. Geburtstag auf den Weg zum OstBahnhof in Wien zur Abfahrt nach Griechenland begab. Wenige Wochen später saß ich dann, in gewisser Weise geradezu Kind geblieben, als deutscher Soldat auf Trümmern des jahrtausendealten Heiligtums menschlicher und politischer Weisheit. Ich saß auf den Stufen der Akropolis und ließ mich von einem der vie14



Einleitung

len dort herumschweifenden Fotografen abbilden, die für wenig Geld solche Erinnerungsbilder anfertigten, welche die Soldaten nach Hause schicken konnten. Ich tat dies auch, und das Bild überlebte in irgendeiner Schachtel die Plünderung der elterlichen Wohnung im Jahre 1945 durch die sowjetische Soldateska. Der junge Mann, der vor dem Tempel sitzt, war in einer streng geordneten Familie als älterer von zwei Brüdern aufgewachsen. Zwischen den strengen Regeln, unter denen ich lebte, kam bei dem Charakter des Vaters, der alles unter Kontrolle sehen wollte, und einer Mutter, einer kleinen Geschäftsfrau im Wiener Arbeiterbezirk Favoriten, wenig Gefühl in Fluss. Alles schien von Arbeit erfüllt, von Tätigkeiten zur Aufrechterhaltung eines kleinbürgerlichen Standards etwas oberhalb der weit verbreiteten Armut. Ich wuchs in dieses System der emotionalen Kargheit und einer erfolgsorientierten Zielstrebigkeit hinein. Mein Lehrer in der Volksschule ließ mich meine Aufsätze zu Berichten über Lehrausgänge z. B. zum Burgtor und zum Heldenplatz, ausarbeiten, Jahre bevor dieser durch die Akklamation Hitlers in Wien sein unrühmliches Ansehen gewann. Ich bekam auch durch den Lehrer der Volksschule die Chance, der Schulklasse, der ich angehörte, selbst erfundene Geschichten zu erzählen, sodass ich wegen meines sonstigen zurückgezogenen Auftretens nicht verspottet wurde. Als der Nationalsozialismus Österreich überzog, begann ich, statt mich der Hitlerjugend anzuschließen, mich durch Vermeidung ihrer Veranstaltungen zum regelmäßigen Stehplatzbesucher von Oper und Burgtheater zu entwickeln, wobei die Antigone des Sophokles zu meinen Lieblingsstücken gehörte und Wagners Tristan und Isolde mich überhaupt in eine andere Welt entführte. So lebte ich, bis ich 1943 Soldat wurde und durch Prüfungen über verschiedene Sprachen es schaffte, zur Dolmetscherkompanie Wien »eingezogen« zu werden, wie der Sprachgebrauch damals war. Ich hatte bis dahin keine Liebesgeschichten erlebt. Es spielte sich alles in meiner Fantasie und im Kopf ab, bis ich, wie die ersten Seiten des Buches es zeigen werden, eine Zuneigung zu einer jungen Frau fand, die durch die Wirrnisse des Krieges nach Wien gelangt war und auf der Auslands-Briefprüfstelle arbeitete. Hierher war ich als Soldat und Übersetzer zur Schulung und Bewährung vor meinem Aufenthalt in Griechenland abkommandiert worden. Mit diesen Erfahrungen und einer tief verinnerlichten Trauer und Unfreiheit suchte ich im Frühjahr 1944 auf der Akropolis Ruhe zu finden. Das war zu einer Zeit, als die Alliierten schon in Nettuno, Italien, gelandet waren und Raum zu gewinnen begannen, um das Ende des Krieges einzuleiten. Für mich war klar, dass der Krieg für Deutschland verloren war, und ich spekulierte hin und her, wo ich als Soldat der besiegten Wehrmacht in Gefangenschaft Wieder15

Einleitung

gutmachung zu leisten haben würde. Ich glaubte zu wissen, in dieses Schicksal verstrickt zu sein. Freiheitsräume gab es nur im Kleinen. Mein Grundgefühl war, dass ich dagegen im Grunde gar nichts tun konnte, als zu versuchen zu überleben. Früh im Leben wurde ich in die Traurigkeit der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins getaucht. Zu einer Auflehnung kam es nur innerlich. Im realen Leben hatte ich mich anzupassen und die Lücken zu nutzen, die ich entdeckte und die das Soldatenleben in seinem Alltag mir ließ. Eine solche Lücke zum Licht konnte ich nutzen, um zu einem Besuch der Akropolis zu kommen und zu dem Augenblick, der auf dem Umschlagbild festgehalten ist. Und was kam dann  ? Es kam die Flucht aus dem Krieg und zur Bewältigung des Danach. Diese Bewältigungen galten alle der späteren Zeit, der Phase des »Aufbaus« in Österreich. Es gab im Grunde keine »Rückblicke«. Es waren weder die Kräfte noch – vermeintlich – die Zeit dafür da. Man wurde nur manchmal zurück in die Erinnerung wie in eine Grube mit Schutt gestoßen. Es gab die Einblicke, aber es waren solche in die Gegenwart. Meine ersten Untersuchungen als Soziologe sollten zeigen, wie die Menschen in der Nachkriegszeit ihre Lebensbewältigung einschätzten. Ich fragte »die Anderen« nach dem, was sie über das Geschehene dachten, nicht mich selbst. Ich konnte doch die Gegenwart nicht versäumen, heiratete, zeugte Kinder und befasste mich mit ihnen. Ich gönnte mir keine Blicke zurück, so sehr war ich in die jeweilige Gegenwart verstrickt. Sollte ich mir die Vergangenheit aufschreiben  ? Ich war doch in die jeweilige Gegenwart eingebunden. Dann fasste mich in den sechziger Jahren die Lust, zu entfliehen – wie für endgültig, aber dabei immer nur für gewisse Zeiten. Es waren zuerst die beruflichen Reisen, um den Blick zu erweitern und mit Kolleginnen und Kollegen über die Rolle der jeweiligen Gesellschaften und ihre Aktualitäten nachzudenken, sich auszutauschen, nicht nur zu beobachten, sondern auch Vorschläge für die soziale Praxis und die Politik zu erarbeiten. Rückblick in die schlimmen Zeiten, die man erlebt hatte  ? Cui bono  ? Wem würde das nützen  ? So kam es auch zu den Reisen in die Welt, zur Flucht aus dem eigenen Alltag und aus den eigenen Bindungen. Ich musste, um meinen Anspruch als Forscher zu erfüllen, verständlicherweise doch in die Welt reisen  ? Andere Kulturen aus ihren Ursprüngen her verstehen lernen, aus dem Leben mit Fetischen und dem Ahnenkult in Afrika mir die Welt vorführen, den Ursprüngen von großen Reichen und ihren mensch16



Einleitung

lichen und politischen Bewältigungen durch den Buddhismus in Südostasien nachgehen. Ich organisierte Expeditionen nach Afrika, die für Monate geplant waren, kam zu Einsichten, die mich auch persönlich bewegten, und zu Vorschlägen für soziale Politik und Gesundheitsmaßnahmen, für die ich in West­ afrika Präsidenten und internationale Organisationen gewinnen konnte. Die eigene Entwicklung, die Nachdenklichkeit und die Vorsorge für mich selbst und meine Zukunft im späteren Leben blieben unbeachtet. Es war, als ob die Flucht vor jemandem oder vor etwas, seit dem Krieg nie mehr aufgehört hätte. Dann kam endlich der Moment, wo dieses alte eigene Lebenserbe durch die intellektuelle und liebevolle Zuwendung Elfis gleichsam aufzubrechen und ich mich selbst zu befreien begann. Ich wollte bloßlegen, was eine Lebensbahn des Grauens und der Vernichtung in diesem meinem Leben und seinem Langzeit­ gedächtnis, aber auch der Formung seiner Gefühle, hinterlassen hatte. Mit der Lebensänderung begannen diese Biografie und die Spiegelung des Ich in der erlebten Geschichte. Oder brachte die Biografie die Änderung, das Sichhineinwagen in das fremde Land des eigenen, nie wirklich in der Tiefe bedachten Lebens  ? Viele Gefühle waren für mich als Kind in der eigenen Herkunftsfamilie als deutlicher Ausdruck der Liebe und Zuwendung nicht geflossen. Die Gefühle hatten, bis auf die Ausbrüche aus dem Leben und von der eigenen Familie und Ehe, nur ein unterdrücktes Dasein geführt. Nun setzen sie sich hier an die Spitze der Rückschau, brauchten sich vor nichts mehr zu schämen. Sie hatten nur um die eigene Lösung für mehr Wahrheit und Verstehen zu ringen. Das alles hätte nichts bewirkt, wäre ich nicht einem Menschen begegnet und hätte dieser Mensch sich nicht meiner angenommen. Ich konnte zum ersten Mal in meinem Leben offen reden und verlor die Angst. Ich wagte es, diesem Menschen ein vorher nie gefühltes Vertrauen zu schenken. Diese inneren Zuwendungen wirkten so, dass ich das Tor zur Galerie der Schrecken, zu den Bildern und Erfahrungen des Krieges, in denen der eine Mensch den anderen erschlug, öffnen konnte. So entstand zuerst die Bereitschaft, dann der Wille, mich darüber mitzuteilen. Ich begann die Kraft zu fühlen, in die unbewältigte Widersprüchlichkeit meines Lebens im Zweiten Weltkrieg einzudringen. Die Widersprüche lagen darin, dass man kämpfen musste, auch mit der Waffe in der Hand, um zu überleben. Andererseits musste man sich aber auch damit abfinden, auf der Seite der Unterdrücker und Besatzer zu stehen, zum Schluss schon auf der Flucht, hinausgejagt ins ganz und gar Unübersichtliche. 17

Einleitung

Es bleibt also die Zeugenschaft  : Du bist davon gekommen nicht um zu leben Die zeit deine zeit ist kurz bemessen zeuge Bleib tapfer wenn der verstand versagt Nur dieses zählt in der allerletzten bilanz Zbigniew Herbert (1924–1998), übersetzt aus dem Polnischen von Karl Dedecius

Warum erst jetzt – nach so vielen Jahrzehnten ? Wer dieses Buch aufschlägt, den mag es verwundern, darin Ereignisse und Erlebnisse aufgeschrieben zu finden, die mehr als zwei Drittel eines Jahrhunderts zurückliegen. Warum hat sich der Schreiber so viel Zeit gelassen, um mit den Darstellungen seiner Erlebnisse und Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbar darauf folgenden Nachkriegszeit herauszukommen  ? Warum erst jetzt, warum nicht schon vor dreißig Jahren  ? Wer über die zum Teil von Gewalthaftigkeit bestimmten Ereignisse hier liest, wird vielleicht verstehen, dass es immer wieder der Überwindung und einer angespannten Kraft bedurfte, die Erlebnisse aufzuzeichnen. Warum konnte ich die Kraft hierzu nicht schon früher aufbringen  ? Es ist für mich als 87-Jährigen wohl meine »letzte Chance«, die ich zur Vergegenwärtigung von selber erlebtem Vergangenem aus dem Zweiten Weltkrieg wahrnehmen kann. Ich war lange Jahre hindurch von einem Gefühl bestimmt, das nach meiner Kenntnis niemand treffender ausgedrückt hat als im Jahre 1956 der polnische Dichter und mein noch lebender Generationsgenosse Tadeusz Różewicz (geb. 1921). vergesst uns und unsere generation lebt wie menschen vergesst uns wir beneideten pflanzen und steine beneideten hunde

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…………………………. vergesst uns vergesst uns fragt nicht nach unserer jugend lasst uns (ins Deutsche übertragen von Karl Dedecius)

In den letzten Jahren wurde ich zugänglicher. Ich begann es zu wagen, meine eigenen Erfahrungen aus der vielleicht schrecklichsten Zeit des 20. Jahrhunderts, den Jahren 1942 bis 1945, aus meinem Langzeitgedächtnis zu graben und in Erinnerungen zu verwandeln. Ich hätte weder den Mut noch die Geduld dazu aufbringen können, wäre mir nicht Hilfe zuteilgeworden durch die kenntnisreiche historische und politologische Bildung und die beharrliche Zuneigung einer wunderbaren Frau. Ohne sie, die ich »Retterin« nennen möchte, wären diese Aufzeichnungen nie zustande gekommen. Das ganze Buch ist ein Dank an sie. Meine beruflichen Bindungen lockerten sich mit der Überschreitung des 80. Lebensjahres. Auch der berufliche Ehrgeiz und familiäre Verpflichtungen gingen zurück. Es konnte zu dem kommen, was Augustinus (354–430) als eine »reditio ad seipsum«, eine Rückkehr zu sich selbst im Sinne einer Selbstbesinnung, benannte. Es entstand durch dieses Buch zwar ein Weg zu mir selbst, eine »reditio«, jedoch keine Selbstbetrachtung, wie sie der römische Soldat und Kaiser Marc Aurel in Wien um 175 n. Chr. verfasste. Es stellte sich schon beim Schreiben heraus, dass das Buch eine Bemühung um Zeugenschaft sein sollte. Es sollte also primär keine Selbstbeschreibung, sondern ein Erlebnisbericht in Abschnitten werden. Meine Arbeit sollte abbilden, wie der heutige Schreiber als damals 18und 20-Jähriger in verschiedenen Rollen seinen Weg zwischen Leben und Tod suchte und wie er diesen Weg erlebte. Ich lege also eine Dokumentation vor, die ich etwas ironisch mit dem in der Soziologie verwendeten Begriff der »participant observation«, der »teilnehmenden Beobachtung«, bezeichnen möchte. Diese Methode wurde als Alternative oder Ergänzung zu den quantitativ umfassenden Erhebungen und Umfragen ab 1950 entwickelt, die ich selbst durchführte. Im Unterschied zur soziologischen Methode der im Forschungsprozess selbstgewählten teilnehmenden Beobachtung ab den fünfziger Jahren, war die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg eine durch den Handlungs- und Erlebniszu19

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sammenhang des Krieges aufgezwungene »Teilnahme« als Soldat. Eingeklemmt zwischen Freund und Feind, lebte ich Jahre hindurch in andauernder Bedrohung. Dies hatte, wie ich nun erkenne, für mein späteres Leben große Wirksamkeit. Ich musste mich im Krieg »bewegen«, entweder flüchten oder vorangehen, und dies als Einzelner. Nur so konnte ich realen oder fiktiven Bedrohungen entgehen. Ich hätte mich nicht anders zu retten vermocht. Daraus entstand für mich und aus mir heraus ein für das weitere Leben verstärkter Selbstbezug in all meinen Bemühungen und Erlebnisformen als »Durchkommen«. Schon im Krieg geriet ich, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, trotz meiner Jugend in eine Rolle, in der ich immer wieder Chancen bekam, politische und militärische Entscheidungen zu beeinflussen. Oberst Glitz, der einstige erfolgreiche Jagdflieger und spätere Regimentskommandeur der 11. Luftwaffenfeld-Division, der ich als Dolmetscher zugeteilt wurde, hörte auf mich, den damals 19-Jährigen, von dem er sich überzeugt hatte, dass er sich auf dessen Urteil über Sicherheitsfragen verlassen konnte. Ich suchte mir eine mütterliche ältere Quartierfrau, die Schwester eines verstorbenen Athener Professors im Fischerdorf Megalo Pefko, das in den dreißiger Jahren ein Ferienort für wohlhabende Athener geworden war. In diesem Dorf leistete ich meine Dolmetschertätigkeit im Regimentsstab von Oberst Glitz. Die gepflegte mütterliche Dame sah mich, den fremden Soldaten, im September 1944 aus Megalo Pefko abrücken. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Das war ein Bild, das ich in Dankbarkeit lebenslang mit mir trage. Es waren zwischen uns beiden, zwischen der Tante, Thia, wie ich sie nannte, und mir Sympathien entstanden. Sie hatte mich »paidaki mou«, mein Kindchen, genannt, und in gewisser Weise wurde ich auch ihr mit den Waffen des Feindes und Besatzers bestücktes Kind. Mein Buch spiegelt allerdings wenig Idyllisches, sondern tappt durch Abscheulichkeiten der körperlichen Erzwingung von Aussagen durch die Folter und durch physische Bedrohung und Tötung von Unschuldigen durch die SS, wie das schreckliche Beispiel des Bürgermeisters von Aspropyrgos in Kapitel 7 zeigen wird. Als ich 1944 als Wehrmachtsdolmetscher nach Griechenland kam, ging es für mich ums eigene Überleben und oft auch um das Retten von anderen Menschen durch die vermittelnde Tätigkeit als Dolmetscher. Ich stellte mir damals keine »Grundsatzfragen«, auch angesichts der zerstörten Stadt Belgrad nicht. Ich saß im Frühjahr 1944 in Belgrad in einer Transportpause nach Athen auf einer halb zerbombten Steinstiege, blickte zur Donau hinunter und sah, wie Händler aus dem Schutt gegrabene Wertsachen verkauften. 20



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Ich hatte keinerlei Kenntnisse über den Balkankrieg, der mit der Bombardierung Belgrads 1941 unter der Leitung des späteren Chefs der Heeresgruppe E, General Alexander Löhr, eines Österreichers, begann. Er war den Verführungen Hitlers 1938 durch eine persönliche Begegnung erlegen. 1941 überwachte er persönlich die Verladung von Bomben in Flugzeuge in Aspern und Wiener Neustadt. Die wurden dann gleich zu Beginn des Krieges mit Jugoslawien über Belgrad abgeworfen. Ich sah 1944 nur die Zerstörungen, ohne näher danach zu fragen. Durch dieses Buch versuche ich nun, zu einem spät erworbenen, umfassenderen historischen Bild und meiner eigenen Rolle darin zu gelangen. Der Druck der Vergangenheit auf mich war so groß, dass ich immer wieder hochkommende Anwandlungen von Selbstrechtfertigung gegenüber Schuld erst einmal auflösen musste. Nur wer sich selber nicht mehr verteidigt, hat Chancen, frei zu werden und frei zu berichten. Der Vater eines Freundes, Prof. Pichl, den ich erst nach dem Krieg als Vortragenden in Wien hatte kennenlernen können, war aus der deutschen Wehrmacht in Griechenland desertiert. Er hatte sich in Zivil, mit einem Madonnenbild als Anhänger auf der Brust, durch den ganzen Balkan nach Wien durchgeschlagen, eine unfassbare Leistung von Sprachwissen, Klugheit und Willenskraft. Er konnte sich in Wien bis zum Kriegsende versteckt halten. Hätte ich das auch tun sollen  ? Ich versuchte es nicht. Die mir von Freunden in Athen, den Eltern von Eleni, im September 1944 angebotene Chance, mich als Deserteur zu verstecken, hatte ich bewusst nicht genutzt. Eleni hatte ich als Kurierin der Partisanen, nachdem sie festgenommen worden war, durch meine plausiblen Vorschläge an meinen Chef, Oberst Glitz, freilassen können. Mein Einfluss auf den Regimentskommandeur trug seine Früchte. Ich trennte mich nachher nicht als Deserteur von der Truppe, trotz eines großzügigen Angebots von Eleni und ihrer Familie, in Athen zu bleiben. Die Chance, einen Rückzug von Griechenland nach Österreich über den Balkan als Mitglied der Wehrmacht zu überleben, wurde von Woche zu Woche geringer. Im September 1944 rückten die Alliierten aus Frankreich bereits auf Deutschland vor. Die Kämpfe fanden im Westen bei Aachen, im Osten bei Warschau, im Süden bei Florenz statt. Der Krieg ging seinem Ende entgegen. Aber ich wollte kein Deserteur werden. Ich wollte, so empfand ich es, mich nicht auf Kosten von anderen retten. Ich hegte dabei kein Gefühl der Treue zu Deutschland und zu seinem Führer. Im Gegenteil, ich hatte solche Gefühle nie gehabt. Und ich beschrieb und begründete dies auch in meinem Buch »Überwältigung 1938« im Einzelnen (Böhlau Verlag, Wien 2008). Schon der Hitlerjugend hatte ich mich 1938 aus 21

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politischen und persönlichen Gründen entzogen. Ich fühlte mich als Österreicher und erhoffte nach dem Krieg die Wiederherstellung dieses Landes Österreich, das ich als Heimat ansah. Das »Reich« war in keiner Weise eine Heimat für mich geworden. Ich hatte mich für Großdeutschland nie begeistern können. Wie kann sich ein Mensch, der sich mit den Erlebnissen über Besatzung und Krieg in Griechenland und auf dem Balkan mitteilt, so viele Jahrzehnte später noch so genau erinnern  ? Der als jüdisches Kind aus Österreich Vertriebene, als Wissenschaftler in den USA berühmt gewordene und durch den Nobelpreis ausgezeichnete Eric Kandel (geb. 1929) erklärt dies in seinem großartigen Werk »Auf der Suche nach dem Gedächtnis«, 2006. Bei den zentralen Erinnerungen werden zu deren Schutz Gene abgeschaltet, um eine Störung der Aufnahmeprozesse des fundamentalen Langzeitgedächtnisses zu verhindern, schrieb der Gedächtnisforscher 2006. So bleibt das Wesentliche erhalten. Ich glaube, dass es auch bei mir so geschah. Schon der Philosoph George Steiner hatte geschrieben, dass wichtige Vorstellungen der Vergangenheit sich unserem Empfindungsvermögen nahezu in der Art genetischer Informationen aufprägen. Kandel konnte zeigen, dass das Langzeitgedächtnis mit seinen Grunderinnerungen sich durch besondere Synapsenbildung anatomisch festsetzt. Ich sah mich während meiner Wiener Ausbildungszeit 1942/43 zum Dolmetscher als künftigen Mittler zwischen Besatzern und Besetzten. Das war natürlich eine Illusion, die ich in meiner Zeit als Dolmetscher in Griechenland im Frühjahr 1944 vor mir hertrug, aber nach einigen Monaten, durch die Erfahrenswirklichkeit grausam belehrt, aufgeben musste. Ich versuchte dann, rückblickend gesehen, die Illusion des Vermittlers in eine andere Haltung umzubauen. Ich wollte zum Schutz der Truppe wirken, aber mit anderen Mitteln als mit der Waffe. Die Frage nach dem Recht der Anwesenheit dieser Truppe in den Ländern des Balkans und in Griechenland, die stellte ich mir damals nicht. Das waren »Vorgegebenheiten«, die ich hinzunehmen hatte. Ich war Teil einer Besatzungsmacht, nur so konnte ich handeln. Ich erkannte die Einseitigkeit meiner Rolle, aber die Verhältnisse konnte ich ja in der Realität nicht ändern. Die Verhältnisse waren eben, wie sie waren. Unter denen musste man leben. Unterwerfung oder Ausweichen waren die Bedingungen für das Überleben. Dieser Grundgedanke des Überlebens hatte schon meine späte Kindheit und meine Jugend unter dem Nationalsozialismus bestimmt, obwohl ich von den Gräueln der Konzentrationslager nichts wusste und davon erst nach dem Krieg erfuhr. Mich zu verbergen, hatte ich früh im Leben gelernt, besonders ab 1938, da ich mich versteckte, um nicht der Hitlerjugend beitreten zu müssen (hierzu das bereits genannte, im Böhlau Verlag Wien erschienene Buch »Überwältigung 1938«, 22



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S. 278 ff). Dabei half mir eine Art Bildungstätigkeit der Wiener katholischen Kirche. Ich ließ mich nicht zur nationalsozialistischen Ideologie verführen. Ich bin heute sehr dankbar, dass mir das ermöglicht wurde. Es war ein Prälat namens Rudolf, der im Rahmen der Erzdiözese in Wien Bildungsabende organisierte, z. B. mit Lesungen aus den Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke. Die Bildungsleute in der Kirche boten vorsichtig eine im Gegensatz zur real existierenden nationalsozialistischen stehende, andere Welt, in die man blicken konnte wie durch den Spalt einer nicht ganz geschlossenen Tür. In vertraulich veranstalteten Abenden prägten sich mir Rilkes Verse aus den Duineser Elegien ein. Die Ideologie der Hitlerjugend war brutal, das konnte ich sehen  ; es gab keine Religion, keine Künste. Sie war überhaupt fantasielos und banal, die Ideologie des Nationalsozialismus. Man musste, um seine Seele zu retten, in einer Alternativwelt leben, die durch Literatur, Künste und Musik der Klassik und Romantik bestimmt war. Diese Welt war mir durch das Elisabeth-Gymnasium auf der Wieden in Wien und durch Klassenkollegen aus kunstbegeisterten Familien nahegebracht und gefestigt worden. Mit diesen Grundvorstellungen und Vorlieben wurde ich gezwungenermaßen Soldat und nach eigenem Plan Dolmetscher, weil ich ja nach Griechenland strebte. So lernte ich als Soldat in Wien, aufstockend auf die im Gymnasium durch Jahre der Oberstufe erworbenen Kenntnisse des klassischen schriftlichen Griechisch der antiken Kultur, die gesprochene neugriechische Sprache, die Dimotiki. Im Grunde blieb mir dann in Griechenland, anders als ich erhofft hatte, sehr wenig Zeit und Kraft für die Begegnung mit der Antike. Es reichte gerade noch, dem Regimentskommandeur Oberst Glitz, meinem obersten Vorgesetzten, dem ich als Dolmetscher laufend zu dienen hatte, auf der Akropolis in Athen Baustile zu erklären und ihm die Göttin Athene nahezubringen, die dem Kopf des Zeus entsprungen war. Aber das war eine Sache des Verstandes, nicht das »Suchen der Seele« nach dem Satz der Romantik  : »Das Land der Griechen mit der Seele suchend«. Diese Seele war stumm und abgeschlossen und mit dem stetigen Bemühen des Überlebens und der Furcht befasst, hinterrücks ermordet zu werden, wie es meinem Freund Klaus, dem Maler, geschah, den man in einer verwinkelten Gasse eines griechischen Dorfes mit einem Messer im Rücken tot aufgefunden hatte. Dies geschah so, obwohl – oder gerade weil – er ein begeisterter Freund der Griechen war und mit ihnen in mannigfachen Freundschaften und in ihrer Sprache Umgang pflegte. Der 19-jährige romantische Gymnasiast, nämlich ich, der bekam keine Chance, sich im Suchen der Seele weiterzuentwickeln. Die Jugend wurde er23

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würgt vom Krieg, dessen Grauen, Ängsten und Bedrohungen. Es gab kaum ein Suchen nach Schönheit. Sicherheit wurde das oberste Ziel, bis zum Mai 1945 und danach auch noch im besetzen Österreich. Das war mein Leben, über dessen Erfahrungen ich hier, wie auf einer Schautafel, zu berichten suche. In gewisser Weise suche ich in meinem Buch durch die Erinnerung Erlebnisse aufzuschlüsseln und sie auszubreiten, wodurch eine »epidosis tou heautou«, eine Hinzufügung zu sich selbst, entsteht. Aristoteles sah dieses »Hinzufügen« zu sich selbst für die Entwicklung des Menschen als notwendig an. »Erinnert wird Vergangenheit nur, wo sie gebraucht wird«, schreibt Jan Assmann in seinem Werk über das, was er das »Kulturelle Gedächtnis« nennt (Beck’sche Reihe, 5. Auflage, München 2005). Dazu muss die Erinnerung allerdings mit Sinn und Bedeutung hervortreten können. Erinnerung vermag zu erwecken, dazu wird sie hier in diesem Buch gebraucht. Diese »Erweckung« soll zu Besinnungs-Gewinnen führen, zur Verbesserung der Einsicht in den eigenen Lebenssinn. Das ist vielleicht die bedeutendste Aufgabe der Erinnerung, nämlich im Prozess der persönlichen wie der kulturellen Selbsterweiterung (»Epi-dosis«)neue Erkenntnisse und damit Elemente ins eigene Leben einzubringen. Sinn hat in der Tat etwas Erlösendes. Das hatte schon Viktor Frankl verstanden und beschrieben. Sinn ist ein das Leben korrigierendes und in dessen Beengungen rettendes Element. Aber es sollte auch gelebt werden. Wie gewann man 1945, nach der Katastrophe des Zusammenbruchs, die gleichzeitig Befreiung war, die Kraft dazu  ? Ich musste noch ein halbes Jahrhundert darauf warten. Nach dem Kriegsende 1945 verloren in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft über 50.000 ehemalige deutsche Soldaten, die aus Osteuropa flüchteten, ihr Leben (Erich Schmidt-Rechberg, Der Endkampf auf dem Balkan, Kurt Vowinckel Verlag, Heidelberg 1955, S. 159). Mit welchem »Recht« waren jedoch diese unglücklich ums Leben gekommenen, nach 1945 teils ermordeten ehemaligen Soldaten, überhaupt in die Länder des Balkans und nach Griechenland eingedrungen  ? Der Krieg im Südosten, der 1941 begonnen hatte, sollte Mussolinis Vorhaben, Griechenland zu erobern, unterstützen. Er hatte mit seinen Soldaten allein sein Ziel nicht erreichen können. Hitlers Soldaten sollten ihn dabei unterstützen. Der Vorstoß in den Balkan diente der deutschen Führung allerdings auch zur Vorbereitung und Absicherung des wahnhaft geplanten und ideologisch fixierten Raubkriegs gegen die Sowjetunion, der wenige Monate später begann. Dieser Russland-Krieg gehörte, wenn ich auch physisch an ihm nicht teilnahm, zu einer tief greifenden persönlichen Erinnerung. So lebte ich mit der Kennt24



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nisnahme der einzelnen Phasen der Schlacht um Stalingrad durch streng verbotenes Abhören des sowjetischen Radios 1942–1943 in einem Eck hinter dem großen Ofen der elterlichen Wohnung im 10. Wiener Gemeindebezirk. Im Sommer 1943, da war Stalingrad schon gefallen und der Rückzug der deutschen Armeen in Russland hatte weiträumig begonnen, rückte ich im Rahmen einer Einberufung zur deutschen Wehrmacht in die Wiener Roßauer-Kaserne zur Wiener Dolmetscherkompanie ein. Das Ziel war vorerst eine militärische Grundausbildung, z. B. in der Handhabung von Waffen. Ich erhielt auch eine wenig brauchbare Schulung als Übersetzer und Dolmetscher für Englisch, Französisch und Neugriechisch. Ich musste mir diese Kompetenzen selber erarbeiten. Und ich tat dies auch und legte Prüfungen darüber ab. Für mich war die erwünschte und mit allen Mitteln erstrebte Rolle als Dolmetscher in Griechenland eine Alternative zur Teilnahme am grausamen und mörderischen Russlandkrieg. Diese Rolle als Griechischdolmetscher strebte ich durch den Erwerb spezieller Kenntnisse des Neugriechischen in Wort und Schrift an. Mich zu verstecken, um mich so dem Wehrdienst zu entziehen, erwog ich nicht. Die wenigen Männer, die dies gewagt hatten, wurden meist aufgefunden und hingerichtet. Außerdem hätte ich durch einen solchen Versuch meinen Vater gefährdet, der als österreichischer Reserveoffizier des Ersten Weltkriegs im August 1939 zur deutschen Wehrmacht hatte einrücken müssen. Er tat bei einem Generalstab in Wien Dienst. So wurde ich schließlich nach einer sogenannten militärischen Grundausbildung bei der Dolmetscherkompanie in Wien in die Wiener AuslandsbriefPrüfstelle (ABP) abkommandiert. Dort tat ich den Dienst eines Lesers der in verschiedenen Sprachen abgefassten und behördlich geöffneten Briefe mit Blick auf darin enthaltene militärisch wichtige Informationen. Dann wurde ich im März 1944 nach Griechenland abkommandiert. So wurde der Dienst in Griechenland und in der Folge auf dem Balkan mein Schicksal. Der jugoslawischen Kriegsgefangenschaft entging ich im Mai 1945, als ich mit einem Freund aus einem von Partisanen eingerichteten jugoslawischen Gefangenenlager ausbrach. Angetrieben wurden wir von Gerüchten über mörderische Haftbedingungen und Transporte, um in jugoslawischen Bergwerken zu arbeiten. Die Gerüchte hatten sich im gerade entstehenden, von Partisanen organisierten Lager verbreitet  ; sie wurden später teils durch schriftliche Berichte historisch bestätigt. Die Gerüchte waren ein zusätzliches Motiv für meine Flucht. Ich riskierte wenige Tage nach Kriegsende noch einmal mein Leben durch diese Flucht aus dem slowenischen Lager beim Wechsel der Bewachungsmannschaft. 25

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Vonseiten der gerade gefangen genommenen Soldaten der ehemaligen Wehrmacht war es zu keinem organisierten Ausbruch aus dem noch nicht mit Stacheldraht umzäunten Lager gekommen. Eine gezielte Überwältigung der kleinen, vorwiegend aus slowenischen Partisanen bestehenden Wachmannschaften wäre im Zuge einer massenhaften Flucht den Gefangenen auch ohne Waffen gelungen. Aber es gab keine Planer, keine, die der Lethargie und körperlichen Erschöpfung nach endlosen Märschen und dem Sich-Fallenlassen ins Ungewisse getrotzt und eine gemeinsame Flucht organisiert hätten. So wagten Freund Kostas und ich das Entkommen als Einzelne unter zu erwartendem Beschuss der Wachmannschaften durch Maschinengewehre. Es war ein Wettrennen mit dem Tod, auf das wir uns einzulassen entschlossen hatten. Die intensiven Gefühlsbezüge auf Erlebnisse, das Zurücksteigen in eine aufwühlende Vergangenheit zwei Drittel eines Jahrhunderts später, brachten mir viele Erkenntnisse. Sie ließen mich die persönliche Erinnerung als einen zentralen emotionalen Beteiligungsprozess an der Vergangenheit erkennen und fühlen. Es kam zu der schon von Aristoteles erkannten »epidosis tou heautou«, einer Selbsterweiterung. Ich habe diesen Erweiterungsprozess als Weg der Wahrheitsfindung zu gehen versucht. Das Studium von Landkartenmaterial und die Heranziehung eines kleinen, immer in einem Täschchen an der Brust mit mir getragenen eigenen Tagebuchs 1944–1945 stärkten und klärten meine Erinnerung. Ich vermochte die persönlichen Erfahrungen zeitlich und räumlich zu überprüfen. Ich war bestrebt, den Charakter der Dokumentation in meiner Selbstbiografie als Schilderung meiner Erlebnisse als junger Mensch so stark wie möglich auszuprägen. Was hier vorliegt, ist kein Roman und grenzt sich auch davon ab. Ich glaubte zu erkennen, dass emotionale Beteiligung an der eigenen Vergangenheit und kritische Selbstüberprüfung einander nicht ausschließen. Das war für mich eine wichtige Einsicht. Diese Kombination erfordert freilich Mühe, und sie verlangt die Erstellung von Zusammenhängen unter Kontrolle der Grundabsicht der Wahrheitsfindung. Das Ergebnis dieses Prozesses liegt in diesem Buch vor. Als besonders wichtig erwies sich für mich die gewissenhafte Arbeit von Schmidt-Rechberg, »Das Ende auf dem Balkan«, Kurt Vowinckel Verlag, Heidelberg 1955. Aufschlussreich fand ich auch das Werk von Erwin Pitsch, »Alexander Löhr, Bd. 3, Heerführer auf dem Balkan«, Österreichischer Milizverlag, Salzburg 2009. Das Buch von Pitsch half mir durch Detailaufzeichnungen bei der Prüfung meiner eigenen Eintragungen ins Tagebuch. Ich fühle mich diesen Autoren zu Dank verpflichtet. 26

1. Abfahrt in den »Einsatz«

»So spät kommst du  !«, sagte meine Mutter, als ich in voller Uniform zur Tür hereinkam. Das war laut meinem Tagebuch am 8. März 1944. Ich antwortete nicht. »Du weißt doch, dass du morgen fährst«, setzte meine Mutter fort. »Ich weiß es«, sagte ich, betont nüchtern und irgendwie Gleichgültigkeit ausdrückend. Ich war damals gerade 19 Jahre alt geworden. Vielleicht war ich im Moment der fordernden Frage meiner Mutter auch dem Kommenden gegenüber gleichgültig. Mein Vater, selber Soldat, ja Offizier, und sie, sie wussten es, dass ich demnächst, wie der Ausdruck lautete, »in den Einsatz gehen« würde. Woher also die Aufregung  ? Bei meiner Mutter rührte sie mit größter Wahrscheinlichkeit daher, dass ich noch nichts gepackt hatte. Unvorbereitet in eine Situation zu gehen, das war für meine Mutter unerträglich. Dass ich meine Ausrüstung, die ich im Zimmer, das ich zusammen mit meinem Bruder bewohnte, noch nicht zusammengepackt hatte, und dies am Abend vor dem Beginn des Einsatzes am kommenden Vormittag, das konnte meine Mutter nicht verstehen oder gar akzeptieren. In ihrem Geschäft im selben Haus, in dem wir wohnten, musste am Abend immer wieder alles aufgeräumt werden – besonders die Stoffballen –, bevor sie abends das Geschäft verließ. Im Stillen gewann ich den Eindruck, dass sie an meinem Mangel an Vorbereitung mehr litt als daran, dass der Sohn, ihr Sohn, morgen ins Unbekannte und Unabschätzbare auf unbestimmte Zeit, nämlich in den Krieg, verschwinden würde. Aber auch dieser Eindruck beschäftigte mich kaum, weniger jedenfalls als die zu erwartenden Vorwürfe meines strengen Vaters, wenn er von seiner militärischen Dienststelle im Dritten Wiener Gemeindebezirk in der Metternichgasse in unsere Wohnung im 10. Bezirk heimkehren würde. Wir beide, er als Hauptmann der Reserve und ich als Wehrmachtsdolmetscher auf dem niedrigsten Dienstgrad als »Schütze«, hatten ganz unabhängig voneinander die sogenannte Heimschläfer-Bewilligung erhalten. Das bedeutete, dass wir nicht gezwungen waren, in einer Kaserne oder in einer Dienststelle zu nächtigen, sondern die Nacht zu Hause verbringen durften, allerdings am nächsten Morgen pünktlich zum Dienst zu erscheinen hatten. Meinem Vater war dieses Privileg als Adjutant eines wichtigen Generals erteilt worden, mir wegen der anstrengenden Ar29

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beit der Kontrolle von Texten in fremden Sprachen im Rahmen der damaligen »Auslands-Briefprüfstelle« (ABP). Nun war ich also in der genehmigten Nächtigungsstelle, nämlich der Wohnung der Eltern, eingetroffen, um das Marschgepäck ordnungsgemäß für den nächsten Morgen vorzubereiten. Warum war es so spät geworden  ? Die Dunkelheit war schon aufgezogen, und ich war müde. Ich war nicht nur müde, sondern auch von einer stumpfen Traurigkeit erfasst. Ich hatte alle praktischen Arbeiten in den Hintergrund gedrängt, weil ich mir die Zeit nahm, mich von Nina zu verabschieden. Ich fühlte in diesen Märztagen 1944, dass der Abschied von Nina etwas Endgültiges hatte. Ich würde sie nie mehr wiedersehen, noch jemals irgendetwas von ihr hören. Diese traurige Erwartung sollte sich bewähren. Ich habe von Nina Spouv nie mehr das Geringste erfahren, bis zum heutigen Tag nicht. »Warum bist du so spät gekommen  ?« – »Weil ich mich von Nina verabschieden musste.« Hätte ich das gesagt, wäre meine Mutter höchst erstaunt gewesen, denn sie wusste oder ahnte nichts von Nina. Die junge Frau, etwa altersgleich mit mir, dem damals Achtzehnjährigen, war vor einem halben Jahr meine Arbeitskollegin geworden. Wir saßen an derselben lang gestreckten Tafel, an der etwa 20 Personen das meist ziemlich eintönige Geschäft der kontrollweisen Brieflektüre zu verrichten hatten. Es war unsere Aufgabe, Briefsendungen zu prüfen, die von der Post als auffallende Stücke vorerst zurückgehalten, dann an uns, die Auslands-Briefprüfstelle, ABP, weitergeleitet worden waren. Die Poststücke wurden nach einer Prüfung auf Sprengstoff von den Prüferinnen und Prüfern vorsichtig geöffnet, in den verschiedenen Sprachen gelesen und je nach Befund meist als militärisch unerheblich klassifiziert, mit dem Siegel der amtlichen Kontrolle versehen und zur Weitersendung durch unsere Poststelle wieder verschlossen. Was immer als erheblich beurteilt wurde, z. B. Nachrichten über feindliche Militärtransporte oder Bewegungen feindlicher Truppen oder über zu befürchtende Angriffe von Partisanen und Freiheitskämpfern, musste der hierfür besonders qualifizierten Analyse-Stelle der ABP, allenfalls mit kurzen eigenen Vermerken, weitergeleitet werden. Unter 100 Briefen waren es jeweils ein bis zwei Briefe, die ich an die AnalyseStelle im Hause weiterleitete. Die Mehrzahl der Briefe, die ich las, war in neugriechischer Sprache und dabei in der Umgangssprache, der Dimotiki, verfasst. Die am selben Tisch sitzende Nina war Dolmetscherin und qualifizierte Leserin für Russisch. Sie selber war Russin, Tochter eines sogenannten wolgadeutschen Vaters und einer russischen Mutter. 30

Abfahrt in den »Einsatz«

Die Wolgadeutschen hatten im Zweiten Weltkrieg, aufgewachsen als Sowjetbürger der unteren oder der mittleren sozialen Schichten, kein Problem damit, bei den sowjetischen Streitkräften Kriegsdienst im Kampf gegen die Deutsche Wehrmacht zu leisten. So war auch Ninas wolgadeutscher Vater sowjetischer Soldat geworden und diente in einer Einheit, die sich östlich der von den Deutschen nach schwersten Kämpfen eroberten Halbinsel Krim 1941/42 nach Osten zurückzog – wohin, das wusste natürlich die Familie nicht, und sie sprach auch nicht davon, wie mir Nina erklärte. Der Vater stammte aus der Nähe von Rostow. Die Herkunftsfamilie des Vaters war schon seit über hundert Jahren dort ansässig gewesen. Er hatte erst als Kind in der Schule mühsam Russisch gelernt, war dann als Wagner Handwerker geworden, schließlich Automechaniker. Wegen seiner Genauigkeit und Verlässlichkeit war der Vater, wie auch sonst die Wolgadeutschen, als kleine Gruppe in Russland, für ihre technischen Kenntnisse und ihre Verlässlichkeit außerordentlich geschätzt worden. Nina erzählte mir von der schrecklichen Abschiedsszene, als ihr Vater mit seiner sowjetischen Einheit durch das Dorf in der Nähe von Mariapul, wo er zusammen mit der Familie gelebt hatte, nach Osten weiterziehen musste. Seine Einheit war auf der Flucht vor der massiv von Panzern unterstützten Infanterie der Deutschen Wehrmacht, die nach der Eroberung der Krim nach Osten an die Wolga drängte. Nina erzählte mir auch, wie sich die Angst vor den Soldaten der Wehrmacht im Dorf ausgebreitet hatte. Die Frauen, alle Russinnen, fürchteten, vergewaltigt zu werden. Was die deutschen Soldaten mit Sicherheit taten, das war, dass sie alles nach Nahrungsmittel durchstöberten, die Kartoffeln aus dem Keller holten, brieten und mit russischen Vokabeln Brot und Schmalz von der Zivilbevölkerung forderten. Wodka gab es ohnehin keinen mehr, den hatten die sowjetischen Soldaten schon ausgetrunken oder mitgenommen, ehe sie abgezogen waren. Aber die deutschen Soldaten gaben deutlich zu verstehen, dass sie die Eroberer waren. Sie hätten den Frauen zwar keine Gewalt angetan, sagte Nina, aber sie grob herumgestoßen, wenn sie von ihnen nichts zu essen bekamen, besonders das Fleisch nicht, das sie forderten. So sei auch sie, Nina, so gestoßen worden, dass sie zu Boden fiel. Da sei ihr auf Deutsch eine massive Verwünschung der Eroberer herausgerutscht. Aber ein junger deutscher Feldwebel, für das Verhalten der Gruppe der neuen Besatzer verantwortlich, die in ihrem Haus einquartiert worden war, hatte die zu seiner Überraschung deutsch gesprochenen Worte gehört. So setzte er auf Deutsch einige fragende Worte nach. Nina, so erzählte sie mir, sei von der sanften Art des 31

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Feldwebels sehr beeindruckt gewesen, sodass sie ihm auch erzählte, wo und wie sie ihr Deutsch gelernt hatte, nämlich als Kind von ihrem Vater. Die Überraschung war perfekt, und daraus erwuchs, ganz unerwartet, wechselseitige Sympathie, gekoppelt mit großer Zurückhaltung beiderseits. Dazu kam dann, dass die Einheit, welcher der Feldwebel angehörte, nicht mit der Mehrheit der deutschen Truppe in Verfolgung der russischen Regimenter weiter nach Osten zog, sondern als kleine Einheit zur Streckensicherung der Bahn den Befehl zum Verbleiben in Mariapul erhielt. Nina habe es verstanden, zur deutschen Feldküche hinzu Nahrung so aufzubereiten, dass ihr die Herzen der Soldaten zuflogen. Natürlich war die mit Selbstverständlichkeit benützte gemeinsame deutsche Sprache ein Boden, auf dem die Sympathien gedeihen konnten. Zwischen Nina und dem Feldwebel gedieh mehr als dies, sodass er von der Verwaltung der Truppe schon nach kurzer Zeit die Erlaubnis erhielt, im nächsten Urlaub Nina mit sich zu nehmen, um sie in seiner Heimat, in Wien, auch zu heiraten. Das alles geschah und schien rosig zu sein, bis zu dem Moment, da der junge Feldwebel nach der Heirat und nach dem Urlaub in Wien, wieder zur Truppe zurückkehren musste. Nina ließ er bei der Schwiegermutter allein in der für sie fremden Stadt zurück. Die Schwiegermutter sah ihre Aufgabe darin, Nina auf Schritt und Tritt zu bewachen. Sie befürchtete, dass die anziehende und fremdartige junge Frau sich nicht aus eigener Kraft gegen das ungestüme männliche Werben in Wien würde behaupten können. Die intensive Sorge und Bewachung durch die Schwiegermutter trieb Nina dazu, durch eine berufliche Arbeit Distanz von ihr zu suchen. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse wurde sie, nach sorgfältigen Prüfungen und Nachforschungen über ihre Herkunft, schließlich in die Auslands-Briefprüfstelle aufgenommen und konnte sich dort rasch auch gut bewähren. An einem der langen Tische mit meist über zehn Leserinnen und Lesern auf jeder Seite kam Nina zu sitzen. Sie hatte dort schon einen Platz einer Brief-Prüferin gefunden, als ich, geprüfter Dolmetscher und Soldat, als Neuankömmling dem Tisch zugeordnet wurde, an dem sich auch Ninas Platz befand. Der Tischvorsitzende war ein betagter weißbärtiger ukrainischer Geistlicher der orthodoxen Kirche. Er war mit seiner Familie noch vor Kriegsbeginn aus der Ukraine nach Westen geflohen. Er strahlte sehr viel Ruhe für alle seine meist um Jahrzehnte jüngeren Untergebenen durch Bestimmtheit, aber auch väterliches Verständnis aus. Manchmal wandte man sich auch um Entscheidungshilfe an ihn, ob man eine Zeile oder ein Wort eines Briefes zur Spezialprüfung in die Analyse-Stelle der ABP weiterleiten sollte oder nicht. Der alte Priester hieß Hornykiewicz. Er war ein nicht nur in Religionsfragen hochgebildeter Mann, 32

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sondern auch eine Persönlichkeit, die sich mit einer Mischung von menschlicher Einfühlung und strenger Autorität in dem Kulturgemisch seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, den prüfenden Leserinnen und Lesern durchzusetzen verstand. Man vertraute ihm. Im Saal, dem größten Raum der früheren österreichischen Produktenbörse in der Taborstraße, waren meist auch sogenannte Aufsichtsoffiziere tätig. Als Wehrmachtsangehörige trugen sie volle Uniform und waren bewaffnet. Die jungen, aber nicht voll kriegstauglichen Offiziere waren eindrucksvoll und konnten sich bei der multinationalen weiblichen Belegschaft großer Beliebtheit erfreuen. Der mir persönlich am nächsten stehende Aufsichtsoffizier war ein älterer Hauptmann, ein Reserveoffizier aus dem Ersten Weltkrieg der ehemaligen österreichisch-ungarischen k. u. k. Armee namens Wotke. Er hatte nunmehr keine im engeren Sinn militärische Rolle zu spielen, sondern die einer hochrangigen sprachkundigen Aufsichtsperson. Der Zufall wollte es, dass dieser Offizier im Zivilleben Professor für Latein und Griechisch am Elisabeth-Gymnasium im 4. Wiener Gemeindebezirk gewesen war. Ich hatte ihn dort als Schüler in einer seiner Klassen erlebt. In seiner zivilen Zeit hatte Hauptmann Wotke als Gymnasialprofessor jährlich in den Ferien Schülergruppen nach Griechenland geführt, um ihnen auf diesen Gruppenreisen die bedeutenden Denkmäler der antiken Baukunst und der Skulpturen nahezubringen. Für diese seine Tätigkeit als pädagogischer Reiseführer erwarb er sich auf der Basis des ihm vertrauten Altgriechisch, das er in der Schule unterrichtete, gute Kenntnisse des Neugriechischen. So konnte er sich im vollen Sinn als Reise-Verantwortlicher bewähren, Kontakte in Griechenland herstellen und die Schüler auf ihre von ihm begleitete Kulturreise schon gegen Ende des Schuljahres vorbereiten. Prof. Wotke vermochte seinen Schülern zum Kulturstudium auch Einblicke ins historische griechische Alltagsleben und besonders in den Sportbetrieb der historischen Zeit der Antike zu geben. So genoss er bei den Jungen hohes Ansehen. Als ich nach einer elementaren Einführungsprüfung ins Neugriechische von der Dolmetscherkompanie in der Wiener Roßauer-Kaserne in die AuslandsBriefprüfstelle (ABP) abkommandiert wurde, traf ich zur größten Überraschung meinen ehemaligen Gymnasialprofessor als Aufsichtsoffizier dort wieder. Als er mich sah, verlangte er sofort von mir, ihn in sein Dienstzimmer zu begleiten. Dort forderte er mich auf, durch intensives Weiterstudium des Neugriechischen eine höhere Qualifikation zu erlangen und auch eine Prüfung darüber abzulegen. Er werde mir täglich Aufgaben geben, die ich nach Dienstschluss zu bewältigen und ihm am jeweils folgenden Tag vorzulegen hätte. Das würde mich 33

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bestimmt befähigen, einen höheren Qualifikationsgrad durch eine Prüfung bei den Lehrern der Dolmetscherkompanie Wien zu erreichen. Dies könnte mir auch einen besseren Posten im Einsatz in Griechenland bringen. Damit begann ein merkwürdiges, aber sehr schönes dienstliches Verhältnis zwischen uns beiden, welches sich nach dem Krieg, den wir beide überlebten, im Studium von Geschichte und Kultur der Antike fortsetzen sollte. Der Hauptmann kam jeden Morgen bald nach Arbeitsbeginn zu meinem Tisch, um meine Aufgaben von mir abzuholen. Ich hatte natürlich stramm vor ihm zu stehen und die Blätter zu überreichen. Dabei sprach ich ihn nach der Regel stets mit »Herr Hauptmann« an, während er mich, so wie früher in der Schule, bei meinem wienerisch zurechtgestutzten Vornamen »Poldi« nannte. Dank der Regelmäßigkeit der Aufgaben und der vom Hauptmann mir gegenüber entfalteten Pädagogik kam ich tatsächlich gut voran. Ich machte dank seiner Hilfe und Kontrolle Fortschritte im Neugriechischen. Das Studium, das ich nun zusätzlich zu meiner Lese-Arbeit am Tisch der ABP zu leisten hatte, hinderte mich jedoch nicht, die Menschen, vor allem diejenigen, die am selben Tisch arbeiteten, kennenzulernen. Darunter war auch eine Frau mittleren Alters, die als Garderobefrau am Burgtheater gearbeitet hatte. Die Wartezeit zwischen der Entgegennahme der Kleider des Publikums vor der Vorstellung und deren Ausfolgung an das Publikum nach der Vorstellung, hatte sie täglich benutzt, um Japanisch zu lernen. Nun war sie ein begehrtes Mitglied der Briefprüfung geworden, auch für die Kolleginnen und Kollegen, denen sie viel aus der japanischen Kultur und Geschichte zu erzählen wusste. Bei den männlichen Mitgliedern des Prüfpersonals, Zivilisten wie Soldaten, war allerdings eine junge Polin besonders beliebt, die neben ihrer Arbeit als Prüferin auch eine Tanzausbildung absolvierte. Sie bewegte sich auch in den Pausen von einem Tisch zum anderen geradezu schwebend. Und überall erntete sie anerkennende Bewunderung. Ganz anders benahm sich die junge Russin Nina, die sich in den Pausen kaum von ihrem Arbeitstisch entfernte. Die stille Person gefiel mir. Es dauerte eine Zeit, bis ich den Mut fasste, sie in einer Arbeitspause anzusprechen. In gewisser Weise war sie das Gegenteil zu der Polin, die man gar nicht anzusprechen brauchte, da sie dies ohnehin schon von sich aus tat. Die Polin war schon während des Kriegs in ihrer Heimat im Jahre 1939 gemeinsam mit ihrer Schwester nach Österreich geflohen. Sie hatte sich auch zuerst als Schneiderin durchgebracht, ehe sie nach der Ablegung von Sprachprüfungen Aufnahme als BriefPrüferin der ABP fand. Sie schwärmte besonders für einen jungen Kameraden, der an meinem Tisch arbeitete, ja sie belagerte ihn geradezu mit ihrer tänzerisch 34

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ausgedrückten Sympathie, die er aber nicht in der von ihr erwarteten Weise erwiderte. In dieser Welt also traf ich Nina. Sie war wesentlich kleiner und keineswegs so beweglich wie die Polin. Nina sprach fließend Deutsch, ohne die geringsten grammatikalischen Fehler. Ein kaum spürbarer russischer Akzent trug noch zum Charme ihrer fantasievollen sprachlichen Ausdrucksweise bei. Ich wollte mehr von ihrem Leben wissen, und in einer Arbeitspause fragte ich sie einmal, ob ich sie auch außerhalb der ABP bei Gelegenheit treffen dürfe. Sie sagte, dass dies für sie schwierig sei und dass sie darüber nachdenken müsse. Als ich ihr das zweite Mal meine Bitte vortrug, sagte sie mir, dass ihre Schwiegermutter es ihr verboten habe, außerhalb der ABP Menschen zu treffen. Schließlich kam es, nach Vorsichtsmaßnahmen, doch zu einem langen Gespräch zwischen ihr und mir in einem kleinen Café in der Inneren Stadt. Sie berichtete von ihrem Leben in Russland und von dem enormen und schwierigen Wechsel ihres Lebens durch ihre Heirat des Feldwebels und ihre Übersiedlung nach Wien. Ich glaubte zu fühlen, dass sie über ihre Entscheidung, einem vor kurzem noch fremden Mann voll und ganz in dessen Welt gefolgt zu sein, doch nicht eigentlich glücklich war. Dazu kam die Angst vor der Schwiegermutter, die Nina wie eine Gefangene beaufsichtigte. Nina suchte mir zu erklären, wie es ihr nur unter größten Vorsichtsmaßnahmen gelungen war, sich mit mir zu treffen. Ein ganzes Gebäude von Lügen hatte sie errichten müssen, um diese Zusammenkunft zu ermöglichen. Ich fragte mich schließlich selber, warum sie es getan hatte. Sie fühlte sich offensichtlich so alleingelassen, dass sie einen Menschen kurzfristig an sich heranließ, von dem sie glaubte, sich ihm gefahrlos mitteilen zu können. Und was an mir lag, so hätte ich ja alles getan, um ihr keine neue Last aufzuerlegen. Mich verwunderte allerdings Ninas so rasch gefasstes Vertrauen mir gegenüber. Ich unternahm alles in meiner Macht Stehende, um eine in mir sich entwickelnde, gleichsam natürliche Zuneigung ihr gegenüber zu verbergen. Aber sie musste diese Zuneigung, die ohne äußere Zeichen blieb, irgendwie gefühlt haben. Denn es kam doch immer wieder zu heimlichen Treffen in einem Park oder in einer der damaligen Stadtbahnstationen, mit kontrollierenden Blicken links und rechts, ob ihr nicht doch die Schwiegermutter bis hierher gefolgt war. Wir blieben unentdeckt. Aber was wäre denn zu entdecken gewesen  ? Es gab keine Zärtlichkeiten im öffentlichen Raum und auch sonst nirgendwo. Ein einziges Mal, kurz nachdem sie ihre Befindlichkeit durch ausbleibende Feldpostbriefe ihres Mannes, ihre volle eigene Ungewissheit über seine und ihre Zukunft und die quälende Neugier der Schwiegermutter wieder beschrieben hatte, ver35

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abschiedete sie sich bei der Einfahrt des Zuges von mir. Da umarmte ich sie wortlos für einen Augenblick, um meine Anteilnahme und Zuneigung auszudrücken. Sie stieg in den Zug ein und verschwand. In der ABP am nächsten Tag lief alles weiter wie bisher, ich wagte nichts zu sagen. Es wurde über den zu erwartenden Verlauf des Krieges gesprochen – auch dies leise und heimlich in einer Ecke des Saales während einer Pause. Irgendwann, in einem kleinen Park nach Dienstschluss, kam es in der winterlichen Dunkelheit doch wieder zu einem Gespräch. Sie sprach ganz offen von ihrem Unglück und der unüberwindbaren Fremdheit, in der sie sich befände. Da sagte ich ihr, um es endlich auszusprechen, dass sie mir sehr gut gefiele und dass ich Liebe für sie empfände. Dann umarmte ich sie wieder und küsste sie auf beide Wangen. Sie blieb noch einen Augenblick wortlos stehen, dann lief sie die Stiege hinunter zu einem Zug. Sie hatte mich gewähren lassen, aber kein Wort gesprochen. Am nächsten Tag kam sie nicht in die ABP und auch am darauffolgenden Tag nicht. Ich erkundigte mich beim Tischvorsitzenden Hornykiewicz, der mir sagte, dass sie krank gemeldet worden sei. Nach ihrer Wiederkehr in die Arbeit verhielt ich mich ihr gegenüber noch zurückhaltender als vorher. Als ich in der Pause ein Gespräch mit ihr suchte, sagte sie mir traurig, dass wir uns in Zukunft nicht mehr würden sehen können. Ihre Schwiegermutter habe Verdacht geschöpft und sei mit einem Holzscheit auf sie losgegangen, um sie zu schlagen. Sie habe sich aber einem richtigen Kampf durch Flucht auf die Straße entzogen. Sie wisse nicht, wie lange sie ein solches Leben noch würde ertragen können. Ihrem Mann an der Front könne sie darüber doch nicht schreiben. Ich war bestürzt über das Schicksal, das sich da vor mir öffnete. Ich wollte alles tun, um sie zu schonen. Ich würde auch – um ihretwillen – auf meine Liebe ganz verzichten, so dachte ich. Wenige Stunden später erreichte mich der schriftliche Befehl zum Einsatz und Abmarsch in den Osten am übernächsten Tag. Ich hatte mich mit meinem gesamten Marschgepäck auf dem Wiener Ostbahnhof zu einer bestimmten Stunde für einen bestimmten Transportzug einzufinden. Das war also die vorgesehene Abfahrt nach Griechenland. Ich bat Nina, am nächsten Tag am Abend mich in einer Stadtbahnstation zu treffen – »zum letzten Mal«, sagte ich so trocken ich konnte, obwohl mir zum Weinen zumute war und mir der Schmerz den Hals zudrückte. Zum allerletzten Mal hatte ich sagen wollen, aber das vermochte ich doch nicht auszusprechen, obwohl ich geradezu sicher war, dass wir uns nie mehr im Leben sehen würden. Nina ist nur in meiner Erinnerung, und dies deutlich, gegenwärtig. 36

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Ich wollte für dieses Abschiedstreffen im unterirdischen Teil einer bestimmten Stadtbahnstation warten, um die Gefahr zu vermeiden, von ihrer Schwiegermutter entdeckt zu werden. Sie sagte die Stunde und den Ort zu, und wir trafen uns. Ich suchte ihr, so gut ich konnte, Mut zu machen, sie solle in der ABP Unterstützung verlangen, eine eigene Wohnung zu finden. Sie solle sich dem Tischvorsitzenden, dem ukrainischen Geistlichen, anvertrauen. Niemand kannte ja am Arbeitsplatz ihr Schicksal. Da brachen bei ihr die Tränen hervor. Ich zog sie an mich und umarmte sie. Ich hatte meinerseits nun das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Denn das Gefühl, sie lieben zu dürfen, war eine große Stütze in meiner Einsamkeit geworden. Die Erwartung quälte mich, dass ich sie nie mehr im Leben wiedersehen würde. Ich weiß bis heute nicht, was mich damals so sehr zu Nina hinzog. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, bei ihr Sympathie zu gewinnen. Sie war ja eine verheiratete Frau, und dies unter denkbar schwierigen Bedingungen. Mir war klar, dass ich ihr keine Feldpostbriefe würde schreiben können. Die Beziehung zerriss im Augenblick, da ich einsehen musste, dass es keine Zukunft für uns beide geben konnte. Das war so traurig für mich, dass mir dunkel vor den Augen wurde. Alles, was ich tun konnte, war, dass ich sie wie in einer Auflehnung gegen das Schicksal erneut an mich presste und ihre Wangen küsste. Dann gab ich sie frei. Sie riss sich los und rannte die Treppe hinauf, in Sprüngen, wie ein flüchtendes Tier im Wald. Sie drehte sich auch nicht mehr um. Es gab keinen Abschiedsblick. Bei mir flossen die Tränen. Ich fühlte mich völlig allein vor dem vor mir liegenden Weg ins Unbekannte. »So spät kommst Du  !«, hatte meine Mutter gesagt, als ich eine halbe Stunde nach der Verabschiedung von Nina zu Hause eintraf, um mein Gepäck für den Einsatz zusammenzubauen. Als Rekrut hatte ich es einmal gezeigt bekommen, aber nicht in Erinnerung behalten, sodass ich nun nicht dazu imstande war. Der Tornister war ein oben mit Fell bezogener, relativ kleiner, steifer viereckiger Sack mit Riemen für die Anbauten. Das alles war mir so fremd, dass ich fürchtete, damit nicht zu Rande zu kommen. In diesem Moment erschien mein Vater. Er kam am Abschiedsabend offenbar etwas früher von seiner Dienststelle nach Hause. Ich fürchtete, von Vorwürfen überschüttet zu werden, vor allem deswegen, weil ich noch gar nicht begonnen hatte, die Gepäckstücke zu ordnen. Entgegen meinen Erwartungen blieb dies aus. Der Vater schlug vor, alles, was ich mitzunehmen hatte, am Boden unseres größten Zimmers einfach aufzulegen. Ich folgte diesem Rat und schleppte Waffen und Munition heran, aber auch Wäsche, Sanitätssäckchen mit Verbandsmaterial und dergleichen. Dann begann mein Vater alles so zu ordnen, dass man 37

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sich schon vorstellen konnte, wie es aufgebaut werden sollte. Ich war erstaunt darüber, wie genau er das wusste, gleichzeitig aber auch beschämt davon, dass ich so hilflos war. Nach einer guten halben Stunde hatte mein Vater alles ordnungsgemäß nach Vorschrift gepackt. Der Tornister samt seinen Aufbauten, der Karabiner, der Stahlhelm und die Gasmaske standen hinter der Eingangstür unserer Wohnung, und der Gürtel mit der Munition, den ich anzuschnallen hatte, lag daneben. Ich musste also am nächsten Morgen alles nur noch befestigen, um nach Vorschrift voll marschfähig zu sein. Ich habe mich bei meinem Vater damals nicht, und auch später nicht, für seine Hilfe bedankt. Ich bedauere dies heute. Mein Dank an ihn hier soll eine Art Nachruf sein. Als ich mir nach einer unruhig verbrachten Nacht am nächsten Morgen die Gepäckstücke auflud, betrachtete mich meine Mutter, um mich zu verabschieden. »Er ist ja noch so ein Kind«, sagte sie. Dabei blickte sie seitlich zu meinem Vater hin, der seine Uniform anzog, um mich vor dem Weg zu seiner Dienststelle auf den Ostbahnhof zu meinem Zug zu begleiten. Ich fragte ihn nicht, wie das mit seinem Tagesprogramm vereinbar sei, denn ich wusste, dass das Vorausplanen, das »Organisieren«, wie er sagte, seine Stärke war. Mit der Straßenbahn fuhren mein Vater und ich zum Bahnhof, und da fand ich auch den Zug, in dem sich der Transportwagen und die Sitze der Männer der Dolmetscherkompanie Wien für den Weg nach Südosten befanden. Da ließ mich mein Vater gewähren. Er war sich sicher, dass ich die Aufgaben der Einordnung in meine Gruppe würde bewältigen können. Es blieb dann auch nicht mehr viel Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Ich stellte mich zum Fenster, da ich die Absicht meines Vaters zu erkennen glaubte, bis zum Moment der Abfahrt zu warten. Dann kamen die Pfiffe der großen Dampflok, und der lange militärische Transportzug setzte sich langsam in Bewegung. Mein Vater stand draußen und salutierte als Abschiedsgeste. Ein wenig später nahm er die Offizierskappe ab und begann etwas zu tun, was außerhalb jeder Verhaltensvorschrift lag und mich sehr überraschte. Er nahm die Kappe ab und begann damit zu winken, ruhig, aber beständig. Es gab einen Gleiswechsel, ich konnte meinen Vater nur mehr sehen, wenn ich mich sehr weit aus dem Fenster lehnte. Die Kappe ging regelmäßig auf und ab. Da war ein Gehalt in der Bewegung, der sagte  : »Vielleicht zum letzten Mal«. Es war die innigste Berührung, die ich je mit meinem Vater hatte, bis zu seinem Tod.

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2. Auf den Trümmern einer Stadt  : Beograd im Februar 1944 Ich war in der am Bahnhof gelegenen Frontleitstelle in Beograd angekommen. Dort wurden wöchentlich Tausende Soldaten der Deutschen Wehrmacht durchgeschleust. Den Schmutz und den Gestank, den Ekel konnte man in den Baracken auf dem Bahnhofsgelände noch ertragen. Aber das Ungeziefer in der Unterkunftsbaracke raubte den nächtlichen Schlaf. Wir waren mit dem Militärtransport von Wien in Beograd eingetroffen, im März 1944, vier Dolmetscher für Neugriechisch, in Feldgrau, zwei mit einem blechernen »D« auf den Schulterklappen. Ein anderer und ich, wir trugen kein »D« und waren so ununterscheidbar von den Hunderten sogenannter »Landser«, einfache Soldaten des Zweiten Weltkriegs, die wie wir vier mit dem Transport aus Wien eingetroffen waren. Es war uns auch gleichgültig, ob wir unterscheidbar waren oder nicht. Wir hatten alle vier schriftliche und mündliche Prüfungen über mehrere Sprachen abgelegt, uns aber besonders für Neugriechisch, die Umgangssprache »Dimotiki«, qualifiziert. Einer war ein Mittelschulprofessor für alte Sprachen, mit einer soliden Fundierung in Grammatik. Er hatte Frau und Kinder verlassen müssen, um Soldat zu werden. Er war ein wunderbarer Kamerad, hilfsbereit, aber pessimistisch hinsichtlich der Zukunft. Er stellte die Frage, was wir, nach dem jetzigen Rückzug der Wehrmacht aus Afrika und dem ungestümen Vordringen der Sowjets in das nördliche Polen, uns in Griechenland, dem südöstlichen Zipfel des militärischen Besatzungsbereichs der Deutschen Wehrmacht, erwarten sollten. Irgendwie gab er zu verstehen, dass wir in die falsche Richtung, nämlich nach Osten, fuhren. Was wollten wir denn dort noch  ? Die Sowjetmacht drängte nach Westen auf die Reichsgrenze vor. Es konnte doch nur mehr eine Frage der Zeit sein, dass Griechenland von der Führung der Deutschen Wehrmacht aufgegeben werden musste. Aber diese »Zeit« sollte noch ein mörderisches halbes Jahr dauern. Einer von uns kam gerade von der vorgezogenen »Kriegsmatura«  ; er wollte Theologie studieren und schrieb Gedichte. Der Dritte war ich selber. Der Vierte der Gruppe war ein Maler, der vor dem Krieg viele Jahre hindurch monatelang in Griechenland gelebt, dort gezeichnet, gemalt und gedichtet hatte. Er sprach das Griechische so fließend, dass man meinen konnte, es sei seine Muttersprache. 39

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Und er liebte die Menschen dieses Landes, die er zeichnete und malte. Man erkannte diese Liebe auch daran, wie poetisch er sich der griechischen Sprache bediente (Abbildungen seiner Blätter finden sich im Bildteil am Ende des Buches). Es waren für unsere Gruppe zwei Tage für den Aufenthalt in Beograd vorgesehen. Dann sollten wir – wieder als Gruppe – mit einem anderen Transport nach Saloniki, wie es hieß, »abgehen«. Was waren damals – vor 68 Jahren – meine eigenen Erwartungen  ? Ich hatte regelmäßig und schon während der Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/43 mit einem kleinen sogenannten »Volksempfänger« die Feindsender heimlich und in verbotener Weise abgehört. Der Volksempfänger war hinter einem alten Kachelofen unserer Wohnung versteckt, für den Fall einer Kontrolle der Wohnung durch die Gestapo. Ich hatte daher keine Illusionen über den Ausgang des Krieges. Angesichts der ungeheuren Verluste, des Heeres von Gefallenen und der zu »Kriegsversehrten« deformierten Menschen, denen oft ein Arm oder ein Bein fehlte, ließ sich kein »Endsieg« erwarten. Ich hatte noch als Gymnasiast auf dem Weg von der Schule nach Hause die Versehrten im zivilen Alltag mit fehlenden Gliedmaßen und schwer eingeschränkten körperlichen Funktionen mit Krücken gehen und humpeln gesehen. Ich hatte als erwünschtes Ziel, eine möglichst baldige Beendigung des Krieges vor Augen. Aber ich wurde selber gerade ausgeschickt, um das zerstörte politische und bröckelnde militärische System zu stützen, das sich weiter zu retten und aufrechtzuerhalten suchte. Meine Hoffnung, jemals wieder, wie ich es mir auch sprachlich vergegenwärtigte, »in die Heimat« zurückzukehren, war gering. Ich erwartete im Grunde, in irgendeiner Weise im Krieg zugrunde zu gehen. Es gab allerdings einen Schimmer von Hoffnung im Sinne eines Vielleicht-dochgerettet-Werdens. Ich trug diese Hoffnung gegen die Wahrscheinlichkeit vor mir her, eingeschlossen in einen Glauben aus der Bibel, dass Gott auch das Unwahrscheinliche bewirken könne, was ich mir wünschte. Aber im Grunde hatte ich eine Art Auflösung vor Augen, besonders deswegen, weil sich die sowjetischen Heeresmassen bereits mit Wucht nach Westen wälzten und bald in das Gebiet des »Deutschen Reichs« eindringen würden. Wodurch hätten sie denn überhaupt noch aufgehalten werden können  ? Ich war gerade 19 Jahre alt geworden. Was würde der Zusammenbruch, was das Kriegsende für uns junge Menschen, einfache Soldaten dem Rang nach, bringen, wenn wir überlebten  ? Zwangsarbeit in sowjetischen Lagern in Sibirien  ? Lange Gefangenschaft  ? Die Fragen blieben amorph, die Erwartungen undeutlich. Die Angst vor der Zukunft war allgegenwärtig. Man konnte dem Ungewissen nicht entrinnen. 40

Auf den Trümmern einer Stadt  : Beograd im Februar 1944

Trotz alldem hatte ich Erwartungen, was ich in nächster Zukunft als Dolmetscher würde zu leisten haben, nämlich in der Besatzungssituation in Griechenland Schutz zu bieten für die Soldaten. Sie waren fast alle, so wie ich, rekru­ tiert und für eine verlorene Sache zu den Waffen gezwungen worden. Da gab es keine »Freiwilligen«. Zu diesen Überlegungen kamen die widerwärtigen Umstände hinzu, welche die Frontleitstelle mit sich brachte, vor allem die Ungezieferplage aufgrund der hygienischen Umstände, und eine völlig unzureichende Ernährung durch dünne Suppen aus großen Kesseln. Da beschloss ich – auch ohne die hierfür unbedingt nötige militärische Erlaubnis –, aus dieser Situation temporär auszubrechen. Ich wollte mich zur Weiterfahrt nach Saloniki erst zu dem hierfür vorgesehenen Transport wieder in der verschmutzten Frontleitstelle einfinden. Mehr als einen in meinem Soldbuch aufbewahrten Zettel, dass ich für den Transport nach Saloniki vorgesehen war, hatte ich nicht. Ich bewahrte diesen Zettel im sogenannten »Soldbuch«, dem Grunddokument, auf, das jeder Soldat allzeit bei sich zu führen hatte. Ich hielt es während des ganzen Krieges so und bewahrte das Soldbuch als Legitimation neben dem Tagebuch in einem kleinen Leinensäckchen an meiner Brust auf. Als mich im Mai 1945 die Partisanen in Slowenien gefangen nahmen, durchsuchten sie mich gar nicht. So konnte ich das Tagebuch retten, es enthält Kontrollpunkte für meinen Bericht. Ich war bei der Ankunft in Beograd ja gerade erst zum voll ausgerüsteten Soldaten geworden, den das Ungeziefer in der Frontleitstelle überall am Körper quälte. Das war auch der Hauptgrund, um dessentwillen ich mich entschloss, mich für die verbleibende Zeit des Aufenthalts in Beograd der Brutstätte der Insekten auf der Frontleitstelle zu entziehen. Ich informierte die Mitglieder unserer kleinen, gemeinsam angereisten Dolmetschergruppe von meinem Plan. Die einen blieben ganz gelassen, weil sie meine Entschlossenheit erkennen konnten. Die anderen warnten mich mit Blick auf mein Schicksal, sollte ich bei einer Kontrolle von der Militärpolizei aufgegriffen werden. Weder die eine noch die andere Haltung vonseiten der Gruppe konnte mich von meinem Plan abbringen. Im Grunde war es strengstens verboten, sich ohne ausdrücklichen Befehl und auf eigene Initiative, wenn auch nur für kurze Zeit, von der Gruppe zu lösen, zu der man gehörte. Ich nahm also ein beträchtliches Risiko auf mich, als ich die gesamte Ausrüstung aufschnallte und mich zu einer Ziviladresse begab, die ich versteckt bei mir trug. Es war dies die Adresse meiner ehemaligen Kinderfrau Josefine Nusime. Sie war kurz nach meiner Geburt als Siebzehnjährige in Wien von meiner Mutter als Kinderfrau für mich aufgenommen worden, da meine Mutter als Geschäfts41

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frau in ihrem Laden am Wiener Keplerplatz im 10. Bezirk ganztätig arbeitete. Später hatte die junge Josefine eine Spezialschule als Kinderpflegerin mit dem in meiner Familie verdienten Geld absolviert. Sie wechselte um 1930 zu reichen Leuten, die ihr eine hohe Bezahlung anboten, nach Jugoslawien. Diesen war gerade das erste Kind geboren worden. Es war eine wohlhabende und sozial hochgestellte Familie, zu der sie kam. Der Mann war ein hoher Beamter in der königlichen Verwaltung gewesen, hatte aber durch die Niederlage Jugoslawiens gegen die deutschen Truppen bereits 1941 seine Stellung verloren und verdiente nun sein Geld in einer Rechtsanwaltskanzlei. Als ich in Beograd in dem noblen Viertel mit Einfamilienhäusern an der angegebenen Adresse läutete, war es auch niemand anderer als die ehemalige Kinderfrau Josefine, die mir öffnete, mich umarmte und einzutreten hieß. Sie trug, wie sie es in der Wiener Pflegerinnenschule gelernt hatte, eine Art weißer Uniform und machte selber auch den Eindruck größter Gepflegtheit, aber auch überraschend deutlicher Distanz zu mir. Würde ich nicht doch auch hier einige Exemplare des mitgeführten Ungeziefers hinterlassen  ? Josefine mochte das ahnen und lud mich ohne Umschweife dazu ein, vom Badezimmer Gebrauch zu machen. Es erwies sich als weitaus besser ausgestattet als das meiner Eltern in Favoriten in Wien. Ich wusch nach dem Bad auch meine schmutzige Unterwäsche und hängte sie zum Trocknen auf. Nach dem Auszug aus der Frontleitstelle genoss ich das Gefühl einer Befreiung. Josefine aber war und blieb sehr zurückhaltend, sodass auch ich keinerlei Annäherung durch Fragen versuchte. Ich kündigte ihr an, einen Gang in die Stadt unternehmen zu wollen. Sie ermutigte mein Vorhaben samt der Zusicherung, dass ich alles wohlbeschützt hier bei ihr zurücklassen könne. Ich räumte die Gasmaske, den Stahlhelm, das Gewehr und die gesamte Munition in eine Ecke des Zimmers, das zur Übernachtung für mich vorgesehen war. Dann breitete ich den Uniformmantel darüber und verschwand in die Stadt. Ich war nun völlig unbewaffnet. Ich kannte natürlich das militärische Gebot  : Man dürfe sich niemals von seiner Waffe – gemeint waren das Gewehr oder die Pistole – trennen. Angedroht wurde der sofortige Transfer zu einer Strafkompanie, die man entweder tot oder schwer verwundet verließ. Strafkompanien dienten für höchst riskante militärische Sondereinsätze. Sie waren in gewissem Sinne Selbstmordkommandos, freilich ohne Zustimmung zu diesem »Selbstmord« seitens der in die Strafkompanie abkommandierten Soldaten selber. Die Übertretung des Verbots des waffenlosen Ausgangs hinderte mich nicht daran, das Gefühl der Unbelastetheit für meinen Stadtausgang in Beograd zu genießen. Mir gefiel dabei besonders der Blick auf die Donau von einer städti42

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schen Bastei aus. Es fiel mir das Lied über den Prinzen Eugen ein, das wir schon als Kinder in der Schule mit Bezug auf die Türkenkriege gelernt hatten  : »Er ließ schlagen eine Brucken, dass man konnt’ hinüberrucken, in Stadt und Festung Belgerad.« Die schweren Verwüstungen, die sich beim Blick auf die Stadt Beograd zeigten, waren bedrückend. Drei Jahre nach den deutschen Bombenangriffen 1941 lagen 1944 noch immer unkrautbewachsene Schutthaufen überall in der Stadt. Das waren traurige Spuren einer brutalen Machtausübung, wie ich sie bisher noch nirgends gesehen hatte. Der Krieg gegen Jugoslawien war aus einer Beistandsverpflichtung Hitlers und somit des Deutschen Reichs gegenüber dem von Mussolini geführten Italien hervorgegangen. Der Einmarsch der Italiener in Griechenland war gestoppt worden, sodass Mussolini von Hitler Beistand einforderte. Hitler ließ den Flieger Alexander Löhr, einen aus Österreich stammenden General, 1941 zu sich rufen. Er befragte ihn, welche Voraussetzungen der General glaube, dass erfüllt werden müssten, damit die deutschen Truppen von Österreich aus rasch nach Griechenland würden vorrücken können. Löhr soll damals gefordert haben, den feindlichen Widerstand von Belgrad mit aller Macht, also auch durch Bomben auf die jugoslawische Hauptstadt, zu brechen. Das führte schließlich zu dem grausamen Bombardement Beograds. Die Folgen konnte ich nun Jahre danach, 1944, immer noch deutlich wahrnehmen. Löhr hatte sich als ausgebildeter Fliegeroffizier persönlich auf die Flugfelder von Aspern bei Wien und nach Wiener Neustadt begeben, um die Beladung der großen Flugzeuge mit den entsprechenden Bomben genau zu bestimmen. Auf den Trümmern der Stadt Beograd hatten sich nun Händler breitgemacht, die 1944 neben kleinen Mengen von Nahrungsmitteln auch Objekte verschiedener Art anboten, die sie aus dem Schutt ausgegraben hatten. Das war das Bild, das ich hier vorfand. Ich wusste jedoch nichts davon, wie es zustande gekommen war. Ich wusste nicht, dass ein österreichischer Offizier die Zerstörung der Stadt geplant und schließlich befohlen hatte. Vielleicht wollte ich es auch nicht wissen. Aber die Familie, bei der Josefine Kinder aufzog, und sie selber, die hatten das alles miterlebt. Daher kam auch die Distanz zu mir. Ich kehrte am frühen Abend zu Josefine zurück, ohne von ihr besonders freundlich empfangen zu werden. Ich hatte schon als Kind das Pflegemädchen zwar als eine wache Person, aber nie als herzlich oder mir zugewandt empfinden können. Nun war sie überhaupt fremd geworden. Sie war nun Teil einer anderen Familie und einer anderen Gesellschaft. Von der Eroberung Jugoslawiens durch »die Deutschen«, denen ich ja durch meine Uniform zugerechnet werden musste, war auch diese Familie an den Rand der Existenz getrieben worden. 43

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Ich ging bald zu Bett, ohne noch irgendein Gespräch mit Josefine gesucht oder von ihr Fragen zu meinem weiteren Schicksal empfangen zu haben. Schwer bepackt, wie ich gekommen war, kehrte ich am nächsten Morgen zu den Kameraden auf den Bahnhof zurück. Ich wurde Zeuge, wie man unseren Transport zusammenstellte. Der Dampflokomotive wurde ein mit Sand hoch beladenes Fahrzeug vorgespannt, offenbar als Schutz gegen Sprengungen des Zuges von den Schienen aus. Hinter dem Sandwagen befand sich der Wagen des militärischen Schutzes. Es ragten die Waffen als gefährliche Drohungen aus dem Waggon hervor. Sie sollten im Falle eines von Partisanen geführten Angriffs auf den Zug zum Einsatz kommen.

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3. Beschuss durch Partisanen – Ankunft in Megalo Pefko

Bald nach dem Einbruch der Dunkelheit rollte der Transport, in dem sich unsere Gruppe befand, von Beograd aus nach Südosten. Es war strengstens verboten, irgendeine Lichtquelle im Waggon zu benutzen. Selbst Zigaretten mussten in einer Ecke des Waggons liegend geraucht werden. Der Schein der Zigarettenglut wurde mit vorgehaltener Hand abgedunkelt. Eingerollt in unsere Zeltplanen, die Waffe jeweils neben uns, schliefen wir Soldaten am Holzboden des Waggons. Knapp vor dem Morgengrauen wurde der Zug von Partisanen beschossen. Wir setzten uns die Stahlhelme auf und drückten uns noch fester auf den Boden. Die Kugeln schlugen viel höher ein, Holz splitterte und fiel wie Hagelkörner auf uns herab. Es war ein genau auf den Transport und die Waggons gerichtetes Maschinengewehrfeuer aus geringer Entfernung von der Bahntrasse aus. Allerdings wurde offensichtlich auf stehende oder sitzende Soldaten geschossen. Die Soldaten konnten aber nicht getroffen werden, weil sie sich, so wie auch ich, hingeworfen oder schon am Boden niedergelassen hatten. Kaum hatte das feindliche Feuer begonnen, wurde es von der Begleitmannschaft des Zuges hinter der Lokomotive auf das heftigste erwidert. Auch dies dürfte dazu beigetragen haben, dass der Beschuss der Partisanen schon nach Kurzem eingestellt wurde. Die Lokomotive hatten die Partisanen nicht getroffen, sodass der Zug weiterrollte. Nach einiger Zeit kamen zur Kontrolle Sanitäter in den Wagen, konnten sich aber vergewissern, dass bei uns niemand verwundet worden war. Irgendjemand aber verlangte mit erhobener Stimme, dass das Rauchverbot dringend einzuhalten sei und man weiterhin in gestreckter Lage am Boden auszuharren habe – eine Forderung, die auch durchwegs erfüllt wurde. Manche schliefen sogar wieder ein, was mir jedoch nicht ganz gelang, da ich neben der Einschusswand zu liegen gekommen war. Das Erlebnis der knapp über mir einschlagenden Kugeln und des Splitterregens des bröckelnden Holzes war für mich eine neue Erfahrung gewesen. Ich empfand keine Angst, wohl aber die Genugtuung, unverletzt geblieben zu sein. Irgendeine innere Stimme sagte mir, dass dies eben der Krieg sei. Da er aber in dieser Nacht nur so schwach und so kurz aufgetreten war, empfand ich den Feuerüberfall auf unseren Zug nur als Zwischenfall. 45

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Ich hatte mich niemals für den Krieg und das Soldaten-Dasein in irgendeiner Weise begeistern können und konnte auch nicht an einen Endsieg Deutschlands glauben. Ich hatte aber nie ernsthaft überlegt, aus meiner Rolle als Dolmetscher heraus zu desertieren. Nun aber war ich ja erst auf dem Weg »in den Einsatz«, zu dem ich abkommandiert worden war. Der Zwischenaufenthalt in Saloniki verlief völlig anders als jener in Beograd. Die Frontleitstelle war verhältnismäßig sauber. Man konnte sich vom Stützpunkt der Frontleitstelle aus auf einen zweitägigen Aufenthalt in der Stadt mit einem Besuch ihrer alten Kirchen einrichten, ohne das Quartier über Nacht zu verlassen. Ich lernte dadurch erstmals im Leben etwas vom griechisch-orthodoxen Christentum kennen, wenigstens durch den Besuch der eindrucksvollen Kirchen und der Betrachtung ihrer Ikonen. Dazu kam dann auch, dass zu einem sogenannten Feldgottesdienst auf einer großen Wiese eingeladen wurde. Man konnte den Offiziersrang des Geistlichen an dem unter dem Messkleid hervorstehenden Kragen erkennen. Seine Predigt war ganz auf die Bewahrung von Menschlichkeit auch im Krieg abgestimmt. Er betonte besonders die christliche Hilfe für Verletzte und die Treue zu den jeweiligen Kameraden. Das konnte ich verstehen. Besonders eindrucksvoll war für mich, dass er ein Bibelwort vortrug und es uns nahezubringen suchte. Unter den vielen Hundert Soldaten, die da auf der Wiese niederknieten, klang das Bibelwort auf. Es lautete  : »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde« (Jo 15,12). Als ich das hörte, fragte ich mich, was das Wort in meiner Situation nun zu bedeuten hätte. Ich kam zu der Auffassung, es fordere, einen verletzten Kameraden unter Gefährdung des eigenen Lebens aus dem Kampfgebiet zu retten oder auch das Leben eines Kameraden gegen Feindesangriffe zu verteidigen, bis zuletzt. Die Predigt auf der Wiese von Saloniki machte mir etwas bewusst, das ich vorher noch nicht verstanden hatte  : dass Liebe auch ein Auftrag zum Einsatz des eigenen Lebens bedeuten kann. Es war für mich ein mein Leben prägender Moment, als Hunderte von Soldaten auf einer Wiese niederknieten, um ein Bekenntnis zur Liebe abzulegen. Das Leben für einen anderen Menschen aus Liebe zu geben, war für mich eine unvergessliche Forderung. Nach einigen Tagen Bahnfahrt gelangte unsere Gruppe schließlich nach Athen, wo uns vier neu eingetroffene Dolmetscher ein Wehrmachtsfahrer vom Bahnhof abholte und zur Dienststelle des Divisionskommandos in den Athener Vorort Kalandri brachte. Der Temperaturunterschied zu Beograd war beachtlich. In Athen hatte der Frühling bereits im März voll die Macht übernommen. Die blühenden Mandelbäume leuchteten weiß wie ein fremder Zauber auf den Hü46

Beschuss durch Partisanen – Ankunft in Megalo Pefko

geln der Stadt. Der Militärtransporter fuhr mit uns durch diese von den Frühlingsbäumen geradezu beleuchtete Landschaft. Knapp vor den Villen, die vom Divisionskommando in Beschlag genommen worden waren, saß eine Gruppe von Unteroffizieren und Feldwebeln, die offenbar zum Stab gehörten. In hellbraunen Tropenhemden machten sie es sich an weiß gedeckten Tischen gemütlich. Der Luxus der Besatzer wirkte auf mich geradezu gespenstisch angesichts der sich zum Teil chaotisch vollziehenden Rückzugsbewegungen der Deutschen Wehrmacht an der Ostfront und der machtvoll ins Herz Europas vordringenden amerikanischen Truppen. Der Krieg trat in seine letzte Phase, als ich in Athen anlangte. Davon war man ja durch die täglichen Berichte des Oberkommandos der Wehrmacht informiert. Laut Zuweisung meines Marschbefehls wurde ich nach dem Abschied von der Gruppe getrennt und am Nachmittag mit dem geländegängigen Kfz 12 über schmale und staubige Straßen zum Stab des Jägerregiments 22 in die unweit der Stadt Eleusis gelegene Ortschaft Megalo Pefko, ein altes Fischerdorf, das in den dreißiger Jahren zum Urlaubsgebiet und Badeort erweitert worden war, gebracht. Villen des Ortes waren vom Stab des Regiments als Quartiere besetzt worden. Der aus Wien stammende und zum Dolmetscher ausgebildete damalige Schütze Pausenwein, der Theologie studieren wollte und Gedichte schrieb, verblieb in der Nähe von Athen. Ich habe Schütze Pausenwein seit dem Abschied in Kalandri nie wieder getroffen. Das Leben gewann damals für die meisten von uns eine solche Dynamik, die voll als Lösungshilfe für unsere zunächst liegenden eigenen, jeweils gegenwärtigen Probleme eingesetzt wurde. Den Ältesten von uns, einen jungen Mittelschulprofessor für Latein und Altgriechisch, verlor ich ganz aus den Augen. Sehr verschieden verlief die Geschichte zwischen dem Maler und Dolmetscherkollegen Klaus und mir. Es begann eine wenn auch durch die Umstände gezwungenermaßen nur in Briefen ausgetauschte Freundschaft. Ich bekam mit der Feldpost wöchentlich ein bis zwei Schreiben, denen meist kolorierte Federzeichnungen mit Darstellungen von Landschaft beigelegt waren. Einige davon sind dem Bildteil dieses Buches eingegliedert. Bei der Ankunft in Megalo Pefko wurde ich sofort in einer Mannschaftsbaracke abgeliefert. Der Fahrer kündigte mir an, dass es bald zu dem kommen würde, was er einen »Einsatz« nannte. Denn es habe kürzlich einige Partisanenüberfälle mit Toten gegeben. Ich hatte dazu nichts zu sagen, konnte mir unter einem solchen Einsatz nicht viel vorstellen und schwieg daher vor mich hin. Ich bezog vorerst in der Baracke in einem Stockbett und mit einem schmalen Schrank Quartier. 47

4. Britischer Waffenschmuggel durch U-Boote und Fischer

Am folgenden Tag musste ich sofort meine Dolmetschertätigkeit in der Ortskommandatur von Megalo Pefko aufnehmen. Eine lange Schlange von Männern in Arbeitskleidung war angestellt, um sich, wie ich bald erfahren sollte, ihre Reiseausweise als zivile Kraftfahrer oder die Erlaubnis zu Ausfahrten als Fischer oder als reisende Kaufleute ausstellen oder erneuern zu lassen. Besonders begehrt waren Genehmigungen, über die Dreimeilengrenze hinaus die ganze Nacht als Fischer auf dem Meer tätig sein zu dürfen. Unter den Wartenden war ein robuster Mann, der sich vorzudrängen suchte, aber von den anderen, die schon lange gewartet hatten, energisch zurückgestoßen wurde. Er zeigte mir, als die Reihe schließlich an ihn kam, auf meine Aufforderung hin einen abgelaufenen Bewilligungsschein für das ausgedehnte Nachtfischen, den er erneuert haben wollte. Ich hatte diesen Schein an mich zu nehmen und auf dem Schreibtisch des in seiner Villa sitzenden Ortskommandanten, einem Oberfeldwebel, vorzulegen. Als ich dies tat, begann sich der Bewerber mir gegenüber zu beschweren. Er klagte darüber, dass seine Kinder bereits Hunger litten, weil es ihm vor einigen Tagen nicht gelungen sei, zum Nachtfischen erneut zugelassen zu werden. Ich verlangte auch den Personalausweis des Fischers, und er wies ihn mir mit der einen Hand vor. Zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen Hand, die er auch vorstreckte, leuchtete eine Goldmünze hervor, die deutlich als Geschenk bzw. Bestechung für mich gemeint war. Ich tat, als sähe ich sie nicht, und gab ihm seinen noch gültigen Personalausweis ohne Kommentar zurück. Der Oberfeldwebel stempelte die Fischereibewilligung und erklärte in breitem Bayrisch, dass er, wie er sagte, den »Burschen« nicht mehr so bald wiedersehen wolle, da er ihm ohnehin schon verdächtig sei. Seinen Verdacht begründete der Ortskommandant dem Fischer gegenüber damit, dass dieser Nacht für Nacht auch bei schlechtem Wetter und geringen Chancen, Fische zu fangen, ausfahre. Ob es da nicht Kontakte zu englischen Schiffen gebe  ? Ich suchte meinen Vokabelschatz zusammen und vermittelte auf Griechisch dem düster blickenden Fischer die Botschaft des Ortskommandanten. Zu oft war es nämlich vorgekommen, dass Fischer in ihren Booten, versteckt unter gefangenen Fischen, Waffen an Land gebracht hatten. Diese waren englischen 48

Britischer Waffenschmuggel durch U-Boote und Fischer

U-Booten zur Beförderung an Land und zur Weitergabe an Partisanen den Fischern im Dunkel der Nacht zusammen mit einigen Banknoten übergeben worden. Ich war als ausgebildeter Dolmetscher in deutscher Wehrmachtsuniform nach Griechenland entsandt worden. Das Regiment, dem ich zugeordnet wurde, war in der Nähe von Eleusis stationiert. Als Besatzung war es verantwortlich für die Bergwelt und die Küste bei Salamis bis Theben im Norden und bis zum Kanal von Korinth im Süden. Man hatte einen ausgebildeten Dolmetscher bei der Wiener Dolmetscherkompanie angefordert, da die eingesetzten griechischen Dolmetscher verständlicherweise alles unternahmen, um ihre Landsleute zu begünstigen. Dabei kam es zu brenzligen Situationen, auch durch bedeutende Bestechungen. Der Sicherheitsoffizier des Regiments, Leutnant Weiss, bestand auf einer Entlassung des griechischen Dolmetschers. Leutnant Weiss konnte sich damit auch bei der vorgesetzten Dienststelle, dem Divisionskommando in Athen, durchsetzen. So kam es also zu meiner Entsendung zum Regiment, dessen Kommandeur und Stab sich in Megalo Pefko befand. Der Ort war seit der Jahrhundertwende mit Villen für die Wohlhabenden aus Athen stark ausgebaut worden. Die Athener Oberschicht suchte in diesem Fischerdorf, das sich zum Badeort entwickelt hatte, in den heißen Sommermonaten Zuflucht vor der Hitze in der Stadt. Meine tägliche Kleinarbeit war die Kontrolle von Bewilligungen von Transport-, Fischerei- und Reiseerlaubnissen, gelegentlich auch die Schlichtung von Streitigkeiten im lokalen Milieu. Diese Arbeit wurde immer wieder durch meine Mitwirkung bei der Lösung von wichtigen militärisch-politischen Einzelproblemen unterbrochen. Mir wurde klar, dass dieser Feldwebel, der in der Ortskommandatur auf einem kleinen Nebentisch eine Weinflasche und ein dazugehöriges Glas stehen hatte, vieles durchschaute, was den eigentlich zuständigen Offizieren der militärischen Abwehr verborgen geblieben war. Er hatte Verständnis für versteckte Geschäfte und wusste diese auch zu lenken. Er kannte die Mehrzahl der Antragsteller persönlich, auch deren Familienverhältnisse. »Was, du willst schon wieder nach Athen  ?«, wandte er sich an einen Bewerber um eine Fahrerlaubnis, »du hast dort doch alle schönen alten Statuen und vielleicht auch junge Statuen schon gesehen. Die Kinder haben Hunger zu Hause, und du gehst Statuen anschauen.« Natürlich lachten die Männer, die in der Reihe aufgestellt waren. »Ihr habt gar nichts zu lachen«, rief er in die Gruppe hinein. »Es ist keiner von euch besser als er.« Und damit stempelte er die eine oder andere vorgelegte Erlaubnis. »Aber ich will nie wieder hören, dass einer von euch mit 49

Griechenland

einer Waffe gesehen wird. Dann ist überhaupt Schluss mit der Fischerei, und zwar für alle«. Das war drohend und ganz ernst gemeint. Ich übersetzte das alles und versuchte auch den Tonfall des Feldwebels zu treffen. Es gab niemanden, der etwas erwiderte. »Und was ist mit dir  ?«, wandte er sich spaßhaft auch an mich. Er wusste genau, dass das Duzen von Untergebenen verboten war, aber es lag eine versteckte Herzlichkeit in seinem Reden, dass man ihm seine Art nicht übel nehmen konnte. »Willst du auch nach Athen fahren und Statuen schauen  ?« »Nein, Herr Oberfeldwebel«, antwortete ich. »Es ist besser so«, sagte er, »und gesünder«. Damit spielte er auf den Tripper als die sehr häufig auftretende Geschlechtskrankheit unter den Soldaten an. Dann holte er sich die Flasche und das Glas auf den Diensttisch herüber und begann seinen inzwischen neu entstandenen Durst zu löschen. Es waren alle Bewerber gegangen, nur zwei hatte er entschieden abgelehnt. »Ich möchte die Waffen haben, welche die beiden schon an Land gebracht haben«, sagte er zu mir, »aber jetzt ist Schluss damit.« Es waren nämlich unlängst fünf englische Maschinenpistolen unter fünfzig großen Fischen bei einer Kontrolle gefunden worden. »Sind die Maschinenpistolen vorher wohl auch im Meer geschwommen  ?«, fragte er rhetorisch die beiden noch verbliebenen Bewerber. Warum hatte er die beiden nicht festnehmen lassen  ? Ich hielt mich aber mit Äußerungen zurück und gab mir rasch selber eine Antwort darauf. Es war hier ein Geflecht, in dem keiner einen Fehler machen durfte, wenn er überleben wollte. »Wenn man schweigt«, sagte er einmal zu mir, »kann man hier oft mehr erreichen, als wenn man redet.« Dann trank er wieder ein Glas. »Und wie ist es mit deiner Unterkunft, Herr Dolmetscher  ?«, fragte er mich. Ich schilderte ihm die unerträgliche Hitze und den Lärm in der Holzbaracke in der Nacht, in die die Soldaten der Stabskompanie spät und laut vom Soldatenheim zurückkehrten und wo man auch mich einquartiert hatte. Am nächsten Tag war wieder Hochbetrieb auf der Ortskommandatur. Ich hatte oft Mühe, die Worte rasch genug in meinem kleinen Taschenwörterbuch zu finden. Aber ich merkte, dass der Oberfeldwebel mit meinen Übersetzungen zufrieden war. Manchmal musste er sich zwei bis drei Minuten gedulden, ehe ich in meinem Wörterbuch alles gefunden hatte, was ich brauchte. Ich wollte mich in dieser heiklen Lage auf keinen Irrtum durch Flüchtigkeit einlassen. Es stand ja immer wieder das Schicksal von Menschen auf dem Spiel. Für die Geduld des Oberfeldwebels gab es dann ja ein weiteres Glas Wein, das er sich selbst verabreichte. 50

Britischer Waffenschmuggel durch U-Boote und Fischer

Es vergingen Tage intensiver Arbeit. Dann teilte er mir mit, dass der Chef der Stabskompanie ihm mitgeteilt habe, ich möge mir in der Nähe der Ortskommandatur ein Privatquartier suchen. Ich solle sofort meine Sachen aus der Baracke holen und auf die Ortskommandatur bringen. Ich rannte mehr, als ich ging, und schleppte meine Sachen herbei. Dann zog ich auf Quartiersuche aus. Dabei war ich rasch erfolgreich.

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5. Mütterliche Sorge einer Griechin für mich in Megalo Pefko Eine Sonderrolle spielte meine Quartiergeberin, die eine über 50-jährige Schwester eines damals schon verstorbenen Lehrers einer höheren Schule in Athen war. Er musste ein gebildeter Mann gewesen sein, das zeigten die Bilder und einige Kunstwerke im Haus, das die Geschwister als Sommerwohnung erworben hatten. Der Krieg und die Besatzung bewogen dann die Dame, die ein sehr gepflegtes Griechisch sprach, dazu, ganzjährig in das seit dem Beginn des Jahrhunderts vom reinen Fischerdorf zum sommerlichen Badeort für reiche Athener gewandelte Megalo Pefko zu ziehen. Dort hatte sich, in verschiedenen Villen, der Stab jenes Regiments einquartiert, dem ich als Dolmetscher nun zur Verfügung stand. Ich nannte gleich – von Anfang an und aus eigenem Antrieb – die Frau, bei der ich wohnen sollte, Thia, Tante. Ich glaube, dass diese Bezeichnung unserem sich entwickelnden Verhältnis auch gut entsprach. Das Haus war groß genug, sodass sie, Thia, in ihrer bisherigen Lebensweise durch mich nicht beeinträchtigt wurde. Ich wohnte im Erdgeschoss, im ehemaligen Arbeitszimmer von Thias Bruder, sie im ersten Stock. Durch unser Verhältnis als Neffe und Tante konnte sich das Gefühl ihrer Sicherheit eher mehren. Sie schien mit meiner fast täglichen Anwesenheit durchaus zufrieden zu sein. Sie missbilligte allerdings meine abendlichen Ausgänge, nicht aus moralischen Gründen, sondern wegen meiner Sicherheit, wie sie sagte, und so meinte sie es auch. Meine abendlichen Besuche galten entweder einer bescheiden lebenden Fischerfamilie in der Nähe des Hafens von Megalo Pefko oder Afroditi, der Tochter eines Großgärtners außerhalb des Ortes. Sie wurde zu einer für mich wichtigen Gesprächspartnerin. Durch meine in den Augen der Gärtnerfamilie großzügigen, für sie befürworteten Bewilligungen, mit ihrem Lastwagen auch nächtens Gemüse für den Markt in Athen zu liefern, hatte ich mir eine Einladung zu einem Abendessen verdient. Ich hatte keine Hemmungen, die Einladung anzunehmen, weil alle meine Umfragen erbracht hatten, dass die Gärtnerfamilie keinen Umgang im Ort mit Partisanen pflegte. Meine Bewilligungen erfolgten nicht aufgrund von Bestechung, sondern im Rahmen des Bemühens, gute Verhältnisse zur Zivilbevölkerung zu schaffen. Daran war unserem Regiment aus Sicherheitsgründen sehr gelegen. 52

Mütterliche Sorge einer Griechin für mich in Megalo Pefko

Zumindest war es die Linie des Ic-Sicherheitsoffiziers des Regiments, des Leutnant Weiss, die auch der Regimentskommandeur Oberst Glitz guthieß und vertrat. Warum sollte ich mich also nicht in den großen Garten begeben, zu einem Abendessen, zumal die militärische Kost so elend und geradezu abstoßend war, wenn man sie sich von der Küche in seinem blechernen Kochgeschirr abholte. Thia war besorgt, dass mir auf dem Heimweg von einer solchen Einladung in der Dunkelheit etwas zustoßen könnte. Wenn ich auf meine Pistole an meinem Gürtel verwies, pflegte sie mir zu antworten, eine Pistole sei zu wenig gegen drei oder vier Andarten, wie die Partisanen allgemein genannt wurden. »Sie lauern dir in der Nacht hinter einer Ecke auf, packen dich bei der Gurgel und verschleppen dich in die Berge, damit du ihnen alles erzählst, was sie wissen wollen. Zum Schluss brechen sie dir die Knochen und hängen dich auf.« Heute weiß ich, dass diese Aussagen Thias keineswegs unrealistisch waren. Ich pflegte auf solche Einwände gegen meine Ausgehgewohnheiten nichts zu sagen. Sie begann dann fortzufahren  : »Paidaki mou (mein Kindchen), du bist unvorsichtig.« Und dann unterbreitete sie mir Vorschläge  : »Du kennst so viele Fischer im Ort«, sagte sie unter Anspielung auf meine Tätigkeit der Ausweiskontrolle und der Erneuerung der Nachtfisch-Bewilligungen. »Warum lässt du dir nicht ein paar Fischlein bringen, ich backe sie dann und wir teilen sie untereinander auf. Dann musst du nicht immer fortgehen.« Ich schwieg, fand aber ihren Vorschlag erwägenswert, was sie mir wohl angesehen haben mochte. »Und Honig«, fuhr sie fort, »du siehst doch, wie die Burschen mit den von dir bewilligten Transportgenehmigungen in ihren Lastwagen ganze Fässer mit Honig nach Athen bringen, um sie dort für teures Geld in kleinen Gläschen zu verkaufen. Wenn ich Honig bekomme«, sagte sie, »kann ich uns etwas Gutes backen.« Auch da schwieg ich wieder, nahm mir aber vor, bei nächster Gelegenheit Honig – allerdings gegen Geld oder Zigarettenpapier, das gegen Ende der Besatzungszeit in Griechenland mehr wert war als Geld – auf dem Markt einzutauschen. »Thia«, sagte ich, »ich gehe da in den Garten hinaus, denn ich muss ja wissen, was die Leute denken.« Sie war mit einer Antwort schnell zur Stelle. »Die Leute denken, dass sie keine Besatzung brauchen und dass die deutschen Soldaten so bald als möglich abziehen sollten. Dann hätten wir auch die Partisanen los. Ihr seid hier nicht beliebt.« Wiederum schwieg ich, denn ich konnte ihr nur recht geben, obwohl ich mir damals schon dachte, dass es mit den Partisanen auch in Zukunft in Griechenland nicht so einfach sein würde, selbst nach unserem Abzug. Solcher Art waren unsere Gespräche, wenn sie im Haus irgendetwas reinigte. Denn auf Reinlichkeit war sie sehr bedacht. 53

6. Erkundigung auf eigene Faust

Die Aktion, die zur Verhinderung der immer dreister und verwegener gewordenen Partisanenüberfälle eine Art Sicherungseffekt haben sollte, setzte in der Tat eines Abends ein. Im Unterschied zu anderen Einsätzen, die in der Regel im Morgengrauen begannen, hatte man hier die unerwartet frühe Nachtstunde gewählt. Die Kolonnen rückten am Nachmittag ab, auf der Ortskommandatur blieben nur der Feldwebel und ein Wachposten zurück. Abgesehen von einigen wenigen Wachposten war die Region, in welcher der Stab des Jägerregiments 22 der 11. Luftwaffenfelddivision untergebracht war, zugunsten des Vorstoßes in die Berge, von wo die Überfälle herkamen, militärisch entblößt worden. Der Regimentsstab, Oberst Eberhard Glitz, mehrere Offiziere, unter anderem Leutnant Weiss, zwei Feldwebel, welche das Kartenmaterial und das Einsatzprotokoll vor sich hatten, die Funker, zwei Fahrer, darunter Wrug, der den Kfz 12 steuerte, sowie einer, der den Oberst und mich im Kübelwagen chauffierte, wir alle fuhren auf einer schlechten Straße bergan. In einem Ort, der zwar in den Bergen lag, aber als relativ sicher galt, bezogen wir Stellung. Dort waren ein paar Familien an der Macht, von denen wir zwar vermuteten, dass sie – unerlaubterweise – Waffen besaßen, aber annehmen konnten, dass sie weder der EAM noch der ELAS (dem bewaffneten Zweig der kommunistischen Untergrundbewegung) angehörten. Als wir hier ganz unerwartet Quartier nahmen und der Pionierzug eine Sicherung des Ortes aufbaute, flohen keine Einwohner – sie hatten keine Angst vor der Kontrolle. Das Leben von Mensch und Tier schien trotz der militärischen Konzentration weiterzugehen. Die Einheiten des Regiments hatten eine umfassende Einkreisungsaktion in der Bergregion begonnen, als Kommandozentrale blieb der Regimentsstab abgesetzt hinter diesen Einheiten. Die Aktion, so stellte es sich bereits zu Tagesanbruch heraus und bestätigte sich bis mittags, hatte auch nichts gebracht. Es gab allerdings eine Ausnahme. In dem Dorf, das unserem Einsatzstandort des Regimentsstabes am nächsten lag und auf einem kaum Straße zu nennenden Fahrweg von uns aus erreichbar war, hatte man einen dunkelhaarigen, offenbar sehr jungen Burschen gefunden, der verdächtigt wurde, einer Partisaneneinheit anzugehören. Nachdem man ihn eingeschüchtert und unter Druck gesetzt hatte, bezeichnete er auch den Ort, an dem seine Waffe verborgen lag. Die Einheit, 54

Erkundigung auf eigene Faust

die den Burschen aufgegriffen hatte, versäumte es, ihn zum Stab zum Verhör zu transportieren, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Sie nahm ihn als Gefangenen zur Fortsetzung der Aktion mit. So konnten wir uns im Stab weder ein Bild von diesem Burschen machen noch von ihm etwas über die Bewegungen der Partisanen, ihre Ausrüstung und Stärke erfahren. Leutnant Weiss war wütend und schlug dem Oberst vor, den Stab wieder an die Küste zurückzuführen, wozu dieser, da er dort seine Bequemlichkeit hatte, nur allzu gerne bereit war. Nur ein Feldwebel und ich sollten mit einer kleinen Bewachergruppe in einem anderen Ort am Ausgang der Bergregion zurückbleiben. Allfällige Festnahmen, so lautete für uns der Befehl, sollten auf die Klärung der Feindlage hin ausgewertet werden. Wrug, der Fahrer, würde uns am folgenden Tag abholen und ebenfalls an die Küste zurückfahren. Um mich vor der Hitze zu schützen, zog ich mich unter einen mächtigen alten Ölbaum zurück, lernte Vokabeln zur Ergänzung meines Sprachwissens und verschlief zwei Mittagsstunden im Schatten. Früher als erwartet kam Wrug zurück. Der Feldwebel, der das Kommando führte, war in irgendein Haus verschwunden, vermutlich zu einem Essen eingeladen. Ich war mit der ganzen Aktion besonders unzufrieden. So kam mir der Gedanke, Wrug zu überreden, mit mir auf eigene Faust nochmals in das Dorf zu fahren, wo der junge Bursche aufgegriffen worden war. Ich würde ihn ja doch demnächst vorgeführt bekommen, so wollte ich wenigstens die Verhältnisse kennenlernen, aus denen er herstammte. Vielleicht schob ich das nur vor und ich war einfach neugierig. Wrug war sofort Feuer und Flamme. Wenn wir losfuhren und zur Rede gestellt würden, könnten wir doch allemal anführen, den Feldwebel gesucht zu haben, der aus unserer Nähe verschwunden war. Unsere Aktion auf eigene Faust erfüllte mich mit großer Spannung. Wrug fuhr – oder stürmte vielmehr – polternd und krachend mit dem schweren Fahrzeug auf der Bergstraße dahin. Ich hatte hinter dem auf den Wagen montierten Maschinengewehr Stellung bezogen. Sollte sich irgendetwas in feindlicher Absicht regen, würde ich sofort losballern. Aber es regte sich nichts, weder während der rasenden Fahrt noch später im Dorf selber. Dort waren schließlich doch die Menschen geflüchtet, nur ein paar Esel hatte man zurückgelassen und Geflügel. Ich blieb beim MG. Wrug, darin besonders kenntnisreich, durchstöberte die Häuser und Höfe. Er brachte einen Sack mit Rosinen daher. Dann, nachdem er leere Säcke gefunden hatte, durchsuchte er die Höfe, fing Hühner und steckte die flatternden Tiere in die Säcke. Zwei Säcke, festgestopft mit kreischendem gackerndem Federvieh, häuften wir schließlich im Wagen auf die Rosinen, und ab ging es so rasch, wie wir gekommen waren. Im Grunde waren 55

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das uns verbotene Handlungen des Plünderns. Aber Federvieh und Rosinen, wer wollte uns deswegen zur Rechenschaft ziehen  ? Das Hauptvergnügen war für mich allerdings nicht diese Beute gewesen, sondern die gewagte Fahrt zu zweit in den Feindbereich. Wer weiß, wie lange wir uns gegen den Angriff auch nur von wenigen plötzlich aus Verstecken heraustretenden Kämpfern hätten halten können. Trotzdem hatte die Aktion mein Selbstvertrauen gestärkt. Ich war stolz, eine selbst gewählte Vorgangsweise durchgesetzt zu haben. Sie war aus einer Abenteuerlust entstanden und hatte mit einem Beutezug geendet. Thia konnte die Tiere ihrem Hühnerstall hinzufügen und die Rosinen wurden verteilt. Ich war einmal im kleinsten Rahmen ein Kommandant gewesen. Der Bursche, der sich versteckt hatte und aufgegriffen worden war, wurde freigelassen. Er konnte auch gar nicht wissen, wohin die Partisanen sich zurückgezogen hatten.

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7. Der Bürgermeister von Aspropyrgos und sein Sterben

Aspropyrgos, zumindest der alte Teil, der am Berghang hängt, war trocken und unwirtlich. Das Wasser der Regengüsse des Frühlings rinnt ab, sodass dort kaum ein nennenswerter pflanzlicher Wuchs gedeihen kann. Das entspricht ganz dem Wort »aspros«, das »trocken, spröde« bedeutet. Vermutlich hatte sich die Siedlung auch deswegen schon als Dorf mit dem Charakter einer Festung entwickelt. Es gab 1944 dort noch oberhalb der Verbindungsstraße nach Athen ein Stück Festungsmauer und Reste eines vermutlich jahrhundertealten Turms. Da war nichts Verbindliches oder gar Liebliches in Aspropyrgos in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, im Zweiten Weltkrieg. Was da, zur Zeit der deutschen Besatzung, zu den Mauern dazukommen sollte, das war blutrote Grausamkeit. Weil die Menschen in Aspropyrgos selbst um ihr bescheidenes tägliches Brot zu kämpfen hatten, wurden schon lange keine Blumen mehr gepflegt, wie in den Zeiten vor dem Krieg. Da war man am Abend draußen auf der steinernen Gasse auf hölzernen Bänken gesessen und hatte Wein getrunken, so erzählte man mir im Sommer 1944. Aspropyrgos wirkte aber verlassen und verödet. Nun kam noch das Morden hinzu. Dabei war der Ort bis in den Winter 1943/44 von den blutigen Überfällen der griechischen Freiheitskämpfer, der »Andarten«, verschont geblieben. Ich war 1944 ein zum Dolmetscher für Neugriechisch ausgebildetes Mitglied der Besatzungsmacht und damit Soldat der Deutschen Wehrmacht mit speziellen sprachlichen Kenntnissen. Ich hatte die Aufgabe, von dem am Meer gelegenen Megalo Pefko aus gelegentlich Besuche im Umland von Eleusis und so auch entlang der Straße nach Athen in Aspropyrgos zu machen. Ich sollte Gefahrenquellen für allenfalls zu erwartende Überfälle der Partisanen auf die deutsche Besatzungstruppe herausfinden. So besuchte ich auch diese karge Ortschaft. Der geländegängige Kleintransporter des Typs Kfz 12, der für die verschiedensten Aufgaben der Besatzung eingesetzt wurde, bewältigte die steile und staubige Bergstraße, die zum alten Teil von Aspropyrgos hinaufführte. Der Fahrer des Kfz 12, der Gefreite Wrug, verstand es, sich auch durch die engen Gassen der Siedlung hindurchzudrängen. Er war Mitglied der Stabskompanie des Jägerregiments 22 der 11. Luftwaffen-Felddivision, dem auch ich angehörte. Wrug 57

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war ein Draufgänger. Er war im polnisch-deutschen Grenzgebiet und noch im polnischen Staat aufgewachsen. An der Art der Aussprache des Deutschen konnte man erkennen, dass eigentlich Polnisch seine Muttersprache war. Wrug war nicht nur gewandt in der Steuerung seines Wagens, des Kfz 12, sondern auch in der Vorausschau des Kommenden. Er wusste, was man sich in einer gefährlichen Region zumuten durfte, ohne sein Leben unbedacht aufs Spiel zu setzen. »Dieses Nest gefällt mir nicht«, sagte mir Wrug einmal bei einer Kontrollfahrt nach Aspropyrgos. »Aber es ist sicherer als alle anderen«, entgegnete ich ihm. »Wer weiß  ?«, antwortete er darauf. Wir fuhren damals zum Bürgermeister, der für sich in Anspruch nahm, die Freiheitskämpfer von seinem Ort fernzuhalten – womit und wodurch, war mir dabei völlig unklar. Aber Aspropyrgos blieb in der Tat in gewisser Weise lange Zeit außerhalb der Kampfzone. Es gab dort keine Überfälle. Das währte viele Wochen hindurch so, bis es eines Tages dann doch zu einem grausamen Überfall der Partisanen kam. Eine Gruppe von ihnen überfiel des Nachts mit großer Übermacht die kleine deutsche Besatzung von Aspropyrgos, die man in dieser Bergsiedlung so ungeschützt nie hätte zurücklassen dürfen. Die Partisanen fesselten die Soldaten, stachen ihnen die Augen aus, um die Männer kurz darauf ganz zu erstechen und so liegen zu lassen. Ich wurde, wie es hieß, »eingesetzt«, um zu ermitteln, welche Gruppe von Bewohnern im Ort es gewesen sein konnte, die den Stützpunkt der kleinen Mannschaft in Aspropyrgos an die Partisanen verraten hatte. Natürlich nahm ich mir dazu den langjährigen Bürgermeister von Aspropyrgos vor, um von ihm glaubhafte Informationen über die im Dorf ansässigen, besonders erbitterten Feinde der deutschen Besatzung zu bekommen. Gleichzeitig war mir bewusst, dass der Bürgermeister seine eigene »Hinrichtung« durch Partisanenhand zu gewärtigen hätte, wäre er bereit, Angaben zu machen, die zu Festnahmen vonseiten der Besatzungstruppe führen würden. Nach langen Gesprächen gewann ich immerhin den Eindruck, dass der Bürgermeister selber kein Ratgeber für den Überfall der Partisanen gewesen war. Ich hielt es für glaubhaft, was er immer wieder betonte, dass er das Dorf aus dem mörderischen Kampf hatte heraushalten wollen und dass dies auch weiterhin seine Absicht sei. War er ein naiver Idealist, ein friedensbemühter Mensch, oder war er ein Heuchler mit besonders gelungener Maske  ? Aufgrund meiner Befragungen und Eindrücke hielt ich ihn für einen Friedfertigen in der Situation eines Außenseiters. Er war kein Lügner, das war meine Überzeugung, die ich aus einem stundenlangen sorgfältigen Verhör hatte gewinnen können. 58

Der Bürgermeister von Aspropyrgos und sein Sterben

So lautete auch meine dienstliche Meldung an meinen Vorgesetzten, den Sicherheitsoffizier Leutnant Dr. Weiss. Dieser war der Ic-Offizier des Regiments. Die Sicherheit der Truppe, der Abwehrkampf gegen die Partisanen, das waren seine zentralen Aufgaben, samt Planung und Maßnahmen. Leutnant Weiss war durch seine im Zivilleben als Sprachwissenschaftler schon eingeübte Genauigkeit und die erworbene Fähigkeit, scharf zu überlegen, das Gegenbild zu dem Feldwebel, der die Ortskommandantur befehligte, Bewilligungen austeilte oder verweigerte. Weiss war ein Systematiker, der Feldwebel ein spontan entscheidender Typ. Ich war von Beginn meines Dienstantritts bei der Stabskompanie und damit meines Aufenthalts in Megalo Pefko Leutnant Weiss zugeteilt. Allerdings drängte sich die tägliche Arbeit der Ausstellung von Reisebewilligungen, Fischereigenehmigungen oder gar Bewilligungen für Zusammenkünfte, z. B. bei Begräbnissen, in den Vordergrund. So wurde ich auch zum Mitarbeiter des Feldwebels der Ortskommandantur. In diesem Sinn diente ich zwei aufgrund ihrer Charaktere, aber auch ihrer Vorbildung ganz unterschiedlichen Herren. Kaum war mir nun der Befehl von Leutnant Weiss zur Aufklärung der Hintergründe des Überfalls auf die kleine Besatzung von Aspropyrgos erteilt worden, lief die Entwicklung schon den Überlegungen und Nachforschungen davon. In Aspropyrgos war ein Fahrzeug mit einer SD-Besatzung eingetroffen. Der SD (Sicherheitsdienst), eine Einsatzorganisation der SS, trat auf verschiedenen Kriegsschauplätzen der Wehrmacht als eine in gewisser Weise der Wehrmacht übergeordnete militärische Kontrollorganisation der NSDAP auf. Mir war zunächst nicht klar, was der SD-Einsatz hier in Aspropyrgos bewirken sollte. Ich musste es allerdings bald erfahren, dass sich diese Truppe als Rache-Mannschaft vor Ort verstand. Plötzlich aufzutauchen, Racheakte durchzuführen und kurz darauf zu verschwinden, das war leichter, als eine stabilisierende Herrschaft ohne ständiges Blutvergießen in einer besetzen Region aufrechtzuerhalten. Als ich solche Überlegungen anstellte, kamen schon zwei Männer der SDMannschaft und schleppten den Bürgermeister von Aspropyrgos, den ich gerade verhört hatte, als Gefangenen mit sich. Ich suchte ihnen zu erklären, dass wir, das heißt die örtliche Besatzung und unsere Ic-Einheit des Jägerregiments 22 der 11. Luftwaffen-Felddivision, damit befasst seien, den Überfall aufzuklären, Schuldige zu finden und festzunehmen. Die beiden SD-Leute brüllten mich an, für sie sei die Sache geklärt. Natürlich habe der Bürgermeister die Partisanen hergebracht und versteckt im Hintergrund an der ganzen Aktion mitgewirkt. Ich widersprach dieser Deutung mit Überzeugung und mit erhobener Stimme. Es ging diesen SD-Leuten im Grunde nur darum, so rasch als mög59

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lich einen Schuldigen vorzuweisen und so mit ihrer Intervention als erfolgreich dazustehen. So versuchten sie, den Bürgermeister zu einer Scheune am Berghang hinaufzuschleppen, vermutlich um ihm dort Geständnisse abzupressen. Der Mann begann sich nun zu wehren und versuchte sich loszureißen, was ihm aber angesichts der Übermacht der beiden für solche Aktionen trainierten SDLeute nicht gelang. Sie warfen den in meinen Augen unschuldigen Mann zu Boden und zerrten ihn den Weg zur Scheune hinauf. »Der Mann ist unschuldig«, schrie ich die beiden Männer an, »lasst ihn los  !« »Er wird sehr bald alles gestehen«, schrien die uniformierten Gewalttäter des SD aus der Absicht heraus, ihm ein Geständnis zu erpressen und ihn nachher zu exekutieren. Ich wollte dies verhindern, konnte mich aber auf keine Kameraden der Wehrmacht beziehen, da keine vorhanden waren. Wrug war mit seinem Wagen wieder weggefahren, ich war ganz allein. So umklammerte ich die Knie des Bürgermeisters und ließ mich am Boden mitschleifen, Meter um Meter. Aber die SD-Henker ließen nicht nach und zogen uns beide in die Scheune. Waren wir einmal oben in der Scheune, dachte ich, würde ich eine Möglichkeit finden, den Bürgermeister zu verteidigen. Doch was geschah  ? In dieser Scheune sah es schrecklich aus, als wir dort ankamen. Frisches Blut klebte am Boden und an den Wänden. Zwei SD-Männer schrien mich an, ich sollte so rasch als möglich verschwinden. Die beiden rochen deutlich nach Alkohol. Einer von ihnen zog seine Pistole aus dem Gurt und bedrohte damit den Bürgermeister. Ich wollte dem Bürgermeister klarmachen, was ihn erwarten würde, nämlich Folterung und Hinrichtung, wenn er nicht irgendetwas gestand. Ich versuchte abzuschätzen, ob ihm irgendeine Form von Geständnis die Befreiung von der jetzigen Todesbedrohung bringen könnte. Aber da riss auch der zweite SDler, der noch stärker betrunken zu sein schien als der erste, seine Pistole heraus. Er schrie mich an  : »Wenn du nicht sofort verschwindest, dann wirst du hier bleiben, so wie heute bereits drei andere, die draußen in der Kammer liegen. Es wird niemand um dich trauern, denn du hast ja den Oberpartisanen« – damit meinte er den Bürgermeister – »hier zu befreien versucht. Solche Verräter werden wir hier rasch liquidieren.« Damit schwenkte er die Pistole und richtete sie drohend auf mich. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass meine Mittel, einen in meinen Augen Unschuldigen zu retten, erschöpft waren und die beiden betrunkenen SD-Männer nicht mehr lange zögern würden, mich »zu liquidieren«, wie die Sprachführung lautete. Wer würde es je wagen, die Erschießung eines Wehrmachtssoldaten durch eine SD-Truppe aufzuklären, wer je imstande sein, gegenüber »Zeugen« aus einer Gruppe von SDlern Anklage zu erheben  ? 60

Der Bürgermeister von Aspropyrgos und sein Sterben

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, töteten sie den Bürgermeister mit einem Schuss in die Stirn und mit einem zweiten in den Hinterkopf. Ich sah noch, wie er in sich zusammenbrach. Die Bluthunde der SSGruppe hatten ihr Ziel und die Scheinrechtfertigung ihres Eingreifens hier erreicht, auch ohne irgendein Geständnis erpresst zu haben. Betrunken, wie sie waren, würden sie schließlich nicht zögern, auch mich zu erschießen. Als ich dies erkannt hatte, beschloss ich, mich zurückzuziehen. Ich ging völlig verstört zu Fuß von der Scheune in den Ort nach Aspropyrgos hinunter. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass die SD-Truppe noch in der Nacht abgerückt war  ; man habe in einer Kammer der Scheune am Berg mehrere Leichen gefunden, darunter auch die des Bürgermeisters. Ich meldete mich bei Leutnant Weiss, um ihm vom Hergang der Dinge zu berichten. Bei ihm stand die Erleichterung darüber im Vordergrund, dass die SD-Truppe abgerückt war. Das waren die Zustände und die Machtverhältnisse im Krieg 1944 und unter der deutschen Besatzung in Griechenland. Das Schicksal des in meinen Augen unschuldig ermordeten Bürgermeisters schien Leutnant Weiss persönlich nicht so zu belasten wie mich, der ich den Mann hatte retten wollen. Leutnant Weiss war damit beschäftigt, Spuren der Partisanen im Besatzungsbereich des Regiments zu suchen. Es waren Waffen und Munition von englischen U-Booten nahe von Megalo Pefko an Land gebracht worden, offensichtlich mithilfe griechischer Mittelspersonen. Es seien auch Fischer von Megalo Pefko daran beteiligt gewesen. Unsere Aufgabe, also seine und meine, sei es, so Weiss, diese über Boote verfügenden Schmuggel-Verbindungen auszuforschen und zu unterbinden. Die mörderischen Untaten des SD in Asprospyrgos waren bereits Geschichte. Hatten wir als Besatzer überhaupt noch den entsprechenden Überblick  ? Hatten wir die Mannschaft und die Kräfte für eine umfassende Unternehmung gegen die englischen U-Boote und die von ihnen bestochenen Fischer aus Megalo Pefko und anderen Orten an der Küste  ? Der Krieg war da umfassend geworden. Und in diese Todeszone war ich voll hineingeraten. Mir blieb die Trauer um einen Mann, von dessen Schuldlosigkeit an den Gewalthaftigkeiten ich überzeugt war.

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8. Der Hirtenjunge Kostas als mein Helfer und Freund

Als ich Kostas zum ersten Mal sah, wurde er zum Verhör vorgeführt. Aus einem Dorf in den Bergen, in der Region zwischen Athen und Theben, war auf Einheiten der deutschen Besatzungstruppe, die in unwegsamem Gelände durchzogen, wiederholt geschossen worden. Man hatte dies auf deutscher Seite längere Zeit hindurch hingenommen und die Gegend eher gemieden. Als sich aber die Angriffe unsichtbarer Schützen zu einer beträchtlichen Gefahr entwickelten, fand ein sogenannter Einsatz statt. Im Morgengrauen wurde ein Dorf umzingelt und in einem Überraschungsangriff besetzt. Völlig unerwartet gab es bei dieser Aktion überhaupt keinen Widerstand. Als die Häuser durchsucht wurden, fand man nur ein paar alte Männer und Frauen mit Kindern. Waffen wurden nicht entdeckt. Der allgemeine Eindruck entstand, dass die Partisanen auf eine Warnung hin rechtzeitig geflüchtet waren. Wer konnte diese Warnung veranlasst haben, wo doch der Einsatz in völliger Geheimhaltung vorbereitet worden war  ? Der Kommandant dieser Aktion, ein kriegserfahrener Hauptmann, war ein besonders gründlicher Mann. Er ließ trotz des offenkundigen Misserfolgs – oder gerade deswegen – alle Winkel der Häuser, schließlich auch die Keller, die kleinen Scheunen und Ställe sowie die Dachböden auf das Gründlichste durchsuchen. Auf einem der Dachböden fand man, im hintersten Eck im Dunkeln versteckt, einen jungen Menschen. Das war Kostas. Als man ihn zur Vernehmung brachte, war sein Gesicht geschwollen. Wie immer bei Verhören, in denen ich zu dolmetschen hatte, hockte auch diesmal der zu Verhörende, Kostas, auf dem Boden zwischen mir und dem, der die Fragen formulierte. Mich fasste Mitleid mit dem etwa siebzehnjährigen Burschen. Was wurde ihm vorgehalten  ? Er wurde beschuldigt, sich dem unüberhörbaren, im Dorf von der deutschen Truppe laut verkündeten Aufruf, sofort zur Kontrolle zu erscheinen, entzogen zu haben. Der Aufruf sei an alle Dorfbewohner ergangen. Er war von einem alten Dorfbewohner laut und deutlich verkündet worden. Kostas hingegen habe sich versteckt und sich dadurch besonders verdächtig gemacht. Im Gehöft, wo man ihn aufgegriffen hatte, wurden zudem Patronenhülsen gefunden. Er könne sein Leben retten, wenn er spräche, sonst werde er wohl ins Lager geschickt werden müssen. Und das bedeute Hunger, Schläge, Verhöre und anschließend wahrscheinlich den Tod. 62

Der Hirtenjunge Kostas als mein Helfer und Freund

Kostas schwieg auf all diese Vorhaltungen. Ich gewann den Eindruck, hier handle es sich um das Verhalten eines verstörten Menschen. Er schien völlig blockiert. Was immer man von ihm herausbringen wollte, es konnte nur dann gelingen, wenn der Bann seines gleichsam totalen Widerstandes gebrochen wurde. Durch frühere Erfahrungen glaubte ich dies erkennen zu können. Der Leiter des Verhörs verstand die innere Lähmung des Jungen nicht. Er machte Anstalten, Kostas gegenüber den Mechanismus der Erpressung von Geständnissen durch die Folterung der Bastonade in Gang zu setzen. Ich fürchtete, dass man den Gefangenen mit Schlägen zum Reden bringen wollte. Ein Soldat war nämlich weggeschickt worden, um die entsprechenden Leute für die Folterung zu holen. Das waren zwei starke Burschen vom Pionierzug, welche bei solchen Gelegenheiten die Schläge austeilten. Die Vorstellung, dass dem blutjungen Burschen eine solche grausame Folterung bevorstand, um von ihm ein Geständnis zu erpressen, begann für mich unerträglich zu werden. Die Bastonade war das von den Türken während ihrer Jahrhunderte währenden Besetzung Griechenlands am häufigsten angewandte Foltermittel. Die Füße wurden gefesselt, die Sohlen nach oben gekehrt. Die Schläge auf die Fußsohlen mit Holzstöcken verursachten furchtbare Schmerzen. Die Haut platzte, das Blut begann zu rinnen. Meine Stellung in jenem System der Besatzungsmacht, das mit der Abwehr der Partisanenüberfälle befasst war, ergab sich aus meiner Kenntnis der neugriechischen Sprache. Und nun sollte ich Zeuge von Folterungen werden. Zur deutschen Wehrmacht eingezogen, hatte ich in Wien ein Intensivstudium des Neugriechischen begonnen und hierüber eine Prüfung abgelegt, um schließlich als Dolmetscher nach Griechenland entsandt zu werden. Was mir in diesem Land bevorstehen würde, davon hatte ich mir keine Vorstellung gemacht. Durch meine Qualifikation für die Dolmetscherkompanie wollte ich meine Verwendung an der russischen Front verhindern. Wenn ich schon Soldat werden musste, wollte ich mir die Möglichkeit verschaffen, Hellas, das Land, das mir durch die Dichtung von Homer, Goethe, Hölderlin und Byron durch eigene Lektüre vertraut geworden war, selber, aus eigener Anschauung, kennenzulernen. Nun hockte ich da auf dem Boden vor einer unlösbar scheinenden Aufgabe und drohte Zeuge einer grausamen Folterung zu werden, die dazu dienen sollte, einem offensichtlich verstörten jungen Burschen ein Geständnis abzupressen. In meiner Verzweiflung fasste ich Mut. Ich ergriff die Initiative und wandte mich an den die Befragung leitenden Offizier. Ich schlug ihm vor, man solle mich mit dem jungen Gefangenen allein lassen. So würde es mir gelingen, all das herauszufinden, was hier für uns in der 63

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Verteidigung gegen die Partisanentruppen wichtig sei. Der Offizier bewilligte mir ganz spontan diesen Wunsch. Ich hatte den Eindruck, dass auch er die grausame Prozedur verabscheute. Sie wurde vorerst abgesagt. Die Folterer und der Rest der Leute zogen sich zurück. So saß ich allein mit dem Jungen, er auf dem Boden, ich auf einem wackeligen kleinen Sessel. Der Altersunterschied zwischen uns beiden mochte etwa drei Jahre betragen. Verlief das Gespräch mit dem Gefangenen fruchtlos, so würde man es am nächsten Morgen mit der Bastonade versuchen. Ich würde Vertrauen verlieren und in die Rolle eines bloßen Übersetzers zurückgedrängt werden. Die Härte üblicher Vorgangsweisen wäre nicht mehr zu mildern, und die Entwicklung mechanischer Gewaltanwendung durch Folter wäre in Zukunft kaum zu verhindern gewesen. Ich nahm alle meine Kraft zusammen und wandte mich an den Burschen auf dem Boden vor mir. Ich könnte ihn schützen, sagte ich ihm, wenn er sich mir eröffnen würde. Als ich das versprach, setzte ich alles auf eine Karte. Aber ich wusste noch nicht, wie ich das zuwege bringen sollte. Ich wollte uns beide aus dem Dilemma befreien. Ihm wollte ich die Folterung und mir den Verlust eines guten Teils meiner Glaubwürdigkeit im militärischen System Ic, der sogenannten Abwehr des Regiments, ersparen. Dieser Wunsch war so stark, dass Kostas ihn zu fühlen schien. Aber ich weiß bis heute nicht, was den jungen Menschen schließlich bestimmte, sich mir mitzuteilen. War es das annähernd gleiche Alter, das ihm Vertrauen einflößte, oder die Tatsache, dass ich fließend Griechisch mit ihm sprach, so wie er sich das von einem deutschen Soldaten nie erwartet hatte  ? Was nach dem Dammbruch folgte, war ein langer Bericht von Kostas, der mehrere Stunden dauerte, bis tief in die Nacht hinein. Ich übergab Kostas dann seinen Bewachern und sorgte dafür, dass er zu essen und zu trinken bekam. Ich verlangte von der Wache ausdrücklich, Kostas gut zu behandeln, und motivierte sie damit, dass das Verhör sehr erfolgreich verlaufen sei. Sodann zog ich mich zurück mit der Absicht zu schlafen, um am nächsten Morgen für Kostas eine Sonderlösung zu erreichen. Welche Lösung das sein würde, das wusste ich noch nicht. So ging ich, lag aber lange wach, um einen Ausweg zu finden. Schließlich kam für mich der erlösende Schlaf. Das war Kostas Geschichte, wie er sie mir erzählte  : Er war als Kind einer armen Mutter zur Welt gekommen. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt. Der Vater der Mutter, der Großvater Kostas’, war ein strenger Mann, von dem Kostas nie Freundliches erfahren hatte. Von einem Schulbesuch konnte in den Bergdörfern keine Rede sein, weil es dort keine Schulen gab. Manche Kinder, deren Eltern Verwandte in der Stadt hatten, konnten ein paar Jahre von diesen 64

Der Hirtenjunge Kostas als mein Helfer und Freund

aufgenommen werden, um so lesen und schreiben zu lernen und dann entweder ins Dorf zurückzukehren oder aber in der Stadt zu bleiben. Wer die Schule in der Stadt besucht hatte und ins Dorf zurückkehrte, gehörte dort zu den besseren Leuten. Kostas und seine Familie gehörten nicht zu ihnen. Er durfte überhaupt nicht in die Stadt zur Schule. Der Großvater, der Vater der Mutter, war manchmal betrunken. Da kam es vor, dass er Kostas schlug, auch ohne dass dieser hierzu auch nur den geringsten Anlass gegeben hätte. So begann Kostas zu lernen, sich zu verstecken. Wenn er annahm, dass der Großvater betrunken war – oder betrunken nach Hause zurückkehren würde –, versteckte er sich im Geräteschuppen, im Keller oder auf dem Dachboden. Doch das half nicht immer. Wurde er gefunden, fielen die Schläge nur umso kräftiger aus. Einmal, als er sich sogar zum Nachbarn fortgewagt und dort hinter einer Truhe im Schafstall versteckt hatte, schlug ihn der Großvater so heftig, dass er nicht mehr sprechen konnte. Es war das, was wir heute als Schock-Aphasie bezeichnen. Man legte ihm das als Verstocktheit aus. Warum er der Mutter die Schande bereitet habe, in das Nachbarhaus geflüchtet zu sein, zu Leuten, mit denen man sich ohnehin nicht vertrug  ? Der Großvater verstand nicht, dass er, Kostas, einfach nicht hatte antworten können. Und so schlug er so lange zu, bis der Bub das Bewusstsein verlor. Kostas war damals etwa zwölf Jahre alt. Wie sonst niemand im Dorf, hatte Kostas keine Geschwister. Die Mutter war krank, sie hustete oft und konnte auch keine schweren Arbeiten mehr verrichten. Manchmal fuhr sie in die Stadt, zu Verwandten, wie sie sagte, um dort in Dienst zu gehen. Sie kam dann meist mit etwas Geld zurück. Hatte sich die Mutter fortbegeben, waren das Wochen, in denen Kostas kaum etwas zu essen bekam und sich aus anderen Häusern etwas zusammenstehlen musste, um nicht zu verhungern. So war Kostas viel allein. Ein Hund, der ihm einmal zugelaufen war und den der Großvater als unnützen Fresser bezeichnet und verjagt hatte, der sich aber doch immer wieder zu Kostas, der ihn liebte, zurückschlich, war sein einziger Begleiter. Nach den Tagen, da Kostas die Sprache verloren hatte, beschloss der Großvater, ihn einem alten Hirten, der auf der Hochfläche Schafe weidete, als Gehilfen beizugeben. Mit einem kleinen Sack seiner Habseligkeiten verließ Kostas im Alter von etwa zwölf Jahren seine Familie und zog zu dem alten Hirten. Der lebte bei seiner Herde im Freien oder in kleinen Steinhütten in den Bergen. Kostas konnte auch seinen Hund mitnehmen und ihn als Hirtenhund abrichten. Wie es bei dem alten Hirten gewesen sei  ? Es sei ihm nicht schlecht gegangen, sagte Kostas, er habe mehr zu essen bekommen als zu Hause. Aber er habe 65

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Angst gehabt vor dem Alten. Ich versuchte herauszubringen, was es mit dieser Angst auf sich hatte. Kostas wurde da wortkarg und verlegen und nahm schließlich zu Gesten Zuflucht, die eindeutig waren. Der Alte habe immer wieder gewollt, dass er ihm zu Willen sei, aber er, Kostas, habe sich sehr davor geekelt. Trotzdem habe er mit dem Alten einen Sommer und einen Winter gemeinsam verbracht. Eines Abends nach Einbruch der Dunkelheit sei der Alte in eines der tiefen Steinlöcher gestürzt, die eine wahre Gefahr auf der Hochfläche darstellten. Manchmal brachen auch Schafe dort ein und verletzten sich so, dass sie geschlachtet werden mussten. Kostas gelang es mit größter Mühe, den Alten aus dem Loch zu zerren. Er hatte sich ein Bein so arg gebrochen, dass es ihm verdreht am Leib hin. Der Mann litt starke Schmerzen, dass er Kostas trotz aller Angst, die er ihm eingeflößt hatte, dennoch leidtat. Noch in der Nacht lief Kostas durch die Berge, um Hilfe zu holen. Der Alte wurde auf einer aus Stämmen zusammengefügten Bahre in ein Dorf und zu einem heilkundigen Menschen gebracht. Aber er kehrte nie mehr in die Berge zurück, und Kostas wusste auch nicht, was mit ihm geschehen war und ob er überhaupt noch lebte. Von da an war Kostas, er mochte etwa 14 Jahre alt sein, Schafhirte der Herde. Gegenüber den Tieren tat er nichts anderes als das, was der Alte getan und was er von diesem gelernt hatte. Eines Nachts kamen zum ersten Mal bewaffnete Partisanen und verlangten von Kostas, er müsse ihnen einige Schafe überlassen, damit sie diese schlachten, braten und essen könnten. Kostas verweigerte den Partisanen die Tiere, doch diese lachten nur, stießen ihn weg, holten sich die Lämmer, die ihnen gefielen, schlachteten sie und brieten sie am Feuer, nicht weit von dort, wo die Herde lagerte. Dann aßen sie und verschwanden in der Nacht. Es blieben kaum Essensreste für Kostas und den Hund. Die Truppe kam nach einigen Tagen wieder und bediente sich ebenso reichlich wie zuvor. Als ihnen Kostas sagte, dass man ihn erschlagen würde, wenn man bemerkte, dass so viele Tiere fehlten, lachten die Männer nur und sagten ihm, er solle erzählen, die Adler oder die Füchse hätten die Lämmer geholt. Die Männer kamen immer wieder und hielten nicht nur Mahlzeit in der Nacht, sondern trieben auch Tiere weg, sodass bald nur mehr die Hälfte der Herde übrig war. Eines Morgens erschienen zwei Männer. Einer von ihnen war ein reicher Mann aus der Stadt, dem die meisten Schafe gehörten. Die beiden Männer begannen die Schafe zu zählen, dann fielen sie über Kostas her. Die halbe Herde sei verloren – was habe er nur getan  ! Ein solcher Hirte müsse vor Gericht gebracht werden. Kostas beteuerte seine Unschuld. Die Partisanen seien gekom66

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men und hätten die Schafe geschlachtet. Kostas zeigte die Brandstellen, wo die Schafe in ihrer eigenen Haut gebacken worden waren, und er berichtete wahrheitsgetreu, dass die Partisanen nicht nur Mahlzeit gehalten, sondern darüber hinaus auch Schafe weggetrieben hätten. Die beiden Männer sagten, sie glaubten ihm nicht, und schlugen ihm ins Gesicht. Sie verdächtigten ihn, die Schafe verkauft und den Erlös versteckt zu haben. Ob sie ihm wirklich nicht glaubten, war gar nicht gewiss. Sie waren wütend, weil die Schafe fehlten. Der eine von ihnen, der reiche Mann aus Athen, war darüber empört, dass er die Schafe verloren hatte, und der zweite schrie, dass Kostas das Geld, das er für die Schafe bekommen hätte, aus dem Versteck holen solle. Er solle sich beeilen, es herbeizubringen, sonst wäre es um ihn geschehen. Kostas war ratlos – er hatte kein Geld bekommen und auch keines versteckt. Mit Flüchen und Drohungen zogen die beiden Männer schließlich ab. Am Abend kamen die Partisanen wieder. Kostas klagte ihnen, was geschehen war. Da lachten sie über ihn. Er verlangte, dass sie ihm keine Schafe mehr wegnehmen sollten. »Und wenn wir Hunger haben«, so sagte einer von ihnen, »müssen wir uns nehmen, wo man es uns nicht freiwillig gibt.« Sie fingen wieder zwei Jungtiere, um sie zu schlachten. »Es ist Krieg«, sagte ein anderer der kommunistischen Partisanen »was sollen uns die Kapitalisten in Athen.« Und einer von ihnen nahm, als wolle er seinen Gefühlen Luft machen, seine Maschinenpistole von der Schulter und schoss eine Garbe in die Luft, dass es weit durch die Nacht hallte. Kostas musste wieder hilflos zusehen, wie sie die Tiere schlachteten und ihr Mahl hielten. Dann lagerten sie, stellten zwei Wachen aus, die anderen legten sich rund um das verglimmende Feuer und hielten ihre Nachtruhe. Einer der Wachposten war ein junger Kerl. Er sprach Kostas an. »Lass deine Schafe«, sagte er, »und komm mit uns.« Kostas wollte die Schafe nicht verlassen. Aber der Junge malte ihm ein besseres Leben aus. Am nächsten Abend brachten die Partisanen einen neuen Hirten mit, von dem sie annehmen konnten, dass er ihnen gefügig sein werde. Kostas und seinen Hund nahmen sie mit sich. Es war Kostas’ Forderung gewesen, dass der Hund bei ihm bleiben dürfe. Kostas bekam ein Gewehr, und man erklärte ihm, wie er es zu handhaben hätte. Der Anführer wollte den Hund nicht mitnehmen, er hatte Angst, dass das Tier bellen würde, wenn es darauf ankäme, in einem Versteck unentdeckt zu bleiben. Kostas versicherte, dass der Hund so abgerichtet sei, dass er dies nie tun würde. Ohne Hund wäre Kostas nicht mit den Partisanen gegangen. Damit begann für Kostas das Leben bei den Partisanen. Er zog mit ihnen von Versteck zu Versteck. Schließlich begannen sie in dem Dorf, in dem man ihn später auf dem Dachboden finden sollte, eine Art Stützpunkt einzurichten. 67

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Auf meine Frage, warum die Partisanen, ehe das deutsche Militär das Dorf umstellt hatte, rechtzeitig hatten flüchten können, erklärte mir Kostas, dass man überall Ortsbewohner als Späher aufgestellt habe, die zwar weder Partisanen noch bewaffnet gewesen seien, aber doch mit großer Zuverlässigkeit alle Bewegungen und Vorbereitungen der Deutschen den Partisanen gemeldet hätten. Und warum Kostas zurückgeblieben und nicht mit den Partisanen weitergezogen sei  ? Da stockte Kostas. Am Abend zuvor sei die Gruppe nahe einem deutschen Posten, um durch Beobachtung dessen zahlenmäßige Stärke und Bewaffnung zu erkunden, vorsichtig in Stellung gegangen. Man wollte nicht angreifen, nur Aufklärungsarbeit leisten. Bei dieser Gelegenheit seien einige verirrte Schafe durch das Gebüsch gezogen, und Kostas Hund habe, wenn auch unterdrückt und kaum hörbar, einen Laut von sich gegeben. Als man sich sicher fühlte und von dieser Erkundung wieder ins Dorf zurückkehrte und erfuhr, dass man es verlassen müsse, weil eine Aktion der Deutschen bevorstehe, habe der Anführer, verärgert über das Verhalten des Hundes in einer für die Gruppe gefährlichen Situation und voller Wut, nun aus dem sonst verhältnismäßig sicheren Stützpunkt flüchten zu müssen, die Pistole gezogen und den Hund mit zwei, drei Schüssen niedergestreckt. Das habe für Kostas den Ausschlag gegeben, sich von der Partisanentruppe zu trennen. Und was er weiterhin getan hätte, wäre er nicht auf dem Dachboden gefunden worden  ? Kostas wusste darauf keine Antwort. Wo seine Waffe versteckt sei, das wisse er. Er habe sie in einer der Futterkisten im Mais vergraben. Er könne genau beschreiben, wo sie zu finden sei. An diesem Punkt brach ich das Gespräch ab. Für mich stand fest, dass Kostas alles berichtet hatte, was er wusste. Sollte ich gleich auch versuchen, Namen und Personenbeschreibungen der Partisanen von ihm zu erfahren  ? Was würde dadurch gewonnen  ? Die Gruppe hatte, wie solche Gruppen dies häufig taten, ihren Aktionsbereich vermutlich längst woandershin verlegt. Am nächsten Morgen glaubte ich eine Lösung gefunden zu haben. Ich begab mich zu meinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem aus Stuttgart stammenden Sprachwissenschaftler und Anglisten Leutnant Weiss. Wenn Weiss – etwa am Telefon – seinen Namen nannte, so trennte er das e vom i so sehr, dass man vorerst nicht verstand, dass sein Familienname mit der Bezeichnung der weißen Farbe identisch war. Der Unterton seiner Sprache war ganz und gar vom Schwäbischen bestimmt, was den durchaus ernsten und gründlichen Mann mit einer gewissen Komik umgab, besonders wenn er es mit einer Fremdsprache versuchte. Das schien paradox, da Weiss Linguist und als Herausgeber für ein englisch-deutsches Wörterbuch tätig war. Aber er war ein Mensch nicht der ge68

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sprochenen, sondern der geschriebenen Sprache. Es war Weiss gewesen, der als Abwehroffizier des Regiments darauf gedrängt hatte, dass der griechische Zivilist, der dem Regimentsstab als Dolmetscher diente und dem Weiss in den verschiedensten Hinsichten zutiefst misstraute, durch einen Angehörigen der Wehrmacht abgelöst wurde. Diese Anforderung hatte dazu geführt, dass ich nach meiner Entsendung nach Athen von dort aus dem in der Nähe von Eleusis stationierten Regiment und im Besonderen dem Sicherheitsoffizier, dem IcLeutnant Weiss, zugeteilt wurde. Weiss vertraute mir. Ich hatte in den ersten Wochen, nachdem ich den griechischen Dolmetscher ersetzt hatte, sehr viel zu lernen versucht und mir nicht nur Sprachliches, sondern auch Kenntnisse der sozialen und politischen Verhältnisse der Region angeeignet. Ich begab mich also in das Büro von Weiss, nahm eine stramme Haltung ein und erklärte ihm auf seine Frage nach meinem Begehr, dass ich über den festgenommenen Burschen Kostas mit ihm reden wolle. Aus meiner Erklärung wurde fast eine Ansprache. Ich begann damit, dass viele Bergbewohner, besonders die Hirten und die armen Bauern, mit denen die Partisanen am häufigsten Kontakt hatten, gar nicht Griechisch sprechen konnten. »Und wie sprechen sie  ?«, informierte sich der Linguist Weiss. Ich konnte nur sagen, was ich wusste. Die Antwort war  : »Arvanitika«. Ich hätte mir schon ein kleines Lexikon von Worten der Sprache »Arvanitika« angelegt. Damit zog ich das Büchlein aus der Tasche und wies es dem Sprachwissenschaftler vor, der es interessiert betrachtete. Und was das mit dem Burschen zu tun habe, den wir gefangen genommen hatten. Dessen Muttersprache sei Arvanitika, er könne mir helfen und mich durch seine Kenntnisse über die politischen und militärischen Verhältnisse in der Region so informieren wie sonst niemand. Leutnant Weiss hörte sich die Geschichte gespannt an. Als Wissenschaftler interessierte er sich dafür. Ich steckte mein kleines Lexikon wieder ein. Leutnant Weiss bat ich, mir Kostas als meinen persönlichen Gefangenen auf eine bestimmte Probezeit zur Unterstützung meiner Expeditionen in der Region beizugeben. Ich konnte Weiss für dieses Experiment interessieren. Er verlangte aber von mir, die volle Verantwortung für Kostas zu übernehmen. Es sei nicht ungefährlich, sich darauf einzulassen, aber er traue mir. Damit war die Sache entschieden. Ich konnte Kostas als eine Art Assistent mit mir führen. Er blieb aber dadurch bis auf Weiteres in Gewahrsam. Ich konnte gar nicht glauben, dass eine Lösung so schnell gefunden worden war. Ich erklärte Kostas nach meiner Rückkehr aus dem Büro von Weiss unter Vorweisung meiner Pistole, dass er, Kostas, sich von mir nie entfernen dürfe. Kostas besiegelte seine Zusage, indem er die beiden Zeigefinger kreuzte, sie küsste und 69

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mit dem Schwur die Geste ergänzte  : »Na philisso to stavro.« Das heißt  : Ich küsse also das Kreuz – zur Bekräftigung meines Versprechens. Kostas hat dieses Versprechen nie gebrochen, bis zu der Flucht nach Österreich, als ich ihn gegen meine bessere Einsicht auf seinen tiefen Willen, in die Heimat zurückzukehren, freiließ. Kostas hatte unerhört viel zu meinem Überleben beigetragen, als gleichsam ununterbrochen wacher Beschützer, als Hühnerdieb und Beschaffer aller Art von Nahrung, allzeit verlässlich, vor allem als ein moralischer, vorsichtiger, aber unerschrockener Gefährte. Ich hatte ihn auch die ganze Zeit über »Kostaki mou«, »mein lieber Kostas«, genannt. Das war der Beginn meiner Freundschaft mit Kostas. Ich hatte stets das Gefühl, mich auf ihn verlassen zu können, von dieser ersten Begegnung an bis zu einem für mich zwar verständlichen, aber mit tiefer Traurigkeit erfüllenden Abschied zu Kriegsende, worüber ich später berichten werde.

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9. Afroditi aus den Weingärten

Afroditi hieß die Tochter eines reichen Grundbesitzers und Weinbauern, in deren Garten sie und ich uns am Abend des Öfteren trafen. Der Vater besaß eine Stadtwohnung in Eleusis, von woher er auch stammte. Er wusste von diesen Einladungen seiner Tochter an mich, gesellte sich aber nie zu uns. Er wollte gegenüber den Beobachtern der Partisanen nicht den Eindruck erwecken, mit einem Menschen in der Uniform der Besatzer etwas zu tun zu haben. Im Grunde konnte ich das auch verstehen. Wir beide, der alte Weinbauer und ich, waren durch diese Distanz weniger gefährdet, aus dem Hinterhalt umgebracht zu werden. Afroditi, so hieß sie nach der antiken Schönheitsgöttin, war ein sehr liebenswertes Mädchen, aber durchaus keine Schönheit. Sie hatte ein kluges Gesicht, kurzes Haar und einen etwas fülligen Körper, war immer makellos sauber gekleidet, jedenfalls am Abend, wenn ich sie anlässlich des gemeinsamen Essens zu Gesicht bekam. Sie erzählte mir, dass der Pope die Taufe auf den Namen Afroditi, der heidnischen Schönheits- und Liebes-Gottheit, verweigert hatte. Der Vater musste sich deshalb rasch einen christlichen Namen einfallen lassen, ehe das Taufwasser über sie, Afroditi, fließen durfte. Natürlich nannte ich sie, stolz auf meinen Hintergrund klassischer Bildung, beim vollen Namen der Schönheitsgöttin. Sie wurde jedoch allgemein mit der Kurzform »Diti« bezeichnet, auch vom Personal des Gartenbetriebs, das am Abend das Essen auf der Terrasse auftrug. Afroditi hatte immer etwas zu erzählen. Sie stellte zumindest als kluge Person Fragen. Sie stellte diese Fragen auch sich selber. Sie war nicht darauf bedacht, sofort geschliffene Antworten zu bekommen. Es schien ihr darum zu gehen, wenigstens stückweise mehr Klarheit über ihre Lebensverhältnisse und sich selbst zu gewinnen. Das war nicht leicht in der verworrenen Situation von Krieg und Besatzung und ohne Zugang zu höherer Bildung in der damaligen Zeit. Die Kriege, sagte sie eines Abends plötzlich, entstünden doch daraus, dass so viel Ungleichheit zwischen den Menschen herrsche, zwischen Arm und Reich, zwischen Ohnmächtigen und Mächtigen. Die große Aufgabe bestünde daher darin, die Ungleichheit aufzuheben oder wenigstens abzubauen. Sie würde sich jedenfalls dafür einsetzen, dass dies nach dem Krieg in Griechenland auch geschehe. Welch’ eine Anküdigung! 71

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Ich war sehr erstaunt, dass sie solche Pläne für die Zeit nach dem Krieg entwickelte. Ich vermochte damals gar nicht so weit vorauszudenken. Mir war es mehr um das Ende des Kriegs und der Herrschaft Hitlers und des Nationalsozialismus zu tun. Weiter hinaus konnte ich mir gar nichts vorstellen. Ich wollte in den Frieden übersiedeln. Aber es gab noch keine Anzeichen für ihn. Afroditi, die junge Griechin, die das Personal aus Gärtnern und Weinbauern anzuleiten hatte, dachte anders und weiter in die Zukunft hinein, als ich es damals imstande war. In gewisser Weise fühlte ich mich ihr auch deswegen unterlegen. Woher bezog sie ihre Zukunftsideen  ? Sie sprach immer vom Frieden, der für alles Gute die Voraussetzung sei. Die Terrasse, auf der wir saßen, war in der Tat ein hervorragend schöner Platz, zum Nachdenken geeignet, ein Platz, der es auch ohne Essen wert gewesen wäre, ihn zu besuchen. Von diesem Platz aus weitete sich der Blick über den großen Garten, der fast bis zum Meer, bis zum hellbraunen Sandstreifen des Ufers, sanft geneigt hinunterführte. Wenn die Sonne hinter den Hügeln und hinter unseren Rücken unterging, fiel ihr Schein, deutlich leuchtend, ins Meer, das wie zur Antwort seinerseits zu leuchten begann. All das war in einer Welt des Misstrauens, der Ängste und versteckten Angriffe und offenen Morde eine Erquickung für mich. Thia sah mich nicht gern zu Afroditi gehen. Sie war da geradezu unerbittlich, bei aller Liebe, die sie mir entgegenbrachte. »Kindchen«, sagte sie, »die Neuigkeiten kann ich dir auch erzählen, die Afroditi weiß. Du müsstest dir nur Zeit nehmen und mir zuhören. Aber du läufst ja immer so schnell weg, sodass ich gar nicht zum Erzählen komme.« Leider hatte Thia mit dieser Kritik nicht unrecht. Vermutlich wusste sie aus ihrem täglichen Umgang mit den Menschen von Megalo Pefko, den sie aufmerksam pflegte, mir einiges zu sagen, das auch militärisch und für die Sicherheit unseres Regimentsstabes wichtig gewesen wäre. Ich spürte ja gerade der Frage nach, wie in der Nacht die englischen Waffen an Land kommen konnten. Dazu hatte ich mit den befreundeten Fischern zu reden. Die steckten dann in einem Dilemma. Sie wollten ihre schmuggelnden und für uns dadurch lebensbedrohenden Menschen aus ihrer Nachbarschaft nicht verraten. Anderseits suchten sie Partisanenüberfälle mit jenen geschmuggelten Maschinenpistolen auf die Besatzungsmacht zu verhindern. Selber würden sie dadurch in die schwierigste Lage und in die Zone rächenden Zorns von uns, den Besatzern, gebracht. Ich suchte zu verhandeln, sprach davon, dass der Abzug unserer Einheiten ja bald erfolgen werde. Sie sollten sich als Fischer in dieser Phase durch das Waffenschmuggeln nicht noch besonders gefährden. Ich fand damit überall sofort 72

Afroditi aus den Weingärten

Zustimmung. Wie aber gehandelt wurde, das konnte ich doch nicht herausfinden. Alle Menschen, Soldaten, Fischer und Gärtner, schienen abzuwarten, und alle wollten am Leben bleiben. Am nächsten Tag würde ich in der Früh in den Booten den Fischfang kontrollieren und jede Menge Fische umdrehen, um den Holzboden der Boote zu sehen oder die Maschinenpistolen, die unter dem reichlichen Fang der schönsten Barbounakia, der teuersten Fische, allenfalls versteckt sein mochten. Bei Afroditi ging die landwirtschaftliche Arbeit ihren Gang. An mehreren Stellen des Grundstücks wurde versucht, den kargen Boden aufzulockern. An den Brunnen zogen teils Ochsen, teils Maultiere, im Kreise jeweils hintereinander gehend, die Schöpfräder, die das Wasser in hölzernen Eimern aus der Tiefe der Brunnen heraufholten. Arbeiter gossen das Wasser in hölzerne Wasserrinnen. Das war Bewässerung für das Gemüse, besonders für die Tomatenfelder. Das konnte man auch ohne landwirtschaftliches Spezialwissen für die Gegend erkennen. Die Bewässerung war im Sommer 1944, in einem bereits heißen Jahr, dringend nötig. Afroditi machte mir den Eindruck einer energischen und bereits durchaus kenntnisreichen Person. Ihr Vater habe ihr, so erklärte sie mir, die Betreuung des vor uns liegenden Areals anvertraut. Er selber pflege mit seiner Mannschaft große, ihm gehörige Weingärten an der Küste auf Eleusis zu. Trotz Krieg und Besatzung musste ja das Leben weitergehen, erklärte sie, vielleicht auch im Hinblick auf meine Rolle in der Ortskommandantur. Ich hatte ja die verschiedensten Formen von Bewilligungen und Genehmigungen für die Transporte und die Fischerei durchzuarbeiten und sie schließlich dem Feldwebel der Ortskommandantur als Verantwortlichem für diese Genehmigungen mit Stellungnahmen von mir vorzulegen. Jedenfalls war die Einladung der jungen Frau an mich durchaus auch als eine Aktion zu verstehen, sich mit der deutschen Ortskommandantur gut zu stellen, z. B. um Bewilligungen für Transporte nach Athen auf den Großmarkt rasch zu erhalten. Kaum hatten Afroditi und ich uns auf einer Terrasse an einen Tisch gesetzt, wurde dieser bereits mit Blumen geschmückt, und ein üppiges Mahl wurde von Bediensteten aufgetragen. Nach den Vorfällen in Aspropyrgos war meine Vorsicht zu einem ausgeprägten Misstrauen angewachsen. Ich griff immer wieder nach meiner Pistole im Gürtel, um sicher zu sein, dass sie sich auch weiterhin dort befand. Zudem beobachtete ich die unmittelbare Umwelt, im zeitlichen Abstand von wenigen Minuten immer wieder rundum schauend. Ich wollte die mir gegenübersitzende Frau nicht verdächtigen. Trotzdem hatte ich vorsichtig zu sein. Wir könnten ja auch beide Opfer eines Überfalls werden. 73

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»Wie wird das alles weitergehen  ?«, fragte ich sie im Hochsommer 1944 eines Abends unvermittelt. »Ihr werdet abziehen«, antwortete die junge Frau sofort darauf, »und alles wird sich verändern. Es wird ein neues Griechenland geben.« Ich antwortete  : »Menschen mit ihrer Grausamkeit werden auch hier erhalten bleiben.« Dies sagte ich noch ganz unter dem Eindruck jener Partisanengruppe, welche den Soldaten der kleinen Besatzungsgruppe von Aspropyrgos die Augen ausgestochen hatte. Die junge Frau hielt diesem Vorfall die Morde des SD-Sonderkommandos entgegen. »Man muss die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern«, sagte sie, als müsse sie mich belehren, sonst gebe es auch keine Erneuerung menschlicher Verhaltensweisen. Woher hatte sie diese als eine Art Wahrheit ausgesprochene Formel bezogen  ? Wo hatte sie darüber gelesen  ? Ich hatte in der Schule nie dergleichen Argumentation gehört oder in solcher Weise abgefasste Texte kennengelernt. Ich wusste damals noch nicht, dass sie der Denkwelt von Karl Marx entstammten. So schwieg ich und ließ die Gastgeberin weitersprechen, die durch den Besitz und die Handelstüchtigkeit des Vaters, teils auch durch ihre eigene Arbeit, eine wohlhabende junge Frau war. Sie erklärte mir, dass der Mensch als Individuum jeweils aus den gesellschaftlichen Verhältnissen heraus geformt werde. Der einzelne Mensch sei das Produkt dieser Verhältnisse. Das war verschieden von dem, was ich von den antiken Philosophen der Griechen gelernt hatte. Entwicklungen waren zwar von einer dörflichen Kultur durch Herausbildung neuer Voraussetzungen zur ›Polis‹, zur Stadt entstanden. So seien die Kultur und ihre Nachdenklichkeit hervorgebracht worden. Veränderungen erfolgten bei diesen Denkern der klassischen Antike aus einem durch Lernen geförderten Geist oder durch die große Kraft des zu vielen Entwicklungen drängenden Eros. Er war der Gott, der den Menschen dazu herausfordert, in Liebe und Begeisterung über sich selbst hinauszuwachsen und so Neues in Kultur und Gesellschaft zu bewirken. So hatte ich es am Gymnasium gelernt. Von gesellschaftlichen Verhältnissen in dem nun von Afroditi vergegenwärtigten Sinn war bei den Philosophen des Altertums nie die Rede gewesen. Ich ließ mich daher auf keine Argumente gegenüber der jungen Person ein. Ich wollte vielmehr von ihr erklärt bekommen, was sie selber über die Zukunft dachte. Und so fuhr sie fort  : Friede könne nur durch eine Änderung der Gesellschaft bewirkt werden  ; dies legte sie dar, ohne zu sagen, worin diese grundsätzliche Änderung bestehen solle, die den Frieden und die Neuorganisation bringen würde. Die mit Begeisterung vorgetragenen Worte der jungen Frau hatten etwas Fesselndes. Was aber unter den von ihr genannten gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Veränderung zum Besseren der Menschen gemeint war, das verstand 74

Afroditi aus den Weingärten

ich nicht. Ich sollte das erst nach dem Krieg, durch eigene Lektüre von Schriften von Karl Marx erfahren. In Mythos und Religion hatte ich niemals so fordernd ausgesprochene Ziele gehört. Beim gesellschaftlichen Eingreifen als Mittel zur Veränderung fehlte mir allerdings die Vorstellung, wie diese Veränderung zu erreichen sein sollte. Von Revolution hatte ich damals noch keine Vorstellung. Ich war ein Wehrmachtssklave, wenn auch mit klassischer Bildung. Als es dunkel wurde, begann ich mich aus Vorsichtsgründen von dem großartigen Blick auf die Küstenebene und von der vorgetragenen Philosophie zurückzuziehen. Auf Afroditis Einladung hin sagte ich zu, wiederzukommen. Die junge Person drängte darauf. Ich verstand nicht ganz, warum sie das tat. Ich hatte ihr gegenüber keinerlei Bewunderung ihrer durchaus ebenmäßigen Gestalt, ihrer Schönheit und ihrer lebhaft vorgetragenen Äußerungen ausgedrückt. Und doch wollte sie mich wiedersehen. Ich gewann nicht den Eindruck, dass dieses Drängen auf ein neuerliches Zusammentreffen mit der Erwartung verbunden war, ihre Person und ihr Anliegen gegenüber der Ortskommandantur zu begünstigen. Was also war es, das sie bewog, mich wiedersehen zu wollen  ? Ging es ihr um ihre Veränderungstheorie, die aus ihr wie eine Heilsbotschaft erklang, die sie mir verkünden wollte  ? Sie hoffte, mich mit dieser Botschaft zu erreichen, das wurde mir deutlich. Auf dem Nachhauseweg zog ich meine Pistole aus dem Gürtel und trug sie in der Dunkelheit auf den Boden weisend, aber aus Vorsicht entsichert, vor mir her. Nach der Rückkehr in meine Behausung wurde ich von der wach gebliebenen Quartiergeberin mit Fragen überfallen, warum ich erst so spät wiederkehre und sie dadurch schon in schwere Ängste gestürzt habe. Ich versuchte, vorerst mit wenig Erfolg, sie zu beruhigen. Ihre Besorgnis erschien mir als echt, nicht als geheuchelt. Sie wollte nicht, dass ich zugrunde ginge. Der Sommer war nicht nur grausam durch die Kämpfe, sondern auch außerordentlich heiß und trocken. Es war geradezu unverständlich, dass auf griechischem Boden die Ernte so gut gedieh, brannte doch an manchen Stellen die Sonne das Gras nicht nur am Wegrand aus. Die Ochsen im großen Garten von Afroditi trotteten auch in den Abendstunden, an die Holzstangen gespannt, im Kreis um die Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Sie mussten auch oft schon in den frühen Morgenstunden ihre Wasserschöpfrunden drehen, ehe sie eine Hitzepause am späten Vormittag und am frühen Nachmittag zugestanden bekamen. Das Brunnenwasser in vielen anderen Gärten begann zu versiegen. Bei Afroditi war dies nicht der Fall. Dort konnten die winterlichen Niederschläge 75

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am Fuß der Hügel unterirdisch aufgespeichert werden und im folgenden Jahr ihren Segen für das Wachstum in den Gärten wirken lassen. Auch das sonst allseits vertrocknende Gemüse konnte in Afroditis Bereich gedeihen. Durch klugen Einsatz von Wasser wurde es in ihren Gärten von der Hitze nicht zerstört. Die junge Frau verstand mit ihren Wasserreserven gut umzugehen. Sie vermochte es auch, mit Reise- und Frachtdokumenten der Ortskommandantur, an deren Ausstellung ich beteiligt war, die Produkte ihres Gartens preisgünstig auf den Markt nach Athen zu bringen. Ich hatte es von allem Anfang an mit Überzeugung vermieden, irgendwelche Gegengaben, und wäre es auch nur eine Flasche Wein gewesen, vom Gutsbetrieb Afroditis entgegenzunehmen. Diese meine Haltung, außer einem Abendessen auf der Gartenterrasse nichts anzunehmen, schuf eine Art verständnisvolles, aber nüchternes Vertrauensverhältnis zwischen uns beiden. Sie konnte, weil sie ja Interessen zu vertreten hatte, nicht als »Freundin der Deutschen« angesehen werden und so direkt ins Schussfeld der Partisanen geraten. Wohl entrichtete sie beträchtliche Summen von realem Silber als Schutzzahlungen an die Partisanen, worüber ich aber bewusst jedes Gespräch mit ihr vermied. So waren wir beide vor abendlichen Überfällen eher gefeit. Natürlich verschwieg ich meine Vermutungen Thia gegenüber. Es mochte Mitte Juli des Jahres 1944 gewesen sein. Der sowjetische Vormarsch durch Osteuropa weit über Russland hinaus nach Westen war voll im Gange. Eine unverständliche Gesamtstrategie beließ das Balkanheer immer noch in seinen durch den Vormarsch der Alliierten in Frankreich und durch den Fall Roms am 6. Juli 1944 unhaltbar gewordenen Positionen. Da sandte mir Afroditi eines Tages auf die Ortskommandantur einen Boten mit der Nachricht, ich möge sie des Abends besuchen. Es gebe eine wichtige Nachricht für mich. Ich ließ Afroditi aber über den zu mir gesandten Boten die Nachricht zukommen, dass ich ihrer Einladung nicht würde Folge leisten können. Die Lage sei zu unsicher, sollte der Bote ihr sagen, ich sei zu beschäftigt, um zu kommen. Das war die reine Wahrheit. Ich wollte nicht über Gesellschaftsänderungen und Revolution bei einem feinen Essen im Weingarten diskutieren, während hier im engen und weiteren Umfeld politisch-militärisch der Boden unter unseren Füßen zu brennen begann. Der Abzug des Regiments im Rahmen der Räumung Griechenlands rückte immer näher. Es waren hierfür die Vorbereitungen im Gange. Ich konnte dort im Weingarten, samt Afroditi als »Verräterin«, überfallen oder als Geisel festgenommen werden. Auch einen Überfall auf mich auf meinem Heimweg und 76

Afroditi aus den Weingärten

meine »Liquidierung« durch Partisanen mithilfe von ein paar Schüssen hinter Hausecken hervor, konnte ich nicht mehr ausschließen. Ich glaube auch heute noch, dass ich damals richtig handelte, als ich der Einladung nicht mehr folgte. Trotz aller Ungewissheit darüber, ob und wie sehr Afroditi und ihr Vater, um sich selber zu retten und nach dem Abzug der Deutschen nicht Opfer von Gewalt zu werden, sich bereits mit der Übergangsmacht der Partisanen arrangiert hatten, hätte ich doch ein Wort des Abschieds durch den Boten übermitteln oder einen Brief senden sollen. So groß aber waren die Überlebensangst und die daraus entstandene Vorsicht und der entstehende Zeitdruck, dass gerade solche Menschlichkeit unterblieb. Gewalt auf der einen wie auf der anderen Seite brachte so vieles zum Erliegen und rottete es aus. Menschliche und soziale Wüsten blieben zurück, von denen viele nie wieder in fruchtbares Land verwandelt werden konnten. Warum hat nicht nach dem Krieg eine Such- und Kontaktkultur großen Ausmaßes begonnen  ? Auch ich selber war gleichsam erstarrt im Schweigen. Ich hatte mir weder in Griechenland noch später Familiennamen und Adressen von Freunden notiert. Was ich nicht im Kopf behielt, ging verloren. So verschlang der Krieg nachträglich noch vieles. Und er hatte die Herzen der Menschen umklammert. Erst nach Jahrzehnten hat er mich so weit losgelassen, dass ich über ihn zu schreiben beginnen konnte.

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10. Überfall durch Partisanen – niederösterreichische Bauern als Opfer Aus irgendeinem, mir selber nicht ganz erklärlichen Grund, aber auch aus Ängsten, überfallen zu werden, beschloss ich eines Abends, anders als ursprünglich geplant, mich nicht zu Gesprächen mit Afroditi in den Weingarten zu begeben, sondern ins sogenannte Soldatenheim. Dort gab es zwar nichts zu essen, es wurde gegen geringe Bezahlung nur der örtliche Wein ausgeschenkt. Ich hatte schon einmal das Soldatenheim besucht und war Zeuge einer heftigen Ausei­ nandersetzung zwischen den Besatzern, deutschen und italienischen Soldaten, geworden, die in eine Schlägerei auszuarten begann. Die beiden Gruppen konnten von einem Schwergewicht in Gestalt eines deutschen Unteroffiziers dank seines massiven körperlichen wie stimmlichen Einsatzes gerade noch getrennt werden, ehe es zu Verletzungen kam. Diesmal war es ruhiger im Soldatenheim. Ich holte mir ein Glas Wein und setzte mich zu fünf Männern, die alle über 40 oder sogar 50 Jahre alt sein mochten. So gut wie jeder von ihnen hätte altersmäßig mein Vater sein können, da ich selber ja erst 19 Jahre alt war. Schon im ersten Gespräch stellte sich heraus, dass einer von den Bauern, nun Soldat, einen Sohn hatte, der in der Wehrmacht Panzerfahrer geworden war. Er sei schon als Bub sehr an der Mechanik der nach und nach aufkommenden landwirtschaftlichen Maschinen und deren Motoren im eigenen Bauernhof interessiert gewesen, berichtete der stolze Vater. So habe er sich, als er zur Wehrmacht einrücken musste, zu den Panzern gemeldet. Er sei von einer solchen Einheit auch deswegen gerne genommen worden, weil er technisch sehr interessiert und gleichzeitig klein von Wuchs war. Die Großgewachsenen konnte man ja für die Panzer nicht gebrauchen. Als der Vater dies erzählte, nickten alle zuhörenden Männer in der Runde beifällig. Sonst drehte sich das Gespräch um landwirtschaftliche Fragen. Es waren alle Landwirte ohne höhere Schulbildung, drei davon aus dem österreichischen Weinviertel und mit dem Weinbau bestens vertraut. Sie verstanden durchaus alles, was hier in unmittelbarer Nähe im Weinbau geschah. Sie waren dem Rang nach Gefreite oder Obergefreite, bis auf einen, der es zum Unteroffizier gebracht hatte. Und das war auch jener, der in den nächsten Tagen auf Urlaub gehen sollte. Das wurde mit neidvollen Worten, aber durchaus freundschaftlich, kom78

Überfall durch Partisanen – niederösterreichische Bauern als Opfer

mentiert. Es wurde weiterhin viel gelacht, weil man ihn aufforderte, zu Hause während des Urlaubs nicht in den Stall der Wirtschaft zu gehen, sonst würde man ihn dort einsperren und nach dem Urlaub nicht mehr weglassen. Das waren herzliche und freundliche Menschen, und keiner von ihnen hatte zu viel Alkohol getrunken. Als die Zeit vorrückte, machten alle fünf einvernehmlich geltend, dass sie bald wieder zu ihrem Stützpunkt in den Bergen würden zurückkehren müssen. Denn oben in den Bergen müssten in der Nacht alle vollzählig sein. Das war die Meinung der Gruppe. Darüber wurde auch keinerlei Scherz gemacht. Ich zog mich bald darauf zurück, natürlich mit der Erinnerung an die mir bekannte Region des Weinviertels, aus der die Soldaten stammten. Sie machten sich nun zur Abfahrt in ihren Stützpunkt in den Bergen bereit. Ein Kfz 12, ein geländegängiges Fahrzeug, würde sie dorthin bringen. Am nächsten Tag, gegen Mittag, als ich eben auf der Ortskommandantur mit Ausweiskontrolle und Fischereigenehmigungen befasst war, erreichte mich von der Stabskompanie aus der Befehl, mich sofort für einen Einsatz bei der Kommandozentrale des Regiments einzufinden, gefechtsbereit, also mit Karabiner und Handgranaten im Gürtel. Es war schon die gesamte Stabskompanie angetreten, als ich dort ankam. Es musste sich also um eine größere Aktion handeln, da auch einige schwere Maschinengewehre und Granatwerfer vor der Mannschaft standen, um mitgeführt zu werden. Ein Stützpunkt sei in der Nacht überfallen worden. Es ging nunmehr darum, alles zu unternehmen, um die in der Region versteckten Partisanen, die den Überfall ausgeführt hatten, aufzufinden und festzunehmen. Denn es waren vermutlich ortskundige Partisanen, die am nächtlichen Überfall beteiligt gewesen waren, und man wisse nicht, was morgen in unserer Nähe geschehen würde. Nach allem, was während der Fahrt in die Berge von Mund zu Mund ging, handelte es sich bei dem überfallenen Stützpunkt um jenen, dem die Männer aus dem österreichischen Weinviertel angehörten, die ich am Vorabend im Soldatenheim kennengelernt hatte. Das trieb die Unruhe in mir noch mehr hoch. Es wurde der Befehl ausgegeben, notfalls unter Feuer bis zum Stützpunkt vorzupreschen und auf alles zu schießen, was nicht zum Stützpunkt gehörte. Am Stützpunkt selber aber herrschte völlige Ruhe. Das Bild, das sich dort bot, war allerdings grauenvoll. Ganz in der Nähe der verlassenen Stellung des Stützpunkts baumelten als Gehenkte die Soldaten des Stützpunkts auf den zu Galgen zugerichteten Bäumen. Unter ihnen erkannte ich sofort die Männer, mit denen ich am Vorabend im Soldatenheim zusammengesessen war. 79

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Sie waren nicht nur tot, sondern auch verstümmelt. Ob ihnen die Verstümmelungen vor oder nach ihrem Tod zugefügt worden waren, ließ sich nicht erkennen. Um dies zu klären, hätte es wohl der Kenntnis eines Arztes bedurft, der aber in der Eile der Vorbereitung des Einsatzes gar nicht verständigt worden war. Bei einigen der Toten war die Hose heruntergezogen, die Geschlechtsteile entblößt und abgeschnitten worden. Man hatte die Genitalien danach offenbar irgendwo in den Wald geworfen. Allen Gehenkten fehlten beide Ohren, abgeschnitten vielleicht vor deren Tod, um sie zu foltern, ehe man sie umbrachte, vielleicht auch nachher, um die Verachtung darüber auszudrücken, dass die Soldaten bei dem Überfall leichte Beute der Angreifer geworden waren. Weit und breit war nichts und niemand Lebender zu finden. Es dürften auch kaum Schüsse gefallen sein, denn es gab keinerlei Blutspuren. Das Kommando lautete nun, die Gehenkten von den Schnüren abzuschneiden, ordentlich anzuziehen, allfällige Leichenteile einzusammeln, Gräber auszuheben und die Toten zu bestatten. Am nächsten Tag würde man die hölzernen Kreuze mit den Namen der Toten heraufbringen. Es wurden auch die Erkennungsmarken, die alle Soldaten der Wehrmacht an einer Schnur um dem Hals zu tragen hatten und die von den Partisanen nicht abgenommen worden waren, eingesammelt, um die Identität der Ermordeten auszuwerten. Alles das nahm seinen Gang. Ich hatte weiter nichts zu tun und suchte mit dem nächsten Fahrzeug wieder zu unserem Standort an der Küste zurückzufahren. Da begab ich mich unverzüglich in mein Quartier zu Thia. Der Schrecken hatte etwas Lähmendes über mich gebracht. Ich wollte auch über nichts und mit niemandem reden. Am nächsten Tag erweiterte sich das Geschehen. Ich sollte sofort in die Regimentskommandantur kommen. Das konnte nichts Gutes bedeuten, auch wenn ich mir keiner Schuld bewusst war. Dort wurde mir mitgeteilt, es wäre jede Härte einzusetzen, um Mitglieder jener Gruppe von Partisanen aufzufinden, welche unsere Männer des Stützpunkts getötet hatten. Es seien zwei junge Burschen unweit des Stützpunktes in den Bergen beim Durchkämmen des Waldes aufgegriffen und als Verdächtige festgenommen worden. Nicht weit vom Ort ihrer Festnahme habe man im Gebüsch auch mehr als zehn Schnellfeuergewehre gefunden, wie sie in der britischen Armee an Sondereinheiten ausgegeben und über See nach Griechenland eingeschmuggelt wurden. Die beiden Festgenommenen beteuerten, von diesen Waffen nichts gewusst zu haben. Aber bei den ersten Verhören verwickelten sie sich hinsichtlich ihrer Aufenthaltsorte in Widersprüche, sodass der Verdacht zunahm, sie hätten doch, vielleicht als Kundschafter, mit dem Überfall auf unseren Stützpunkt zu tun ge80

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habt. Lügen und Verheimlichungen wie Täuschungen jeglicher Art waren ja die Grundlagen des Partisanenkampfs. Das war für mich so selbstverständlich wie die Sägespäne in unserem Kommissbrot. Man musste daher Vorsicht üben. Das war das beste Verhalten, um zu überleben. Waren es die Besatzungen von englischen U-Booten gewesen, die kürzlich in der Nacht an griechische Fischer die Handfeuerwaffen, in kleine Kisten verpackt, samt Pfundnoten für die Übermittlerdienste übergeben hatten  ? All das war uns bekannt. Vielleicht waren die beiden Burschen vor ihrer Festnahme Überbringer der britischen Waffen gewesen. Das sollte nun ein Verhör zutage bringen. Man verwies mich in den Keller, wo das Verhör schon begonnen hatte. Man bedurfte meiner in der Verständigung mit den beiden Burschen, weil die sprachlichen Schwierigkeiten unüberbrückbar waren. Was ich da im Keller fand, war ein Bild, wie ich es noch nie gesehen hatte und das ich fürs Erste auch nicht verstand. Auf dem Boden lag ein schlecht, teilweise nur in Lumpen gekleideter junger Mann. Er lag auf dem Rücken bzw. war offenbar unsanft so hingeworfen worden. Er wurde auf den Schultern links und rechts von je einem Soldaten festgehalten. Zwei andere hielten seine ausgestreckten Beine, sodass die Fußsohlen nach oben wiesen. Zusätzlich steckten beide Beine zwischen einem Gewehr und dessen Tragriemen. Das Gewehr wurde von zwei Männern so gehalten, dass die Füße des Festgenommenen sich nicht bewegen konnten und die Sohlen des Menschen wie festgeschraubt nach oben wiesen. Die Hauptperson der Rache war Wrug. Er war einer der Fahrer des Regimentskommandeurs, kam sonst auch für besonders riskante Einsätze in Betracht. Er war es, der dem auf Boden liegenden und festgehaltenen Verdächtigen mit einem Gürtel auf die Fußsohlen schlug. Das musste so schmerzhaft sein, dass der verdächtige Bursche bei jedem Schlag, den er erhielt, stöhnte oder aufschrie. Wrug verstand, dass das, was er tat, sehr schmerzhaft war. Als ich in die Szene hineingeriet – ich hatte vorher noch nie eine Bastonade gesehen –, schrie ich Wrug an, dass er auf diese Weise nichts erfahren würde. Wrug redete sich in Erregtheit und Hass hinein und schrie, obwohl das der Bursche nicht verstand  : »Wenn du nicht redest, werden wir dir die Ohren abschneiden, so wie deine Brüder sie unseren Kameraden abgeschnitten haben.« Ich veranlasste Wrug zu schweigen, damit ich mit dem Gemarterten reden könne. Ich versuchte diesem zu erklären, dass er ja nicht bestimmte Personen verraten müsse. Der Gefolterte verstand mich, war aber, um nicht in Gefahr zu geraten, irgendetwas auszusagen, ganz stereotyp auf die wie in einem Schrei in Abständen hervorgestoßene Formel fixiert  : »Ich weiß nichts, zen xero tipota.« 81

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Gelegentlich schrie er auch, er habe nichts gesehen und wisse auch nichts. Die Füße des Burschen sahen schrecklich aus. Sie waren geschwollen und die Haut auf der Fußsohle war geplatzt, sodass er dort stark blutete. Das Blut tropfte einfach auf den Kellerboden. Ich bedauerte den leidenden Menschen. Er musste in der Tat schreckliche Schmerzen empfinden. Ich schrie Wrug an, er möge innehalten, ich wolle dem Buschen Fragen stellen. »Er wird nichts aussagen«, schrie mich Wrug seinerseits an, »ehe es ihn nicht wirklich zu brennen beginnt.« Angesichts der Wunden des festgehaltenen Mannes war das eine ebenso brutale wie zynische Formel. Sie entsprach in ihrer Mitleidslosigkeit dem Geist der Zeit. »Du hast doch unsere Kameraden aufgehängt gesehen«, schrie mich Wrug an. »Du weißt doch gar nicht«, schrie ich zurück, »ob der Bursche hier überhaupt etwas mit dem Überfall zu tun hatte.« Es sei ihm ganz egal, er wolle ihn nur zum Reden bringen. Das sei sein Auftrag. Ich bezweifelte, dass ihm dies der Sicherheitsoffizier, Leutnant Weiss, so befohlen hatte. Jetzt ging es nur darum, Wrug dazu zu bringen, die Schläge auszusetzen. Als ich überlegte, wie ich das erreichen könne, begann sich das Gesicht des Gefolterten zu verfärben. Es wurde durch und durch blass und die Augen des Jungen verdrehten sich. »Wrug«, schrie ich, »hör auf  !« Und er hielt in der Tat inne. Der Gefolterte hörte auf, sich in Schmerzen zu winden, sodass die Soldaten, die ihn festgehalten hatten, die Griffe lockerten. Es dauerte ein bis zwei Minuten, dann bewegte sich der Mann, der die Bastonade erlitten hatte, nicht mehr. »Loslassen !«, kommandierte Wrug, der sich zum Capo aufgeschwungen hatte und als solcher tätig gewesen war. Die Soldaten ließen den Gefolterten los. Er fiel zur Seite und blieb regungslos liegen. Er war unter seinen Qualen verstorben. Es wurde noch einige Minuten gewartet, dann schaffte man ihn hinaus. Niemand wusste so recht, was geschehen sollte. Es war mir klar, dass ein Leben zu Ende gegangen war. Ich sah, dass man im Augenblick nichts tun konnte, nahm mir aber vor, sobald wie möglich auf Leutnant Weiss einzuwirken, dass mit dem zweiten Festgenommenen nicht ebenso verfahren würde wie mit dem Jungen, den man eben tot die Stiege hinauftrug. Ich fand es auch schrecklich, dass ich dabei gewesen war, wie man den Verdächtigen zu Tode gebracht hatte, und ich nicht imstande gewesen war, etwas Wirkungsvolles dagegen zu unternehmen. Wrug machte immerhin keine Anstalten, den zweiten Festgenommenen herbeizuschleppen. Man ließ ihn schließlich laufen. Wenn ich mir heute, 2012, vergegenwärtige, was 1944, also vor 68 Jahren, geschehen war, kann ich den Eindruck nicht verdrängen, dass wir alle, die an Geschehnissen wie dem eben geschilderten beteiligt gewesen waren, uns und 82

Überfall durch Partisanen – niederösterreichische Bauern als Opfer

unserere persönlichen Gefühle in gewisser Weise selber erschlagen hatten. Vieles ist zu selbstverständlich auf »den Krieg und dessen Grausamkeiten« geschoben worden. Im Tiefenbewusstsein von uns Einzelnen sind aber ganz harte Narben zur Aufrechterhaltung der Gefühllosigkeit erhalten geblieben, vielleicht sogar bis heute. Aufgeklärt konnte der Überfall auf die Weinviertler Bauern nicht werden.

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11. »Es lebe die Rote Armee«

Oberst Eberhard Glitz ließ mich verständigen, dass ich mich sofort bei ihm einzufinden hätte, da er mich dringend als Dolmetscher benötige. Ich kam so rasch wie möglich und hatte mich auch zu ihm in seinen Dienstwagen, den Kfz 12, zu setzen, den Wrug chauffierte. Glitz war makellos gekleidet, als ginge es zu einem Fest. In Wirklichkeit aber ging es zu einer Exekution. Es waren auf einem freien Platz an der Straße nach Eleusis drei Galgen errichtet worden. Mehrere Offiziere hatten sich versammelt, in deren Wirkungsbereich die offenbar nun zum Tode Verurteilten festgenommen worden waren. Sie hatten sich als Partisanen nachweislich an der Tötung deutscher Soldaten beteiligt und sollten nun hingerichtet werden. Ich fragte mich, was ich dabei zu tun haben sollte. Ich wusste es nicht und konnte es mir nicht vorstellen. Ich hatte nur den Befehl, neben Oberst Glitz Aufstellung zu nehmen, was ich auch tat. Die Gefangenen wurden gefesselt zu den Galgen geführt und für die Exekution in Position gebracht. Sie sollten, da sie die nach Kriegsrecht als Verbrechen bewerteten Tötungen gleichzeitig begangen hatten, auch gleichzeitig hingerichtet werden. Man legte ihnen die Schlingen um den Hals. Nachdem sie sich bisher völlig ruhig verhalten hatten, begannen sie nun, nicht gleichzeitig, sondern einer nach dem anderen, zu rufen. Ihre Rufe auf Griechisch waren im Text völlig übereinstimmend. »Es lebe die EAM« (die kommunistische politische Organisation in Griechenland), dann  : »Es lebe die ELAS« (der militärische Arm dieser Organisation), und zum Schluss mit einer zum Schrei gesteigerten Stimme  : »Es lebe die Rote Armee«, die sie sehnlichst nach Griechenland herbeiwünschten. Dies war der Moment, der für mich das Schreckliche dieser Prozedur noch steigerte. Oberst Glitz verlangte, ich solle ihm genau übersetzen, was sie gesagt hätten. Ich folgte diesem Befehl. Er war zufrieden zu wissen, was die Todeskandidaten gerufen hatten. Dann verrichteten die Scharfrichter ihr Werk. Es ging alles nach Plan, das schreckliche Zappeln am Strang und das plötzliche Steifwerden der Hingerichteten. Die Augenblicke folgten rasch aufeinander. Die Worte der Todeskandidaten habe ich über die Jahrzehnte hinweg genau behalten. Das mehrmalige »Zito« (»es lebe«) hörte sich jeweils wie Peitschenhiebe an, welche die zum Tode Verurteilten sprachlich austeilten. Es war durch die Direktheit 84

»Es lebe die Rote Armee«

der Situation die schlimmste Dolmetscherarbeit, die ich je zu leisten hatte. Die Sätze waren wie Schnitte in die Seele, weil es nicht um persönliche Befindlichkeiten oder Todesangst ging, sondern um Begeisterung und den Siegeswunsch der Todeskandidaten, die sich auf Politik und Ideologie bezogen. Für mich war diese Äußerung eines politischen Erlösungswunsches unmittelbar vor dem eigenen Tod etwas im Rahmen des erlebten 20. Jahrhunderts Unvergessliches. Es war das für mich eindrucksvollste Glaubenszeugnis, das ich je erlebt hatte und weiterhin erleben sollte. Aber es war umgeben vom Grauen des Todes durch Strangulierung. Ich konnte nicht umhin, die drei Männer für ihre Haltung im Angesicht des Todes zu bewundern, was immer sie getan haben mochten und wie wenig ich mit ihren politischen Überzeugungen auch übereinstimmen konnte.

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12. Briefe von dem durch Partisanen getöteten Freund

Es kam mit der Feldpost eine große und voll gefüllte Sendung an mich, ein lange schon erwarteter Brief von Klaus. Gespannt begann ich die Sendung zu öffnen. Es waren einzelne Briefe, die in dem großen Umschlag für den Transport zusammengefasst worden waren. Ich begann die Briefe zu öffnen und zu lesen. Sie stammten alle von Klaus. Klaus und ich hatten einander in einer Mittagsstunde während des Dienstes bei der Wiener Dolmetscherkompanie in der Roßauer Kaserne am Ufer des Donaukanals kennengelernt. Soldaten kamen durch Zufall nebeneinander zu sitzen  ; meist hatte dies keine Folgen für eine nähere Bekanntschaft. Bei Klaus und mir hatte es solche Folgen. Er war gerade von einem Einsatz bei einer hochrangigen Kommandostelle am Balkan für kurze Frist nach Wien zurückgekehrt, um in einem neuen Einsatz entsandt zu werden. Bei diesem Gespräch begann er große Zeugnisse der altgriechischen Kultur zu preisen, Dichtungen wie Werke der bildenden Kunst. Da waren von mir noch nie gehörte Namen darunter, und vielleicht würde ich ihre Werke kennenlernen, sollte ich doch in wenigen Monaten in die Region entsandt werden. Ich stand damals noch ganz im Bann der klassischen griechischen Kultur. Da eröffnete sich mir die Aussicht, Architektur und Plastik, wovon er sprach, selber unmittelbar mit eigenen Augen zu sehen. Zumindest dachte ich, dass es so kommen würde. Denn es war ja mein Bestreben gewesen, wenn ich schon soldatische Dienste zu leisten hatte, dies in Griechenland zu tun, dessen klassische Kunst und Geschichte ich wie keine andere bewunderte. Klaus hatte es schon in einem ersten Gespräch verstanden, mir die durch türkische Besetzung seit 1483 auferlegte Islamisierung auf dem Balkan durch Schöpfungen islamischer Kunst und Kultur aufzuzeigen. Er war, etwa ein Jahrzehnt älter als ich, vor dem Krieg im Vorderen Orient und in Griechenland gereist und hatte dort nicht nur die alten byzantinischen Kirchen, sondern auch die Moscheen bewundert, die er mir später in seinen Briefen zu erklären versuchte. Es war also eine sehr faszinierende Freundschaft, die damals begann. Allerdings wurde sie durch die dienstliche Zuweisung von Klaus, die ihn auf den Balkan zurückführen sollte, jäh unterbrochen. Aber es entstand ein intensiver Briefwechsel, der schließlich aus dem Krieg und der Zeit danach gerettet wer86

Briefe von dem durch Partisanen getöteten Freund

den konnte. Die Briefe von Klaus gingen bis in das vorgerückte Jahr 1944 und erreichten mich mit der selbst damals noch verlässlichen Feldpost. Ich schickte diese Briefe nach Hause, sie gingen über meinen Vater nicht verloren, der alle Stücke, die von mir kamen, wie es seine Art und Lebensform des OrdnungBewahrens war, sorgfältig aufbewahrte. Die Briefe von Klaus erreichten mich aus dem ehemaligen Jugoslawien, eine Zeit lang aus Banja Luka, wo ihn die moslemische Kultur erneut fesselte und zum Zeichnen brachte. Es war die Grundorientierung von Klaus, die Schönheit und Harmonie überall dort wahrzunehmen, wo sie zu finden war, und sie anzuerkennen, jeweils der Kultur zugeordnet, welcher dieser Reichtum und Tiefsinn entsprungen war. Er bewunderte und zeichnete überall, wo es seinen inneren Regungen und seiner Empfänglichkeit entsprach. Er schrieb mir ebenso ausführlich über von ihm entdeckte byzantinische Malerei in alten Kirchen wie über islamische Ornamente in den kleineren und größeren Moscheen der Region. Ich vermochte nicht so umfassend zu fühlen wie er. Bei mir gab es oft ein Entweder-oder. Er hingegen konnte alles einschließen, sofern er es mit Geist und Seele aufzunehmen imstande war. Besonders beeindruckend war es für mich, dass Klaus seine menschen- und völkerfreundliche politische Grundhaltung, wie sie aus den Briefen sich mehrfach bestätigte, auch während seines Soldatenlebens weiterzuführen vermochte. Jede kleine Mahlzeit, auch ein ihm aufgetragener dienstlicher Weg, der ihn durch einen Park führte, wurde von ihm zu einem Erlebnis verwandelt, das er mit seiner künstlerischen Kraft durch eine Skizze auszuzeichnen verstand. Dabei kam dem Freund auch seine hervorragende zeichnerische und malerische Begabung entgegen, die er in der Vielfalt seines Blickes auszuarbeiten vermochte. Alles erhielt seinen Wert und seine Darstellung  : eine Allee, auch ein vornehmes Haus aus dem 19. Jahrhundert, in dem sich seine militärische Dienststelle befand. Er zeichnete ebenso schnell und sicher, war es ein altes Liebespaar im Park oder waren es einige junge Burschen, die er offenbar gebeten hatte, sich porträtieren zu lassen. Danach schrieb er über die Abgebildeten. Klaus zeichnete mit der Feder, und wo er konnte, aquarellierte er die Zeichnungen unmittelbar danach. Seine Kunst war nicht die eines »Festhaltens«, sondern einer ihm eigenen Teilnahme der Kunst an der Wirklichkeit. Das war sein Weg. Wollte man die Blätter von Klaus, die er mir durch die Feldpost bis in den Herbst 1944 zusandte, irgendwie historisch charakterisieren, so könnte man dies vielleicht durch den Begriff eines »dynamischen Spätimpressionismus« tun. Eine Allee, dargestellt und aquarelliert von Klaus, trug neben der Sehnsucht nach Natur auch den Ernst der vom historischen Leben vorgezeichneten Weg87

Griechenland

führung der geraden Straße in sich. Der Darstellung einer solchen Allee fügte Klaus im Spätherbst 1944 ein Gedicht von Stefan George bei. Dessen erste Zeile schrieb er mir dazu  : »Komm in den totgesagten Park und schau  !« Schauen war für Klaus immer eine Aufforderung an mich, aber auch ein Angebot der Wegfindung. Wir, Klaus und ich, hatten über die Verschiedenheit der Jahreszeiten korrespondiert, und er hatte dem Sommer dabei einen Vorrang eingeräumt, wie er ja auch die Hitze des Südens gut ertrug und schätzte. Erst in einem der letzten Briefe begann er mir gegenüber dem Herbst, gerade aufgrund der Vielfalt seiner Farben, einen besonderen Platz in seinem Leben und seiner Fantasie einzuräumen. In einem Brief 1944 bezog er sich auf die hohe Schätzung und Auszeichnung des Herbstes, welche altchinesische und japanische Dichter und Maler dieser Jahreszeit über die Jahrhunderte hinweg hatten angedeihen lassen. Bei Klaus konnte sich aber die Vielfarbigkeit seiner Skizzen nicht der Trauer des Abschieds entziehen. Diese Trauer des Abschieds wollte er im Nachfühlen des Jahresrhythmus auch nicht preisgeben. Eine schnell hingeworfene und aquarellierte Federzeichnung, die ihn, in der feldgrauen Uniform sitzend, sich aufstützend, als Selbstporträt darstellt, lässt sich wie ein Entwurf zu einer Darstellung des Abschieds deuten. Die Haltung von Klaus auf der Bank war im Sinne der Schlusszeilen von Stefan Georges Gedicht  : »Und das, was übrigbleibt im grünen Leben, verwinde leicht im herbstlichen Gesicht.« So stand und steht es in seinem Feldpostbrief an mich als Zitat im Herbst 1944, als der Krieg längst entschieden war und die Fragen der Rettung sich jedem Einzelnen in der Ungewissheit der militärischen und politischen Prozesse aufdrängen mussten. Und da gab es Menschen wie Klaus, der in der Feinnervigkeit künstlerischer Existenz mit aquarellierten Federzeichnungen aus einem Park in Bosnien Lebenszeichen gab. Er wollte nicht darauf verzichten, sich dem Freund mitzuteilen und durch die Mitteilung seiner Gefühlswelt Mut im traurigen Leben zu stiften und auch zu vermitteln. In dem großen Briefumschlag mit den Texten und Zeichnungen von Klaus fand sich, von mir erst ganz zum Schluss entdeckt, ein Brief, der nicht von seiner Hand an mich adressiert war. In ihm stand zu lesen, dass Klaus eines Abends auf dem Heimweg in seine Unterkunft einem Überfall zum Opfer fiel. Man habe ihn, mit dem Gesicht dem Boden zugekehrt, in einer kleinen engen Gasse der Ortschaft, in der er seinen Dienst tat, tot aufgefunden. Er sei von hinten mit einem einzigen Stich ins Herz getötet worden. Als man ihn fand, steckte das Messer immer noch in seinem Rücken. Er muss sofort tot gewesen sein, so schrieben die Kameraden, von denen der Brief stammte. Spuren eines Kampfes 88

Briefe von dem durch Partisanen getöteten Freund

habe man nicht gefunden. Man wusste nicht, warum gerade er getötet worden war, da er sich allseits wegen der großartigen Kenntnisse der jeweiligen Sprache bei der besetzten Bevölkerung einer außergewöhnlichen Beliebtheit erfreute. Ich konnte das nur bestätigen, denn immer wieder schrieb er mir stilistisch ausgeformte Briefe auf Neugriechisch. Ich fühlte diese Nachricht vom Tode von Klaus wie einen Schlag gegen die Brust. Sie verstärkte meine Verzweiflung in der eigenen Situation und den Hass auf die Gewalttäter. Ich konnte mir den toten Freund mit dem großen Messer im Rücken vorstellen. Das Bild wich nicht von mir. Der künstlerische und literarische Schatz von Klaus blieb vor den Zerstörungen des Krieges bewahrt, da ich die Briefe noch während der Zeit der Besatzung Griechenlands – ebenso mit der Feldpost – meinem Vater sandte, der als Reserveoffizier bei einer Kommandostelle der Wehrmacht in Wien Dienst tat. Dieser Vater verstand es, sowohl meine eigenen Feldpostbriefe als auch die meines Maler-Freundes so zu verstecken, dass sie bei Kriegsende die Plünderungen und Zerstörungen sowjetischer Soldaten überstanden, weil sie gut verborgen worden waren. Mein Freund Klaus war in Griechenland glücklich gewesen. Er beherrschte die Sprache fast wie seine Muttersprache Deutsch. Viele seiner Briefe an mich waren besonders dann auf Griechisch abgefasst, wenn er seiner Begeisterung für das Land, dessen Kultur und Sprache, aber auch für die Menschen, denen er begegnete, Ausdruck verleihen wollte. Ich konnte diese Begeisterung nicht mehr ganz teilen, weil ich sehr rasch an die vorderste Front des Kampfes gegen griechische Partisanen geraten war. Aber die Gestalt von Klaus, seine innere Offenheit gerade durch seine Zuwendung zu verschiedenen Kulturen, so neben der klassisch-griechischen auch zur byzantinischen und muslimischen, habe ich nach und nach als Notwendigkeit in unserer Zeit verstehen gelernt. Im Zentrum der Erinnerung blieb freilich der zarte und freundschaftlich zugewandte Mensch, der immer verstehen und gestalten wollte.

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13. Bahnsprengung

Wenige Tage bevor der Befehl zum Abrücken unserer Einheit kam, geschah noch ein großes Unglück unweit von Megalo Pefko. Die Bahn war bei ihrer Errichtung vor Jahrzehnten eng an den Berghang gepresst erbaut worden. Ein mehrere Stockwerke hohes Viadukt überbrückte ein kleines, scharf eingeschnittenes Tal, das aus den Bergen herausführte. Eines Nachmittags dröhnte eine Explosion. Es geschah, womit niemand mehr gerechnet hatte. Als der Zug, von Athen kommend, die Brücke befuhr, erfolgte deren Sprengung mit großem Getöse. Daran schloss sich der Lärm stürzender Waggons und das durchdringende Schmerzgeschrei der durch die Sprengung und die herabstürzenden Teile des Zuges schwer verletzten Menschen. Alle Soldaten, die sich in der Nähe des Unfalls oder sich in den Unterkünften von Megalo Pefko befanden, wurden ausgesandt, Erste Hilfe zu leisten. Als sie begannen, die Verletzten einzusammeln, um sie mithilfe von Tragbahren oder Zeltplanen zu einem schnell eingerichteten Verbandsplatz zu bringen, mussten sie die schreckliche Erfahrung machen, von oben mit Maschinengewehrsalven beschossen zu werden. Es blieb nichts anderes übrig, als die Bergung abzubrechen und die aus Verstecken hoch im Tal mit schweren Maschinengewehren mörderisch angreifenden Partisanen zu vertreiben. Über die wimmernden Schwerverletzten hinweg entspann sich nun das Gefecht. Die Vorteile der Kenntnis des felsigen Gebirges und deren Ausnutzung erlaubten es den Partisanen, sich lange in den oberen Positionen der Felsen zu halten. Erst als man begann, trotz aller Gefahr für die durch die Sprengung des Zugs zurückgebliebenen Personen, mit dem Feuer von Granatwerfern auf die Stellungen der Angreifer loszugehen, gelang es, diese schließlich zu vertreiben. Sie verschwanden in die waldige Felsregion. Die Bergungsarbeiten konnten endlich durchgeführt werden. Es waren hauptsächlich griechische Zivilisten, vor allem Frauen mit Kindern, die auf der Rückfahrt vom Markt in Athen, wo sie ihre Produkte verkauft hatten, diesem Anschlag zum Opfer gefallen waren. Ich war damit beschäftigt, einige um Hilfe schreiende Menschen, die im steilen Gelände irgendwo hängen geblieben waren, zu suchen und mich an deren Bergung zu beteiligen. Es war viel Blut zu sehen, und man musste vorsichtig sein, die Menschen mit Brüchen und schweren Verletzungen so zu bergen, dass 90

Bahnsprengung

ihre Überlebenschancen durch den Transport aus den Abhängen heraus nicht weiter beeinträchtigt wurden. Es war für mich erstaunlich, dass die deutschen Soldaten mehr Einsatz zeigten als die griechische Zivilbevölkerung. Die Griechen hatten auch dann noch, als der Beschuss der Kämpfer, die den Zug gesprengt hatten, beendet worden war, weiterhin Angst, mit Waffen angegriffen zu werden. Nichts dergleichen erfolgte. Es waren ohnehin schon über 100 Menschen, die dringend ärztlicher Hilfe, die Hälfte von ihnen auch einer Operation, bedurften. Die Mehrzahl der Verletzten wurde in das Spital von Korinth transportiert.

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14. Eleni aus Athen

Es war schon gegen Ende der Besatzungszeit in dem von der Deutschen Wehrmacht sowie von bulgarischen und italienischen Truppen 1941 niedergerungenen Griechenland, als ich eines Tages dringend auf die Kommandantur des Regiments befohlen wurde. Man teilte mir mit, dass es sich um einen schwierigen Kontrollfall handle und dass auch Schriftstücke durchgesehen werden müssten. Als ich auf die Kommandantur kam, waren sowohl der Sicherheitsoffizier des Regiments, Leutnant Weiss, als auch, was sonst so gut wie nie vorkam, der Regimentskommandeur, Oberst Glitz, selber anwesend. Glitz schätzte an mir die sprachliche Kompetenz als Übersetzer und mein Interesse am klassischen Griechenland. Letzteres besaß für die aktuellen Sicherheitsfragen im Grunde nur wenig Wert, sollte aber nun plötzlich eine gewisse Bedeutung erlangen. Vorerst ging es jedoch um die Lösung der Fragen, die sich durch die Festnahme einer Person ergeben hatten, die man verdächtigte, für die Partisanen als Kurierin tätig zu sein. Über deren Zukunft sollte nach der bevorstehenden Einvernahme unter meiner Beteiligung entschieden werden. Oberst Glitz war ein hochdekorierter ehemaliger Fliegeroffizier aus den ersten Jahren des Krieges, ein Einzelgänger, der es durch seine Erfolge als Kampfflieger – das waren Abschüsse gleichrangiger Gegner im Luftkampf – rasch zu hohem Rang gebracht hatte. Die Mannschaft und die Unteroffiziere des Regiments der 11. Luftwaffenfelddivision waren in der Mehrzahl Mitglieder des Bodenpersonals der Luftwaffe gewesen. Sie hatten die Maschinen für den Abflug aufgetankt und in kenntnisreicher Mechanikerarbeit kontrolliert, ehe die Flugzeuge für einen neuen Einsatz, den Kampf in der Luft, freigegeben wurden. Da aber die deutsche Luftwaffe aus verschiedenen Gründen, darunter auch wegen des Mangels an Flugzeugen ab 1943, stark zu schrumpfen begann, wurden die Luftwaffensoldaten zu Infanteristen umgeschult, meist gegen ihren Willen und ihre Interessen. Es handelte sich also um einen »bunten Haufen«, zu dem ich gekommen war, mit so gut wie keiner oder nur sehr geringer Erfahrung in Bodenkämpfen. Nur ein verschwindender Anteil der Offiziere hatte infanteristische Kenntnisse und Erfahrung, sie hatten den Umgang mit solchen Waffen wie Granatwerfer oder schweren Maschinengewehren nie gelernt. Auch von einer »Abwehr« von Überfällen, wie sie im Partisanenkampf nötig war, verstanden sie kaum etwas. 92

Eleni aus Athen

Nun aber hatten sie es damit zu tun. In dieser Mischung von Unkenntnis und Notwendigkeit hatte ich aufmerksam zu handeln. Ich spürte die Unsicherheit von Oberst Glitz bei der Beurteilung der jeweils unmittelbar für uns als Regiment gegebenen militärischen Lage und der Situationen, die aus dem Partisanenkampf entstanden. Ich nutzte diese Unsicherheit, um mir durch meine sprachliche Kompetenz und mein täglich erneuertes Verständnis für die Sicherheitslage eine weitgehende Unabhängigkeit zu bewahren. Ich handelte selbstständig und suchte dabei die Grundlinien der militärischen Abwehrpolitik, so wie ich sie einschätzte, zu erkennen. Denn das Ziel war, so bald als möglich Griechenland zu verlassen und sich nach Nordwesten in Richtung Heimat abzusetzen. Im Grunde dachten alle so, auch der Oberbefehlshaber der Balkanarmee, Alexander Löhr. Doch wie das zu realisieren sei, das wusste noch niemand. General Löhr zögerte noch, den Befehl zum koordinierten Rückzug zu erteilen. Er musste sich auch immer mit dem FührerHauptquartier arrangieren. Von dort aus dominierten die Befehle eines starren Aushaltens. Erst im September gab das OKW nach. Wir Soldaten als Besatzer im Kleinkrieg in Griechenland konnten es uns noch nicht vorstellen, wie der Rückzug erfolgen sollte. Diejenigen unter uns, die nachdachten, unabhängig von Dienstgrad oder Alter, hatten jedoch eine gewisse Vermutung. Wir erwarteten eine Massenbewegung nach Norden, und diese vorwiegend zu Fuß. Wir sollten damit auch recht behalten, hatten aber den Seetransport von den südlichen Regionen Griechenlands und von Athen nach Saloniki nicht genug in unsere Erwartungen mit einbezogen. Unter solchen Vorbedingungen und Spekulationen, die mir durch den Kopf gingen, begab ich mich zum Regimentskommandeur. Oberst Glitz saß auf einem Klappsessel neben Leutnant Weiss. Vor ihnen stand eine ganz einfach gekleidete, junge weibliche Person. Als ich dort anlangte, war die Situation erstarrt. Die Umwege über Französisch oder Englisch hatten sich für ein Verhör durch die Offiziere als nicht gangbar erwiesen. So war die Stimmung gereizt. Die junge Person, ein schlankes Mädchen von etwa zwanzig Jahren, war auf einem Karrenweg, der von den Bergen herunterführt, von einer Militärpatrouille angehalten worden. Sie trug zwar einen Personalausweis bei sich, doch besaß sie keine Genehmigung für einen Aufenthalt über den örtlichen Bereich ihres Lebens hinaus. Durch solche Beschränkungen wollte man bei Kontrollen verhindern, dass potenzielle Attentäter als Kämpfer der Partisanen in die Nähe der Verwaltungsstellen, Stäbe und Quartiere der Besatzungsmacht vordringen konnten. Ich betrachtete den Personalausweis des Mädchens genau und verglich das Foto im Dokument sorgfältig mit ihrem Gesicht. Der Ausweis war gültig. 93

Griechenland

Auf dem Rücken trug die junge Person ein eher umfangreiches Gepäckstück, das aber, wie zu erwarten gewesen wäre, keine Nahrungsmittel, aber auch keine Waffen enthielt. Auf meine Fragen erklärte sie mir, dass sie Verwandte in einem Dorf in den Bergen besucht hätte, um ihnen einige Wochen hindurch bei der landwirtschaftlichen Arbeit des Sommers beizustehen. Alle diese Aussagen berichtete ich den beiden Offizieren, Leutnant Weiss und Oberst Glitz. Leutnant Weiss maß der ganzen Sache keine Bedeutung bei, forderte mich aber auf, das Gepäck des Mädchens zu durchsuchen, und bat den Oberst, sich zu seiner Arbeit in die Dienststelle zurückziehen zu dürfen, was ihm dieser auch sofort genehmigte. Glitz hingegen, der ehemalige Jagdflieger, war auch nach seiner Zeit der Waffengänge in der Luft und des Aufspürens fliegender Gegner ein neugieriger Mensch geblieben. Vielleicht interessierte ihn auch das Mädchen, und er wollte beobachten, was sich aus der Einvernahme ergeben würde. Ich ließ mir den Inhalt ihres Gepäcks zeigen. Es war eine Unmenge handschriftlich ausgefertigter Briefe, allerdings waren auch Druckschriften darunter. In vielen Monaten hatte ich in der Wiener Briefprüfstelle durch die kontrollierende Lektüre der in griechischer Sprache verfassten Briefe Erfahrungen im Lesen von griechischer Handschrift gewonnen. Allerdings hatte ich hier nun nicht die Zeit zu sorgfältiger Lektüre. Ich zog also aus dem einen Paket einen Brief heraus, dann aus dem anderen Paket ebenso. Ich merkte sehr rasch, dass es sich um politische Korrespondenz bzw. Informationen handelte, nicht um Briefe aus der Verwandtschaft. Aus dem gedruckten Material ergab sich, dass es auch darin um Politik ging, um Zukunftsfragen und Maßnahmen im »befreiten Griechenland« nach dem Abzug der Besatzer. Ich war erstaunt darüber, wie es, bei aller Armut und den Ernährungsschwierigkeiten im Land, in den abgefangenen Schriften so deutlich um die Zukunft des Landes in Freiheit gehen konnte. Nachdem ich ein wohlverschnürtes Päckchen geöffnet hatte, fand ich darin Briefe an eine Art Verteilerstelle der linksgerichteten Befreiungsbewegung ELAS in Athen. Darin waren auch Anleitungen enthalten, wie man das Leben der Besatzung erschweren könnte – zwar keine direkten Mordprogramme, aber Anweisungen für Störaktionen. Ich geriet ins Schwanken. Es war eindeutig Partisanenmaterial, das sie da mit sich trug. Anderseits beeindruckte mich das Mädchen als sympathische Gestalt mit einem lebendigen und offenen Gesicht. Erst als ich auf meine Fragen über ihre Eltern und ihre Wohnung Antworten erhalten hatte, bekam ich eine gewisse Vorstellung von dieser abgefangenen Botin. Vermutlich wussten die Eltern gar nichts von der Mission ihrer Tochter. 94

Eleni aus Athen

Der Vater war als Regisseur ein wichtiger Mann an der Athener Oper, schien aber über die Tätigkeit seiner Tochter in den Bergen nicht informiert zu sein. Sie hatte sich der Beschütztheit durch das Elternhaus entzogen, um sich auf die Mission einer Botin einzulassen. In gewisser Weise verstand ich dies, besonders nachdem ich auf einem Foto das ebenso eindrucksvolle wie sympathische Gesicht ihres Vaters gesehen hatte. Ich konnte mir vorstellen, zu diesem Mann Vertrauen zu gewinnen, aber wie sollte ich dies, da die Tochter offenbar als Kurierin der Partisanen eine für diese Partisanen nicht unwichtige Aufgabe übernommen hatte  ? Ich sann hin und her, was nun geschehen sollte. Es war eine wichtige Tat meines frühen Lebens als 19-Jähriger. Sie entwickelte sich daraus, dass ich insgeheim eine Entscheidung traf. Ich wollte nicht, dass diese eindrucksvolle junge Person mit dem Namen Eleni in irgendeinem Barackenlager, aus dem sie vermutlich nie mehr unversehrt würde herauskommen, das darbende und ungewisse Leben einer Gefangenen führen sollte, weil sie Kurierdienste für Partisanen übernommen hatte. Ich fasste den Entschluss, die Gespräche, um derentwillen man mich hergeholt hatte, so zu lenken, dass man sie unter bestimmten Bedingungen frei ließ und ihr gestattete, zu ihren Eltern nach Athen zurückzukehren. Voraussetzung war allerdings, dass alle Schriften und Briefe, die sie mitgeführt hatte, bei mir zurückblieben. Der Pakt, den ich ihr vorschlug, lautete, dass ich aus den Briefen und Unterlagen keine unmittelbaren Folgerungen für eine persönliche Verfolgung der Schreiber ziehen und sie nicht für einen militärischen Einsatz auswerten würde. Ob sie mir das glauben würde  ? Eleni sollte mir ihrerseits erklären, alle ihre Aktionen als Kurierin in Zukunft einzustellen und auch über Einzelheiten ihrer Festnahme zu schweigen. Sie sollte nicht gezwungen werden, irgendjemanden zu verraten und dadurch diese Person oder auch ihr eigenes Leben zu gefährden. Aber sie durfte auch nicht irgendwelche Beobachtungen über uns oder die Ergebnisse unserer Verhandlungen mit ihr an Dritte weiterleiten. Eleni erklärte, zuerst zögernd, dann doch entschlossen, mit meinen Vorschlägen einverstanden zu sein. Es ging ihr primär darum, freigelassen zu werden. Die Rede zwischen ihr und mir ging hin und her, bis Oberst Glitz ungeduldig wurde und mich scharf fragte  : »Was macht ihr beide euch da aus  ?« »Herr Oberst«, sagte ich, »ich glaube, wir sollten diese Frau niemandem ausliefern, uns aber eine gewisse Sicherheitsgarantie vorbehalten. Ich schlage vor, dass wir sie freilassen, alles Gepäck bleibt bei uns zurück, und in zehn Tagen muss sie sich wieder hier melden.« – »Bei mir«, fiel der Oberst ein. »Natürlich«, sagte ich, erstaunt, dass er auf den persönlichen Bezug des dienstlich-politischen Auftrags solchen Wert zu legen schien. Entweder gefiel ihm die Person so sehr, 95

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dass er sie wiedersehen wollte, oder er entdeckte gerade seine sicherheitspolitische Verantwortung. Aus der Art, wie er nach meinen Gesprächen mit der jungen Gefangenen, während der er Zeit gehabt hatte, sie zu betrachten, nun reagierte, wurde mir klar, dass sie ihn beeindruckt haben musste und dass sie ihm vermutlich auch gefiel. Mein Vorschlag, sie hätte sich wieder hier zu melden, entsprach also genau seinen Wünschen. Ich fand das Mädchen außerordentlich eindrucksvoll, aber mehr als Bewunderung konnte ich für sie nicht empfinden. Der Pakt wurde geschlossen, und das Mädchen sollte in einem Militärfahrzeug bei ihren Eltern in Athen abgeliefert werden. Mir wurde die Begleitung befohlen. Ich führte diese Begleitung sehr schweigsam aus. Natürlich stiegen mir auch Zweifel am eigenen Plan auf. Aber sie hatte ja während ihres Aufenthalts in Megalo Pefko und der Kontakte mit uns keinerlei wichtige neue Informationen für einen möglichen Überfall der Partisanen auf uns gewinnen können. Ich war noch nicht bereit, eine solche Wendung der Dinge ganz auszuschließen. Ich hatte ja die Folgen meiner Entscheidung, ihre Freilassung vorzuschlagen, zu verantworten. Nun hatte ich alles Weitere zu bedenken. In einem trotz der Besatzung und der weit verbreiteten Armut in der Stadt wohlgepflegten Viertel von Athen setzte ich sie ab, mit sehr klaren Worten sie an ihre Verpflichtung erinnernd  : In zehn Tagen hätte sie sich in unserem Standort Megalo Pefko zu melden und beim dortigen Stab zu erscheinen, schärfte ich ihr ein. Sie verschwand schnell in der Nacht, nach einem sehr flüchtigen Gruß, der mich über ihre Abneigung oder Sympathie völlig im Unklaren ließ. Ich war mir schließlich doch nicht ganz sicher, dass sie ihr Versprechen einhalten würde. Aber sie kam, genau zehn Tage später. Nach einem kurzen formellen Einleitungsgespräch brachte ich sie zu Oberst Glitz. Auch da kam nicht viel mehr als ein Alltagsgespräch zustande, bis sie von ihrer Ausbildung zur Tänzerin zu erzählen begann. Was aus dieser Erzählung herauskam, war so beunruhigend paradox, dass ich kaum imstande war, der Geschichte zu folgen. Das Tanzen habe sie schon als Kind im Bauerndorf der Verwandten so beeindruckt, wenn die Bauern an einem Festtag sich zu Gruppen zu scharen begannen, um dann den Tanz auf dem Dorfplatz auszuführen. Ein Instrument mit zwei oder vier angespannten Saiten sei gespielt worden, dann habe der Tanz begonnen. Immer wieder sei sie in die Berge hinaufgestiegen, um diese bäuerliche Musik zu hören und den Tanzenden zuzusehen. Ihr Vater, dessen Herz und Sinn ganz dem Theater gehörten, sei manchmal mit ihr gefahren. Er habe ihr die Einheit von Musik und Bewegung zu erklären verstanden. Dafür habe sie ihn sehr geliebt. Das sei so geblieben, bis zum heutigen Tag. Hier setzte Eleni ab und wartete, was ich sagen würde. Aber ich schwieg. 96

Eleni aus Athen

Dann kam von Eleni der überraschende Vorschlag, der Oberst und ich, wir sollten beide nach Athen kommen, dann würde sie uns auf dem klassischen Boden der griechischen Geschichte einen Tanz von ihr selber vorführen. Als ich dies dem Oberst übersetzte, war er vollends begeistert und drängte gleich darauf, einen Termin festzulegen. Eleni machte aber klar, dass die Vorführung nur bei starkem Mondlicht, am besten bei Vollmond, stattfinden sollte. Alle Sicherheitsbedenken traten dabei sowohl bei Glitz als auch bei mir völlig in den Hintergrund. Der Mond ließ sich etwas Zeit, bevor er sich rundete, dann aber war er so hell, dass der Ort, den Eleni für die Vorführung vorgesehen hatte, selber zu leuchten begann. Es waren dies in voller Pracht die weißen Quadern der Akropolis. Die kleine Mannschaft der deutschen Wachsoldaten war überrascht, mitten in der Nacht einen Obersten, ein streng weiß gekleidetes Mädchen und mich als einfachen Soldaten auf die Akropolis steigen zu sehen. Sie grüßten den hohen Offizier und zogen sich zurück. Am Rand des Parthenon angekommen, hieß uns Eleni Platz zu nehmen. Dann begann sie, mit ganz langsamen Bewegungen zwischen den machtvollen Säulen uns ihre Verehrung des Ortes und des Bauwerks des unglaublich umfassenden Tempels auszudrücken. Der Tanz wurde zum Hymnus auf die dem Kopf des Zeus entsprungene Göttin des Parthenon, auf Athene, die der Stadt ihren Namen gegeben hatte und die mit Vernunft und Weisheit verbunden wurde. Es war wie ein Gebet an die Vernunft, das durch ihren schmalen und geradezu knabenhaften weiß gekleideten Körper zur Darstellung kam. Alle ihre Gesten blieben einfach, und sie wirkten bei den Drehungen ihres Körpers ebenso gefasst wie gelassen. Man hätte sich vorstellen können, dass die Gottheit Athene selber aus dem Tempel hervorgetreten sei. Die eindrucksvollste Bewegung ihres Tanzes war ein nur einen winzigen Augenblick währender Kniefall. Dabei berührte sie den Steinboden kaum mit einem Knie. Aber würde das je eine griechische Göttin getan haben  ? So blieb das Ereignis auf der Akropolis sehr bewegend, aber gleichzeitig auch rätselhaft. Feindschaft und Verrat schienen ausgeschlossen aus dieser Stunde der Athene, die Eleni vergegenwärtigte. Auf der Heimfahrt nach Megalo Pefko – Eleni hatten wir auf ihren Wunsch hin rasch nach ihrer Tanzaufführung in der Nähe des Hauses ihrer Eltern abgesetzt, ohne dass dies jemand hätte beobachten können. Es steuerte Glitz selbst den Kfz 12, sodass es weder Zeugen des Geschehens auf der Akropolis noch der Gespräche zwischen uns beiden gab. Dadurch war eine gewisse Intimität zwischen Oberst Glitz und mir entstanden, wir konnten frei miteinander sprechen. 97

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Der Regimentskommandeur brauchte keine Scheu zu haben, vom Dolmetscher Erkundungen über Einzelheiten einzuholen, was er, der Chef, gerade gesehen hatte, nämlich den Bereich der Akropolis. Ob die verschiedenen Gebäude mit den Statuen, wie sie ihm am Erechtheion aufgefallen waren, als Kirchen der frühen Griechen anzusprechen seien, fragte er. Ich suchte daraufhin das System des griechischen Tempels zu erklären, die Art der Darbietung von Opfern in ihnen, um den Unterschied zum Christentum und zu den Gebräuchen der christlichen Kirche und ihres Kultes ihm nahezubringen. Während das Fahrzeug über die sandige Straße mit vielen Schlaglöchern auf halber Höhe zwischen den Hügeln und dem Meer auf unseren Stützpunkt Megalo Pefko zustrebte, suchte ich ihm auf die vielen Fragen, die er zur klassischen Kultur der Griechen stellte, aus meinem Wissen als ehemaliger Gymnasiast und Museumsbesucher in Wien Rede und Antwort zu stehen. Er fiel von einer Überraschung in die andere und bekannte, in der Schule von all dem nie etwas erfahren zu haben. Nur vom Verteidigungskampf der Griechen gegen die übermächtigen Perser sei die Rede gewesen. Als mich der Oberst, in Megalo Pefko angekommen, aussteigen ließ, betonte er, dass wir bald wieder gemeinsam nach Athen fahren sollten, dann könne er noch mehr darüber erfahren, was ihn interessiere. Auch sollten wir einen Besuch bei dem außerordentlichen Mädchen machen, meinte er und drückte in begeisterten Worten seine Bewunderung für Eleni aus, der ich voll beipflichten konnte. Ich bemerkte, dass bei ihm über die Sympathie hinaus noch mehr aufglühte, aber äußerte mich verständlicherweise nicht dazu. Kurz nach der Rückfahrt von Athen war Oberst Glitz plötzlich mit anderen Fragen beschäftigt. Er hatte geheime Kommandosachen (GKdos) zu bearbeiten, die Vorbereitungen für den allgemeinen Abzug aus Griechenland befahlen. An sich hätten solche Geschäftsstücke nur in die Hände von Offizieren kommen sollen, aber irgendein Feldwebel der Schreibstube wusste immer auch von derart geheimen Befehlen, so auch diesmal. Mit dieser Dienstpost gelangte auch ein privates Schreiben aus Athen an die Regimentskommandantur. Oberst Glitz ließ mich rufen, er forderte von mir als Ic-Mitarbeiter einen Rat. Der Vater von Eleni habe ihn in einem tadellos auf Deutsch abgefassten Brief eingeladen, gemeinsam mit ihm Delphi zu besuchen. Nachdem er, der Oberst, die Akropolis kennengelernt habe, müsse er, so schrieb der Vater Elenis, unbedingt auch die Tempel von Delphi und die dortigen antiken Schatzhäuser besichtigen. Ob ich mitfahren wolle. Ich wollte das nicht, beschwor ihn, Wrug als Fahrer einzusetzen und ein leichtes Maschinengewehr mitzuführen. Er folgte meinem Rat, und die Unternehmung verlief erfolgreich, sodass sie ihn nachher mehr zu beschäf98

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tigen schien als die Vorbereitungen für den Abzug unseres Regiments und den allgemeinen Rückzug aus Griechenland. Er war vom Geist der Antike, von dem, was er in Delphi gesehen hatte, außerordentlich beeindruckt worden. Angesichts des durch den Abzug bevorstehenden Wiedereintauchens in den Krieg, sagte er im Zusammenhang mit den Fragen, die er mir im Laufe einer halben Stunde nach seiner Rückkehr aus Delphi stellte, mit einer gewissen Trauer in seiner Stimme. »Ob ich das jemals wiedersehen werde  ?« – »Herr Oberst«, antwortete ich, von seiner Trauer angesteckt, »das weiß man nie. Aber sollte man nicht Eleni Abschiedsgrüße übermitteln  ?« Sie hatte an der Fahrt nach Delphi nicht teilgenommen. »Tun Sie das, Rosenmayr«, sagte er, mich ganz gegen die Gewohnheit und die Regeln mit dem Familiennamen ohne Dienstgrad ansprechend. »Ich mache das«, sagte ich, »aber es sollte bald geschehen.« Der Nachsatz war Teil meiner Ungeduld, die mich immer erfasste, wenn ich wusste, dass etwas Wichtiges bevorstand. »Dann packen Sie alle Sachen, bringen Sie diese in meinen Gefechtsstand. Danach führt Sie Wrug zu Eleni. Meinen Brief an Eleni erhalten Sie noch heute.« Ich antwortete mit dem üblichen »Jawohl, Herr Oberst«, begann unmittelbar darauf mit dem Packen, wobei Thia viele Tränen vergoss und mir ein halbes gebratenes Huhn als Wegzehrung überreichte. »Wann sehe ich dich wieder, mein Kindchen  ?«, sagte sie und weinte und weinte, sodass ich selber auch fast mit dem Weinen begonnen hätte. »Gott alleine weiß es«, brachte ich hervor. Es war, wie zu erwarten, ein Abschied für immer. Die Truppe rückte schon am Nachmittag in Richtung Athen ab, mit allen Waffen und der sogenannten Marschverpflegung. Es wurden Gefechte mit den Partisanen erwartet, die aber erst später begannen, knapp vor der Einschiffung von Pferden, Wagen, Maultieren für die Trägerkolonnen und der Soldaten selber im Hafen von Piräus. Die Verteidigung wurde aufgebaut, und hinter diesem Riegel entwickelte sich die mühsame Verladung, die sich die ganze Nacht hindurchzog, wie man mir später berichtete. Die Abfahrt war gegen Mittag des Folgetags vorgesehen. Ich beeilte mich, um meine spezielle Abfahrt von Megalo Pefko vorzubereiten. Auch Kostas war pünktlich fertig geworden und schloss sich der Stabskompanie an. Wrug wählte nicht die Hauptstraße nach Athen, sondern eine bucklige und besonders kurvenreiche Nebenstraße. »Was treibst du  ?«, fragte ich ihn unwirsch, nachdem mir seine Routenwahl erkennbar geworden war. »Willst du dich unbedingt auf der Hauptstraße von Partisanen mit englischen MGs abknallen lassen  ? Sie brauchen sich ja jetzt nicht mehr zu verstecken, denn sie sind ja schon die 99

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Herren im Land.« Ich musste ihm recht geben, so sehr es auch das Fahrzeug auf der kleinen Straße hin und her beutelte. Auf einem Umweg gelangten wir also in die Stadt Athen. Es war noch dunkel, und es dauerte eine Zeit, ehe die Akropolis aus der Nacht hervorstieg. Da langten wir schon beim Haus von Elenis Eltern an. Ich stürmte hinein, ich hatte nicht einmal meinen Stahlhelm abgelegt, denn es waren schon Schüsse in der Nähe zu hören. Den Brief von Oberst Glitz an sie und das Paket mit den Eleni bei ihrer Verhaftung in Megalo Pefko abgenommenen Schriften und Briefen hatte ich nicht vergessen. Ich umarmte sie hinter der von ihr innen abgeschlossenen Türe und spürte, dass mich unser Abschied sehr berührte. »Komm mit«, sagte sie und führte mich in ein kleines Zimmer mit Blick auf einen mit Rasen begrünten Hof und mit einem Feigenbaum in der Mitte. Auf dem Bett waren Stücke einer Zivilkleidung sorgfältig aufgestapelt. »Du bleibst doch bei uns. Wir haben gute Freunde, und Vater hat auch Goldmünzen, um Münder damit zu verschließen. Du darfst nicht auf die lange Reise nach Norden gehen. Die Gefahr ist groß, dass du dort nie ankommst. Hier bist du sicher.« Ich war sehr erschüttert, als ich diese Wahl ganz realistisch vor mir sah, und umarmte Eleni fest ein zweites Mal, so als wollte ich sie als Hilfe für meine Entscheidung an meinen Körper drücken. Es war nicht das Begehren des außerordentlichen Mädchens, sondern Vertrautheit, die auf einer merkwürdigen Liebe beruhte. Ich hätte nie erwartet, was mir nun angesonnen wurde, und hatte Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. »Ich kann nicht meine Kameraden verlassen«, war der erste Satz, den ich herausbrachte. »Du wirst dabei zugrunde gehen«, sagte sie und hätte fast recht bekommen, wenn ich nicht im letzten Augenblick des Krieges mich durch Flucht aus einem Gefangenenlager der slowenischen Partisanen hätte retten können. In Blitzeseile bedachte ich, dass ich durch meinen Rollenwechsel zum Deserteur auch meinen Vater, einen Reserveoffizier in einer Wiener Wehrmachtsdienststelle, in die Gefahr bringen könnte, für den desertierten Sohn zur Verantwortung gezogen zu werden. Das war im NS-Staat nicht auszuschließen. Bei all diesen hektischen Überlegungen wurde das Feuer aus Handfeuerwaffen und durch Handgranaten in den Straßen um das Wohnhaus der Eltern Elenis immer stärker. »Hör dir das an«, rief mir Eleni zu, »ihr kommt gar nicht mehr zum Piräus hinaus.« In diesem Augenblick pochte Wrug mit dem Kolben seines Gewehrs gewaltig an die Tür und schrie  : »Wir müssen weiter, oder willst du hier eine Leiche werden  ?« Er hatte recht. Ich kramte den Beutel mit all den Schriften und Briefen, die wir Eleni abgenommen hatten, aus meinem Tornister heraus und gab ihn Eleni weiter. Auch den Brief von Oberst Glitz gab ich ihr. »Gestehe 100

Eleni aus Athen

nichts«, schrie ich sie an, »wenn sie dich fragen, wie du von den Deutschen freikamst  ! Niemand hat irgendetwas, weder Namen noch Adressen, erfahren, kein Deutscher sei dir in die Nähe gekommen. Auch den österreichischen Dolmetscher« – damit meinte ich mich – »hast du abgeschüttelt.« – »Ich lasse dich nicht mehr weg«, rief mir Eleni zu. »Da würdest du dir und mir nichts Gutes tun«, rief ich zurück, schon auf dem Weg zur Tür. Dann konnte ich mein Weinen nicht mehr zurückhalten, ich hatte dieses Mädchen auf eine seltsame Weise liebgewonnen. Ich fühlte mich diesem Menschen durch den Tanz auf der Akropolis und besonders durch den Kniefall, eine Art Gebet an die Göttin, zutiefst verbunden. Ich fühlte und ahnte, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde. Das schmerzte mich wie ein Stich. Der Kolben von Wrugs Karabiner dröhnte nun bedrohlich gegen die Tür. Würde er versuchen, sie von außen einzustoßen, um mich zu holen  ? Ich zog das Mädchen Eleni, so heftig sie auch weinte, an mich und küsste sie auf die tränennassen Wangen. »Leb wohl«, stammelte ich noch heraus, dann riss ich mich los mit der bitteren Gewissheit, dass eine Freundschaft nun zerriss, wohl für immer. Ich rannte hinaus, sprang in den Kfz 12, Wrug preschte davon. Es gab kein Zurückblicken. »Wirf dich hin«, schrie Wrug. Ich folgte dieser Aufforderung, denn das Feuer aus Maschinenpistolen rückte immer näher. Wrug fuhr eine Schlangenlinie auf der von Autos von Zivilisten befahrenen Straße. Jetzt kamen auch noch Schüsse aus den Fenstern der Häuser dazu. So verhasst waren diese Deutschen geworden, dass man im letzten Augenblick noch so viele von ihnen zu vernichten suchte, als man konnte. An einer Kreuzung war es nur Wrugs Verdienst, dass wir den explodierenden Handgranaten entgingen, die da auf unser Fahrzeug geschleudert wurden. Wrug setzte unter Flüchen seine rasende Fahrt in Schlangenlinien fort. Wir mussten, um in den Hafen Piräus zu gelangen, durch ein Viertel fahren, das schon in den Händen der Partisanen war. Alle deutschen Truppen hatten längst die Stadt geräumt. Kugeln trafen unser Fahrzeug, ich hörte sie auch knapp über mich hinwegpfeifen. Manchmal duckte sich auch Wrug so tief weg, dass sein Kopf tiefer kam als das Lenkrad, das er jedoch nie preisgab. Ich musste ihn bewundern, wie er mit seinen polnischen Flüchen voranzukommen suchte. Es ging an brennenden Fahrzeugen vorbei. Erst auf der Straße nach Piräus wurde es ruhiger. Ich blickte noch einmal zurück. Die Akropolis lag schon in der Sonne. Dort hatte Eleni getanzt. Würde der Segen der Göttin sie jetzt und in Zukunft bewahren  ! Hatte sie, Eleni, auch zu erkennen vermocht, dass ihr von meiner Seite eine tiefe Zuneigung zuteilgeworden war  ? Ich hatte sie gar nicht ausgesprochen. An ein Umkehren war nun nicht mehr zu denken. 101

Griechenland

Ich sollte kein Deserteur werden, ich wollte es auch nicht. Wrug hätte es auch verweigert. Er wollte heim nach Polen. Mir blieb nur mehr der Schmerz. Er sollte mich begleiten, wie auch die Sorge um die junge Frau, dass ihr aus der Verhaftung durch die Deutschen und ihrer darauf folgenden Freilassung, die schwer zu verstehen war, keine politischen Schwierigkeiten oder Verdächtigungen erwachsen würden.

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15. Torpedos, Bomben und Tiefflieger zum Abschied aus Griechenland Im Hafen von Piräus hatte deutsche Gründlichkeit für Ordnung gesorgt. Die Molen waren leer, man hatte alles verladen. Die Ausschilderung mit den Zahlen der militärischen Einheiten war perfekt. An den Rändern der Ladezonen, die sich kilometerlang durch den Hafen zogen, waren Flugabwehrgeschütze (Flak) für befürchtete Infanteriekämpfe bedrohlich aufgestellt worden. Sollten Einheiten der Partisanen bis hierher vordringen, hätten sie kaum Chancen auf einen gelungenen Überfall gehabt. Die Sonne stieg höher, die Akropolis verfärbte sich von Rosa zu Weiß. Als Wrug das Fahrzeug über einen Holzsteg auf das Frachtschiff rollte, das für das Beladen durch die Stabskompanie des Jägerregiments 22 vorgesehen war, blieb ich im Fahrzeug, sodass ich noch Blicke zurück in die Stadt werfen konnte. Die alten Sagen kamen mir in den Sinn, in denen Kämpfer nach verlorener Schlacht hatten fliehen müssen. So erlebte ich es, als ein Schiff nach dem anderen sich vom Pier löste und sich mehr und mehr vom griechischen Festland entfernte, das nun unter eine andere Herrschaft kommen sollte. Die Herbstsonne strahlte, die Stimmung der Soldaten war von Unsicherheit erfüllt, aber auch von der Genugtuung beseelt, endlich von einem Herrschaftsgebiet loszukommen, das schon in Gefahr war, zu ihrem Gefängnis oder Grab zu werden. Aber es wurden keine Lieder gesungen, und man hörte kein Lachen aus irgendeiner Ecke. Die Akropolis leuchtete von ferne. Wen würde die Göttin begünstigen und so vielleicht auch retten  ? Mit großer Geschwindigkeit war Wrug im Hafen von Piräus an den Signaltafeln entlanggebraust und hatte den Hinweis auf unser Regiment gefunden. Für sein Fahrzeug war auf dem gedrängt gefüllten Deck des Schiffes noch ein Platz frei gehalten worden. Nachdem wir auf das Schiff gerollt waren, blieb ich gleich im Fahrzeug sitzen, das war noch der beste Platz. Zwischen dem Tross und den Waffen kauerten oder lagen Soldaten auf ihren Zeltplanen, meist in ihre Ausrüstungsdecken gehüllt. Auf dem Schiff, das unmittelbar nach unserer Ankunft den Anker lichtete und ablegte, wurde es kühl. Damit begann der lange Leidensweg des Frierens in einer nur für die Tropen geeigneten Uniform bis in den November hinein. Im Oktober des Jahres 1944 sollte es dann auf dem Balkan bereits 103

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unerträglich kalt für uns alle werden. In der Tropenuniform begann man nun schon im September auf dem Schiff im Fahrtwind zu frieren. Es waren mehr als fünfzig Schiffe, die an diesem Tag in der Ägäis nach Norden zogen, überwiegend alte Lastkähne, voll beladen mit Fahrzeugen, Waffen und Menschen. Es breitete sich sichtbar die friedvolle Stimmung eines geordnet erscheinenden Rückzugs aus. Die Lastkähne fuhren, was sich bald bewähren sollte, in großen Abständen nach Norden, aber bei deutlicher wechselseitiger Sicht von Kapitän zu Kapitän. Die Soldaten des Schiffes, auf dem ich mitfuhr, hatten sich nach den Belastungen des Beladens, den körperlichen Anstrengungen, aber auch der Anwendung hoher technischer Kompetenz, welche die Fixierung der schweren Geräte erforderte, nunmehr sehr bemüht, in irgendwelchen Stellungen Schlaf zu finden. Das gelang dank der ruhigen See auch, bis plötzlich ein Schrei auf meinem Boot alle aufschreckte. Der Soldat, der ihn ausgestoßen hatte, war auf ein Fahrzeug gesprungen und deutete mit gestrecktem Arm ins Meer, das unser Kahn gerade durchschifft hatte. »Ein U-Boot  !«, schrie er. Alles, was man sehen konnte, war eine feine Linie im Wasser, die quer zu unserer Fahrtrichtung durch das glatte Meer zog, und zwar ziemlich in der Mitte zwischen unserem Boot und dem uns folgenden Kahn. Kurz darauf kam auch der Befehl, die Schwimmwesten, die alle, die an Bord gegangen waren, ausgehändigt bekommen hatten, anzulegen und aufzublasen. Das war ein Befehl, der auch umgehend befolgt wurde. Natürlich entstand neben der Befriedigung, dass uns der Angriff verfehlt hatte, auch die Besorgnis, dass ein neuer Angriff bevorstünde. Diese Befürchtung sollte auch innerhalb kurzer Zeit ihre Berechtigung erhalten. Geradezu ruckartig stoppte der Kapitän die Fahrt. Und für alle, welche die Möglichkeit hatten, einen höheren Punkt im Schiff zu gewinnen, um Ausschau zu halten, wurde wieder eine Querlinie im Wasser deutlich sichtbar, nunmehr aber nicht hinter, sondern vor unserem Kahn. Es wurde bewundert und anerkannt, dass der griechische Kapitän so rasch reagiert hatte. Die Spur des Torpedos verlor sich gut 100 Meter vor unserem Transporter nach Westen in Richtung auf die Küste. Die allgemeine Meinung, dass damit das U-Boot seine Munition an Torpedos verschossen hätte und keine weiteren Angriffe zu erwarten seien, sollte sich, so sehr diese Erwartung auch auf einem Wunschdenken beruhte, doch an der Wirklichkeit bewähren. Die Nacht verging, und die schwer beladenen Kähne zogen weiter nach Norden, ohne nochmals angegriffen zu werden. Erst kurz nach der Ankunft im Hafen von Saloniki und bei der dortigen Entladung griff der Krieg wieder nach uns. Die Briten hatten sich, ihrer Eigenart zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gemäß, ihre Strategie gut überlegt. Sie hatten erkannt, dass im Zusammenwirken mit 104

Torpedos, Bomben und Tiefflieger zum Abschied aus Griechenland

den Partisanen – und unter denen waren ja nur die Kommunisten als EAM und ELAS politisch und militärisch bedeutsam – alles versucht werden musste, um den Rückzug der deutschen Armee in eine Flucht zu verwandeln. Entsprechend suchten sie gerade dann anzugreifen, wenn sie Massenansammlungen der Deutschen Wehrmacht vor sich hatten. In solchen Situationen konnten sie ihre Luftüberlegenheit besonders gut einsetzen. Unsere Division, die 11. Luftwaffenfelddivision, der auch das Regiment, dessen Stab ich angehörte, zuzuzählen war, bildete nach der Zusammenführung ihrer Kräfte eine solche Truppenmassierung. Darauf schienen die Briten nach ihrem eher missglückten und nur als Störfeuer wirksam gewordenen U-BootAngriff geradezu gewartet zu haben. Ich befand mich nach der Ankunft im Hafen von Saloniki schon an Land. Ich war, meiner auch sonst in mir immer wieder aufkommenden Ungeduld entsprechend, gegenüber der eigenen Truppe etwas vorgerückt, in Richtung auf die Lagerhallen, die als Sammlungsort für unser Regiment vereinbart worden waren. Da erschien in einer ungewöhnlich tief fliegenden Formation ein Geschwader von britischen Lightning-Bombern am Himmel und kreiste, von keinerlei Flugabwehr irritiert, sorgfältig über den Hafenanlagen, auf die sie offenbar ihren Angriff zu richten beabsichtigten. Diese Flugzeuge gehörten zu den merkwürdigsten Erscheinungen des Zweiten Weltkriegs. Sie imponierten durch ihre Größe, vor allem aber auch dadurch, dass sie statt – wie gewohnt – eines Rumpfes zwei Rümpfe hatten. Sie wirkten, wenn sie hoch am Himmel flogen, wie seltsame Insekten, waren aber durch ihre technische Konstruktion imstande, mehr Bomben zu tragen als die Mehrzahl der einrumpfigen Kampfflugzeuge. Als ich das sah, erwartete ich aufgrund vorheriger Lektüre über Kampfflugzeuge der verschiedenen Kriegsteilnehmer-Staaten einen besonders mächtigen Angriff. Und er erfolgte in der Tat auch. Hier zeigte sich zu meinem Schrecken eine besonders wirksame Taktik der Briten. Ihre Menschenvernichtung war sorgfältig geplant. Statt die Bomben unter die gerade an Land kommenden Truppen zu werfen, führten sie eine Art doppelten Angriff aus. Die Fluchtmöglichkeit der Opfer sollte eingeschränkt und durch den Brand der Treibstofflager im Hafen sollte eine besondere zusätzliche Bedrohung geschaffen werden. Der Krieg im 20. Jahrhundert war ja schon seit Jahren zum Vernichtungskrieg geworden. Das sollte sich auch hier im Hafen von Saloniki zeigen. Es ging gegen Ende dieses Krieges 1939–1945 gar nicht mehr nur um Vertreibung oder Gefangennahme des Gegners, sondern um eine möglichst rasche und für die eigene Seite möglichst risikoarme Form der Austilgung des Feindes. Das Wort 105

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»Vernichtung« fand auch in den deutschen Wehrmachtsberichten immer öfter Verwendung. Nicht, dass ich im Hafen von Saloniki die »Großartigkeit« der Riesenbrände verkannt hätte. Kaum den Gefahren des Wassers, der von Unterseebooten bedrohten Meerfahrt auf dem Truppentransporter entronnen und in Saloniki an Land gegangen, setzte mit einer von mir vorher noch nie erlebten Wucht der Angriff britischer Lightening-Bomber ein. Nach dem Schiff, auf dem unser Regiment transportiert worden war, legten auch andere, meist nur langsam vorankommende, verrostete alte Schiffe, beladen mit mehreren Wehrmachtseinheiten, im Hafen an. Das Bombardement der Engländer hatte da offenbar einen doppelten Sinn  : die landenden Truppen zu »vernichten« und von den Hafenanlagen und den riesigen Hallen so viel wie möglich zu zerstören. Die Bomber flogen in einer mittleren Höhe, sodass ich die Bauweise der Maschinen genau wahrnehmen konnte. Ich befand mich mit einer Einheit schon an Land, nur manche unserer Fahrzeuge waren noch nicht vom Schiff entladen worden. Da setzte der dröhnende Lärm explodierender Bomben ein und Splitter schwirrten singend über uns hinweg. Entlang der Mauer einer großen Halle presste ich mich an den Boden. Andere suchten sich durch Laufen aus der Gefahrenzone in Richtung Stadt zu retten. Der Angriff war ganz überraschend gekommen. In dem durch das Bombardement entstehenden Chaos drangen auch keine Befehle mehr durch. Das war ein Vorgeschmack dafür, was geschehen würde, wenn die Befehlsstruktur überhaupt zusammenbrechen sollte. Ich lag in einer Gasse zwischen zwei Hafenhallen. Jetzt begann es zu brennen. Mit unglaublicher Schnelligkeit kam es zu großen, hoch auflodernden Bränden, die eine starke, auf der Haut brennende Hitze verbreiteten. Um mich herum schien alles rot, obwohl die Halle, an der ich lag, noch nicht brannte. Himmel war vor Flammen und Rauch keiner mehr zu sehen. Mich umhüllte eine plötzlich sich ausbreitende, durchflammte Nacht, obwohl noch wenige Augenblicke vorher ein heller, ja strahlender Herbsttag gewesen war. Die Hitze begann unerträglich zu werden. Es gab immer mehr dröhnende Explosionen. Trümmer flogen durch die Luft. Was war da getroffen worden  ? Munitionsdepots, Tanklager  ? Nachdem ich den ersten Schock überstanden hatte, beschäftigte mich die Frage nach dem eigenen Überleben. Wie so oft während des Krieges und in Extremsituationen, kamen mir auch diesmal die als Kind und Jugendlicher aufgesammelten Deutungen aus Literatur, Kunst und Oper in den Sinn. Die Schlussszene der Wagner’schen »Götterdämmerung« in ihrer Inszenierung mit Rauch und Flammen in der Wiener Oper 106

Torpedos, Bomben und Tiefflieger zum Abschied aus Griechenland

fiel mir ein. Ich lag da und dachte  : Das ist der Untergang. Hier also gehst du zugrunde. Die unerträgliche Hitze, aber noch nicht die Flammen erreichten mich. Doch sie waren hinter mir und vor mir. Das Fortlaufen kam mir als ein Unternehmen vor, das mich ins Feuer und damit in den sicheren Untergang führen würde. Trotz dieser Überlegungen gab es plötzlich einen Impuls in mir. Ich sprang auf und lief. Ich rannte durch Flammen. Und über mir war es finster durch den Rauch. Schließlich wurde das Rauchdach dünner und ich kam ans Tageslicht. Meine Uniform war zum Teil versengt, die Hände brannten. Aber ich war der Feuerhölle entronnen. Ich konnte sehen, wie sich um mich herum die Truppe zu sammeln begann, freilich sehr unordentlich und haufenweise, nicht in militärischer Formation. Es waren bekannte Gesichter von der eigenen Truppe darunter. Dorthin wandte ich mich. Wie sonst nach Einsätzen und Gefahrensituationen, welche ich überlebt hatte, brachen auch hier Witz und Spott hervor. »Gut gebacken  ?«, schrie mich einer von den Älteren an, der, wie ich wusste, verschiedene Fronten erlebt hatte. Er hatte ein geschwärztes Gesicht und blutete an den Händen. Ich bemerkte, dass mich die nackten Arme und das Gesicht brannten, fand aber an mir keine offenen Wunden. Diese Reaktion von Spott und stechender Ironie waren Zeichen des Überlebens am Rande des Schreckens. Sie wirkten oft wie eine Aufrüttelung. Sie klangen zwar mitleidlos, als müssten sie mit den Situationen konkurrieren, die man durchlebt hatte, waren aber Ausdruck von Teilnahme. Die Briten führten ihren Angriff mit dem Bombardement der Tanklager und der Raffinerie im Hafen von Saloniki weiter. Als das Tanklager schon in Brand gesetzt war, strahlte es eine grausame und unerträgliche Hitze auf die Flüchtenden aus, die von den Schiffen an Land strömten. Verständlicherweise drängten sich die Massen von Soldaten auf ihrem Fluchtweg außerordentlich stark zusammen. Irgendein Soldat, der so wie ich vorwitzig unterwegs war, wurde plötzlich von dem mit großen Flammen hochlodernden Feuer des Tanklagers erfasst. Seine Uniform begann zu brennen, er wälzte sich am Boden, um die Flammen zu ersticken. Zwei seiner Kameraden, die aus der Ferne die Situation erfasst hatten, rannten ungeachtet aller Gefahr für sich selbst herbei, um ihn zu retten. Sie schrien  : »Eine Zeltplane, eine Zeltplane  !« Der immer noch brennende Mensch, der schon schwere Wunden davongetragen haben musste, konnte sich nicht mehr aufrichten, um zu fliehen. Ich holte eilig meine Zeltplane aus dem Tornister und gab sie hastig einem der beiden Soldaten, die den brennenden bzw. bereits glosenden Menschen so rasch wie möglich darin ein107

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rollten, um ihn zu retten und schließlich mithilfe der Zeltplane wegzuschleppen. Das gelang auch. Ich konnte allerdings später nicht erfahren, ob man das Leben des Mannes zu retten vermocht hatte. Eine Zeltplane, ein notwendiges Stück für die soldatische Lebensführung, würde ich schon wieder irgendwie zu beschaffen imstande sein. Dann aber rannte ich angesichts der geradezu mörderischen Hitze aus dem Bereich der Lagerhallen hinaus. Anders als erwartet, kehrten die Lightenings nach dem Abwurf ihrer Bomben kein zweites Mal zu einem neuen Anflug wieder. Das rettete vielen Menschen in dieser Situation das Leben und ermöglichte den Truppen ein einigermaßen geordnetes Abrücken aus der gefährdeten Hafenzone. Der Versuch, den Rückzug der deutschen Truppen erheblich zu stören, kam von da an in den nächsten Wochen einerseits von den Partisanen, im Großen aber unübersehbar aus der Luft durch die Royal Air Force der Briten. Ein besonderes Beispiel war der Angriff auf deutsche Heeres-Einheiten auf dem Wege der Bahn von Saloniki über Gevgelija in Richtung auf Veles und Skopje nach Mazedonien. Die Piloten der Jagdflugzeuge der British Air Force konzentrierten sich auf den Abschuss der bei diesen Transporten auch für lange Züge und schwere Lasten hervorragend geeigneten schweren Dampfloks. Der Umstieg auf Dieselloks erfolgte ja in der Eisenbahn erst zwei Jahrzehnte später. Die britischen Kampfflieger tauchten nach einer sturzflugartigen Bewegung am Himmel auf. Sie stürzten sich auf die mit Menschen, Waffen, Tieren und Munitionsmaterialien schwer beladenen Züge. Dann gelang es den Fliegern, durch gezieltes Feuer mit Bordkanonen die Kessel der Lokomotiven zu zerstören. Ausströmender weißer Dampf begann das Tal in der Nähe des griechischmazedonischen Grenzortes Gevgelija zu erfüllen. Der Zug blieb stehen, und die Soldaten verließen alle, so auch ich, die Waggons. Ein Teil ging möglichst weit vom Zug entfernt in Stellung, um das angreifende Flugzeug abzuschießen – mit Maschinengewehren oder auch mit Karabinern. Andere wieder versteckten sich so, dass sie vor den Bordwaffen der Flugzeuge möglichst geschützt waren. Ich verschoss einige Munition aus meinem Karabiner, ohne die Maschine zu treffen. Dabei entdeckte ich einen aus Natursteinen aufgemauerten Viehstall und drückte mich an die dem Flugzeug abgewandte Seite an die Steinmauer des Stalls. Vier oder fünf andere Soldaten taten das Gleiche. So waren wir vor den Feuergarben der über uns hinbrausenden Maschine geschützt und fühlten uns gerettet. Inzwischen gab es schon Verwundete, die auf ihrer Flucht aus dem Zug vom Streufeuer des britischen Piloten getroffen worden waren. Die Sanitäter rannten zu den durch ihre Schreie Hilfe Suchenden. 108

Torpedos, Bomben und Tiefflieger zum Abschied aus Griechenland

Womit niemand, auch ich nicht, gerechnet hatte, war, dass der Pilot, der seine Mission durch den Abschuss der Lokomotive erfolgreich beendet hatte, wider Erwarten zurückkehrte. Er kam diesmal aus der anderen Richtung und eröffnete sofort das Feuer auf unsere Mannschaften. Wir wenigen Soldaten, die hinter dem Gebäude des Stalls Schutz gefunden hatten, waren nun dazu gezwungen, um den Stall herumzulaufen und auf der anderen Seite Schutz vor dem Feuer des Kampfflugzeuges zu suchen. Es war wie ein Zirkusstück inmitten des tragischen Geschehens der Jagd auf Menschen von der Luft aus. Der Pilot hatte den Trick bemerkt und wendete erneut, um die paar Mann, die ihn so »ausgetrickst« hatten, dennoch unter sein Feuer zu bekommen. Wir rannten nochmals um das Gebäude herum um unser Leben, das wir so erneut retten konnten. Die soliden Steine des Stalls hielten stand und gaben uns den ersehnten Schutz. Von britischen Flugzeugen aus wurde eine Art Munition für den Erdkampf verwendet, die so explosiv war, dass sie, wenn sie einen menschlichen Arm traf, diesen nicht nur verwundete, sondern durch die Wucht ihrer Wirkung gleich vom Körper abriss. Und das wollte niemand von uns erleben. Ersatzlokomotiven wurden schließlich herangebracht. In der Nacht ging nach vielen Stunden des Wartens die Fahrt nach Norden weiter. Wir kamen schließlich doch in Skopje an, wo wir, wie es hieß, »ausgeladen« wurden.

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1. Überfälle aus der Luft

Wieder ging der Transport weiter. Der Zug war schwer beladen, mit Menschen und Pferden, Waffen und Munition, mit Feldküchen, leichten Geschützen auf Rädern, Wagen und Kraftfahrzeugen. Eine einzige Dampflokomotive war vorgespannt, und der Zug bewegte sich überlastet langsam durch die Hügel nach Norden. In der Nähe der Station Gevgelija, an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien, hielt der Zug in einem engen Tal. Eine längere Fahrpause zum Wasserholen, Waschen usw. wurde angekündigt. Die Mannschaften ergossen sich aus den Waggons, jeder wollte den besten Platz am Fluss zwischen den weißen Geröllsteinen ergattern. Auch die »HIWIS«, die entwaffneten italienischen Soldaten, die in der Deutschen Wehrmacht als sogenannte »Hilfswillige« Dienstleistungen erbrachten, liefen zum Fluss. Angesichts des Vorrückens der Engländer und Amerikaner in Italien 1944 und des Seitenwechsels der Italiener von den Deutschen zu den Alliierten, zogen Teile der italienischen Armee der deutschen Gefangenschaft den Dienst als Hilfswillige in der Deutschen Wehrmacht vor. Da diese HIWIS ohne Waffen als Wärter der Pferde und Maultiere Dienst taten, rannten sie mit Eimern zum Fluss, um ihre Tiere in den Waggons zu tränken. Trotz der Uniformen war es ein eher friedliches Gewimmel. Da ertönte plötzlich der unerwartete Schrei »Fliegeralarm«. Und schon war auch Motorenlärm zu hören. Kaum hatte man sich so flach wie möglich hinter irgendeine Deckung, und waren es auch nur ein paar Steine, hingeworfen, da knatterte es und brüllte es auch schon über uns hinweg. Einige, die ihre Karabiner zur Hand hatten, rissen diese an ihre Wangen und zielten nach der tief fliegenden Maschine. Aber das Flugzeug war schnell wieder verschwunden. Es drückte sich förmlich in die nächste Biegung des Tals hinein – nicht zu fassen, dass es weder Bäume noch Felsen streifte. Langsam belebte sich nach dem Überfall aus der Luft wieder das Bild. Der Angriff schien keine großen Verluste gekostet zu haben. Es gab, soweit ich sehen und hören konnte, nur einen Leichtverwundeten. Aber aus der Lokomotive entströmte laut und deutlich weißer Dampf – sie war getroffen worden. Ihr hatte der Angriff des Jagdfliegers vornehmlich gegolten. Es war das Ziel dieses Einzel113

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kämpfers aus der Luft gewesen, den Transport zu stoppen und damit auch die eingleisige Strecke zu blockieren. Nach dem Überfall aus der Luft war erhöhte Wachsamkeit geboten. Leichte Flak wurde in Stellung gebracht und mehrere Wachposten wurden aufgezogen. Die Funker des Regimentsstabs wurden sofort hochaktiv, die Warnungen galten der ganzen Strecke nach Norden. Die Funker waren junge Männer, für mich als Melder jene Stabsangehörigen, mit denen ich den meisten Kontakt hatte. Wir teilten die Unterkünfte, vorgefundene oder selbst errichtete. Die Funker konnten Radio empfangen, eigenes und – verbotenerweise – auch Feindradio. Solche Informationen waren kostbares Gut. Da wir über die Fronten in Italien, Bulgarien, Rumänien und Russland etwas erfuhren, vermochten wir unsere eigenen Chancen einer Heimkehr besser abzuschätzen. Sie waren im Herbst 1944 für die Truppen aus Griechenland gering – und wir wussten das. Einige Monate nach dem Attentat auf Hitler war auf allen Fronten Rückzug und eine innere Auflösung jeglicher Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende im Gange, obwohl eine eiserne äußere Befehlsordnung diesen Prozess des verlorenen Krieges zusammenhielt. Ein schrittweiser, gefesselter Untergang stand uns bevor. Gerade für uns, Tausende Soldaten, die von den griechischen Inseln und dem zerklüfteten Festland her kamen, war eine intakte Befehlskette, die eine geordnete Rückzugsbewegung bewirkte, Voraussetzung für unsere Rettung. Dabei wurden die Rollen der einzelnen Teile der zurückflutenden Masse genau bestimmt. Diese organisierte Rollenverteilung in Absicherung und Heimwärtsbewegung nach Norden (s. S. 130ff.) war die einzige Chance, den bereits zupackenden Untergrundarmeen des Balkans, vor allem den Tito-Partisanen, zu entkommen, die von den Alliierten regelmäßig und nunmehr ungehindert Waffen erhielten. Wir, vor allem die Jungen, die von der Schule oder der Universität weg eingerückt oder, wie es hieß, »eingezogen« worden waren, reagierten verzweifelt da­ rauf, als wir vom Fehlschlag des Attentats auf Hitler erfuhren. Aber wir begriffen gleichzeitig sehr wohl, dass unsere Chance, zu überleben, in einem möglichst wohlgeordneten Rückzug und in kontinuierlicher heftiger eigener Gegenwehr lag. Ein kooperativer Einsatz zur eigenen Rettung war der einzige Weg aus der Vernichtung. Wir kämpften für eine verlorene Sache und hielten gleichzeitig das Ende, das wir uns wünschten, auf. Denn wir konnten uns weder in Gruppen ergeben noch als Einzelne überlaufen. Das hätte uns den Tod, vielleicht unter Folter, eine Lagerhaft oder Bergwerksarbeit mit ganz geringen Überlebenschancen gebracht. Das Überlaufen wäre außerdem, und das sah nicht nur ich, sondern es 114

Torpedos, Bomben und Tiefflieger zum Abschied aus Griechenland

sahen dies auch die meisten in der Truppe so, eine Art Treulosigkeit und Schwächung all derer gewesen, die möglichst unversehrt in die Heimat zurückkehren wollten. In der Einigkeit, in der stets zurückweichenden geordneten Verteidigung, sahen wir unsere Rettung. Die Funker waren die Messfühler in diesem Prozess. Der englische Jagdflieger, der die Dampfmaschine funktionsunfähig geschossen hatte, kehrte nicht wieder. Er hatte sein Ziel erreicht, die Störung und Verzögerung eben jenes von unserer Seite erstrebten geordneten Rückzugsprozesses. Die Methode, die bei dieser geordneten Rückführung angewandt wurde, sollte mir bald deutlich werden. Einige Einheiten fluteten zurück, während andere sie dabei an den rechten und linken Flanken wie mit einer Schutzhülle umgaben. Dann wurden die Rollen getauscht. Die Beschützer setzten sich ihrerseits ab und zogen nordwestwärts, während die vorher Beschützten links und rechts die Deckung und die Nachhut übernahmen. Die Bordkanone des englischen Tieffliegers hatte uns, die wir nun die Rolle der Rückzugsdeckung übernehmen sollten, für eine gewisse Zeit lahmgelegt. Die Nacht verging, und wir saßen weiterhin fest, in einer ungünstigen, von den Bergen her leicht angreifbaren Situation. Es geschah aber weiterhin nichts, nur die kostbare Zeit verrann. Am Morgen endlich erschien eine andere Lok vom Norden her, welche die zerschossene Maschine von der Spitze unseres Zuges, nachdem sie in einem umständlichen Verfahren abgekoppelt worden war, abschleppte. Nach einiger Zeit kehrte die neue Lok allein zurück und spannte sich vor unseren Zug. Obwohl es schon herbstlich kühl geworden war und die Nächte uns hatten frieren lassen, zogen wir unsere neben dem Bahndamm am Boden eingerichteten Nachtlager der Enge in den Waggons vor. Ausgegliedert in die Natur konnte auch ich freier nachdenken als eingezwängt in einen der Viehwaggons. In gewisser Weise bewunderte ich den einsamen Flieger, der es zustande gebracht hatte, eine beträchtliche Transportkolonne aufzuhalten. Die eleganten Bewegungen der Maschine in dem engen Tal hatten mir Respekt abverlangt. Insgeheim war ich zufrieden damit, dass der Flieger nicht abgeschossen worden war. Vielleicht war der Kontrast zwischen dem im Hafen von Saloniki erlebten Bombenangriff und dieser geradezu bravourösen Aktion des Tieffliegers, der – gegenüber den Bombern als Totschlägern – wie ein geschickter Chirurg agiert hatte, für meine Bewunderung maßgebend geworden. Ich schlief lange und tief neben dem Bahndamm. Erst die Morgenkälte, die durch die Zeltplane drang, weckte mich. Ich ging mit der Feldflasche Wasser holen, wusch mich und stellte mich um die schwarzbittere Brühe an, die, mit 115

Balkan

der Betonung auf der ersten Silbe, Kaffee genannt wurde. Es dauerte Stunden, bis sich der Zug mit der neuen und nunmehr vorgespannten Lokomotive wieder in Bewegung setzte. Jedenfalls ging es nach Norden. Und das war die Richtung der Heimat zu. Nie vorher und nie nachher hatte dieses Wort »Heimat« eine so starke Klangkraft in mir gewonnen.

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2. Waldwunder

Nicht allzu weit von Gevgelija an der griechischen Grenze im Vardar-Tal wurden wir aus den Viehwaggons, wie die allgemein gängige Bezeichnung lautete, »ausgeladen«. Das war am 16. September 1944 in Negotino. Ich suche solche Einzelheiten durch gelegentlichen Einblick in meine Aufzeichnungen im Tagebuch zu kontrollieren. Diese Aufzeichnungen finden sich in einem kaum brieftaschengroßen zerschlissenen Büchlein. Sie enthalten Notizen über den Zeitraum vom August 1944 bis zum Mai 1945, von Megalo Pefko bei Eleusis bis nach Wolfsberg in Kärnten. Das Datum des 16. September 1944, das ich eben notierte, stammt aus diesem meinem kleinen Büchlein, das ich durch alle Fährnisse retten konnte, auch durch die Gefangenschaft in Slowenien. Ich trug das kleine Buch stets in der Brusttasche mit mir, es wird im Bildteil gezeigt. Im September 1944 verlief die Front der Deutschen Wehrmacht in Italien bei Rimini, im Osten in den Karpaten und im Westen an der deutschen Grenze, also keine hundert Kilometer von Köln entfernt. An diesem Tag, dem 16. September, wurden im Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht Kämpfe um Warschau, nördlich von Florenz und im Westen bereits um die alte Kulturstadt Aachen gemeldet. Man musste als Angehöriger der Deutschen Wehrmacht in Negotino das Gefühl bekommen, abgeschrieben zu sein und schließlich mit der Truppe tief im Südosten abgeschnitten zu werden. Es schien nur mehr eine Frage der Zeit zu sein, wann dies geschehen würde. Außerdem begann es uns, die wir nur Tropenuniformen anhatten, in den Nächten bitter kalt zu werden. Die Einheit, zu der ich gehörte, das Jägerregiment 22 der 11. LuftwaffenFelddivision, befand sich in Negotino, im heutigen Mazedonien gelegen, nach Luftlinie gemessen etwa 900 Kilometer von der alten österreichisch-jugoslawischen Drau-Grenze im Osten Mitteleuropas entfernt. Die Positionen, die wir im September 1944 einnahmen, sollten zum Schutz der von Nordgriechenland nach Mazedonien strebenden Wehrmachtseinheiten dienen. Es war notwendig, die westlich des Flusses Vardar gelegene bergige Flanke zu sichern, in der sich die Partisanen zu formieren begannen, um die deutsche Armee an ihrem Rückzug zu hindern, zu blockieren und wenn möglich in Gefangenschaft zu treiben. Diese bergige Flanke, die verteidigt werden sollte, musste allerdings vorerst von uns erobert werden. Zur Sicherung des Rückzugs war also ein Angriff nötig. 117

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Gelang er nicht, würden die von den Engländern aus der Luft unterstützten und über die Adria mit Waffen und Munition versorgten Tito-Partisanen in das Vardar-Tal eindringen und den Rückmarsch der Einheiten der Heeresgruppe E schwer gefährden. Der Plan des Feindes suchte die restlichen Wehrmachtstruppen aus Griechenland vom Rückmarsch abzuschneiden und einzukesseln. Schon gab es die ersten Gefechte. Aber mehr als Kugeln pfiffen nicht. Es handelte sich nur um kleinere Gruppen von Tito-Partisanen, die bei unserem ihnen als wohlorganisiert und überlegen erscheinenden Vordringen zurückwichen. So bezog unser Regiment, zu dessen Stab ich nun als Melder gehörte, Position. Dieser Stab, im Umkreis durch die Bataillone gesichert, schlug ein Lager auf, bei dem im Wald sogar Feuer entzündet werden durfte, so sicher fühlte man sich. Trotzdem entsandte man in den nahe gelegenen Wald bei Negotino kleine Patrouillen, um sich gegenüber allenfalls versteckten Gruppen von Partisanen abzusichern. Ich wurde zu einem solchen Patrouillen-Gang befohlen. Zu viert zogen wir los, ohne Unteroffizier. Wir vier Mann blieben untereinander auf Rufweite in Kontakt. Wir sollten die Gegend durchstreifen, ohne klare Befehle. Eigentlich hatten wir unsere Aufgabe schon abgeschlossen und das uns zugewiesene Gebiet durchkämmt, als wir von etwas Unvorhergesehenem überrascht wurden. Nachdem ich mich zusammen mit einem anderen Soldaten von den übrigen getrennt hatte, fand ich bei gerade beginnender Dämmerung völlig unerwartet eine Szene vor mir, wie ich sie noch nie im Leben gesehen hatte. In einer Waldlichtung saßen und bewegten sich um ein ansehnliches Feuer merkwürdig gekleidete Menschen, Frauen und Kinder. Ich blieb ganz still, sodass sie mich nicht bemerken konnten. In Ausdruck und Verhalten wichen sie von dem ab, was ich bisher an Menschen und Gruppen hatte beobachten können. Die dunkle Hautfarbe fiel mir auf. Ich war ganz und gar von dem Eindruck gefangen, als wäre ich durch ein geheimnisvolles Tor in eine andere Welt eingetreten. Wie kamen diese Indianer, so war mein erster Gedanke, in die Partisanenlandschaft des Balkans  ? Doch plötzlich konnte ich meinen Eindruck mit früher Gesehenem verknüpfen. Zumindest von den Gesichtern her erinnerten mich diese Menschen hier an fahrende Leute, an Zigeuner, die ich in den Sommerferien 1938 als Dreizehnjähriger in Ungarn gesehen hatte. Und nun nahm ich ein Lager wahr. Ich sah Frauen mit langem, schwarzem Haar und ein richtiges Gewimmel von Kindern auf engem Raum. Plötzlich wurde ich entdeckt. Aber das, was ich erwartet hatte, geschah nicht. Weder erhob sich ein Geschrei noch gab es Tendenzen der Flucht oder der Abwehr. Es entstand auch keine Aufregung in der Gruppe. Das Kochen ging weiter. 118

Waldwunder

Einige Frauen, die etwas untereinander besprochen hatten, kamen näher, als wollten sie mich einfach nur genauer betrachten. Jetzt erst fiel mir auf, dass keine Männer zu sehen waren. Hatten die sich versteckt und würden diese Männer nun plötzlich bewaffnet hervorbrechen  ? Oder hatten sie sich den Partisanen angeschlossen und waren gar nicht bei ihren Leuten  ? Ich wurde misstrauisch. Aber im Schutz der Maschinenpistole, die ich vom Rücken abgenommen hatte und nun vor mir her trug, fühlte ich mich einigermaßen sicher. In einer mir heute schwer verständlichen Vertrauenshaltung drang ich noch weiter vor. Meine Überraschung und mein Erstaunen rissen mich mit. Ich fühlte mich in die Urzeit versetzt  : Ein Lager im Wald mit mir völlig unbekannten Menschen bot sich mir dar. Es war eine Szenerie, wie ich sie sonst nur aus Sagen kannte. Bei dieser Entdeckung der Waldmenschen beeindruckte mich besonders, dass ein junges Mädchen sich vom Feuer erhob und auf mich zuging. Was würde nun geschehen  ? War das eine Falle  ? Sie war zwar nicht in Lumpen, aber so gekleidet, dass man größere Flächen der dunklen Haut zu sehen bekam. Sie kam auf mich zu, so, als würde sie mich zu einem Tanz einladen, und machte entsprechend einladende Gesten mit ihrem Körper. Das war wie der Höhepunkt einer Sage. Einen Augenblick vergaß ich alles und wollte nur hingehen, sie umfassen, um mit ihr zu tanzen. Wir hätten auch fast miteinander zu einer einsetzenden Musik zu tanzen begonnen. Da aber fasste mich das Realitätsbewusstsein wie ein Schock. Ich hatte die anderen Mitglieder der Patrouille vergessen, zudem wurde es dämmrig. Die Furcht, in eine Falle zu geraten, setzte ein. Ich trat zurück in das Dunkel des Waldes, dann hörte ich rufen. Das mussten die drei anderen sein. Als ich sie wiedersah, fragten sie mich, wo ich gesteckt habe. Aber da wir als Gruppe Gleichrangiger losgezogen waren, gab es auch keinen Verantwortlichen und niemanden, der mir als Vorgesetzter irgendwelche Vorwürfe hätte machen können. Ich hütete mich trotzdem, mein Erlebnis zu erzählen. Ich wollte weder dieses Mädchen, das sich mir angenähert hatte, noch die Menschen des Lagers gefährden. Hätte ich sie erwähnt, darüber »Meldung erstattet«, wie es hieß, wäre ein Kommando ausgesandt worden, um das »Gelände zu sichern«. Weiß Gott, was mit den Menschen geschehen wäre, die man da gefunden hätte. Sie wären bestenfalls mit Gewalt aus der Nähe des Regimentskommandos weggebracht worden. Wohin aber, und unter welchen Bedingungen  ? So schwieg ich. Ich hegte auch keine Befürchtungen, dass vom Lager dieser Waldmenschen Gefahren ausgehen könnten. Ich hatte jedenfalls eine Art Waldwunder erlebt. Es sollte dabei bleiben und wurde auch als solches in meinem Gedächtnis aufgezeichnet. Eine 119

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gewisse Anerkennung für den Mut des Mädchens und eine traurige Sehnsucht wandelten mit mir weiter. Es war in der schrecklichen Zeit mit all ihrer Gewalt doch eine Art Wunder gewesen, das ich erlebt hatte – ein Waldwunder  ? Oder war es nur ein Traum gewesen  ? Aber dazu waren die Bilder der Erinnerung zu scharf und das braune Mädchen, das auf mich zugegangen war, zu lebendig gewesen.

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3. Ein Blick in die Moschee von Skopje

Wieder machte ich von der mir gewährten Sonderrolle Gebrauch. Ich fühlte mich als Melder beim Regimentsstab ebenso frei wie vorher bei diesem Stab als Dolmetscher. Ich fühlte diese Freiheit geradezu als Aufforderung. Von der Stadt Skopje, in die das Regiment eingezogen war, hatte ich noch nichts gesehen. So ging ich aus, um sie zu besichtigen. Sie war seit dem Einfall auf dem Balkan 1941 von deutschen Truppen besetzt geblieben. Nun fluteten die Reste der Griechenlandarmee durch das Vardar-Tal und das Morawa-Tal und dabei durch die Stadt oder an ihr vorbei in Richtung Niš oder Priština nach Norden. Skopje lag damals etwas abseits von den Arterien, die den Balkan mit Mitteleuropa verbanden. Es war nicht sehr viel Leben in den Straßen, auch nicht viel deutsches Militär. Die Soldaten blieben meist in ihren Unterkünften. Außer unansehnlichem Gemüse gab es nichts zu kaufen. Vor allem die Männer der Stadt, und das waren hauptsächlich alte Männer, ließen sich kaum blicken. In kleinen dunklen Gassenlokalen konnte man sie wie in Höhlen sitzen sehen. Einige rauchten Wasserpfeifen. Ich wäre gern eingetreten. Aber ich fühlte mich unbehaglich. In Griechenland hätte ich mich zu verständigen versucht, hier aber hatte ich ganz deutlich das Gefühl des Fremden. Ob ich in meiner Uniform auch so gesehen wurde  ? Ich vermutete, dass in dieser Stadt allgemein die Auffassung herrschte, dass die Deutschen bald verschwunden sein würden und dass es wohl geraten sei, ihnen so wenig Konfliktstoff wie möglich zu geben, damit sich der Abzug dieser Feinde rasch und reibungslos vollziehe. Die Menschen sahen weg, wenn ich an ihnen vorbeiging. Es gab in der Stadt nichts, was mich aufforderte, es zu beobachten, bis ich durch Zufall in die Nähe einer Moschee geriet. Und hier tat ich, was ich mir auf dem ganzen Rundgang bisher verweigert hatte. Ich trat ein. Ich hatte zwar schon als Kind an der Seite meines Großvaters in Wien eine Synagoge, aber noch nie eine Moschee betreten. Mit 19 Jahren und einer seit meinem vierzehnten Jahr unter dem Nationalsozialismus verabreichten Schulbildung besaß ich auch keinerlei Kenntnisse über den Islam. Eine Ausnahme bildete das unentfaltete Wissen, dass die Türken, die zweimal Wien belagert und das zweite Mal, 1683, die Stadt fast erobert hatten, 121

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Moslems gewesen waren und als solche sich sehr grausam gegen den Feind in Wien, gegen die »Ungläubigen«, verhalten haben sollen. Mit solcherlei sehr bescheidener Vorkenntnis trat ich in die Moschee ein. Ich war ganz erstaunt, sie menschenleer zu finden. Der zweite für mich verblüffende Eindruck war, dass man sie mit Teppichen ausgelegt hatte. Da stand ich also gleich hinter dem Eingang, mit schweren Soldatenstiefeln, die Maschinenpistole über der Schulter, und blickte in den kahlen, aber von den Teppichen her belebten Raum. Mein Grundgefühl war das einer starken Befremdung. Es war dies eine Welt, von der ich keine Ahnung hatte. Sie machte mich neugierig, aber ich war ihr gegenüber hilflos. Dieses Gefühl steigerte sich noch dadurch, dass ich auf einer Wand eine Pendeluhr hängen sah, die wohl funktionierte, aber eine ganz versetzte Zeit anzeigte. Auch dies bestätigte meinen Eindruck der Fremdheit. Die Uhr schien die Zeit einer anderen Welt anzuzeigen. Ich blieb noch eine Weile, dann ging ich, befangen und hilflos, wie ich gekommen war. Der Raum in seiner Leere schien mich zu begleiten. Ich hatte keinerlei Anwesenheit des Göttlichen empfunden, aber wohl ein gepflegtes Haus, in dem Gott verkündet werden konnte. Selbst die Ruinen der antiken Tempel, besonders jener der Akropolis, hatten mir mehr Spuren des Göttlichen, wenn auch des Göttlichen einer bestimmten geheimnisvollen, aber eher heiteren Art, vermittelt. Hier in Skopje war etwas Außerordentliches und Unheimliches zu spüren, das sich aber auf die angenehmste Art in einem unnachahmlich ausgewogenen und schönen Rahmen erahnen ließ. Auf dem Gymnasium hatte ich acht Jahre Latein und fünf Jahre Griechisch gelernt. Selbst in den Sprachlehrbüchern fanden sich Abbildungen von Tempeln. Bei der Lektüre klassischer Autoren war die Begegnung der antiken Menschen mit ihren Göttern in den Mythen und Epen immer wieder Gegenstand von Schilderungen gewesen. Im Bethaus von Skopje, der Moschee der Stadt, empfand ich eine eindrucksvolle Ruhe, jedoch keine Nähe des Göttlichen. Als ich mich durch die schon dunkel werdende Stadt auf den Weg zurück zum Regiment machte, fiel mir ein Erlebnis ein, das noch am ehesten eine Brücke zu dem Besuch in der Moschee bilden konnte. Dort, wo ich als Kind in einem Wiener Arbeiterbezirk wohnte, gab es nur einen Häuserblock weit von unserem Wohnhaus entfernt eine Synagoge. Da mein katholischer Großvater mehrere jüdische Freunde hatte, die er gelegentlich auch in der Synagoge traf, nahm er mich einmal dorthin mit. Ich musste nur, ganz im Unterschied zum Besuch in einer Kirche, wo jegliche Kopfbedeckung von Männern abgenommen wurde, eine Mütze mitnehmen und bei Betreten der Synagoge aufsetzen. Mein Großvater war schon mit einem Hut gekommen. 122

Ein Blick in die Moschee von Skopje

Auch in der Synagoge hatte ich als Kind nicht das Gefühl verspürt, mich in einem Haus Gottes zu befinden. Da war damals noch hinzugekommen, dass man in der Synagoge laut sprach. Das schien mir ehrfurchtslos zu sein. Aber ich verstand von allen diesen Voraussetzungen nichts, so war auch mein Bild verzerrt und einseitig. Im Jahre 1939 brannte der jüdische Tempel, den ich besucht hatte – Nationalsozialisten hatten ihn angezündet. Die Straße war von buntem zersprungenem Glas übersät, hatte die Synagoge doch große bunte Fenster gehabt. Die ausgebrannten schwarzen Ruinen sahen grauenvoll und erschreckend aus. Ich wusste damals nicht, warum es zu der Brandstiftung gekommen war. Mein Großvater war schon tot  ; er konnte mir das nicht mehr erklären. Die Moschee in Skopje war unzerstört, ja selbst die Uhr war in Gang. Ich hatte dort zwar Ruhe, aber keinerlei Anhauch von Göttlichem verspürt. In diesem Haus des Gebets schien das Leben zu fehlen. Ich war also wieder mit meinem Tagebuch allein.

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4. Unter Beschuss am Pass bei Prilep

Es gab viele Abschüsse der Dampfloks durch geschickte Royal-Air-Force-Piloten, die ihre Maschinen durch enge Bergtäler zu steuern verstanden, so auch durch das Vardar-Tal. Sie vermochten auch die schwer beladenen Zug-Ungeheuer, gezogen von riesigen Lokomotiven mit allerdings dünner Stahlhaut, bewegungsunfähig zu schießen. Nach Abschuss einer großen Lokomotive musste man entladen. Mensch und Tier hatten sich nun auf längere Strecken selber zu bewegen. Durch diese Umstellung und damit auch die Verzögerung eines flüssigen Rückzugs entstand eine neue Gefahr – von den aus Westen auf unsere Rückmarschroute herandrängenden Tito-Truppen blockiert zu werden. Unterstützt von Artillerie, marschierte von Prilep aus eine nicht unbeträchtlich starke Gruppe auf das Vardar-Tal zu, worin sich die Rückzugsstraße für die Griechenlandarmee befand. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mir ein Schützenloch ausheben musste. Denn für den nächsten Morgen war der geballte Angriff der Tito-Truppen von Prilep her zu erwarten. Sie hielten Prilep besetzt und würden versuchen, von dort nach Kavadarči vorzustoßen, um in die Rückzugsstraße seitlich einzudringen und sie abzuriegeln. Das hätte eine richtige Katastrophe für die im engen Tal nach Norden drängenden Bataillone bedeutet. Denn das waren unsere aus Griechenland zurückkehrenden Einheiten. Hunderte von Soldaten schaufelten sich die Nacht hindurch Schützenlöcher, um dem erwarteten Ansturm der Tito-Partisanen von Prilep her standzuhalten. Auch Verbindungsgräben wurden gezogen, sodass die Anlage schon fast einer umfassenden Abwehrstellung entsprach. Aber wodurch sollte man den Feind, der sicher auch zahlenmäßig weit überlegen war, aufhalten  ? Die einzige Hoffnung war ein übrig gebliebenes deutsches Sturmgeschütz. Es war von uns zu keinem Sturm, aber zum Zentrum einer gefechtsstarken Verteidigung vorgesehen. Besonders zu beachten hatte man, dass es dem Angreifer nicht gelingen durfte, dieses Sturmgeschütz zu erobern. Es war eine Art Panzer mit hoher Feuerkraft. Kaum begann der Morgen eines grauen Tags, setzte starkes Artilleriefeuer auf unsere Stellung ein. Besonders eindrucksvoll war für mich die Explosion von Granaten in unmittelbarer Nähe des eigenen Erdlochs. Die Erde spritzte auf 124

Unter Beschuss am Pass bei Prilep

und über den eigenen, mit einem Stahlhelm geschützten Kopf hinweg. Diese massive Vorbereitung des Angriffs der feindlichen Truppen wurde durch starkes Maschinengewehrfeuer fortgesetzt. Offensichtlich stand uns ein gut vorbereiteter Ansturm von Eliten der Tito-Brigaden bevor. Die feindliche Truppe suchte sich hierfür langsam heranzuarbeiten. Es war wohl nicht der Plan der Angreifer, uns mit ihren Aktionen zu überrennen, sie wollten sich vielmehr mit möglichst wenigen eigenen Verlusten durchsetzen. Es kam auch viel gut gezieltes Abwehrfeuer von unserer Seite, das die Vorsicht des Feindes verständlich machte. Als es Mittag wurde, schien der feindliche Angriff abgeschlagen. Es begann eine gewisse Ruhe einzukehren, sodass unsere Verwundeten versorgt und in Richtung auf Veles abtransportiert werden konnten. Die Stagnation hielt zu unserem Vorteil bis zum Abend an, und wir erwarteten den entscheidenden Angriff am nächsten Morgen. Tatsächlich sah es im Morgengrauen auch so aus, als würde er bald erfolgen. Aber die nächtlich herumhuschenden Gestalten des Feindes erweckten den Eindruck, dass sie sich vorerst nur für den folgenden Tag in Stellung bringen wollten. Irgendjemand hatte da die Idee, den morgendlichen Angriff nicht abzuwarten, sondern in aller Früh unsere stärkste Waffe einzusetzen, um ihn zu verhindern. Als sich die Tito-Truppe bereits in Gruppen zu ihrem Angriff im Morgengrauen formiert hatte, begann unser Sturmgeschütz mit einem ebenso plötzlichen wie massiven Feuer. Der Versuch des Feindes, trotzdem zum Angriff anzusetzen, schlug unter diesen Bedingungen fehl. Es war für mich das erste Mal im Leben, dass ich so etwas wie Dankbarkeit für eine Waffe, für unser Sturmgeschütz, empfand und natürlich auch für dessen Bemannung. Der Feind gab den Angriff in unserem Bereich völlig auf und begnügte sich damit, seine Stellung zu halten. Das Feuer des Sturmgeschützes hatte ihn abgeschreckt und ihm eine stärkere Macht vorgespielt als die, die uns tatsächlich zur Verfügung stand. Die Partisanen waren also doch keine erfahrenen Soldaten, und sie hatten auch nicht die entsprechenden Führer. Ich gewann den Eindruck, dass unser Abschnitt bis auf Weiteres nicht zur zentralen Angriffsfront für die Tito-Mannen werden würde. Und ich sollte damit recht behalten. Ich war aber von keinerlei Stolz oder Genugtuung über meine Prognose erfüllt. Ich war vom Dolmetscher zum Soldaten geworden. Damit war ich in ein Getriebe geraten, in dem es mir vorerst bedeutsam schien, nicht getötet zu werden. Ich hatte Feuerüberfälle auf Züge, den Bombenangriff auf den Hafen von Saloniki, Tiefflieger-Attacken und Geplänkel der Infanterie erlebt, nie aber schweres Artilleriefeuer einer feindlichen Truppe wie hier. Als mir diese Überlegungen nach dem geglückten Rückzug vom Kampf mit den Partisanen bei Prilep durch den Sinn gingen, befand ich mich in einem 125

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relativ geschlossenen Verband der Stabskompanie des Jägerregiments 22 der 11. Luftwaffen-Felddivision. Diese Kompanie war eine wild zusammengewürfelte Einheit, die aus fast völlig vernichteten Divisionen verschiedenster Art und nur zum Teil aus Soldaten der ehemaligen Luftwaffe bestand. Die Kompanien des Regiments marschierten weiter von Kavadarči nach Norden. Die Stabskompanie bewegte sich samt Tross auf der Straße. Nun geschah, was niemand erwartet hatte. Sturzkampfflieger aus deutscher Produktion, die irgendwie in Feindeshand geraten waren, rasten uns entgegen und warfen ihre Bomben auf die Straße. Eine Kette von Tieffliegern folgte ihnen und beschoss uns, die Truppe und den schweren Tross, mit gut gezieltem Maschinengewehrfeuer. Pferde und Maultiere gingen durch und rasten verwundet oder zu Tode erschreckt mit Karren oder Wagen von der Straße weg ins Gelände. Dabei wurden Menschen überfahren, die sich, um dem Beschuss zu entgehen, in den Boden gepresst hatten. Die alten Luftwaffensoldaten unserer Einheit erkannten, dass es sich um die in Deutschland produzierten und noch vor wenigen Monaten den Bulgaren gelieferten Kampfflugzeuge handelte, die den Überfall ausgeführt hatten. Die Bulgaren, die früher Bundesgenossen der Deutschen gewesen waren, hatten sich nun, da die Sowjets im September 1944 ihr Land schrittweise besetzt hatten, auf deren Seite begeben. Die von den Deutschen gelieferten Waffen richteten sie nun gegen die in die Heimat nach Norden drängenden deutschen Truppen. Man kann nach Jahrzehnten die Gefühle nur schwer nachvollziehen, die der Frontwechsel des Bündnispartners hervorrief und die damals zur vorhandenen Todesbedrohung noch hinzukamen. Die überwiegende Mehrzahl, das Gros der Truppe, hasste den Krieg und ersehnte dessen baldigste Beendigung. Wir sahen und erlebten, wie jeder Tag Menschenopfer kostete. Und wer heute nicht fiel, der wurde morgen verwundet. Trotz dieses mit der Überlebenshoffnung verbundenen Wunsches nach Beendigung des Krieges sagte die Vernunft, dass der eben geführte Kampf weitergeführt werden musste, um in einem geordneten Rückzug zu überleben. Die Ordnung im Rückzug, das wurde klar, bot die besten Überlebenschancen. Aus diesen Überlegungen heraus entstand ein gewisser Hass auf diejenigen, die diesen Weg des Kampfes wider Willen noch zusätzlich erschwerten, nämlich die ehemaligen Verbündeten. Es waren die Waffen, die man diesen Verbündeten geliefert hatte, mit denen wir nun angegriffen und getroffen wurden. Die Toten und die Verwundeten wurden eingesammelt, es gab ein Aufatmen, als das Feuer vom Himmel erloschen war. Schüsse knallten, um die verwundeten Tiere zu erlösen. Der Tross stoppte, aber es sollte nur ein vorläufiger Halt 126

Unter Beschuss am Pass bei Prilep

sein, denn das Ziel blieb weiterhin bestehen  : Es ging darum, das Einströmen der aus der Region jenseits des Passes sich zusammenziehenden Partisaneneinheiten zu verhindern. Sie hatten sich ihrerseits die Zerstörung unseres Rückmarschplans zum Ziel gesetzt hatten. Der Einsatz unseres Regiments konnte sie jedoch daran hindern.

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5. Einmal wacht die Urangst auf

Keine Beschreibung kommt der Beschreibung seiner selbst an Schwierigkeit gleich. Michel de Montaigne (1533–1592)

Durch viele Monate hindurch hatte ich mit ihm zu tun gehabt, in politischen wie persönlich sehr vertraulichen Angelegenheiten. Ich war sein Dolmetscher gewesen. An den Blickkontakt mit Oberst Eberhard Glitz gewöhnt, vermochte ich aus seinem jeweiligen Gesichtsausdruck seine Stimmung abzulesen. Sekunden bevor er sprach, konnte ich oft vorwegnehmen, was er sagen würde. Er spottete über mich als »weichen Wiener«, wenn ich mich seinen Befehlen zu grausamen Handlungen widersetzte. Schließlich fügte er sich. Ich nahm ihn nicht ernst, obwohl er rangmäßig hoch über mir stand. Ich war neunzehn, er war nicht ganz doppelt so alt wie ich. Es gab trotzdem eine Art freundschaftliches Verhältnis zwischen uns. Ich spürte seine militärischen Schwächen, entstanden durch den Wechsel von der Luftwaffe zur Infanterie, und hatte deswegen ein gewisses Mitgefühl mit ihm. Angesichts seiner Kriegstätigkeit als ehemaliger Kampfflieger mit hohen Tapferkeitsauszeichnungen forderte der Mann mir, der ich keinerlei militärischen Ehrgeiz hatte, allerdings Hochachtung ab. Oberst Glitz hatte die Art, sowohl in seiner Begeisterung als auch im Ärger unbändig zu reagieren. Aber man merkte – ich jedenfalls tat dies –, dass er trotz all dieser Spontaneität unsicher war. Seine hoch gewachsene Gestalt, seine Körperhaltung und die verschiedenen Formen seines Gesichtsausdrucks gaben, selbst wenn er zornig war und außer Fassung geriet, deutlich zu erkennen, dass er als Herr der Lage gesehen werden wollte. Im Grunde war er des Öfteren nicht Herr der Lage, benahm sich aber so, um den Eindruck zu erwecken, er sei es. Natürlich kam ihm bei dieser Attitüde auch seine hohe militärische Stellung zugute, er war schließlich der Kommandeur eines Regiments und ein hoher Of128

Einmal wacht die Urangst auf

fizier. Als erfolgreicher und dekorierter Jagdflieger hatte er in rasender Schnelligkeit eine Kriegskarriere gemacht, die ihn schließlich bis zum Rang eines Obersten hinaufkatapultiert hatte. Ab 1943 war die deutsche Luftwaffe durch Feindeinwirkung dezimiert worden. Es gab für die ausgebildeten und teils sehr erfolgreichen Piloten und Offiziere keine Flugzeuge mehr. Anderseits waren immer mehr Offiziere des Heeres gefallen oder humpelten auf einem Bein in den bombardierten Städten des Hinterlandes mit Orden an der Brust herum. Da wurde der erfolgreiche FliegerOberst – ohne eine ernsthafte Ausbildung hierfür – der Infanterie zugeordnet. Der Name Glitz, den er am Telefon noch schneller sprach, als er ohnehin kurz war, passte zu der neuen Funktion eines Offiziers des Heeres viel weniger als zu einem Jagdflieger. Heere sind langsamer als Flugzeuge. Was zu dem Namen Glitz aber weiterhin zu passen schien, war die Schnelligkeit und Schlagfertigkeit seiner Äußerungen. Es waren weniger seine Entscheidungen, die so schnell erfolgten, als eben die Reaktion auf das, womit er jeweils konfrontiert wurde. Die Entscheidungen aber, so schien es mir, der ich im Herbst 1944 seit über einem halben Jahr dem Stab des Regiments, dessen Kommandeur Glitz war, angehörte, wurden vom taktischen Führungsoffizier, dem Ia des Regiments, einem Hauptmann Schröter, getroffen. Schröter war eine seltsame Figur. Er wirkte zerstreut und war es nicht. Er verbreitete eine Aura von Distanz. Schröter zeigte noch 1944 eine auffallende Anhänglichkeit an den Führer Adolf Hitler, die Glitz nie hatte erkennen lassen. Schröter war Reserveoffizier, erst viel später sollte ich erfahren, dass der taktische Offizier des Regiments im Zivilleben evangelisch-lutherischer Pastor gewesen war. Als Glitz, Chef während der Besatzungszeit in Griechenland, am Telefon Meldungen von den Bataillonen über ernstere Vorkommnisse erhielt oder von der Division Befehle an das Regiment kamen, auf die hin in verschiedener Weise Konsequenzen gezogen werden mussten, ließ er Schröter rufen. Oder der Hauptmann war ohnehin schon anwesend, als hätte er alles geahnt und als müsste er stets so gut wie alles wissen. Entweder fasste Glitz den Inhalt von Meldungen oder Befehlen, die an ihn ergangen waren, kurz zusammen, um sie Schröter mitzuteilen, oder dieser wusste, ja ahnte bereits, worum es ging. In beiden Fällen hatte Glitz durch Hinüberdrehen des Kopfes eine besondere Art, Schröter aufzufordern zu sagen, was dieser über die neu eingetretene Situation dachte. Schröter war viel langsamer als Glitz. Er wirkte und handelte bedächtig. Um auf Schröters Stellungnahme zu warten, war Glitz bereit, von der geringen Geduld, die er besaß, viel zu opfern. Kaum hatte sich Schröter geäußert, war 129

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Glitz schon im Sinne von Schröters Vorschlägen entschieden und verkündete mit Ungestüm, was zu geschehen habe. Das war im Grunde fast immer das, was Schröter vorgeschlagen hatte. Ein einziges Mal liefen die Dinge anders. Und was sich daraus ergab, geriet um ein Haar zur Katastrophe. Moralisch war sie das, militärisch konnte sie mit Geschick und Glück gerade noch vermieden werden. Ehe ich dieses Ereignis schildere, muss ich noch die militärische Ausgangslage skizzieren. Die im Herbst 1944 aus Griechenland nach Norden ziehenden Divisionen des deutschen Heeres suchten für ihren Rückzug, wie man leicht verstehen kann, möglichst gut befahrbare Straßen. Dafür bot sich für die von Saloniki her zurückflutenden Einheiten die Linie Skopje–Kumanovo–Vranje–Niš als Marschroute an. Geplant war, über Niš und allenfalls, sollte es noch in deutscher Hand sein, über Beograd oder mit der Variante Kruševac und Kraljevo nach Nordwesten zu marschieren. Auf jeden Fall war es notwendig, auf dieser Linie über Vranje so weit wie möglich nach Norden vorzustoßen, um die von Bulgarien aus energisch nach Westen und Süden drängenden Truppen abzufangen. Denn diese Truppen waren bestrebt, in die Flanke der nordwestwärts strebenden Einheiten der Heeresgruppe E einzudringen. Die Bulgaren, gemeinsam mit sowjetischen Truppen, dessen Verbündete sie nun waren, suchten den Rückstrom der Heeresgruppe E zu blockieren, um dadurch Chaos zu erzeugen und massenweise Gefangene zu machen, wo immer es ihnen gelingen mochte. Nachdem der Großteil des Landes von sowjetischen Truppen besetzt worden war, hatte Bulgarien, zuerst mit Deutschland verbündet, die Fronten gewechselt. Das brachte massive Verstärkung, auf jeden Fall aber Entlastung für die nach Westen und auf Beograd vordringenden Sowjets. So bestand für das Gros der sich zurückziehenden deutschen Griechenlandarmee akute Gefahr. Diese Armee sollte nun von Nordosten her angegriffen werden. Das Kommando der deutschen Heeresgruppe E, der Balkanarmee, legte deswegen großen Wert darauf, dass für die zurückmarschierenden Truppen ausreichend Flankenschutz aufgebaut wurde. Das war vermutlich eine Idee des Oberbefehlshabers der Balkanarmee, des Generals Löhr. Die Heeresgruppe entschied sich nach Löhrs Befehl dafür, mit jedem größeren Rückzugsschritt den Flankenschutz auszuwechseln. Für den Rückzug wurden Rochaden zwischen Schützern und Beschützten befohlen. Das System begleitender Abwehrkämpfe bei zügigem Rückmarsch war das eigentliche Geheimnis der Rettung von Hunderttausenden abgekämpfter, durchgehend kriegsunwilliger, schlecht ernährter, ab Oktober in Tropenuniformen frierender und schlecht bekleideter Soldaten der Deutschen Wehrmacht. Welche politischen Vorwürfe man dem Oberkommandierenden 130

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dieser Heeresgruppe E, dem österreichischen General Löhr, wegen seiner Rolle bei der Bombardierung Beograds zu Beginn des Balkankrieges auch mit Recht machen mag, seine Strategie der Rückführung der von ihm befehligten Heeresgruppe nach dem Prinzip eines rochierenden Flankenschutzes war eine strategische Defensivleistung ersten Ranges. Dadurch wurden viele Tausende der nach Nordwesten heimwärts strebenden Soldaten vor Gefangenschaft und Tod gerettet. Infolge der über die Jahre der deutschen Besetzung des Balkans verübten Grausamkeit in den sogenannten Partisanenkämpfen war Vernichtungshass gegen die deutschen Truppen entstanden. Das Schutzsystem des Generals Löhr für die Rückkehrenden war angesichts dieses Hasses, wenn und wo es funktionierte, lebensrettend. Mich 19-jährigen Gefreiten, der ich taktisch nicht geschult war, überzeugte diese Strategie durchaus. Ich führte immer eine Karte bei mir, die ich mir durch die unmittelbare Nähe zu den Befehlsgebern des Regiments auch ohne formelle Bewilligung aus den Beständen hatte beschaffen können. Ich schnappte – ergänzend hierzu – auch Äußerungen der Offiziere des Regiments auf, die mich sowohl die Lage als auch die Absicht der Truppenführung erkennen ließen. So war ich privilegierter als jene Soldaten, die zu dieser Art Informationen keinen Zugang gewinnen konnten. Als sich unser Regiment mit seinen Bataillonen und Pionierzügen mit Einheiten von Granatwerfern nach Norden schob, stieß es nach dem Durchzug durch die teilweise zerstörte und fast menschenleere mazedonische Stadt Vranje plötzlich und unvermutet auf starken Feind-Widerstand. Das konnten keine Partisanen sein. Es war eine sehr gut bewaffnete und wohlorganisierte Truppe, die uns hier die Stirn bot. Es musste sich um einige der von Norden in Richtung auf unsere Kampfgruppe vorstoßenden sowjetischen und bulgarischen Einheiten handeln, die unseren Durchmarsch blockieren wollten. Das gelang ihnen schließlich auf dieser Route auch. Die Kompanien des Jägerregiments 22 lagen im nördlichen Vorfeld der Stadt Vranje. Der Regimentsgefechtsstand hatte sich im nördlichen Teil der Stadt teils in Ruinen oder zumindest hinter festen Mauern eingerichtet. Die Stadt Vranje ist mir wegen Oberst Glitz und des tragischen Endes dieses militärischen Aufsteigers im Gedächtnis geblieben. Aber auch meine Streifzüge durch die verlassenen Gassen von Vranje blieben mir deutlich im Gedächtnis erhalten. Durch die Rolle als Dolmetscher des Regiments in der griechischen Provinz Attika und als ein in allen Fragen des Verhältnisses zur Bevölkerung des Landes, das erobert und besetzt worden war, als kompetent erachteter Mittler hatte ich 131

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im Regimentsstab viele Freiheiten erworben. Ich verfügte über eine Generalerlaubnis, auch ungeachtet des nächtlichen Ausgangsverbots frei umherzugehen. Niemand fragte mich, wo ich mich aufgehalten hatte. Ich war auch nicht verpflichtet, das Ziel meines Flanierens, meines forscherischen Ausgehens vorher bekannt zu geben. Obwohl sich die Außenbedingungen grundlegend geändert hatten, hielt ich, als wäre nichts geschehen, auch hier an meinen Privilegien des unkontrollierten Ausgangs und der Entfernung von der Befehlszentrale fest. Es war eine Art Wanderbedürfnis, getrieben von einem Wissenwollen, das mich auch in prekären Situationen erfasste. So absurd es auch sein mochte, aber auch in Vranje packte mich dieses Bedürfnis. So verschwand ich aus dem Knotenpunkt der Befehlsführung mit seinen Funkern, Telefonisten und herumstehenden Feldwebeln, während die Offiziere abseits saßen, über Karten brüteten oder schliefen. Als ich meine Wanderung begann, herrschte eine merkwürdige Stille in der Stadt. Nur manchmal waren Feuerstöße von Maschinengewehren und einzelne Schüsse von der Feindseite, also von Norden her, zu hören. Die Artillerie schwieg. Es war ein müder Moment im Krieg. Ich dachte an nichts anderes, als dass ich durch die Stadt wandern wollte. Und die war noch, so schien es zumindest, fest in unserem Besitz. Schutt lag in den Gassen, Dächer waren eingestürzt. Die Türen zu den Häusern standen vielfach weit offen, als hätten die flüchtenden Bewohner nicht mehr Zeit gehabt, sie zu schließen  ; vermutlich hatte sie aber der Luftdruck explodierender Granaten aufgerissen, so wie er auch die Fenster zerbrochen und Glasscherben ausgesät hatte. Die Straßen entlang waren solche offenen Türen anzutreffen. Man konnte sie als Hilflosigkeit der Abwesenden verstehen oder auch als Falle. Mit den Tücken und Listen der Freiheitskämpfer am Balkan wohlvertraut, schloss ich Fallen nicht aus. Hinter der einen oder anderen Tür konnte eine Mine oder sogar ein versteckter Kämpfer sich befinden. Ich achtete daher, wenn ich in einen Hausflur eintrat, sorgfältig auf gespannte Drähte. Aber es gab solche Drähte nicht, dafür aber den Schrecken der Verlassenheit von Wohnstätten. In einem Haus stieg ich in den ersten Stock hinauf und trat in eine nach den Standards auf dem Balkan vor 60 Jahren wohlausgestattete Wohnung. Zwar lagen Sessel umgestürzt, aber es gab einen Teppich. Ein schwarzer Flügel stand da, mit einer Porzellanschale darauf. Die Schale hatte der Explosionsdruck, durch den die Fenster eingedrückt worden waren, auf dem Klavier jedoch stehen lassen. Ich rückte mir einen Hocker heran und begann auf meine Weise, die auf nur sehr geringem Wissen beruhte, auf dem Klavier zu fantasieren. Das war ein 132

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Stück Heimat. Im Wohnzimmer der Eltern stand ein solcher Flügel – aber stand er noch dort, oder hatten die Bomben doch alles zerstört  ? Hier konnte ich eine Brücke nach Wien schlagen. Anderseits war ich weit weg von zu Hause und befand mich in einer mir sehr fremden Welt. Als ich die Wohnung wieder verlassen hatte, war mir, als hätte ich jemanden besucht. Ich wanderte weiter durch die Stadt, erneut heimatlos. Schließlich fand ich in einer der breiteren Straßen der Stadt ein durch ­einen Artillerietreffer weit aufgerissenes Geschäft. Neugierig trat ich dort ein. Da gab es Fläschchen mit kostbaren Ölen und Schmuck und viele bemalte Holzschachteln. Ich kannte das Plünderungsverbot. Ich dachte jedoch  : Wenn ich davon nichts nehme, wird der nächste Artillerietreffer alles zerstören. Oder andere Menschen werden kommen und sich bedienen. Im Geschäft fand ich einen kleinen Sack, nahm rasch viele Fläschchen – es war kostbares Rosenöl – und nahm Schmuck an mich. Ich holte mir dazu auch eine in einem Regal stehende bemalte Holzschachtel. All dies steckte ich in den Sack und kehrte damit zum Gefechtsstand zurück. Dort zog ich mich in einen Winkel zurück, wo mich niemand sehen konnte, und durchmusterte meine Beute. Vom Schmuck fantasierte ich, dass er mir irgendwann zum Eintauschen von Lebensnotwendigem oder vielleicht zur Rettung aus der Gefangenschaft dienen könnte. So rechtfertigte ich vor mir selber meinen Beutezug. Im Grunde genommen fiel aber das, was ich getan hatte, in die Kategorie des verbotenen Plünderns. Nicht das Verbot als solches schreckte mich. Es gab deren so viele, die man als Soldat übertreten musste, um zu überleben oder lebensrettende Vorteile zu gewinnen. Es entstand in mir trotzdem die bohrende Frage, mit welchem Recht ich die Dinge an mich genommen hatte. Der innere Kampf wurde dadurch beendet, dass ich mich plötzlich entschloss, meine Beute zurückzutragen. Ich verschwand also wieder vom Dienstort, obwohl sich bereits die Nacht herabsenkte und sich dadurch auch die Gefahren erhöhten, aus irgendeinem Haus heraus abgeschossen zu werden. Der Versuch, die Beute zurückzuerstatten, erwies sich als schwieriger als gedacht. Ich fand die Straße und somit auch das darin befindliche Geschäft aufs Erste nicht mehr. Was sollte ich tun  ? In den Minuten, da ich suchend die Straßen durchstreifte, um das Geschäft zu finden, in dem ich Beute gemacht hatte, begann sich das Feindfeuer von außerhalb auf die Stadt zu verstärken. Waren es vorhin bei meinem ersten Ausgang nur vereinzelte Garben oder Schüsse gewesen, so entstand nun ein kontinuierlicher Beschuss. Bei meinem Suchen geriet ich ungewollt an den Stadtrand. Die Kugeln strichen über mich hin, ich näherte mich der Front. Da sah ich samt zwei Offizieren den Gefechtsstand eines Ba133

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taillons einer dem Regiment untergeordneten Gefechtseinheit. In dessen Nähe, hinter Mauern versteckt, erblickte ich auch mehrere unserer Granatwerfer samt ihren Bedienungsmannschaften. Das Feindfeuer wurde stärker, und es konnte sein, dass ich nun bei meiner Dienststelle gebraucht wurde. Ich war zwischen der im Gewissen aufgetauchten Rückgabepflicht und der Notwendigkeit zerrissen, zu meiner militärischen Kommandostelle zurückzukehren. Da pfiffen die ersten Granaten in die Stadt herein. Ich bewegte mich schneller und schneller, links die Gassen, rechts die Gassen absuchend. Endlich fand ich die breite Straße wieder. Da war auch das Geschäft. Ich stürmte hinein, hinterlegte das vor einer Stunde Mitgenommene, allerdings mit einer Ausnahme  : Von der Holzschachtel konnte ich mich nicht trennen. Ich weiß nicht warum, aber ich behielt die Schachtel. Sie steht heute noch in dem Arbeitszimmer, in dem ich diesen Bericht verfasse. Ich kehrte mit ihr im Tornister zum Gefechtsstand des Regiments zurück. Dort war die Stimmung zwar nicht aufgeregt, aber doch weit bewegter als vorhin. Das zunehmende Feuer wurde als Anzeichen für einen – niemand wusste genau wann – bevorstehenden Angriff des Feindes genommen. Ich fühlte mich besser, nachdem ich die Beute zurückerstattet hatte. Die Schachtel betrachtete ich als Andenken. Ihr Besitz schien mir gerechtfertigt. Ich trug von da an diese bemalte Holzschachtel Hunderte Kilometer weit mit mir. Sie hat Krieg und Gefangenschaft überlebt. Sie ist nie mehr von mir getrennt worden, nachdem ich sie in Vranje mitgenommen hatte. Es wurde dunkel. Was niemand erwartet hatte, das geschah. Es setzte gezieltes und lang anhaltendes schweres Artilleriefeuer ein. War das die Vorbereitung für einen Angriff  ? Jetzt am Abend  ? Feuer, das Angriffe vorbereitet, erfolgt meist in der Morgendämmerung. Dann steigen die Angreifer aus ihrer Deckung und beginnen den Sturm. Was sollte das Artilleriefeuer vor Einbruch der Nacht bedeuten  ? Beabsichtigte der Feind die Stadt während der Dunkelheit anzugreifen  ? Waren unter den Angreifern Männer aus der Stadt, die ihre Straßen so genau kannten, dass sie es wagen konnten, die belagernde Streitmacht in sie hineinzuführen und unsere kleine Truppe, die dort Stellung bezogen hatte, im Handstreich zu überwältigen  ? Kaum waren mir diese Gedanken durch den Kopf gegangen, hatte Hauptmann Schröter schon die Konsequenzen gezogen. Er suchte mit den beiden im nördlichen Vorfeld der Stadt in Stellung liegenden Bataillonen in Verbindung zu treten. Aber die Telefonleitungen waren durch das Artilleriefeuer unterbrochen worden. Auch der Funkkontakt funktionierte aus unbekannten Gründen nicht. Einen jungen Leutnant, der erst vor Kurzem zum Regimentsstab gekom134

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men war, befahl er zu sich und rief nach einem Melder. Da die Reihe an mir war, trat ich vor. In der Nähe unserer behelfsmäßigen Unterstände schlugen nun schon Granaten ein. Es waren schwere Kaliber von vermutlich russischen Geschützen. Oberst Glitz zeigte eine merkwürdige Passivität. Ohne sich wie sonst von ihm Vorschläge machen zu lassen, ließ er Schröter nun diese Entscheidungen unmittelbar treffen und sogleich in Befehle umsetzen. Nicht einmal der Anschein des Kommandierens blieb für Glitz gewahrt. Ich verstand nicht, warum sich das so entwickelte. Die Situation war in der Tat unbehaglich, ja gefährlich. Wenn es den feindlichen Truppen gelang, nun des Nachts nach einem schweren Geschützfeuer massiv in die Stadt einzudringen, würden sie uns aufreiben. An einen einigermaßen geordneten Rückzug war dann nicht mehr zu denken. Schröter erklärte dem Leutnant schnell und genau seine Absicht und formulierte sie ihm gegenüber in mehreren Befehlen, die er den Resten unserer nördlich der Stadt feindwärts vorgelagerten Truppe überbringen sollte. Granatwerfer und schwere Maschinengewehre sollten sich von der Front in die Stadtmitte so absetzen, dass sie sich auf der nach Süden führenden Ausfallstraße rasch sammeln konnten. Das waren gute Vorbereitungen für einen geordneten Rückzug. Die Schützenlinien seien so zurückzunehmen, befahl Schröter, dass sie in einem Kern der Innenstadt einen auch in der Nacht kontrollierbaren Bereich für die Bewegungen des Rückzugs zu verteidigen imstande wären. Sie sollten jedoch gleichzeitig bereit sein, sich nach Süden abzusetzen. Die Befehle waren zwar detailliert, wegen der geringen Ortskenntnis jedoch so unbestimmt, dass Schröter einen Offizier zu den Bataillonen entsenden wollte, der mit den dortigen Kommandanten die Konkretisierung der Absichten Schröters im städtischen Verteidigungsraum festlegen sollte – eine durchaus berechtigte Maßnahme wie ich erkennen konnte. Wie oft bei schwierigen Meldegängen, die man nicht einem Einzelnen überlässt, wurde ich als Begleitsoldat dem Leutnant beigegeben. Die Erklärung des Befehls an den Leutnant und mich erfolgte bei stärker werdendem Feindfeuer. Es begannen nun auch die feindlichen Granatwerfer auf uns zu schießen. Das Heranpfeifen der Granaten mischte sich in die Befehlsausgabe. Kurz bevor der Leutnant und ich in die Dunkelheit abrückten, bemerkte ich noch, dass Glitz unwillig wurde. »Schröter, wollen Sie denn, dass wir aus der Stadt stiften gehen  ?« Wieso kam er auf den Gedanken, die notwendigen Absetzbewegungen als Flucht zu bezeichnen  ? Die Aussicht auf ein allenfalls nächtliches Abrücken behagte Glitz nicht. Und er wehrte sich auch gegen Schröters Plan, der einen Stellungswechsel des 135

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Regimentsgefechtsstandes in die Stadtmitte an der Ausfallstraße nach Süden vorsah, wo sich auch die schweren Waffen und der Tross sammeln sollten. Schröter vermied eine frontale Auseinandersetzung mit seinem Chef Glitz, bestand aber diesem gegenüber auf der Absetzung der Bataillone. Jedoch vermochte Schröter es diesmal nicht, den eigenen Kommandeur dazu zu bringen, sich in der hereinbrechenden Nacht für einen Rückzug bereit zu machen und seinen gegenwärtigen, für die Nächtigungen bequem eingerichteten Standort preiszugeben. Diese Durchsetzungsschwäche von Schröter sollte sich später rächen. Resigniert übte der Hauptmann diesmal keinen Druck auf Oberst Glitz, seinen Kommandeur, aus. War es eine vorgeschobene Allüre von Heldenhaftigkeit, mit der Glitz im Grunde nur seine Bequemlichkeit verteidigte, durch die er sich und den Stab fast schutzlos den Zufällen eines allfälligen nächtlichen Kampfes durch einen feindlichen Einbruch preisgab  ? Nun begann sich in die harte, paukenartige Musik der Granaten auch ein andauerndes Gehämmer der schweren Maschinengewehre zu mischen. Rückte der Feind bereits an  ? Der Leutnant und ich machten uns auf den Weg, aber nicht dicht nebeneinander. Wenn einer getroffen würde, sollte wenigstens der andere die Befehle überbringen. Ehe wir abgerückt waren, hatte einer der Feldwebel meinen Namen genannt und im Hinblick auf die gefahrenreiche Mission die Bemerkung fallen lassen, dass ich mir durch diesen Gang nun ein Eisernes Kreuz, das sogenannte E.K. II, verdienen würde. Das klang nach Himmelfahrtskommando. Im November 1944 in Mazedonien, als sich zeigte, dass der Krieg verloren und völlig sinnlos geworden war und das einzige erstrebenswerte Ziel nur noch sein konnte, die Heimat zu erreichen, beschäftigte mich keine Tapferkeitsauszeichnung. Es hatte mich allerdings auch früher nie der Gedanke motiviert, irgendeine militärische Auszeichnung zu erlangen. Der junge Offizier wurde im schweren Feuer unruhig. Vor allem vermochte er sich in den Gassen der Stadt nicht zu orientieren. So wandte er sich an mich. Ich war ja in der Tat im Vorteil. Denn während meiner »Stadtwanderung« und bei meinem Beutegang und der späteren Rückgabe der Beute, wovon weder dieser Offizier noch andere etwas wussten, hatte ich ja mehrmals die Straßen von Vranje durchstreift. Ich hatte, wenn auch mit Mühe, gelernt, mich in ihnen zu orientieren. Und da war ich auch schon in der Hauptstraße. Ein Dachstuhl brannte, ich konnte das Geschäft sehen, in das ich erst vor Kurzem den Schmuck und die Fläschchen zurückgetragen hatte. So wusste ich, wie ich von hier zu dem Bataillonsgefechtsstand vorzudringen hatte. Denn auch diesen hatte ich ja am Nach136

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mittag bei meinem Streifzug zur Rückgabe der Beute bereits kurz gesehen. Ich konnte also aufgrund meiner Ortskenntnis die Führungsrolle in diesem Meldegang übernehmen. Die Gasse, die dorthin führte und die am Nachmittag ruhig gewesen war, lag nun allerdings unter so dichtem MG-Beschuss, dass es Wahnsinn gewesen wäre, sie zu betreten. Und das Feuer hielt an. Was tun  ? Die einzige Lösung, die sich anbot, war, die Befehlsstelle des Bataillons auf Umwegen durch Gassengewinkel zu erreichen. Als wir auf diese Weise vordrangen, sprangen uns Gestalten über den Weg, die nicht aus unserer Truppe stammen konnten. Ehe wir noch zur Waffe hatten greifen können, waren sie schon wieder in der Dunkelheit verschwunden. Bewohner der Stadt, die den Feind hereinführen wollten  ? Ein feindlicher Stoßtrupp  ? Als wir schließlich dem Bataillonskommandeur die Befehle überbringen konnten, offenbarten uns die frontnah agierenden Offiziere, dass sie, ohne Telefon- und Funkkontakt mit dem Regiment, ihrerseits bereits aus eigener Entscheidung mit der nunmehr auch offiziellen Räumung der dem Stadtgebiet vorgelagerten Stellungen begonnen hatten. Der Kontakt mit dem benachbarten Bataillon war erhalten geblieben. So konnte von ihnen aus der Befehl zur Konzentration im Stadtinneren und zur Vorbereitung des Rückzuges leichter weitergegeben werden. Es mochte gegen Mitternacht sein, als das Feindfeuer abflaute. Das Gefühl der Bedrängung wich. Der Leutnant und ich, wir kehrten zum Regimentsstab zurück. Glitz bezog, was ich früher nie bemerkt hatte, eine reservierte Position gegenüber Schröter. Wollte er damit ausdrücken, dass dieser übereilt und unnötig Maßnahmen ergriffen hatte  ? Schröter war meiner Beobachtung und daraus gewonnenen Meinung nach im Recht gewesen, als er die Konzentration der Truppe im Stadtinneren für den Abmarsch empfohlen hatte. Nur gemeinsam konnte man den Rückzug koordinieren und durchführen, so dachte auch ich. Obwohl mir Schröter als Verehrer des Führers nicht sympathisch war, fand ich diesmal seine Lösung korrekt. Kurz vor Tagesanbruch setzte ein Trommelfeuer auf die inzwischen geräumten Stellungen und gleichfalls auf unsere immer noch besetzte Befehlszentrale des Regiments ein, ein Feuer, das sofort Tote und Verwundete zur Folge hatte. Das Chaos brach über uns herein. Was ich besonders vermisste, war, dass es nun keine klaren Befehle gab. »Schröter, kümmern Sie sich um die Truppe«, brüllte Glitz. Schröter fasste das so auf, dass er mit seinem Fahrer in einem Kübelwagen zu dem von ihm bestimmten Sammelplatz am Südausgang der Stadt aufbrach. Damit übernahm 137

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er praktisch den Befehl über das Regiment. Der Stab des Regiments samt dem Kommandeur Glitz blieb führungslos, nachdem Schröter abgerückt war. »Mit allen Mitteln aus der Stadt heraus«, brüllte Glitz plötzlich. Einige Verwundete wurden in einen Lkw verladen, dazu die Kiste mit dem wichtigsten geheimen Kommandomaterial, sonst blieb alles zurück, einschließlich Waffen und Munition. Auch einige Verwundete blieben zurück, was bei einiger Bedachtnahme hätte vermieden werden können. Wer würde sich um sie kümmern  ? »Los  !«, schrie Glitz. Ich sprang von einer Seite in den Kommandeurswagen, einen Kfz 12. Glitz schrie weiterhin  : »Los, wir gehen zurück.« Glitz benahm sich wie besessen. Manche sprangen noch auf das Fahrzeug, andere blieben zurück. Glitz kümmerte sich nicht um sie. Das war wohl sein größter Fehler, dieses Zurücklassen von Soldaten. Ein guter Infanterist war immer darauf bedacht, niemanden zurückzulassen, vor allem keine Verwundeten. Der Fahrer, der Polendeutsche Wrug, mir von vielen früheren Aktionen in Griechenland bekannt, raste durch einen wahren Orkan – der Feind wollte uns durch einen solchen massiven Beschuss vor der Flucht aus der Stadt vernichten. Die Sonne ging strahlend auf. Was ich im frühen Licht beobachten konnte, war, dass auf der Hügelkette, die den Bergen westlich von uns vorgelagert waren, italienische Leichtpanzer in unserer Fluchtrichtung nach Süden vorstießen. Ihr Ziel war es offensichtlich, uns mit motorisierten Einheiten zu überflügeln. Unsere zurückweichenden Truppen vermochten diese von Bulgaren eroberten Panzer nicht aufzuhalten. Es war überhaupt kein Rückzug mehr, es entwickelte sich eine regelrechte Flucht nach Süden. Das Fahrzeug, in dem ich saß, raste auf der nach Süden führenden Straße in wilder Fahrt dahin. Die Truppen, die sich flüchtend auf ihr befanden, sprangen zur Seite, um den fliehenden Kommandeur an ihnen vorbeifahren zu lassen – eine für mich zwar bequeme, aber insgesamt beschämende Situation. In Bujanovce, einem Ort zwischen Vranje – woher wir kamen – und Skopje, gelang es endlich, haltzumachen. Die feindliche Panzergruppe war ins Stocken geraten. Entweder aus Treibstoffmangel oder wegen technischer Pannen waren einige der Fahrzeuge liegen geblieben, sodass auch die anderen nicht voranrückten. Es erfüllte mich mit Schadenfreude, dass die bekanntermaßen schlechte Qualität italienischer Leichtpanzer, die man dem früheren Verbündeten und jetzigen Feind Bulgarien übergeben hatte, sich nun zu unseren Gunsten auswirkte. Der Schluss ist schnell berichtet. Schröter gelang es, die Flucht von Vranje in einen Rückzug umzuwandeln. Der Preis waren die im Chaos von Vranje zurückgelassenen Waffen und Verwundeten, die man hatte sitzen oder liegen las138

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sen. Das war ein Skandal und verursachte in der Truppe ein sich ausbreitendes Gefühl der Ohnmacht. Glitz war trotz Anzeichen von beginnender Gefasstheit und der Strukturierung des Rückmarsches nicht zur Vernunft zu bringen. Der Stab – und ich mit ihm – hetzte auf seinen Befehl hin von Bujanovce nach Kumanovo. Erst durch Verständigung mit einem dort liegenden Regiment einer anderen Division und den Kräften, die sie zur Verfügung hatten, trat eine Stabilisierung ein. Ohne irgendwelche Weisungen zu geben, sprang der noch immer erregte Glitz wie ein Gejagter vom nun anhaltenden Geländewagen, um mit den dortigen Offizieren Kontakt aufzunehmen. Nach einigem Warten kam für uns der Befehl, in Kumanovo Stellung zu beziehen und uns auf einen neuen Einsatz vorzubereiten. Oberst Glitz habe ich von dem Augenblick an, da er in Kumanovo vom Wagen sprang, nie mehr wieder gesehen. Wir bekamen einen anderen Kommandeur, den ich allerdings erst viel später persönlich kennenlernen sollte. Jetzt begannen für uns schwere Prüfungen. Wir erfuhren später, dass Glitz wegen der fluchtartigen Preisgabe von Vranje und des Verhaltens, das er in dieser Situation an den Tag gelegt hatte, versetzt worden war. Als sich unsere Einheit Monate später im Frühjahr 1945 an der Drau befand, wurde gerüchteweise bekannt, dass man Glitz strafweise in die »Festung Breslau« abkommandiert hatte. Welch ein Paradox, dem Luftwaffenoffizier, der bei der Verteidigung eines Fixpunktes – der Stadt Vranje – Nerven und Gesicht verloren hatte, nunmehr die hoffnungslose Verteidigung einer schon umzingelten Stadt anzuvertrauen. Nach Einschließung durch die Sowjets war auf »Befehl des Führers« Breslau zur »Festung« erklärt worden. Das bedeutete, dass man diese Stadt gegen jegliche militärische Vernunft »bis zum letzten Atemzug« zu verteidigen hatte, durch jeden Mann, durch jeden Offizier, in Aufopferung bis zum Tod. Da erfasste mich Mitgefühl und Trauer für einen Mann, der sein Versagen beim Rückzug aus Vranje vermutlich mit dem Tod würde büßen müssen. Die Urangst war aufgewacht – aber war es nicht die Verantwortung jedes Offiziers und Soldaten, sich auch in der Urangst zu bewähren, als Mensch und als ein in den Krieg hineingestoßener Träger von Waffen  ?

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6. Rettung eines Verwundeten aus den mazedonischen Bergen So sehr es auch zwischen Vranje und Kumanovo ein geordneter Rückzug hätte werden sollen, um auf die Hauptlinie des militärischen Abzugs nach Norden einzuschwenken, so sehr war daraus eine chaotische Flucht geworden. Auf der Straße mischten sich marschierende Truppen, vollgepackt mit Waffen, mit den Fahrzeugen der verschiedensten Art, darunter zwei Feldküchen. Munitionstransporter, aber auch Fahrzeuge, dicht beladen mit Verwundeten, waren darunter. Der Fluchtweg über Niš nach Norden war endgültig für die Heeresgruppe durch die Sowjets und die mit ihnen kämpfenden Bulgaren blockiert. Das Jägerregiment 22 und sein Stab mussten über Kumanovo und über Skopje die Hauptlinie des Rückmarsches erreichen. Es war geplant, über Priština und Kraljevo, dann über Čačak und Užice in Richtung auf die Drau nordwestwärts zu ziehen. Dabei hatten wir schon relativ viel, zum Teil schwer verwundete Soldaten in Karren, Pferdewagen und den wenigen Sanitätsfahrzeugen mitzuführen, die uns geblieben waren. Wir mussten die Gelegenheit wahrnehmen, um sie schließlich auf einem Flugplatz bei Kosovo Polje in eine JU-52 (Junkers52-Großmaschine) umzuladen. Den geordneten Rückmarsch suchten die Bulgaren auch im Bereich Kumanovo zu verhindern. Sie hatten erst vor Kurzem die Seiten gewechselt und sich von den deutschen Verbündeten gelöst, um mit den siegreich nach Westen vorstoßenden sowjetischen Truppen im Raum Beograd gemeinsame Sache zu machen. So würden sie sich auch von alter Kriegsschuld, als Partner Deutschlands bei der Eroberung Jugoslawiens 1941, freikaufen. Es drängte das vor dem politischen Seitenwechsel kürzlich noch mit deutschen Waffen ausgerüstete bulgarische Heer nach Westen, zur Verfolgung des einstigen Verbündeten. Die Absicht der Bulgaren war es, der sich aus dem Balkan zurückziehenden, ehemals verbündeten deutschen Heeresgruppe von der östlichen Flanke her den Fangstoß zu versetzen. Es schoben sich so bulgarische Infanterie, motorisierte und gepanzerte Einheiten, darunter besonders die in Deutschland erst vor Kurzem an die Bulgaren gelieferten Sturmgeschütze, auf der Hauptstraße von Küstendil über den 140

Rettung eines Verwundeten aus den mazedonischen Bergen

Gebirgspass in den mazedonischen Grenzbergen und über Kriva Palanka und Stracin nach Westen. Hätte man sie gewähren lassen, wären sie im Nu in Kumanovo und schließlich in Skopje eingerückt. Sie hätten damit die letzte nun verbliebene Rückflussader der deutschen Heeresgruppe E vom bulgarischen Territorium aus seitlich, also westwärts vorrückend, von der Flanke her unterbunden. In dieser Lage entschied sich die Führung der Heeresgruppe, die wenn auch reduzierten und durch den fluchtartigen Rückmarsch erschöpften Einheiten, darunter auch unser Regiment, das gerade fluchtartig aus dem Raum Vranje südwärts auf Kumanovo zurückgegangen war, aufzubieten, um den Vormarsch der Bulgaren abzuriegeln. Von den Beratungen der Offiziere bekam ich mit, dass es sich um ein eigenes, mit einem Codewort chiffriertes Angriffsunternehmen unsererseits gegen die heranziehenden Bulgaren handelte. Ein gut geplanter Zusammenprall sollte dem Feind Einhalt bieten. So wurden wir im Spätoktober 1944 mit den wenigen verbliebenen Lkws zum Flankenschutz der Heeresgruppe ostwärts in Richtung auf die bulgarische Grenze gekarrt. Dieser unser Vorstoß erfolgte bei Kriva Palanka, dem Zugang zu dem 1.100 m hohen Pass an der bulgarischen Grenze Richtung Küstendil. Da sollte verteidigt werden. Auch die Berge nördlich davon wurden von einigen unserer Kompanien besetzt. Oberst Glitz war abgelöst worden, offenbar als Reaktion der Führung der Heeresgruppe auf seinen ungeplanten, von mir ja miterlebten, fluchtartigen Rückzug seines Stabes aus Vranje. Der neue Kommandeur des Regiments war als Major niedriger im Rang und kleiner an Gestalt. Im Unterschied zu Glitz war der Neue wortkarg und außerordentlich ruhig. Es gab auch keine Antrittsrede an den Stab. Der Neue war einfach da und nahm seine Arbeit auf, die, wie man gleich erkennen konnte, auf genaueste und immer neu eingeholte Informationen baute. Er hieß Pabst, war Major der Infanterie, Offizier schon im Ersten Weltkrieg gewesen und Österreicher. Er hatte im Ersten Weltkrieg in der k. u. k. Armee in Russland gedient und war im Zweiten Weltkrieg als Reserveoffizier aus seinem Zivilberuf zu den Waffen gerufen worden. Im Unterschied zu Glitz war für ihn Führung ein nüchternes, rund um die Uhr mit ausgewählten Mitarbeitern zu leistendes Geschäft. Wie würde er sich mit Hauptmann Schröter verständigen, der ja bisher gleichsam stellvertretend für Glitz das Regiment praktisch geführt hatte  ? Eine der ersten uns bekannt werdenden Entscheidungen des neuen Kommandeurs Major Pabst war es, Schröter dafür verantwortlich zu machen, ihn, Pabst, möglichst aktuell über den Bestand verfügbarer, einsatzfähiger Waffen und Munition ebenso wie über die Truppe, ihre Kampfkraft, ihre Verluste und ihre gesundheitlichen Probleme zu informieren. Damit hatte sich Glitz nie befasst. Auch der Nachschub 141

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war bei Glitz die Sorge anderer Offiziere gewesen. Aber der neue Kommandeur verlangte ein stets erneuertes aktuelles Wissen als Grundlage für seine taktischen Entscheidungen. Er wollte auch die Lageberichte durch Melder intensiviert sehen. Man sollte die schweren Funkkästen für die Kommunikation nicht in entlegene Bergtäler schleppen. Der Bestand der Geräte war ohnehin schon stark reduziert. Daher müssten Menschen als Melder die Information hin und her bringen. Im Rahmen dieser neuen Informationsstrategie, die auch im Kleinen wirksam wurde, erhielt ich als Melder zusammen mit einem anderen, der den Weg kannte, den Befehl zum Aufstieg zu einem Außenposten in dem nördlich der Straße gelegenen Gebirge. Als Österreicher mutete Major Pabst mir als Landsmann gewisse bergsteigerische Fähigkeiten zu. Es sollte eine Art Kontrollgang für Major Pabst, den neuen Kommandeur, sein. Mir erschien der Auftrag allerdings nicht wirklich wichtig. Pabst wollte sich vergewissern, ob die Besetzung der Höhen für die Freihaltung der Straße notwendig sei. War der neue Kommandeur ein österreichischer Pedant, ein Bürokrat des Krieges  ? Wir beiden Soldaten gingen wie befohlen mehrere Stunden fast ständig schweigend den Pfad bergan, um den Befehl auszuführen. In der Nähe der Höhen, wo nach den uns mitgegebenen Informationen unsere Truppe stationiert war und unser Meldeziel lag, gerieten wir wider Erwarten in heftiges Feindfeuer. Wie sollten wir beiden vorgehen  ? Es war klar, dass wir uns dem Befehl nicht entziehen durften. Andererseits hatten wir ihn so auszuführen, dass wir uns möglichst in Deckung bewegten, um uns und damit auch die Befehlsübermittlung nicht zu gefährden. Das aber bedeutete einen großen und beschwerlichen Umweg. Wir waren zum Verlassen des ausgetretenen Weges gezwungen, der über den von der Feindseite her gut einsehbaren Bergrücken im Bilino-Gebirge führte. Wir mussten den mehr als mühsamen Aufstieg durch Geröllfelder wählen, die vom Feind nicht einsehbar waren. Wir hatten Glück. Als wir uns nach dem Anstieg durch Schotterhalden am Nachmittag dem Gipfel, der von einer Art Beobachtungstrupp unseres Regiments besetzt war, erschöpft und keuchend aus der Deckung heraus näherten, ließ das feindliche Feuer glücklicherweise deutlich nach. Aber wir sollten sogleich erkennen, dass dieses Feuer erhebliche Verluste unter unserer Mannschaft am Berg verursacht hatte. Die kleine Mannschaft war damit beschäftigt, für die Bestattung von zwei Gefallenen im Geröll Platz zu schaffen. Die Gruppe hatte sich am stumpfen Gipfel unvorsichtig gezeigt. So war schon die erste Granate des feindlichen Artilleriefeuers ein Volltreffer geworden. Neben den beiden Toten und einigen durch Splitter leicht verletzten Soldaten, die mit Notverbänden sogar noch ge142

Rettung eines Verwundeten aus den mazedonischen Bergen

fechtstauglich waren, hatte der Feuerüberfall einen Schwerverletzten gefordert. Es war der Feldwebel, der das Kommando in der Gefechtstruppe geführt hatte. Er lag in einem primitiv errichteten Unterstand und stöhnte vor Schmerzen. Der kriegserfahrene Unteroffizier, der das Kommando von dem Verwundeten übernommen hatte, sagte uns, dass seiner Meinung nach der schwerverletzte Feldwebel die Nacht nicht überleben würde, brächte man ihn nicht zu Tal und zum Hauptverbandsplatz. Unsere Rolle als Melder war im Grunde erfüllt, wir hätten nur mehr dem Stab Bericht erstatten müssen. Es war für uns beide aber auch ohne jeden Befehl klar, dass wir den Verwundeten so rasch wie möglich ins Tal bringen würden. Eine von der Truppe mitgeführte zusammenklappbare Bahre wurde entfaltet. Als wir den verwundeten Feldwebel darauf betteten, schrie er vor Schmerzen. So begann der Abstieg. Er wurde zur Marter für den Verletzten und zur schwierigen Aufgabe für uns beide. Schon in der Ebene ist es schwer, einen Verwundeten zu zweit eine längere Strecke zu tragen. Wenn man aber samt Waffe und Munition auf einem teils schotterigen, teils felsigen Steig einen Verwundeten auf einer Bahre zu Tal schleppen muss, so führt das nach einiger Zeit zur Erschöpfung der Träger. Dazu kam noch, dass an der Bahre, wie wir sie zu verwenden gezwungen waren, keine gute Abstellmöglichkeit angebracht war. Der Feldwebel muss schon vor der Verwundung kein angenehmer Mensch gewesen sein. Er verfluchte die Stellung, in der ihn die Granatsplitter getroffen hatten, und den Krieg überhaupt. Es sei überflüssig gewesen, eine Stellung am Berg zu beziehen, womit er recht hatte. Die Entscheidung würde ohnehin im Tal fallen. Die Besetzung der Höhen hätte nur eine Zersplitterung bedeutet. So haderte er, von Schmerzgestöhn unterbrochen, mit seinem Schicksal. Dann senkte sich die Nacht in den Bergen rasch herab. Wir beiden Träger waren angesichts des mühevollen Aufstiegs kaum mehr fähig, den Verwundeten zu tragen. So rasteten wir öfter und setzten die Bahre ab. Es war uns beiden klar, dass ein stundenweises Lagern des Mannes ohne ärztliche Versorgung vermutlich seinen Tod bedeuten würde. Dass unser beider Kräfte verbraucht waren, schien trotz seiner Beschäftigung mit den eigenen Schmerzen auch der Feldwebel zu merken. Der Ton in seiner Stimme wurde vertraulich  : »Männer«, sagte er, »für mich ist ohnehin alles umsonst. Gebt mir eine Pistole.« Dabei deutete er auf mich, der ich zusätzlich zum Karabiner über die Schulter eine Pistole am Koppel trug. »Ich will Schluss machen. Es ist nicht mehr auszuhalten. Ihr beide könnt dann besser zu Tal kommen. Hört ihr  ?« Einen Augenblick dachte ich, dass dies die Erlösung für uns alle wäre. Aber es kam nicht infrage, den Mann sich erschießen zu lassen. Das hätte unsere kame143

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radschaftliche Ehre und unser Selbstverständnis zerstört. »Wir schaffen es«, war unsere Antwort. Wir nahmen die Bahre auf und stolperten in der Dunkelheit weiter den Pfad bergab. Als wir schließlich in tiefer Nacht den Gefechtsstand des Regiments erreichten, stellten wir die Bahre mit dem Mann ab und ließen uns fallen. Mit dem beim deutschen Militär üblichen dünnen heißen Kaffee wurden wir gelabt. Für den Verwundeten fand sich ein Fahrzeug. In einer Mischung aus Neugier und Pflichtbewusstsein verlangte ich, ihn bis zum Hauptverbandsplatz begleiten zu dürfen. Der Eindruck dort war gespenstisch und großartig zugleich. Das gut nach außen verdunkelte Zelt war innen hell erleuchtet, viele Behelfsbetten mit Verwundeten standen im Halbkreis, wie in einer Arena. Auf der anderen Seite wurde im Scheinwerferlicht, das ein Aggregat erzeugte, operiert. Kaum waren wir angekommen, wurde der Verwundete, den wir zu Tal gebracht hatten, entkleidet. In wenigen Minuten sollte die Operation beginnen. Ich konnte mich zurückziehen und wurde mit dem Lkw zurück zu meiner Einheit gebracht. Am nächsten Tag brachte ich über die Funker, mit denen ich täglich zu tun hatte, in Erfahrung, dass der Mann den Eingriff überlebt hatte. Man gab ihm gute Chancen, weiterzuleben. Und als es aufs Erste gelang, den Vormarsch der Bulgaren im Tal zu stoppen, erfuhr ich zwei Tage später, dass es dem Feldwebel gut ging. Man hatte ihm die Granatsplitter aus dem Bauch entfernen können. Er wurde nach Skopje gebracht und von dort zusammen mit vielen, die darauf warteten, durch eine JU-52 in die Heimat geflogen. Unser Transport ins Tal hatte also Sinn gehabt. Er hat diesen Sinn bis heute bewahrt.

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7. Die kleine Lutherbibel im Hosenbein des gefallenen Kameraden Der neue Regimentskommandeur Major Pabst hatte den aus Osten vom Grenzpass vordringenden Bulgaren entschlossen Widerstand geboten. Die Frontlinie links und rechts der Einfallstraße aus Bulgarien über die Passstraße nach Westen, die nach Kumanovo führte, ging hin und her. Die Bulgaren stürmten vor, nahmen ein Dorf an dieser Einfallstraße von Stracin, wurden aus dem Dorf hinausgedrängt und wieder zurückgeworfen. Es entstand der Eindruck eines tödlichen Karussells. Gerade dieses Wort trug ich mir auch ins Tagebuch ein. Kurz darauf befand ich mich mit den Meldern, den Telefonisten und Funkern, den sogenannten Nachrichten-Leuten, und den Feldwebeln des Stabes abseits der Straße in einem hügelig kargen Gelände, das gelegentlich von Felsen und kurzen, aber jähen bergigen Aufschwüngen bestimmt war. Das Gelände gewährte zwar Deckungsmöglichkeiten, war aber sehr unübersichtlich. Diese gute Deckung nach der Feindseite zu verführte die Stabskompanie, die als Reserve für die Kämpfe um Stracin in dieser Flankenstellung zurückbehalten worden war, zu einer Unvorsichtigkeit. Die Kompanie zog sich auf engem Raum zusammen, indem sie sich in einigen der von den Bewohnern verlassenen bäuerlichen Häuser einfachster Bauart einquartierte. Die Männer kochten im Freien, was man vorher gerade noch hatte erbeuten können. Major Pabst hatte sich mit einigen wenigen Leuten, derer er unmittelbar bedurfte, von der Stabskompanie getrennt, um an der Straße möglichst nahe bei der dort in die heftigen Kämpfe verwickelten Truppe zu bleiben. So konnte er mit seinen Befehlen möglichst rasch auf das wechselvolle Geschehen reagieren. Während also unten an der Straße die Maschinengewehre knatterten, herrschte hier heroben in den Hügeln Gefechtsstille. Nach dem erst vor Kurzem verfehlten Rückzug aus Vranje war die Truppe erschöpft. Der Rückzug war wegen des nervösen Zusammenbruchs von Oberst Glitz in eine unkontrollierte Flucht seines Stabes ausgeartet. Die Männer der Kompanie sammelten sich nun ums offene Feuer wie ein Indianerstamm. Und da geschah das absolut Unerwartete. Es erhob sich plötzlich ein unbeschreiblich brüllend-singender Lärm wie von übermächtigen Sirenen. Kurz nachdem das Gejaule seinen Höhepunkt erreicht hatte, gab es ohrenzer145

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reißende Explosionen, die so nahe waren, dass große Steinbrocken, Teile der Dächer, Ausrüstungsgegenstände und Kleidungsstücke unmittelbar über und neben mir durch die Luft flogen. Es dröhnte in den Ohren, und schon war das durchdringende Schreien von Verwundeten zu hören. Irgendwie war unsere Einheit, vermutlich durch einen uns unsichtbar gebliebenen vorgeschobenen Beobachter des Feindes, entdeckt worden. Sie hatten dann einen SturzkampfFlieger angefordert, um uns auszulöschen. Es fehlte nicht viel, und es wäre dem deutschen Stuka in Bulgarenhand das Vorhaben der Zerstörung auch voll gelungen. Die Häuser brannten, es schien alles zerfetzt und zerrissen zu sein. Die Überlebenden suchten die Verwundeten auf, um ihnen Notverbände anzulegen. Ich war so geschockt, dass ich apathisch und verstört vorerst zwischen Trümmern, den Schreienden und Verwundeten umherirrte. Von etwa 40 Mann zählte man nachher zehn Tote und ebenso viele Verwundete. Da die Uniformen Feuer gefangen hatten, brannten einige der Toten. Nicht das Trommelfeuer vor dem Pass bei Prilep und nicht die Flucht aus Vranje unter Feindbeschuss hatten mich so erschreckt wie diese wenigen Sekunden des Angriffs eines Sturzkampfbombers. Unsere kleine Mannschaft war praktisch führungslos. Es erfolgten keine Kommandos. Die Überlebenden überprüften ihre Waffen. Meine Maschinenpistole war offenbar unversehrt geblieben. Auch das kleine gemauerte Haus, in dem ich mir mit einigen anderen das Lager hergerichtet hatte, stand noch. So begann ich nach einigen der anderen Melder des Regimentsstabs zu suchen. Einen konnte ich erkennen, er verband einen bewusstlos daliegenden Verwundeten. Ein paar Schritte weiter lag ein anderer, das Gesicht dem Boden zugekehrt. Splitter schienen ihn in den Rücken getroffen zu haben. Die Uniformjacke war löchrig und darunter leuchtete es blutig. Ich kauerte mich neben ihn und drehte ihn vorsichtig um. Das Gesicht war unverletzt. Aber er war eindeutig tot. Ich erkannte ihn natürlich sofort, er war einer, der aufgrund seiner Überzeugung auf ein möglichst baldiges Ende des Krieges und des Nationalsozialismus gehofft und darüber auch im kleinsten Kreis ganz offen gesprochen hatte. Als ich ihn etwas näher betrachte, bemerkte ich zu meinem Schrecken, dass sein rechtes Bein vom Rumpf völlig abgetrennt war. Ein großer Splitter musste es ihm glatt weggeschlagen haben. Der Anblick war mehr als grausig. Es war zwar absurd, den Toten wegen der Abtrennung des Beins zu bedauern, aber trotzdem unterstrich diese Verletzung noch zusätzlich die nach dem Stuka-Angriff entstandene Zerstörung. Ich nahm dem Toten, wozu wir nach Vorschrift gehalten waren, die Erkennungsmarke ab – wir trugen alle an Schnüren die blecherne Erkennungsmarke auf der Brust  : Wir nannten sie »Hundsmarke«. Es 146

Die kleine Lutherbibel im Hosenbein des gefallenen Kameraden

war auch üblich, bei Gefallenen die Taschen zu durchsuchen, ob sich ein Brief, ein Erinnerungsstück oder sonst etwas Nennenswertes darin befand, was dann für die Angehörigen abgegeben wurde. In den Taschen der Uniform fand ich nichts. Daraufhin durchsuchte ich die Tasche des am Körper verbliebenen Beins. Nichts. Dann begann ich zu zögern. Sollte ich auch noch in die Hosentasche an dem abgetrennten Bein hineinlangen  ? Ich tat es mit einem gewissen Grauen, aber auch starker Anteilnahme und stieß dabei auf einen kleinen Gegenstand. Er war in Leinen gehüllt. Ich zog das Stück heraus. Es war ein kleines, blau gebundenes Büchlein. Ich öffnete es. Entsprechend seiner Kleinheit war auch der Druck winzig. Es war das Neue Testament in der Übersetzung von Martin Luther. Ich steckte das Buch zu mir und beschloss, es nicht abzugeben. Es sollte mich ein Leben lang an den gefallenen Kameraden erinnern. Ich wollte so bei ihm bleiben, auch als Verstorbenem. Ich trug von da an das kleine Büchlein immer bei mir und rettete es durch alle Fährnisse des Rückzugs und der Gefangenschaft. Ich bewahre es heute noch bei mir auf. Während ich dies schreibe, liegt es auf meinem Tisch in einer Schale. Am Ende des Tages gruben wir die Toten im steinigen Boden notdürftig ein, zum Herstellen von Kreuzen hatten wir weder die Kräfte noch die Zeit, da ein Stellungswechsel im Sinne eines nächtlichen Rückzugs bevorstand. Die Kisten mit dem Verwaltungskram des Regiments waren durch den Luftangriff reduziert worden, einige von ihnen waren in Flammen aufgegangen. Doch niemand bedauerte dies. In der Nacht ging es auf der Straße nach Kumanovo einige Kilometer nach Westen zurück. Im Morgengrauen bezogen wir eine ähnlich der am Vortag ausgeschwenkte Flankenposition in einem vielleicht noch unübersichtlicheren Gelände mit einigen Karrenwegen, die uns den Bezug der neuen Stellung erleichterten. Erschöpft vom nächtlichen Rückzug – die Hälfte der Mannschaft hatte nach den Verlusten vom Vortag nunmehr alle nötigen Aufgaben zu bewältigen –, hielten wir es nicht viel anders als in der alten Stellung, welche der Sturzkampfflieger zerstört und in der er viele Kameraden getötet hatte. Ich bezog mit den zwei Funkern in einer winzig kleinen, mit Naturstein aufgemauerten Hütte Quartier. Auf einem Teil des Lehmbodens war reichlich Stroh aufgeschüttet. Der Tag brachte einen wütenden Kampf mit zahlenmäßig und durch ihre von Deutschland bezogene Ausrüstung stark überlegenen bulgarischen Truppen. Um eine Stellung in dem hügeligen Gelände aufzubauen, rückten der Radfahrzug (der alle seine Räder bei der Flucht aus Vranje eingebüßt hatte) und der Pionierzug aus, unter Führung eines Leutnants, der mich als Melder mitnahm. 147

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In einem seichten Tal gerieten wir in eine Falle. Die Bulgaren hatten – vielleicht schon während der Nacht – beide Höhenzüge besetzt. Sie warteten, bis wir uns in einer für sie günstigen Weise im Gelände formiert hatten, und schossen sich dann rasch auf uns ein. Es war ein sehr präzises Feuer, das uns durch den Überraschungseffekt beträchtliche Verluste zufügte. Die schweren feindlichen Maschinengewehre – auch diese aus deutscher Fabrikation, was an dem Klang leicht zu erkennen war – hielten uns nieder. Jeder Einzelne war bemüht, sich so wenig wie möglich zu bewegen und jeden Zentimeter Deckung auszunutzen. Das war schwierig, weil der Feind von beiden Seiten schoss. Als zu dem MG-Feuer die Granatwerfer dazukamen, entschloss sich der Leutnant zu einem raschen Rückzug. Er sprang auf, streckte den Arm hoch und begann zu laufen. Das war mutig, denn so lenkte er sofort das Feuer auf sich. Die Gruppen, die mit ihm ausgeschwärmt waren, folgten ihm. Sie suchten das Feindfeuer bei kurzen Momenten des Innehaltens in ihrem Lauf geschickt zu erwidern. Dann suchten die Pioniere den Rückzug zu decken. Es war dies mehr eine Flucht als ein Rückzug. Denn es konnten nicht alle Verwundeten mitgenommen werden. Was würde deren Schicksal sein  ? Wir erwarteten und ließen uns dies einen gewissen Trost sein, dass die Bulgaren mit unseren Verwundeten anders umgehen würden als die Partisanen. Der Rückzug über die freie Fläche war lang. Gezielt beschossen zu werden und in diesem Feuer sich zu bewegen, war eine Art Spiel mit dem Tod von Augenblick zu Augenblick. Die kleinen Geschosse der Infanteriemunition rufen ein merkwürdiges sirrend-pfeifendes Geräusch hervor, und man hört sie nicht nur an sich vorbeipfeifen, sondern sieht auch, wie sie in der Nähe in den Boden einschlagen. Das erweckt den Eindruck, als würden mit großer Entschlossenheit kleine Gegenstände nebeneinander rasch in die Erde gesteckt werden, wo sie verschwanden. Meist spritzt der Boden, ist er wie im Acker oder auf der Wiese locker, wie Flüssigkeit auf. An diesen kleinen Signalen um einen herum kann man ganz genau auch die Nähe der Gefahr erkennen. Es ist, als bewegte man sich in einer Art tödlichem Regen. Und man läuft, hoffend, diesem Regen entfliehen zu können. Hier gelang es vielen. Nach einer Windung im Gelände verfolgte uns nur mehr das Feuer von Granatwerfern. Für das Infanteriefeuer, eben jenen gefahrvollen Regen, waren wir durch die Krümmung des Geländes nicht mehr erreichbar. Am Spätnachmittag langten wir bei der Straße an, auf der ein umfassendes Rückzugsgeschehen deutlich im Gange war. Mit vielen Stockungen ging es stundenlang, jedoch immer nur auf kurze Entfernungen, zurück. Es begann heftig zu regnen, und nach wenigen Stunden war der Boden, auch jener der 148

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Straße, so aufgeweicht, dass das Fortkommen vor allem der schweren Fahrzeuge immer schwieriger wurde. Trotzdem bewegte sich unsere, den hauptsächlichen Rückzugsweg bei Skopje flankierende Truppe in dem auf Kumanovo zuführenden Tal dahin. Wer schneller war, wollte sich auch schneller absetzen. Gerade durch die Überholbewegungen von motorisierten Fahrzeugen gab es häufig Stauungen. Und die feindliche Artillerie schoss, wenn auch nicht sehr zielgenau, in dieses Wirrwarr hinein. Es begann auch empfindlich kalt zu werden. Um nicht in der Nacht vom Feind überrollt zu werden, sollte eine abwehrende Kampflinie aufgebaut werden. Aber es wurde nun nicht mehr, wie in den vorhergegangenen Tagen, der Versuch unternommen, das Gelände links und rechts der Straße weitreichend über den Talboden hinaus bis in die Hügel hinein abzusichern. Die Verluste waren für diese Absicherung zu hoch gewesen. Der Regimentsstab bezog in einigen verlassenen Häusern unweit der Straße Position. In mein Tagebuch und in meinem Brief an meinen Vater vom 22. November 1944 ist der Ort als Suvo Dolska eingetragen. Er lag oder liegt offenbar einige Kilometer ostwärts der Ortschaft Vojnik. Ich folge bei der Schilderung dieses für mich bis heute folgenreichen Ereignisses meiner deutlichen Erinnerung. Wir befanden uns zu dritt in einer kleinen gemauerten und überdachten Hütte, die aus einem einzigen Raum bestand. Etwa die Hälfte des Bodens war mit einer bis zu einem halben Meter hohen Strohschicht bedeckt. Die beiden Funker saßen auf sehr niedrigen Hockern (vor ihren an die Wand gestellten Kästen) in jenem Bereich, in dem der Lehmboden offen lag. Rückblickend meine ich, dass es eine kleine Scheune mit Tierfutter war. Es gab keine Fenster, nur durch die offene Türe fiel Licht in den Raum. In zwei anderen ähnlichen, vielleicht etwas größeren Baulichkeiten hatten die Feldwebel des Stabes und ein Offizier Unterschlupf gefunden. Der Regimentskommandeur Major Pabst hatte mit Hauptmann Schröter anderwärts – und noch näher der Straße – seine Kommandozentrale aufgebaut. Er war von dem Vorverständnis geleitet, möglichst rasch einen Ortswechsel durchzuführen. Im Unterschied zu Glitz wollte er selber im strategischen Zentrum der Abwehrgefechte verbleiben. Gelegentlich trat der eine oder andere von uns auf einen Augenblick aus der Tür hinaus, um zu beobachten, wie sich die Lage entwickelte. Auf der Straße, die von uns aus einsehbar war, da wir höher lagen, fluteten schon jetzt am Nachmittag unsere Einheiten zurück. Es kam die Meldung, dass feindliche Gruppen, unterstützt von den erst vor wenigen Monaten den Bulgaren aus Deutschland gelieferten Sturmgeschützen, auf dieser Straße nachdrängten. Die Situation schien bis zum Äußersten gespannt. Der Befehl erreichte uns, dass die Feld149

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webel und Schreiber samt dem schwer beweglichen Teil des Regimentsgepäcks, soweit er aus den vergangenen Tagen übrig geblieben war, sich unverzüglich in Richtung Kumanovo absetzen sollten. Kaum waren die eben genannten Teile unseres Regiments abgerückt – und sie hatten nicht gezögert, es zu tun –, wurde für den Rest, der bis zum Einbruch der Dunkelheit verbleiben sollte, wegen heranrückender feindlicher Sturmgeschütze Alarm gegeben. Unsere in unmittelbarer Nähe der Straße positionierte PAK, die Panzer-Abwehr-Kanone, die beste Verteidigungswaffe, über die wir verfügten, hörte plötzlich zu schießen auf. Fiel sie aus technischen Gründen aus – oder was war geschehen  ? Verlor die Besatzung den Mut  ? Warum mussten wir eigentlich noch bleiben  ? Der Befehl erschien ganz sinnlos. Ich stand einen Augenblick in der Tür, mit dem Blick gegen die Hügel, auf die schon die Dämmerung herabfiel. Da war plötzlich im Gelände Motorengeräusch zu hören, und ein bulgarisches, ehemals deutsches Sturmgeschütz schob sich, ohne uns zu bemerken, ganz nahe von uns talauswärts vorbei. Waren die Bulgaren daran, uns von der Flanke her zu überflügeln  ? Ich konnte das Gefährt ganz deutlich erkennen. Die von der Produktion her aufgemalten deutschen Hoheitszeichen waren überpinselt, aber trotzdem noch zu erkennen. Das Sturmgeschütz war so nahe, mit einer Panzerfaust hätte man es abschießen können. Aber wir hatten damals diese Waffe nicht zur Verfügung. Unter diesen Bedingungen gelang im letzten Augenblick im Morgengrauen der Rückzug, die Flucht nach Kumanovo. Es gab noch einen schrecklichen Zwischenfall, bei dem sich ein Schuss aus einer gesicherten Waffe löste und einen Funker so schwer traf, dass er am folgenden Tag am Hauptverbandsplatz von Kumanovo daran verstarb. Es blieb keine Zeit mehr, den Toten, Franz Hart, zu begraben. Alle, die konnten, flohen nach Nordosten.

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8. Die fast versäumte Rettung

Die ohnehin unsichere Front des Rückzugsgeschehens der Balkanarmee, die aus dem Debakel, von allen Seiten von Feinden umgeben zu sein, nach Westen zu flüchten trachtete, wurde von den Verfolgern immer wieder zu umfassen gesucht. Durch Verluste, Gefallene (oft nicht einmal beerdigt zurückgelassen) und mit letzten Kräften abtransportierte Schwerverletzte, waren die Mannschaften dieser Armee im wahrsten Sinne des Wortes dezimiert worden. Wer übrig blieb, war erschöpft. Die Soldaten waren im Laufe des Krieges auf dem Balkan auf etwa 10 Prozent ihres Bestandes als Besatzer geschrumpft, bei den Offizieren wie bei den Mannschaften. Man war daher nach der Strategie des Oberbefehlshabers General Alexander Löhr sehr darauf bedacht, die Abzugsschneise nach Westen möglichst aufrechtzuerhalten. Und genau auf die Beschädigung, wenn möglich Zerstörung dieser Schneise waren bulgarische, serbische, montenegrinische und teilweise auch sowjetische Truppen angesetzt. Jede Truppe im Rückzugsfluss der Armee Löhr, so auch die 11. Luftwaffen-Felddivision, der ich angehörte, hatte also nicht nur nach vorn, das bedeutete nach Westen, zu drängen und sich in dieser Richtung durchzusetzen, sondern sich auch gegen feindliche Aktionen vom Norden oder Süden her zu verteidigen. Wir zogen bei einer solchen Aktion Stunden um Stunden, Waffen und Munition schleppend, im November 1944 bergwärts nach Norden, woher von der anderen Seite des Höhenzugs feindliche Truppen heraufzogen. Trotzdem gelang es uns mit dem Mut der Verzweiflung, die Passhöhe früher zu erreichen als die feindlichen Truppen. Doch wir verfügten an Waffen und Munition nicht über mehr als über Karabiner, zwei oder drei Maschinengewehre und einige Maschinenpistolen. Es gab weder Handgranaten noch Panzerbüchsen. Nur zwei Maultiere, um als Tragtiere Munition bergwärts zu schleppen, waren noch in meinem Umkreis vorhanden. Von manchen Schlangenwindungen unseres Aufstiegswegs konnten wir auf der anderen Seite heraufziehende feindliche Truppen sehen. Doch es gelang mir und einigen anderen Soldaten, den Pass vor dem Feind zu erreichen. Es lagen Felsbrocken und Steine genug herum, sodass wir keine eigenen Schützenlöcher zu graben gezwungen waren. Nur dort oder da musste der steinige 151

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Boden – was mühsam genug war – etwas vertieft werden, um eine Art Stellung einzurichten. Kaum war das geschehen, kam schon der Feind in Sicht. Und die Mannschaften des Gegners begannen uns zu beschießen. Der Kommandant unserer für diese Aktion der Besetzung des Passes abgestellten Truppe war Hauptmann Schroeter. Dieser Offizier hatte keinerlei Kampferfahrung, war er doch immer bei dem durch spezielle Truppeneinheiten geschützten Stab tätig gewesen. Er erklärte uns, dass der Pass zu halten sei. Unter welchen Bedingungen und mit welcher Strategie, blieb völlig unausgesprochen. Er setzte voraus, dass dies die Feldwebel gleichsam untereinander ausmachen würden. Sie taten dies schließlich auch. Aber kaum war dies geschehen und eine einigermaßen vernünftige Verteidigungsordnung geschaffen, verschwand Hauptmann Schroeter auf Nimmerwiedersehen aus dem Kampfgebiet. Ich sollte ihn erst Monate später im Kriegsgefangenenlager in Slowenien ratlos und mit trauriger Miene wiedersehen. Schroeter war der einzige Offizier des Regiments, der sich auch im Jahre 1944 noch als überzeugten Nationalsozialisten dargestellt hatte. Jetzt aber verschwand er aus der Gefahrenzone und überließ die Mannschaft sich selber. Ich war in dieser Situation in eine vordere Position geraten und konnte die Annäherung der feindlichen Mannschaft genau überblicken. Es war ein beklemmendes Gefühl, ohne Anweisung oder Kenntnis zu bleiben, wie man sich gegenüber dem schon in Gang gekommenen Vorrücken des Feindes verhalten sollte. Durch welche eigenen Ortsveränderungen sollte man reagieren  ? Das blieb unklar. Die zahlenmäßige und durch Waffen gegebene Übermacht des Gegners war eindeutig. Die Angreifer kamen immer näher. Ich schoss auf die Gruppe in der Form eines Serienfeuers. Das beirrte den Gegner nicht. Die angreifenden Soldaten warfen sich zwar immer wieder hinter Steine, wenn ich sie beschoss, aber danach sprangen sie sofort wieder nach vorn und erwiderten den Beschuss, der mich in Deckung zwang. Die einzelnen Gegner kamen schon so nahe, dass ich überlegte, ob ich sie nicht doch einzeln aufs Korn nehmen sollte, was ich in den verschiedenen Situationen des Krieges nie getan hatte. Irgendetwas in mir widerstrebte dem Versuch, einzelne Menschen direkt zu töten oder sie schwer zu verletzen. Ich hatte mir irgendwann einmal selber zugesichert, dass ich dies nie tun würde. Nun aber war es so weit, dass ich mich entweder für den Tötungsversuch entscheiden oder aber fliehen musste. Das verinnerlichte Verbot, einen einzelnen Gegner direkt zu töten, ließ mich dann die zweite Variante, die Flucht, wählen. Davor aber blickte ich mich um, damit ich die Handlungen der Kameraden wahrnehmen könne. 152

Die fast versäumte Rettung

Zu meiner Überraschung war da niemand. Ich hatte also eigensinnig ausgeharrt, weil ich kein Zeichen oder irgendeinen Befehl zum Rückzug bekommen hatte. Der kommandierende nationalsozialistische Offizier Hauptmann Schroeter war in seine Verantwortungslosigkeit verschwunden. Nun zögerte ich auch nicht mehr, schnallte hinter einem Stein meinen Tornister auf und begann mit der Waffe, dem Karabiner, den Aufstiegsweg bergab zu laufen. Ich tat dies für eine längere Strecke ganz allein. Ich hatte es also gar nicht bemerkt, dass die Kameraden meiner Einheit auf eigene Faust oder auf das Geheiß eines Feldwebels sich schon zurückgezogen hatten. Mich hatte man davon nicht verständigt, vermutlich weil man der Auffassung gewesen war, ich hätte ohnedies die Rückzugsbewegung wahrgenommen und würde mich ihr anschließen. Mein innerer Entscheidungskampf, ob ich selber zum Tötenden oder zum Flüchtenden werden sollte, hatte mir den Blick auf die neue Situation verschlossen. Ziemlich weit unten traf ich dann beim Abstieg unsere Mannschaft mit ihrer erstaunten Frage, wo ich denn geblieben sei. Ich musste an die Empfehlung meines Vaters denken, die er mir beim Tornisterpacken in Wien, das er für mich übernommen hatte, noch mitzugeben bemüht war. Sein Rat lautete  : »Beim Haufen bleiben.« Damit meinte er, ich möge mich bei schwierigen Situa­ tionen immer vergewissern, was die Kameraden planten und taten, um nicht in eine Isolation zu geraten, in der ich verloren gehen würde. Hier bewies sich erstmals dieser Rat als vernünftige Anweisung. Die Vereinzelung hätte mich fast das Leben gekostet. Ich lernte auch, dass Standhaftigkeit oder Tapferkeit immer auch auf Übersicht und Klugheit beruhen müssten. Mit dieser Orientierung bewegte ich mich durch die folgenden Wochen. Es gelang mir, die Bewahrung des eigenen Selbst vor Tod und Vernichtung in alle Entscheidungen wie ein Gebot mit einzubeziehen.

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9. Vergewaltigung und Tod auf dem Dorfplatz

Die Wochen des Winters 1944/45 waren von einem Dahinschleppen von Waffen und Munition bestimmt, von Kälte und Hunger. Eines der schlimmsten Bilder zu Beginn des grausamen Jahres 1945 tritt vor meine Augen. Es stammte aus einem winterlichen Dorf. In meinem Tagebuch habe ich den Namen mit Selo Lovas festgehalten. Es fällt mir schwer, darüber zu schreiben. Die Erinnerung wird hier zu einer Art Gespensterangst, die mich fasst. Erstaunlich daran ist, dass es keine Nebel oder Dämmerungen sind, in denen diese Gespenster der Vergangenheit auftauchen. Erschreckend ist die Klarheit, mit der sie in ihren Szenen erscheinen. Es war ein klirrend kalter, aber strahlender Sonnentag. Er beleuchtete im Januar 1945 einen schneereichen Ort, der sich an einen Hügelhang anlehnte. In den späten Stunden des Vortags hatten wir nach sehr harten Kämpfen mit einigem Gewoge vor und zurück schließlich das Dorf erobert. Aus der umfassenden Sicht unseres Rückzugs war dieser Kampf örtlich notwendig geworden. Die vo­ ran­gegangene feindliche Einnahme des Dorfs hatte zu einer Bedrohung eines ohnehin nur mit großen Schwierigkeiten geordneten Rückzugsgeschehens geführt. Mit voller Eroberungswut hatte sich der Feind in dem winterlichen Dorf festzubeißen und es zu verteidigen vermocht. Von dorther konnte er uns in strategischer Hinsicht äußerst wirksam bedrohen. Durch den Ansatz einer Umzingelung konnte er eine größere Einheit unserer zurückweichenden Truppe in Schach halten, damit den Rückzug hemmen und zur Stockung verurteilen. Im Januar 1945 schien es für die Soldaten der Deutschen Wehrmacht verrückt, nach Osten zu stürmen. Gerade das aber wurde von meiner Kompanie, genauer  : dem von ihr übrig gebliebenen Rest, verlangt. Infolge von Tod oder Verwundung waren wir nur mehr eine Gruppe von etwas mehr als 25 Mann. Die schweren Maschinengewehre des Gegners schufen eine wirksame FeuerBarrikade gegen unseren Angriff. Wir schafften es nicht, voranzukommen. Es dauerte Stunden, bis einige Häusergruppen des Ortes erobert werden konnten. Durch heftige Gegenangriffe des Feindes gingen sie immer wieder verloren. Zum Schluss sah es so aus, als müsste trotz ihrer strategischen Bedeutung die ganze Unternehmung zur Eroberung des Dorfes, das fest in Feindeshand blieb, abgebrochen werden müssen. 154

Vergewaltigung und Tod auf dem Dorfplatz

Der Erfolg, der schließlich doch zur Einnahme des Dorfs führte, war einer Granatwerfereinheit auf unserer Seite zuzuschreiben. Aus Gründen, die mir heute noch unerklärlich sind, verfügte bei allgemeinem Munitionsmangel diese Einheit noch über erstaunlich viele Granaten. Durch ein sehr gezieltes Feuer der merkwürdigen kleinen braunen Flugbomben, die man von oben her ins Rohr des Werfers hineingleiten ließ, aus dem sie dann mit einem ohrenzerreißenden Knall in der eingestellten Richtung herausschossen, konnten wir schließlich mit drei oder vier Maschinengewehren und etwa fünfundzwanzig Mann den Ort erobern. Das Dorf war an den sanften Abhang eines Hügels gebaut. Etwa in seiner Mitte lagen hinter der Mauer eines Gehöftes zusammengekrümmt tote russische Soldaten. Sie dürften den Kern des Widerstands gebildet haben, den die Volltreffer aus unserer Granatwerfer-Gruppe schließlich gebrochen hatten. In einem Haus dahinter fanden wir zitternde alte Bauern, die uns in unserer Sprache anredeten. Es waren Volksdeutsche. Sie wussten nicht, wie ihnen geschah. Sie hatten mit ihrem Leben abgeschlossen, nachdem alle jüngeren Menschen nach Westen geflohen waren. Ich hatte nie erlebt, dass Volksdeutsche ihre Alten zurückließen. Vermutlich hatten die Alten darauf bestanden, in der Heimat zu verbleiben, um lieber da zu sterben als in der Fremde. Es war früher Nachmittag. Wir konnten uns keine Zeit für die alten Bauern nehmen. Wir mussten den Ort sichern. In Gruppen von je dreien taten wir, was wir damals »durchkämmen« nannten. Jedes Haus musste kontrolliert werden, ob sich darin nicht feindliche Soldaten versteckten, um dann nach unzureichender Kontrolle unserseits über uns herzufallen. Ich war fast unüberwindlich müde und trottete hinter den beiden anderen Soldaten her. Die drangen jeweils in ein Haus ein. Ich blieb zur Wache stets davor stehen. Da fiel mein Blick auf das, was man als die Hauptstraße des Dorfs bezeichnen mochte. Es war ein Fahrweg voll von tief eingegrabenen, durch den schweren Frost festgefrorenen Radspuren von Panjewagen. Die Menschen hatten, ehe der Frost kam, mit ihren Wagen noch im Morast des durchweichten Fahrwegs vor den heranrückenden Sowjets die Flucht nach Westen ergriffen. Dann war die durchfurchte Straße festgefroren. So bot sie das merkwürdige Bild von erstarrten Spuren. Plötzlich fiel mir eine Gestalt auf, die am Rücken am Boden lag. Sie hatte beide Arme weit ausgebreitet. Ich ließ die Aufmerksamkeit für die beiden Soldaten meiner Gruppe kurzfristig außer Acht und trat näher. Die Frau war tot. War sie es wirklich  ? Ich hob, eine Hand fassend, ihren Arm. Er fiel, als ich ihn losließ, leblos herab. Und die Hand war eiskalt, eben gefroren. Ich blickte in ein 155

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junges, blasses Gesicht. Dann sah ich, dass der Unterleib nackt war. Die Region ihres Geschlechts war blutig. Verletzt  ? Sie hatte zwar Schuhe an, aber es fehlte die Unterwäsche und der breite Rock war zurückgeschlagen. War sie davongelaufen und dann dort zusammengebrochen  ? Ich sah eine kleine Wunde in der bekleideten Brustgegend. Man hatte sie offenbar gezielt erschossen, nachdem man sie vergewaltigt hatte. Es war das erste Mal im Leben, dass ich den nackten Unterleib einer Frau sah, und dabei war es ein Unterleib, der geradezu zerrissen wirkte. Ich lebe auch heute noch mit diesem Bild.

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10. Am Rande des Auwaldes – Brot von Miluše

Zu Beginn der Morgendämmerung fuhr Wochen nach dem Frost der Frühlingswind unsanft durch den Auwald. Die Spähtrupps kamen schließlich zurück. Koethe war einer von denen, die sich die Rolle des Zuweisens der Quartiere ergattert hatten. Die Kompanie zog, in ihre Züge gegliedert, in die Quartiere. Koethe fragte mich, mit wem zusammen ich ins Quartier würde gehen wolle. Müde sagte ich einfach  : »Allein.« Er antwortete darauf  : »Dann im letzten Haus.« Ich folgte seiner freundschaftlichen Zuweisung. Der Morgen kam. Es war ein windiger, aber heller Tag mit rasch dahinziehenden Wolken. Am Himmel spielte sich viel Bewegung ab. War das ein gutes Zeichen, dass etwas in Gang kam  ? Oder war es die Ankündigung, überrollt zu werden  ? Wer wusste das zu sagen  ? Unsicherheit war überall. Wir zogen aus dem Wald auf eine geradezu endlos sich erstreckende Wiese hinaus. Da lagen einstöckige, weiß gekalkte Häuser. Es war kein Straßendorf. Durch eine im leicht hügeligen Gelände sich hinziehende Schotterstraße waren die Häuser trotzdem untereinander verbunden. Ich trat in voller Rüstung in das mir zugewiesene letzte Haus ein. Vorsichtig, aber nicht mit vorgehaltener Waffe, öffnete ich die unversperrte Tür. Ich wollte niemanden erschrecken. Und die Frau, etwa im Alter meiner Mutter, die ich trotz der frühen Morgenstunde in der Küche antraf, erschrak auch nicht. Vermutlich hatte sie durch das Fenster die deutschen Soldaten als Quartiersucher schon richtig erkannt. Mit ein paar Brocken Kroatisch suchte ich, als ich eintrat, eben diese Absicht der Quartiersuche kundzutun. Zu meiner Überraschung antwortete die Frau in einem gut verständlichen, durch einen slawischen Akzent ein wenig gefärbten Deutsch. Handelte es sich hier um ein Dorf von einer schon vor Jahrhunderten hier eingewanderten deutschsprachigen Minderheit  ? War die Frau, die Deutsch sprechen konnte, auch deswegen dem plötzlich in ihr Haus eingedrungenen Soldaten in deutscher Uniform gegenüber so unerschrocken  ? Im Verlauf des Rückzugs der Truppe, der ich angehörte, war ich einige Male auf solche Dörfer gestoßen. Die meisten waren verlassen, die Bevölkerung hatte die leidvolle Flucht in die völlige Ungewissheit Richtung Westen angetreten. Sie waren dann mit Alten und vielen Kindern auf Panjewagen über die engen, 157

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nassen Straßen nach Westen gezogen. Oft behinderten sie auch den flüssigen Rückzug der militärischen Fahrzeuge. Das führte immer wieder zu Konflikten. Mit Rohheit suchten Offiziere, meist mit einem Restbestand von WehrmachtsKraftfahrzeugen der Stäbe, den raschen Rückzug. Motorisiert waren auch Stabs­ angehörige mit Geräten und einer bis zuletzt mitgeschleppten bürokratischen Dokumentation unterwegs. Diese Papiere wurden in großen metallbeschlagenen Kisten in Kraftwagen befördert. Das waren Fahrzeuge, die im Grunde nutzlos Gewordenes transportierten. Wie zum Hohn verlangten sie Vorfahrt gegenüber den nach Westen strömenden Heimatlosen und den Flüchtlingen. Natürlich fragte ich mich, warum die Menschen des Ortes, in dessen Haus ich eintrat, nicht geflüchtet waren. Ich sollte den Grund erst viel später erfahren. War hier auf der großen wiesenhaften Landschaft eine Ansiedlung von Menschen, die einer Jahrhunderte hindurch ansässigen Minderheit zuzurechnen waren, die Deutsch sprach  ? Fürchteten nicht sie besonders das Herannahen der sowjetischen Truppen  ? Wie war das zu erklären  ? Was ich an verwüsteten Dörfern sogenannter Volksdeutscher gesehen hatte, die unsere Truppe aus taktischen Gründen kurzfristig von den Sowjets zurückerobert hatte, ließ mir die Gelassenheit, den offensichtlichen Verzicht auf Flucht der Menschen hier, unerklärlich erscheinen. Ich dachte darüber auch nicht weiter nach, denn die Szene änderte sich schlag­artig. Ein junges Mädchen betrat die Küche, auch sie anscheinend ganz ohne Angst. Angesichts des unerwarteten bewaffneten Eindringlings zeigte sie die größte morgendliche Frische und Selbstverständlichkeit. Trotzdem suchte ich die beiden Frauen zu beruhigen. Sie waren offensichtlich Mutter und Tochter. Mein Aufenthalt würde wohl nur ein kurzer sein, sagte ich, und sie hätten von den Soldaten, die hier Quartier suchten, nichts als nur die Störung ihres Alltags zu befürchten. Ich hatte meine Erklärung noch gar nicht beendet, als schon ein Frühstück aufgetragen wurde. Angesichts der nächtlich im Wald mir zugeführten Wehrmachtsbrühe mit dem mir wohlbekannten klebrigen Kommissbrot nahm ich dieses Essen als eine Delikatesse zu mir. Ich war wie in ein Märchen geraten. Und das war erst der Anfang. Nach dem Frühstück zog ich mich in eine mir zugewiesene Kammer zurück und legte mich zwar ohne die Stiefel und ohne den Wehrmachtsrock, aber ungewaschen und samt der Hose, die Waffe daneben, auf das Bett, wo ich unverzüglich tief auf meiner Decke einschlief. Und ich muss viele Stunden, bis in den Nachmittag hinein, geschlafen haben, als an die Tür geklopft wurde. Da stand das Mädchen mit derselben schon am Morgen gezeigten Selbstverständlichkeit 158

Am Rande des Auwaldes – Brot von Miluše

und der gleichen Art der Aussprache wie ihre Mutter. Mit einem noch stärkeren Anflug eines slawischen Akzents fragte sie mich in einem grammatikalisch fehlerlosen Deutsch, ob ich etwas wolle oder bräuchte. Ich war sprachlos. Ich hatte viele Monate hindurch nicht mehr in vergleichbarer Reinlichkeit geschlafen, und niemand hatte mich je gefragt, ob ich etwas zu essen wolle. Woher kam bei all der Not des Krieges die Gelassenheit dieser Menschen  ? Es gab für mich aber auch andere Rätsel. Wo war der Vater der Familie, wo waren überhaupt die Männer  ? Auf welcher Seite  ? In irgendwelchen Organisa­ tionen auf deutscher Seite oder irgendwo versteckt, vielleicht sogar von den Partisanen rekrutiert  ? War für mich in dieser Situation nicht doch Vorsicht geboten  ? Ich hatte mir diese Frage in den vergangenen Monaten oftmals stellen müssen, bei allen Menschen in Zivilkleidern, denen ich begegnete. Da stand ein Mädchen in der Tür, das in seiner Schlichtheit und Offenheit mir alle Befürchtungen nahm. In diesem Haus gab es keine mir gestellte Falle. Ich starrte auf dieses Mädchen wie auf eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Aus der Nähe hatte ich in den letzten Monaten immer nur Soldaten, Flüchtende oder Tote gesehen. Da stand nun, als wäre Frieden, ein junger Mensch vor mir und stellte eine Frage nach einem Bedürfnis von mir  : Ob ich etwas essen wolle  ? Ich verneinte und sagte, dass ich ja eben erst hier ein Frühstück bekommen hätte. Da ging ein Anflug von Verwunderung über ihr Gesicht. Es sei doch schon am vorgerückten Nachmittag. Ich sei zu Mittag gar nicht zum Essen erschienen. Nun wurde mir bewusst, dass ich viele Stunden geschlafen hatte. Sie sagte  : »Es wird heute Wäsche gewaschen, geben Sie die Ihre dazu.« Der Vorschlag überraschte mich, war ich doch ein völlig Fremder, ein aufgezwungener Gast im Hause. Gewiss hatte ich, wenn ich irgendwo für längere Frist stationiert war, gegen Geld, Brot oder Margarine meine Wäsche zum Waschen gegeben. Sonst aber hatte ich immer selber dafür gesorgt. Nun kam dieses Angebot mit großer Selbstverständlichkeit. Ich suchte umgehend meine Wäsche zusammen. Sehr viel war das nicht, da ich ja immer alles im Tornister mit mir tragen musste. Erst als ich ihr die Wäsche übergab, schaute ich erstmals das Mädchen an. Sie hatte ein ihrem Wesen entsprechendes ruhiges Gesicht mit runden Wangen. Und die waren auffallend rötlich. Das eng geschnürte Kleid ließ einen vollen Busen erkennen. Das helle Haar fiel tief in den Nacken. Ich gab ihr die Wäsche. Dann fragte ich sie, woher sie so gut Deutsch sprechen könne. Sie nannte die Mutter, fügte aber gleich auch die Schule hinzu. Ich war verwundert. War dieser Sprachunterricht eine Folge der deutschen Beset159

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zung ab 1941  ? Ich stellte aber keine weiteren Fragen und ließ sie ziehen. Trotz des fehlerlosen Sprechens lag ein Ton in ihrer Stimme, als wäre das Deutsche doch nicht die einzige ihr wohlvertraute Sprache. Als sie gegangen war, hinderten alle diese Überlegungen mich nicht daran, mich einigermaßen gewaschen aufs Bett zu werfen und dort bis zum Abend zu schlafen. Es war schon dunkel, als ich aufstand und in die Küche ging. Die Waffe nahm ich mit. Da wurde heftig an die Türe geklopft. Ein Melder des Zuges, dem ich angehörte, stand draußen. Es werde morgen zu einer für die militärische Tagesordnung außerordentlich späten Zeit zum Fassen von Verpflegung in die Stadt gefahren. Die Sammlung der Truppe sei beim Dorfausgang. »Fahren«, dachte ich, wir hatten doch gar keine Fahrzeuge mehr. Der Melder aber verschwand so rasch, wie er gekommen war. Ich setzte mich an den Tisch und bekam zu essen. Später erst trat Miluše ein. Die Mutter hatte mir das Essen vorgesetzt, mich aber nicht in ein Gespräch verwickelt, aus Zurückhaltung, wie mir schien. Ich hielt mich daran und aß schweigend. Es waren Elemente einer Landwirtschaft mit dem Haus verbunden, und doch war es keine gänzlich bäuerliche Familie, zu der ich gekommen war. Ich ließ all diese Fragen auf sich beruhen, zumal Miluše mir deutlich machte, dass sie ihrerseits mich etwas fragen wolle. Ihr Schulbesuch, so erklärte sie, war zwar wegen der Kriegslage unregelmäßig, und er würde bald ganz zum Stillstand kommen. Aber sie bereite sich trotzdem auf einen Abschluss vor. Es ging um die Matura. Miluše war, wie sie mir auf meine Frage erklärte, noch nicht achtzehn Jahre alt. Sie kam mit einem Heft zur deutschen Grammatik. Die verschiedenen Zeiten, besonders die Unterscheidung zwischen den Formen der Vergangenheit und der Vorvergangenheit, machten ihr Schwierigkeiten. Daran erinnere ich mich genau, dass es die verschiedenen Stufen von Vergangenheit waren, die sie mir schriftlich vorwies und für sich geklärt haben wollte. Es war eine klare Schrift und eine gute Ordnung, die ich in ihrem Heft vorfand. Und es war gerade das, was sie für mich so anziehend machte. Sie konnte sich ganz natürlich verhalten, in allem, was sie tat, auch in ihren Fragen. Es hatten mich aber auch die Gestalt und ihr ruhiges Gesicht bei der Übergabe meiner Wäsche gefangen genommen. Eine richtige Unterrichtsstunde folgte, wobei ich mit meiner Muttersprache auftrumpfen und mit dem, was ich seinerzeit als Grammatik, und diese in Tabellen geordnet, gelernt hatte, brillieren konnte. Ich gestehe mir heute ein, dass ich dieses Wissen gern einsetzte, um von Miluše dafür ein wenig Bewunderung zu erhalten. Ich konnte in dieser kleinen Grammatikstunde auch nicht ahnen, 160

Am Rande des Auwaldes – Brot von Miluše

dass die Verschlingung verschiedener vergangener Zeiten durch die Gestalt Milušes in meinem weiteren Leben eine Rolle spielen sollte. Der folgende Tag brachte fahrigen Frühlingswind, aber auch eine Überschüttung mit strahlender Sonne. In der Ferne war Geschützfeuer zu hören. Und es war beruhigend, dass es lange Intervalle zwischen den Feuerstößen gab. Das Feuer verblieb in der Ferne und näherte sich nicht. Dieses Geschützfeuer, das andauernd vom selben Ort her zu hören war und nicht näherrückte, löste in mir ein geradezu behagliches Gefühl aus. Das war ein Sicherheitsrahmen im wechselnden Geschehen des Krieges. Da dachte man nicht an das Blut, das an Ort und Stelle vergossen wurde, sondern an das Feuer, daran, dass es weit entfernt war und sich nicht näherte. Allerdings sollte der gerade beginnende Tag in einer ganz anderen Weise eine schwere Gefahr mit sich bringen. Das war aber am hellen Morgen noch nicht vorherzusehen. Der Himmel hatte jenes schimmernde Blau, das er durch die aus den feuchten Auen aufsteigende Wässrigkeit und die Sonne gewann. Der ferne Geschützdonner beirrte die Vögel nicht. Sie sangen laut aus dem Wald heraus, der nach einem langen und harten Winter nunmehr rasch seine Blätter hervortrieb. Es war Frühjahr geworden, nicht berauschend, sondern kühl. Es sammelte sich eine eher vergnügte Truppe, um in die Stadt zu fahren. Durch freundliches Verhandeln im Dorf und ein glaubhaftes Versprechen, Ross und Wagen vollzählig zurückzuführen, hatte man sich einige Panjewagen samt Pferdegespannen ausgeliehen. Es waren genug erfahrene Kutscher unter den Soldaten vertreten. Ich saß ziemlich zurückgezogen auf dem Wagen und war noch mit dem Nachdenken über die Grammatikstunde befasst. Mitten im Krieg war ich wie auf eine Insel der Ruhe gespült worden. Am Rande der Stadt Esseg bildeten die Panjefahrzeuge eine Art Wagenburg. Die Wache wurde von einer kleinen Truppe übernommen, die dort zurückblieb. Die übrige Mannschaft machte sich auf, um Weißbrot und, so erhältlich, Zucker, vielleicht auch die unter den Soldaten beliebte Marmelade zu kaufen. Besonders begehrt war das noch warme weiße Brot, das man unmittelbar aus den Backstuben holen konnte. Ich machte mich allein auf den Weg. Es war schon Nachmittag und der Himmel zeigte ein volles, starkes Blau. Plötzlich war Flugzeuglärm zu hören. Ich blickte, wo ich mich gerade befand, die Schneise der langen, geraden Straße entlang in den klaren Himmel. Drei Flugzeuge erschienen in der üblichen Formation  : eines an der Spitze, die beiden anderen in einem kleinen Abstand flankierend dahinter. Es waren die bekannten, langsam, geradezu träge dahinfliegenden sowjetischen Maschinen. Kein Flugabwehr-Feuer unserer Einheiten regte 161

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sich vom Boden aus. Nichts, nur das Brummen der Motoren der Maschinen in der Luft war zu hören. Zu Beginn des letzten Kriegsjahrs war man völlig hilflos den feindlichen Flugzeugen ausgeliefert. Die Flugabwehrgeschütze, die auch im sogenannten Erdeinsatz in Verwendung gekommen waren, hatte man in Ermangelung der notwendigen Transportmöglichkeiten gesprengt und zurückgelassen. Indem ich immer wieder Bombenabwürfe durch feindliche Flugzeuge hatte beobachten können, hatte ich in den letzten Monaten abzuschätzen gelernt, wo etwa die Bomben fallen würden. Beim langsamen Flug sowjetischer Maschinen war dies leichter voraussehbar als bei den schnellen englischen oder amerikanischen Bombern. Daher konnte ich nun auch klar erkennen, dass die Bomben in meiner Nähe fallen würden. In Sekundenschnelle fand ich den Kellereingang zu einem Haus und sprang über die Stufen hinunter, die in den Schacht führten. Da erfolgten die Explosionen schon mit großem Getöse. Splitter sirrten in nächster Nähe. Sie schlugen über mir in die Hauswände ein, sodass sich Staubwolken bildeten. Ich hockte tief unten geduckt, die Arme über dem Kopf verschränkt. Ich wartete ab. Würden die Flugzeuge wenden, nochmals zum Abwurf anfliegen  ? Der Motorenlärm wurde schwächer. Es war also kein weiterer Angriff zu erwarten. Aber es begann bei anhaltendem Wind starker, beißender Rauch die Straße entlang heraufzuziehen. Er wälzte sich wie ein Ungeheuer heran. Ich suchte diesem Rauchschwall zu entgehen, indem ich davonlief. Von dort, wo er herkam, hörte ich es schreien und sah noch, dass es brannte, ehe ich in eine Nebengasse einbog. Später erfuhr ich, dass es auf dem Marktplatz größere Ansammlungen von Soldaten gegeben hatte, die einer anderen als meiner Einheit angehörten. Sie wurden dort Opfer der Bombardierung. Die Backstuben, welche die Männer unserer Einheit aufgesucht hatten, waren in Nebengassen gelegen, sodass es bei unseren Gruppen keine Verluste gegeben hatte. Die Stadt war bei dem klaren Wetter von den Flugzeugen aus gut erkennbar gewesen. Die Bombardierung hatte zielsicher dem Markt mit der Soldatenansammlung und der langen Straße gegolten, auf der ich mich befunden hatte. Die Maschinen kehrten in der Tat nicht wieder. Unsere Mannschaft versammelte sich eine Stunde später, wie vereinbart, bei der Wagenburg. Die Stimmung war verständlicherweise gedrückt, aber, wie so häufig im Krieg, bestimmt durch Gleichgültigkeit. Wie ein Selbstschutz griff diese Teilnahmslosigkeit immer dann Platz, wenn niemand aus der Gruppe der enger Zusammengehörigen zu Schaden gekommen war – es hatte eben die anderen »erwischt«, wie der Ausdruck lautete. 162

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Die Panjewagen rollten zurück in Richtung auf das Dorf. Es begann dunkel zu werden. Die Pferde wurden ausgespannt und ihren Besitzern zurückgegeben. Die Wagen stellte man ab. Wegen des Angriffs auf die Stadt und wegen der Opfer, darunter auch Zivilisten, konnte trotz der inneren Gleichgültigkeit keine rechte Freude über das erworbene Weißbrot aufkommen. Die üblichen Schimpfworte und Flüche auf den Krieg machten ihre Runde. Die Soldaten trollten sich in ihre Quartiere. Ich pochte an das Tor des Hauses, wo ich Quartier gefunden hatte. Die Mutter öffnete mir und führte mich in die Küche. Ich sollte berichten, was vorgefallen war. Und da stand Miluše, die Wangen noch röter als sonst, und wollte wissen, ob mir irgendein Unheil zugestoßen sei. Sie fragte ganz besorgt und aufgeregt, obwohl sie ja sehen konnte, dass mir nichts geschehen war. Da vermochte ich zu erkennen, dass ich trotz der außerordentlich kurzen Zeit, die ich mit ihrer Familie zusammen wohnte, in ihrem Leben eine gewisse Bedeutung gewonnen hatte. Ich erschrak geradezu darüber. Das Erlebnis war neu für mich. Ich empfand so etwas wie Sorge um das Mädchen, und gleichzeitig fühlte ich mich in seine Sorge einbezogen. Ich war dankbar dafür, dass sich jemand um meinetwegen geängstigt hatte. Es war eine neue Erfahrung für mich. Ein bestimmtes Gefühl breitete sich in mir aus, und es war mehr als Geborgenheit, wie sie mir in Megalo Pefko Thia, meine Quartiergeberin, geboten hatte. Am nächsten Morgen begannen sich die Bedingungen des Krieges zu verändern. Das Artilleriefeuer verstärkte sich. Es kam zwar nicht näher heran, aber die Abschüsse folgten rascher aufeinander. Die Pausen im Gefechtslärm wurden kürzer. Wer den Krieg in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts kennengelernt hatte, der wusste, dass es solche Veränderungen waren, in denen sich neuer Kampf anzuzeigen begann. Ich begriff, dass die Zunahme der artilleristischen Tätigkeit einen bevorstehenden Angriff des Feindes ankündigte. Das heftige Feuer ließ erkennen, dass der Krieg wieder in Fluss geraten war. Wie das geschehen würde, blieb vorerst unklar. Aber über die Richtung, in der die Bewegung zu erwarten war, konnte kein Zweifel bestehen. Die Verschiebung nach Westen, wie ihre Formen sich auch ausprägen mochten, war vorherzusehen. Für uns war es nur die Frage, ob ein Rückzug noch möglich oder eine Flucht die Folge sein würde. Es sollte schließlich ein Rückzug mit komplizierten Bewegungen und verlustreichen Manövern werden, samt Phasen der Flucht. Miluše wusste die Anzeichen des verstärkten Feuers nicht zu deuten. Für sie war es ja zum ersten Mal, dass die Front näher rückte. Sie war in ihren Gedanken 163

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und Gefühlen offenbar mit ganz anderen Inhalten beschäftigt. Ich erhielt die gewaschene Wäsche trocken zurück, und zwei Paar Socken waren gestopft. Als sie kam und in dem kleinen Zimmer, das ich bewohnte, mir alles übergab, verlangte sie, ich solle von meiner Familie erzählen. Sie setzte sich auf das zweite Bett, das an die andere Wand des Zimmers gerückt war, und sah mich erwartungsvoll an. Ich begann von meiner Mutter zu berichten. Und kaum hatte ich begonnen, stellte Miluše eine Frage nach der anderen. Da war auf einmal ein Mensch, der, während im Hintergrund der Krieg näher rückte, mit erstaunlichem Interesse sich nach meiner Herkunft und meinen persönlichen Bindungen erkundigte. Ich glaube, dass ich ihr meine Lebensgeschichte freundlicher und harmonischer darstellte, als sie es im Grunde war. Aber das ganze Wesen des Mädchens drängte auf eine fröhliche und stimmige Sicht. So geriet auch das, was ich berichtete, in meiner Darstellung harmonisch. Miluše kündigte an, mit ihrem Fahrrad in die Stadt zu fahren, um einiges einzukaufen. Ich verstand, dass sie auch sehen wollte, ob Verwandte, die dort lebten, in ihren Häusern durch die am Vortag abgeworfenen Bomben zu Schaden gekommen waren. Ich riet ihr zur Vorsicht. Man konnte ja nicht wissen, ob der gestrige Luftangriff erneuert würde. Aber sie wies diese Bedenken mit einer mich überraschenden Zuversicht zurück. Sie hatte das sichere Gefühl, dass ihr nichts geschehen könne. Und rasch entschlossen fuhr sie los. Sie schien gefeit zu sein. Ich aber spürte, dass mir ihre Gegenwart abging. Ich begann mein Alleinsein nun doppelt zu fühlen. So wandte ich mich der ohnehin notwendigen Waffenreinigung zu, mit Widerwillen, aber sie hatte zu geschehen. Im Unterschied zu anderen Soldaten hatte ich nie eine wirklich positive Beziehung zu meinem Gewehr entwickeln können. Ich empfand es als lästiges Übel. Ich hatte das Gefühl, einen Fremdkörper handhaben zu müssen. Wenn ich schoss, spürte ich durch den Rückstoß, dass dieses mir fremde Ding eine Art Eigenleben führte. Es setzte Kräfte frei, die weit über die eigenen hinausreichten. Es war für mich ein unheimlicher Apparat. Und außerdem musste er bei der immer wieder anfallenden Reinigung zerlegt und mühevoll wieder zusammengebaut werden. Dieser technisch-handwerkliche Prozess bereitete mir immer Schwierigkeiten. Nach getaner Arbeit saß ich auf der Bank vor dem Gebäude in der Sonne und fühlte mich, als wäre ich hier zu Hause. Selbst das Grollen des Artilleriefeuers begann ich zu überhören. Schon in der Kindheit hatte ich an manchen fremden Orten ein Zuhause erleben können. Mag sein, dass ich mich in der Stadt, in Wien, in der ich in einer engen Gasse aufgewachsen war, mich nie so ganz heimisch gefühlt hatte. 164

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Daher konnte ich auch Orte, die ich nicht kannte und in die ich plötzlich kam, rasch als Heimat empfinden. So war es auch hier im Dorf am Rande des großen Auwalds. Es fehlte nur die Person, die ich mir herbeiwünschte. Sie war in die Stadt gefahren. Ich wartete auf sie. Ich saß da, als würde ich hier sesshaft werden und alles andere im Leben vergessen können. Als sie zurückkam, berichtete sie, dass den Verwandten in der Stadt nichts geschehen sei. Nur die Fensterscheiben waren zersprungen. Miluše hatte geholfen, die leeren Fenster mit Papier und Pappe zu verkleben. Sie kam mit dem frischen weißen Brot. Sie brachte auch ein kleines Töpfchen Honig mit. Es wurde mitten auf den Tisch gestellt und man konnte den Honig entnehmen und auf das weiße Brot tröpfeln lassen. So ging der Abend zu Ende. Auch der Geschützdonner verstummte und jedermann ging zu Bett. Am nächsten Morgen ließ der Wind nach und die Sonne strahlte noch stärker. Ich sagte Miluše, ich wolle den Auwald ein wenig kennenlernen, um zu sehen, ob es schon Blumen gebe. Und ich forderte sie auf, mit mir zu kommen. Sie stimmte breitwillig zu. Und ich tat etwas, was auf das Strengste verboten war. Im Falle der Entdeckung hätte es zur Folge gehabt, vor das Kriegsgericht gestellt zu werden. Ich ließ die Waffe in der Unterkunft zurück. Der Karabiner lehnte frisch gereinigt in dem kleinen Zimmer im Schrank. Ohne dass irgendjemand dies sah – das Haus lag abgeschieden in Waldesnähe –, gingen wir gemeinsam über die breite Wiese. Sie begann gerade zu grünen. Noch hatte das Gras nicht ausgetrieben, und es waren auch noch keine Blumen zu sehen, aber die Farbe des spätwinterlich dunklen Rasens war heller geworden. Diese Farbe war eine Antwort auf die leuchtende Sonne. Es war ein lichter, aber karger Frühlingsmorgen. Am Waldrand lag ein großer grauer Stein, wie ein riesiger Kiesel, auch abgerundet wie ein solcher. Er bot sich als Bank an, auf der man gemeinsam sitzen konnte. Wir saßen eine Weile nebeneinander, keiner von uns beiden sagte etwas. Ich legte dann meinen Arm um sie und zog sie sanft an mich heran. Sie ließ es geschehen. Dann küsste ich sie auf den Mund, und sie ließ auch dies zu. Es war, als seien wir beide davon überrascht. Ich drückte sie noch mehr an mich und küsste sie heftiger. Ich fühlte eine starke Verbindung zu ihr. Wie um dies auszudrücken, schob ich meine Hand suchend in den Ausschnitt ihrer Bluse. Und da geschah etwas, das mich sehr überraschte und was ich als eine Zurückweisung empfand. Sie nahm meine Hand und zog sie, wenn auch sanft, aus ihrem Ausschnitt heraus. Was war da geschehen  ? Hatte ich eine Grenze unbedacht, vielleicht zu früh überschritten  ? Noch nie hatte ich vorher einem Mädchen gegenüber eine solche Geste gewagt. 165

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War es der Krieg, war es meine eigene Schüchternheit  ? Ich vermag das auch heute noch nicht zu unterscheiden. Allerdings neige ich dazu, meine frühe Lebenszeit als durch Schüchternheit und Ablehnungsangst geprägt anzusehen. Trotz der vorangegangenen Küsse war ich eher ratlos als glücklich. Ich verstand damals nicht, was ich heute einzusehen glaube  : Miluše war im körperlichen Ausdruck ihrer Zuneigung so weit gegangen, wie sie es vermochte. Sie war, wie man es um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts nannte, ein »unberührtes Mädchen«. Sie hatte verweigert, sich so schnell, wenn auch nur annäherungsweise, »berühren« zu lassen. Obwohl unsere damals beginnende Geschichte durch völlig unerwartete spätere Entwicklungen weitergeführt werden sollte, schien dieser Moment vorerst etwas Endgültiges zu enthalten. Wir saßen auch weiterhin, so wie bisher, völlig schweigend nebeneinander. Es war eine große Ratlosigkeit, die zwischen uns lag. Und erst in dieser Stille nahm ich wieder wahr, dass in der Ferne die Geschütze feuerten. Zum ersten Mal in meinem Leben glaubte ich etwas zu empfinden, was man Schicksal zu nennen pflegt. Es waren Zwangsläufigkeiten vorgekommen, Unvorhergesehenes, das unser Leben einbezog. Darin waren Handlungen enthalten, die in eine ganz andere Richtung zielten als die Zerstörungen des Krieges. Aber auch die Zuneigungen und Annäherungen waren völlig unvorhergesehen. Pflegt so das Schicksal einzutreten  ? Die Geschütze feuerten stärker. Die Woge von Vertreibung und Vernichtung rollte unaufhaltsam heran. Das Schicksal, das sich nun entfaltete, rückte mit Macht näher. Am Abend konnte ich kaum einschlafen. Eine gewaltige Erregung ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Die Annäherung, die mich erfasst hatte, war gegen meine Erwartung geschehen. Ich schlief ein und wachte auf, so ging dies dahin. Im Morgengrauen weckte mich starker Kanonendonner. Auch Granatwerfer und Maschinengewehre, wenn auch noch in deutlicher Entfernung, waren zu hören. Ich setzte mich auf, um genauer zu hören. Da kamen dreimal hintereinander abgefeuerte Maschinengewehr-Salven aus großer Nähe. Sie wurden von den eigenen, im Ton mir wohlbekannten Waffen abgefeuert. Das war das Signal. Die Schüsse forderten zum Sammeln auf. Es war also so weit. Das war der Befehl zum Abrücken. Der von mir wahrgenommene verstärkte Gefechtslärm erklärte den rasch ausgegebenen Befehl. Es ging nun wieder dem Krieg, dem Gefecht entgegen. Ohne im Geringsten darüber nachzudenken, stürmte ich, das ganze Kriegsgepäck auf mir montiert und den Stahlhelm auf dem Kopf, in das Halbdunkel der morgendlichen Küche. Es war der Wunsch, mich zu verabschieden, den ich als drängend empfand. Und ich fand auch in der Tat die Mutter, die sich beim Herd zu schaffen machte. Sie erkannte 166

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gleich meine Absicht. Miluše sei schon ganz zeitig in die Stadt gefahren, um das weiße Brot zu holen. Denn je früher man zur Backstube kam, desto eher konnte man damit rechnen, noch Brot zu bekommen. »Miluše«, sagte die Mutter, »tat es besonders Ihnen zuliebe. Denn Sie mögen ja dieses unser Brot.« Ich stand da wie gebannt und sollte doch so rasch wie möglich zum Sammlungsplatz laufen. Ich lehnte das Gewehr für einen Augenblick an den großen, viereckigen hölzernen Esstisch und umarmte, ohne nachzudenken, die Mutter. Dann griff ich wieder nach dem Gewehr und rannte, wortlos und mit verbissenem Schmerz, zum Sammlungsplatz. Ich hatte Miluše nun nicht wiedergesehen. Und sie war hauptsächlich meinetwegen in die Stadt gefahren. Ich heulte, als ich zum Sammlungsplatz lief, und ich verdankte es nur dem Halbdunkel, dass meine Tränen von niemandem gesehen wurden. Irgendetwas schien mir für immer verloren. Würde es mir mit meinem ganzen Leben so ergehen  ? Lief ich nicht Gefahr, so, wie ich nun eine kaum entstandene Nähe verlor, schließlich auch mich selber zu verlieren  ? Der Morgen war auffallend kühl, und der Himmel, der sich langsam lichtete, blieb wie von einem Rest der Nacht mit schweren Wolken bedeckt. Es war wenig Zeit, die Natur in ihrer Selbstverhüllung zu betrachten. Die Truppe, der ich angehörte, sammelte sich rasch und rückte ab, allerdings nicht über die Straße in Richtung auf die Stadt, sondern auf einem Fahrweg zur Umgehung des Auwaldes.

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11. Mundharmonika in der Kriegsnacht

Alfons war Österreicher. Er kam aus der Steiermark. Sein Zuname war Pirker. Vom Vater sprach er nicht, entweder war er gestorben oder er hatte ihn nie gekannt. Aber von der Mutter sprach er mit viel Anteilnahme und Wärme. Seine inneren Gefühle zeigte Alfons nur zögernd und indirekt. Umso freigiebiger war er mit jenen Gefühlen, die seine Kritik des Krieges betrafen und der verabscheuten Politik, die ihn, Alfons, zum Handwerk des Soldaten verurteilt hatte wie uns alle. Der Unterschied war, dass er dieses Handwerk bis zur Vollendung beherrschte. Alfons hasste den Krieg, aber er war ein guter, ja ein hervorragender Kriegshandwerker. Niemand anderer kann das besser beurteilen als ich, der ich ihm, als sein »MG-Schütze zwei«, im Kampf Monate hindurch als eine Art Gehilfe zur Seite stand. In einer bunt zusammengewürfelten Einheit, dem Radfahrzug einer Luftwaffen-Felddivision, waren wir zu fünft eine Freundesgruppe  : Pirker, Koethe, Nickertz, Kostas und ich. Innerhalb des Radfahrzugs, einer taktischen Reserve des Regiments und einer beweglichen Einsatzeinheit für Sonderaufgaben, bildeten wir eine Freundesgruppe. Nickertz war ein Industriellensohn aus dem Rheinland. Koethe kam aus bäuerlichen Verhältnissen aus Pommern. Alfons war das Kind einer steirischen Landarbeiterin, die Alfons die Liebe zur Musik hatte finden lassen. Kostas war ein griechischer Hirtenjunge in deutscher Uniform. Er verstand nur wenige Brocken Deutsch und war ständig mit mir, der ich Griechisch konnte, verbunden. Hier will ich von Alfons Pirker erzählen. Unser Regiment hatte im Morgengrauen – die Sonne kam in diesem frühen Frühjahr 1945 spät – in einem Überraschungsangriff die Drau in der Nähe von Osijek (Esseg) mit Sturmbooten überquert. Der Pionierzug hatte als Erster in Sturmbooten übergesetzt. Er hatte die schwache Uferverteidigung der Russen und Bulgaren zurückgeworfen. Das erste Bataillon folgte und leistete den Durchbruch bis tief ins Feindesland. Das Ziel wäre gewesen, gemeinsam mit anderen Einheiten bis zum Plattensee vorzustoßen, um einen sowjetischen Vorstoß auf Wien zu behindern. Stunden nach dem ersten Bataillon setzte auch unser Zug, der Radfahrzug, auf Schlauchbooten über. Wir gerieten zwar nicht mehr ins Infanteriefeuer vom gegenüberliegenden Ufer, da dieses schon erobert wor168

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den war, wurden jedoch zum Ziel sowjetischer Tiefflieger, die auf unseren Einbruch in die russische Front hin alarmiert worden waren. Sie zerschossen und bombardierten die Dörfer, die vor uns lagen. Sie vermuteten dort schon unsere Truppen. Dass es dort örtliche bäuerliche Bevölkerung gab, die in ihren Hütten schutzlos war, das kümmerte die Angreifer aus der Luft nicht. Dem Radfahrzug, dem wir angehörten, war die Aufgabe zuteil geworden, in die allgemeine Flucht des Feindes einen Keil voranzutreiben und möglichst weit vorzudringen, um eine vorgeschobene Bastion zu bilden. Bei gewaltigen Marschleistungen ging der Tag schneller zu Ende als gedacht. Wir kamen durch die rauchenden, zerstörten Dörfer, die von Bomben zerfetzt worden waren. Rinderleichen, verletzte und verstümmelte Pferde lagen herum und das schreckliche Gejammer des verwundeten Viehs nahm kein Ende. Die Menschen waren fast alle geflohen. Die kreischenden oder vor Schmerzen brüllenden Tiere in den leeren Dörfern boten eine schaurige Musik. Am Abend schlachteten wir eine verwundete Sau, es gab gebratenes Fleisch. Dann wurden die Wachen aufgestellt. Der Rest der Mannschaft verkroch sich in den Scheunen. Koethe fluchte über den Krieg und über unser Schicksal. Er fand die Kraft dazu, weil er doppelt so viel vom Fleisch gegessen hatte als jeder andere. Man wisse ohnehin, dass der Krieg endgültig verloren sei und die Landser weiterhin sinnlos verkauft und verraten würden, ließ Koethe in seiner Mundart verlauten. Günther Nickertz war von der Zerstörung von Häusern, Ställen und Scheunen stark beeindruckt, er warf sich hin und schwieg. Anders reagierte Alfons. Er richtete sich das Heu zu einer Lehne zurecht, zog seine Mundharmonika hervor und begann zu spielen. Es waren Lieder der österreichischen Heimat, aber auch Musikstücke von Haydn oder Schubert, die er in seiner Weise darbot. Manchmal machte er Pausen, als suche er etwas, lächelte dabei und schien ganz geistesabwesend. Koethes Flüche und tobendes Aufbegehren überhörte er, obwohl er dessen Meinung teilte, dass der Krieg längst verloren und wir alle Opfer einer ganz und gar unverständlich gewordenen wahnhaften Fortsetzung dieses Krieges geworden waren und es von Tag zu Tag noch mehr wurden. Alfons war groß gewachsen, mager und außerordentlich kräftig, aber er bot nicht das Bild eines strammen oder tüchtigen Soldaten. Er reinigte seine Uniform kaum, ließ sein Haar wild wachsen und ging etwas vornübergebeugt. Auch seine Waffe, das Maschinengewehr, machte keinen gepflegten Eindruck. Nur der Lauf sowie Kimme und Korn und alles, was der Funktion nach unbedingt notwendig war, hielt Alfons pfleglich in Ordnung. Auch hatte er das Talent, in zerstörten Häusern und Kellern Alkohol aufzufinden. Er nahm gern davon, 169

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aber ich sah ihn nie betrunken. Seine Liebe galt der Mundharmonika und, was ihm immer wieder gefährlich werden sollte, seinem eigenen Mut. Er lebte ihn, ohne jemals darüber zu sprechen. Koethe ballerte, wenn der Feind anrückte, unter Flüchen mit seinem Gewehr wild darauf los. Er schien sich damit zufriedenzugeben. Alfons war vorerst kaum zu hören. Er verhielt sich still. Er schoss erst spät, und er hielt durch, auch wenn alle anderen sich schon zurückgezogen hatten. Im menschenleeren Dorf erklang am Abend wieder die Mundharmonika des Freundes. Wir lagen im Heu, in voller Ausrüstung, nur die Stiefel hatten wir befehlswidrig ausgezogen. Ich hielt mich als der Schütze zwei in der Nähe von Alfons. Mir war die Munition für das Maschinengewehr in zwei großen eisernen und entsprechend schweren Kästen anvertraut. Ich hatte für Alfons, den Schützen eins, Hilfs- und Zubringerdienste zu leisten, so auch den Ersatzlauf zu schleppen samt dem unvermeidlichen Asbestlappen, womit der heiß geschossene Lauf, der ausgewechselt werden musste, aufzufangen war, wenn dies durch anhaltendes eigenes Feuer notwendig wurde. Ohne Schutz durch den Lappen hätte der heiße Lauf Haut und Fleisch der Hand verbrannt. Alfons und ich bildeten eine Kampfeinheit. Er trug das MG, ich hatte die Munitionskästen, den erwähnten Lauf zum Auswechseln und meinen eigenen Karabiner samt dessen Munition zu schleppen. Für den Notfall, sollte seine Waffe Ladehemmung haben oder durch Feindeinwirkung beschädigt und er dadurch als MG-Schütze ausfallen, trug Alfons eine Pistole. Aber es war gar nicht denkbar, dass Alfons mit seiner Waffe, dem MG, etwas zustoßen würde. Er handhabte sie sehr geschickt, während ich sie weit weniger gut zu bedienen verstand. Als MG-Schütze zwei war ich ja hauptsächlich Zubringer und Helfer. Deswegen hielt ich mich stets in unmittelbarer Nähe von Alfons auf. Wenn starke Feindeinsicht auf uns gegeben war, saß ich im selben Schützenloch, neben Alfons, oder in einem eigenen Loch, dicht neben dem seinen. Mir oblag die Arbeit der Zureichung und die Sicherung des MG-Schützen Alfons. Am Tag nach dem Überschreiten des Flusses, dem Besetzen der zerstörten Dörfer und dem Nachtlager in der Scheune mit der Mundharmonikamusik von Alfons verlangsamte sich das Vorrücken unseres Regiments. Der Angriff lief sich tot. Der Feind hatte den Schock, vom Fluss zurückgeworfen zu werden, überwunden. In der schematisierenden Sprache der Kriegsführung hatte er es vermocht, »neue Kräfte heranzuführen«. So waren die folgenden Nächte wesentlich unbequemer als die Nachtrast nach dem gebratenen Festessen in der Scheune. Wir mussten diese Nächte nun in einer Stellung unter freiem Himmel in dem Maisfeld mit hohen dürren Pflanzen aus dem Vorjahr verbringen. Es war 170

Mundharmonika in der Kriegsnacht

ungewiss, ob wir nicht im Schutze der Dunkelheit von einem nächtlichen Gegenangriff überrumpelt würden. Ich sah kaum drei Meter vor mich hin. So war das Ohr aufs Äußerste gespitzt. Leuchtkugeln gingen hoch, Maschinengewehrsalven fetzten durch die Nacht. Schoss man selber, nur auf verdächtige Geräusche hin, ohne ein genaues Ziel zu sehen, so beruhigte man sich damit eher, als dass man sich eine Wirkung erhoffen durfte. Man hatte nicht zu fürchten, aus geringer Entfernung aus dem Dunkel heraus überfallen zu werden. Doch diese Beruhigung war teuer bezahlt, da man durch dieses sein Feuer auch den eigenen Standort verriet und so das Feindfeuer auf sich zog. Der erfahrene Kämpfer verhält sich im unübersichtlichen Gelände eher still und äußerst wachsam zugleich. Solche die Nerven anspannenden Nächte dehnten sich im Frühjahr 1945 lange hin. Die eigene Frontlinie war nur dünn besetzt. Es konnte keine Rede von abwechselndem Wachen und Schlafen sein. Nach der mit allen Sinnen wach verbrachten Nacht wirkte der Morgen wie eine Erlösung. Obwohl ich als unmittelbarer Helfer von Alfons wegen der Munitionsreserve und des Laufwechsels mich immer in seiner Nähe aufzuhalten hatte, hob ich in der Maisstellung mein eigenes Schützenloch aus. Die Postenkette wäre sonst nicht zu schließen gewesen, so wenige waren wir.

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12. Im Bann des Ziegelwerks

Es war eine Stellung, in der man sich nur mit äußerster Vorsicht bewegen durfte, sonst hätte man sein Leben verloren. Es war nicht klar, von woher diese Stellung, die sich auf einem Damm mit einem Karrenweg befand, so gut einsehbar war, dass der Gegner uns dort durch Infanteriebeschuss punktuelle, aber schwere Verluste zufügen konnte. Von woher wurden wir denn beobachtet, um solche Zielgenauigkeit gegen uns zu erreichen  ? Die Stellungen des Gegners lagen weit tiefer in einer kleinen Talsenke, in der ein großer Bach mit viel Wasser dahinströmte. Dort lag auch das weitläufige Ziegelwerk mit einem dünnen, aber hohen Schlot. Das große Werk war außer Betrieb. Es hatte etwas Unheimliches, wirkte wie eine Geisterstadt. Aber das konnte ja nicht zu dem immer wieder erfolgenden zielgenauen Beschuss unserer Stellung führen. Eines Nachts kam ein neuer Artillerieoffizier in unsere Stellung, der als sogenannter vorgeschobener Beobachter (VB) den alten ablöste. Er begann schon am Morgen mit seinen Instrumenten das Gelände vor uns und so auch das Ziegelwerk genau zu vermessen, was durch seinen Vorgänger nicht in vergleichbarer Weise erfolgt war. Vorgeschobene Beobachter nannte man diese Artillerieoffiziere, weil sie per Funk ihre Daten an ihre Batterie nach hinten weitergaben und jeweils auch über Funk die Zeitpunkte bestimmten, zu denen die Batterie feuern sollte. Kaum hatte der neue engagierte Artillerieoffizier seine Tätigkeit aufgenommen, erfolgten schon erste Treffer unsererseits auf die Ziegelfabrik. Aber das sollte nur der Anfang sein. Was dann passierte, hätte niemand geahnt und für möglich gehalten. Ein Schuss traf den hohen Schlot, etwa in der Mitte. Daraufhin setzte ein Spektakel ein, das seine eigene Dynamik und auch eine gewisse Komik hatte. Der außerordentlich hohe und schlanke Schlot begann zu schwanken, so, dass man annehmen musste, er würde jeden Augenblick stürzen. Doch das geschah nicht. Er pendelte hin und her wie eine zarte Pflanze im Wind, aber er stürzte nicht. Es zeigte sich aber bald ein großes Durchschussloch, aus dem eine dichte Wolke von Ruß entwich. Nachdem die zum Himmel gestiegen war, geschah etwas völlig Unerwartetes. In dem großen Durchschussloch erschienen von oben Beine, schwarz wie die eines Rauchfangkehrers. Dann schob sich mit 172

Im Bann des Ziegelwerks

großer Vorsicht der Körper nach, hielt sich an den erhalten gebliebenen eisernen Klammern im Inneren des Schlots fest und wurde dann als volle Figur im Durchschussloch sichtbar. Um mich herum wurde laut gelacht, als wäre das eine komische Vorstellung. Im selben Moment wurde mir aber klar, dass dieser Mann der VB des Gegners gewesen war, der das feindliche Feuer so wirksam auf unsere Stellung gelenkt hatte. Die erste Reaktion war, die Gelegenheit auszunutzen und den Mann, der wie ein Akrobat nach unten turnte, »abzuschießen«. In mir regte sich das Gefühl, dass der Mann, dem sein Leben dadurch erhalten geblieben war, dass der getroffene Schlot nicht über ihm und mit ihm zusammenstürzte, dasselbe nun nicht durch Beschuss im großen Loch des Schlots verlieren sollte. Das wurde ohne irgendeine Absprache zur allgemeinen Auffassung auf unserer Seite – niemand suchte dem Überlebenden bei dieser Gelegenheit das Leben zu nehmen. Man schoss nicht auf ihn und ließ ihn weiter hinunterklettern. Der folgende Tag brachte neue Überraschungen, welche den Ernst des Krieges mit voller Wucht vergegenwärtigten. Ohne dass es für uns beobachtbar gewesen wäre, hatten sich auf dem Weg über die weitläufigen Anlagen der Ziegelei sowjetische Panzer an die Front herangeschoben. Sie wurden nun wohl versteckt im Ziegelwerk gewartet und für einen Angriff einsatzfähig gemacht. Wahrscheinlich plante der Gegner, mit den Panzern unsere Stellung am Damm zu durchbrechen und, die Lücke nutzend, bis zur Drau vorzustoßen. Südlich von der Drau war ja der Rückzugsprozess der Regimenter unserer Heeresgruppe nach Westen voll im Gang. Und diesen Rückfluss wollten die Sowjets stören. Die Defensivbewegung der deutschen Armee sollte sich in das Chaos einer Flucht verwandeln. Der Durchbruch bei unserer Stellung wäre dann der Auftakt für die Sowjets, die Drau von Norden her auf breiter Front zu erreichen und sie zu überschreiten, um so die deutsche Balkanarmee in größte Bedrängnis zu bringen. Die Geräusche des Aufwärmens der schweren Motoren der sowjetischen T34-Panzer dauerten mehrere Stunden und waren die ganze Nacht hindurch zu hören. Auf unserer Seite, auch in meiner unmittelbaren Umgebung, war es verständlicherweise für niemanden möglich, Schlaf zu finden. Wir hatten damals weder Panzerbüchsen noch Panzerfäuste zur Verfügung und waren den T-34 gegenüber so gut wie völlig wehrlos. Wie würden wir uns über den kommenden Tag hinweg retten können  ? Das war die Frage, die sich alle in unserem Frontabschnitt stellten, während die Panzer unten im Ziegelwerk in Ruhe weiter »aufwärmten«. Da mit Spähtrupps von Feindseite zu rechnen war, welche die 173

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besten Durchbruchspunkte bei uns erkunden sollten, war auch zusätzlich erhöhte Wachsamkeit geboten. Nicht unweit von mir hatte der Schütze Koethe die Funktion eines solchen Wachpostens übernommen. Die Schwierigkeit bei all dem war, dass zum grundsätzlichen Verteidigungsbefehl zusätzlich das deutliche Verbot erlassen worden war, mit irgendeiner Waffe von unserer Seite das Feuer zu eröffnen. Was sollte Koethe also tun, sollte sich ein Spähtrupp zeigen  ? Koethe war ein groß gewachsener und mit großer Körperstärke ausgestatteter junger, höchstens 23-jähriger Sohn einer Bauernfamilie mit viel Grundbesitz in Ostpommern. Wenn ein starker Mann in Feld, Wald oder Haus gebraucht wurde, dann suchte man nach Koethe. Der konnte dann etwas heben oder schieben, das keine zwei Mann sonst gemeinsam zu bewegen imstande gewesen wären. Er wurde von allen ­immer nur Koethe, nie beim Vornamen genannt. Daran waren alle gewohnt. Koethe war trotz seiner enormen Körperkräfte kein grober Mensch, auch wenn er starke Worte gebrauchte. Vor allem fluchte er gegen den Krieg und gegen Hitler, den er für die Katastrophe, die nun für uns heraufzog, voll verantwortlich machte. In der Nacht kam es zu einem Zwischenfall, der sich in meiner Nähe abspielte, wo Koethe Wache hielt. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wie sich das Geschehen vorbereitete. Ein feindlicher Späher schob sich mit großem Geschick auf dem Bauch kriechend und so gut wie unhörbar an unsere Stellung heran. Ich konnte ihn sehen, eröffnete aber, wie der ausdrückliche Befehl gelautet hatte, kein Feuer auf ihn. Der Mann war mit Handgranaten geradezu beladen. Wann würde er sie zünden und mit ihrer Hilfe gleich mehrere Mann von uns in den Tod reißen  ? Sollte der Befehl wirklich befolgt werden, um keinen Preis ein Gefecht zu eröffnen  ? Ich war einen Moment ratlos und verhielt mich auch so. Was würde Koethe tun, in dessen unmittelbarer Nähe der wie ein Reptil kriechende Gegner sich mit seiner tödlichen Ausrüstung annäherte  ? Um keinerlei Licht zu reflektieren, trug der Sowjetsoldat keinen Stahlhelm. Gerade als mir dies auffiel – der Mann hatte wie viele seiner Kameraden den Schädel kahl geschoren –, sprang Koethe unvermutet in die Höhe. Das war gegen jede Vorsicht. Und was plante er  ? Ich wusste es nicht. Plötzlich riss er sich den am Koppel über dem Gesäß befestigten Spaten heraus, den jeder Soldat griffbereit hatte, um sich in irgendeiner Position zur Verteidigung »einzugraben«. Aber Koethe tat etwas ganz anderes und völlig Unerwartetes. Er fasste den Spaten mit beiden Händen und tat das Schreckliche. Er hob das Werkzeug über den eigenen Kopf empor und verwendete es als Waffe. Koethe spaltete mit dem niedersausenden Spaten den Schädel des auf dem Boden herangekrochenen so174

Im Bann des Ziegelwerks

wjetischen Spähers. Zu hören war kein Laut. Der am Boden liegende Mann war sofort tot. Er floss Blut aus dem getroffenen Schädel in die feuchte Erde des Dammes. Ohne einen Augenblick zu zögern, löste Koethe die sowjetischen Handgranaten vom Körper des Toten. Hätte der Sowjetsoldat diese Handgranaten wenig später gezündet und auf uns geworfen, hätte er damit die ganze Gruppe vernichtet. So war er selber Opfer des unerwarteten Kampfes geworden. Nur wenige Minuten später kam durch Funkspruch der Befehl, dass das ganze Regiment sich so rasch und unauffällig wie möglich an die Drau zurückzuziehen und sich nach deren Überschreitung hinter dem Fluss zu positionieren hätte. Angesichts der T-34-Panzer in der Senke war das zweifellos die beste Lösung für uns alle. Sie sollte sich auch für die nächsten Tage als eine kluge Entscheidung erweisen. Der Tote blieb liegen. War er nicht auch dort eingezogen, wie es viel später eine russische Politikerin aus Wolgograd (ehemals Stalingrad) über die Gefallenen nach dem Krieg gesagt hatte  : ins »ewige Himmelreich«  ? Wir, die bisher noch vom Tod Verschonten, rückten in die befohlene Richtung ab.

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13. Flucht vor der Panzerbüchse und Rückkehr um der Ehre willen In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs begann eine Waffe zum Einsatz zu kommen, die tragbar war, aber aufgrund ihrer speziellen Konstruktion und Munition die Panzerung der leichten und mittelschweren Kettenfahrzeuge durchschlagen konnte. Die Waffe wurde allgemein Panzerbüchse genannt. Im Frühjahr 1945 wurde ich mit der Wirkung dieser Panzerbüchse bekannt, nicht als deren Schütze, sondern als jemand, der vor ihren enormen Wirkungen im Infanteriekampf Deckung zu suchen und Hilfe zu leisten bemüht war. Bei dem ganz bestimmten Einsatz, über den ich hier berichten will, wurden die Räder in der Hauptstellung aneinander gelehnt dort zurückgelassen. Der Radfahrzug wurde diesmal ohne Räder dazu eingesetzt, eine vorgeschobene Stellung zu beziehen. Dadurch sollten unerwartete Überfälle auch von größeren Feindeinheiten rechtzeitig gemeldet und wenn möglich abgefangen werden. Ein Entfaltungsraum für den Feind und seinen Angriff sollte verhindert werden. Eine Seite war es, dafür einen Plan auszuhecken, eine andere allerdings, ihn erfolgreich auszuführen. Wir, mein Freund und MG-Schütze Alfons und ich als Schütze zwei, hatten die Ausführung zu leisten. Die Hauptstellung des Regiments war durch ein Netzwerk von einzelnen Stellungen und Laufgräben wohlüberlegt zur Verteidigung ausgebaut worden. Für die befohlene vorgeschobene Auffangstellung, die der Radfahrzug beziehen sollte, waren allerdings keinerlei Vorkehrungen getroffen worden. Sollten wir, um die Bedingungen für einen allfälligen Angriff des Gegners gleichsam vorzutesten, auf das Feindfeuer kontinuierlich reagieren und durch eigenes Feuer den Gegner irritieren  ? Oder sollten wir eigene Stellungen für den zu erwartenden Angriff möglichst in Ruhe ausbauen  ? Das waren die Fragen. Und niemand gab präzise Befehle. Zur letzteren Variante kam es gar nicht, da der Feind mit Stoßtrupps uns zur Aufmerksamkeit zwang. Mehr als Schützenlöcher auszuheben, die notdürftig Schutz boten, gelang gar nicht. Was uns ein wenig entgegenkam, das war, dass in dem von uns besetzten Gelände sich einige verlassene hölzerne Stallungen und Scheunen befanden. Sie boten ein wenig Sichtschutz in dem ebenen Gelände. Wo die Wände dieser Holzbauten noch gut erhalten waren, fand man auch Deckung gegenüber dem Feuer von Karabinern und MGs. 176

Flucht vor der Panzerbüchse und Rückkehr um der Ehre willen

In der Mitte des uns zur Verteidigung übertragenen Abschnitts wählten der MG-Schütze Alfons und ich als sein Helfer eine relativ stabile Scheune, in der wir unser MG aufbauen konnten. Wir wurden allerdings bald darauf ziemlich heftig unter Beschuss genommen. Es war ein nasskaltes Wetter, sodass der Aufenthalt im Schützenloch den ganzen Körper frieren ließ. Aber es war selbstverständlich, der Sicherheit vor einem wärmeren Aufenthaltsort Vorrang zu geben. Zu all dem kam plötzlich eine große Überraschung hinzu. Die kleinen Gruppen mit je einem Maschinengewehr links und rechts von uns begannen in der beginnenden Dämmerung ihre improvisierten Stellungen abzubauen und verschwanden bei Einbruch der Dunkelheit ohne Mitteilung an Alfons und mich nach hinten in Richtung auf die Hauptstellung. Wer hatte da welche Befehle gegeben und warum waren wir davon nicht in Kenntnis gesetzt worden  ? So sehr war Alfons, ein hervorragender Schütze, mit seiner Waffe und dem immer wieder erneuten Schusswechsel befasst, dass ihm diese Veränderung gar nicht aufgefallen war. Mir wurde die nunmehr vergrößerte Bedrohung allerdings deutlich bewusst. Ganz unerwartet erfolgte dann eine weitere Verschärfung der Bedrohung. Eine Explosion in unmittelbarer Nähe riss einen Teil unserer Scheune zu Boden, ähnlich der Wirkung einer Bombe. Meine Deckung wurde dadurch ganz und gar zunichte gemacht, sodass ich so rasch wie möglich unter Mitnahme meines Karabiners in dem nassen Erdloch zu verschwinden hatte, wollte ich nicht mein Leben aufs Spiel setzen. »Die Hunde haben eine Panzerbüchse«, schrie Alfons zu mir herüber. Er sollte recht behalten. Die benachbarte, inzwischen von unserer Truppe, wie ich gerade bemerkt hatte, verlassene Scheune, krachte aufgrund des Beschusses durch die Panzerbüchse vollends zusammen. Es blieben nur Stummeln der Holzpfosten stehen. Auf mich wirkte der Beschuss durch die Panzerbüchse und die Explosion ihrer Granaten außerordentlich entmutigend. Ich zog mich in mein Erdloch zurück. Am Morgen gab es zwei oder drei weitere Explosionen aus den Geschossen dieser für mich grauenvollen Waffe. Ich hatte die Sorge, demnächst von einem solchen Geschoss zerfetzt zu werden. Dazu kam noch, dass nach dem Abzug der kleineren Gruppen, die uns umgeben hatten, in der Nacht kein Essen mehr nach vorn gebracht wurde, was sonst die Regel gewesen war. Man stand hungrig und frierend vor dem Ende. Es war der Moment vor der Vernichtung. In dieser Situation begann mich die Angst zu überwältigen. Diese Angst ließ mich fast ohne Überlegung die Stellung plötzlich verlassen und nach hinten aufbrechen, sodass ich mit geschultertem Karabiner über die leere, weite Fläche in Richtung auf unsere Hauptstel177

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lung zu laufen begann. Zwar schoss die Panzerbüchse nicht direkt auf mich als einzelnen Fliehenden, aber ich hatte durch feindlichen MG-Beschuss zu laufen, ohne jegliches unterstützendes Feuer von der eigenen Seite. Ich lief, so schnell ich konnte, rutschte auf dem nassen Boden aus, rappelte mich auf und rannte, von der Angst getrieben, weiter auf die eigene Stellung zu. Dort angelangt, ließ ich mich in den Schützengraben der Verteidigungslinie fallen, ganz in die Nähe einer Gruppe von Offizieren, von denen einer mit Verbänden an den Beinen aufgestützt auf einer Tragbahre saß. Der Verwundete war der Bataillonskommandeur, den ich früher einmal kennengelernt hatte. Als ich, völlig entgeistert, in den Graben hineinrutschte und er sah, wie ich als Einzelner ankam, schrie er mich an  : »Sind Sie stiften gegangen ?« Der nächste Augenblick würde über mein weiteres Schicksal entscheiden. Als Soldat auf der Flucht würde ich, so ungünstig und gefährlich auch die Situation einer Einheit sein mochte, vor das Kriegsgericht kommen. Ich würde zu einem Dienst in einer Strafkompanie abkommandiert werden, bei deren Einsätzen das Überleben auf eine Wahrscheinlichkeit von praktisch null reduziert wurde. Wer zu einer Strafkompanie abkommandiert wurde, der kehrte von dort kaum mehr zurück. »Nein, Herr Oberleutnant«, schrie ich zurück und ergänzte sogleich  : »Ich komme Munition holen.« – »Dann gebt ihm zwei Kisten«, rief der Offizier. Er war offenbar vom neuesten Stand der vorgeschobenen Truppe nicht informiert worden. Er wusste anscheinend auch nicht, dass die Mehrzahl der Leute, die mit Alfons und mir vorn gewesen waren, sich nach hinten abgesetzt hatte. Irgendein Gefreiter des Bataillonsstabs kam mit zwei vollgefüllten und dadurch auch extrem schweren Munitionskisten daher. Mir blieb nun nichts anderes übrig, als die Kisten zu packen und mich mit ihnen mühsam aus dem Graben der Stellung herauszuarbeiten. Ich war also dabei, die Beschämung über meine gerade erfolgte Flucht wettzumachen. Niemand hatte ja klar erkannt, dass ich aus der bedrohten Stellung davongelaufen war. Ich war nun bei meinem Versuch der Rückkehr nach vorn zum Zickzacklauf gezwungen und musste mich samt den Munitionskisten immer wieder hinwerfen, um nicht einfach abgeschossen zu werden. Vielleicht hatte man die Absicht erkannt, dass da jemand im Sinne einer Verstärkung unterwegs war. Die plötzliche Abwechslung von Laufen und Sichhinwerfen, Aufrappeln samt den schweren Munitionskisten und Weiterlaufen hatte eine erschöpfende Wirkung. Aber auf dem Weg über die nasse und aufgeweichte Wiese sich auszuruhen, hätte die Wahrscheinlichkeit, das Leben zu verlieren und für immer dort liegen zu bleiben, deutlich erhöht. Es war ohnehin ständig ein Laufen am Rande des Todes und geradezu unwahrscheinlich, von diesem Tod dabei nicht 178

Flucht vor der Panzerbüchse und Rückkehr um der Ehre willen

geschnappt zu werden. Dann wäre auch diese Geschichte nicht geschrieben worden. So aber kann das merkwürdige Ende dieser Geschichte einer Rückkehr noch rasch erzählt werden. Es entstand der Rhythmus des hakenschlagenden Rennens, Sich Niederwerfens, Sich-wieder-Aufraffens und stückweisen Weiterlaufens. Zu meiner Überraschung schwieg die Panzerbüchse. War ein einziger Feindsoldat den Sowjets die Munition nicht wert oder war diese dem Gegner ausgegangen  ? Ich rannte bei dieser Rückkehraktion aber durch das feindliche Maschinengewehrfeuer. Schließlich erreichte ich die Reste der Scheunen und bald darauf auch Alfons, der mich mit dem Satz begrüßte  : »Gerade noch rechtzeitig  !« Es war ihm nur mehr ganz wenig Munition geblieben. Und dann  ? Überraschenderweise hatte das Feindfeuer abgenommen. Was war da drüben wohl vorgegangen  ? Das war ja eine Frage, die man sich, besonders bei geringem Abstand der Frontlinien im Krieg, immer wieder stellte. Aufgrund der von mir herangeschleppten Munition begann Alfons auf die verschiedenen Punkte, an denen er in Stellung gegangene Schützen des Feindes wahrnehmen konnte, ein konzentriertes und massives Feuer zu eröffnen. Es kam aber kaum Antwort von dort. Umso intensiver suchte Alfons seine Feuerkraft unter Beweis zu stellen. Munition war ja durch die Beschaffung von meiner Seite nun genug vorhanden. Schließlich konnten wir Bewegung bei der feindlichen Truppe uns gegenüber beobachten. Sie schien sich aus ihrer Stellung in den hinter ihr gelegenen Wald zurückzuziehen. War das nur eine Korrektur ihrer Stellung oder überhaupt ein Abzug in eine andere Position  ? Es schien dem Feind nicht mehr wie bisher an einer Kontrolle des relativ weiten, offenen Raums zwischen unserer Hauptstellung und ihm gelegen zu sein. Sollte von einem anderen Bereich her angegriffen werden  ? Das war weder zu sehen noch realistisch zu folgern. Klar war aber, dass die feindliche Truppe sich seitlich abzusetzen begann. Da der Waldrand, wohin sich die sowjetische Infanterie zurückzog, immer wieder von uns einsehbar war, versäumte es Alfons nicht, sein Feuer gerade dorthin zu richten. Ich saß mit meinem Karabiner im Schützenloch und war nach der Rückkehr zu Alfons eher passiv verblieben. Nun aber, als der Feind sich abzusetzen begann, erwachte in mir so etwas wie das Gefühl von Rache. Ich konnte deutlich wahrnehmen, wie sich die Soldaten der Gegenseite von uns aus gesehen nach rechts am Waldrand zurückzogen, wo sie genug Sichtschutz zu haben glaubten. Das geschah ja, wenn auch in lockerer Formation, in Gruppen von zehn oder 15 Mann. Es begann mich eine Art Wut zu erfassen. Es war das einzige Mal im Krieg, dass ich auf Flüchtende schoss. Ich hatte immer wieder zur Verteidigung 179

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auf Angreifer geschossen, nie aber auf solche, die flüchteten oder sich zurückzogen. Was war es, das mich diesmal dazu brachte  ? Ich wollte mich in gewisser Weise dafür rächen, dass man mich so sehr in die Angst getrieben hatte, dass ich meinen Posten verlassen und die Flucht nach hinten angetreten hatte. Diejenigen, die mich dazu gebracht hatten, sollten dies nun büßen. Ich sah, dass die gegnerischen Soldaten zu laufen begannen, es wurde allerdings keiner von ihnen in einer der Waldlücken von mir so getroffen, dass er gestürzt und liegen geblieben wäre. Einerseits fasste ich dies als Misserfolg auf, anderseits aber war ich froh darüber. Alfons und ich hatten es bewirkt, oder hatten wenigstens dazu beigetragen, dass der Gegner abrückte. Später erfuhr ich, dass der Oberleutnant nach der Frage an mich, ob ich »stiften gegangen sei«, von Sanitätern auf den Hauptverbandsplatz gebracht und vermutlich mit einem Verwundetentransport in die Heimat ausgeflogen worden war. In den letzten Kriegsjahren wurden besonders die Offiziere knapp, sodass man große Bemühungen unternahm, die Verwundeten unter ihnen sobald als möglich wieder kampffähig zu machen, um sie erneut an irgendeiner der Fronten zum Einsatz zu bringen. Nachdem Alfons und ich als die letzten beiden Soldaten der vorgeschobenen Verteidigung kämpferisch tätig, wohl wegen der prekären Position neben der zusammengeschossenen Scheune, aber auch zwei Tage ohne nächtlich zugetragene Verpflegung geblieben waren, änderte sich die Lage. Es kam in der Nacht sowohl etwas Kommissbrot als auch kalte Suppe zusammen mit dem Befehl, uns noch während der Nacht auf die Hauptkampflinie zurückzuziehen. Wir folgten dem Befehl so schnell wie möglich noch im ersten Teil der Nacht. Die Dunkelheit bot uns durch das schlechte Wetter und den wolkenverhangenen Himmel genug Schutz, um ohne Feindbeschuss die Schützengräben der Hauptkampflinie zu erreichen. In einer Windung des Grabens konnten wir, in je eine Zeltplane eingehüllt, sogar bis zum Morgengrauen noch etwas Schlaf finden. Niemand interessierte sich allerdings dafür, wie wir beide es geschafft hatten, genug Munition nach vorn zu bringen, um durch das Feuer von Alfons den allenfalls beabsichtigten Feindangriff zu verhindern. Es gab von keiner Seite, weder von den Kameraden noch den Vorgesetzten, ein Wort der Anerkennung. Mich störte das im Grunde nicht. Aber Alfons, der eigentliche Held des Unternehmens, dem es gelungen war, seine Stellung zu halten, hätte unbedingt Anerkennung verdient. Es waren alle so sehr mit dem jeweils eigenen Überleben beschäftigt, dass von unserer Einheit, selbst in der Sicherheit des Schützengrabens, niemand bemüht war, uns überhaupt wahrzunehmen. 180

Flucht vor der Panzerbüchse und Rückkehr um der Ehre willen

Da der Tag aufgrund des Rückzugs bzw. der Umverlagerung der gegnerischen Truppe ohne Gefecht verblieb, waren alle bemüht, zerrissene Kleidung zu flicken oder Schuhe zu reparieren. Wer oder was gefragt war, das waren Schuster und Schneider und endlich eine warme Suppe direkt aus dem Kessel der Feldküche. Als ich diesen Text zu schreiben begann, kamen verständlicherweise mit Macht die moralischen Fragen meines Verhaltens fast wie eine Spätphase des Gefechts selber auf mich zu. Warum hatte ich nicht, ehe ich – um in der Ausdrucksweise des verwundeten Oberleutnants zu bleiben – »stiften« gegangen war, mich mit dem getreuen Kameraden Alfons verständigt und ihm mitgeteilt, dass ihm nun die Hilfskraft fehlen würde. Rückblickend ist für mich die Panik, die zum Davonlaufen führte, aus den Umständen vielleicht noch verständlich zu machen. Man kann meine Flucht aus der Stellung aus meiner plötzlich einsetzenden Todesangst erklären und sie mit Mühe und Not so verständlich machen, nicht aber das Versäumnis, den Freund und Einzelkämpfer Alfons ohne Warnung zurückzulassen. Alfons war sich, wie ich es nach meiner Rückkehr mit den Munitionskästen hatte erkennen können, in der »Hitze des Gefechts« meiner Abwesenheit gar nicht bewusst geworden. So eben war Alfons, wenn er sein Ziel klar vor Augen hatte. Er verfolgte seine Ziele meist ohne zwischendurch eingeschaltete Kontrollen. Seine Begrüßungsformel, dass es höchste Zeit gewesen sei, ihm Munition zu bringen, ließ erkennen, dass er all sein Denken für die Fortsetzung des Kampfes eingesetzt hatte, wie die Helden der alten griechischen Sagen. Davonlaufen war für Alfons nie eine Alternative gewesen. Schließlich musste er sein kühnes und entschlossenes Leben lassen. Im Grunde verurteile ich rückblickend meine in der Todesangst erfolgte Entscheidung, aus der Situation wegzulaufen, auch deswegen, weil ich diese Entscheidung mit dem Kameraden nicht abgesprochen hatte. Mir hatte die Angst ins Genick gegriffen. Ich hatte dem Griff gegenüber nicht standgehalten. Durch die Lüge, ich sei gekommen, Munition zu holen, erkaufte ich mir fernere Überlebenschancen, konnte ich doch so vermeiden, vors Kriegsgericht gestellt zu werden. Anderseits erwarb ich mir durch die Rückkehr Selbstachtung. Ich war bereit, für sie mein Leben einzusetzen. Rückblickend kann ich es als einen »Glücksfall« bezeichnen, dass es mich bei dem Zurücklaufen durch die große, vom Feind eingesehene und entsprechend beschossene Wiese nicht »erwischt« hatte. Es ist mir bis heute rätselhaft, dass ich angesichts des intensiven und gut gezielten Feuers nicht getroffen wurde. Es bleibt auch das Warum des Verschontbleibens rätselhaft. Wer hätte mich, wäre ich bei meinem Zurückstür181

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men in die Stellung mit den Munitionskästen verwundet worden, gesehen oder gar retten können oder wollen  ? Es bleibt für mich an diesem Erlebnis eine gewisse Genugtuung, dass ich, nachdem ich davongelaufen war, mich zu einer Rückkehr mit allen damit verbundenen Gefahren aufzuraffen vermocht hatte. So muss ich mich im eigenen Gedächtnis nicht als einen Davongelaufenen ansehen. Ich glaube auch nicht, dass ich, als ich, in Todesgefahr und mir ihrer bewusst, über die Wiese zurück in unsere Stellung lief, um das vorherige Davonlaufen zu korrigieren, im vollen Sinne des Wortes tapfer war. Es war im Grunde die Handlung einer Selbstkorrektur. Ich bin heute damit zufrieden, dass ich damals diese Korrektur zu leben wagte und dabei überleben konnte.

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14. Duell der Scharfschützen

Genugtuung gab es keine, als wir wieder, nach dem Ende der wenig erfolgreichen Aktion am nördlichen Ufer der Drau, an deren südliches Ufer bei der Ortschaft Bolman zurückgenommen wurden. Da gruben wir, Alfons und ich, in der ersten Nacht jeder sein eigenes Schützenloch. Ohne diese Deckung hätte man uns in der neuen, vom Feind stark eingesehenen Stellung, die wir zu beziehen hatten, glattweg abgeschossen. Wir lagen hinter einem etwa eineinhalb Meter hohen Damm, auf dem ein Fahrweg angelegt war. Soweit ich es damals ermessen konnte, diente der Damm weniger zum Schutz vor Überschwemmungen, sondern eher dazu, bei Hochwasser für bespannte Fahrzeuge die Durchfahrt durch das überschwemmte Gebiet zu ermöglichen. Von diesem Damm war es nicht weit bis zum Ufer des Stroms. Aber das Ufer der Drau war für uns nun nicht erreichbar. Am Vortag hatten Einheiten der sowjetischen Armee, ähnlich wie unser Regiment wenige Wochen vorher nach Norden, an einer kaum bewachten Stelle nach Süden über den Strom gesetzt. Den Sowjets war es dabei gelungen, einen kleinen Brückenkopf zu bilden.* Es sah vorerst nicht danach aus, dass sich aus diesem Positionsgewinn des Feindes, auch wenn er unsere Verteidigung am Ufer verunsicherte, eine neue taktische Situation herausbilden würde. Die Sowjets waren inzwischen schon bis zum ungarischen Plattensee vorgestoßen, während wir südlich der Drau viel weiter östlich uns bemühten, Stellungen zu halten. Die Einheit, der ich angehörte, die für Sonderaufgaben von taktischer Bedeutung eingesetzt wurde, dirigierte man an die Einbruchstelle, die durch den sowjetischen Brückenkopf entstanden war. Wir erhielten den Befehl, den dort entstandenen feindlichen Brückenkopf abzuschnüren und dessen Erweiterung um jeden Preis zu verhindern. Noch war die vom Feind gewonnene Uferfläche zu klein, um es ihm zu ermöglichen, schwere Waffen oder eine größere Gruppe von sowjetischer Mannschaft auf die Südseite der Drau herüberzuholen. Der Feind merkte, dass ihm ernsthafter Widerstand entgegengesetzt wurde. So gruben sich die sowjetischen * Aus dem Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, hg. von Percy Ernst Schramm, dtv Dokumente, Lagebuch vom 19. 2. 1945, S. 191.

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Soldaten auch vorsichtshalber für einen Stellungskrieg ein. Sie wollten nicht riskieren, mit dem Rücken gegen die Drau abgedrängt zu werden, die sie ja erst kürzlich überschritten hatten, um den Brückenkopf zu bilden. Als wir unsere Stellung bezogen und uns eingruben, war uns gegenüber eine ausgebaute Stellung bereits vorhanden. Es galt vor allem, das Gleichgewicht zu erhalten. Durch vorsichtige Feindbeobachtungen konnten wir unschwer erkennen, dass von seinen Mannen heftig daran gearbeitet wurde, um zusätzlich Gräben und Bunker unweit des Ufers der Drau zu schaffen. Die Befestigungen des Gegners sollten als Voraussetzungen für eine spätere Verstärkung des Brückenkopfs dienen und ihn als Basis für einen Ausbruch ausgestalten. Was unsere kleine Einheit anlangte, hatten wir diesen Vorbereitungen des Feindes gegenüber keinerlei Rückendeckung zu erwarten. Von Reservemannschaften, von Granatwerfern oder Artillerie, die unsere Verteidigung hätten unterstützen können, war in unserer jetzigen Position keine Rede. Bei dem hastigen Rückzug über den Fluss, den wir zuerst im Angriff überschritten hatten, war viel Kriegsmaterial und Munition verloren gegangen. Ob unsere regionale Kriegsführung irgendeinen Plan hatte, konnten wir bei unserem Versuch, den feindlichen Brückenkopf abzuschnüren, nicht erkennen. Informationen erhielten wir durch die kurzen Gespräche mit den Essensbringern, die uns im Schutz der Nacht kalte Brühe und Kommissbrot in die nassen, lehmigen Löcher nach vorn brachten, in denen wir Tag und Nacht frierend hockten. Die von uns etwa zweihundert Meter entfernten feindlichen Truppen waren mehr auf interne Sicherung durch Bauarbeiten bedacht denn auf Scharmützel. So verliefen die ersten Tage relativ ruhig. Es fielen nur einzelne Schüsse. Da und dort klatschte eine Maschinengewehrsalve in das nasse Erdreich vor oder hinter unseren Löchern. Aber eines Morgens begann sich plötzlich das Feuer von drüben zu verstärken. Es war deutlich, dass dies mit Methode geschah. Allem Anschein nach stand zwar nicht unmittelbar ein größerer Angriff bevor, aber das gegnerische Feuer sollte uns aus der Reserve locken. Man wollte uns dazu veranlassen, unsere Positionen und unsere Stärke zu verraten. Eine solche Vorkenntnis, so folgerten wir, würde der Gegner schließlich dazu nutzen, um mit seinen im Schutz der Nacht einmal herangeführten stärkeren Kräften und vielleicht sogar schweren Waffen einen Angriff gegen unsere Stellungen zu wagen. So würde es ihm gelingen, uns zurückzuwerfen und die für ihn, den Gegner, dringend nötige Erweiterung des Brückenkopfes zu erkämpfen. Es kam zu einer Unruhe oder, in der technischen, an Zynismus grenzenden Sprache der Kriegsführung, zur »Belebung« des Feuers. Der Feind schien uns 184

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gegenüber deswegen im Vorteil, weil er seine Munition reichhaltig überzusetzen vermocht hatte, um sie für diese »Belebung« des Feuers großzügig einzusetzen. Aber es war nicht nur die Feuerverstärkung, die sich uns in den Schützenlöchern als Überraschung darbot. Es war auch ein spezielles Element, das uns zu bedrohen begann  : nämlich die Scharfschützen. Die Sowjets verfügten über solche hervorragend ausgebildeten Spezialisten. Sie wurden immer dann eingesetzt, wenn die Bewegungsfähigkeit des Gegners entscheidend eingeschränkt werden sollte. In der Tat war es in dem kleinen, uns überschaubaren und verständlichem Abschnitt der Front, welcher der Einschnürung des feindlichen Brückenkopfes dienen sollte, so gut wie unmöglich, sich am Tag überhaupt außerhalb der Deckung zu bewegen. Schon ein kurzes Sichhinausstrecken aus dem Schützenloch konnte tödlich sein. Durch die Scharfschützen übte der Krieg eine zusätzliche Art von Terror aus. Alfons, überlegt und im Kriegshandwerk erfahren, suchte sich des Gegners zu vergewissern. Er zog meinen Karabiner zu sich herüber, steckte oben seine Mütze drauf und hob die Mütze langsam über die Deckung hinauf. Im nächsten Augenblick pfiff ein Schuss herüber, Alfons zog die Mütze ein. Sie war durchschossen. Er lächelte zufrieden. »Wir werden es ihm geben«, sagte er. Dann nahm er seinen Stahlhelm ab, was er nur selten tat, und stellte sein MG auf Einzelfeuer ein. Das war die Kampfansage an den Scharfschützen. Plötzlich fuhr er blitzschnell hoch und schoss. Kurz darauf pfiff es zur Antwort haarscharf über unsere Köpfe dahin. So begann ein Duell zwischen Alfons und dem russischen Scharfschützen. Ich warnte Alfons. Sowjetische Scharfschützen hatten ein Zielfernrohr auf ihrem Spezialkarabiner montiert, was ihnen eine hohe Zielgenauigkeit ermöglichte. Alfons hatte nur seine Augen und eine viel schwerfälligere Waffe, das MG. Alfons und sein Feind bekämpften einander hartnäckig über nur wenige hundert Meter hinweg. Ich suchte Alfons zu beschwichtigen und von dem begonnenen Kampf Mann gegen Mann abzuhalten. Er aber war in Erregung geraten. Den Mund fest zusammengebissen, duellierte er sich mit dem Gegner. Schuss, Kopf hinunter, warten. Langsames Hochgehen, Schuss. Als ich einmal ganz vorsichtig über die Deckung lugte, erhaschte ich einen Blick vom Gegner. Er trug keinerlei Kopfbedeckung. Ich sah einen nackten, kahl geschorenen Schädel. Der Mann konnte noch nicht lange im Einsatz sein, so kahl war der Kopf. Mich packte das Grauen. Der nackte Schädel wirkte bedrohlich, wie eine frische Kraft. Alfons hatte alles um sich herum vergessen. Für ihn gab es nur diesen nackten Schädel, den er treffen wollte. Immer wieder peitschten Schüsse ganz knapp 185

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über unsere hinter die Deckung zurückgezogenen Köpfe in das nasse Erdreich. Ich suchte mit Alfons zu besprechen, wie wir uns beide im Feuer gegen den Scharfschützen abwechseln sollten. »Lass mich«, sagte er, »den krieg ich allein.« Wieder  : Kopf hoch, Schuss und Kopf in Deckung. Alfons fluchte. Er hatte den Gegner, schien es, nur um weniges verfehlt. Wieder Schüsse. Die Erde spritzte auf uns. Alfons war weit vornübergelehnt. Im nächsten Augenblick würde er wieder das kleine Stück hochfahren und schießen. »Alfons  !« Irgendetwas kam mir sonderbar vor. Er gab keine Antwort. Er lehnte ganz fest am Maschinengewehr, den Kopf vorne übergeneigt. In den nächsten Augenblicken würde er wieder schießen. Ich schob mich an ihn heran. Er blieb ganz still. Da sah ich, dass seine Stirne genau in der Mitte ein Loch hatte. »Alfons  !« Aus seinem Mund floss irgendetwas heraus. Ich zog Alfons am Arm zu mir he­ rüber, sein Körper schlug schwer auf. Er war tot. Es war gegen Abend. Mit schwindendem Licht wurde es plötzlich still in unserem kleinen Frontabschnitt. Der Tod von Alfons war für mich völlig unfassbar. Gerade Alfons war mir unverwundbar erschienen. Ich war ratlos. Sollte ich das Maschinengewehr übernehmen und versuchen, Alfons zu rächen  ? Der tote Alfons lag neben mir in dem feuchten Loch. Ich musste auf jeden Fall den Einbruch der Dunkelheit abwarten. Der Versuch, Alfons zu rächen, hätte bei Tageslicht meinen Tod bedeutet. Der Tötungsexperte im anderen Lager hätte mir keine Chance gelassen. Die Dämmerung fiel schnell herab. Kaum war es dunkel, tauchten zwei der Unsrigen von hinten auf, die sonst das Essen brachten. Sie hatten keine Verpflegung dabei, brachten aber eine Nachricht  : »Wir gehen zurück.« Ich hatte das nicht erwartet. Das musste Gründe haben, die außerhalb unseres kleinen überschaubaren Frontabschnittes lagen. Wie sich später herausstellte, kam es tatsächlich zu dem geplanten »Absetzen vom Feind«. Bei diesem nunmehr beginnenden Rückzug hatte ich das MG zu bergen. Ich konnte aber nicht sowohl das MG als auch den gefallenen Alfons zurückschleppen. So brachte ich die beiden Essenträger dazu, das MG und die Munition zurückzubringen. Dann hängte ich mir den Karabiner und alles, was dazugehörte um, packte den Leichnam bei den Füßen und begann ihn über den nassen Boden zurückzuschleifen. Ich merkte, wie schwer er war. Ich konnte schon absehen, dass ich das nicht lange würde durchhalten können. Der Augenblick war nahe, dass ich den Leichnam des Freundes liegen lassen müsste. Ich schleppte ihn an einem verlassenen Gehöft vorbei. Da fand ich zu meiner 186

Duell der Scharfschützen

Überraschung einen Schubkarren. Ich zerrte Alfons so hinein, dass er wie in einem Lehnsessel zu sitzen kam. Es war schon so dunkel, dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Ich sah nur, dass ihm der Mund offenstand. Ich legte meinen Karabiner neben den Toten, drückte ihm die toten Augen zu und schloss seinen Mund mit den Fingern meiner beiden Hände. Und der Mund blieb geschlossen. Das war wie ein feierlicher Schmuck für den Gefallenen. Dann radelte ich auf einem Fahrweg mit Alfons im Schubkarren nach hinten. Es war ziemlich weit, bis ich zur Auffanglinie kam, die dort vom Pionierzug gebildet worden war. Ich traf auf Angehörige meiner Einheit und brachte den Schubkarren mit dem toten Alfons in eine Scheune. Dort sollten wir in Reserve bleiben, wir waren für die Nacht abgelöst. Ich fiel sofort in tiefen Schlaf. Aus unerfindlichem Grund stießen die Russen weder während der Nacht noch am folgenden Morgen nach. So konnten wir Alfons begraben. Es waren nur ein paar Mann, die, wie immer bei solchem Anlass, das Lied vom »Guten Kameraden« sangen. »… einen bessern find’st Du nit.« Wenn sonst bei der Bestattung von Gefallenen das Lied vom »Guten Kameraden« gesungen wurde, begleitete es Alfons auf seiner Mundharmonika. Meistens hatte er dabei gar keinen traurigen Ausdruck. Er spielte auch das Lied vom »Guten Kameraden« mit derselben Miene, mit der er überhaupt Musik spielte. So kam es mir vor, als wir Alfons begruben, dass ich ihn spielen hörte. Ich würde diese Erzählung am liebsten so stehen lassen, wie sie ist, ohne Erklärung, ohne Erläuterung. Ich sann oft nach über dieses ganz kleine Stück Kriegsgeschichte, von dem ich meine, dass es mir auferlegt ist, darüber zu berichten. Jetzt, 67 Jahre später, beginnen sich die Erlebnisse langsam zu entschlüsseln. Die Ringe, die ich um sie geschmiedet und sie damit wie in einer großen Kapsel über Jahrzehnte hindurch verschlossen hatte, lockerten sich nun. Nach dem Krieg erhielt ich einen Brief von Frau Pirker, ob ich etwas über den Tod ihres Sohnes wüsste, der ihr noch während des Krieges mitgeteilt worden sei. Sie kannte meinen Namen aus Feldpostbriefen von Alfons und hatte über eine Vermittlungsstelle meine Adresse ausgeforscht. Ich schrieb ihr viel und lange über Alfons, über sein Mundharmonikaspiel und wie er, wenn er etwas hatte, es auch zu teilen verstand. Über den Zweikampf mit dem Kahlschädel schrieb ich ihr nicht. Frau Pirker antwortete mir lang und erzählte von Alfons’ Kindheit, und sie schrieb, sie sei glücklich über meine Anteilnahme. Ich war, in den Jahren nach dem Krieg, hilflos gegenüber diesem sehr persönlichen Brief der Mutter des gefallenen Freundes. Ich suche immer noch, wenn auch auf ganz anderen Gebieten, etwas von dem Mut, den Alfons in sich trug, 187

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zu erwerben und hochzuhalten. Durch diesen Versuch der Selbstermutigung glaube ich, wenn auch auf einem anderen Gebiet als dem des Soldatseins, mich über den Tod hinweg ihm annähern zu können.

Für Alfons Pirker, erschossen unweit des Ufers der Drau vor ihrem Zusammenfluss mit der Donau im Frühjahr 1945 von einem sowjetischen Scharfschützen. Ich warnte, bat, ich wollte Dich behalten. Doch Du erlagst den eigenen Gewalten, gepresst in feuchte Erde mit der Waffe neben mir im Schützengraben. Ich hörte Dich nicht sterben. Kein Laut. Kein Atemhauch. Du fielst nur aus dem Lot heraus. Er hatte in die Stirne Dich getroffen, der Schuss von fremder Hand. Dein Kopf sank vorneüber, Du bist entschwunden, ins Geisterland hinüber. Ich glaube, dass ich Deinen Ruf aus vorvergangener Nacht verstehe  : »Endgültiges muss sein  !« Ich lasse jetzt auf mich mich ein, und bleibe dabei nicht allein. Mit Dir als mutigem Begleiter finde ich auch heute weiter. (geschrieben Frühjahr 1945)

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15. Auf dem Turm von Našice

Nach einem langgezogenen harten Winter, den wir in vielen verschiedenen Stellungen verbracht hatten, war im Frühjahr 1945 all unsere Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges gerichtet. Ostern war schon vorbei, die Balkan­ armee – oder was davon übrig geblieben war – zog sich zurück, durchmischt mit einem Strom von zivilen Flüchtlingen, meist volksdeutschen Bauern mit einem kleinen Teil ihrer Habe. Viele dieser Bauern stammten aus jahrhundertealten, teils geschlossenen deutschsprachigen Siedlungsgebieten in Kroatien oder Rumänien. Während dieser Strom von Panjewagen mit übermüdeten Pferden oder Maultieren ohne Unterbrechung weiterzog, lagen wir Soldaten tagsüber in oft nur sehr behelfsmäßigen Stellungen. Des Nachts waren wir unterwegs, um uns vom Feind zu lösen. Es waren dies stundenlange nächtliche Märsche, bei denen schwere Lasten zu tragen oder auf Karren zu schieben waren. Viele Zugtiere waren verendet, von Splittern des Artilleriebeschusses getroffen oder von Bordkanonen der Tiefflieger getötet worden. Pferde oder Maultiere blieben bei Luftangriffen im Gespann auf der Straße stehen, ein leichtes Ziel für die Schützen in den Flugzeugen, während die Menschen sich in Gräben pressten oder in nahen Waldstücken Zuflucht fanden. Bei den nächtlichen Rückmärschen mussten wir manchmal unsere Granatwerfer über steile Straßen mit Seilen aufwärts zerren. So konnten wir nach Sonnenaufgang den mit frischen Kräften uns angreifenden Feind durch unser Granatwerferfeuer wenigstens an einem geschlossenen Vormarsch zu unserer Verfolgung und Vernichtung hindern. Zeit zu gewinnen war damals alles. Allerdings mussten wir diese Gewinne mit unserer Erschöpfung bezahlen. Manche, verschieden auch nach Alter, ertrugen das besser, andere brachen zusammen. Kostas, der Hirtenjunge, den wir den griechischen Partisanen entrissen hatten, nachdem er von ihnen in ihren Dienst gezwungen worden war, zeigte eine unglaubliche Zähigkeit, verbunden mit Gleichmut. Er hielt sich immer in meiner Nähe auf. Einer von den Starken war, wenn auch in anderer Art, der Rheinländer Günther Nickertz. Seine Kraft, mit der er den Krieg bewältigte, stand in schärfstem Gegensatz zu seiner Wut auf den Krieg. Fluch und Verwünschungen des Krieges waren zwar allgemein bei der Truppe, und dies schon seit Jahren, nicht erst seit 189

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dem Rückzug. Nickertz aber war darin Meister. Er fluchte mit den stärksten Ausdrücken. Er war nicht nur seelisch, sondern auch körperlich kräftig – trotz der monatelangen Entbehrungen, die uns alle geschwächt hatten. Günther half überall. Wenn er hinzutrat, brachte er auch einen im Schlamm festgefahrenen Karren wieder in Bewegung. Die Verwünschungen, die er ausstieß, standen in merkwürdigem Gegensatz zu der sonst gepflegten Sprache eines jungen Mannes, der Bildung genossen hatte. Günther Nickertz war der Sohn eines rheinländischen Unternehmers, eines Vaters, der manche Erfindung gemacht und einen erfolgreichen Betrieb aufgebaut hatte. Der Sohn sollte einmal diesen Betrieb übernehmen. Nun zerrte er in einem geschlagenen, dezimierten und zurückflutenden Heer die Granatwerfer aus dem Schlamm. Als im Dezember 1944 der von vornherein aussichtslose deutsche Gegenangriff auf die zur Westgrenze des damaligen Deutschen Reiches vorrückenden amerikanischen Truppen in den Ardennen begann, fingen die Funker unseres Regimentsstabes diese Nachricht auf. Die Hände vor das Gesicht geschlagen, saß Nickertz, als er davon erfuhr, mehrere Minuten reglos da, als wäre er vor Kälte erstarrt und könne sich nicht mehr weiterbewegen. Dann brachen Schwaden von Flüchen aus ihm heraus. Sie bestätigten, was wir alle wussten  : Diese deutsche Offensive zu Weihnachten 1944 war nur eine schlimme Verlängerung eines ohnehin schon qualvollen Endes. Als Nickertz die erste Verzweiflung mit Verwünschungen Hitlers aus sich herausbrechen hatte lassen, erklärte er eindringlich Ursprung und Geschichte des Krieges, an dem wir teilnahmen. Er war unser bester Historiker. Ich warnte ihn oft. Es gab einige Feldwebel, die trotz der unabwendbaren Niederlage mit Hinweisen auf die übernatürlichen Kräfte des Führers und dessen Geheimwaffen von einer bevorstehenden plötzlichen Wendung zum Endsieg sprachen. Besonders gefährlich war ein kleiner schmächtiger Berliner, der eine Schreibertätigkeit beim Regimentsstab ausführte und sich stets dienstlich gab. Er war der Herr über die Kisten, von denen wir nicht wussten, warum sie immer noch mitgeschleppt wurden. Auch ein anderer Unteroffizier, der Hauptfeldwebel der Stabskompanie des Regiments, ein Sachse, brüllte gegen den Defätismus. Er nannte das »Schlappmachen«. Es störte ihn nicht, dass die Truppe Tag für Tag dahinschmolz und die Übersicht über das Regiment und seine Einheiten mehr und mehr verloren ging. Sein Gebrüll dröhnte wie der Schrei aus einer antiken Theatermaske. Es war nicht zu unterscheiden, ob er an all das glaubte, was er herausschrie, oder ob es nur die Äußerung einer Rolle war, die er in dem sich auflösenden Verband immer noch glaubte spielen zu müssen. Die starre Lüge dieses Hauptfeldwebels war allerdings ehrlicher und unschuldiger 190

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als der wilde Fanatismus des kleinen bösartigen Berliners. Man musste befürchten, noch im letzten Augenblick ans Messer irgendeiner standrechtlich agierenden Kriegsgerichtsbarkeit geliefert zu werden. Der kleine Teufel war mir schon früher aufgefallen, ich hütete mich vor ihm und warnte auch Nickertz. Stark war der Ausbruch von Günther Nickertz nach dem 20. Juli 1944 gewesen. »Sie haben ihn nicht erwischt, das Schwein«, brüllte er herum. Aber selbst im Fehlschlag sah er noch einen gewissen Erfolg. Man hatte zumindest versucht, ein Ende des sinnlos gewordenen Krieges herbeizuführen. Ein halbes Jahr später, im Dezember, während der Ardennenoffensive, war er allerdings angesichts der Sinnlosigkeit, die mit rücksichtslosem Menscheneinsatz instrumentiert wurde, tief resigniert. Nun war es Frühjahr. Die Maschinerie des auf dem Balkan rückwärts strömenden Heeres lief in ihren letzten, aber immer noch bemerkenswert geordneten Bewegungen. Die Maschinerie war nötig, wollte man nicht die Menschen, die ihr angehörten, ins Chaos entlassen und grausamer, mörderischer Gefangenschaft mit teils unverhüllter Hinrichtung preisgeben. Angesichts der untereinander nur locker koordinierten Verfolger – SowjetTruppen, Bulgaren und Tito-Partisanen, die voller Rachedurst waren – hätte eine persönliche oder gruppenweise Kapitulation mit größter Wahrscheinlichkeit Selbstmord bedeutet. Alle innere Ablehnung der Fortführung eines sinnlos gewordenen Krieges, aller Hass auf die verblendet-bösartigen Antreiber wie etwa den schmächtigen Berliner Maulhelden-Feldwebel, wurde doch von dem Wunsch und der daraus entstehenden verbissenen Haltung überwunden, in einer wechselseitig sich unterstützenden Abwehr weiter und weiter nach Nordwesten zurückzuweichen. Das war die einzige Chance, die der Balkanarmee der Deutschen Wehrmacht im Frühjahr 1945 offenstand. Nur so war das nackte Leben zu retten. In den vielen Strömen und Kanälen, in denen dieser Rückzug floss, kam es immer wieder zu Stauungen und Stockungen. Eines Spätnachmittags im Frühjahr 1945 waren wir, da der Druck zu groß geworden war und eine Einschließung drohte, entgegen der sonst geübten Praxis schon bei Tageslicht zurückmarschiert. Während Artillerie- und Granatwerferfeuer ringsum grollten und wir noch immer in Bewegung waren, kam die Parole durch, dass zusätzlich ein Nachteinsatz bevorstehe. In der Regel erreichten uns die taktischen Entscheidungen auf dem Wege der Stabskompanie des Regiments einige Stunden vor dem offiziellen Befehl. Von den Funkern sickerte einiges durch. Dazu kamen Vermutungen der graubärtigen, faltenreichen alten Kriegsmenschen, die viele Jahre an bewegten oder star191

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ren Fronten an vielen Kämpfen teilgenommen hatten. Sie waren es, die dann ihre meist zutreffenden Erwartungen weitergaben. Es waren auch manchmal von Meldern erhaschte Worte, welche die kommandierenden Offiziere untereinander gewechselt hatten, die dann rasch bei der Truppe in Umlauf kamen. Fast immer gab es also ein Vorwissen, im Guten wie im Bösen. Und die Nachteinsätze gehörten bei der Schwächung und mangelnden Ausrüstung der Truppe, bei der zunehmenden Desorganisation und den so gegebenen Mängeln, sich untereinander zu verständigen und aufeinander verlassen zu können, zu den bösen Abenteuern. In den Nächten wollte man nichts anderes, als sich vom Feind »abzusetzen«. Was sollte nun von uns in der kommenden Nacht geleistet werden  ? Während wir feindliche Truppen im Rücken hatten, drohte die Stadt, die vor uns auf der Rückzugsstraße lag, vom Feind besetzt zu werden. Das würde uns den Großteil aller noch mitgeführten Waffen und Munition kosten und uns der Möglichkeit einer einigermaßen wirksamen Verteidigung auf dem weiteren Rückzug berauben. Daher müsse die Stadt im Handstreich besetzt werden, so wurde gemunkelt. Gelinge es nicht, uns des Nachts der auf der Rückzugslinie liegenden Stadt zu bemächtigen, müssten alle Ernährungsreserven, Wagen und Fahrzeuge preisgegeben und die Verwundeten durch die Wälder geschleppt werden. Dort hatte man uns in unwegsamem Gelände vermutlich bereits auch schon Hinterhalte gelegt. Wenigstens für die Stunden des Durchzugs des Heeres – samt seiner Kranken und Verwundeten und des volksdeutschen Flüchtlingsstroms – sollte die Stadt feindfrei gehalten oder erobert werden. Bald kam der erwartete Befehl. Der Plan war beim Stab des Regiments unter Leitung von Major Pabst ausgeheckt worden. Unsere Hauptmacht sollte sich in der Nacht durch einen zentralen Straßenzug den Eintritt in die Stadt erzwingen. Daneben war ein Stoßtrupp-Unternehmen geplant. Dieser Stoßtrupp wurde aus übrig gebliebenen Mitgliedern des Radfahrzuges gebildet, zu denen ich gehörte. Es war dies eine Einsatztruppe für besondere Aufgaben, auf die der Regimentskommandeur direkt Zugriff hatte. Die Fahrräder waren längst verloren, und von der schnell beweglichen Truppe für Sondereinsätze war nur ein Häufchen verlauster, unterernährter und fußmaroder hohlwangiger Männer übrig geblieben. Ein Unteroffizier, dessen Stellvertreter, schließlich der Gefreite Koethe, der Grieche Kostas, Günther Nickertz und ich waren ausersehen, uns in der Nacht mit Handgranaten und einem Maschinengewehr auf eigene Faust zu einem Turm in der Mitte der kleinen Stadt durchzuschlagen, ihn zu besetzen und von ihm aus in die Kämpfe einzugreifen. Der Feind sollte verwirrt und der Durchzug der Hauptmasse der Truppen durch die Stadt auf diese Weise erleichtert werden. Da hatten wir nun unsere Aufgabe, wir »Studenten«, wie uns 192

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die Feldwebel gelegentlich abschätzig nannten. Der Plan schien absurd, konnten wir doch, auch wenn wir voll bepackt waren und Kostas Sonderlasten trug, kaum genug Munition mitschleppen, um ein nachhaltiges Störfeuer vom Turm her auf den Feind zu richten. Und wie sollten wir ohne Funkverbindung eine nur einigermaßen sichere Überschau gewinnen, um im Kampfgewühl der Stadt Freund und Feind unterscheiden zu können  ? Aber wir alle hatten eine Phase der Hinnahme, einer stumpfen Gefügigkeit erreicht, die nur ein einziges Ziel kannte  : durchzukommen, die Heimat zu erreichen, was immer uns dort auch erwarten mochte. Auch Günther war schweigsamer geworden. Er konzentrierte seine ganzen Kräfte auf eben dieses Durchkommen. Er schob, hob und zerrte, wo es nötig war, und er schleppte auch das Maschinengewehr, das früher Pirker getragen hatte, ehe er in der Stellung an der Drau vor Wochen durch einen Schuss in die Stirn von einem russischen Scharfschützen getötet worden war. Günther Nickertz hatte nie den Kampfgeist, den Pirker entfaltet hatte. Pirkers Hass auf unsere Situation, auf den sinnlosen, verlorenen Krieg, mündete in ein virtuoses Soldatentum mit der vielleicht unterschwelligen Lust, sich für die Sinnlosigkeit, zu der wir gezwungen waren, am Feind zu rächen. Waren wir schon in den eigenen Reihen machtlos, so sollte doch wenigstens der Gegner unsere Wut zu fühlen bekommen. Das war die Philosophie von Alfons Pirker geworden, die man ihm täglich hatte anmerken können. Aber Alfons war damals schon gefallen. Bei Nickertz war dies anders. Seine Welt war die einer friedlichen Gesellschaft, in der Wirtschaft, Kunst und Literatur zählen sollten. Als Ausgleich für den Hass auf die nationalsozialistische Doktrin und die Diktatur im Dritten Reich blieb ihm die Vision eines zwar ganz unbekannten, aber vom Übel der Diktatur befreiten künftigen Europas. Als Rheinländer sprach er von der Versöhnung der Völker und einem neuen Staatenbund. Er führte immer wieder das zu erwartende neue Europa an. Dass man vom Haus seiner Eltern über den Strom, den Rhein hinweg, nach Frankreich blicken konnte, war seine Lebenserfahrung schon als Kind gewesen. Warum sollten wir also nicht vereint werden  ? Alles andere war für ihn nur Mittel zum Zweck, um das bevorstehende Ende der Kämpfe zu überleben und die Zukunft einer Welt nach dem Krieg zu erreichen. Nachdem wir, die kleine Gruppe, uns ausgerüstet bereitgestellt hatten, sagte man uns, dass die Stadt Našice, um die es nun ging, im Inneren vermutlich vermint worden sei. Dies war ein weiteres Anzeichen dafür, dass für die Reste des zurückflutenden deutschen Heeres dort eine Falle gestellt werden sollte. In diese Falle sollte unsere kleine Gruppe nun eindringen, den Gegner verwirren und der 193

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eigenen angeschlagenen Streitmacht den Durchzug durch die nächtliche Stadt erleichtern. Nach Einbruch der Dunkelheit schlichen wir zu sechst durch einen äußeren Gürtel der Stadt bis in deren Inneres vor. Da lagen Hausgärten und umzäunte kleine Wiesenflächen vor uns. Ein merkwürdiger Bereich für eine Innenstadt. Trotzdem war klar, dass, wenn wir weiter in der eingeschlagenen Richtung vordrangen, wir das Zentrum bald erreicht haben würden. Da war jede Vorsicht gegenüber den angekündigten Minen geboten. Dem Feind war es vermutlich nicht gelungen, seine Minen sorgfältig zu vergraben. So richtete sich unsere Vorsicht vor allem auf Stolperdrähte, deren jähe Berührung zur Explosion der Mine führt, was meist den Tod, aber fast immer eine schwere Verletzung dessen zur Folge hat, der den Draht gestreift hat. Obwohl mit Munition beladen und dadurch plump, hoben wir bei jedem Schritt äußerst sorgfältig die Füße. Da hatte Nickertz die Idee, wo immer möglich durch die Gärten voranzugehen. Man könne uns so weniger leicht entdecken. Im Abstand von mehreren Metern, sodass wir einander gerade noch sehen konnten, folgte einer dem anderen. Der Unteroffizier ging voran. Als wir die freieren Flächen betraten, war uns klar, dass uns hier die Gefahr der Verminung in verstärktem Maße drohte. Günther Nickertz schlug vor, dass wir uns in der Reihenfolge abwechseln sollten, um so die Gefahr, auf eine Mine zu treten, und damit das Verletzungs- oder Todesrisiko unter uns gleichmäßig zu verteilen. Der Vorschlag leuchtete allen ein, sodass wir ihn sofort befolgten. Ich kam als Dritter dran, der Gruppe voranzugehen  : In der Nacht, in einer unbekannten Stadt, mehr der Ahnung als einer wirklichen Orientierung folgend, ging ich voran, mit den Füßen vorsichtig tastend, um Verstümmelung oder Tod zu entgehen. Bei einer schweren Verwundung wäre es der Gruppe nicht möglich gewesen, mich mitzuschleppen. Ich wäre also schwer verletzt irgendwo liegengeblieben. War der eine ein paar Minuten als Erster vorangegangen, löste ihn wortlos der andere ab, im Rhythmus einer unausgesprochenen Freundschaft, der Zubilligung von Leben und Schutz für den anderen. Es war der Wille zur Hilfe, mit der Last der Waffen am Rücken. Da tauchte im Dunkel vor uns der Turm auf. Ob er zu einer Burg oder zu einer Kirche gehörte, war nicht zu erkennen. Als wir ankamen, hatten wir den Verdacht, dass sich Menschen drinnen befinden könnten. Kostas schlich wie eine Katze voraus, er deutete uns, nachzukommen. Also wurde das unterste Geschoss mit vorgehaltener Waffe betreten. Wir tasteten uns im Dunkel die vielen Stufen die Turmstiege hinauf. Der Turm erwies sich als höher denn erwartet. 194

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Von der Brüstung, die wir schließlich oben betraten, blickten wir in die nun vom Mond ein wenig aufgehellte nächtliche Stadt. Sie schien ruhig und leer zu sein. Hatte sich der Feind versteckt  ? Oder waren seine Kräfte in einem für uns nicht einsehbaren Teil der Stadt konzentriert  ? Wir brachten das Maschinengewehr in Stellung. Die Situation auf dem Turm war ungünstig für ein Eingreifen. Es war eine fragwürdige Bastion. Trotzdem wollten wir sie zum Schutz des Durchzugs unserer Truppe nutzen. Kaum hatten wir sie betreten, gingen unten in der Stadt mehrere Leuchtkugeln hoch. Es waren nicht die Signale der Unseren. Und schon begann die Schießerei, die bald zu einem wütenden Gefecht anschwoll. Wie befürchtet, hatte sich der Feind in der Stadt festgesetzt, war aber vom Anrücken der Unseren überrascht worden. Man hatte uns erst für später, in der Morgendämmerung, erwartet. Die Falle für unsere Truppen war noch nicht richtig ausgebaut. Von unserer Warte aus gesehen, entstand der Eindruck eines völlig unübersichtlichen Kampfes, der sich allerdings unserer Position auf dem Turm näherte. Es wäre Wahnsinn gewesen, ziellos in diese Brandung der Kämpfenden hineinzuschießen. Was also tun  ? In der aufkommenden Ratlosigkeit ergab sich bald eine Situation, die eine rasche Entscheidung verlangte. Denn unten im Turm entstand das Geräusch von eindringenden Menschen. »Andartes«, flüsterte Kostas auf Griechisch, dann auf Deutsch  : »Partisan.« »Ab.« Nicht der Unteroffizier, der uns befehligte, sondern Günther Nickertz stieß halblaut diesen Ruf hervor, und alle befolgten ihn, so wie wir seine Aufforderung zur Abwechslung des Vorangehens im Minenfeld befolgt hatten. Mit größter Behutsamkeit suchten wir die Waffen zusammen und schlichen nach unten. Wir hörten deutlich die fremden Stimmen. Je tiefer wir nach unten kamen, desto klarer wurde es für uns, dass in das Untergeschoss des Turmes bereits fremde Soldaten eingedrungen waren. Unser Unteroffizier schlich Stufe für Stufe absteigend voran. Dann kam Nickertz. Als sie in das Untergeschoss hinaussprangen, begannen sie beide aus ihren Maschinenpistolen wild zu feuern. Schreie und Schüsse. Ich sah fremde Gesichter und fremde Uniformen. Wir stürmten aus dem untersten Geschoss ins Freie hinaus. Keiner von uns wusste vorerst, ob wir uns alle durchgeschlagen hatten. Doch war der ganzen Gruppe der Durchbruch geglückt. In wenigen Sekunden war das klar geworden. Jetzt galt es nur noch, der Stadt zu entkommen. Wir ließen fast alle Munition zurück und rannten. Günther Nickertz hatte das Maschinengewehr geschultert. Es war oberstes Gebot, Waffen und Verwundete nicht zurückzulassen. Nickertz war langsamer als wir, weil er die vergleichsweise viel schwerere Waffe trug. Mit Ausnahme seines Gewehrs hatte Kostas 195

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alles von sich geworfen, was ihm überflüssig erschien. Wieder trug er, was ihm so oft angekreidet worden war, das Gewehr nach Partisanenart, den Kolben nach hinten, die Rechte auf die schräg nach unten gekehrte Mündung gelegt. So konnte er sich schneller bewegen. Schon waren wir mitten drinnen im Gewühl, das aus flüchtenden Menschen, Wagen und Tieren bestand. Wie ein Hochwasser, das Verschiedenes mit sich führt, strömten Soldaten und Karren dahin, manche von Männern, manche von Maultieren gezogen, teils mit Waffen, teils mit Verwundeten beladen. Dazwischen kamen Panjewagen mit Frauen und Kindern und einigen alten Männern, welche die Zugtiere vorantrieben. Es waren viele hundert Menschen, die vor der sowjetischen Armee und den nachdrängenden Partisanen flüchteten. Kraftfahrzeuge gab es nicht mehr, die Offiziere saßen auf irgendwelchen Karren oder trotteten wie alle anderen, die noch marschieren konnten, dahin. Am schlimmsten war der Anblick der Verwundeten. Das gemeine soldatische Fußvolk stapfte vom Feind weg, grau und heruntergekommen, so eilig als möglich, die Verwundeten lagen geschichtet auf den Karren. Kostas, Koethe und ich waren beisammen geblieben. Den Unteroffizier und Nickertz konnten wir nicht ausmachen. Wir fanden überhaupt keine Soldaten unserer Einheit. Ein Offizier einer anderen Truppe erklärte, dass unsere Einheit noch folgen würde. Während das Geschiebe an Intensität und Dichte gewann, hatten wir die Stadt schon ein ganzes Stück hinter uns gelassen. Die nasse und holprige Landstraße wurde schmäler, linker Hand zogen weite grüne Wiesen bergan, bis sie schließlich steil zu einem Waldrand anstiegen. Das also war der Ausbruch aus Našice.

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16. Die Freigabe durch den todgeweihten Freund

Die Sonne ging auf. Einen Augenblick lang entstand in mir das Gefühl, gerettet worden zu sein. Doch gleichzeitig war dies ein Moment der Unsicherheit. Der Tag brachte es ans Licht. Der Unteroffizier und Nickertz fehlten. Kostas war in meiner Nähe. Koethe stapfte etwas weiter vor mir die Straße entlang. Den Tornister und sein Gewehr hatte er auf einen vor ihm herziehenden Panjewagen gelegt. Was sollte ich tun, weiterziehen oder auf den Unteroffizier und Nickertz warten  ? Würde sich überhaupt noch einmal eine Ordnung aufbauen, oder war das entstandene Gewühl nun das Ende im Chaos  ? In diesem Moment meiner Überlegung hob das Pfeifen von Granaten an. Maschinengewehrsalven peitschten in die Rückzugskolonne. Das Feuer konzentrierte sich auf ein Straßenstück, das hinter mir lag. Man konnte Explosionen und Schreie hören. Dann setzte auch das Gegenfeuer von unserer Kolonne aus ein. Dieses Gegenfeuer war allerdings weder intensiv noch wirksam. Es gelang nicht, die heftigen und wiederholten Feuerattacken eines unsichtbaren Gegners auszuschalten, die von den Höhen linker Hand herunterprasselten. Vor uns begann sich auf diesen Feuerüberfall hin die Fluchtbewegung zu beschleunigen. Hinter uns hielt die Kolonne an. Das Feindfeuer zeigte seine Wirkung auf den Strom der Flüchtenden. Dem Gegner war ein Einbruch in den Rückflutprozess gelungen, den unser nächtlicher Angriff auf die Stadt freigekämpft hatte. Man wollte unseren Durchbruch im Nachhinein vereiteln. Der Streubereich des Feindfeuers weitete sich aus. Granaten schlugen in meiner unmittelbaren Nähe knapp neben der Straße ein. Pferde wieherten auf und versuchten durchzugehen. Es gab Verwundete. Salven aus einem schweren Maschinengewehr peitschten unentwegt auf die Straße unseres Rückzugs. Das Feindfeuer war drauf und dran, jene Katastrophe zu verursachen, welche unser nächtlicher Durchmarsch durch die Stadt aufs Erste abgewendet hatte. Plötzlich hörte ich ein Motorrad knattern. Es fuhr in der Gegenrichtung zum Rückzugsstrom und schob sich an dem verschreckten Gedränge vorbei. Ein behelmter Kraftfahrer hatte einen hohen Infanterie-Offizier auf dem Sozius-Sitz, der aus der zurückflutenden Menge ihm geeignet erscheinende Soldaten aussonderte und sie am Straßenrand sammelte. Er tat dies aber so, dass er einen kleinen Einschnitt im Gelände auswählte, der von jener Flanke, aus der das 197

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feindliche Feuer kam, nicht einsehbar war. Der Mann schien ebenso kriegserfahren wie entschlossen. Er begann einen Angriff zu organisieren. Über die Wiesen bergan zum Wald sollte die geschickt getarnte feindliche Stellung erstürmt werden. Der Offizier erklärte den vierzig oder fünfzig Mann, die er versammelt hatte und zu denen auch ich gehörte, die Taktik des Ansturms. Es seien ein oder zwei Maschinengewehr-Nester und eine Granatwerfer-Stellung am Waldrand versteckt, die eingenommen werden müssten, um die Straße wieder passierbar zu machen. Hinter uns käme noch eine lange Kolonne von Landsern, sagte er, die alle, so wie wir, das Recht hätten, die Heimat zu erreichen. Er sprach nicht von Zwang. Es war die ungewöhnliche Situation, dass ein hoher Offizier für eine Sache warb, statt sie zu befehlen. Auch Koethe, der sich in den letzten Monaten geradezu defätistisch verhalten hatte – »Mensch, ich ballere einfach los«, war seine Rede oft gewesen –, stand hier am Straßenrand. Er war nicht, wie er es in unangenehmen Situationen mit großer Geschicklichkeit oft verstanden hatte, einfach verschwunden. Das Ende der nächtlichen Stoßtruppaktion und der geglückte Ausbruch aus dem feindbesetzten Raum im Fundament des Turms in Našice hatten mir das Gefühl vermittelt, mein Leben neu gewonnen zu haben. Getragen von einer unbändigen Hoffnung, nach Jahren des Krieges schließlich doch heimkehren zu können, hatte ich in dem Ausbruch aus der Stadt die Schluss-Etappe, die glückliche Bewältigung einer letzten Hürde vor dem Kriegsende gesehen. Und nun war mir klar, dass die Gruppe, die der fremde Offizier gesammelt hatte und der ich zugeteilt worden war, bei dem Angriff hangaufwärts auf freien Feld, vielleicht völlig zusammengeschossen, »aufgerieben« würde, wie der Fachjargon lautete. Der Offizier hatte es – im Frühjahr 1945 – nicht gewagt, einen solchen Angriff einfach zu befehlen. Er hatte die Notwendigkeit dieser Aktion erklärt. Wir waren, weil es uns sinnvoll erschien, zur Rettung der abgeschnittenen nachfolgenden Truppen und der fliehenden volksdeutschen Bauern auf den Panjewagen beizutragen, bereit, diesen Angriff durchzuführen. Ich begann nochmals abzuwägen. Einerseits zog es mich weiter, nur fort von hier, Richtung Heimat. Ich wollte im letzten Augenblick des Krieges nicht das Leben verlieren. Zum anderen leuchtete mir ein, dass hier eine tödliche Situation entstanden und eine Hauptader des Rückzugs bedroht war. Es leuchtete mir ein, dass nicht gezögert werden durfte, wenn nicht für viele Menschen die Katastrophe der Einkesselung und Vernichtung ihren Lauf nehmen sollte. Es war eine Frage der Einwilligung in die Anteilnahme an denen, die in Gefahr waren, geopfert zu werden. Weiter hinten im Strom folgten die Soldaten der 198

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eigenen Einheit. Vermutlich war auch Nickertz unter ihnen. Wie würden sie alle durch die Feuerzone kommen  ? Das jetzige Feuer war nur eine erste Lahmlegung der Bewegungen, vielleicht eine Vorstufe für einen größeren Angriff auf die blockierten Massen. Mitten in diese Überlegungen hinein entfalteten sich schon die Aktivitäten. Von einer eben herangekommenen Gruppe wurden, durch eine Deckung geschützt, neben der Straße zwei schwere Maschinengewehre aufgebaut. Sie sollten für den Angriff unseres Sturmtrupps Feuerschutz geben. Der Offizier war eindringlich damit beschäftigt, den Plan zu erklären. Da begann sich bei uns eine Art Aktionsgeist einzustellen. Wenn etwas vororganisiert wird, kann sich der Mut, zu handeln, eher herausbilden. Das war hier der Fall. Ich war für die Aktion fast schon gewonnen. Den Ausschlag gab, dass ich mir feige vorgekommen wäre, einfach beiseite zu gehen. Es wäre eine Schande gewesen, sich zu drücken. So empfand ich es. Gerade als ich mich entschloss, tauchten auf einem Wagen Panzerfäuste auf. Vier oder fünf Mann rüsteten sich mit diesen Panzerfäusten aus. Das war ermutigend. Unsere angreifende Kette sollte sich sehr weit auseinandergezogen entfalten, um das gegnerische Feuer möglichst zu zerstreuen. Nur bei intensivem Feuerschutz durch unsere Maschinengewehre sollte gestürmt werden. Der Plan war, möglichst nahe an die feindliche Stellung und ihre Nester heranzukommen, um diese Nester dann mit den Panzerfäusten direkt zu bekämpfen. Es macht Angst, bergan ins feindliche Feuer hineinzulaufen, auf offener Wiese mit Waffen aufwärts zu stürmen. Man muss mit Karabiner und Gepäck rennen und augenblicksweise wieder reglos im Gras liegen, das Gesicht in den Boden gepresst, während die feuchte Erde neben Kopf und Körper durch die einschlagenden Geschosse aufspritzt und man jeden Augenblick getroffen werden kann. Die ganze Aktion war ein verzweifeltes Sichaufbäumen gegen die Abschnürung unseres Rückzugs. Unser Angriff war stumm. Es gab kein Hurra, jenes Geschrei, das dem Angreifer Mut und dem Verteidiger Angst einflößt. Während wir zu stürmen begannen, bewies der Gegner oben am Waldrand Mut und taktisches Geschick. Wurden seine Positionen beim Angriff unter heftiges Feuer von unserer Seite genommen, so schwieg sein Feuer. Doch Sekunden später schoss der Gegner wieder. Was bewirkte unseren Mut  ? War es die wilde Entschlossenheit, diejenigen, die hinter uns kamen, nicht einfach preiszugeben  ? War es der Stoß aus der Verzweiflung heraus, die Chance, nach Monaten fluchtartiger Rückzüge doch noch einmal Angreifer sein zu können  ? 199

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Einige von uns blieben auf der steil ansteigenden nassen Wiese liegen. Sie waren getroffen worden. Aber der Angriff erreichte schließlich sein Ziel. Ganz zum Schluss sprangen die Männer mit den Panzerfäusten vor, die Detonationen hallten in dem breiten Tal. Danach verstummte das Feuer des Feindes auf unsere Rückzugskolonne. Unsere Toten wurden eingeholt. Einige Männer waren verwundet worden, auch die brachten wir herunter. Erst später, einige Tage nach Kriegsende, entdeckte ich, dass feine Granatsplitter in meinem Nacken stecken geblieben waren. Der Offizier, der das Deckungsfeuer für unseren Angriff selber gelenkt hatte, schrieb die Namen und die Soldbuchnummern derer auf, die in der ersten Reihe angegriffen hatten und bis zu den Stellungen des Feindes vorgedrungen waren. Wir sollten so bald als möglich das Sturmabzeichen erhalten. Auch meine Nummer schrieb er auf. Ich war zu meiner Überraschung stolz darauf. Gleichzeitig empfand ich diesen Wunsch jedoch als völlig unsinnig und tadelte mich seinetwegen. Ich hoffte inständig, die Uniform, die ich mir anzuziehen nie gewünscht hatte, so bald als möglich ablegen zu können. Dieser Sturm an die Grenze von Leben und Tod, das Risiko, ganz zuletzt doch noch unterzugehen, hatte sich gelohnt. Mich beseelte das merkwürdige stolze Gefühl, in einem Krieg, den ich verabscheut hatte, an dessen Ende nicht moralisch versagt zu haben. Nach dem Sturm gegen die Hügelstellungen am Waldesrand gab es plötzlich weiter vorn erneut Gefechtslärm. Der zähe Fluss des Rückzugs auf der schmalen Landstraße kam noch einmal ins Stocken. Koethe, Kostas und ich schoben uns an den stecken gebliebenen Wagen und Gefährten vorbei. Nur weiter, nur weiter, beseelte es uns wie ein innerer Ruf. Da saßen Frauen und Kinder, volksdeutsche Bauernfamilien mit ihren wenigen Habseligkeiten auf ihren Panjewagen. Dazwischen waren in der Kolonne Karren mit Infanteriemunition eingereiht, die Maultiere vorgespannt hatten, und viele Verwundete, teils zu Fuß, teils auf Karren. Niemand wusste, außer den Köchen, die aufsitzen konnten, warum noch Feldküchen mitgeführt wurden. Es gab ohnehin nichts mehr zu essen. Jegliche Ordnung und Führung begann sich nun aufzulösen, begleitet vom Geschrei, vom Weinen und der Verzweiflung der zivilen Flüchtlinge. War eben durch das Freikämpfen der Straße Rettung in Sicht gewesen, schien der Rückzug nunmehr schon wieder abgeschnitten. Die Straße führte bergan, auf einen bewaldeten Hügel zu. Dort aber war sie blockiert. Die Partisanen hatten sie besetzt, während von hinten reguläre feindliche Truppen nachdrängten.

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Da fassten Koethe und ich den Entschluss, mit Kostas von der Straße in den Wald abzuschwenken. Es schien uns verrückt, auf die unter Feindfeuer liegende Stelle der Straße weiterhin loszumarschieren. Da der Spätnachmittag heraufzog, war es außerdem geraten, vor Einbruch der Nacht sich zu dritt ein Versteck zu suchen. Ich war eben daran, Kostas unseren Marschplan zu erklären, da kamen wir, immer noch auf der Straße marschierend, an einem Wagen vorbei, der mit mehreren Verwundeten beladen war. Der Lenker, der das Maultier antrieb, trug einen Arm in der Schlinge, sein Gesicht zeigte einen verwilderten Stoppelbart, die Haut war schwärzlich  : ein düsterer Anblick. Das Gefährt stockte in dem Strom, der weiter vorn durch den Widerstand blockiert war. Auf dem Wagen hockten mehrere Verwundete. Einer lag langgestreckt auf dem Rücken  : das war Günther Nickertz. Ich rief Koethe zurück, der schon ein Stück voran war. Als ich mich Günther zuwandte, sagte er mit einer für ihn ungewöhnlich matten und sanften Stimme  : »Mich hat’s erwischt.« Ich kann mich genau an diesen Satz erinnern. Es war der allgemeine Ausdruck, den Soldaten verwendeten, wenn sie schwer verwundet worden waren. Im Munde des aktiven, oppositionellen und ganz auf seine Zukunft nach dem Krieg eingestellten kräftigen jungen Mannes Nickertz klang dieser Satz doppelt erschreckend. Dieser Soldatenjargon passte nicht zu Günther. Kein Klischee passte zu ihm. Und der Ton, die Resignation, die aus dem Satz klang, war bedrückend. Günthers dunkle Augen waren groß in seinem Gesicht, das kleiner, aber sonst nicht verändert erschien. Der ganze Mensch schien zu Tode erschöpft. Er bewegte den Kopf nicht, als er sprach. »Mensch, wir nehmen dich mit  !«, brüllte Koethe in der ihm eigenen Weise, als er Günther auf dem Wagen erblickte. Auch für mich war es klar, dass wir versuchen mussten, Günther von hier weiterzubringen. »Wir finden einen Karren und ziehen dich durch«, sagte ich. »Sinnlos«, sagte er, »mich hat’s zu schwer erwischt …« Und nach einer Pause  : »Lasst mich«, sagte er, »seht zu, dass ihr herauskommt.« Ich sah ihn an. Er war in sich versunken. Er meinte genau das, was er sagte. Er wollte, dass wir uns durchschlagen sollten. Ihm war klar, dass uns dies nicht gelingen würde, wenn wir versuchten, ihn mit uns zu schleppen. Der Moment war und bleibt für mich unaussprechlich. Wie uns allen war auch ihm bekannt, dass die zurückgelassenen Verwundeten in dieser Region und Phase des Krieges kaum überleben würden. In seiner äußersten Gefährdung wandte sich Nickertz unserem Schicksal zu  : »Seht zu, dass ihr herauskommt.« Das war seine Art, uns freizugeben, uns aus der Verantwortung für ihn zu entlassen. 201

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Ich drehte mich noch einmal um. Da lag er, die beherrschende Figur auf diesem Wagen des Jammers, den Kopf auf seinen Tornister gelagert, den Blick nach vorn gerichtet. Ein Militärmantel bedeckte den Körper, sodass man weder die Verwundung noch die Verbände sehen konnte. Mein erster Eindruck war gewesen, dass er Bauchverletzungen hatte, die wohl von dem Feuerüberfall herrührten, dessen Urheber wir mit unserem Sturmangriff vertrieben hatten. Es war mir klar, dass wir Günther dem Tod überließen. Es wurde mir aber auch deutlich, dass er uns freigab. Im Bewusstsein der Schwere seiner Verletzungen und in Abschätzung der Last, die er für unsere Flucht bedeutet hätte, hob er die Verpflichtung zur Kameradschaft auf. Das alles geschah ganz einfach, schnell und ohne Pathos. Gewiss, ich sehe noch heute den Wagen vor mir und Günthers Gestalt. Dieser Eindruck, diese Szene, sie sind unauslöschlich in mir aufgezeichnet. Sie werden mich immer begleiten. Je mehr Jahre mich von diesem Augenblick trennen, umso größer wird meine Achtung vor Nickertz. Mir wird sichtbar, wie kraftvoll die Selbstüberwindung des Freundes war, wie unerhört der Entschluss, auf den Versuch seiner eigenen Rettung zugunsten der Fluchtchancen der Kameraden zu verzichten. »Sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt«, hatte Vergil in der ­Aeneis wenige Jahrzehnte vor der Zeitenwende geschrieben  : »Alles, was irdisch geschieht, ist Sache der Tränen, und den Geist berührt Sterblichkeit.« Im Augenblick der Trennung waren wir keiner Träne fähig. Es herrschte eine fast mechanische Sachlichkeit. Wir sahen mit verbissenen Zähnen den Tod auf den Freund zukommen und suchten unser eigenes ungewisses Leben zu retten. Kostas, Koethe und ich sprangen von der Straße und tauchten rasch im Walde unter. Wir gerieten in unübersichtliches, schluchtenreiches Gelände. Als die Kräfte vollends zu erlahmen begannen, stießen wir, nachdem wir den Rufkontakt hergestellt hatten, auf Soldaten unserer Einheit. Die Entscheidung, von der Straße abzuweichen, hatten schon andere vor uns getroffen. Sie war richtig gewesen. In einem verzweifelten Ordnungsversuch des Rückzugs war es unter Zurücklassung aller schweren Waffen gelungen, die Truppe von der nunmehr offenbar unabwendbar in Feindeshand gefallenen Straße in den grabenreichen Wald zu führen. Dort wurde notdürftig, wenigstens für eine Nacht, vorerst einmal eine Art Stellung bezogen. Es war dies eine Schwarmlinie der Wachsamkeit, in der einer vom anderen sich in Sicht- oder Rufweite einen Ruheplatz suchte. War auch die Müdigkeit überwältigend, so hatten wir alle einen Vorsichtsschlaf gelernt, der uns beim geringsten Geräusch wach und verteidigungsbereit werden ließ. Dies war nun auch die Lösung für diese Nacht. 202

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Ein oder eineinhalb Jahre nach Kriegsende erhielt ich ein langes Schreiben von Nickertz’ Vater. Es war eine gepflegte und leicht lesbare Handschrift. In Feldpostbriefen seines Sohnes habe er meinen Namen gefunden, sodass es ihm nun gelungen sei, meine Adresse ausfindig zu machen. Seine Nachforschungen bald nach Kriegsende, schrieb der Vater, hätten ergeben, dass sein Sohn in den allerletzten Wochen des Krieges vermisst worden sei. Er wolle nunmehr seine Bemühungen verstärken, den Verbleib seines Sohnes und, wenn er gefallen sein sollte, sein Grab ausfindig zu machen. Ob ich ihm helfen könne, die verloren gegangene Spur zu entdecken  ? Der Brief stürzte mich in schwere Konflikte. Sollte ich dem Vater schreiben, dass wir den schwer verwundeten Sohn auf dessen Wunsch und um unserer Rettungschancen willen zurückgelassen hatten  ? Schließlich entschied ich mich, dem Vater zu schreiben und ihm alles so zu schildern, wie es sich zugetragen hatte. In meinem Brief suchte ich so viel Wärme und Bewunderung für Günther Nickertz, seinen Sohn, auszudrücken, als ich es nur vermochte. Ich bekam aber keine Antwort. War der Vater von den Kameraden, die überlebt, die den schwer verletzten Sohn aber zurückgelassen hatten, enttäuscht  ? Oder hatte ihm mein Bericht die letzte Hoffnung genommen, den Sohn entweder irgendwo lebend aufzuspüren oder wenigstens sein Grab zu finden  ? Wenn ich in die eigene Vergangenheit zurückschaue, so blicke ich in die dunklen Augen von Nickertz  : »Seht zu, dass ihr herauskommt.« Er ordnete sich selbst unserer Heimkehr unter. Mein Bericht mag ein Teil von der immer noch anhaltenden Heimkehr sein. Vielleicht liegt ein Stück unergründbarer Schuld vor. Wir ›sahen zu, dass wir durchkamen‹. Aber irgendetwas von uns haben die Toten des Krieges zurückbehalten. Man sollte sie aus dieser Sicht verehren und ihr Vorbild in die Zukunft mitnehmen, auch als Aufforderung, selber durchzukommen.

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17. Mein Tagebuch, das in meinem Brotbeutel am Ast hing Jeder Mensch hat Momente in seiner Vergangenheit, in denen er für sich und für sein folgendes Leben eine Spur setzt, die in ihm immer wieder aus dem Gedächtnis hervortritt. Dies geschah, als ich einem mir klar sichtbaren sowjetischen Soldaten ohne meine Waffe entgegenlief, um mein Tagebuch zurückzuholen, das ich auf der Flucht in meinem Brotbeutel auf dem Ast eines Baumes hatte hängen lassen. Es war in den letzten Wochen des Krieges, nach jener Nacht, da wir in den Turm eingedrungen, die Straße ein Stück freigekämpft und schließlich den schwer verwundeten Nickertz mit dessen unvergesslicher Zustimmung zurückgelassen hatten. Ich hatte einen hohen Grad von Erschöpfung erreicht, sodass mein Schlafbedürfnis übermächtig geworden war. Ich nahm meinen Brotbeutel ab, der sonst an meinem Tornister befestigt war, und hängte ihn an einen Aststummel des Baumes vor mir. Den viereckigen grüngrauen Sack hatte ich als ein Beutestück aus einem verlassenen bulgarischen Tross mitgenommen. Ich bewahrte darin alle meine Schreibsachen auf, darunter das Tagebuch, auch ein Erinnerungsstück an einen gefallenen Kameraden, und weitere Stücke, von denen ich mich niemals trennen wollte. Den Tornister am Rücken behaltend, konnte ich mich im Wald zurücklehnen. Dabei schlief ich ein. Irgendwann, es war eine kalte und dunkle Nacht, wachte ich auf, und mir war, als hätte man mich gerufen. Ich tastete, mich vergewissernd, nach dem Gewehr neben mir, fiel aber sofort wieder in tiefen Schlaf. Schüsse weckten mich. Das Morgengrauen hatte begonnen. Etwas weiter unten im Wald wurde geballert. Es war ein zielloses Feuer. Niemand antwortete darauf. Ich suchte links und rechts nach den Kameraden, die vor Einbruch der Nacht sich in meiner Nähe postiert hatten. Nun war es hell genug, um sie sehen zu können. Aber niemand war mehr da. Was war geschehen  ? Es fuhr ganz heiß in mich. Hatten sie sich auf den Weg gemacht, ohne mich mitzunehmen  ? Waren sie gefangen worden  ? Auf jeden Fall war ich nun allein. In der Sekunde, in der mir dies bewusst wurde, sah ich vor mir zwischen den Bäumen eine Gestalt auftauchen. Es war keiner der Unseren. Der Mann feuerte vor sich hin, dass die Kugeln an mir vorbeipfiffen. Ob er mich gesehen hatte  ? 204

Mein Tagebuch, das in meinem Brotbeutel am Ast hing

Ich war vom Erschöpfungsschlaf noch ganz benommen. Plötzlich erkannte ich, dass ich allein zurückgeblieben war. Der fremde Soldat durchkämmte, wie man zu sagen pflegte, wenige Meter unter mir in der Waldschlucht das Gelände. Er rechnete mit keinem geschlossenen Widerstand. Ich sah eine klobige, dunkle Gestalt mit einer Mütze. Es war sicherlich ein Uniformierter. In dem Augenblick, in dem er gerade nicht schoss, riss ich mein Gewehr an mich und machte einige Sprünge hangaufwärts. Ich suchte hinter einem Baum Deckung zu gewinnen. Es erfolgte kein Feuerstoß vonseiten dieses einzelnen Kämpfers. Hatte er mich nicht bemerkt  ? Vielleicht war der Bursche müde und erschöpft wie ich und hatte mich als Gegner gar nicht wahrgenommen. Ich konnte gar nicht erkennen, ob ich einen Russen oder einen Partisanen vor mir hatte. Ich wartete und beobachtete ihn. Auch er hielt inne und blickte um sich. Ich weiß nicht, warum ich nicht auf den Gedanken kam, mein Gewehr anzulegen und auf ihn zu schießen. Es wäre nicht schwer gewesen, ihn zu treffen. Ich tat es nicht. Mag sein, dass es das Unbehagen war, das immer dann in mir aufkam, wenn ich auf klar sichtbare einzelne Menschen zu schießen gezwungen war, um selber zu überleben. So eröffnete ich kein Feuer auf den Mann, der nur wenige Meter von mir entfernt war. Ich starrte ihn an, so als wollte ich ihn mit der Kraft meines Blickes davon abbringen, mich anzugreifen. Da aber entdeckte ich, dass mein Brotbeutel, in dem ich die wichtigsten Stücke meiner Habseligkeiten, darunter das Tagebuch, aufbewahrte, an dem Aststummel jenes Baumes hing, hinter dem ich geschlafen hatte. Weder dachte ich nach, noch »entschied« ich mich. Ich stürzte der Gestalt des Feindes entgegen, auf den Baum zu, an dem mein Beutel mit dem Tagebuch hing. Ich riss den Beutel an mich und rannte, wie von Furien getrieben, den Waldhang wieder hinauf. Da schien mich der Gegner zu bemerken. Einige Schüsse fielen. Ich warf mich hin, rutschte im steilen Gelände aus. Das Gewehr glitt mir von der Schulter und im steilen Wald abwärts ins Laub vom vergangenen Jahr. Trotz des Schreckens, den ich beim Verlust der Waffe empfand, erlebte ich das Geschehen wie eine Befreiung. Ich hatte mein Tagebuch wieder. Ich hatte mich selber wieder in Besitz nehmen können. Ich rannte aufwärts in Haken und Sprüngen, mit dem Beutel und darin dem Tagebuch. Schüsse. Der Wald wurde dichter. Schüsse fielen nun von mehreren Seiten. Nur aufwärts, nur nicht liegen bleiben, um niedergemetzelt zu werden, das beseelte mich. In dem Tumult fand ich einen Karrenweg. Ich rannte diesen Weg entlang. Da stieß ich auf die Unseren. Weil mich der Schlaf völlig übermächtigt hatte, war ich viel zu weit zurückgeblieben. Stumpf und erschöpft trabten da unsere Leute auf dem Karrenweg dahin. Jetzt erst durchfuhr es mich. Ich hatte kein Gewehr. Ich trug zwar eine 205

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Pistole, aber es musste jedem auffallen, dass ich ohne Gewehr war. Musste  ? Hatte denn irgendjemand Zeit und Kraft, den anderen zu beobachten  ? Alle Aufmerksamkeit war ja immer auf den Feind gerichtet. Mich überfiel Angst, wusste ich doch, dass, wer der Waffe verlustig ging, mit Kriegsgericht zu rechnen hatte. Wenn ich in die Hände jener Offiziere oder Unteroffiziere fiel, die in ihren Wahnvorstellungen immer noch den Krieg gewinnen oder sich für den gerade erfolgenden Zusammenbruch rächen wollten, musste ich mit einer schweren Strafe rechnen. Sie konnte leicht eine kriegsgerichtliche Verfolgung bedeuten, selbst in der jetzigen Situation des für alle erkennbar verlorenen Krieges. Als Soldat, der seine Waffe preisgegeben hatte, würde ich, wenn noch irgend eine Instanz dazu fähig war, schwer bestraft werden. Mit solchen Gedanken und Befürchtungen belastet, trottete ich in der Kolonne dahin. Ich traf auf einen sogenannten Infanteriekarren, ein kleines zweirädriges Fahrzeug, das von einem der letzten übrig gebliebenen Maultiere gezogen wurde. Der Karren war mit Tornistern und nebeneinander geschichteten Gewehren beladen. Vor ihm marschierte eine Gruppe von Soldaten, von denen einige im Marschieren dahindösten und zeitweilig einschliefen. Als ich die Szene beobachtete, blitzte in mir ein Gedanke auf. Ich kann mich dieses Gedankens zwar nicht rühmen, aber er bot sich mir als Ausweg aus meinen Ängsten an. Ich begann etwas schneller zu marschieren als die Gruppe, die ihr Gepäck auf dem Infanteriekarren deponiert hatte, um es nicht selber schleppen zu müssen. Als ich an dem Karren vorbeikam, griff ich mir ein Gewehr und hängte es mir um. Ich fühlte mich zwar schuldig, dass vermutlich nun irgendeinem anderen Soldaten die Waffe fehlen würde. Vielleicht konnte er plausible Erklärungen dafür geltend machen. Ich verfügte jedenfalls wieder über ein Gewehr. Das schützte mich vor Verfolgung durch die Feldgendarmerie, die wir auch in den letzten Kriegswochen mehr als den Feind fürchteten. Denn gegen die Schergen der Feldgendarmerie konnten wir uns nicht zur Wehr setzen. Ich hatte mir also ein Gewehr beschafft und wurde so wieder Teil des Stroms, der nach Norden zog. Mir fiel zwar ein, dass die Nummer jeder Waffe, die man ausgefolgt erhalten hatte, im Soldbuch vermerkt war und dass die Waffe, die ich mir eben angeeignet hatte, eine andere Nummer trug als die in meinem Soldbuch verzeichnete. Aber wer würde das jetzt noch überprüfen  ? Das Gewehr sollte ich nur mehr kurze Zeit tragen. Denn der Krieg flackerte seinem schrecklichen Ende entgegen. In meinem Gewissen entstand keine Qual der Selbstbeschuldigung. Soll ich sie jetzt noch nachholen  ? Das Tagebuch, das auch diesem Text zugrunde liegt, hatte ich jedenfalls gerettet. 206

18. Gefangen im letzten Augenblick des Krieges

Alles trieb dem Ende entgegen. Ich hatte das Gefühl, einer Welt anzugehören, die gerade zerbrach. So unklar und verworren unter den Trümmern des berstenden Systems die Aussichten auf Rettung der zurückflutenden Soldaten auch waren, unser Rückzug strömte täglich weiter nach Nordwesten. Obwohl sich die Truppen nun mischten und Einheiten sich auflösten, hörte man doch immer gewisse für das Überleben wichtige neue Nachrichten. Auch Gerüchte erreichten meist die Mehrzahl der Rückflutenden. Jene, die nicht wussten, was geschehen war und nun geschehen könnte, folgten in ihren Handlungen einfach denen, die ihnen zunächst waren. Es gab kaum mehr etwas zu essen  ; die Feldküchen waren längst zurückgelassen worden. Es war auch kein Brot mehr zu verteilen. Wir schliefen in kleinen Gruppen auf dem bloßen Boden des Waldes, von Nässe und Kälte ganz durchdrungen. Der Starre von außen entsprach die Leere von innen. Der Hunger fraß an unseren Kräften. Nirgendwo war Nahrung zu finden. Die Bauernhäuser waren verlassen. Die Menschen hatten sich irgendwo versteckt oder sich dem Treck der nach Norden Flüchtenden angeschlossen. Die Türen standen weit offen, als würden die Häuser sagen wollen  : Seht, wir sind leer. Und sie waren es auch. Beim Durchsuchen der Vorratskammern der verlassenen Häuser war ich besonders gründlich. Manchmal stieß ich auf kümmerliche Reste von Getreide in der Ecke einer leeren Truhe. Da waren noch kleine Häufchen, ein paar Handvoll Mais zur Fütterung von Hühnern in irgendwelchen Ecken zu finden. Es gab längst keine Hühner mehr. Die Körner waren so hart, dass die Zähne den Mais nicht zu zerbeißen vermochten. Ich zerkleinerte die Körner mit Steinen und aß sie, um auf den Schrei des Hungers zu antworten. Die Blätter im Wald waren frühlingsfrisch. Ich suchte die kleinsten aus, riss sie von den Zweigen, um sie zu zerkauen und zu verschlingen. Mehr noch als der Hunger setzte mir die Nässe zu. Ich hatte die Schuhe seit Wochen nicht mehr von den geschwollenen Füßen gezogen. Mit jedem Tag wurden die Beschwerden stärker. Koethe und Kostas waren ein Stück voran, als ich, von Schmerzen geplagt, am Straßenrand eine Rast einlegte. Eine Gruppe von Kosaken kam vorbei. Viele Tausende von ihnen, Feinde des Sowjetkommu207

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nismus, hatten sich nach der Eroberung der Ukraine durch die deutschen Heere als eine Armee mit eigenen Offizieren und Generälen konstituiert und sich der Wehrmacht angeschlossen. Nun befanden auch sie sich, mit eben dieser geschlagenen Wehrmacht, auf einem Rückzug ins Unbekannte, und, wie sich später zeigen sollte, gerieten dadurch schließlich in die Vernichtung. Die Kosaken, die gerade vorbeizogen, ritten die ihnen vertrauten kleinen Pferde und führten eine Schar lediger Pferde mit. Die Reiter dieser Pferde waren im Kampf gefallen, die Tiere hatte man durchzufüttern versucht. In der Not, nicht mehr weiter zu können, streckte ich meinen Arm Hilfe suchend den Kosaken entgegen. Die Männer hielten an und verstanden sehr schnell, was ich begehrte. Sie koppelten ein Pferd ab und drückten mir die Zügel in die Hand. Dann zog der Trupp weiter. Mit Hilfe der Leine, die es um den Hals geschlungen hatte, als ich es von den Kosaken übernahm, konnte ich das Pferd dazu bringen, dass es mich aufsitzen ließ. Soldaten, die neben mir lagerten, zogen mir die Schuhe von den verschwollenen Füßen. Die offenen Wunden versorgten sie mit ein paar Verbandspäckchen, die sie öffneten und in langen Streifen um die Füße wickelten. Die Schuhe band ich mir an den Tornister. Das Pferd war so klein, dass meine Füße beim Reiten fast am Boden streiften. So ritt ich mehrere Tage in dem großen Strom des Rückzugs dahin. Ich fand immer wieder manche bekannte Gesichter, nur Koethe und Kostas fand ich nicht. Aber ich war zu stumpf, zu sehr mit meinen brennenden Fußschmerzen beschäftigt  ; ich war sicher, dass ich die Freunde im Prozess des Rückzuges wiederfinden würde. An einem Vormittag fiel mir plötzlich eine unerwartete, aufgeregte Gruppenbildung in dem Strom auf. Da erfuhr ich die Sondermeldung, die eben über den Rundfunk gekommen war. An der Spitze der kämpfenden Truppen sei in Berlin der Führer gefallen, so hieß es. Ich stellte mir die Situation um den Bunker in Berlin vor. Hatte Hitler wirklich mit der Waffe in der Hand gekämpft wie wir  ? Dieses Bild hatte ich aufgrund der Nachricht vor Augen. Von irgendeinem Nachfolger war dann die Rede. Aber der Rest der Nachricht war nicht mehr zu verstehen. Das Ende war da. Welche Form würde das Ende für uns annehmen  ? Würden wir die Heimat erreichen, die nicht mehr so weit entfernt war  ? Es machte sich die Überzeugung breit, kämpfend den Rückzug fortzusetzen, um nicht in die Hände der Partisanen zu fallen. Keine Übergabe, sondern Heimkehr, wenn auch kämpfend, das war die Parole. Und so ging es mehrere Tage hindurch. Nach Nächten voller Zweifel und Befürchtungen, nach chaotischen Schießereien in der Umgebung, erreichte uns nun die aufs Erste lähmende, Entsetzen 208

Gefangen im letzten Augenblick des Krieges

verbreitende Parole  : Wir gehen in Gefangenschaft. Diese Nachricht löste deswegen solchen Schrecken aus, weil angesichts vieler der Truppe bekannter Beispiele die Angst berechtigt war, dass wir mit der jugoslawischen Gefangenschaft dem Tode entgegengehen würden, durch Vernichtungslager oder durch Massenhinrichtungen. Trieben uns nun die eigenen Offiziere in die Gefangenschaft  ? Warum wurde kein Ausbruchsversuch unternommen  ? Niemand wusste eine Antwort. Der Strom schob sich weiter. Ich stieg ab, zog mir die Schuhe an und ließ mein Pferd laufen. Dicht ballten sich die Menschen zusammen. Mit Mühe gelang es mir, die Schuhe wieder über die immer noch geschwollenen Füße zu ziehen. Die Tage auf dem Rücken des Tieres hatten mich jedoch gekräftigt. Die Wunden an den Füßen hatten sich dank des Ritts auf dem Kosakenpferd teilweise geschlossen. Wir zogen durch eine Landschaft, in der bewaldete Hügel mit weit offenen, langgezogenen abschüssigen Wiesentälern wechselten. Genau wusste ich nicht, wo ich mich befand, doch konnte es laut meiner Karte nicht weit von der Stadt Cilli in Slowenien sein. Schon vor vielen Wochen hatte ich diese Karte an mich gebracht. Sie half mir, mich grob zu orientieren. Sie war fester Bestandteil meiner kleinen Habe geworden und damit Hilfe für die Orientierung im Kampf ums Überleben. Samt Tagebuch, Schreibzeug und der kleinen Lutherbibel eines gefallenen Freundes führte ich sie in jenem viereckigen Brotsack mit mir, den ich in einem verlassenen bulgarischen Tross in den mazedonischen Bergen erbeutet hatte. Die Karte wies deutlich aus, dass uns nur mehr wenige Bergzüge von der Drau und damit von der österreichischen Südgrenze trennten. Warum sollten wir uns nun noch gefangen nehmen lassen  ? Aber immer dichter rückte die Truppe auf engem Raum zusammen, die Bewegung der Rückflutung wurde langsamer. Wir rückten Mann an Mann gedrängt dahin. Die Schüsse wurden seltener. Es war eine unverständliche, rätselhafte Lage. Da kam von vorn die Parole durch  : »Waffen abgeben  !« Die Armee kapitulierte, und dies knapp vor Erreichung der ersehnten Heimat, wo wir auf die Hilfe der Zivilbevölkerung hätten zählen können. Waren nun alle Entbehrungen und Opfer, die verlustreichen Gegenstöße, die Befreiungsversuche für den Rückzug vergeblich gewesen  ? Knapp vor dem Ziel kam nun der völlige Zusammenbruch. Es erfolgte die Auslieferung. Warum  ? Wer war dafür verantwortlich  ? Der Strom der zu Fuß voranrückenden Soldaten schob sich stockend einer Engstelle entgegen. Diese Stelle war wie ein Trichter von einer berittenen Einheit der Tito-Partisanen umgeben. Hoch zu Ross dirigierte sie ein Kommandant  ; stolz wie 209

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ein Heerführer waren die Gesten des Mannes. Links und rechts der Straße wurden die Waffen weggeworfen. Es war ein unregelmäßiges metallenes Geklapper. Rufe auf Kroatisch und Slowenisch kamen von den Partisanen. Sonst war nichts zu hören, nicht einmal Gemurmel oder Flüche. Es war eine beklemmende Stille. Ich zog die Patronentaschen vom Koppel und warf sie von mir. Dann ließ ich das Gewehr, das ich nach Verlust des eigenen vor Kurzem erst an mich gebrachte hatte, in großem Bogen zur Seite fliegen. Zum Schluss kam die Pistole. Mit dieser Pistole hatte ich mir manchmal Respekt verschafft, und sie war für mich der stärkste und letzte Garant meines Überlebens gewesen. Niemals war ich in die Lage gekommen, mit ihr gezielt Menschen töten zu müssen. So hatte ich ein im Grunde positives Verhältnis zu dieser Waffe. Die Wachsamkeit, die ich mit ihr hatte entfalten können, hatte mich oft aufrechterhalten. Es fiel mir schwer, mich von dieser Pistole zu trennen. Als mich das Widerstreben fasste, auch sie abzugeben, fiel mein Blick auf den berittenen Partisanen, dessen Pferd wenige Schritte von mir entfernt tänzelte. Er hatte eine Maschinenpistole geschultert, trug eine große Kappe und blickte stolz vom Pferd herab auf die Soldaten, die vor ihm kapitulierten. Er war sich seiner Sache so sicher, dass er gar nicht überprüfte, ob jeder Soldat der nunmehr besiegten Armee wirklich alle seine Waffen abgab. Der Gedanke, die Pistole zu behalten, zog einen Augenblick lang durch meinen Sinn. Ich verwarf ihn aber sofort wieder. Das hätte, würde ich entdeckt, mein sofortiges Ende bedeuten können, und es wäre auch eine Bedrohung für viele andere Gefangene gewesen. Mein Ausweg war  : Niemand sollte die Pistole je noch verwenden können. Das war mein fester Entschluss. Ich stand wenige Schritte vor dem Berittenen. Er schien turmhoch über mir zu schweben – als Sieger. Ich hatte das Gefühl, nun endgültig unterlegen zu sein. So sehr auch ich und die Freunde und mit uns Abertausende Soldaten der Wehrmacht das Ende des Krieges, den Zusammenbruch herbeigesehnt hatten, so wenig konnte man nun Freude empfinden oder das Gefühl der Befreiung aufkommen lassen. Es ging ja in Gefangenschaft. Der Moment der völligen Hilflosigkeit war gekommen. So wollte ich wenigstens das Instrument des Selbstschutzes zerstören. Ich zog das Magazin aus der Pistole. So weit ich es schleudern konnte, so weit flog es nach der einen Seite. Die dadurch entwertete leere Waffe warf ich nach der anderen Seite. Das war für mich das Ende des Krieges. Erst jetzt blickte ich auf. Vor mir breitete sich in der Sonne ein weites Tal aus. Wiesen zogen auf beiden Talseiten zum Wald hinan. Und auf diesen Wiesen lagerten bereits Hunderte entwaffneter deutscher Soldaten. Ich war ein winziges, vereinzeltes Lebewesen in einer unübersehbaren Menschen-Landschaft. Ich zog weiter, ich wollte, das geschah ganz ohne zu Denken, die Menschen meiner 210

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Einheit treffen. Und schneller als gedacht fand ich auch Gruppen, die von dieser Einheit stammten. Der erste, den ich sah, kam mir entgegen. Nie war dieser Mensch mir jemals entgegengegangen. Er war mein Hauptfeldwebel gewesen, in der Sprache der Deutschen Wehrmacht »Spieß« genannt. Vor angetretener Kompanie hatte er mich manchmal lächerlich zu machen versucht, da mir als Dolmetscher in Griechenland gewisse Privilegien zustanden, die ihn als Hauptfeldwebel ärgerten. Er war es auch gewesen, der noch in den letzten Wochen Durchhalteparolen geschrien hatte, mochte er an sie geglaubt haben oder nicht. Jetzt ging der »Spieß« auf mich zu. Statt des brüllenden, frechen Tones, der ihm zur zweiten Natur geworden war, kamen, wobei plötzlich das Sächsische seiner Aussprache, das sonst durch sein Kommissdeutsch verdrängt worden war, Oberhand gewann, jammernde Worte heraus  : »Ja, ihr Studenten werdet jetzt wohl euren Weg machen, aber was wird aus mir  ?« Um Berufssoldat zu werden, habe er sich von der Tischlerei getrennt, jetzt stünde er da, ohne wirklich etwas gelernt zu haben und zu können. Ich war erstaunt, betroffen, im Grunde angeekelt, wie der Mann, den ich gefürchtet hatte, nunmehr waffenlos und ohne Befehlsgewalt über mich, von mir Sympathien zu gewinnen suchte. Zu solchen Sympathien hatte er mir nie Anlass gegeben. Er versuchte sich nun klein zu machen, sich zu ducken, Mitleid zu heischen  : ein jammervoller Anblick. Eine andere, mir wohlbekannte Figur, der Berliner Feldwebel, der mir mehrfach aufgefallen war, ein »überzeugter« Nationalsozialist, saß in sich verfallen stumm im Gras. Auch sonst sah ich bekannte Gesichter, nur Kostas und Koethe fand ich nicht. So zog ich weiter, suchend, durch die Massen der auf dem Boden gelagerten Gruppen. Da saßen einige Offiziere des Regiments. Merkwürdig, sie alle ohne Waffen zu sehen. Viele hatten auch das Koppel abgegeben, sodass die Uniformröcke ungewohnt locker an ihnen herabhingen. Da war auch der kleine, gedrungene Mann, den ich besonders bewundert hatte, der Regimentskommandeur Major Pabst. Er war ein Mensch, der immer das Mögliche auszuschöpfen getrachtet hatte. Niemals hatte er die geringste Pose gezeigt oder gegen sein Wissen und Gewissen gehandelt. Im Verlauf dieses Rückzugs hatte meine alte Rolle des Melders an Bedeutung gewonnen. Viele Funkgeräte waren zerstört oder zurückgelassen worden. Ein Walkie-Talkie gab es in der Deutschen Wehrmacht damals noch nicht. In meiner Melder-Funktion konnte ich beobachten, wie der Mann, wie der Mensch Pabst dachte, um sich zu entscheiden. Für diese Entscheidungen suchte er immer so viel wie möglich mit eigenen Augen zu sehen. Darum liebte er die Hügelkuppen, 211

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die Punkte, von denen aus er sich orientieren konnte. Natürlich waren diese Kuppen auch die am meisten gefährdeten Positionen, die das Feindfeuer am stärksten auf sich zogen. Wie ein Monument stand Pabst unangefochten ruhig auf solchen Hügeln. Er wollte sehen und verstehen, ehe er seine Befehle gab. Eine Situation hatte in mir das Erinnerungsbild dieses Mannes unverlierbar eingegraben. Wieder war eine weitreichende Entscheidung über eine Veränderung des Frontverlaufs unter starkem Feinddruck zu treffen. Der Feind griff von mehreren Seiten gleichzeitig an. Um Ausschau zu halten, schritt der Major, wie so oft, den Hügel hinauf, als hätte er ein Manöver in Friedenszeit zu beurteilen. Notgedrungen folgten ihm zwei seiner Stabsoffiziere. Der Hügel kam dann plötzlich unter starken Artilleriebeschuss. Auch ich musste als Melder mitkommen. Ich sollte die Entscheidung des Kommandeurs an untergeordnete Einheiten unverzüglich weiterleiten. Ich hatte auf seinen Befehl zu warten. Das Feuer wurde unerträglich, die Splitter pfiffen so stark, dass sich die beiden Offiziere niederwarfen und sich ins Gras drückten. Ich blieb etwas hinter der Hügelkuppe und tat desgleichen. Oben stand Major Pabst und blickte sich im Zentrum des Feuers ruhig nach allen Seiten um. Er wollte erst nach Sichtkontakten seine Entscheidung treffen. Er unternahm nichts, um sich zu schützen. Dann trat er einige Schritte zurück, die Granatsplitter sausten winselnd durch die Luft, sie schienen ihn nicht zu stören. Ich schämte mich vor dem Mann, der älter als mein Vater war. Auf dem Bauch liegend nahm ich den Befehl entgegen, den ich weiter zu melden hatte, dann lief ich von dem gefährlichen Punkt weg, um dem Befehl entsprechend meine Aufgabe zu erfüllen. Major Pabst war Österreicher. Er war im Ersten Weltkrieg Offizier des Kaisers geworden und musste im Zweiten Weltkrieg erneut Waffen und Uniform tragen. Wir alle wussten, dass seine beiden Söhne in Russland gefallen waren. Manchmal schien es mir, als suche der Mann den Tod. Nun, in der Gefangenschaft, saß der Major hier im Gras. An wen sollte ich mich wenden, wenn nicht an ihn  ? »Herr Major«, sagte ich, »können Sie nicht etwas organisieren, dass wir hier herauskommen  ?« »Sehen Sie«, sagte er, »jetzt ist meine Verantwortung zu Ende. Jeder muss für sich allein entscheiden.« Ich war über diese Antwort zutiefst enttäuscht. Ich fasste sie als Zurückweisung, ja als Gleichgültigkeit gegenüber einem von denen auf, die er lange Zeit hindurch befehligt hatte. Und vielleicht waren da auch Gleichgültigkeit, Resignation, das Abwerfen einer Last, die er während der Kämpfe viel stärker als drückend empfunden haben mochte, als wir alle es wahrgenommen hatten. 212

Gefangen im letzten Augenblick des Krieges

Der mir nun alt erscheinende Mann gab keinerlei Ermutigung, keinerlei Rat. Es war dies der Moment, in dem ich die stärkste Einsamkeit empfand. Ohne meinerseits irgendetwas zu sagen, wandte ich mich ab, betroffen von einem Menschen, der mir ein bewundernswertes Bild des Mutes und der Entscheidungsfähigkeit gewesen war. Wenn ich heute die Antwort des alten Offiziers, von dem ich nicht weiß, welches Schicksal ihm beschieden war, ob man ihn verschleppte, ob er und wohin er heimkehrte, ruhig überdenke, so scheint sie mir im Nachhinein verständlicher, als sie mir damals vorkam. Die klare Absage des Major Pabst an jegliche Zumutung einer Führung durch ihn weckte Kräfte in mir. Vielleicht war das von ihm sogar beabsichtigt gewesen. In der Einsamkeit mitten in den passiven Massen spornte mich seine Antwort an, nachzudenken, was ich selber tun könnte und sollte. Das als zurückweisend erlebte Wort des alten Österreichers gab mir, der ich gefangen war, Anlass, auf eigene Faust nach Freiheit zu suchen. In der Nüchternheit der Verweigerung eines Ratschlags trug er vielleicht mehr zu meiner Befreiung bei, als wenn er mir gegenüber nun direktiv geworden wäre. Aber vorerst irrte ich noch weit herum, denn ich wollte Kostas und Koethe finden. Wie sollte mir das unter Tausenden von Menschen gelingen  ? Durch das Herumirren hörte ich allerdings einiges, das mir als Information dienlich war, mich aber zugleich in Schrecken versetzte. Manche Gruppen der Gefangenen waren schon mehrere Tage im Lager. Sie berichteten, dass täglich Menschen weggebracht würden. Die meisten Transporte, hieß es, gingen direkt in die jugoslawischen Bergwerke. Es gäbe keine Hinrichtungen und keine Gewaltakte. Aber man müsse damit rechnen, schubweise zur Zwangsarbeit in Bergwerke abtransportiert und unter der Erde als Bergleute eingesetzt zu werden. So lauteten die Gerüchte. Die Partisanen hatten sich gegen die deutsche Armee erhoben, die 1941 plötzlich und überfallsartig in ihr Land eingedrungen war. Über die Jahre hinaus war der Hass durch Gräueltaten auf beiden Seiten enorm gewachsen. Dieser Hass ließ die Verbannung in die Bergwerke der nunmehr gefangen genommenen deutschen Soldaten als eine begründete Befürchtung erscheinen. Aus den Gerüchten und aus dem dürren Wort des alten Major Pabst, der mich auf meine eigene Verantwortung mir selber gegenüber verwies, braute sich in mir, vorerst noch ganz vage, der Plan zu einer Flucht zusammen. Ich wollte überleben. Alle meine Sinne und meine ganze Kraft strebten danach. Ich wollte alles andere als für immer in einem Bergwerk verschwinden. Tag und Nacht war die Heimat mein Ziel gewesen. Und nun, im letzten Augenblick der Heimkehr, in absehbarer Nähe der Grenze, sollte die Heimkehr mir zuletzt missglücken  ? Sollte ich dem tödlichen Fluch des Krieges spät, aber schließlich doch zum Opfer fallen  ? 213

19. Ausbruch aus dem Gefangenenlager – Flucht in die Heimat Auf meiner Zeltplane auf der Wiese schlief ich in der ersten Nacht der Gefangenschaft lange und tief. Als ich erwachte, war es schon hell. Kein Kriegslärm, keine Ängste, im nächsten Augenblick unmittelbar am Leben bedroht zu werden, hatten den Schlaf gestört. Der Krieg war für mich vorerst zu Ende. Das Erhoffte, das Herbeigewünschte war da – wenn auch ganz anders als erwartet, nämlich in der Gefangenschaft. Was würde weiter geschehen  ? Und was sollte ich tun  ? Ich rollte die Zeltplane zusammen, auf der ich geschlafen hatte. Irgendwo wurden kleine Rationen von Brot verteilt, das noch aus Wehrmachtsbeständen stammte. Bei der Brotverteilung stieß ich auf Kostas. Er hatte den untrüglichen Sinn, günstige Situationen wahrzunehmen. Aber Kostas schien mir abgelöst, fremder als sonst, obwohl er sofort wieder in die alten Verhaltensweisen der Unterordnung verfiel, die er mir gegenüber schon von Beginn unserer Beziehung an entwickelt hatte. Er war ungeduldig und wollte von mir wissen, was geschehen solle. Ich fragte ihn, ohne dass ich darüber nachgedacht hatte, ob er es versuchen wolle, mit mir zusammen zu flüchten. Er bejahte das sofort, so als hätte er die Frage erwartet. »Wann  ?«, fragte er. »Wir müssen noch warten«, sagte ich. Kostas sah mich kritisch an. Durch den jahrelangen Umgang mit Herdentieren in unwegsamen Bergen und durch das Leben in Ungewissheit – sowohl deutsche Soldaten als auch Partisanen zogen durch die Bergregionen, in denen er die Schafe hütete – hatte er eine besondere Wachheit gelernt. Eine solche Wachheit war mir bei niemandem sonst in ähnlicher Weise erkennbar geworden. Kostas’ Spürsinn und seine daraus abgeleitete Haltung drängten unausgesprochen auf baldige Flucht aus dem Lager. Ich sah mich in dem weitläufigen Tal um. Die lagernden Soldatengruppen der ehemaligen Wehrmacht zeigten eine tiefe Apathie. Sie boten das Bild von Geschlagenen, und das waren sie ja auch. Es schien aufs Erste unverständlich, dass sich diese Massen gegenüber den relativ kleinen Gruppen von Bewachern keinen Weg in die Freiheit zu bahnen verstanden. Waren sie alle zu müde  ? Aber 214

Ausbruch aus dem Gefangenenlager – Flucht in die Heimat

sofort wurde mir klar  : Ich hatte außer Acht gelassen, dass diese Massen ja ohne Waffen waren. Bei einem Aufstand wären sie in ein Vernichtungsfeuer der Bewacher hineingelaufen, wenn der Überfall auf die Bewacher nicht sehr genau vorbereitet gewesen wäre. Doch niemand schien daran zu denken oder die Kraft für eine solche riskante Initiative zu haben. Die Partisanen strotzten vor umgehängten und mitgetragenen Waffen. An einigen Punkten des Tales waren sie damit beschäftigt, Maschinengewehre so aufzubauen, dass diese durch ihr Schussfeld vorderhand den Stacheldraht ersetzen konnten. Denn dieser war noch nicht gezogen worden. Die Mannschaften der Partisanen, die mit der Organisation der Bewachung begannen, gestikulierten viel und verständigten sich über weite Strecken durch lautes Schreien. Am tiefsten Punkt des Lagers, wo ein Bach das Tal verließ, waren bereits Stacheldrahtrollen gestapelt. Es war zu erwarten, dass bald mit der Umzäunung des Lagers begonnen würde. Eine Mannschaft der Partisanen schleppte bereits Rollen bergan. Es würde nicht mehr lange dauern und der Käfig um uns herum wäre verschlossen. Kostas hatte all dies vermutlich gar nicht im Einzelnen beobachtet. Aber sein Spürsinn sagte ihm, dass ein Fluchtplan, wenn überhaupt, dann nur in allernächster Zukunft Chancen des Gelingens haben könnte. Ich begann nachzudenken. Sollten wir bergauf oder bergab flüchten  ? Abwärts wäre der Wald schneller und müheloser zu erreichen, aber dorthin führte ein Weg, von dem her die Bewachungsmannschaften immer wieder einmal beim Wachewechsel oder beim Essenbringen für ihre Leute zuströmten. Es bestand daher die Gefahr, dass man, bevor der Wald erreicht war, Mitgliedern der Truppe der Bewacher in die Hände fiel. Bergauf war die Flucht mühsamer und gefährlicher. Die Flucht musste dort in schnellem Lauf über große Wiesenflächen erfolgen, die von den Bewachern gut einsehbar waren und wo Büsche kaum Deckung boten. Wer aber den Wald oberhalb der großen Wiese einmal erreicht hatte, konnte nach meinen Beobachtungen fast schon als gerettet gelten. Denn die Wiesen leiteten zum Ansatz eines Bergrückens hinauf, über den sich weitläufig Wälder erstreckten. In diesen Waldgebieten konnte man sich leicht verbergen. Angesichts all dessen entschloss ich mich für eine Flucht nach oben. Doch wann sie stattfinden sollte, das war noch offen. Für diese Entscheidung kam mir eine Kindheitserinnerung zu Hilfe. Schon im letzten Jahr der Volksschule hatte ich begonnen, Abenteuerromane von Karl May zu lesen. Ich erinnerte mich nun daran, dass die Helden Karl Mays, waren sie einmal in Gefangenschaft geraten, sich durch die Befolgung einer Grundregel zu befreien vermochten. Diese Regel besagte, mittels genauer Beobachtung der Bewacher sich deren Schwächen zunutze zu machen. Solche Schwä215

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chen hatten sich, so erinnerte ich mich aus der Kindheitslektüre, fast immer bei der Wachablöse ergeben. Das waren, nach den Schilderungen des Autors, die Momente, in denen die neu angekommenen Wächter mit den abtretenden ins Gespräch kamen und dabei ihre Aufmerksamkeit gegenüber den Gefangenen kurzfristig vernachlässigten. Die Wachablöse sei der beste Zeitpunkt für eine Flucht, das war die Lehre, die ich aus der Lektüre der Abenteuerromane gezogen hatte. Dazu kam, dass ich während des Krieges selber oft auch die eigene Truppe bei der Wachablöse beobachtet hatte. Meine Erfahrung hatte also den Wert der Empfehlung Karl Mays bestätigt. Wenn Kostas und ich aus dem Lager fliehen wollten, so musste dies zum Zeitpunkt einer Wachablöse erfolgen. Sollten wir noch einen Tag zugeben oder es noch diesen Abend versuchen  ? Da ich gesehen hatte, dass schon Stacheldrahtrollen mit Maultieren über die Wiesen herauftransportiert wurden und man bei hellem Tag Leuchtpatronen in die Luft schoss, war eine Verstärkung der Organisation zur Bewachung am folgenden Morgen vorauszusehen. Jetzt, wo noch wenig Festlegung und Ordnung in dieser Bewachung zu erkennen war, und die Bewacher sich wegen der auffallenden Passivität der Gefangenen sicher fühlten, galt es zu handeln. Ich teilte Kostas meinen Entschluss mit. Er war sofort einverstanden. Ich sagte ihm, dass wir alles zurücklassen müssten, selbst die Zeltplane, um so beweglich wie möglich zu sein. Und wir sollten getrennt, nicht knapp nebeneinander laufen. Er dürfe sich nicht um mich kümmern und müsse die Flucht fortsetzen, sollte ich getroffen werden und liegen bleiben. Ich machte ihm Mut und kündigte ihm an, wir würden beide den Wald erreichen. In der Tat war ich davon überzeugt, dass unsere Flucht gelingen würde. Vielleicht kam mir diese starke Überzeugung zu Hilfe. Ich ließ alles zurück, nur den bulgarischen Brotbeutel mit der Karte, einem Bleistift, dem Tagebuch und der kleinen, winzigen Ausgabe des Neuen Testaments nahm ich mit. Der Abend rückte näher, aber es war noch nicht dunkel. Wir gingen getrennt zu dem auf dem höchsten Punkt der Wiese lagernden Wachposten hinauf. Es waren zwei Mann, die ein Maschinengewehr zwischen sich hatten, welches talwärts, auf die Masse der Gelagerten, gerichtet war. Beide Männer redeten miteinander. Für die Bewachung der Gefangenen schien ihnen keinerlei Aufmerksamkeit nötig zu sein. Das war auch zu verstehen  : Vor und unter ihnen saßen oder lagen die Massen entwaffneter und erschöpfter Soldaten einer Armee, die nach monatelangem, kämpfendem Rückzug kapituliert hatte. Die Wächter selber fühlten sich in Sicherheit, der Druck der Kämpfe samt deren Ängsten hatte für sie nachgelassen. So war auch ihre Aufmerksamkeit geringer geworden. 216

Ausbruch aus dem Gefangenenlager – Flucht in die Heimat

Da kam auch schon die Wachablösung. Zwei Mann mit geschulterten Gewehren zogen zwischen den Gefangenen über die Wiese herauf. Kostas und ich hatten uns in einiger Entfernung voneinander zwischen den am weitesten oben auf der Wiese gelagerten Gefangenen und dem Wachposten hingesetzt. Unsere Spannung stieg aufs Äußerste. Es war zwischen Kostas und mir ausgemacht, dass, wenn ich zu laufen anfing, Kostas dies auch seinerseits tun würde. Wie erwartet, begann das eben zur Ablöse hinzugekommene Wach-Duo sich mit den beiden anderen Posten zu unterhalten. Sie sprachen heftig gestikulierend miteinander. Das Maschinengewehr zeigte weiterhin abwärts. Das war die große Chance für uns. Es musste umgedreht und neu in Stellung gebracht werden, ehe es gegen uns als Flüchtende eingesetzt werden konnte. Diese ersten Augenblicke galt es auszunützen. Also war es ratsam, besonders das erste Stück so schnell wie nur irgend möglich zu laufen, um den Abstand zwischen dem Posten und uns größer und damit die Treffsicherheit der Waffe uns gegenüber geringer werden zu lassen. Jetzt oder nie  ! Ich sprang auf und begann, so schnell ich es vermochte, zu laufen. Ich keuchte bergauf. Noch immer keine Schüsse. Hatten uns die vier Männer gar nicht bemerkt  ? Weiter, weiter  ! Der Atem wurde knapper. Schon hatte ich etwa die Hälfte der Strecke bis zum Wald zurückgelegt. Da  : Die ersten Schüsse fielen aus einem Gewehr. Sie lagen, für mich günstig, ungenau. Kostas war auf etwa gleicher Höhe wie ich. Jetzt begann das Maschinengewehr zu klappern. Sie hatten es also umgedreht und begannen sich auf uns einzuschießen. Weiter, weiter  ! Ich fühlte erste Anzeichen einer starken Atemlosigkeit. Die Wiese war steil. Aber der Wald rückte schon näher. Die Geschosse des Maschinengewehrs schlugen in unmittelbarer Nähe ein. Der nasse Boden spritzte auf. Trotz der damit verbundenen Verzögerung musste ich jetzt den Zickzacklauf beginnen, sonst war die Wahrscheinlichkeit, getroffen zu werden, zu groß. Das Feuer wurde intensiver. Aber es war nicht mehr weit bis zum Wald. Ich lief weiter, aber im Zickzack. Da waren die ersten Büsche. Kostas war links oberhalb von mir und hatte den Wald bereits erreicht. Schon verschwand er darin. Ich spürte die Maschinengewehrgarben knapp neben mir in den Boden fahren. Nur jetzt nicht mehr getroffen werden  ! Ich erreichte die ersten Bäume, ich stürzte in den Wald. Es begann zu splittern und zu krachen. Man schoss uns also in den Wald nach. Hinter einem großen Baum hielt ich, gegen die Schüsse gedeckt, für einen Augenblick inne, um wieder zu Atem zu kommen. Ich versuchte zu sehen, ob man uns über die Wiese herauf verfolgen würde, konnte aber nichts ausmachen. Die Bäume verdeckten die Sicht. Das Feuer aber folgte uns bis in den Wald hinein. Ich hörte 217

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das Holz splittern. Von Minute zu Minute wurde die Gefahr, getroffen zu werden, allerdings geringer. Ich verständigte mich mit Kostas. Wir setzten beide, obwohl erschöpft, das Laufen fort, so gut wir nur konnten. Wir mussten damit rechnen, dass man uns verfolgte. Aber je weiter wir liefen, desto schwächer und verirrter hörten sich die Einschüsse an. Zudem begann sich die Steigung im Wald zu verringern. Nur manchmal konnten wir noch Schüsse hören. Vielleicht waren wir beide als unbewaffnete Flüchtlinge den Bewachern des Lagers gar nicht wichtig genug, um uns durch eine Patrouille zu verfolgen. Es dunkelte nun. Doch hielten wir noch immer nicht inne, sondern zogen mit langen Schritten in der einmal eingeschlagenen Richtung weiter. Wir taten dies so lange, bis es ganz finster war. Gerettet  ? Noch nicht. Aber wir durften fürs Erste hoffen, entkommen zu sein. Wir fanden eine Grube im Wald. Dort wollten wir die Nacht verbringen. Es war kälter geworden. Ohne Mäntel und Zeltplane froren wir. Auch an Schlaf war nicht zu denken. Vielleicht würde doch eine Patrouille auf die Suche nach uns ausgesandt werden. Da jedoch in den folgenden Stunden nichts zu hören war und nichts dergleichen geschah, entließen wir uns in einen kurzen Schlaf.

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20. Der britische Posten auf der Brücke über die Drau nach Kärnten Noch vor dem Morgen weckte uns die scharfe Kälte der bewaldeten Berge. Als es hell wurde, suchte ich die mitgeführte Karte heraus. Für eine Orientierung im Einzelnen war sie zu ungenau. Um die österreichische Grenze zu erreichen, hatten wir jedenfalls nordwestlich durch Bergland zu ziehen. Wir fanden einen Weg im Wald, der uns zu einer Lichtung führte. Dort bewegte sich etwas. Es war Vorsicht geboten. Menschen konnten wir jedoch keine erkennen. Auf der Lichtung stand ein Gefährt. Es war ein in der Deutschen Wehrmacht unter dem Namen »Infanteriekarren« bekanntes zweirädriges Militärfahrzeug. Vor diesen Karren war ein Maultier gespannt. Wir beobachteten die Szene aus dem Wald. Das Maultier rückte Stück für Stück voran, um auf der Wiese zu grasen. Vorsichtig näherten wir uns, vielleicht gab es irgendwo im Gebüsch Bewaffnete, die zu diesem Gefährt gehörten. Aber da war niemand. Der Karren war mit einem großen Sack beladen. Auch da gingen wir vorsichtig zu Werk. Es könnte eine Mine darunter versteckt sein. Aber auf dem Karren lag nur der Sack – und sein Inhalt war Zucker, nichts als Zucker. Wir nahmen das Maultier samt dem Karren mit. So zogen wir weiter. Zwei Bergbauernhäuser kamen in Sicht. Sollten wir versuchen, dort Kontakt aufzunehmen  ? Der Hunger trieb uns schließlich dazu. Beide Seiten hatten Angst, sowohl die Bauern als auch wir. Wir wussten ja nicht, waren es Slowenen oder Deutsch sprechende Südkärntner. Erst nach langem Verhandeln in deutscher Sprache wurde uns aufgemacht. Man gab uns Brot und Fleisch und wir ließen dafür die Hälfte des Zuckers zurück. Wir hatten nun für ein oder zwei Tage zu essen. Dann ging es weiter, durch den Wald und über Bergwiesen. Wir führten das Tier samt dem Karren mit uns. Schließlich, als wir schon ziemlich weit vorangekommen waren, tauschten wir bei anderen Bergbauern für den Rest des Zuckers nochmals Lebensmittel ein. Bei den erstaunten Leuten, die ihre Ängste nur mit Mühe überwanden und heilfroh waren, dass wir Uniformierten weiterzogen, ließen wir den Karren und das Maultier zurück. Danach verbrachten wir eine zweite Nacht im Wald. Auf dem nunmehr waffenlosen weiteren Rückmarsch sah ich ihn vom Berghang aus zwischen den Bäumen heraufleuchten, den Grenzfluss. Ich zog Kos219

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tas an mich und zeigte mit dem Finger hinüber  : »Meine Heimat«, sagte ich, so als könnte ich ihm damit Freude bereiten. Von meinen Empfindungen war ich so sehr fortgerissen, dass ich völlig vergaß, dass meine Heimat nicht die seine war. Der Gesichtsausdruck von Kostas blieb hilflos. Was er sah, war ein unbewohntes Waldtal, und darin schäumte ein starker Fluss. Die eine Seite des Tales glich der anderen. Und doch war für mich gerade die andere Seite mit einem unsäglichen Gefühl verbunden. Es war das, wonach ich mich in den letzten Monaten so verzweifelt gesehnt hatte. Es begann dort der Boden, die Menschen, die mir bekannt sein und mir Schutz geben würden. Da lag das Ziel. Es lag ganz unmittelbar vor mir. Ich zog Kostas mit mir hinunter zum Fluss. Wir rutschten und stolperten die Abhänge hinab. Und dann standen wir da und mussten erkennen, wie reißend die Wasser waren und wie hoch sie gingen. Mein erster Gedanke war  : eine Stelle suchen und sofort hinüberschwimmen. Dann kamen die Bedenken. Eine Überquerung dieses Hochwassers war gefährlich. Sollte ich mein Leben jetzt, ganz zuletzt, noch einmal und diesmal aus Ungeduld riskieren  ? Außerdem  : Der Hirtenjunge Kostas hatte nie schwimmen gelernt. Er hatte Angst vor Gewässern. Auch am Strand seiner Heimat, in Griechenland, wagte er sich, selbst wenn das Meer ruhig war, kaum weiter als in das knietiefe Wasser vor. Wie sollte ich Kostas über den reißenden Fluss schaffen, wenn ich selber nicht sicher war, ihn schwimmend durchqueren zu können  ? Ich konnte und wollte ihn nicht zurücklassen. Er gehörte zu mir. Ich wollte ihm eine Zukunft in Österreich bieten. So standen wir nochmals vor einem Hindernis. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn sich plötzlich Verfolger gezeigt hätten. Aber es war nur das starke Rauschen des Wassers zu hören, das unregelmäßige Aufzischen der von der Schneeschmelze in den Bergen verstärkten, hochgehenden Fluten. Den Fluss entlang führte auf unserer Seite, die immer noch Feindesland war, ein Fahrweg. Ich entschloss mich, ihm flussaufwärts zu folgen. Dabei ließ ich größte Vorsicht walten. Musste man nicht auch hier noch mit Partisanen oder mit Gruppen rechnen, die sich spontan zusammengerottet hatten, jetzt, nach dem Ende des Krieges  ? Es würde ihnen auf ein paar Schüsse nicht ankommen, zwei unbewaffnete junge Männer in feldgrauen Röcken zu liquidieren. Wie die Ereignisse der folgenden Wochen und Monate an der Kärntner Südgrenze zeigten, Ereignisse, deren Zeuge unter sehr merkwürdigen Umständen ich noch werden sollte, war meine Besorgnis nicht unbegründet. Also marschierten Kostas und ich, nachdem die letzte Nahrung aufgezehrt war, auf dem schmalen Fahrweg am südlichen Drau-Ufer vorsichtig flussaufwärts. 220

Der britische Posten auf der Brücke über die Drau nach Kärnten

Nach einem langen mehrstündigen Marsch sah ich sie schon von Weitem, die feste, steinerne Brücke. Wir verstärkten die Vorsicht, versteckten uns im Wald und versuchten vorerst einmal zu beobachten, was auf der Brücke geschah. Keine Bewegung. Die Brücke schien leer zu sein. Wir warteten ab. Wir wollten sicher sein. Da zeigte sich jemand auf der Brücke. Die Gestalt kam vom anderen Ufer und schritt auf das unsere zu. Dann wendete sie sich wieder und schritt zurück. Der Vorgang wiederholte sich mehrmals. Also doch ein Posten. War es wirklich nur ein Einzelner oder war der Mensch nur der sichtbare Teil einer Gruppe  ? Das Wagnis, irgendwo über den Fluss zu setzen, würde uns also kaum erspart bleiben. Wir wichen vom Weg ab und schlichen durch den Wald am Ufer voran, um die Verhältnisse genauer zu erkunden. Es war ein Posten, aber kein jugoslawischer. Es war auch kein Partisan. Der Mann trug eine gelbbraune Uniform und eine merkwürdige, schräg auf dem Kopf sitzende übergroße Pullmann-Mütze. Da durchzuckte es mich  : ein englischer Soldat. Und sofort kam auch der zweite Gedanke  : Der Posten bedeutet erneut Gefangenschaft. Wir hatten also zu wählen. Entweder wir riskierten das Leben bei der Überquerung des Hochwasser führenden Flusses oder wir gingen über die Brücke in englische Gefangenschaft. Die Entscheidung fiel schnell zugunsten der Brücke. Wir lösten uns aus dem Wald und zogen ruhigen Schrittes nebeneinander der Brücke entgegen. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, die Arme zu heben, wie Menschen tun, die sich ergeben. Trotzdem reagierte der Uniformierte sehr ruhig auf uns. Er blieb stehen und sah uns aufmerksam an. Die Waffe, die er über der Schulter trug, hob er gar nicht an. Es war ein überraschend sanfter, friedlicher Prozess der Annäherung. Mit der Selbstverständlichkeit des Briten sprach er uns auf Englisch an  : »Where are you coming from  ?« Ich erwiderte, ohne die Folgen zu bedenken, auf Englisch, dass wir beide aus einem Gefangenenlager der Partisanen kämen. Ich hatte jahrelang manche andere fremde Sprache oder zumindest Brocken derselben gesprochen, nur nicht das Englische. Aber jetzt war sie auf einmal wie von selbst wieder da, die zweite Sprache meiner Kindheit. Vielleicht war es unbewusst auch das Vertrauen in diese Sprache, das immer auch ein Vertrauen in die in dieser Sprache sich ausdrückende Kultur und deren Werte ist. Das gab mir Sicherheit. Mag sein, dass sich dies sowohl auf den Posten als auch auf mich entängstigend auswirkte. Ohne sich irgend eine Emotion anmerken zu lassen, sagte der Mann  : »So you will now have to go to a British prisoner-of-war-camp.« Es lag eine Art Gleichmut, aber auch der Ausdruck von Notwendigkeit in dieser Aufforderung. Und dann zeigte er auf eine Straße auf österreichischer Seite. Dort sollten wir 221

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weitergehen. Er kontrollierte uns nicht, ob wir noch Waffen bei uns hätten, stellte, wie ich das später öfters bei den Briten erlebte, keinerlei Frage, »ob wir Nazis gewesen seien«, sondern wies uns einfach in der Richtung auf ein Lager. Aber von der Brücke führte noch eine andere Straße weiter. Diese Straße war die Straße meiner Wahl. Ich wollte um keinen Preis wieder in ein Lager eingewiesen werden, obwohl mir bewusst war, dass die Verhältnisse in einem englischen Lager andere sein würden als in einem der Partisanen. Ich riskierte dem Posten gegenüber ein Argument. Machtlos und waffenlos, wie ich war, versuchte ich zu verhandeln. Wir wollten beide nach Wien, erklärte ich dem Posten, ich sei dort zu Hause, das Lager aber liege in der entgegengesetzten Richtung. Er sah uns beide prüfend an. Für mich war ganz überraschend, dass ein fremder, ein feindlicher Soldat auf ein Argument hörte. »But as former German soldiers you will have to go to a camp, or …« und da zögerte er, um eine Lösung zu finden, die sowohl seinen Normen entsprach als auch mir entgegenkam, »… or you go ahead and see an AMGOT*-Officer.« Ich verstand das vorletzte Wort nicht, aber der Klang prägte sich mir ein. Und ich versprach sofort, einen solchen AMGOT-Officer aufzusuchen. Dieser Vorgang wirkte auf mich wie ein Wunder. Eine Schranke schien sich zu heben. Da war jemand, der auf ein vorgebrachtes Argument einging. Mit Ausnahme des Leutnant Weiss, eines wissenschaftlich gebildeten und auch in der Wissenschaft tätig gewesenen Menschen, meines Vorgesetzten in der Deutschen Wehrmacht als Dolmetscher, war dies der erste Uniformierte meines Lebens, mit dem ich hatte verhandeln können. Er war wie der Bote aus einer anderen Welt. Ich war dem Westen begegnet. Der Mann mit der großen, schief aufgesetzten Mütze war, das konnte ich erst später durch die eigene Mitgliedschaft in dieser Einheit erkennen, Soldat im London-Irish-Regiment der 8th Army. Sie hatte, wenn auch mit großer technischer Überlegenheit, Marschall Rommel auf seinem Vormarsch nach Ägypten aufgehalten und bei El Alamein zum Rückzug des deutschen Afrikakorps nach Westen bis Tunis gezwungen. Heute vermute ich, wozu mir damals die Voraussetzungen fehlten, dass es vielleicht ein Soldat mit einer besonderen Erziehung gewesen sein mochte. Auf jeden Fall aber war es ein Mensch mit einem mir neuen politischen Weltbild, welches das Verhandeln zu einer ihrer wichtigsten Grundlagen hat.

* Allied Military Government Territories [Alliierte Militärregierung für besetzte Gebiete].

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21. Der bittere Abschied von Kostas

Der Posten ließ uns passieren, und so schritten Kostas und ich auf der nunmehr für uns freigegebenen Straße nach Norden. Britische Soldaten kamen uns scharenweise entgegen. Sie kümmerten sich nicht um uns. Dann war irgendwo eine Straßensperre, und wir wurden beide aufgefordert, umzukehren, um uns ins Kriegsgefangenenlager zu begeben. Mit fester Stimme und Überzeugung erklärte ich, dass wir den Befehl hätten, einen AMGOT-Officer aufzusuchen. Das Wort wirkte sofort, und wir wurden durchgewunken. Wir kamen in einen Marktflecken mit vielen englischen Soldaten. Ich begann nunmehr zu zweifeln, dass das geheimnisvolle Wort »AMGOT« für uns auch weiterhin wirksam bleiben würde. Das war auch der Moment, da mir in den Sinn kam, dass es besser wäre, für uns beide Zivilkleider zu besorgen. Abseits der Straße lag eine Försterei. Schüchtern klopfte ich an, gefasst darauf, ärgerlich abgewiesen zu werden. Eine ältere Frau verstand allerdings das Anliegen. Auf dem Dachboden seien noch alte Kleider ihres Mannes, da könnten wir uns welche nehmen. Sie sah uns an, als wären wir ihre Söhne. Sie verlangte nur, unsere Uniformen nicht in ihrem Hause zu hinterlassen. Ein Gespräch gab es nicht, und ich wagte auch nicht, um Essen zu bitten. Lieber hungrig und durch Zivilkleider vorläufig davor gefeit, rasch in ein Kriegsgefangenenlager eingewiesen zu werden, als mit vollem Magen in Gefangenschaft zu geraten. Beides, Kleider und Essen, schien mir aufs Erste zu viel verlangt. Wir kleideten uns um, sofern das, was wir gegen die alte Uniform eintauschten, überhaupt noch den Titel einer Bekleidung verdiente. In den grünbraunen verstaubten Kleidern von Forstbediensteten, die ich nun trug, kam ich mir merkwürdig vor. Auch Kostas sah aus wie ein Strolch. In einem Waldstück ließen wir die zusammengerollten Uniformreste unweit der Straße in einem Gebüsch zurück. Alle Ausweise, das Soldbuch des deutschen Soldaten und die wenigen Habseligkeiten wie mein Tagebuch im bulgarischen Brotbeutel, bewahrten wir auf und trugen sie mit. Vom Lederkoppel, das die Uniformhose gehalten hatte, hatte ich mich schwer getrennt. Die Hose band ich mir nun mit einer Schnur zusammen. Würde man uns ungestört nach Norden ziehen lassen  ? Wie würde es uns gelingen, die Grenze zwischen dem englischen und sowjetischen Bereich zu über223

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schreiten, von der die Frau, die uns die Zivilkleider gegeben hatte, wusste. Es erhob sich auch bohrend die Frage nach dem Verbleib von Mutter, Vater und Bruder in mir. Ein wenig fragte ich mich auch, was das künftige Schicksal von Kostas sein würde. Doch da geschah etwas für mich ganz Unerwartetes, das alle Pläne und Aussichten ändern sollte. Kostas und ich zogen auf der Kärntner Landstraße auf die Ortschaft Wolfsberg zu. Gelegentlich fanden wir links und rechts der Straße zurückgelassene Stücke von Wehrmachtsausrüstungen. Aber für uns war nichts Brauchbares darunter. Was sollten wir nun noch mit Lederzeug oder Kochgeschirren anfangen. Der fürchterliche Traum war zu Ende. Nach den erregenden Tagen, in denen wir durch Ängste und Hoffnungen wie in einem Wildbach dahingetrieben worden waren und um unser Leben und Überleben durch Laufen, Ducken, UnsVerstecken und schließlich durch Verhandeln gekämpft hatten, griff eine gewisse Stumpfheit, vielleicht auch als Folge der Erschöpfung, nach uns. Wir trotteten die Straße entlang. Ich hatte vor, in Wolfsberg nach dem AMGOT-Officer zu fragen. Was daraus werden sollte, davon machte ich mir noch keinerlei Vorstellung. Ich fühlte mich ganz isoliert. Ein Soldat war ich nicht mehr. Es war inzwischen Frieden geworden. Im Land, das meine Heimat war, kannte ich niemanden. Ich wusste nicht, wo sich die Mitglieder meiner Familie befanden. Vater und Bruder vermutete ich, wie sich später bestätigen sollte, in Gefangenschaft. War die Mutter in Wien verblieben  ? Es blieb mir nur Kostas. Und der schien keineswegs glücklich zu sein. Bei Gesprächen ergriff Kostas nur selten die Initiative. Überhaupt war unsere Beziehung eher eine wortkarge, so eng sie auch sein mochte. Er antwortete meist nur auf meine Fragen, selber stellte er keine. Manches beschäftigte ihn, aber er wartete darauf, dass es von einem anderen ausgesprochen wurde. So auch diesmal. »Kostas, was bewegt dich  ?«, fragte ich ihn in seiner Muttersprache. Ich sprach ihn immer, wie zum ersten Mal, da ich ihn sah, auf Griechisch an. Er antwortete nicht. Das war eine Ausnahme. »Was ist mit dir  !«, wurde ich eindringlicher. Er sprach noch immer nicht. Aber er blieb stehen. Dann setzte er sich auf einen Begrenzungsstein der Straße. War er krank  ? Hatte er Fieber  ? Ich sah ihn an. Er hatte eine düstere und verzerrte Miene. Ich blieb vor ihm stehen und wandte mich ihm zu. »Kostas  !« Er blieb still, aber nach einer Weile holte er tief Atem und sagte  : »Ich will in mein Land zurückkehren, nach Hause.« »Kostas  !« Alles hatte ich erwartet, nur diesen irrsinnigen Wunsch nicht. Was war denn geschehen  ? Jetzt, da uns – ihm und mir – Freiheit winkte, ja wir sie fast schon erreicht hatten, da die Lebensgefahr überwunden war, strebte er – wie 224

Der bittere Abschied von Kostas

sollte das überhaupt gelingen  ? – zurück in den Balkan, in eine chaotische, vom Krieg zerfleischte Zone. Wie würde er je durch das unsichere Gebiet Jugoslawiens, aus dem er gerade mit mir geflohen war, diesen unfassbar weiten und gefährlichen Weg zurück nach Griechenland finden  ? Und was würde ihn dort, als einen mit den Deutschen geflüchteten ehemaligen Partisanen, erwarten  ? Als Mensch, der nicht lesen und schreiben konnte, der keine Sprache außer dem Griechischen (und albanischen Dialekten) sprach  ? Welche Chance hatte er für die Rückkehr durch Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien bis nach Griechenland  ? »Kostas, ich lasse dich nicht ziehen  !« Er schwieg. Ich redete ihm lange zu, schilderte ihm alle Schwierigkeiten, so klar ich nur konnte. »Du läufst dem Tod in die Arme«, sagte ich zu ihm. »Du schaffst es nicht. Jetzt nicht. Du kannst später zurückgehen. Komm mit mir, du wirst zu essen und zu leben finden«, sagte ich ihm in einer ihm sehr verständlichen griechischen Wendung. Er schwieg weiter. Da versuchte ich ein Letztes. »Kostaki mou«, sprach ich ihn an, mit der vertrauten zärtlichen Wendung, die ich in persönlich wichtigen Momenten ihm gegenüber gebraucht hatte. »Du kannst mich doch jetzt nicht allein lassen  !« Er blieb auf dem Stein sitzen und schaute auf den Boden. »Du gehst in deine Heimat«, sagte er, »und ich gehe in die meine.« Ich war ganz fassungslos. Ich hatte beabsichtigt, in meiner Heimat für ihn eine neue Heimat zu schaffen, mit allen Kräften, die mir zur Verfügung stehen würden. Er würde eine Schule besuchen und die Sprache lernen, vielleicht auch einen Beruf. Wie war nur der Wahnsinnswunsch, jetzt umzukehren, in seinen Kopf gekommen  ? Kostas war nicht zu bewegen, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er saß da, als wäre er durch und durch erstarrt. Er weinte nicht und klagte nicht. Das hatte er überhaupt nie getan. Aber ich hatte ihn nie zuvor, auch als er Angst um sein Leben hatte, wie bei seiner Gefangennahme als Partisan, so innerlich tieftraurig und mit so verzerrtem Gesicht gesehen. Ich begann zu spüren, dass an seinem Entschluss nichts zu ändern war. Mir steckte das Weinen im Hals. Ich wollte ihn nicht ziehen lassen. Ich gab ihm wenig Chancen, die Heimat zu erreichen. Dieser Schmerz würgte mich. Und ich redete und redete auf ihn ein. Es blieb nutzlos, er war nicht umzustimmen. Eine ganz tiefe Gefühlsmacht musste ihn erfasst haben. Ohne zu denken, aus dem Augenblick heraus, öffnete ich meinen kleinen Sack, nahm alles, was darin zu essen war, heraus und gab es ihm. Auch Kostas hatte einen kleinen Ranzen. Er steckte die Stücke ein, schloss den Sack, drehte sich um und ging. Ich stand da, unfähig, etwas zu denken. Der Verlust war so schwer, dass ich gar kein Organ hatte, ihn zu empfinden. Ich stand erstarrt auf der Straße. Ich 225

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konnte ganz und gar nicht verstehen, was nun zu Kostas’ Entschluss geführt hatte. Ich empfand nur eine ungeheure Leere. Es war das Gefühl äußerster Hilflosigkeit in mir, das Gefühl, unfähig zu sein, zu erfassen, was geschehen war und warum es so hatte geschehen können. Wenn ich heute, fast 70 Jahre später, darüber nachdenke, so vermag ich mich in das, was mir damals völlig unverständlich war, besser einzufühlen. Als wir, Kostas und ich, gemeinsam um unser Überleben gekämpft hatten, war für ihn die Richtung und der Sinn all seiner Bewegungen und Handlungen klar vorgegeben gewesen. Jetzt aber fiel diese Gemeinsamkeit weg. Und ein Zweites  : Kostas musste meine Beglückung, die Heimat gefunden zu haben, erlebt, aber zugleich auch als tiefe Enttäuschung für sich empfunden haben. Denn für ihn war vermutlich das Gefühl, das mich in meiner Heimat erfasste, wenn ich es ihm gegenüber auch nie aussprach, ein Auslöser für seinen Schmerz. Er konnte dergleichen Glück, wie ich es fühlte, ganz und gar nicht empfinden. Er suchte nun, nachdem er mir beigestanden war, nach seinem ­eigenen Glück. Ich stand immer noch auf der Straße und blickte vor mich hin. Dann, nach Langem erst, wagte ich in die Richtung zurückzuschauen, die Kostas eingeschlagen hatte. Die Strecke war leer, Kostas war längst verschwunden. Ich stand da und weinte. Seit ich die Heimat verlassen und in den Krieg fortgezogen war, hatte ich nie mehr geweint, auch nicht, als wir Pirker begruben, oder nachdem wir den tödlich verwundeten Nickertz verlassen hatten. Jetzt, wenn ich Jahrzehnte später die Trennung von Kostas beschreibe, steigt in mir der Schmerz wieder auf, der mich damals erfasste. Er wühlt in mir, vor allem auch, weil ich in diesen Jahrzehnten seither nie mehr eine Spur von Kostas gesucht hatte. Ich weiß nicht wirklich, was mich davon abhielt. Alles, was ich nun tun kann, ist, das Stück Lebensgeschichte darzustellen, das mich unverlierbar mit Kostas verband und verbindet. Nach meinem vergeblichen Blick zurück setzte ich mich auf denselben Randstein, auf dem Kostas gesessen war, und blieb dort, bis es Abend und dunkel wurde.

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22. Im Dienste des London-Irish-Regiments der 8th Army

In dem Kärntner Umfeld, das ich mit Kostas hatte erreichen können, weil der britische Posten auf der Draubrücke mir das Zauberwort AMGOT mitgegeben hatte, konnte sich weder ein Heimatgefühl noch eine innere Sicherheit ausbreiten. Befreiend war nur, dass man nicht mehr schießen musste, beschossen wurde oder in Gefahr geriet, festgenommen und gefoltert zu werden. Dann kam der für mich so unerwartete Schlag, dass sich Kostas von mir trennte, um, wie er mir sagte, seine Heimat zu erreichen. Ich war unfreiwillig für ihn zum Vorbild geworden, nämlich auf der Suche nach der eigenen Heimat. Nun traf mich der Abschied schwer. Ich saß weinend auf einem Begrenzungsstein der Landstraße. Kostas ging in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich hatte ihn verloren, für immer. Ich konnte mich vorerst nicht aufraffen, in meiner Richtung weiterzugehen. Der Weg, der vor mir lag, war nun einer, den ich ganz allein würde gehen müssen. Alle britischen Soldaten und Unteroffiziere, die ich fragte, wo der ­AMGOT-Officer zu finden sei, waren sich einig, dass ich diesen im Ort Wolfsberg würde finden können. Ich müsse nur der Straße nach Norden folgen. Also trottete ich, wobei die Müdigkeit immer mehr nach mir griff, nach Wolfsberg. Dort fand ich im Zentrum des Ortes eine Tafel »Allied Military Government«. Und nach einiger Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass dies die gesuchte Stelle, abgekürzt AMGOT, sein müsse. Das war also der Ort, den ich aufzusuchen hatte, um eine gewisse Legitimität für meinen Aufenthalt außerhalb eines Kriegsgefangenenlagers zu gewinnen. Es gelang mir, zu der Dienststelle vorzudringen, wo man mich warten ließ, um zu einem AMGOT-Officer vorgelassen zu werden. Ich kam in ein kleines Büro, in dem ein wohlgepflegter Mann mittleren Alters in tadellos gebügelter britischer Uniform hinter einem Schreibtisch saß. Zu meinem Erstaunen ließ er mich niedersetzen und fragte geradezu höflich nach meinem Begehr. So also behandelte man als Besatzer Menschen, die vorsprechen kamen. Ohne die Umstände näher zu schildern, beschrieb ich in englischer Sprache, dass ich von britischen Soldaten zu ihm gesandt worden sei. Es überraschte mich, dass mir die englische Sprache bei diesen Erklärungen keinerlei Schwierigkeiten bereitete, obwohl ja durch ein Jahr hindurch das Griechische meine 227

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Zweitsprache geworden war und ich dieses auch täglich gesprochen hatte, niemals aber das Englische. So fragte ich mein Gegenüber, wie ich es erreichen könnte, ohne einen Aufenthalt in einem Kriegsgefangenenlager direkt in meine Heimat nach Wien entlassen zu werden. Das war, wie ich an der Reaktion des Offiziers erkennen konnte, ein für ihn unerwartetes Begehren. »You need papers that document your release.« Ein gewisser Aufenthalt in der britischen Armee sei notwendig für meine Entlassung. Da begann ich zu erklären, dass ich zu allen Dienstleistungen bereit sei, um dadurch die formelle Entlassung zu erreichen. Der Mann war offenbar überrascht, dass jemand Dienstleistungen anbot, um entlassen zu werden. Das passte nicht zu seinem Bild eines ehemaligen deutschen Soldaten. In dieses Zögern des Offiziers hinein begann ich zu schildern, dass ich Österreicher sei und keineswegs freiwillig in der deutschen Armee gedient hätte. Ich hütete mich aber, auf meine Tätigkeit in Griechenland einzugehen, da dadurch eventuell Fragen nach einem möglicherweise schuldhaften Verhalten im Partisanenkampf aufgetaucht wären. Nach einigen Überlegungen machte er mir den Vorschlag, statt einer Kriegsgefangenschaft bei seiner militärischen Einheit als Dolmetscher Dienst zu tun. Dadurch könnte ich schließlich eine formelle Entlassung erreichen. Ich begriff sofort, dass dies der beste Weg für mich war. Allerdings, so forderte der Offizier, müsste ich mich so bald wie möglich von einem britischen Militärarzt untersuchen lassen, um vor meiner Aufnahme als Dolmetscher in die Eighth Army sicherzustellen, dass ich an keiner dem Arzt erkennbaren ansteckenden Krankheit litt. Ich verbrachte die folgende Nacht in einer Art Abstellkammer und unterzog mich am darauffolgenden Morgen den dringend notwendigen Entlausungsprozessen, die in der britischen Dienststelle beim AMGOT-Officer angeboten wurden. Ich wurde dadurch sowohl von den Gewandläusen, die immer von der Kragenregion ausschwärmten, um zu beißen, als auch von den Körperläusen befreit. Die hingen an den Haaren der verschiedensten Körperregionen und verursachten besonders juckende Bisse. Am Morgen konnte ich mich erstmals seit Monaten dann auch mit heißem Wasser gründlich reinigen. Zu meiner Überraschung stellte man mir danach sofort eine britische Uniform zur Verfügung. »Be clean and you may be accepted«, das schien die Devise zu sein. Nach einer gründlichen Untersuchung durch den Arzt wurde ich für meinen Dienst freigegeben. Der Arzt schlug mir jedoch vor, mir den Splitter einer Granate aus dem Nacken entfernen zu lassen, er würde das sofort vornehmen. Ich willigte ein, wurde durch den damals noch üblichen Ätherrausch einigermaßen betäubt, sodass die kleine Operation ohne allzu große Schmerzen für 228

Im Dienste des London-Irish-Regiments der 8th Army

mich durchgeführt werden konnte. Danach wurden mir zwei Ruhestunden verordnet. So begann, wenn sie überhaupt einen solchen Begriff verdient, die zweite militärische »Laufbahn« meines Lebens. Am folgenden Tag erklärte man mir, wie ich mich als Soldat der britischen Armee zu verhalten hätte. Ich erlernte meine Grußpflicht gegenüber Vorgesetzten, und man zeigte mir, wie diese auszuführen sei. Die Grußpflicht in der britischen Armee war wesentlich eingeschränkter als jene, die in der Deutschen Wehrmacht verlangt worden war. Meine Einschulung verlief ohne irgendeine Form von Drill. Ich konnte die Grußriten ein paar Mal durchprobieren, und damit war ich sozusagen eingegliedert. Ich musste mich dem Kompaniechef vorstellen, der kein junger Mann mehr war und in der Umgangssprache der Soldaten der Kompanie deswegen mit dem Spitznamen »Granny« (Großmutter) bezeichnet wurde. Er war viele Jahre hindurch Lehrer in einer ländlichen Elementarschule gewesen. Er verhielt sich freundlich bei meiner Vorsprache, aber es ergab sich kein Gespräch daraus. Meine Wunde heilte bald, aber ich durfte nach der Weisung des Arztes noch keinen Dienst übernehmen. Meine ersten Dienstleistungen verlangten danach auch keine körperlichen Anstrengungen. Sie führten mich wieder auf eine Ortskommandantur, aber diesmal unter anderen Vorzeichen als im besetzten Griechenland als deutscher Soldat. Es ging zuerst hauptsächlich darum, wo und wie man Quartiere für britische Offiziere finden konnte, wobei ich beauftragt wurde, in der österreichischen Zivilbevölkerung zu sondieren, wo eine solche Unterbringung möglich sei. Kaum hatte ich die Aufgabe des Quartiermachers übernommen, wurde die Einheit, der ich zugeordnet worden war, nach Bodensdorf am Ossiacher See verlegt. Dabei konnte ich für mich als Quartier ein Einzelzimmer in einem Privathaus herausschlagen. So war es auch möglich, abseits der Truppenquartiere meine verschiedenen Aufgaben zu lösen. Meine ersten Kontakte mit meiner Familie knüpfte ich mit Erfolg durch die britische Feldpost über meinen Onkel in London. Die Nachricht vom Onkel war, dass alle Familienmitglieder am Leben seien, Bruder und Vater allerdings in Kriegsgefangenschaft geraten und der Vater als Kriegsgefangener außer Landes gebracht worden sei. Meine Mutter, so der Onkel, habe ihre und meines Vaters Wiener Wohnung für sowjetische Offiziere räumen müssen, da mein Vater deutscher Offizier gewesen sei. Sie lebe nun in einer sehr kleinen Wohnung im selben Haus mit zwei anderen Frauen zusammen. Ich suchte nun über die britische Feldpost und den Onkel meiner Mutter mitzuteilen, wo und unter welchen Bedingungen ich lebte. Aus dem Brief des Onkels wurde mir klar, dass die 229

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Ernährungslage im Frühsommer 1945 in Wien sehr schwierig war. Der Onkel bemühe sich, schrieb er mir, ein Unterstützungspaket mit Lebensmitteln nach Wien zu senden. Das gelang auch bald darauf. Es gab auch aufregende Momente in meiner Dienstpflicht in Bodensdorf bei dem London-Irish-Regiment der 8th Army. Die große Wohnung eines ehemaligen Nationalsozialisten sollte für eine Gruppe britischer Offiziere als Quartier für die Zeit ihres Dienstes in Bodensdorf freigemacht werden. Das trieb diesen ehemaligen Nazi mit seinen Kindern auf die Straße. Er stieß Drohungen aus, dass er die Kinder und sich umbringen würde, wenn man ihm den Lebensraum nehme. Ich suchte den Mann auf und trachtete ihn zu beruhigen, da es mir gelungen war, eine Ersatzwohnung für ihn aufzutreiben. Vorher war er mit anklagendem Schreien und den auf mich bezogenen Rufen »Mörder, Mörder« durch den Ort gezogen. Schließlich fand ich eine Wohnung für ihn und die Kinder. Eine andere Tätigkeit war für mich die Teilnahme an den rund um die Uhr aufgestellten britischen Wachen am Ufer der Drau. Es war ein merkwürdiger Moment für mich, als ich dazu eine englische Maschinenpistole erhielt, gerade von jenem Typus, wie sie mit englischen U-Booten in Attika zu den Fischern geschmuggelt und zu den Partisanen an Land gebracht worden waren. Als britischer Wachposten in der Nähe einer Brücke über die Drau, die von Österreich in das jugoslawische Gebiet führte, hatte ich den Auftrag, die österreichische Grenze zu schützen und keinerlei Übertritte, auch nicht von Einzelpersonen, zuzulassen. Mein Befehl war, auf alle Bewegungen, auf Fahrzeuge oder Menschen vom österreichischen Ufer aus das Feuer zu eröffnen, wenn die militärischen Vereinbarungen über einen unbewaffneten Uferstreifen auf jugoslawischem Gebiet nicht eingehalten würden. Ich wurde von einem gewissen Gefühl der Genugtuung erfasst, dass ich mit einer britischen Maschinenpistole die österreichische Grenze bewachte. Es kamen von der Gegenseite keine organisierten Versuche, auf österreichisches Gebiet überzusetzen. Aber man schoss trotzdem immer wieder einmal wie zur Demonstration der Stärke zu uns, der britischen Besatzung, herüber. Ich erwiderte aus meiner Waffe das Feuer ins Unbekannte. Mit den britischen Soldaten als neu gewonnenen Kameraden pflegte ich die besten Verhältnisse. Sie wurden dadurch noch gefördert, dass die Soldaten in meinem Umfeld alle dem London-Irish-Regiment angehörten. Sie gingen fest geschlossen jeden Sonntag zur Messe in die Kirche von Bodensdorf. Es fanden sich meist mehr britische Soldaten, eben diese in London geborenen Iren der zweiten Generation, in der Messe in Bodensdorf als Kärntner. 230

Im Dienste des London-Irish-Regiments der 8th Army

Die jungen Soldaten waren alle Söhne von irischen Einwanderern, deren Eltern durch Emigration vor der Hungersnot in Irland zu Beginn des 20. Jahrhunderts in England Zuflucht gefunden hatten. In Arbeiter- und Handwerkerberufen konnten diese Iren sich in der britischen Hauptstadt wegen ihres Fleißes und ihrer Intelligenz gut bewähren. Als Katholiken fand sich die zweite Generation von irischen Einwanderern in einem 1945 noch teilweise vom Katholizismus geprägten Kärnten gut zurecht. Es gefielen den meist feurigen Iren auch die Kärntner Mädchen, welche die irisch-britischen Soldaten nicht als Feinde ansahen. Daher waren sie auch gern bereit, sich mit den Besatzern, wie der Ausdruck lautete, in den verschiedensten Formen zu »fraternisieren«. Das brachte eine bisher ganz neue Dolmetschertätigkeit für mich, die bei meinen soldatischen Kameraden, den Iren, sehr gefragt war. Ich bekam Liebes­ briefe in englischer Sprache, die man mich, meist dringend, zu übersetzen ersuchte. Ich übertrug die Antworten auf diese Briefe aus dem Englischen ins Deutsche. Ich tat das gern, weil mir die Iren als kulturell verwandt erschienen. Außerdem hatten sich die Truppen der Achten Armee als Gewinner der Schlacht von El Alamein gegenüber dem deutschen Feldherrn Rommel und seinen Soldaten einen Namen als gute Kämpfer gemacht. Sie waren Helden der Wüste gewesen, auf jeden Fall faire und geachtete Feinde, deren Liebesbriefe an Kärntner Mädchen ich nun übersetzte. Wenn ich mit einer Gruppe gemeinsam bei der Brücke über die Drau als Wache Dienst hatte, bereitete ich den Kameraden in den Stunden, die ich frei hatte, nach Wiener Art mit Marmelade gefüllte Palatschinken zu, wodurch ich mich sehr beliebt machen konnte. Die Iren faszinierten mich auch durch ihre große Kenntnis der eigenen Volkslieder, die sie im Chor mehrstimmig hervorragend vorzutragen verstanden. Mich beeindruckte die Melancholie, aber auch das starke Gefühl in der angebotenen eigenen Liebeszuwendung zu Mädchen. Es waren die am stärksten von Sehnsucht bestimmten Lieder von Volksmusik, die ich je hatte kennenlernen können. Manches glaubte ich an den Iren später noch besser verstehen zu können, als mir ihre Rolle bei der Christianisierung Europas und die Begeisterung für ihren Glauben aus der Geschichte bewusst wurden. Dazu kam dann auch noch die Bewunderung für die mittelalterliche irische Buchmalerei und die frühe Entfaltung von Internationalität bei den Iren, die sich in einer enormen Reisetätigkeit mit dem Ziel, Europa zu christianisieren, zeigte – sie waren die am weitesten und häufigsten reisenden chrsitlichen Mönche Europas gewesen. Die Iren, wie ich sie kennenlernte, hatten ihre ethnische Selbstständigkeit auch als britische Soldaten nicht aufgegeben. Sie sangen nicht nur ihre Volkslieder auf Gälisch, in der alten, ihnen tief vertrauten keltischen Sprache, 231

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sondern sie sprachen auch immer wieder Gälisch untereinander. Ethnisch akzentuiert war beim London-Irish-Regiment auch ihre britische Uniform. Wir trugen – ich war ja ein mit Waffe ausgerüsteter Soldat dieses Regiments und fühlte mich zugehörig – eine hellbraune, schräg am Kopf liegende Mütze mit einem über der Stirn montierten, nach oben weisenden grünen Federschmuck. Ich konnte meine irischen Kameraden aber auch als umsichtige Soldaten kennenlernen. Denn ich nahm fast täglich an Kontrollfahrten einer Art Spezial­ einheit des Regiments im Jeep teil. Irgendein Hinweis hatte die Kontrollgruppe dazu veranlasst, eine Fahrt auf einen Villach nahe gelegenen Berg zu unternehmen, der über teilweise steileres und mehr oder minder wegloses Gelände zu erreichen war. Wir fuhren mit dem Jeep hinauf. Es könnten sich dort ehemalige Nationalsozialisten versteckt halten, hieß es. Im obersten Drittel des Berges wurde ein steil eingeschnittener Berggraben sichtbar. Der Kommandant der kleinen Gruppe fragte mich, ob ich als bergsteigerisch erfahrener Österreicher bereit sei, eine kleine Erkundung in diesem steilen Gelände durchzuführen. Natürlich schlug ich dieses Ansinnen nicht aus. Ich fand es besonders bemerkenswert, dass ein Kommandant ersuchte und nicht befahl, eine Haltung, die in der Deutschen Wehrmacht unvorstellbar gewesen wäre. Ich machte der Mannschaft des Jeeps allerdings klar, dass diese Exploration von den Wartenden einige Geduld erfordern würde. Die Maschinenpistole an engen und unübersichtlichen Stellen vor mir hertragend, arbeitete ich mich vorsichtig auf den Boden des Grabens vor. Dort hockten in der Tat zwei männliche Gestalten, teilweise noch mit deutschen Uniformstücken in Feldgrau bekleidet. Mit vorgehaltener Maschinenpistole forderte ich die beiden auf, sich auszuweisen. Sie hätten alle Ausweise weggeworfen, sie seien Volksdeutsche, die nach Deutschland zu ihren Verwandten weiterziehen wollten. Ich brachte die beiden dazu, sich nach Waffen durchsuchen zu lassen, was sie auch anstandslos über sich ergehen ließen. Sie zogen sich dazu fast völlig aus. Auch im Bereich ihres improvisierten kleinen Lagers auf dem Waldboden waren bei meiner Überprüfung keine Waffen zu finden. Ich konnte mich mit den beiden gut verständigen, obwohl ihr Deutsch stark mundartlich geprägt war, wie man es unter den Volksdeutschen aus Osteuropa in verschiedenen Varianten immer wieder hören konnte. Bei den einen klang es schwäbisch, bei den anderen sächsisch. Zum Schluss forderte ich beide auf, nochmals das Hemd auszuziehen. Sie taten es zögerlich und voller Angst. Ich suchte an der entsprechenden Stelle nach und fand, was ich erwartet hatte, die eingebrannte SS-Markierung. 232

Im Dienste des London-Irish-Regiments der 8th Army

Mir war ja sehr genau bekannt, dass alle Volksdeutschen, die in den letzten Kriegsjahren aus ihren Siedlungen in Südosteuropa zum deutschen Wehrdienst herangezogen wurden, zur SS einzurücken hatten. Es blieb ihnen keine andere Wahl. Die beiden nun halb nackt vor mir stehenden 17- bis 18-jährigen Burschen, nur wenige Jahre jünger als ich, waren verständlicherweise voller Angst. Als SS-gebrandmarkte Soldaten fürchteten sie, vor einem Soldaten in britischer Uniform stehend, um ihr Leben. Sie hoben demonstrativ die Arme zum Zeichen, dass sie sich ergeben hätten, und riefen  : »Bitte nicht erschießen  !« Ich hatte natürlich nie daran gedacht, dies zu tun, hatte aber eine schwere Entscheidung zu treffen. Eigentlich wäre ich verpflichtet gewesen, die beiden festzunehmen und zum Jeep auf der Waldstraße zur britischen Patrouille zu bringen. Ich wusste, dass das für die beiden mit der eingebrannten Marke bedeuten würde, in ein SS-Sonderlager eingewiesen zu werden, ungewiss, was ihr weiteres Schicksal sein würde. Ich beschloss, das Risiko auf mich zu nehmen, die beiden Burschen laufen zu lassen. Keiner der britischen Soldaten würde es auf sich nehmen, in den sumpfigen Waldgraben hinunterzusteigen, um nachzusehen, ob ich meine Kontrolle befriedigend durchgeführt hätte. Ich nahm den beiden jungen Burschen das Versprechen ab, sich nur in der Nacht zu bewegen und sich nie in die Nähe einer britischen Dienststelle vorzuwagen. Als Heimatvertriebene und Bettler würden sie Essen in der Zivilbevölkerung bekommen. Sie sollten auch versuchen, so riet ich ihnen, in die amerikanische Zone überzuwechseln. Da sei der Grenzübergang nach Deutschland mehr oder weniger problemlos. Dort würden sie vermutlich entweder Verwandte oder zumindest Angehörige ihrer Volksgruppe finden. Die beiden verstanden meinen Rat, und ich zog mich zurück, indem ich den Graben hinaufstieg. Als ich mich beim Jeep etwas atemlos einfand, weil ich um rasche Rückkehr bemüht gewesen war, meldete ich nur ganz kurz, was man ohnehin erwartet hatte  : »Nobody there.« Damit ging die Fahrt weiter, und der Auftrag wurde schließlich erfüllt. Wir hatten keine versteckten Nazi-Kämpfer oder sogenannte »Werwölfe« entdecken können. Endlich zeichnete sich nach mehreren Wochen schließlich die Aussicht ab, dass es mir möglich sein würde, meiner Mutter Lebensmittel zukommen zu lassen und sie vielleicht sogar in Wien zu besuchen  : Eine Fußballmannschaft des London-Irish-Regiments sollte gegen eine Mannschaft spielen, die aus einem in Wien als Besatzung stationierten anderen britischen Regiment stammte. Die irischen Soldaten, für die ich Briefe übersetzte, gaben mir vielfach für diese Arbeit etwas Geld, das ich nun für die Vorbereitung des Besuchs bei meiner Mutter 233

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verwendete. So konnte ich Lebensmittel und besonders Konserven kaufen. Es gab auch immer wieder in der Militärkantine Kaffee und Tee zu kaufen, sodass ich ein größeres Paket zusammenrichten konnte, um es meiner Mutter in Wien zu übergeben. Eines Tages war es soweit, dass ich an einer Wien-Fahrt teilnehmen konnte. Der Abfahrtstermin wurde bekannt gegeben, und am Folgetag begann ich in der Uniform des London-Irish-Regiments in der Früh in einem großen, mit Bänken versehenen Lastwagen zusammen mit britischen Soldaten die Fahrt nach Wien. Es gab keine Probleme bei der offenbar vorverständigten russischen Kontrollstelle beim Eintritt in die sowjetische Zone am Semmering. Die Unteroffiziere sagten mir, dass ich in der britischen Zone in Wien volle Bewegungsfreiheit hätte, mich aber nicht in die sowjetisch besetzte Zone der Stadt begeben sollte. Das sei trotz meiner Uniform zu riskant. Wie aber konnte ich die Lebensmittel zu meiner Mutter bringen  ? Ich beschloss, mit der Straßenbahn zu fahren und mich so rasch wie möglich von der Haltestelle in die Wohnung meiner Mutter zu begeben. So würde ich in der sowjetischen Zone nicht auffallen. Im Haus Keplergasse Nr. 9 fand ich zum Glück auf Anhieb jemanden, der mir sagen konnte, wo meine Mutter nun wohnte. Ich schleppte die schwere Kiste mit Lebensmitteln zur angegebenen Tür. Es öffnete die Wohnungstür meine ehemalige Kinderfrau, die beim Herannahen der Russen aus Beograd nach Wien geflüchtet war und bei meiner Mutter Aufnahme gefunden hatte. Im ersten Augenblick erkannte sie mich nicht. Zuletzt hatte mich Josefine in deutscher Uniform in Beograd gesehen, als ich auf dem Weg nach Griechenland gewesen war. Nun stand da ein britischer Soldat vor ihr. Nach dem ersten Erschrecken holte sie natürlich gleich meine Mutter herbei, die mich weinend umarmte. Es zeigte sich dann auch die Großmutter, die Mutter meines Vaters. Die drei Frauen lebten gemeinsam auf engstem Raum in Küche und Kabinett, wobei meine Mutter die Führung ihres Geschäfts im selben Haus bereits wieder aufgenommen hatte. Es war allerdings kaum Ware vorhanden, die sie verkaufen konnte. Meine Mutter berichtete von ihren Strategien, die sie eingesetzt hatte, um sich vor Vergewaltigungen durch die sowjetischen Besatzer zu schützen. Sie hielt immer eine Schale mit Ruß bereit, um sich das ganze Gesicht damit zu beschmieren, und suchte sich mit Stichworten auf Russisch als Großmutter, als Babuschka, zu deklarieren. So habe sie bisher den Attacken entkommen können. Von meinem Vater wusste sie nur, dass er in der Schlussphase des Krieges unverletzt geblieben, aber schließlich von den Russen gefangen genommen und mit einem Transport in die Sowjetunion abgegangen war. Sie hoffte, bald von ihm 234

Im Dienste des London-Irish-Regiments der 8th Army

Nachricht zu erhalten. Mein Bruder sei irgendwo in Österreich gefangen, hätte aber ihrer Meinung nach gute Aussichten, bald frei zu kommen. Sie zeigte sich sehr zufrieden, dass wenigstens ich in Sicherheit war. Die Plünderungen in der alten Wohnung seien geradezu umfassend gewesen, auch das Geschäft meiner Mutter sei aufgebrochen worden, dort hätten aber nicht nur russische Soldaten, sondern auch Wiener große Teile der noch vorhandenen Ware weggeschleppt. Jetzt sei eher Ruhe eingetreten, und die Pakete aus London von ihrem Bruder seien gut angekommen. Die von ihm gesandten Nahrungsmittel hätten sehr dazu beigetragen, die mit Bezugsschein verfügbare knappe Verpflegung in Wien aufzubessern. Bei den Gesprächen mit der Mutter ging es gar nicht um persönliche Probleme. Das Überleben stand im Vordergrund. Ich erläuterte, dass ich wohl noch Monate bei den Briten würde dienen müssen, mir dies aber lieber sei, als passiv in einem Kriegsgefangenenlager meine Zeit zu verbringen. Meine Mutter verstand dies durchaus und befand es als optimales Verhalten. Ich konnte allerdings bei meinem Besuch in Favoriten nicht lange bleiben, da ich mich vor dem Abend wieder bei der britischen Truppe einzufinden hatte. Ein merkwürdiges Ereignis ist mir in Erinnerung geblieben. Bei der Rückfahrt in die britische Zone mit der Wiener Straßenbahn durch den 10. Bezirk sprach mich auf Englisch eine ältere Dame an und erklärte mir, wie glücklich sie sei, statt – wie üblich – einen sowjetischen Besatzer nun einen britischen Soldaten zu sehen. Ich nickte verständnisvoll zurück, begann aber kein Gespräch. Ich war ja selber froh, so bald wie möglich wieder in der britischen Zone anzukommen. Ich zögerte dort auch nicht, mich rasch in die vorgesehene Unterkunft zu begeben, sehr erschüttert von der Situation meines Vaters und dem Gedanken, dass er in Gefangenschaft geraten war. Das Ziel, das mir immer wieder vorschwebte, nämlich die Heimat zu erreichen, war zwar erfüllt, aber unter welchen Bedingungen bot sich diese Heimat mir dar  ? Es war so viel in Stückwerk zerfallen, wie viele der Gebäude, die ich bei der Fahrt durch die Wiener Straßen als Ruinen hatte sehen können. Auch in der unmittelbaren Nähe des Wohnhauses meiner Mutter gab es riesige Bombenschäden, Schutthaufen und zerbombte Wohnhäuser. In der britischen Unterkunft ließ ich mich auf ein Bett mit einem Strohsack fallen und schlief viele Stunden, allerdings nicht mehr, so wie früher, von Ungeziefer belästigt. Was war also Heimat  ? Wo war ich gewesen  ?, fragte ich mich zwei Tage später in der britischen Unterkunft am Ossiacher See in Bodensdorf. Im Grunde musste Heimat später wie von Grund auf neu gebaut werden. Österreich war nach einer Phase innerer Zerrissenheit 1938 an Deutschland »angeschlossen« 235

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worden. Ich hatte unter diesen Verhältnissen ja gar keine »Heimat« gefunden. Es war alles deutsch geworden. Österreich gab es nicht mehr, nur eine das »Reich« flankierende Ostmark. Von allen meinen Verpflichtungen in der britischen Armee fand ich die am sinnvollsten, als Posten mit der Waffe an der österreichischen Grenze Wache zu halten. Das war eine Tätigkeit für Österreich, und es war dies auch das erste Mal im Leben, dass mir Österreich etwas zu bedeuten begann, ohne noch zu wissen, was das sei und was daraus werden sollte. Erst als ich Leopold Figl persönlich kennenlernte, änderten sich die Voraussetzungen in mir. Heimat müsse man, das glaubte ich nun zu verstehen, aufbauen, damit sie als eine solche überhaupt entstehen könne. Dieser Gedanke leitete mich damals. Und welche Rolle spielte dabei Leopold Figl  ? Als niederösterreichischer Bauernsohn hatte er andere Voraussetzungen als ich, aber Aufbau war auch für ihn ein Schlüsselbegriff. So verstand ich seine Radioansprachen. Das gute Wetter des Sommers half mir nicht, aus der Bedrücktheit herauszukommen. Ich konnte auch keine Lektüre finden, die mich aus einer gewissen Dumpfheit des neuen Soldatenlebens herausgerissen hätte. Dazu kam dann auch ein bedrückendes Erlebnis, das mich lange beschäftigte. Der Kompaniechef mit dem Spitznamen »Granny« hatte eine besondere Leidenschaft, das war das Reiten. Aber er hatte als Infanterie-Offizier keine Stiefel zur Verfügung. So entstand der Plan, bei den an der Drau besonders bei Spittal auf großen Wiesen als Kriegsgefangene der britischen Armee lagernden Kosaken gegen Nahrungsmittel Stiefel einzutauschen. Es wurde behauptet, dass die nunmehr in Gefangenschaft geratenen Männer ohnehin keine Stiefel mehr bräuchten. Es waren auch kaum noch welche von den kleinen Pferden vorhanden. Unser Kompaniechef »Granny« sammelte Lebensmittel in mehrere Säcke. Mit zwei Lastwagen ging es zu den Kosaken. Offiziere und Mannschaften des Lagers stürzten sich, hungrig, wie sie waren, auf Brot und Konserven. Sie wussten noch nicht, dass sie mit ihren Stiefeln dafür würden bezahlen müssen. Es war mehr als entwürdigend anzusehen, dass einige der britischen Offiziere, die mitgekommen waren, mit ihrer Mannschaft selber Hand anlegten, um den Kosaken die Stiefel von den Füßen zu ziehen. Was blieb denen dann an Schuhwerk  ? Diese Frage wurde gar nicht gestellt. Solche Fragen hörte ich von niemandem, weder von den britischen Offizieren noch von den Mannschaften. Ich war nur ein beschämter Zeuge, als Angehörigen eines Reitervolks gegen dringend nötige Nahrung die Stiefel genommen wurden. Auf der Wiese begann das Volk der Sieger, sie anzuprobieren. Bei aller Hochschätzung derer, bei denen ich nun anstelle einer Kriegsgefangenschaft 236

Im Dienste des London-Irish-Regiments der 8th Army

meine Pflicht zu erfüllen hatte, empfand ich dieses Verhalten als schmählich. So benahmen sich rücksichtslose Eroberer. Aber wie hatten sich die Deutschen und ich mit ihnen in Griechenland verhalten  ? Ich schämte mich auf dem großen Uferfeld als einer, der indirekt an dieser Erniedrigung beteiligt war. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass die Kosaken von den Briten an die Sowjets auf deren Verlangen hin ausgeliefert worden waren – das Schicksal des schrecklichen Untergangs eines durch Jahrhunderte abschnittsweise immer wieder freien, kulturell selbstständigen Volkes. Damals fand ich weder den Mut noch die Gelegenheit oder gar die Legitimation, mich gegen den Raub auszusprechen oder etwas dagegen zu tun. Rückblickend sehe ich das heute als nicht wieder gut zu machendes Versäumnis meinerseits an. Im Spätwinter 1945 war ich bei den langen Rückmärschen, bei denen oft 50 km und mehr in einem zurückgelegt werden mussten, um nicht in die Hand der Partisanen oder der Sowjets zu fallen, so fußmarod geworden, dass ich einfach nicht mehr weiterkam. Meine Socken und meine Schuhe waren total durchnässt. Es entstanden zuerst Blasen, dann offene Wunden auf den Füßen, bei denen ich das Gefühl hatte, wegen der starken Schmerzen nicht mehr weitergehen zu können. In der eigenen Truppe waren weder von Pferden oder Maultieren gezogene noch motorisierte Fahrzeuge vorhanden, die mich hätten mitnehmen können. Ich war verzweifelt. Wie sollte ich den brennenden Schmerzen wenigstens teilweise entgehen  ? Würde mich irgendjemand retten können  ? In die Hände des Feindes zu fallen, der unseren Truppen auf den Fersen war, hätte in der damaligen Situation das sichere Ende bedeutet. In diesem Zustand und bei diesen Überlegungen im Kampf mit den meine Kraft und meine Bewegungsfähigkeit lähmenden Schmerzen, sah ich Abteilungen von Kosaken auf der gemeinsamen Linie des Rückzugs vorbeireiten. Viele von ihnen führten an einer Leine jeweils eines der kleinen Kosakenpferde mit sich. Deren Besitzer mussten im Kampf gefallen sein, denn niemals hätte ein Reiter der Kosaken ein Pferd preisgegeben, das am Leben geblieben war. Es blieb mir deutlich im Gedächtnis, dass ich der Kosaken-Truppe und einem ihrer Pferde mein Leben zu verdanken hatte, weil ich auf ihm reiten durfte. All das wachte in mir auf, als die Kosaken auf den Wiesen von Spittal an der Drau ihre Stiefel gegen Nahrung eintauschen mussten und ich an ihrer Situation nichts zu verändern vermochte. Ich tat schließlich nicht mehr, als darauf zu achten, dass sie wenigstens für die folgenden Tage regelmäßig zu essen bekamen. Jetzt noch drängt sich der Gedanke auf, versagt zu haben. Aber wem hilft das heute  ? So bleibt vieles unbelohnt und vieles auch unbestraft, wie die Stiefelaktion sonst redlicher britischer Offiziere. 237

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In den letzten Jahrzehnten erschien über die Preisgabe der Kosaken von britischen Autoren einiges an scharfer Selbstkritik mit Blick auf die britische Armee. Dabei wurden auch das Unverständnis und die passive Grausamkeit gegenüber den Kosaken besonders behandelt. Denn weit über die eben geschilderten Verhaltensweisen hinaus geschah schließlich die z. T. auf geschichtlichem Unwissen beruhende, geradezu unglaubliche Grausamkeit, auf Drängen der Sowjets die Kosaken als Gefangene den Russen zu überantworten. Die Mehrzahl der Männer dieses Kosakenvolkes überlebte diese Gefangenschaft bei den Sowjets nicht. Der Hass auf sowjetischer Seite war zu groß und seine Wirksamkeit war mörderisch.

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1. Miluše in Wien

Die Vorgeschichte war, dass ich im Frühjahr zu Ostern 1945 als Soldat bei der Quartiersuche für einige Tage in ein Bauernhaus einer Streusiedlung nahe Esseg (Osijek) auf einer großen Wiese in der Nähe des Auwalds südlich der Drau aufgenommen worden war. Das geschah samt den Waffen und der Munition, die ich mitzuführen hatte. Der Ort, eine Streusiedlung, hieß damals Petrijevci. Die Mutter, Kroatin, war mit der 17-jährigen Tochter, sie hieß Miluše, im Haus samt dem Vieh und dem kleinen bäuerlichen Besitz zurückgeblieben. Ich hatte mich sehr rasch, ja schon in der ersten Stunde in das ebenso zarte wie gleichzeitig energische Mädchen verliebt. Sie führte mich in eine kleine Kammer mit einem Bett. Und ich konnte nach langen Rückzugsmärschen der letzten Tage nach einer gründlichen körperlichen Reinigung ungestört in der sauberen Kammer in einem Bett schlafen. Das war seit September des Vorjahres, seit dem Abzug aus Griechenland, nicht mehr der Fall gewesen. Miluše sprach fehlerfrei Deutsch, nur an einem kaum merkbaren Akzent konnte man den Einfluss der Sprache der kroatischen Mutter erkennen, die sie ja auch im Alltag verwendete. Ich wurde umsorgt wie bei Freunden, während Mutter und Tochter im Keller des Hauses alle Vorkehrungen trafen, um das Mädchen nach der bevorstehenden Einnahme des Dorfes durch sowjetische Soldaten vor der Vergewaltigung zu bewahren, was, wie ich später erfuhr, auch gut gelang. Ich hatte um die zurückhaltende Gunst des Mädchens nicht zu werben. Sie wurde mir auf lebenspraktischem Gebiet sofort geschenkt. Ich genoss diese Geborgenheit und Zuwendung. Es war ein Flecken Paradies vor dem Ansturm der Roten Armee. Ich war dabei ein 19-jähriger Soldat ohne Erfahrung in erotischer Annäherung. Viel mehr hatte ich mit dem Tod zu tun gehabt als mit der Liebe, die mir bis dahin unbekannt geblieben war. Am dritten Tag nach meiner Einquartierung drang schon das Gewehrfeuer der heranrückenden Roten Armee aus dem benachbarten Wald heran, unser Abzug erfolgte übereilt im letzten Augenblick. Ich sah Miluše nicht mehr, sie war frisch gebackenes Weißbrot holen gegangen, weil sie gesehen hatte, dass ich dieses Weißbrot liebte. Ich stürmte in voller Ausrüstung zum Sammlungsplatz. Unsere Truppe entging mit knapper Mühe einer Umzingelung und damit der sowjetischen Gefangenschaft. 241

Nachkriegszeit in Österreich

Ein Jahrzehnt später erreichte mich in Wien ein Anruf. Ich erkannte die Stimme. Es war Miluše, die anrief. Sie sagte ohne Umschweife und ohne Frage nach meinen Lebensbedingungen, dass sie mich treffen wolle. Sie habe in Wien einen Posten angenommen, und sie wolle mich sehen. Sie brauche keine Hilfe oder Unterstützung. Sie nannte mir eine Kunsthandlung, in der sie arbeitete. Sie wolle mich nur wiedersehen. Das sei es, was sie bewege. Ich hatte der Familie im Frühjahr 1945 im Bauernhaus auf der Wiese meine Telefonnummer in Wien hinterlassen, und die Nummer hatte sich trotz der politischen und militärischen Umbrüche bis auf die Vorwahl nicht verändert. Außerdem wäre Miluše ihrem Charakter nach so geschickt gewesen, mich in der Stadt Wien zu finden. Ich nannte ihr ein Kaffeehaus, ganz in der Nähe des Geschäfts gelegen, in dem sie arbeitete, und schlug ihr eine Stunde des späten Vormittags des kommenden Tages als Termin vor. Ich war so überrascht und so betroffen, dass ich im ersten Augenblick Miluše gegenüber am Telefon keiner Gefühlsäußerung fähig war. Miluše sagte, sie würde zur vorgeschlagenen Stunde ins Café kommen. Am nächsten Tag stand ich ihr hilflos gegenüber. Sie war wunderbar anzuschauen, mit ihren roten Wangen und dem reichen rötlichen Haar. Sie war voller und reifer geworden, aber hatte sich im Grunde auch in der Erscheinung nicht verändert. Sie war eine prachtvolle junge Frau. Es kam zu einer von meiner Seite geradezu schwächelnden Umarmung. Ich konnte gar nichts sagen. Ich war erst vor Kurzem Vater meines ersten Kindes geworden, in einer Nachkriegsehe, die mich aus der unerträglichen Einsamkeit retten sollte. Und da, in dieser Situation, trat mir mit Miluše das volle Leben mit all seinen Verheißungen entgegen. Ich war innerlich bestürzt und mühte mich, dies nicht erkennen zu lassen. Damit war ich so beschäftigt, dass ich ihre Reaktion auf das Wiedersehen gar nicht wahrnehmen konnte. Sie sei vor den einrückenden Sowjets so gut versteckt gewesen, dass man sie nicht entdeckt und sie daher auch keine Gewalt erlitten habe. So habe sie auch die Angst verloren, zu dem in der Nähe des elterlichen Hauses auf der Wiese von den russischen Soldaten errichteten Auffanglager für gefangene deutsche Soldaten vorzudringen. Sie habe mit allen möglichen Bestechungen nach mir gefahndet. Schon kurz nach unserem Abzug habe sich eine Masse von sowjetischen Einheiten vorbeigewälzt, und kurz darauf wären schon die ersten gefangenen deutschen Soldaten herbeigebracht worden. Der Fluss von Gefangenen hätte sich täglich vergrößert. Und sie sei auch täglich, beladen mit Lebensmitteln, unterwegs gewesen, um mir Essen zu bringen. Sie sei sicher gewesen, mich zu finden, und sie habe nicht an meinen Tod geglaubt. 242

Miluše in Wien

Während Miluše dies erzählte, konnte ich nun an dem bewegten Mienenspiel ihres Gesichts die Erregung sehen, die sie damals überwältigt hatte und die in veränderter Form nun wieder hervortrat. Es war, als hätte sie mich in diesem Moment in dem kleinen Café in Wien wie zu meiner Befreiung entdeckt. Ich wagte kaum sie anzusehen, so stark war ihre Freude, mich gefunden zu haben. Sie fragte mich nicht nach meinen Lebensverhältnissen, sondern stand ganz im Bann der eigenen Entdeckung. Ich war verzweifelt, war so erstarrt, dass ich keine Gefühle zu zeigen vermochte. Warum geschieht so etwas im Leben  ? Und warum verwandelte sich Freude in Schmerz  ? Ich war nicht mehr frei oder konnte mich nicht befreien, mit ihr ein neues Leben zu beginnen. Dann begann Miluše von sich zu erzählen. Sie, Miluše, habe ihr Studium in Beograd abgeschlossen, habe es vermieden, der Kommunistischen Partei beizutreten, und trotzdem die Ausreisegenehmigung nach Österreich erhalten. Ich hörte zu, beeindruckt, aber still. Was hätte ich sagen, was tun sollen  ? Es gab einen Augenblick, da dachte ich, ich müsse alles hinter mir lassen und ein anderes Leben mit Miluše beginnen. Aber da war eben das Kind. Ich sprach weder von diesem Kind noch von der Ehe, die ich eingegangen war. Ob sie davon etwas zu ahnen begann  ? Ich fragte, was ich für sie tun könne, sie sagte  : »Gar nichts. Ich bin glücklich, dass ich dich gefunden habe.« Und sie schien es auch zu sein, bis dann nach etwa einer Stunde, ohne darüber Worte zu wechseln, sie zu bemerken schien, dass ich dieses Glück mit ihr nicht in ihrem Sinne voll zu teilen vermochte. Stunden gingen hin, immer wieder von persönlichen und auch politischen Themen des Nachkriegsjugoslawiens erfüllt. Der Jubel in ihr schien allmählich nachzulassen, sie merkte wohl, dass von mir nichts kam, das ihre Wiedersehensfreude von meiner Seite aus bestätigt hätte. Freude war durchaus da, in mir, aber ich fühlte mich wie gefesselt, durfte dieser Freude, so dachte ich, auch keine Chance geben. Schließlich stellte ich ihr in Aussicht, sie am kommenden Tag zu Mittag hier wieder zu treffen. Sie war damit sofort einverstanden. Ihre ganze Person vermittelte überhaupt eine in ihr erhalten gebliebene Liebe mit der inneren Bereitschaft zur Begegnung. Ich hatte einerseits Angst, Miluše zu enttäuschen, anderseits aber auch, mein Leben sozusagen auf einen Schlag von Grund auf zu ändern. Beim Abschied von ihr im Kaffeehaus, als ich sie umarmte, hatte ich das Gefühl, dass der richtige Weg für mich ein gemeinsames Leben mit Miluše gewesen wäre. Ich schlief die folgende Nacht nicht, hin und her gerissen von Gefühlen und Erwägungen. Ich kam zu keinerlei Klarheit, wollte Miluše aber auf jeden Fall wiedersehen. Zur vereinbarten Stunde ging ich dann wieder in das betreffende Lokal. Aber Miluše war nicht erschienen und erschien auch in der folgenden 243

Nachkriegszeit in Österreich

halben Stunde nicht. Ich wurde besorgt. Dann machte ich mich auf, um in die nahe Kunsthandlung zu gehen, um sie zu suchen. Ich war enttäuscht, sie dort nicht gleich zu finden, und ging zur Chefin. Sie sagte mir, dass sie ganz betroffen sei, denn Miluše hätte gleich in der Früh nach Öffnung des Geschäftes gekündigt, aus privaten Gründen. Sie sei mit keinen Argumenten für eine Sinnesänderung zu gewinnen gewesen. Miluše sei nicht nur tüchtig, sondern auch eine großartige Person gewesen. Sie hätte noch eine Restzahlung erhalten sollen, habe aber alles abgelehnt, was sie daran gehindert hätte, so rasch wie möglich wegzukommen. Es habe alles wie eine Flucht ausgesehen. Für die Chefin war kein Motiv erkennbar. Welche Adresse sie hinterlassen habe  ? Sie hätte keinerlei Angaben gemacht. Man wisse nicht, was geschehen sei. Ob ich helfen könne, diese Situation zu verstehen  ? Ich musste verneinen und zog mich, sobald ich konnte, ohne weitere Angaben aus dem Geschäft zurück. Ich war einem Zusammenbruch nahe. Ich musste aber weiterleben. Warum habe ich nun mein Leben wie ein Archäologe an einer bestimmten Stätte ausgegraben  ? Um meine Erinnerung an mein gelebtes Leben in geschriebenen Zeilen anzuordnen  ? Für mich ist diese Niederschrift der Erinnerung, so wie ich es bis jetzt an mir erfuhr, ein schmerzlicher Prozess und keine »Befreiung«. Vielleicht kommt die Befreiung erst später  ? Oder sie wird angesichts der großen Enttäuschung über sich selbst erst später in mein Leben eingebracht werden können. Warum also diese Grabungsarbeit am eigenen Ich  ? Will ich aus der eigenen Lebensgeschichte etwas über mich erfahren und dabei auch über mich folgenreich lernen  ? Einsichten aus der eigenen Subjektgeschichte zu gewinnen, könnte bedeuten, heute von mir abgelehnte frühere Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern oder zumindest einzuschränken. Jeder Mensch will, wenn in jeweils auch sehr verschiedener Weise, ein Spiegelbild von sich gewinnen, oft ohne sich darüber im Klaren zu sein, wozu es dienen soll. »Wozu will ich wissen  ?«, das ist dabei die Frage. Eine Selbstbiografie als Ich-Erzählung ist sowohl weniger als auch mehr als ein Spiegelbild. In der Einsicht in unsere Vergangenheit – bewegen wir uns da als wir selbst  ? Oder schon erneut durch die Erinnerung  ? Es sind oft nur Augenblicke, einzelne Momente, die uns in der Erinnerung klar entgegentreten, mit dazugehörigen Bildern. Wir wissen von diesen Bildern, dass sie unserer Vergangenheit angehören. Bei manchen dieser Bilder finden wir keine Erklärung, warum gerade sie es sind und nicht andere, die sich uns nähern, manchmal mit Macht. All dies drängt sich mir heute im Bemühen, eine Antwort zu finden, auf. 244

Miluše in Wien

Als ich damals Miluše nicht wiederfand, erlosch eine Hoffnung für viele Jahrzehnte, einem Menschen zu begegnen, dem ich mich ganz hätte anvertrauen können und dessen Erscheinung meine Seele und meine Sinne, beides zusammen, in einer ersehnten Weise hätte fesseln können. Das geschah erst wieder nach vielen Jahren. Ich merkte, dass ich versagt hatte. Und dabei blieb es für lange Zeit. Ich bin nun wie durch eine Türe, die mir eine liebende Frau in der Gegenwart geöffnet hat, in ein neues Leben eingetreten. Sonst hätte ich dieses Buch auch nicht zu schreiben vermocht. Auch diesen traurigen Abschnitt der Wiederbegegnung mit Miluše hätte ich nicht aus der Erinnerung hervortreten lassen können.

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2. Schutzlosigkeit im Nachkriegsösterreich

Auf dem ersten Nachkriegskongress der Internationalen Studentenunion, an dem ich als Vertreter der Österreichischen Hochschülerschaft teilnahm, war meine Bitte um Hilfe von Studenten vieler Länder wohlwollend und, wie sich später herausstellen sollte, auch sehr wirksam aufgenommen worden. Es waren Wochen nach dem Kongress mehrere Kisten mit Kleidern und Schuhen in Österreich eingetroffen, die von der Österreichischen Hochschülerschaft an die Studenten, die besonders bedürftig waren, verteilt werden konnten. Wir waren damals ein armes Land. Im Osten von Österreich gab es in den Städten, besonders in Wien, St. Pölten und in Wiener Neustadt, schwerste Bombenschäden. Großer ökonomischer Mangel herrschte. Essen musste man sich von den Bauern auf dem Land in die Stadt holen, manchmal gegen Schmuck eintauschen, sofern dieser nicht von den Sowjets in den Wohnungen geplündert oder auf der Straße den Frauen entrissen worden war. Viele Männer in der Lebensphase, in der sie besonders aktiv hätten reparieren, Schäden beheben und die Betriebe wieder in Gang setzen können, hatte man im Krieg oder auch danach gefangen genommen und hielt sie in Lagern fest, meist außerhalb Österreichs, die Mehrzahl von ihnen in der Sowjetunion. Viele waren teils schwer verwundet und kaum ausgeheilt worden, und andere waren nach dem Krieg in sowjetischen Lagern an Hunger gestorben. Armut und Verzweiflung und die körperlichen und seelischen Beschädigungen durch sowjetische Soldaten, durch die massenhaften Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen, bei Letzteren bis ins höhere Alter hinein, hatten Spuren, ja Flächen der Verwüstung hinterlassen. Da gab es keine psychologische Nachbetreuung. Mit den Traumata hatte man selber zu Rande zu kommen, oder sie blieben lebensbestimmend und Lebenschancen verhindernd zurück. Die Soldaten, die aus dem Krieg zurückkamen, fanden in den Ehen und Familien, zu denen und in die sie heimkehrten, unerwartete Veränderungen vor. Ehen waren zerbrochen. Während die Männer an der Front waren, suchten sich Frauen zu Hause andere Partner, besonders dann, wenn sie ohnehin in ihren Ehen schon vorher unglücklich oder einsam gewesen waren. In diese Situationen und sozialen Befindlichkeiten kehrten dann schubweise die von den westlichen Mächten Frankreich, England und den USA gefangen genommenen 246

Miluše in Wien

Soldaten, mit Verzögerungen bis zu zwei Jahren, aus der Kriegsgefangenschaft zurück nach Österreich. Mein ehemaliger Deutschprofessor, ein aus der alten Tschechoslowakei stammender Sudetendeutscher, zweisprachig, der einen leichten tschechischen Akzent in seinem gesprochenen Deutsch haften hatte, war als Nationalsozialist 1938 Direktor des Rainergymnasiums im vierten Wiener Gemeindebezirk geworden, in dem ich bis zur Matura im Frühjahr 1942 die Schule besucht hatte. Der Direktor musste als alter und gebrochener Mann in der Gasse, in der er ehemals die Schule geleitet hatte, obwohl er gesundheitlich dazu gar nicht mehr in der Lage war, zur Wiedergutmachung bei Bombenruinen Schutt schaufeln, der die Straße verengt hatte. Er starb nach einigen Monaten. »Du wirst dich in Acht nehmen müssen«, sagte der kommunistische österreichische Studentenvertreter der Österreichischen Hochschülerschaft zu mir, als ich von der Studententagung in London zurückkehrte, »meine Leute sind verstimmt darüber, was du da in England gesagt hast.« Mit »meine Leute« meinte er sowjetische Verbindungsmänner. Es war eine Warnung, aber gleichzeitig auch eine Drohung. Ich war als Redakteur der Studentenzeitschrift »Akademische Rundschau« mit der Gesamtorganisation der Österreichischen Hochschülerschaft vertraut und hatte erst kürzlich an der ersten Nachkriegszusammenkunft der internationalen Studentenorganisation ISA in London als österreichischer Delegierter teilgenommen. Während meiner Tätigkeit in der britischen Armee ab Mai 1945 hatte ich meine Englischkenntnisse stark ausbauen können. So erschien ich in den Augen des Vorstandes der Österreichischen Hochschülerschaft für diese Rolle als Delegierter in London besonders qualifiziert. Ich hatte nicht das Gefühl, bei der Erfüllung meiner heiklen Aufgabe in der ersten Nachkriegstagung der ›International Student Association‹ in London etwas falsch gemacht zu haben. Worauf konnte der kommunistische Kollege sich denn beziehen  ? Das Schwergewicht meines Aufenthalts in London hatte ich auf die Werbung um gebrauchte Kleidung gelegt, die dann Wochen später in Wien ankam und unter den jungen Studenten in Österreich hatte verteilt werden können. Es kamen riesige, wenig sorgfältig gepackte und auch zum Teil aufgerissene Pakete nach Wien, in denen Bekleidung aus der internationalen Sammelaktion enthalten war. Das Sozialreferat der Österreichischen Hochschülerschaft sorgte für die Verteilung in Wien. Ich hatte mit meiner Reise und meinem Appell an die Teilnehmer etwas erreichen können. Was sollte nun diese Drohung des kommunistischen Leitungsmitglieds der Österreichischen Hochschülerschaft nach meiner Rückkehr vom Studentenkon247

Nachkriegszeit in Österreich

gress in London  ? Die Position dieses Leitungsmitglieds war nicht durch eine Abstimmung unter den Studierenden zustande gekommen. Man hatte wie in der politischen Führung des Landes nach einer Drittelparität auch bei den Studenten die Führung zu je drei gleichen Teilen eingesetzt – ÖVP, SPÖ, KPÖ –, obwohl es bei den Studenten keinen Rückhalt für die Kommunisten gab. Es war immer noch eine chaotische Phase, in der das Gefühl der Rechtlosigkeit und des Mangels jeglichen Schutzes in der sowjetischen Zone in Österreich und auch weitgehend im russischen Sektor in Wien vorherrschte. Die österreichische Politik stand unter dem Einfluss der sowjetischen Besatzung. Im Herrschaftsbereich der Sowjets war man nicht vor Übergriffen auf Freiheit und Leben Einzelner gefeit, wenn auch die öffentlichen Festnahmen, Verschleppungen und die Vergewaltigungen in den Kellern und Wohnungen, welche von der Besatzungsmacht in Besitz genommen worden waren, nachzulassen begannen. Die Wiener Gemeindebezirke waren in vier Zonen, in eine französische, eine englische, eine US-amerikanische und eine sowjetische, aufgeteilt. Nur der erste Bezirk, die Wiener Innenstadt, wurde von allen vier Besatzungsmächten in einem kurzfristigen Turnus, bei dem sie sich im Vorsitz abwechselten, militärisch verwaltet. Die vier in ihre verschiedenen Uniformen gekleideten Soldaten, die da im Jeep durch die Wiener Innenstadt fuhren, machten durch ihre öffentliche Präsenz deutlich, wer in diesem Land Österreich letztlich das Sagen und die Macht hatte – die Besatzungsmächte. Die tapfere Regierung unter Leopold Figl suchte diesen Verhältnissen zu trotzen und ein neues Österreich daraus zu entwickeln. Die Kühnheit dieses Beginnens ist vielleicht immer noch zu wenig anerkannt. In dem genau umgrenzten Sektor der Stadt, in dem die Sowjets ausschließlich die Macht hatten, der sogenannten Russenzone, waltete im ersten halben Jahr nach der Eroberung Wiens durch die Rote Armee Gesetzlosigkeit und fast uneingeschränkte Willkür durch die Besatzer. Doch nicht nur in den sowjetischen Sektoren in Wien, auch in Niederösterreich und jenen Teilen Oberösterreichs, die zum sowjetischen Besatzungsgebiet gehörten, gab es diese Willkür, begleitet von der Angst vor Übergriffen, bei Tag und bei Nacht. Die Vergewaltigungen erfolgten nicht nur nach Alkoholexzessen, sondern auch in Exzessen mit Prostituierten unter vorgehaltenen Waffen, wobei sich die Sowjetsoldaten in einer Reihe vor den entkleideten Mädchen und Frauen anstellten, um sich dann deren Körper zu bedienen. Als ich 1946 schließlich aus der britischen Armee entlassen wurde, aus dem London-Irish-Regiment der berühmten 8th Army, fühlte ich mich in Zivilkleidern und ohne Waffe in Wien völlig schutzlos. Vorher hatte ich ja britische Waf248

Miluše in Wien

fen getragen. Nun gab es niemanden, der mich verteidigen und an Leib und Leben schützen konnte. Zu Beginn dieser meiner neuen zivilen Existenz half mir ersatzweise, dass ich mich Hals über Kopf in eine Mehrzahl von Arbeiten stürzte. Es war nicht so sehr das Studium, das mich besonders fesselte, sondern die Möglichkeit, mich im studentenpolitischen Rahmen journalistisch zu betätigen. Ich wurde zum verantwortlichen Redakteur der offiziellen Zeitschrift der Österreichischen Hochschülerschaft mit dem anspruchsvollen Titel »Akademische Rundschau« bestellt. Diese Rundschau brachte Beiträge der verschiedensten wissenschaftlichen und politischen Autoren, auch von Professoren der Universität. Ich hatte das alles in eine jeweils ansprechende monatliche Nummer der Zeitschrift zu verwandeln. Ich musste auch in der Druckerei für den Umbruch und die Gestaltung des Blattes sorgen. Für die Titel gab es damals noch den Handsatz. Mit einer Pinzette gelang mir manchmal eine Titeländerung beim Umbruch. Bei meiner Vertretung der Österreichischen Hochschülerschaft bei der internationalen Studentenunion ISA auf ihrem ersten internationalen Nachkriegskongress in London war ich mit Äußerungen über die sowjetische Besatzung sehr vorsichtig gewesen. Nur die Öllieferungen aus Niederösterreich an die sowjetische Besatzungsmacht hatte ich kritisch erwähnt, weil ja von Österreich als »befreitem« Land keine Reparationszahlungen verlangt worden waren. Zu den Übergriffen, wie das Abverlangen von Schmuck und die Gewalt gegen österreichische Frauen, hatte ich in London geschwiegen. Nun waren der Vorwurf mir gegenüber und die Drohung des kommunistischen Vertreters in der Österreichischen Hochschülerschaft aufgekommen. Deswegen begann ich einiges zu unternehmen, um mich gegen das, was der kommunistische Studentenvertreter angedeutet hatte, zu schützen. Ich suchte den »Sicherheitsdirektor« von Wien in seinem Büro in der Linken Wienzeile auf und fragte ihn um seinen Rat. Seine Antwort war, dass er nicht direkt irgendwo eingreifen könne. Was er mir riet, das war, nirgends aufzufallen und möglichst zurückgezogen zu leben. Das war alles. Mehr war es offenbar nicht, was eine österreichische Behörde im Bedrohungsfall damals zu geben vermochte oder wollte. Es waren nur vertröstende Worte. So schutzlos war man in den ersten Nachkriegsjahren in der Russenzone in Österreich, obwohl das Land offiziell nicht zu den eroberten, sondern zu den befreiten Ländern gezählt wurde – so war es laut dem Vertrag von Teheran zu Beginn 1944 zwischen der Sowjetunion und den Westalliierten vereinbart worden. Wie verhielten sich in dieser menschenbedrohenden Phase die Befreier in der russischen Zone  ? Es wurden den Menschen weiterhin Uhren, vor allem Armbanduhren, die unvorsichtig und zu leicht sichtbar am Handgelenk getragen 249

Nachkriegszeit in Österreich

wurden, mit einer Drohgebärde des Uniformierten und seinem Ruf »URRA« abgenommen. Niemand wagte es, sich zu widersetzen. Immer noch kam es in isolierten Gemeinden in Niederösterreich oder von den Besatzern in geradezu militärisch abgeschirmten Stadthäusern der russischen Zone zu Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen, meist in Kellern, wohin man die Unglücklichen schleppte oder wohin sie geflohen waren. Geraubtes Gut, so die Uhren, auch Schmuck, wurde an verschiedenen Orten in Wien, etwa dem zur sowjetischen Zone gehörigen Teil des Karlsplatzes, öffentlich verkauft. Die Wiener Polizei hütete sich, in solche Zonen vorzudringen, geschweige denn dort irgendwelche Kontrollen zu versuchen. Ein richtiger Umschlagplatz für die Verkäufe von geraubten Gütern entwickelte sich auf der im Wiener Prater gelegenen Rustenschacherallee, die man spöttisch RussenSchacher-Allee zu nennen sich angewöhnt hatte. Dort gedieh der Handel mit geraubten Gütern noch viel offener und unverschämter als auf dem Karlsplatz. Frauen flüchteten vor alkoholisierten sowjetischen Soldaten in die Wohnungen und suchten sich dort zu verbarrikadieren. Erwartete man aus verschiedenen Vorzeichen, etwa anstehenden Festen oder Feiern von sowjetischem Militär, Aggressionen gegen Frauen, waren die Straßen leer. Frauen, die schon bedroht oder missbraucht worden waren, versuchten durch schmutzige Kleidung und oft auch durch mit Ofenruß dick beschmierte Gesichter sich als wenig begehrenswert darzustellen. Besonders brutale Angreifer waren aber auch durch solches Abwehrverhalten nicht immer an ihren geplanten oder spontanen Vorhaben zu hindern. Ein mir wohlvertrauter Pfarrer in Niederösterreich, mein Großonkel, der eine mit der Pfarre verbundene Landwirtschaft und Pferdezucht führte, ein ehemaliger Bauernsohn, spannte Pferde vor seine Kutsche, um die von den Eltern zu ihm gebrachten vergewaltigten Mädchen der Umgebung in ein Spital der heutigen Landeshauptstadt St. Pölten zur Untersuchung zu bringen. Bei eingetretener Schwangerschaft wurde eine Unterbrechung vorgenommen. Man wollte keine Russenkinder, wie es hieß, zur Welt bringen. Die Ärzte hielten sich an diese Wünsche und Vereinbarungen und nahmen die Abtreibungen vor. Es gab nur einmal einen mir bekannt gewordenen Zwischenfall, wobei ein 15-jähriges Mädchen während der Untersuchung zwar als gesund, aber nach einer Vergewaltigung durch einen Sowjetsoldaten als schwanger befunden worden war. Das Mädchen weigerte sich plötzlich, die Abtreibung vornehmen zu lassen. »Russenkind oder nicht«, soll sie geschrien haben, »das ist mein Kind, ich lasse es mir nicht nehmen. Ich will mein Kind behalten.« Dies sei dann nach dem Willen des Kindes, dem schließlich auch dessen Eltern zugestimmt hätten, so geschehen. Aber das war eine Ausnahme. 250

3. Meine Verhaftung durch die Sowjets in Wien

Ich will nun zu meinem eigenen Fall zurückkehren. Aus der verbalen Drohung des kommunistischen Studentenvertreters wurde Wirklichkeit. Sie war so geschickt vorbereitet, dass ich in die mir gestellte Falle ging. An einem Vormittag war ich zu Hause in der Wohnung im russisch besetzten 10. Bezirk in der Keplergasse 9 mit einer schriftlichen Arbeit beschäftigt. Es läutete, ich ging zur Tür und öffnete nach einem Blick durchs Guckloch. Draußen stand ein knapp zwanzigjähriger junger Mann, unauffällig gekleidet. Er käme von der Wiener Polizei, die sich nun um meine Sicherheit bemühen wolle. Er sei vom Kommissariat Gudrunstraße ausgeschickt, um mit mir Kontakt aufzunehmen. Wieso er in Zivil sei, fragte ich ihn. Es solle mit seiner Vorsprache bei mir kein Aufsehen erregt werden, lautete seine Erklärung. Merkwürdigerweise schöpfte ich keinen Verdacht, so schlicht und naiv wirkte das Auftreten des jungen Mannes. Am besten sei es, sagte er zu mir, wenn ich gleich mitkäme, dann würde man alles auf dem Polizeikommissariat mit mir absprechen können. Auch davon ließ ich mich überzeugen, zog meine Schuhe an und folgte ihm auf die Straße. Wir überschritten die Straßenbahnschienen auf dem Keplerplatz und traten auf das bescheidene Parkgebiet des Keplerplatzes zu, das im 19. Jahrhundert um die damals neu gebaute Kirche St. Johann Evangelist wie ein grüner Rahmen angelegt worden war. Das war weniger als Erholungsbereich vorgesehen, dazu gab es auch zu wenig städtischen Raum, sondern eher als ein Schmuck für die Kirche, die im Stil einer spätantiken Basilika in hellem Stein noch vor der Jahrhundertwende erbaut worden war. Ich wollte, ein paar Schritte vor dem jungen Mann gehend, beim Stufenaufgang zur Kirche nach links schräg über den Platz in Richtung auf die Gudrunstraße zugehen, wo das Kommissariat damals lag. Der junge Mann kam aber nun auf gleiche Höhe zu mir und bedeutete mir, wir sollten gemeinsam an der Parkumrandung der Kirche auf dem Gehsteig weitergehen, so als wäre das einfacher. Gegenüber einem Abgesandten der Polizei wollte ich da keine Argumente zur Wegwahl vorbringen, zumal ja durch seinen Vorschlag auch kein wirklicher Zeit- oder Müheverlust entstand. In dem Augenblick, da ich meine Absichten zugunsten des Vorschlages des jungen Mannes änderte, traf 251

Nachkriegszeit in Österreich

meine Aufmerksamkeit aber auf ein Bild, das mich zutiefst erschreckte. Knapp am Gehsteigrand parkend, stand dort ein Militärfahrzeug der sowjetischen Besatzungsmacht. Was sollte ich tun  ? Der junge Mann, der mich abgeholt hatte, war verschwunden. Ich hatte ja wirklich nichts getan, was die sowjetische Besatzungsmacht gegen mich zu Handlungen veranlassen könnte. Durch den Versuch einer plötzlichen Flucht würde ich mich aber verdächtig machen und in eine besondere Gefahr bringen, dachte ich. Kaum hatte ich diese Überlegung angestellt, als zwei sowjetische Soldaten aus dem geparkten Fahrzeug sprangen, sich rasch auf mich zubewegten, »Einsteigen  !« riefen und mich links und rechts an den Oberarmen anfassten. Damit war jeder Zweifel daran ausgeschlossen, dass man mich festnehmen wollte. Ich wehrte mich und begann den einen Soldaten abzuschütteln, der mich am linken Arm festzuhalten versuchte. In dem Augenblick nahm ich wahr, dass der Mesner der Keplerkirche, den ich von meinen Kirchenbesuchen her gut kannte, aus der Sakristei gelaufen kam, um mir zu Hilfe zu eilen. Da riss jener, den ich abgeschüttelt hatte, eine Pistole heraus und schrie ganz deutlich  : »Einsteigen, oder wir erschießen dich, du Hund  !« Es blieb mir über die vielen Jahre von 1946 an jedes einzelne Wort dieser Aufforderung in Erinnerung, so wie ich es hier wiedergebe. In diesem Augenblick hielt ich es für durchaus möglich, dass der Soldat seine Drohung, mich zu erschießen, wahrmachen könnte. Denn man würde nach meiner Exekution auf dem Keplerplatz öffentlich glaubhaft zu machen verstehen, dass der sowjetfeindliche Student, nämlich ich, ein Attentat auf ein sowjetisches Besatzungsfahrzeug hatte durchführen wollen. Der Student sei dann im Handgemenge gefasst und dabei von den sowjetischen Soldaten, gegen die er sich feindlich verhalten habe, pflichtgemäß erschossen worden. Dabei wäre es geblieben. Keine österreichische Autorität hätte irgendeinen Einspruch erheben können oder wollen – man war ja andauernd um ein gutes Verhältnis zu den Russen bemüht. Das war mir nur allzu deutlich bewusst und durch den Besuch beim Wiener Sicherheitsdirektor bestätigt worden. Dieser zu erwartende Zusammenhang schoss blitzschnell durch meinen Kopf, an dem ich in diesem Augenblick, da ich mich auf der einen Seite losgewunden hatte, den Pistolenlauf an die Schläfe gedrückt fühlte. So beschloss ich, die gegebene Situation bedenkend, den Widerstand aufzugeben. Sofort zerrten mich die Soldaten zu zweit in den Wagen, verscheuchten, das konnte ich gerade noch wahrnehmen, den Mesner mit der Pistole, die eben noch auf meine Schläfe gerichtet gewesen war, fesselten mich mit vorbereiteten Stricken an den Händen 252

Meine Verhaftung durch die Sowjets in Wien

und warfen mich ins Innere des Wagens. Dann wickelten sie mich samt meinem Kopf so in einen alten Teppich, dass ich nichts mehr zu sehen vermochte. Natürlich stellte ich mir, zwischen den beiden Sowjetsoldaten gefesselt und in den Teppich gewickelt, dabei auch meiner Sicht beraubt, die Frage, was man nun mit mir vorhatte. Ich begann mich auf ein Verhör gefasst zu machen. Ich blutete stark aus der Nase, denn man hatte mich bei der Festnahme, als ich mich zur Wehr gesetzt hatte, mit Fäusten ins Gesicht geschlagen, um mich wehrlos zu machen. Bei der Fahrt im russischen Militärwagen suchte ich, wenn ich auch nichts sehen konnte, darauf zu achten, wohin die Reise ging. Vom Keplerplatz, so glaubte ich erkennen zu können, ging es Richtung Südtiroler Platz zum Gürtel. Da sagte einer der Soldaten halblaut  : »Wir bringen dich nach Medling.« Ich habe das kurze, helle »e« noch deutlich im Ohr. Das war ein Stück unverlierbarer Erinnerung. Warum sagte der Soldat das  ? Offenbar war in Mödling eine übergeordnete russische Kommandantur, mit der er mich zu beeindrucken bzw. einzuschüchtern versuchte. Natürlich schwieg ich dazu, hatte ich doch, eingeschnürt wie ein Paket, schon genug Mühe, mit geschwollener Nase genug Luft zum Atmen zu bekommen. Warum, so fragte ich mich, wurde nun am Gürtel nicht nach links abgebogen, um über den Matzleinsdorfer Platz und die Triester Straße nach Mödling zu gelangen  ? Dann spürte ich, dass es auf der Favoritenstraße relativ stark bergab ging und bald darauf nach links abgebogen wurde. Das konnte nur die Mayerhofgasse sein, die da befahren wurde. Dann wandte sich der Wagen neuerdings nach links. Ich vermutete, dass dies nun auf der Wiedner Hauptstraße die Richtung aus der Stadt hinaus und damit auch nach Mödling sei. Aber zu meiner Überraschung hielt der Wagen, in dem ich wie ein Paket verschnürt lag, plötzlich an. Nach Zurufen wurde ein Haustor geöffnet, in welches das Militärauto mit mir als einer Arte Beute einfuhr. Warum hatte man mir mit dem Hinweis auf Mödling etwas vorzumachen versucht  ? Oder hatte man durch eine Befehlsänderung während der Fahrt das Ziel für meine Ablieferung geändert  ? Was würde mir nun bevorstehen  ? Gleich ein gewaltsames Vorgehen, eine Art Folterung  ? Doch es kam anders. Man löste mich aus dem Teppich heraus, nahm mir die Handfesseln ab und ließ mich in einem düsteren Hausflur aussteigen. Sodann wies man mich an, über eine dunkle Kellerstiege abzusteigen, was ich auch befolgte. Was wäre mir auch anderes übrig geblieben  ? Auf dem Kellerniveau angelangt, öffnete man mir eine Tür in einen kleinen Raum, in dem ich, durch eine Glühbirne beleuchtet, eine Art Pritsche, aber auch einen kleinen Tisch 253

Nachkriegszeit in Österreich

mit einem Sessel erkennen konnte. Man hieß mich dorthin setzen. Kurz da­ rauf brachte ein junger Soldat eine kleine Waschschüssel mit einem Handtuch. Das war überraschend. Worauf sollte ich vorbereitet werden  ? Ich wusch mir die Blutreste aus dem Gesicht. Da sagte der junge Sowjetsoldat mit tiefernster Stimme zu mir gewandt  : »So jung und schon so schlecht.« Auch diese Worte sind eine Originalspur aus meinem Gedächtnis. Der junge Soldat sah mich als einen Gegner der Besatzungsmacht an, was ihm als verbrecherisch erschien. Ich war über seine Deutschkenntnisse überrascht. Aber ich kommentierte seine Aussagen nicht. Ich glaubte aus dem Aufenthaltsort und der Behandlung, die man mir entgegenbrachte, zu erkennen, dass es sich hier um eine Art Zentrum für Einvernahmen oder überhaupt für Geheimdienstaktivitäten handelte. Und ich sollte mit dieser Annahme recht behalten. Bald schon erschienen zwei uniformierte Sowjetsoldaten und verlangten, ihnen zu folgen. Es ging durch schwach beleuchtete Kellergänge in einen zu meiner Überraschung gut ausgeleuchteten Raum mit den Dimensionen eines Saales. Und da konnte ich gleich erkennen, was mich erwartete. Dieser Saal war für ein Tribunal hergerichtet. Auf einem mehr als einen Meter hohen Podium befand sich ein fast die ganze Breite des Saales einnehmender Tisch, an dem Sowjetoffiziere, davon einer mit besonders vielen Kriegsauszeichnungen, Platz genommen hatten. An einem Ende saß ein Schreiber mit vorbereiteten Texten und Papier. Man bedeutete mir, mich in die erste Reihe des Publikumsraums zu setzen. Dann begann mich der neben dem hochdekorierten Offizier sitzende Offizier in einem fehlerfreien, nur leicht durch einen russischen Akzent gefärbten Deutsch anzureden. Handelte es sich um einen Wolgadeutschen  ? »Wir haben Sie hierher gebracht, weil Sie gegen die sowjetische Besatzungsmacht vorgegangen sind.« Ich schwieg, der Mann erwartete auch keine Antwort. »Sie haben bei der Studentenkonferenz in London« (er nannte auch das Datum) Hetze gegen die Sowjetunion betrieben und zusätzlich im Radio BBC Unwahrheiten über die Sowjetmacht verbreitet. Sie verdienen eine große Strafe.« Mein Vergehen sei nach den Regelungen zwischen der österreichischen Regierung und der jeweiligen Besatzungsmacht mit schweren Strafen, auch Freiheitsentzug, zu ahnden. Alles, was der Offizier vorbrachte, klang sehr überlegt. Meine Festnahme und allfällige Verbannung und Inhaftierung sollte, wenn für die Russen nötig, auch in der österreichischen Öffentlichkeit als rechtmäßiges Handeln der Besatzungsmacht dargestellt werden können. Man warf mir vor, dass ich in England sowohl auf der Konferenz als auch in dem Radiointerview über erzwungene Öllieferungen an die Sowjetunion aus Ölquellen bei Zistersdorf kritisch 254

Meine Verhaftung durch die Sowjets in Wien

gesprochen habe, obwohl diese Lieferungen als Reparationszahlungen zu gelten hatten. Tatsächlich hatte ich mich in meinem Interview in London nicht auf Einzelprobleme eingelassen, nur erwähnt, dass Österreich als befreites Land zu gelten hätte, daher dieser Eingriff bei der herrschenden Armut in Österreich nicht gerechtfertigt gewesen sei. Ich hatte es sorgfältig vermieden, auch nur ein Wort über die verschiedensten Übergriffe sowjetischer Soldaten auf Männer und Frauen der Zivilbevölkerung in Österreich zu verlieren, aus Sorge vor daraus ableitbaren sowjetischen Repressionen. Der Offizier sagte mir weiter, dass ich doch auf meinen Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft hätte Rücksicht nehmen sollen. Man wisse ganz genau, in welchem Kriegsgefangenenlager und wo er sich befinde  ; der Offizier nannte den Ort des Lagers. Das war eine neue Drohung. Sollte ich nicht alles gestehen und mich auch gegenüber der Besatzungsmacht willfährig zeigen, würde mein Vater darunter leiden – das gab man mir hier deutlich zu verstehen. Ich könne mich und meinen Vater retten, wenn ich mich zu Kompensationshandlungen für die sowjetische Besatzung bereit erkläre. Er fragte mich, ob ich grundsätzlich einwillige. Aus meinen eigenen Erfahrungen bei Verhören als Dolmetscher der Deutschen Wehrmacht in Griechenland während des Krieges war mir klar, dass mich nur eine bedingungslose Zustimmung vor Gewalt oder Verschleppung in die Sowjetunion retten konnte. Ich wusste, dass man österreichische Studenten auf Monate nach Sibirien verschleppt hatte  ; einer von ihnen hatte mir nach seiner Rückkehr von seinen dortigen grausigen Erfahrungen berichtet. Ich gab also meine Einwilligung, für die Besatzungsmacht Leistungen zu erbringen. Der hochdekorierte Offizier, der offenbar gut Deutsch verstand, aber den rangniedrigeren Kollegen die Sache hatte vorbringen lassen, nickte befriedigt. Ein erstes Papier wurde mir zur Unterschrift vorgelegt, das ich, ohne es genauer zu studieren, unterfertigte. Dann kamen die Wünsche. Ich müsse mich bei der englischen Besatzung, die ich ja durch meinen langen Dienst in Kärnten gut kennengelernt habe, wieder melden und dort freundschaftliche Beziehungen knüpfen, um einiges über die Praxis dieser britischen Besatzungsmacht in Wien zu erfahren, das für die sowjetische Besatzung von Interesse sei. Auch das sagte ich zu und unterschrieb ein weiteres Papier. Man war mit meiner Gefügigkeit zufrieden und erwartete sich von mir nun so etwas wie Spionageleistungen geringerer Qualifikation. Vielleicht war das Tribunal, das ja durch außerordentlich junge Repräsentanten vor mir saß, eine im Gesamtsystem des sowjetischen Geheimdienstes um Erfolge und sozialen Auf255

Nachkriegszeit in Österreich

stieg bemühte Teilorganisation. Sie konnte damit zufrieden sein, meine Zusage so schnell erpresst zu haben. Daraufhin gab es Belehrungen, wie ich mich in nächster Zeit zu verhalten hätte. Ich durfte Wien nicht verlassen, auch meinen Wohnort im Zehnten Bezirk nicht verändern und über alle hier geführten Gespräche niemandem und nie, auch Familienmitgliedern oder Freunden gegenüber, nicht das Geringste verlauten lassen. Auch untersagte man mir, schriftliche Notizen oder Skizzen zu machen. Ganz entscheidend sei, dass ich mich von nun an, und zwar regelmäßig, bei der Besatzungsmacht, genauer  : bei der Gruppe, meldete, mit der ich in dem Moment sprach. Es würde bei jedem Treffen ein neuer Termin und ein Ort vereinbart werden, woran ich mich strikt zu halten hätte. Fürs Erste wurde ein erneutes Zusammentreffen hier am gleichen Ort bereits nach vier Tagen (die Uhrzeit wurde bekannt gegeben) festgelegt, später sollte es dann zu größeren Abständen kommen. Der hochdekorierte führende Offizier schaltete sich an dieser Stelle auf Deutsch ein. Ich müsse alle Zusagen sehr ernst nehmen, sagte er, »sonst gibt es Unglück«. Dabei sah er mich sehr ernst und durchdringend an. Ich hatte den Eindruck, dass ihm an einem glatten Verlauf der künftigen Kontakte mit mir im Interesse seiner Gruppe gelegen war. Nach der Terminvereinbarung wurde ich entlassen. Ein Soldat führte mich zum Haustor und ließ mich hinaus. Es war die Wiedner Hauptstraße Nr. 61. Ich traute meinen Sinnen nicht. Ich war frei – jedenfalls für dreieinhalb Tage. Ich weiß noch, dass ich zur Favoritenstraße ging, mit der Straßenbahn auf den Keplerplatz fuhr und mich zuallererst wie zu einer Art Dankgebet in die fast leere Kirche St. Johann Evangelist begab. Auf einer Bank sitzend, mit den Händen vor dem Gesicht, suchte ich Ruhe zu finden.

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4. Doppelrolle zwischen den Mächten

Am nächsten Morgen tat ich das, was mir schon während des Verhörs im Keller in den Sinn gekommen war und was sich, als ich den Sowjets die verschiedenen Dokumente unterzeichnet hatte, bei mir bereits zum Plan entwickelt hatte. Ich rief im Büro der Kulturabteilung und der Kontakte zur österreichischen Zivilbevölkerung bei der britischen Besatzungsmacht an. Ich hatte dort schon seit Längerem 10 bis 15 Jahre ältere Freunde, denen ich mich nun so rasch wie möglich mitteilen wollte. Selbst wenn man meinen Anruf von sowjetischer Seite abgehört hätte, wäre es mir nicht vorzuwerfen gewesen, diesen Kontakt zu suchen. Denn ich sollte ja als ein von den Sowjets eingesetzter Erkundungsmann die Aktivitäten bei der anderen Besatzungsmacht, hier den Briten, ins Auge fassen. Nach meiner unter dem Druck meiner Verschleppung und unter Androhung von Lagerhaft in der Sowjetunion abgegebenen Zusicherung, über die anderen Besatzungsmächte die verschiedensten Informationen zu sammeln und sie an die sowjetische Geheimdienststelle in der Wiedner Hauptstraße weiterzugeben, hatte ich ja irgendwo zu beginnen. Wenige Stunden nach meinem Anruf stand ich zum vereinbarten Termin im Büro der mir besonders gut bekannten Freunde Richard Rowntree und Dr. Rosemary Hughes in der Wallnerstraße im Ersten Bezirk. Dort befand sich neben einer reichhaltigen englischen Bibliothek die Kulturstelle der britischen Besatzungsmacht in Wien. Ich war schon früher einige Male dort gewesen und wurde bei meinem Erscheinen auch diesmal sehr freundschaftlich begrüßt. Wir hatten oft zu dritt über grundsätzliche Fragen von Leben und Tod, meist im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, gesprochen. Rosemary Hughes war eine gläubige Katholikin, Richard Rowntree ein frommer Quaker. Beide besuchten die Gottesdienste ihrer Glaubensgemeinschaften. Rosemary hatte neben ihrer beruflichen Aufgabe in der britischen Armee – sie trug im Dienst immer ihre Uniform – besondere Interessen in Österreich  : Sie war Musikwissenschaftlerin und wollte die soziale Rolle und die Lebensbedingungen von Joseph Haydn in der Spätzeit seines musikalischen Schaffens in der alten Monarchie genauer studieren. Dazu waren Wien und Österreich die besten Standorte. Deswegen leistete sie ihren Dienst auch sehr gern in Wien ab, wo sie guten Zugang zu Bibliotheken fand. Richard, Sohn des Leiters der berühmten englischen Scho257

Nachkriegszeit in Österreich

kolade produzierenden Firma Rowntree, interessierte sich hingegen für frühe österreichische Industrialisierungsgeschichte. Er war ein klug abwägender Denker mit viel Vorwissen. Dazu kam noch, dass man immer, wenn man sich von ihm verabschiedete, eine Tafel köstlicher Schokolade in die Hand gedrückt bekam. Erst fast ein Jahrzehnt später, nachdem ich in den Vereinigten Staaten, zuerst als Stipendiat der Rockefeller Foundation, später als Gastprofessor an der Fordham University in New York, mich hatte einleben können, war es mir durch den Besuch von Gottesdiensten der Quaker möglich geworden, deren besonders eindrucksvolle religiöse Zusammenkünfte selber zu erleben. Bis dahin hatte ich nur Richard als einen anteilnehmenden und zuwendungsfähigen Freund kennengelernt. Über den spirituellen und religiösen Hintergrund seiner individuellen, bis in das Alltägliche hinein fühlbaren Haltung sollte ich erst später durch die Gottesdienste der Quaker manches erfahren. Nachdem ich in beider – Rosemary wie Richards – Gegenwart meine Erlebnisse vom Vortag berichtet hatte, war es Richard, der überraschend ungeduldig aufsprang und sich im Nebenzimmer zu einem Telefonat zurückzog. Als er wieder ins Zimmer kam, verlangte er von mir, ich möge ihm in den Nachbarraum folgen, in den er sich vorhin zurückgezogen hatte. Es gehörte offenbar zu den Grundregeln bei allen mit Geheimdiensten in Verbindung stehenden Briten, nur Vieraugengespräche zu führen. In diesem Gespräch sagte mir Richard, es sei ihm gelungen, für den folgenden Tag um 11 Uhr vormittags im Café Mozart in der Nähe der Oper für mich einen Termin zu einem Gespräch zu vereinbaren, das sich für mich als sehr hilfreich erweisen würde. Davon sei er als mein Freund überzeugt. Es würde am angegebenen Ort und zu der angegebenen Zeit ein Mann auf mich zugehen und mich einladen, unter vier Augen meine Probleme mit ihm zu besprechen. Er, Richard, könne mir zusichern, dass dieser Kontakt für mich in der jetzigen Situa­tion Sicherheit und Orientierung für mein künftiges Verhalten bringen werde. Ich sagte mein Erscheinen im Café Mozart zu und dankte ihm für das Angebot eines solchen Treffens. Damit war das Vier-Augen-Gespräch beendet. Wir kehrten wieder in das Zimmer zurück, in dem Rosemary auf uns wartete. Unter dem Eindruck der ernsten, beunruhigenden Situation, der ich mich ausgesetzt sah, löste sich das Dreiergespräch jedoch bald auf, worüber ich diesmal nicht unglücklich war. Ich zog mich nach Hause zurück, nicht ohne immer wieder darauf zu achten, ob mir irgendjemand folgte. Das hatte ich ja schon als Dolmetscher in deutscher Uniform in Griechenland 1944–1945 gelernt  : genau zu beobachten, aber selber möglichst unbeobachtet zu bleiben. Ich konnte mit dem Gefühl in den 10. Be258

Doppelrolle zwischen den Mächten

zirk in die Familienwohnung zurückkehren, dass mein Ausflug in die Innenstadt erfolgreich und unbeobachtet geblieben war. Am folgenden Tag begab ich mich zur vereinbarten Stunde ins Café Mozart. Kurz nachdem ich mich nach einem Sitzplatz umzusehen begonnen hatte, trat ein etwa 45- bis 50-jähriger untersetzter Mann auf mich zu, begrüßte mich wie einen alten Bekannten und begleitete mich zu einem von ihm reservierten Tisch in eine Ecke, in deren Umkreis die anderen Tische unbesetzt waren. »Ich bin dazu da«, sagte der Mann mit leiser, aber fester Stimme, »Ihre Sorgen zu hören und Ihnen bei der Lösung von Problemen beizustehen. Sie können sich auf mich verlassen.« Das klang ganz selbstverständlich, und ich fasste durchaus Vertrauen, als wäre der Mann ein alter Bekannter, dem ich schon einiges zu verdanken gehabt hätte. Ich könne sicher sein, dass er nicht allein stehe, sondern dass er eine starke Rückendeckung durch eine Mannschaft habe, versicherte er mir. Dann ließ er mich die Geschichte meiner Festnahme im Detail erzählen, samt meiner Verpflichtung, mich wieder in dem Haus Wiedner Hauptstraße Nr. 61 zu dem von den Sowjets verlangten Termin zu melden. »Seien Sie unbesorgt«, sagte er mir, »es wird Ihnen nichts geschehen, die Leute wollen Informationen von Ihnen. Und ich werde dafür sorgen, dass sie für die Leute dort immer irgendwelche Informationen bereit haben werden.« Das klang beruhigend. Ich konnte auch die beabsichtigte Verhaltenslinie meines Gegenübers verstehen. Es wurde mir aber auch rasch klar, dass es sich von nun an um ein mühsames Spiel handeln würde. Das Wichtigste sei, fuhr der neue Vertraute fort, sich nie das Geringste aufzuschreiben. »Sie dürfen auch niemandem in Ihrer Verwandtschaft oder Freundschaft etwas erzählen oder auch nur andeutungsweise von den Treffen mit meiner Person etwas mitteilen. Auch über ›Ihre Leute‹ sollten Sie niemandem etwas erzählen.« Es müsse alles nur zwischen uns beiden bleiben. Er könne mir auch nichts von sich mitteilen, weder Namen noch Wohnort, er werde mir aber sicher nicht verloren gehen. »Ihr Codename ist von nun an ›Banure‹«, sagte er. »Sollte ich einmal wirklich verhindert sein, Sie zum vereinbarten Termin zu treffen, so werden Sie bestimmt in irgendeiner Form Nachricht erhalten. Keine Sorge, wenn Sie sich an diese Regeln halten und sich jeweils genau merken, was wir vereinbaren, dass Sie es ›Ihren Leuten‹ sagen, wird nichts passieren.« Er sprach auch in Zukunft immer nur von »Leuten«, es gab keine andere Bezeichnung. Das Gespräch brachte mir eine Erleichterung. Die Ängste, die ich auszuhalten hatte, besonders die Angst, außer Landes verschleppt zu werden, waren andere als die im Krieg. Ich war bisher mit diesen Ängsten allein geblieben, doch 259

Nachkriegszeit in Österreich

nun konnte ich mich einem Menschen mitteilen. Das gab mir eine gewisse Sicherheit. Es war seitens der Briten keine Falle zu befürchten. Dann ging es zur Sache. Ich sollte also »meinen Leuten« in der Wiedner Hauptstraße von meinem Besuch bei Rosemary und Richard berichten und sagen, dass ich demnächst einmal zu einem gesellschaftlichen Treffen von Leuten der britischen Besatzung eingeladen würde. Ich sollte bei »meinen Leuten« fragen, ob ich diese Einladung der Briten auch annehmen solle. Es sei zu erwarten, dass sich die »Leute« das wünschen würden und Berichte bekommen wollten, was sich bei einem solchen von mir zu beobachtenden Treffen abspielen würde. Es gehe zurzeit den Sowjets gar nicht so sehr um Politisches, sondern eher um das soziale Leben der anderen Besatzungsmächte in Wien. Das sei für »meine Leute« interessant. Ich werde dies deutlich erkennen. Ich gab mich damit zufrieden und fühlte mich gut beraten. Wir vereinbarten, uns etwa 10 Tage später in einem Heurigenlokal in Grinzing wieder zu treffen. »Seien Sie guten Mutes, Banure«, waren die Abschiedsworte – und ich war es auch angesichts des Treffens drei Tage später in der Wiedner Hauptstraße bei denen, die mein neuer Vertrauensmann immer nur »Leute« nannte. Der Posten, der innerhalb des großen Holztores Wiedner Hauptstraße 61 stand, war informiert, als ich mich zur vorgegebenen Stunde dort einfand. Ich wurde im Hausflur von einem internen Boten abgeholt, jedoch weder in den Keller noch in den Saal des Verhörs, sondern in ein einfaches Büro gebracht, wo schon auf mich gewartet wurde. Dort saß einer der jüngeren Offiziere, die zu den Flügelmännern des Leiters des Tribunals im Saal gehört hatten. Ob ich mich auch voll an das Verbot gehalten habe, mit niemandem über unsere Vereinbarungen zu sprechen. »Das sei doch klar«, antwortete ich mit sicherer Stimme. Es war mir auch klar, dass ich »meine Leute« nun überzeugen musste, dass ich ein verlässliches Mitglied ihres Informationsnetzwerks sei. Als hätte der neue Vertrauensmann von der englischen Seite es vorausgeahnt, so kam von den Sowjets genau jener Auftrag, den er mir vorwegnehmend angekündigt hatte. Ich sollte alle Gelegenheiten, an Veranstaltungen der Briten teilzunehmen, wahrnehmen und dann ausführlich hier – damit meinte er seine Organisation mit dem Standort an der Wiedner Hauptstraße – darüber berichten. Das war es. Ich hütete mich davor, zu fragen, was von besonderem Interesse sei, es war ja Mühe genug, die vereinbarten Termine auf beiden Seiten einzuhalten, im Kopf klar zu bleiben und ohne schriftliche Notizen alles genau zu registrieren. Das Gespräch war nach einer weiteren Terminvereinbarung in etwa 10 Tagen schnell beendet. Der Posten öffnete die Tür einen Spalt und ich war draußen, frei wieder für einige Tage. 260

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Der britische Gewährsmann hatte in allem recht behalten. Jetzt musste er nur dafür sorgen, dass ich den Zugang zu den Veranstaltungen der Briten erhielt, über die ich dann »meinen Leuten« würde berichten können, natürlich im Sinn der Briten und mit den Inhalten, die man von britischer Seite zu den Sowjets transportieren wollte. Es begann anstrengend zu werden. Ich hatte mich zu plagen, mir für meine journalistischen Beiträge für österreichische Wochenzeitungen, die mir ein wenig Geld brachten, und für mein Studium, wofür ich zu zahlen hatte, ausreichend Zeit zu verschaffen. Die Veranstaltung der Briten, in die ich durch meinen neuen Gewährsmann eingeschleust worden war, brachte eine große Überraschung für mich. Einer der Offiziere, die auf ihren Blusen Kriegsauszeichnungen trugen, er mochte 15 Jahre älter sein als ich, stand immer wieder im Zentrum von Gruppen. Er wusste offenbar gut zu erzählen. Überraschenderweise wandte er sich auch mir als einem Neuankömmling zu. Er wusste offenbar nichts darüber, wie und warum ich zu der Party eingeladen worden war. So begann er mich zu fragen, in welcher Weise ich am Krieg teilgenommen hatte. Da ich meine Rolle als Dolmetscher in Griechenland auf deutscher Seite erwähnte, stieg sein Interesse an einem Gespräch mit mir sprunghaft an. Als ich meinen Standort Megalo Pefko an der griechischen Küste von Attika erwähnte, zuckte er zusammen. Von da an war seine Erinnerung für ihn so stark, dass er sich in seinem Erzählen mir gegenüber gar nicht mehr zurückhalten konnte. Ich fragte mich, ob er vom Standpunkt seiner nunmehrigen Stellung in der Wiener Besatzung so offen über die von ihm erlebte Kriegsvergangenheit sprechen durfte und ob die von ihm in meiner Gegenwart konsumierten Gin Tonics zu seiner Redseligkeit beitrugen. Aus seiner Erzählung wurde mir klar, dass er in den Jahren 1943–44 als britischer Geheimdienstoffizier an Waffentransporten durch U-Boote für die griechischen Partisanen der Provinz Attika beteiligt gewesen war. Nachdem er im U-Boot noch unter Wasser die letzten Vorbereitungen für die Übergabe von Munition und Waffen an Fischerboote vor dem Auftauchen des U-Bootes getroffen hatte, so erzählte er freimütig, seien die Kisten und Säcke mithilfe der Marinesoldaten des U-Bootes in die kleinen, an bestimmten Punkten wartenden Boote der Fischer vorbereitet worden. Das eigentliche Problem sei es gewesen, nach dem Auftauchen in der Nacht bei der Übergabe an die Fischer mit so wenig Licht wie möglich auszukommen. Aber darin seien die griechischen Fischer unübertrefflich gewesen. Sie hätten mit ihren Nachtaugen und den starken Armen, die sie beim Fischfang beruflich Jahrzehnte hindurch trainiert hatten, die Umladung der Waffen und der Munition für die Partisanen 261

Nachkriegszeit in Österreich

vom U-Boot in ihre kleinen Schifflein sehr präzise durchgeführt. Sie erhielten dafür nur wenig Geld, das ihnen für ihre lebensgefährlichen Aufgaben des politischen Schmuggels vom britischen Geheimdienst jeweils bei Übergabe der Säcke für die Partisanen ausbezahlt wurde. Er selber habe immer das Geld für die Fischer in Pfundnoten bereitgehalten. Diese Fischer riskierten in der Tat ihr Leben. Für sie sei es ein Beitrag zur Befreiung ihres Landes und ein Zusatzverdienst gewesen, sagte mir der britische Oberleutnant. Es sei gelegentlich einmal vorgekommen, dass bei höherem Wellengang bei der Übergabe eine Kiste mit Waffen ins Wasser gerutscht sei. Aber die Deutschen hätten niemals einen Waffentransport aufgespürt. Alle Kisten und Säcke aus dem U-Boot seien durch die Fischer immer von großen Mengen kurz vorher gefangener Fische in ihren Booten überdeckt worden. Für die Übergabe der Waffen an die Fischer habe man vonseiten der britischen Marine wöchentlich immer dieselbe Nacht des Fischfangs, unabhängig vom Wetter, jedoch immer an einem die Woche vorher vereinbarten Treffpunkt gewählt. Die Weitergabe der gelieferten Munition und der Waffen an die Partisanen sei dann Sache der Fischer gewesen und sei auch regelmäßig durch sie erfolgt. Die Fischer bezeichnete der britische Offizier mir gegenüber als die besten Geheimdienstleute, die man sich vorstellen konnte. Seien sie von deutschen Kommandos kontrolliert worden, so habe man ihm berichtet, seien sie in ihren Lügen unerschöpflich gewesen. Außerdem seien die Posten der Deutschen Wehrmacht für die Versorgung mit frisch gefangenen Fischen immer sehr dankbar gewesen. Für die Deutschen habe das bei ihrer elenden militärischen Verpflegung im Vordergrund gestanden. So seien sie bei der Kontrolle nachlässig gewesen. Die Posten der Deutschen hätten sich vor der Kontrolle, schon in der Nacht, mit dem hochkarätigen griechischen Ouzo praktisch außer Gefecht gesetzt. Sie hätten die oben gelagerten Fische gefunden und als eine Art Bestechung entgegengenommen, aber nicht nach darunter gelagerten Waffen gegraben. Dann seien die deutschen Soldaten mit Späßen und dem großzügigen Ausschenken von Ouzo durch die Fischer noch weiter betäubt worden. So hätten ihre Kontrollen völlig versagt. So arg hatte ich es mir damals in Griechenland doch nicht vorgestellt. Ich war offensichtlich zu gutgläubig gewesen. Selbst hatte ich mich von den Fischern zwar weder mit Ouzo noch mit Fischen bestechen lassen. Thia, meine Quartierfrau, bekam auf Umwegen gelegentlich einmal ein paar Fische und briet auch mir davon manches Exemplar. Aber das war nicht die Regel. Man hatte die Waffen an mir vorbeigeschleust. 262

Doppelrolle zwischen den Mächten

Ich ließ den britischen Offizier weiter erzählen. Je mehr er Gin Tonic konsumierte, desto verächtlicher wurden seine Äußerungen über die dummen »Jerries«, die deutschen Soldaten. Es war eine Schmährede, die ich da zu hören bekam. Was sich an blutigen, ja mörderischen Fehden und Folterungen, an Kämpfen mit den Waffen im Land hinter der Küste abgespielt hatte, die von ihm geliefert worden waren, davon hatte er wenig Ahnung. Ihm als Geheimdienstoffizier ging es ja nur darum, für die geplante und später auch durchgeführte Landung der britischen Armee in Griechenland durch Waffenlieferungen an die Partisanen starke bewaffnete Kräfte aufzubauen, um die Deutschen so rasch wie möglich zu vertreiben. Was mochte nunmehr in Wien die Aufgabe dieses Offiziers sein  ? Ich hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Mir genügte es allerdings, dass er mir erzählte, dass es niemals zu gemeinsamen Treffen mit sowjetischen Offizieren käme, und er fragte sich, warum dies so sei. Bei einer Bemerkung von mir sagte er, dass er sehr interessiert wäre, sowjetische Offiziere kennenzulernen. Jedenfalls aber wünsche er sich anlässlich eines nächsten Festes mit mir näher bekannt zu werden. Ich schwieg aufs Erste dazu. Ich wollte ja zunächst einmal sichergehen, ob dies auch auf der Linie meines britischen Kontaktmanns lag. Dieser Kontaktmann, über den ich ja keinerlei weitere Informationen hatte, ermutigte mich, an allem teilzunehmen, was mir die Briten vorschlugen, er werde mir dann die Inhalte der Informationen schon bekannt geben, die ich an die Sowjets weiterreichen sollte. Die nächste Einladung an mich erfolgte prompt durch den Geheimdienstoffizier, der in Griechenland 1944 die Waffenlieferungen für die Partisanen organisiert hatte. Die Einladung erfreute mich wenig, sie war merkwürdig, weil sie von diesem Offizier mit bestimmten Vorschlägen an mich verbunden wurden, die mir verdächtig vorkamen. In der Nähe des Offiziersklubs, wo das Fest stattfinden sollte, gebe es Hotelzimmer, in einem dieser Zimmer sollte ich übernachten, und er, der Offizier, wolle sich bereithalten, um nach dem Fest dort gemeinsam mit mir zu baden. Nein, das wollte ich überhaupt nicht. Ich vermutete, dass dies das Angebot homosexueller Kontakte bedeutete, nach denen mir keinesfalls der Sinn stand. Wie aber sollte ich das Angebot umgehen  ? Den Gewährsmann sollte ich erst Tage nach dem britischen Fest treffen. Eine glatte Ablehnung meiner Teilnahme am Fest wollte ich nicht riskieren, auch weil ich ja Stoff für Mitteilungen an die Sowjets brauchte. Ich beschloss also, zu dem Fest zu gehen, aber nirgends über Nacht zu bleiben, wie es der britische Offizier vorgeschlagen hatte. 263

Nachkriegszeit in Österreich

Am Fest der Briten floss reichlich Alkohol. Bald wurden Soldatenlieder gesungen. So schien mir auch der Augenblick gekommen, um zu verschwinden. Über die Jahre hinweg hatte ich ja Respekt vor geladenen Waffen gewonnen, und sollte es sich auch nur um die Pistole eines betrunkenen Geheimdienstoffiziers handeln. Ich stand unter dem Eindruck der Tatsache, dass ich selber ja unbewaffnet war. Als ich merkte, dass das Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte und der britische Offizier, der das Zimmer für mich reserviert hatte, noch eine Andeutung machte, die mir zeigte, dass ich mich in meiner Vermutung kaum getäuscht hatte, verließ ich das Gebäude. Dem britischen Posten, der mich fragte, warum ich fortgehe, sagte ich, dass ich noch etwas zu holen hätte. So kam ich los und begab mich, zufrieden mit meiner Entscheidung, so rasch wie möglich nach Hause. Was sollte ich aber zwei Tage später, noch vor der Vereinbarung mit dem britischen Gewährsmann, den Sowjets über den homosexuellen britischen Offizier berichten  ? Ich beschloss, dieses Thema nicht in meinen Bericht hineinzunehmen, und versuchte, mir die Namen der Prominenten, die dort erschienen waren, ohne schriftliche Notizen nochmals einzuprägen. Bei den Sowjets war am übernächsten Tag das Interesse an den Namen der britischen Prominenz sehr groß – man schien mit meinen Informationen durchaus zufrieden zu sein.

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5. Angebot im niedrigen Spionagemilieu

Ich aber begann an mir selber zu bemerken, dass mich die Doppelrolle mehr und mehr zu erschöpfen begann. Ich fürchtete, dass ich durch irgendeinen kleinen Fehler in Schwierigkeiten geraten könne. So begann ich darüber nachzusinnen, welchen weiteren Weg ich einschlagen sollte, um dieser Doppelrolle zu entgehen. Zudem kam, als der Termin für die nächste Zusammenkunft mit den Sowjets vereinbart wurde, dass dies an einem anderen Ort stattfinden sollte. Ich hatte mich in einem als Lazarett eingerichteten Haus am Karlsplatz in Wien einzufinden. Man würde gleich hinter dem Eingang zur vereinbarten Stunde auf mich warten. Natürlich berichtete ich dies meinem britischen Gewährsmann. Er beruhigte mich und glaubte, dass damit die Kontakte mit den Sowjets lockerer gestaltet werden sollten. Auf meine Erzählung über den zudringlichen britischen Offizier versprach er mir, dass er einen Wechsel des Kontaktmannes bei den Briten herbeiführen werde. Das gelang ihm offenbar sehr rasch, sodass ich mich ohne den Druck, den der merkwürdige Offizier dort auf mich ausgeübt hatte, weiterhin unter den Briten bewegen konnte. Das neue Treffen mit den Sowjets in dem Haus auf dem Karlsplatz gestaltete sich ganz anders als die bisherigen in den Büros auf der Wiedner Hauptstraße. Man wolle mir die bessere Seite des Sowjetlebens zeigen, sagte der für mich weiterhin zuständige sowjetische Offizier und führte mich in eine Art Erholungsraum des Lazaretts. Er setzte mir Brötchen und Tee vor, die offenbar aus einer Küche hereingebracht wurden, und ließ sich ausführlich über das britische Fest berichten, wobei er alles aufschrieb, was ich zu erzählen hatte. Besonders die Namen der Prominenz, die in das britische Casino gekommen war, schienen ihm viel zu bedeuten. Ich rührte von dem Essen, das man mir vorgesetzt hatte, nichts an, wollte vorsichtig sein, um mich nicht den Folgen einer allenfalls beigemischten, vielleicht betäubenden Substanz auszusetzen. Dies fiel dem jungen Kontaktoffizier angesichts des stark besuchten Raumes gar nicht auf. Er sagte mir, es gebe hier im Haus einen sehr angenehmen Ruheraum, in den er mich nun begleiten wolle. Ich sei doch wohl einer freundlichen und freundschaftlichen Seite meiner Kontakte mit der sowjetischen Macht nicht abgeneigt. 265

Nachkriegszeit in Österreich

Was ich dann sah, erschreckte mich mehr, als es mich erfreuen konnte. Es war eine kleine Kammer, in die er mich führte. In dieser Kammer befand sich ein Stockbett. Es war ein verhältnismäßig warmer Tag. Im unteren Stockbett räkelte sich eine nur mit einem engen Höschen und einem Büstenhalter bekleidete junge Person. Ich war sprachlos. Was sollte ich als sowjetischer Informant da tun  ? Was sann man mir an  ? Die junge Person war keine Prostituierte, schien aber, nach ihrer Reaktion auf mich als Eintretenden zu schließen, einem Abenteuer nicht abgeneigt. Der sowjetische Offizier sagte mir, ehe er das Zimmer verließ, dass dies der Ruheraum für Krankenschwestern des Lazaretts sei. Ich wäre aber durchaus willkommen, eine dieser Schwestern zu unterhalten. Ich antwortete nicht, setzte mich auf den Bettrand zu der ruhenden Person, blieb aber wortlos und berührte sie nicht. Sie merkte bald, dass da kein Abenteuer folgen würde, sagte etwas auf Russisch, das ich nicht verstand, und lachte dazu. Ich machte gute Miene zu einem Spiel, das vielleicht gar nicht böse gemeint war, auf das ich mich aber nicht einlassen wollte. Ich war als unfreiwilliger Mittelsmann und Informant sehr auf alles bedacht, was sich aus einer meiner Handlungen für mich ergeben könnte. Nach einiger Zeit erhob sich die junge Frau, warf sich eine Art Bademantel um, grüßte nicht unfreundlich und verschwand aus der Kammer. Hatte ich ein Beispiel sowjetischen Liebesangebotes erlebt  ? Warum hatte man mir dies zugedacht  ? Ich verstand es so, dass man zu den schon nach meiner Verhaftung unter Druck eingegangenen Verpflichtungen eine zusätzliche Bindung meinerseits an die sowjetische Macht anstrebte. Aber ich konnte das nur vermuten. Ich hatte das Gefühl, mehr und mehr zum Spielball von Manipulationen zu werden. Meine Rolle als Werkzeug wurde mir immer deutlicher. Auch begannen sich die Informationen, wie ich sie an die Sowjets weiterzugeben hatte, um den Organisationsaufbau bei den Briten zu drehen, wie sie mein britischer Informant ganz im Sinne der erwünschten Irreführung oder Beeinflussung der Sowjets weitergab. Mit der Zeit, es waren Wochen, die vergingen und in denen das Karussell der Treffen mit den beiden Mächten sich drehte, schienen mir die Inhalte mehr und mehr unerheblich zu werden. Das Spiel erschien mir zunehmend öde und leer, aber es ging weiter. Es kostete mich auch weiterhin viel Zeit und enorme Aufmerksamkeit. Ich konnte selber ja nichts beitragen, um dieses Spiel abzukürzen oder totlaufen zu lassen. Oder doch  ? Gerade in dieser Phase, da ich durch die Routine der wöchentlichen Treffen zunehmend unaufmerksamer wurde, begann ich mich gleichzeitig vor einem Nachlassen meiner Aufmerksamkeit zu ängstigen. 266

Doppelrolle zwischen den Mächten

Da erhielt ich einen wertvollen Rat von einem Freund, der ebenso intellektuell wie moralisch einen guten Eindruck auf mich machte und dem ich mich als Einzigem anvertraute. Er ermahnte mich, weiterhin die höchste Vorsicht walten zu lassen, aber gleichzeitig alles dazu beizutragen, den Sowjets gegenüber als Informant uninteressant zu werden. Dies würde mich aus der Umklammerung herausführen. Ich beherzigte diesen Rat und folgte ihm nach Kräften. Ich wagte es, die mündlich verabreichten Pakete von Informationen, die von meinem britischen Gewährsmann für meine Übergabe an die Sowjets zusammengestellt wurden, etwas zu verkleinern. Ich verdünnte dadurch den Informationsstoff auf eigene Faust. So wurden auch die Aufträge von sowjetischer Seite geringer und verloren an Bedeutung. Der Fluss der Informationen wurde schmäler, das Interesse an dem, was ich erbringen konnte, verringerte sich. Als ich dann nach vielen Wochen eines Tages wieder zur vereinbarten Stunde an das dicke Holztor des Hauses Wiedner Hauptstraße Nr. 61 pochte, wie ich es üblicherweise tat, öffnete der innen stehende Posten. Zu meiner großen Überraschung machte er eine abwehrende Geste mit der Hand. Hatte ich mich im Tag geirrt  ? Die Tagesstunde meiner Meldung bei den Sowjets war ja immer die gleiche geblieben. Ich zog mich etwas verwirrt und enttäuscht zurück. Am nächsten Tag versuchte ich es zur selben Stunde und am selben Ort wieder, wurde aber mit derselben Geste abgewiesen. Bedeutete das, dass man auf meine Dienstleistungen nunmehr verzichten wollte  ? Dazu war gar kein Kontakt mit dem Offizier vorgesehen  ? Mein erstes Gefühl war nicht das einer Erleichterung, eher eines der Sorge und der Ungewissheit, was mich nun erwarten würde. Mein britischer Partner beruhigte mich in den darauffolgenden Tagen. Er vermute, dass ich in der Folge unbehelligt bleiben würde, wie er sich ausdrückte. Ihm seien viele solcher Prozesse bekannt. In dem Feld, in dem er arbeite, so erklärte er mir, gäbe es immer wieder Prozesse, die zu Ende liefen, und solche, die neu begännen. Er habe schon seit einiger Zeit den Eindruck gewonnen, dass mein Prozess auslaufen würde, aber mir gegenüber geschwiegen, um mich nicht zu beunruhigen. Ich solle von mir aus zufrieden sein, dass meine Rolle auslaufe. Er würde wissen, in irgendeiner Form an mich heranzutreten und neue Bande zu mir knüpfen, falls sich dies in Zukunft als notwendig erweisen sollte. Ich könne nunmehr jedoch ganz unbesorgt sein. Er würde auch keine neuen Termine mit mir vereinbaren. Leider könne er und dürfe er von sich aus mir keine Kontaktmöglichkeiten mit ihm anbieten. Aber es sei sicher auch nicht notwendig, wie ihm von übergeordneter Seite seiner Organisation glaubhaft versichert worden sei. 267

Nachkriegszeit in Österreich

Ich fühlte mich damit allerdings eher in die Unsicherheit und in gewisser Weise auch in eine Art Hilflosigkeit entlassen. Sowohl Rosemary als auch Richard waren als Armeeangehörige von Wien weg versetzt worden. Allerdings hatte ich einen Rest von Hoffnung, dass ich im Falle einer neuerlichen Beanspruchung durch die Sowjets mit der Unterstützung des britischen Gewährsmannes, wie er es ja versichert hatte, würde rechnen können. Ich verabschiedete mich mit einem festen Händedruck sehr herzlich von ihm und empfand dabei ein Gefühl von Vertrauen und innerer Dankbarkeit. Eine Phase meines Lebens ging zu Ende.

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6. Mein Vater kehrt aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft heim Für mich ging der Krieg und die lange währende Nachkriegszeit erst dadurch zu Ende, dass mein Vater aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Als österreichischer Fähnrich des Ersten Weltkriegs der k. u. k. Armee war er von 1916 bis 1919 Soldat des alten Österreich gewesen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er 1939 als Reserveoffizier in die Deutsche Wehrmacht eingezogen. Er musste wieder Soldat werden – gegen seinen Willen. Mein Vater wurde als Hauptmann der Deutschen Wehrmacht im Mai 1945 zuerst Kriegsgefangener der Amerikaner, die im niederösterreichischen Waldviertel knapp vor Kriegsende im Frühjahr 1945 weit nach Osten vorgedrungen waren. Er wurde dann zusammen mit Tausenden von Offizieren und Soldaten, den Resten des in Österreich stationierten deutschen Ersatzheeres, entgegen vorheriger Zusagen der Amerikaner in den Kapitulationsverhandlungen, schließlich doch den Sowjets übergeben. Die Sowjets schleppten diese übrig gebliebenen, desorganisierten Massen ehemaliger deutscher Soldaten, darunter auch körperlich Beeinträchtigte und Kranke, zu den im Kriegsrecht nicht vorgesehenen Diensten der Wiedergutmachung bis tief in das Gebiet der Sowjet­ union hinein. Wenn einer der so verschleppten Gefangenen auf dem Marsch an Erschöpfung verstarb, wurde er in den Straßengraben geworfen. Es suchten die Bewachungsmannschaften nach Ersatz unter den auf den Feldern arbeitenden Bauern. Sie wurden unter Androhung des sofortigen Erschießens in die marschierenden Gruppen der Gefangenen eingegliedert. Es hatte die jeweilige Zahl der Gefangenen für die Bewacher erfüllt zu sein, alles übrige war ihnen gleichgültig. Mein Vater war, als er nach zweieinhalb Jahren freigelassen wurde, in zwölf verschiedenen sowjetischen Lagern in Kriegsgefangenschaft mit Kompensa­ tionsleistungen für Kriegsschäden festgehalten worden. Ein Lager befand sich in den Räumen von drei aufgelassenen Kirchen mit dem Namen Trikorova. Der Vater war im Nachkriegswinter 1945/1946 so geschwächt, dass er am Abend nach der schweren Arbeit die Stufen zur Kirche und damit zu den Schlafpritschen in der Kirche nur hinaufsteigen konnte, wenn er mit den Händen die Hosenbeine bei den Oberschenkeln so hinaufzog, 269

Nachkriegszeit in Österreich

dass er dadurch jeweils ein Bein auf die nächsthöhere Stufe hinaufzusetzen vermochte. Als er im Jahre 1947 nach Wien heimkehrte, war auf ebenem Boden sein Schritt sehr schwach. Der ganze Mann brauchte Monate, um unter den sorgfältigen und hingebungsvollen Bemühungen meiner Mutter wieder seinen eigenen festen Tritt zu finden. Die damals noch nicht 50-jährige Frau war ja schon während der Jahre der sowjetischen Gefangenschaft meines Vaters diejenige Kraft gewesen, die ihn seelisch und physisch am Leben zu erhalten verstanden hatte. Dies geschah durch die unermüdliche Lieferung von Nahrungsmittelpaketen an ihn ins jeweilige Lager und das Schreiben von ermutigenden Briefen, wo immer er sich hinter dem Stacheldraht befand Zu den ersten Berichten nach seiner Heimkehr gehörten seine Schilderungen, was geschah, wenn ein Brief an ihn im jeweiligen Lager eintraf. Es habe sich eine große Gruppe, geradezu eine Schlange von Mitgefangenen gebildet, die den Brief aus der Heimat sehen und lesen wollten. So wurde eine Regelung getroffen, dass in unmittelbarer Nähe des Schlafplatzes meines Vaters jeweils sechs Personen zugelassen wurden, um den Brief mit eigenen Augen zu lesen. Meine Mutter hatte es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, so gut wie jeden zweiten Tag an ihn, den Vater, einen Brief zu schreiben und diesen Brief auf verschiedenen Wegen an ihn abzuschicken. Hatte sie auf Umwegen den Ort erfahren, in dem sich das jeweilige Lager befand, in dem mein Vater gefangen war – er durfte ja selber darüber nichts mitteilen –, nutzte sie zusätzlich zur Kriegsgefangenenpost auch den zivilen Postweg mit Erfolg. Waren die ersten sechs Personen als Mitleser des Briefes an meinen Vater befriedigt, die Nachricht »aus der Heimat« mit eigenen Augen gesehen zu haben, kamen die nächsten dran. Einmal sei mein Vater dem Vorwurf ausgesetzt worden, es sei unfair, so unverhältnismäßig viel Post zu bekommen. Aber alle vernünftigen Kameraden im Lager hätten eingesehen, dass er das ja nicht selber bewirkt hatte, sondern dass es jeweils das Werk seiner Frau gewesen war. Entsprechend den Bemühungen meiner Mutter, meinem Vater regelmäßig Nachricht und Verpflegung zukommen zu lassen, war auch die unvergleichliche Begeisterung bei ihrem Empfang des Mannes auf dem damaligen Wiener Südbahnhof. Sie presste ihn an sich und jubelte laut, dass er gekommen sei. Sie bildete damit eine blitzende und durch die ausgedrückten Gefühle geradezu leuchtende Insel im Strom der aus den Eisenbahnwaggons entsteigenden freigelassenen Soldaten, die sich in langsamem Zug auf den Ausgang, auf die dort auf sie Wartenden hin bewegten. 270

Mein Vater kehrt aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft heim

So standen sie lange, Vater und Mutter, in ihrer Umarmung, ehe sie sich besannen, in die Freiheit mitzufließen. Ich war ein Stück abseits gestanden, ehe ich auf ihn zutrat und ebenfalls umarmte. War das mein Vater, der abgemagerte Mann mit dem weißen Vollbart  ? Er war nun, nach meinen und seinen Erlebnissen, ein anderer, ein neuer Mensch für mich. Ich begriff erst, was geschehen war, als ich ihn zu Hause im kleinen Badezimmer nackt in der Wanne sitzen sah. Der Anblick eines bis auf die Knochen abgemagerten Menschen bot ein Bild, vergleichbar den Fotos von den befreiten KZ-Insassen, die man in den Nachkriegsjahren in Österreich häufig in Zeitungen und Zeitschriften auf Fotos abgebildet zu sehen bekam. Er hatte den Bart schon abgeschnitten und abrasiert, umso schmäler sah er aus, mein Vater. Er war nicht wortkarg, aber konnte vorerst kaum etwas erzählen. Eine der ersten Bemerkungen, an die ich mich erinnere, war, dass die älteren Männer dem Hunger, der Vernachlässigung und den Rohheiten der Bewachung gegenüber viel widerstandsfähiger gewesen seien als die Jungen. Er habe ja weder von meinem Bruder noch von mir im ersten Jahr seiner Gefangenschaft irgendetwas gewusst, seine Sorgen um seine Söhne seien groß gewesen. Die Alten unter den Gefangenen hätten besser verstanden zu überleben. Sie, die Älteren, hätten gewusst, was sie mit ihrem Leben verlieren würden. Die Jungen hätten das Leben durch ihre Kindheit und ihr Heranwachsen im Krieg nur eingeschränkt durch all die Entbehrungen, Bedrohungen und Gefährdungen dieser Zeit kennengelernt. Sie hatten das Leben gar nicht von der schönen Seite und seinen Erfüllungen her zu erfahren vermocht. So seien die Jungen nun in der Gefangenschaft auch nicht so leidenschaftlich darauf bedacht gewesen, dieses Leben hinter Stacheldraht in Hunger, Not und Gewalt sich um jeden Preis zu erhalten. Viele der Jungen seien gestorben, sagte mein Vater, nicht nur wegen der zu geringen Essensrationen, sondern auch, weil sie sich, wie er sich ausdrückte, fallen gelassen hätten. Wenn er erzählte, stellte ich kaum Fragen. Ich hatte das Gefühl, dass ich in die Welt der Lager und der Zwangsarbeit, die er als Gefangener zu verrichten gehabt hatte, gar nicht eindringen konnte. Ich hatte ja selber keine lange dauernde Gefangenschaft erlebt. Eine der aufregenden Geschichten, die mein Vater aus seiner Kriegsgefangenschaft berichtete, war die von der Arbeit des Mastentragens. Eine neue Telegrafenleitung war in der Nähe eines Lagers geplant, in dem mein Vater festgehalten wurde. Dazu mussten Löcher für die Masten gegraben und dann die Masten von einem Platz, an dem sie gelagert worden waren, zu den Löchern gebracht werden. Das waren immer sieben bis acht Mann, welche die Masten zu den Lö271

Nachkriegszeit in Österreich

chern zu tragen hatten. Dabei durfte niemand stolpern oder stürzen, wodurch der Mast von den tragenden Schultern der Mannschaft gerollt und durch seinen Sturz unter Umständen schwere Verletzungen bei den Trägern verursacht hätte. Die Einteilung der Träger verlangte Augenmaß, schon wegen der jeweiligen Körpergröße. Ihre wechselseitige Rücksichtnahme einschließlich des gemeinsamen Schrittes war Vorbedingung für das Überleben. Vorsicht war das höchste Gebot angesichts einer von Rücksichtslosigkeit und Drängen geprägten Aufsicht der sowjetischen Wächter. Alles sollte schnell gehen. Bei meinem Vater hatte sich schon lange vor dem Einsatz zum Mastentragen ein großes Furunkel im Nacken gebildet. Wegen Ärztemangels im Lager wagte es ein deutscher Zahnarzt, mit einigen noch aus den Sanitätsbeständen der ehemaligen Wehrmacht geretteten Mitteln und Instrumenten die Operation durchzuführen. Der Zahnarzt vernähte danach erfolgreich die große Wunde. Eine Zeit lang durfte der Vater mit der frisch vernähten Wunde im Lager bleiben, wurde aber dann von sowjetischen Arbeitsaufpassern rasch wieder zum Mas­ tentragen eingeteilt. Dabei war zu befürchten, dass die Wunde aufreißen würde. Mein Vater sagte, dass er mit dem Schlimmsten gerechnet habe, aber gleichzeitig mit der stärksten möglichen Hoffnung an die Arbeit gegangen sei. Er habe eben mit der gesunden Schulter am Mast mitgetragen und so die Wunde auf der anderen Seite geschont. Die Kameraden hätten das berücksichtigt. Um mir ein Beispiel von der Hilflosigkeit der ganz jungen Gefangenen zu geben, die zum Teil aus der Gruppe von 16-Jährigen aus dem »Volkssturm«, den kurz vor Kriegsende gebildeten Bataillonen von Heranwachsenden und Alten, kamen, schilderte der Vater mir das Schicksal eines dem Jugendalter noch nicht entwachsenen Burschen. Dieser war frühzeitig zum »Volkssturm« einberufen und bei Kriegsende wie ein Soldat festgenommen worden. In der sowjetischen Gefangenschaft habe der Junge begonnen, jegliche Arbeit und Ordnung zu verweigern. Er sei mit dem immer wiederholten Ausruf »Ich will nach Hause« durch das Lager gezogen. Auch Fußtritte und Kolbenschläge hätten ihn nicht bewegen können, mit dem Rufen aufzuhören und sich einzugliedern. Mein Vater habe ihm mehrfach zuzureden und ihm zu erklären versucht, dass er nur dann nach Hause käme, wenn er hier arbeite, seine Rufe würden ihm nur schaden, denn nach Hause wollten ja alle. Auch ein deutscher Kamerad, gleichfalls Kriegsgefangener im Lager, habe intensiv danach getrachtet, den Burschen aus dem krankhaften Widerstand herauszuholen. Doch es gelang ihm nicht, den jungen Menschen von seinem wahnartigen Verhalten zu befreien. Aufgrund seiner Haltung habe der Junge immer wieder die ohnehin aufs Geringste reduzierten Nahrungsrationen bei der abendlichen Ausgabe von Essen 272

Mein Vater kehrt aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft heim

verpasst. Schließlich sei er zusammengebrochen und Tage darauf schließlich verstorben. Er hatte es nicht vermocht, seinen Wunsch, nach Hause zu kommen, in Handlungen umzusetzen, die dazu geeignet gewesen wären, ihm die Heimkehr auch zu ermöglichen.

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7. Aktivität und Ordnung als rettende Kräfte im Lager

Handlung, Tätigkeit habe in der Gefangenschaft die Menschen gerettet, berichtete der Vater. Passivität habe zum Untergang geführt. So habe er angeregt, dass im kleinen Kreis in der Abendstunde vor dem Schlafengehen jeweils eine Person von ihrer im Zivilleben geleisteten eigenen Arbeit und der bei dieser Arbeit gewonnenen Lebenserfahrung berichten solle. Diese Aktion habe großen Anklang im Lager gefunden, die tägliche Zuhörerschaft sei immer größer geworden. Schließlich stellte man sich auch zu zweit oder zu dritt die Aufgabe, zwar ohne Hilfsmittel, höchstens mit einem irgendwo aufgetriebenen Bleistiftstummel und einem Stück Papier, Kultur aus dem Gedächtnis zu vermitteln, so z. B. die Abfolge von geschichtlichen Perioden Europas festzuhalten und dann darüber zu diskutieren. Diese »Kulturstunden« forderten die Menschen heraus und machten ihnen Freude. Auch Geografie wurde auf diese Weise vorgetragen. Der eine kannte jenen Flusslauf und die Städte an dessen Ufer, der andere wusste über einen anderen Fluss Bescheid. So sei es trotz der erschöpfenden Arbeit im Lager tagsüber dann am Abend zur freiwilligen Zusammenarbeit ohne Verpflichtungen gekommen. Auch Freundschaften hätten sich aus gemeinsamem Interesse an diesem oder jenem Thema gebildet. Man habe Stücke, oft nur Bruchstücke, von Wissen in Gruppen zusammengefügt zu gemeinsam erlebter Zufriedenheit. Das war ein wichtiges Lehrstück für mich, der ich gerade ein Studium an der Wiener Universität begonnen hatte. Es gelang mir schließlich, mithilfe eines damals schon verfügbaren Tonbandes auf einem Tisch im Wohnzimmer der Eltern Erzählungen und die Berichte meines Vaters aufzunehmen. Sie enthalten viele Details, woraus ich hier nur einzelne Beispiele erwähnte. Meine Mutter begann in einer fröhlichen, aber doch bestimmten Weise die Lebensführung meines Vaters zu lenken. Vor allem achtete sie darauf, dass er durch leicht verdauliche und zurückhaltend bemessene Speisen seinen Organismus wieder aufbauen konnte. Sie bewahrte ihn davor, sich zu rasch in die Arbeiten seines früher ausgeübten Berufes zu stürzen, wozu er neigte, als hätte er seine Abwesenheit in Krieg und Gefangenschaft wieder gut zu machen.

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Mein Vater kehrt aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft heim

Es gab in der Phase nach der Rückkehr meines Vaters mehr Gespräche am Familientisch als jemals zuvor oder später. Mein Vater sprach niemals bedauernd oder empört darüber, was er erlebt hatte. Er stellte sich auch nicht mit dem, was er geleistet hatte, um sich am Leben zu erhalten, in den Vordergrund. Seine Erzählungen trug er nur in der Gegenwart der engsten Familienmitglieder, seiner Frau, meines Bruders und von mir, vor. Er stellte diese seine Erlebnisse auch nie so dar, als sollten sie zur Belehrung von uns dienen. Er gab zu verstehen, dass er mit dem, was er getan hatte, kein Vorbild sein wolle. Es war so gewesen, und es war fast unerklärlich, dass er alles überstanden hatte. Aber er war von einem gewissen Stolz beseelt, dass es ihm gelungen war, zu überleben. Das konnte man erkennen, ohne dass er es aussprach. Nur den Anteil meiner Mutter daran, dass er überlebt hatte, wurde der Vater nicht müde zu betonen. Da konnte er in seiner Erzählung geradezu ausufern, wenn er schilderte, wie er die im jeweiligen Lager angekommenen Esspakete für ihn geöffnet hatte und wie schwer es gewesen war, die Geschenke für sein Überleben so mit den Kameraden zu teilen, dass am Schluss doch auch noch etwas für ihn selber übrig blieb. Ich lernte jetzt nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft meinen Vater zum ersten Mal im Leben näher kennen. Er breitete keine Vorwürfe mir gegenüber aus, wie das früher, oft mit guter Berechtigung über meine mangelnde Bereitschaft, Ordnung zu halten, der Fall gewesen war. Es war wie ein Friede im Frieden.

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8. Schlaf neben den Toten auf der Pritsche

Mein Vater berichtete, dass einer, den er im Lager näher kannte, sich mit einem Zentimetermaß, das er irgendwo gefunden hatte, aufmachte, um die Breite der Schlaffläche der Einzelnen auf ihren Pritschen abzumessen. Dabei kam heraus, dass pro Mann im Durchschnitt 31 cm zur Verfügung standen. So kamen auch Vorschläge, dass alles versucht werden sollte, um die Schlafflächen für die Einzelnen zu verbreitern. Dabei wurde auch die Meinung vertreten, dass Mitgefangene, die während der Nacht starben, zwecks Verbesserung der Schlafbedingungen für die Überlebenden so rasch als möglich von den Pritschen geworfen werden sollten, um sie dann am Morgen aus der Unterkunft zu schleppen und zu begraben. Mein Vater wehrte sich gegen diese Vorgangsweise und fand sie unwürdig den verstorbenen Kameraden gegenüber. Seine Meinung behielt Oberhand. So schlief man oft mehrere Stunden der Nacht dicht gedrängt an einen Toten. Was war das Ergebnis der Erzählungen meines Vaters für mich  ? Es war sehr deutlich, dass sich seine Haltungen und Handlungen in der Gefangenschaft durch ein hohes Maß an Überlegtheit ausgezeichnet hatten. Die konsequente Ordnung, die mein Vater immer einzuhalten bemüht gewesen war und deren Fehlen er bei mir als Kind und Jugendlichem oft gerügt und bestraft hatte, half ihm, vieles an Schwierigkeiten zu überbrücken oder zu lösen. Ich entdecke nun, da ich diese Texte schreibe, unter Bedingungen der körperlichen und mentalen Begrenzungen des eigenen Alters mit 87 Jahren, wie z. B. Vergesslichkeit und Gangunsicherheit, dass bei solchen erschwerten äußeren Lebensbedingungen das Einhalten von Ordnung entlastet. Trotz Einschränkungen hilft Ordnung, eine gewisse Souveränität über sich selbst zu bewahren und für seinen Alltag einzusetzen. In gewisser Weise bewunderte ich den heimgekehrten Vater und begann seine Fähigkeiten zu schätzen, die ihn in der Gefangenschaft geleitet und ihm geholfen hatten, sein Leben zu retten. Aber es entstand daraus, was man sich hätte erwarten können, keine neue Nähe zwischen meinem Vater und mir. Im Grunde ist es mir bis heute, bis in diese Berichtlegung hinein, nach unseren jeweiligen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen rätselhaft, dass Vater und Sohn einander nicht neu begegneten. So wie ich die Konstellation erlebte, wären durch 276

Schlaf neben den Toten auf der Pritsche

die – wenn auch inhaltlich stark verschiedenen – Kriegs- und Nachkriegserfahrungen Ansatzpunkte dafür gegeben gewesen. Aber Ansatzpunkte muss man auch emotional gezielt nutzen. Aus sich heraus führen sie nicht weiter. Mir gelang es zwar, unterstützt durch ein Tonbandaufnahmegerät, meinen Vater zum Sprechen und zum Erzählen über seine Erfahrungen in der Kriegs­ gefangenschaft zu bringen. Die Abschrift erbrachte einen Berichtsband von mehr als 100 Seiten. Ich konnte aber vonseiten meines Vaters kein komplementäres Bedürfnis hinsichtlich meiner Erlebnisse als Soldat und Gefangener erkennen. Er war durch seine Erlebnisse vermutlich so erschöpft, dass er von sich aus keine Kräfte hatte, nach meinen Erlebnissen zu fragen, sie zu verstehen und zu bewerten. Der Krieg war endlich zu Ende, Gefangenenerlebnisse hatte ich ja nur über wenige Tage hinweg gehabt, und von der Festnahme durch die Sowjets in Wien und die darauffolgenden Erfahrungen fühlte ich mich zum Stillschweigen verpflichtet. Die russische Besatzungsmacht war ja noch im Land. Schweigen über die Kontakte zu ihr, das war wohl die beste Verfahrensweise, wollte man sich nicht neuen Schwierigkeiten, welcher Art auch immer, aussetzen. Mein Vater schien von solcher Unbill der Verfolgung durch die Sowjets gefeit, er hatte seine Schmerzen bis knapp an die körperliche Zerstörung heran hinter sich gebracht. Er war im Grunde nun freier als ich. Er hatte auch keine Scheu, nach den ersten Phasen körperlicher Erholung mit seinen neu ausgestellten österreichischen Dokumenten die Zonengrenzen der Besatzungsmächte innerhalb Österreichs zu überschreiten. Solche Kontrollen lösten bei mir zur selben Zeit immer noch und auch noch viele Jahre später, Unbehagen und Ängste aus. Bei mir blieben Ängste auch bis später erhalten, da die sowjetische Besatzung schon beendigt und sowjetische Truppen das Land verlassen hatten. Ich erlebte ein plötzliches Erschrecken in der Zeit des bereits von jeglicher Besatzung befreiten Landes, da Leopold Figl nicht mehr Außenminister, sondern bereits Landeshauptmann von Niederösterreich geworden war. In der Nähe jenes Hauses auf der Wiedner Hauptstraße, wohin mich Jahre zuvor die Sowjets verschleppt hatten, ging ich eines Tages auf die Innere Stadt zu. Ein Auto hielt neben mir an. Allerdings öffneten sich die Türen nicht wie seinerzeit auf dem Keplerplatz für Soldaten, die mich dann gewaltsam ergriffen. Es wurde nur eine Fensterscheibe des Sitzes neben dem Fahrer heruntergekurbelt. Zu meiner Überraschung winkte der eben genannte Leopold Figl heraus, mit dem ich einige Wochen vorher in seinen Amtsräumen in der Herrengasse ein soziologisches Forschungsprojekt über Niederösterreicher in Wien vereinbart hatte. Es handelte sich darum, ökonomische und soziale Probleme von Männern näher 277

Nachkriegszeit in Österreich

kennenzulernen, die über die Woche in Wien arbeiteten, am Wochenende aber in ihre Wohngemeinden und zu ihren Familien nach Niederösterreich heimkehrten. Leopold Figl begrüßte mich damals aus dem Auto heraus sehr freundschaftlich und nannte mich beim Namen. »Wir brauchen Sie in Österreich«, sagte er, »ihre Forschungen, die sind notwendig für den Aufbau unseres Landes.« Ich war sehr betroffen, machte einige Gesten der Dankbarkeit, und schon war der Wagen wieder verschwunden. Merkwürdigerweise waren diese aus dem offenen Autofenster heraus an mich gerichteten Worte von einer sowohl emotionalen als auch einer grundsätzlich orientierenden Bedeutung. In gewisser Weise fühlte ich mich von der für mich zentralen Österreich-Figur Leopold Figls adoptiert. Ich möchte Figl hier ausdrücklich für seine Ermutigung danken. Bäuerliche Verwandtschaft war ich ja von meiner Kindheit im Mühlviertel an gewöhnt, wie ich sie in meinem Buch über meine Erlebnisse des »Anschlusses« unter dem Titel »Überwältigung 1938« (Böhlau Verlag, Wien 2008) beschrieben hatte. Daher war es keine Mühe, den Bauern Leopold Figl als eine Art Beschützerfigur zu akzeptieren. Gleichzeitig lenkte Figl meinen Blick auf das, was nunmehr im neuen Staat Österreich mein »Zuhause« werden sollte, nämlich meine Arbeit für den sozialen und politischen Neubeginn des Landes. Es schien so, als hätte etwas, das in mir noch gar nicht ausgeformt war, nämlich die Heimat Österreich, einen Platz in mir gewonnen. Es war eine Heimat, die ich als Kind in den Schulferien in einem Mühlviertler Dorf, in Lichtenberg, erfahren hatte. Ich weinte tränenreich, wenn ich noch zu nächtlicher Stunde aufbrechen musste, um am Ende der Ferien aus dieser Heimat mit Bus und Bahn nach Wien zurückzukehren. Wien war für mich die Buchhandlung Malota auf der Wieden, das Burgthea­ ter und die Staatsoper gewesen, ein wenig auch der Schrebergarten der Eltern auf dem Wiener Laaerberg mit seinen Obstbäumen. Aber Heimat  ? Mein Blick, wenn ich zu Hause von meinen Aufgaben oder von dem, was ich schrieb, aufsah, fiel in einen dunklen Hof einer Mietskaserne, erbaut um die Jahrhundertwende 1900. Der Blick fiel in einen Hof mit drei Bäumen. Sie wuchsen, so hoch sie konnten, streckten sich mit enorm langen Stämmen über den vierten Stock dem Licht entgegen. Ich sah nur die Stämme, kein Laub. Das war so, als wollten die Bäume gerade jener Düsternis entfliehen, die mir bei meinem Ausblick aus dem Fenster der im Halbstock gelegenen elterlichen Wohnung begegnete. Ich möchte auch diesen Bäumen danken, sie waren mir insofern ein Vorbild, als sie sich so lange streckten bis sie genug Licht fanden, um weiterzuwachsen. 278

Schlaf neben den Toten auf der Pritsche

Heimat, was war das  ? Ich war weit herumgekommen, als Ferienkind schon in Ungarn, dann als Soldat in verschiedenen Regionen des Balkan. Beim Rückzug 1944/1945 durchzog ich Regionen von Mazedonien, einen Streifen von Bulgarien, dann Serbien, Kroatien und Slowenien. Nirgends war ich zu Hause, aber ich wollte »nach Hause«, eigentlich ohne wirklich zu wissen, was »zu Hause« war oder sein könnte. Es hatte fremde Ruhepunkte für mich gegeben, wie in der Stille des teppichbelegten Innenraumes der Moschee von Skopje oder vor dem kleinen Niketempel auf der Akropolis, nachdem man zu den großen Tempeln oder Tempelresten über die Stufen hinaufgestiegen war. Es war der Tempel der Nike, der mir besonders Eindruck machte, der stillen Siegesgöttin, die man auch für den Sieg über sich selber anrufen konnte. Athene verkörperte viel Macht in der Akropolis, bei ihr konnte man aber kaum Ruhe finden. Der Haupttempel, jener der Athene Parthenon, ist für mich in seiner Gewalt immer unzugänglich und unerreichbar geblieben. Heimat war für mich in einem kleinen sauberen Bauernhaus in der Nähe von Esseg gewesen, für wenige Ostertage 1945, wo ich ein im vollen Sinn jungfräuliches Mädchen bewunderte. Sie wusch mir die Wäsche und brachte mir frisch gebackenes Weißbrot und ließ sich meine dankbaren und bewundernden Küsse gefallen. Sie war die Tochter einer Kroatin und eines volksdeutschen Vaters. Heimat habe ich jetzt gefunden, da ich unter dem tätigen Schutz einer wunderbaren Frauengestalt dieses Buch vollenden durfte. Daher sind Heimat und Dankbarkeit nunmehr untrennbar miteinander verflochten.

279

Danksagungen

Danken möchte ich einem Mann, der nach dem Krieg und mehrjähriger Kriegsgefangenschaft in die österreichische Stadt Allentsteig im Waldviertel heimkehrte. Dort leistete er bis an sein Lebensende, solange die Einschränkungen des Alters es ihm erlaubten, einen selbst gewählten Erinnerungsdienst. Er pflegte regelmäßig eine kleine, in der Nähe des städtischen Friedhofs gelegene Gedenkstätte für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen und vermissten Soldaten, die vorher hier in dieser Stadt gelebt hatten. Der Mann beschnitt das üppige Gras, jätete das aufgeschossene Unkraut und schuf Ordnung in der Gedenkstätte. Er säuberte die Namen der Verstorbenen auf dem Erinnerungsstein. Er tat es aus innerem Antrieb. Er wurde weder dafür bezahlt noch besonders anerkannt. Er tat, was ihm wichtig war. Nachdem er selber am nahe gelegenen Friedhof seine Ruhe gefunden hatte, gab es niemanden mehr, der mit derselben schweigsamen Aufmerksamkeit sich dieser Erinnerungsarbeit gewidmet hätte. *** Im Enstehungsprozess des Buches griff Waltraud Carvajal Escobar immer wieder ordnend ein. Ihre außerordentliche Genauigkeit und übersichtliche Gestaltungskraft haben mich in einen Ordnungsprozess gezwungen, für den ich ihr tief dankbar bin. So wie Waltraud Carvajal Escobar von mir immer wieder Ordnung und Übersicht einforderte, um das Thema zu durchdringen, so sehr verlangte sie Korrektur und Kontrolle von sich selbst. Sie sah etwas nur dann als abgeschlossen an, wenn ihr kritischer Blick sie Kapitel für Kapitel zufriedenstellte. Ich habe gerade in der Ausarbeitung dieses Buches gelernt, dass Ordnung nicht Sterilität, sondern eine innere Voraussetzung für eine umfassende Darstellung ist. Eigentlich hätte ich dies schon von der Evolutionstheorie her wissen müssen. Ordnung bringt eine Sicherheit, aus der die Darstellungskraft des Menschen sich entfalten kann. Dieses Geschenk für mein Buch erhielt ich von Waltraud Carvajal Escobar, und dafür bin ich ihr tief verbunden. Waltraud, ich danke Dir  ! *** Ein Glücksfall für das Buch waren die gestalterischen Ideen und Entwürfe von Mag. Gerhard Sindelar. Gerhard hat mir auch entscheidende Vorschläge für die Auswahl und Zusammenstellung und schließlich die Präsentation von den aus 281

Danksagungen

der Zeit des Zweiten Weltkriegs erhaltenen Fotografien und Skizzen gemacht. Das hat mich in der Phase der letzten Überarbeitung meines Manuskriptes noch einmal in die Erlebniszeit zurückgeholt. Diese wunderbare, gefühlvolle Zusammenarbeit in Freundschaft und großer Verbundenheit als sein Geschenk an mich wurde zu einem Prozess der Gestaltung von innerem historischem Erleben in die Gegenwart eines Buches im Jahre 2012. Ich war sehr glücklich darüber  ! Bilder haben immer wieder auslösende Wirkung für die Vergegenwärtigung von Vergangenem, wie sie schriftlichen Texten nicht so leicht gelingen kann. In der Kunst der Aufforderung, »etwas zu sehen«, was in der Vergangenheit geschah, hat Gerhard Sindelar eine Meisterleistung vollbracht. Ich danke ihm für die Gefährtenschaft im Versuch der Verlebendigung von Vergangenem. Ein solches Miteinander in der Verflechtung von Sprache und Bild war für mich ein großartiges Erleben der Erschließung. Danke, Gerhard  ! *** Walter Kriedl hat durch seine Arbeit der Dokumentation und der geografischen Vorarbeiten dazu beigetragen, das Rückzugsgeschehen aus dem Balkan 1944/1945 im Zusammenhang mit den Erfahrungsberichten des Verfassers sichtbar zu machen. Er konnte durch seine Beschaffung von Kartenmaterial und Fachliteratur die Entstehung des Buches voranbringen. So kam eine wichtige Brücke zwischen autobiografischem Material und geschichtlichen Daten zustande. Danke, Walter  ! *** Eine ganz besondere Danksagung gilt Frau Dr. Ursula Huber vom Böhlau Verlag Wien. Frau Dr. Huber hat sich bald nach Erhalt des damals noch in Bearbeitung stehenden Manuskripts für dessen Veröffentlichung in eindeutiger Weise eingesetzt. Dafür möchte ich ihr danken  ! Ihr fachlich kompetenter Überblick über die Gestaltung und Produktion eines biografisch-historischen Werkes hat es mir auch erlaubt, Vorstellungen und Entwürfe des mit mir seit vielen Jahren befreundeten Künstlers und Grafikers Gerhard Sindelar einzubringen, sodass eine harmonische Kooperation zwischen uns, Grafiker und Verlag, entstehen konnte. Auch bei der Berücksichtigung der Bildbeigaben und Kartenskizzen, die gerade zur Einblicknahme in ein historisches Geschehen der Leserschaft zusätzlich Überblick und Aufschlüsselungen vermitteln, hat Frau Dr. Huber mit großer Bereitschaft zur Optimierung von Lösungen viel Verständnis gezeigt. Besondere Anerkennung gebührt Herrn Michael Rauscher vom Böhlau Verlag. Ich danke ihm für seine Ratschläge für Ergänzungen und Korrekturnotwendigkeiten, im Großen wie im Kleinen, und für seine große Geduld bei der Fertigstellung des Buches. 282

Geografisches Register Afrika  16, 17, 39 Westafrika 17 Ägypten  222 El Alamein  222, 231 Bulgarien  114, 130, 145, 279 Küstendil  140, 141 Deutschland  15, 21, 126, 130, 140, 147, 149, 232, 233, 235 Aachen  21, 117 Berlin 208 Pommern 168 Köln 117 Rhein 193 Rheinland 168 Stuttgart 68 Europa  193, 231, 274 Frankreich  76, 193, 246 Ardennen 190 Griechenland  10, 13–15, 20–25, 33, 36, 39, 43, 53, 61, 71, 74, 76, 77, 84, 86, 89, 92–94, 98, 99, 113, 114, 118, 124, 129, 130, 138, 225, 228, 229, 234, 237, 241, 255, 258, 261–263 Aspropyrgos  13, 20, 57–59, 61, 73, 74 Athen  10, 21, 23, 46, 47, 49, 50, 52, 57, 67, 76, 90, 93, 95, 98–100 Akropolis  13–16, 23, 97, 98, 100, 101, 103, 122, 279 Erechtheion 98 Kalandri (Vorort v. Athen)  46, 47 Hafen von Piräus  10, 99, 101, 103 Niketempel 279 Oper 95 Parthenon  14, 97, 279 Attika 12

Ägäis  104 Delphi  98, 99 Tempel von Delphi  98 Eleusis  10, 47, 57, 71, 73, 117 Gevgelija  11, 108, 117 Korinth 91 Kanal von Korinth  10, 49 Kreta 13 Megalo Pefko  10, 20, 45, 47–49, 52, 57, 59, 61, 72, 90, 96–98, 100, 117, 163, 261 Peloponnes 13 Salamis  10, 49 Saloniki  11, 40, 41, 46, 93, 105–108, 115, 125, 130 Theben  10, 49, 62 Großbritannien  9, 246, 247 London  229, 230, 235, 247–249, 254 Iran Teheran 249 Irland 231 Italien  113, 114, 117 Adria 118 Florenz  21, 117 Nettuno 15 Rimini 117 Rom 76 Jugoslawien  21, 42, 43, 87, 140, 225 Adria 118 Amselfeld (Kosovo Polje)  11 Banja Luka  87 Beograd/Belgrad  10, 20, 21, 39–43, 46, 130, 131, 140, 234 Bilino-Gebirge 142 Bolman 183 Bosnien 88 Bujanovce  138, 139 Čačak  140

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Geografisches Register

Cilli 209 Esseg/Osijek  161, 168, 241, 279 Karpaten 117 Kavadarči  11, 124, 126 Kosovo Polje  11, 140 Kraljevo  130, 140 Kriva Palanka  141 Kroatien  189, 225, 279 Kruševac 130 Kumanovo  11, 130, 139–141, 145, 147, 150 Mazedonien  113, 117, 136, 225, 279 Morawa-Tal 121 Našice  11, 196, 198 Negotino  117, 118 Niš  121, 130, 140 Petrijevci 241 Prilep  11, 124, 125 Priština  121, 140 Sandžak 11 Selo Lovas  154 Serbien  11, 225, 279 Skopje  11, 108, 121, 122, 130, 138, 141, 144, 279 Slowenien  41, 117, 152, 209, 225, 279 Stracin  141, 145 Suvo Dolska  149 Syrmien 11 Užice 140 Vardar 117 Vardar-Tal  117, 118, 121, 124 Veles 108 Vojnik 149 Vojvodina 11 Vranje  11, 130, 131, 136, 138–141, 145–147 Vukovar 11 Österreich  12, 15, 16, 21, 22, 24, 34, 43, 70, 220, 230, 235, 236, 243, 246–249, 255, 269, 271, 277, 278 Donau 20 Kärnten  11, 117, 231, 255 Bodensdorf  229, 230, 235 Drau  11, 12, 140, 168, 173, 175, 183, 184, 193, 209, 219, 230, 231, 236

Ossiacher See  229, 235 Ruden 12 Spielfeld 11 Spittal an der Drau  12, 236, 237 Wolfsberg  12, 117, 224, 227 Niederösterreich  248–250, 277, 278 Aspern 21, 43 Mödling 253 St. Pölten  246, 250 Waldviertel 269 Weinviertel 78, 79 Wiener Neustadt  21, 43, 246 Zistersdorf 254 Oberösterreich 248 Lichtenberg 278 Mühlviertel 278 Semmering 234 Steiermark 168 Wien  10, 12, 14, 15, 21, 23, 25, 32, 35, 39, 41–43, 47, 86, 89, 98, 121, 122, 133, 153, 164, 168, 224, 230, 234, 235, 242, 243, 246–249, 255–257, 265, 268, 270, 277, 278 Burgtheater 15, 34 Café Mozart  258, 259 Elisabeth-Gymnasium 33 Favoriten (10. Bezirk)  15, 42, 235 Favoritenstraße 253 Gudrunstraße 251 Herrengasse 277 Karlsplatz 265 Keplergasse Nr. 9  234, 251 Keplerplatz  42, 251–253, 256, 277 Laaerberg 278 Matzleinsdorfer Platz 253 Metternichgasse 29 Prater 250 Rustenschacherallee 250 St. Johann Evangelist (Kirche)  251, 256 Südtiroler Platz 253 Triester Straße 253 Wallnerstraße 257 Wieden (4. Bezirk)  23 Wiedner Hauptstraße   253, 256, 259, 260, 267 Wiener Innenstadt (1. Bezirk)  248

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Geografisches Register Wiener Oper  15, 258 Wiener Ostbahnhof  36, 38 Ostmark 236 Polen 102 Breslau   139 Warschau  21, 117 Rumänien  114, 189 Sowjetunion/Russland  24, 76, 114, 141, 212, 234, 246, 249, 254, 255, 269 Mariapul  31, 32 Rostow 31 Sibirien 40 Stalingrad/Wolgograd  25, 40, 175 Trikorova 269

Wolga 31 Südostasien 17 Tschechoslowakei 247 Tunesien Tunis 222 Ukraine 208 Krim 31 Ungarn Plattensee  168, 183 USA   9, 22, 246 Fordham Universitiy  258 New York  258 Rockefeller Foundation  258 Vorderer Orient  86

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Personenregister A Afroditi 5, 52, 71–78 Aristoteles 24 Assmann, Jan 24 Athene, Göttin 13, 23, 97, 279

Klaus, Maler 23, 86–89 Koethe 157, 168–170, 174, 175, 192, 196–198, 200–202, 207, 208, 211, 213 Koselleck, Reinhard 9 Kostas 5, 6, 10, 12, 26, 62–70, 99, 168, 189, 192–197, 200–202, 207, 208, 211, 213–220, 223–227

B Byron, Lord George 63

L Löhr, Generaloberst Alexander 11, 21, 26, 43, 93, 130, 131, 151

D Dedecius, Karl 18 E Eleni 5, 21, 92, 95–101 Eugen von Savoyen, Prinz 43

M Marx, Karl 74, 75 May, Karl 215 Miluše 6, 157, 160, 163–167, 241, 242–245 Mussolini, Benito 24, 43

F Figl, Leopold 12, 236, 248, 277, 278 Frankl, Viktor 24 G George, Stefan 88 Glitz, Oberst Eberhard 20, 21, 23, 53, 54, 84, 92–98, 100, 128–131, 135–139, 141, 142, 145, 149 Goethe, Johann Wolfgang von 63 H Hart, Franz 150 Haydn, Joseph 257 Herbert, Zbigniew 18 Hitler, Adolf 15 Hölderlin, Friedrich 63 Homer 63 Hornykiewicz, Priester 32, 36 Hughes, Rosemary 257, 258, 260 K Kandel, Eric 22

N Nickertz, Günther 168, 169, 189–197, 199, 201–204, 226 Nora, Pierre 10 Nusime, Josefine 41, 42 P Pabst, Major 11, 141, 142, 145, 149, 192, 211–213 Pichl, Prof. 21 Pirker, Alfons 168–171, 176–181, 183, 185–188, 193, 226 Pirker, Frau 187 R Rommel, Feldmarschall Erwin 222, 231 Rousso, Henri 10 Rowntree, Richard 257, 258, 260 Różewicz, Tadeusz 18 Rudolf, Prälat 23

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Personenregister

S Schmidt-Rechberg, Erich 24 Schramm, Percy Ernst 183 Schröter, Hauptmann 129, 130, 134–138, 141, 149 Spouv, Nina 30, 36 Steiner, George 22 Suppan, Arnold 12

V Vergil 202 W Weiss, Leutnant 49, 53, 54, 55, 59, 61, 68, 69, 82, 92, 93, 94, 222 Wotke 33 Wrug, Gefreiter 54, 55, 57, 58, 60, 81, 82, 84, 98–103, 138

T Thia, Tante 20, 52, 53, 56, 72, 76, 80, 99, 163, 262 Tito (Josip Broz) 11, 114, 118, 124, 125, 191, 209

Z Zeus 23

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Mein Freund Klaus, ebenfalls Dolmetscher, und ich schrieben einander per Feldpost fast täglich über Literatur, Dichtung und Kunst, auch wenn es nur wenige Worte waren. Hier sein kleines Selbstporträt beim Schreiben.

Sehnsucht nach Freiheit Mein lieber Mond, so leucht’ mir hin und schicke in der Nacht mir Licht, sodass im Wald geschwinde, zu Schrift und Sinn und zu den Sachen Gottes ich in die Schule finde.

Ich wurde mit diesem alten Kinderlied durch meine Quartierfrau vertraut. Man müsse in Griechenland vieles geheim halten, um überleben zu können, sagte sie. Das sei schon während der 350 Jahre türkischer Besatzung so gewesen. Heute, 1944, sei es unter den Deutschen ähnlich. Man kennt dieses Lied in Griechenland in der Gegenwart immer noch. Die Kinder singen es.

Manchmal wollte ich wirklich allein sein, dann zog ich mich ohne Waffen und ­Uniform auf den Friedhof von Megalo Pefko zurück.

Meine etwa 20 Jahre ältere Quartierfrau in Megalo Pefko, die ich »Thia« (Tante) und die mich »Kindchen« nannte. Wir saßen manchmal gemeinsam auf den Stufen vor ihrem Haus. Obwohl sie sich nichts so sehr wünschte wie den Abzug der deutschen Truppen, weinte sie beim Abschied von mir. Gütige Menschen habe ich immer wieder, als einzelne, auch in Zonen mörderischer Konflikte gefunden.

Erechtheion und die Korenhalle. »So komm, dass wir das Offene schauen, dass wir ein Eigenes suchen, so weit es auch ist« (Friedrich Hölderlin, 1770–1843). Hölderlins Dichtung verstanden wir als Parolen der Auflehnung gegen den Nationalsozialismus. Wir erlebten das Dienen als Soldaten als »Zwangsarbeit«, die uns nicht zum »Eigenen« kommen ließ.

Gerade vor dem mächtigen Parthenon wuchs in mir die Unsicherheit ins Unermessliche. Würde ich den Krieg überleben und in die Heimat zurückkehren ? Die Antike blieb, bei all meiner Bewunderung ihrer Architektur und Kunst, für mich ein Ort des Fremden. Aber in diese Fremdheit konnte man sich vor den brutalen Formen des allgegenwärtigen NS-Staates retten. Diese Fremdheit schien für mich einen gewissen Schutz zu bieten.

Das Ideal für mich war der Nike-Tempel, der in seiner Abgehobenheit auf der Akropolis für mich den Punkt des Göttlichen bildete. »Ein Weiser mag mir manches erhellen, wo der Gott auch noch erscheint, da ist doch andere Klarheit.« (Friedrich Hölderlin, 1770–1843)

Kleines Aquarell von Klaus. Aus den mörderischen Schrecken der Partisanenkämpfe suchten wir uns in die Romantik von Kunst und Dichtung zu retten und in die Gemeinsamkeit inneren Widerstandes gegen die dumpfe Brutalität des Nationalsozialismus. Weil wir ja keine Telefone hatten, pflegten wir täglich Austausch durch Briefe, bis Klaus, der Griechenlandfreund, beim nächtlichen Heimweg in einer schmalen Dorfgasse, von hinten erstochen, tot aufgefunden worden war. Er war durch seine Freundschaft zu Griechen und wegen seiner Sympathie für die griechische Kultur bekannt. Das kostete ihn das Leben.

Kostas war vor den griechischen Partisanen geflohen, als wir ihn ohne Papiere aufgriffen. Nach einem langen Nachtgespräch, in dem er mir sein Leben erzählte, verbürgte ich mich für ihn. Er hat mich nie enttäuscht. Er wurde mein Freund und Helfer, aber kein Verräter seiner Landsleute. Wir blieben beisammen, flohen gemeinsam aus dem jugoslawischen Gefangenenlager. Schließlich in Kärnten angelangt, entschloss er sich als Mensch, der nie schreiben und lesen gelernt hatte und auch nicht Deutsch konnte, nach Griechenland zurückzukehren. Es gelang mir nicht, ihn in den Wirren der Nachkriegsmonate von dieser Idee abzubringen. Seine Botschaft war: »Du bist in deiner Heimat angekommen, ich will nun in die meine.« Ich saß auf einem Randstein der Straße nach Wolfsberg in Kärnten und weinte um ihn.

Skizzen von Klaus als Äußerung der Sehnsucht nach einem besseren Leben – wenigstens für Momente auch im Krieg. Aber die Katze ist als Frage an die Zukunft zu deuten.

Schlaf bot für mich und viele einen gewissen Trost, aber Lösungen brachte er natürlich keine.

Klaus auf der Fahrt zu seinem neuen Standort, den letzten, als Soldat und Mensch. Seine Liebe zum Griechentum und zu den Menschen in Griechenland drückte er auch dadurch aus, dass er die Korrespondenz mit mir immer wieder auf Griechisch führte.

Trupp bei der Straßenkontrolle von Fahrzeugen in Megalo Pefko mit mir als Dolmetscher im Hintergrund. Zum Protest gegen das Soldat-Sein trug ich, wenn möglich, Sportkleidung.

Leutnant Weiss, der Sicherheitsoffizier, bei der Befragung eines Mannes, der ohne Papiere aufgegriffen worden war. Der Mann wurde aber wieder freigelassen.

Offiziere des Regimentsstabs vor einer Ausfahrt in gut bewachtes Gebiet. Ich empfand das damals, 1944, als Provokation.

Zeichnung von Klaus, von einer antiken Plastik inspiriert. »Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen. Was bleibt aber, stiften die Dichter.« (Friedrich Hölderlin, 1770–1843)

Fantasierter Rückblick in die Antike, gezeichnet von Klaus. Aber Heldenhaftes gab es ja in dieser Welt gar nicht mehr.

Die Konfrontation mit der Realität in den Kämpfen 1944/45: Häuser wurden angezündet, man wusste oft nicht, ob von Partisanen oder hasserfüllten Soldaten.

Serbischer Knabe. Klaus zeichnete täglich, sein Schaffen war ein Kampf gegen die mörderische Zerstörung, schließlich traf diese auch ihn selbst.

Gesichter von Widerstandskämpfern, gefunden in einem Stützpunkt der Partisanen, den sie hatten verlassen müssen.

Fotos von Partisanen aus Mazedonien in Selbstdarstellung, die ich in einem von ihnen verlassenen Haus auffand.

ÖSTERREICH

Straßen und Wege des Rückzugs 1944/45 im Rahmen des Jägerregiments 22 der 11. Luftwaffen-Felddivision. Von Skopje an bis zur österreichischen Grenze fast ausschließlich zu Fuß.

Graz

Ruden

Bleiburg

Dravograd Slovenj Gradec Celje

Krapina Križevski

Lubljana SLOWENIEN

Zlatar Bjelovar

Zagreb

Sev

KROATIEN Ruden U DRA

Lippitzbach

Dravograd Dravograd

BOSNIEN-H

Bleiburg

© www.openstreetmap.org

Fluchtweg aus dem Gefangenenlager gemeinsam mit Kostas.

Aspropyrgos

Megalo Pefko

Athen Piräus © www.openstreetmap.org

Bis September 1944 war ich in Megalo Pefko nahe Athen stationiert.

ITALIEN

UNGARN

Pitomača Šandrovac Miholjac Virovitica verin Ribnjak Našice

Bolman

RUMÄNIEN

Osijek Vukovar

Čepin

SERBIEN

Vinkovci Brčko Bijeljina Suho Polje

HERZEGOWINA

Sarajevo

Beograd

Zvornik

Užice

Kraljevo

Raška

MONTENEGRO

Kosovska Mitrovica

BULGARIEN Podgorica

Vranje

Uroševac

Kriva Palanka Stracin Kumanovo

Skopje Veles

Tirana

Štip

Cavadarci

MAZEDONIEN

ALBANIEN

Gevgelija

Thessaloniki

GRIECHENLAND © www.openstreetmap.org

Zeichnung meines jahrzehntelangen Freundes und Weggefährten, des Bildhauers Josef Pillhofer, auf dem Rückzug in Italien im Mai 1944, als die Alliierten Monte Cassino eroberten. Pillhofer war ein inspirierender Künstler und Freund, der den Kubismus auf eine sehr persönliche Art zu entwickeln verstand. Durch den inhaltlichen Reichtum seiner Naturstudien im Akt und in der Landschaft konnte er ebenso berühren, wie er durch die Großzügigkeit monumentaler Plastiken, zuletzt durch seine »Raumentfaltung« beim Museum Liaunig in Kärnten, moderner Architektur besondere Ausdruckskraft verlieh. Josef und ich waren durch Erfahrungen der Soldatenzeit miteinander verbunden. Als bildender Künstler half mir Josef nach dem Krieg durch sein wunderbares theoretisches Erklärungsvermögen bei gemeinsamen Studienaufenthalten in Paris, den Zugang zur späten Moderne zu gewinnen.

Rühre nicht an vergangene Stunden, laß sie dem freieren Lied. Du wandelst von Herzschlag zu Herzschlag in Zukunft, haftet auch eben Gewesenes an Deinem flüchtigen Schritt. Nein, es gibt kein Versäumnis, vorbei ist das, was geschah. Lasse die Tränen, alles ist überwunden. Das Kommende kommt Dir entgegen, Zukunft, Zukunft ist nah. Aus meinem Tagebuch vom 29. März 1945

Zum Autor

1945 drängte alles auf einen Neubeginn. Auf welchen Grundlagen, aus welcher Gesinnung heraus  ? Zwischen dem Zweiten Weltkrieg, in dem alles auf Feindschaft und gegenseitige Vernichtung ausgerichtet war, und der Zeit danach gab es kaum Brücken. Mit der Erinnerung an die erlebten Gräuel blieben die Menschen allein. Leopold Rosenmayr wählte das Studium der Philosophie an der Universität Wien als einen Schritt der Orientierung für den Neubeginn. Durch ein Stipendium in Paris und die dort aufgebauten Freundschaften mit dem Dichter Paul Celan (1920–1970) und dem Bildhauer Josef Pillhofer (1921–2010 ) erschloss sich ihm die Welt der abstrakten Kunst und der Entwürfe des Existenzialismus. Mithilfe eines Stipendiums an der Harvard University und während seiner Tätigkeit als Gastprofessor an der Fordham University in New York ergänzt Leopold Rosenmayr sein philosophisches Verständnis auf dem Weg der empirischen Sozialforschung und der »teilnehmenden Beobachtung« in der Gegenwartsgesellschaft. Nach Österreich zurückgekehrt, gründete Rosenmayr 1954 die Sozialwissenschaftliche Forschungsstelle an der Universität Wien. 1963 wurde er auf den Lehrstuhl für Soziologie berufen. In Freundschaft und interdisziplinärer Zusammenarbeit mit den Psychiatern und Tiefenpsychologen Hans Strotzka und Alois M. Becker kam es zu zahlreichen Studien über Jugend, Bildung, Generationen und Lebensphasen wie auch zum Auftrag der Abfassung des ersten Frauenberichts der österreichischen Bundesregierung. Nach dem Erfolg seiner Werke wie seiner Theorie des Alterns im Buch »Die späte Freiheit« (1983), mehrten sich die vielfältigen internationalen Koopera­ tionen in Sozialgerontologie – bis hin zu Vergleichen mit asiatischen Parallelstudien. In den 1980er Jahren begann Rosenmayr, unterstützt von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, mit einem multidisziplinären Team in Westafrika eine vieljährige Folge von Forschungen. In seinen Büchern beschrieb und deutete er die durch Mythos, Traditionen und Stammesreligionen be309

Zum Autor

stimmten, teils aber durch Umbrüche in Auflösung begriffenen Überzeugungen in diesem Teil der Welt. Heute beschäftigt sich der Alternsforscher der Nation intensiv mit den geistigen Gewinnen des Alters durch Einstellungswandel, Neubesinnung und Erhöhung der Nachdenklichkeit. Dabei kann die Erinnerung als Ausgangspunkt für das eigene Selbstverständnis in den Mittelpunkt gerückt werden. Laut Leopold Rosenmayr wird die Zukunft der Befassung mit dem Alter und dadurch mit der global steigenden Langlebigkeit überhaupt zur Wissenschaft des Gesamt-Lebenslaufes als »Neue Anthropologie« umgedacht werden müssen. Das vorliegende Erinnerungswerk über persönlich Erlebtes im Zweiten Weltkrieg sieht er als Beitrag zu dieser »Neuen Anthropologie«.



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LEOPOLD ROSENMAYR

ÜBERWÄLTIGUNG 1938 FRÜHES ERLEBNIS, SPÄTE DEUTUNG RÜCKBLICK EINES SOZIOLOGEN IN DIE EIGENE KINDHEIT UND SEINE FRÜHE JUGEND

Der Verfasser, der bekannte Soziologe, Jugend- und Altersforscher Leopold Rosenmayr schreibt eine Psycho- und Sozialgeschichte der eigenen Person. Diese lässt die Überwältigung 1938, die psychische Stimmung überwältigender Emotionen, und die politische Macht als Erlösungsversprechen fühlbar werden. Der Verfasser rollt dabei in seinem familiären, lokalen und politischen Herkunftsmilieu eines Wiener Arbeiterbezirks „Umbruch“ und „Anschluss“ vom Frühjahr 1938 auf. Von der elterlichen Vorgeschichte, der familiär vermittelten Nostalgie der k. u. k. Monarchie, dem kirchlichen Umfeld, verdeckten ersten erotischen Erlebnissen, Freundschaften und kulturellen Früherfahrungen her wird Zeitgeschichte um das Schicksalsjahr sichtbar. Persönliche Geschichte und Erlebnisbeschreibungen lassen sich nicht auf einfache Formeln bringen. Der Selbstbeschreibung der kindlichen und jugendlichen Lebensphase in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, den Erfahrungen, Blockaden, Schmerz und Enttäuschungen, stellt der Sozialforscher seine aus langjähriger wissenschaftlicher Arbeit getragenen Reflexionen aus heutigem Bewusstsein gegenüber. Daraus ist ein spannendes Buch entstanden, das einen neuen Typus der anlassbedingten Historiografie darstellt. 2008, 349 S. 23 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-77751-9

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Heiko Haumann

Hermann Diamanski (1910–1976): Überleben in Der k atastropHe eine DeutscHe GescHicHte zwiscHen auscHwitz unD sta atssicHerHeitsDienst

Hermann Diamanskis Leben von 1910 bis 1976 spiegelt deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Keine »große Persönlichkeit«, sondern ein »einfacher Mann« steht im Mittelpunkt des spannend erzählten Buches. Diamanski, Seemann und Kommunist, betätigte sich illegal gegen den Nationalsozialismus und kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg. Im »Zigeunerlager« von Auschwitz war er Lagerältester, im Januar 1945 musste er am Todesmarsch nach Buchenwald teilnehmen. Nach dem Krieg machte er Karriere in Ostdeutschland, kam jedoch bald in Konflikt mit dem dortigen Apparat und geriet in die Mühlen des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Er flüchtete nach Westdeutschland und arbeitete kurzzeitig für den US-Geheimdienst. Im Auschwitz-Prozess sagte er als Zeuge aus, auf eine Entschädigung als Verfolgter des Nazi- Regimes musste er lange warten. Auf ungewöhnliche Weise gewährt die Biographie Einblicke in Brennpunkte der Geschichte und in die Verflochtenheit von privatem Leben und weltpolitischen Geschehnissen. Aus Diamanskis Perspektive erschließen wir seine Lebenswelt. Wir nehmen teil an der Aufarbeitung der Vergangenheit und treten ein in den Dialog mit Akteuren der Geschichte. 2011. 443 S. 56 S/w-Abb. Gb. 155 x 230 mm. ISbN 978-3-412-20787-8

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