Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung: Kausalität in den Handlungswissenschaften 9783495997574, 3495481036, 9783495481035


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Danksagung
Zur Einführung: Einheit der Wissenschaft?
1 Praktische Erkenntnis
1.1 Praktischer Syllogismus
1.2 Deontischer Schluß
1.3 Der praktische Schluß als eigenständige Form der Erklärung
1.4 Handlung und Verhalten
1.5 Die Handlungserklärung als singuläre Kausalerklärung
1.6 Die deduktiv-nomologische Kausalerklärung des Handelns
2 Lüge und Selbsttäuschung
2.1 Lügen: Definition und paradigmatischer Fall
2.2 Sartre über Selbsttäuschung
2.3 Donald Davidsons Philosophie der Irrationalität
2.4 Die Rhetorik der Selbsttäuschung
3 Erzählen, Erklären und Verstehen
3.1 Die deduktiv-nomologische Erklärung und die Einheit der Wissenschaft
3.2 Handlungserklärung und die Kritik der deduktivnomologischen Erklärung
3.3 Deduktiv-nomologische Handlungserklärung
3.4 Die Kompatibilität von Handlungserklärung und Kausalerklärung
3.5 Komplementarität, Quasi-Kausalität und Quasi-Teleologie
3.6 Ignoranz und Erzählung
4 Psychologie und Täuschung
5 Psychoanalyse und Selbsttäuschung
5.1 Ein Fall von Zwangsneurose
5.2 Psychoanalytischer Intentionalismus
5.3 Unbewußtes und Selbsttäuschung
5.4 Selbsttäuschung als Kausalerklärung
5.5 Psychoanalytische Kausalerklärungen
5.6 Die klinische Fundierung der psychoanalytischen Erklärung
5.7 Die Bewußtmachung des Unbewußten
6 Handlungs- und Kausalerklärung, ein Disput
6.1 Sich selbst zerstörende Vorhersagen und die nichtige Invalidierung sozialwissenschaftlicher Gesetze
6.2 Sich selbst erfüllende Vorhersagen und nichtige Validierung
6.3 Der Schematismus der reflexiven Vorhersage
6.4 Kategorialer Wechsel
6.5 Rekonstruierbarkeit des kategorialen Wechsels
6.6 Der Geltungsbereich der Handlungswissenschaften
Bibliographie
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
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Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung: Kausalität in den Handlungswissenschaften
 9783495997574, 3495481036, 9783495481035

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Thomas Keutner

Ignoranz, Tuschung, Selbsttuschung Kausalitt in den Handlungswissenschaften

BAND 73 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997574

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

Über dieses Buch: Viele der Disziplinen, die es mit menschlichem Handeln zu tun haben, sind dadurch charakterisiert, dass in ihnen Kausal- und Handlungserklärung – der Rekurs auf kausale Gesetzmäßigkeiten oder aber auf die Absichten der Akteure – nebeneinander existieren und in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zueinander stehen: Eine Kausalerklärung kann durch eine Handlungserklärung, eine Handlungserklärung durch eine Kausalerklärung abgelöst werden. Das besondere Verhältnis von Handlungs- und Kausalerklärung nimmt in den verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Gestalt an. Exemplarisch betrachtet werden drei solche Formen in der Geschichtswissenschaft, der experimentellen Psychologie und der Psychoanalyse; ihre Besonderheit besteht darin, dass die Personen, deren Handeln erklärt werden soll, die Ursache des eigenen Verhaltens entweder nicht kennen, dass sie darüber getäuscht werden oder dass sie sich so verhalten, als ob sie sich selbst täuschen würden. Es wird untersucht, ob der Bereich der Handlungswissenschaften im Ganzen aufgrund der Bezugnahme auf Ursachen abgrenzbar ist, deren Wirkung auf ihrer Unbekanntheit beruht. Der Autor: Privatdozent Dr. phil. Thomas Keutner, Diplom-Psychologe, geboren 1946, unterrichtet Philosophie an der FernUniversität Hagen.

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Thomas Keutner Ignoranz, Tuschung, Selbsttuschung

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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Gnther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 73

https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

Thomas Keutner

Ignoranz, Tuschung, Selbsttuschung Kausalitt in den Handlungswissenschaften

Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/Mnchen 2004 www.verlag-alber.de Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Satzherstellung: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2004 ISBN 3-495-48103-6

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Einführung: Einheit der Wissenschaft? . . . . . . . . . .

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Praktische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Praktischer Syllogismus . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Deontischer Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der praktische Schluß als eigenständige Form der Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Handlung und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Handlungserklärung als singuläre Kausalerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Die deduktiv-nomologische Kausalerklärung des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge und Selbsttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 2.2 2.3 2.4

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Lügen: Definition und paradigmatischer Fall . . Sartre über Selbsttäuschung . . . . . . . . . . . Donald Davidsons Philosophie der Irrationalität Die Rhetorik der Selbsttäuschung . . . . . . . .

Erzählen, Erklären und Verstehen

. . . .

3.1 Die deduktiv-nomologische Erklärung und die Einheit der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Handlungserklärung und die Kritik der deduktivnomologischen Erklärung . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Deduktiv-nomologische Handlungserklärung . . . 3.4 Die Kompatibilität von Handlungserklärung und Kausalerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.5 Komplementarität, Quasi-Kausalität und QuasiTeleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3.6 Ignoranz und Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . 142

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Psychologie und Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . 160

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Psychoanalyse und Selbsttäuschung

. . . . . . . . . . . 185

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Ein Fall von Zwangsneurose . . . . . . . . . . . . . Psychoanalytischer Intentionalismus . . . . . . . . Unbewußtes und Selbsttäuschung . . . . . . . . . Selbsttäuschung als Kausalerklärung . . . . . . . . Psychoanalytische Kausalerklärungen . . . . . . . Die klinische Fundierung der psychoanalytischen Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Die Bewußtmachung des Unbewußten . . . . . . .

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191 196 206 216 221 225 231

Handlungs- und Kausalerklärung, ein Disput . . . . . . . 241 6.1 Sich selbst zerstörende Vorhersagen und die nichtige Invalidierung sozialwissenschaftlicher Gesetze . . . 6.2 Sich selbst erfüllende Vorhersagen und nichtige Validierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Der Schematismus der reflexiven Vorhersage . . . 6.4 Kategorialer Wechsel . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Rekonstruierbarkeit des kategorialen Wechsels . . . 6.6 Der Geltungsbereich der Handlungswissenschaften .

245 251 253 257 260 264

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Thomas Keutner

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Danksagung

Ich danke Rudolf Bensch, John Connolly, Nils Erichsen, Ernst Konrad Specht und Konrad Schüttauf, mit denen ich Teile oder auch das gesamte Vorhaben meiner hier folgenden Untersuchung besprechen durfte. Ich danke Jan Peter Beckmann, der die Durchführung des Projekts bis hin zur Fertigstellung immer fördernd begleitete, sowie Dieter Birnbacher und Kurt Röttgers für kritische Lektüre. Auf Kritiken und Anregungen, die ich nicht mit aufgenommen haben, hoffe ich demnächst an anderer Stelle eingehen zu können. Zu Dank verpflichtet bin ich Miriam Stegherr, die zuweilen mit größerer Geduld als ich selbst für das Zustandekommen des Typoskripts gesorgt hat, und Ulrike Müller-Bruhnke, für die Anfertigung der Indizes. Gedankt sei schließlich der FernUniversität in Hagen, die diese Veröffentlichung durch ihre großzügige Unterstützung erst ermöglicht hat. Hagen, Oktober 2004

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Zur Einführung: Einheit der Wissenschaft?

Die Diskussion um die Frage des Aufbaus der Wissenschaften wurde in der Analytischen Philosophie der Gegenwart hauptsächlich in Auseinandersetzung mit der von Philosophen des Wiener Kreises vorgebrachten Einheitsthese geführt. Diese These sollte an die Stelle der in die Krise geratenen Kantischen Einteilung der Wissenschaften treten: Es soll erstens nur noch Erfahrungswissenschaften einerseits und formale Wissenschaften andererseits geben; Kants dritte Klasse einer synthetisch-apriorischen Erkenntnis entfällt. Und die Klasse der Erfahrungswissenschaften ist einheitlich; so lautet gerade der Inhalt der These von der Einheit der Wissenschaft; zurückgewiesen wird hiermit die Auffassung des Neukantianismus von einem Dualismus der Erfahrungswissenschaften aufgrund eines Sonderstatus der Geistes- und Sozialwissenschaften. Mit der Einheitsthese bringen die Philosophen des Wiener Kreises zugleich auch ein bestimmtes Verständnis von der Aufgabe der Philosophie und von der Lösung philosophischer Probleme zum Ausdruck. Denn die Einheit der Wissenschaft ist nicht manifest; daher muß sie erwiesen werden; und dieser Erweis obliegt der Philosophie. Das Mittel der Wahl zur Bewältigung dieser Aufgabe ist die Logik: In Abhängigkeit von der jeweiligen Deutung des Einheitsbegriffs ist die Konstitution eines Gesamtsystems der wissenschaftlichen Begriffe oder die Ableitung der wissenschaftlichen Sätze aller Erfahrungswissenschaften mit dem neuen Instrumentarium möglich. Philosophische Probleme sind logische Probleme, und sie sind mit den Mitteln der Logik zu lösen. Die Einheitswissenschaft steht am Ende dieses Projekts. Auch den Gegenstand des hier vorliegenden Versuchs bildet die Frage nach dem Zusammenhang der Wissenschaften. Nach den Bemühungen um die Zielsetzungen des Wiener Kreises in diesem Jahrhundert läßt sich an der Einheitsthese in ihren verschiedenen Versionen nicht mehr festhalten. Doch natürlich behält die Frage der A

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wissenschaftlichen Rationalität ihre Berechtigung; läßt sie sich durch Hinweis auf die Einheitswissenschaft nicht beantworten, dann ist vielleicht eine andere Art Antwort denkbar, als sie von dieser erwartet wurde: Kein Hinweis auf das eine, alles entscheidende Kriterium, das unser Denken als ein wissenschaftliches bestimmen würde; sondern die Beschreibung einer Pluralität von Merkmalen, welche die Wissenschaften in ihren Verbindungen zueinander charakterisieren. Das im Vergleich zur Einheitswissenschaft bescheidenere Vorhaben der Beschreibung eines solchen Zusammenhangs von Disziplinen soll im folgenden versucht werden. Doch ist dies nicht die entscheidende Differenz der vorliegenden Überlegungen gegenüber dem Projekt des Wiener Kreises. Vorgestellt werden soll nicht so sehr eine neue Methode zur Klassifikation von Wissenschaften. Das hauptsächliche unterscheidende Merkmal liegt vielmehr in einem anderen Verständnis davon, was ein philosophisches Problem und seine Lösung ausmacht. Philosophische Probleme von jener Form, die hier ins Auge gefaßt werden sollen, sind ganz wesentlich solche der ungenügenden Übersicht: Angesichts eines nicht recht durchschauten begrifflichen Zusammenhangs wählt der Philosoph einen von zwei Wegen; er leugnet das Phänomen, dem die untersuchte Begrifflichkeit gilt; oder er subsumiert es unter schon vertraute Kategorien. In beiden Fällen verkennt er es in seiner Eigenart. Die gegenüber solchen philosophischen Problemen bezogene Haltung ist wesentlich eine kritische: Es ist ihr darum zu tun darzulegen, daß und inwiefern die Eigenart eines bestimmten Zusammenhangs nicht recht erfaßt wurde. Vielleicht rückt diese Darlegung keineswegs die ins Auge gefaßten Zusammenhänge definitiv zurecht, sondern führt nur zu neuer Unübersichtlichkeit. Doch im Geiste der angedeuteten kritischen Haltung entbindet diese Möglichkeit nicht von der Pflicht, jene Verhältnisse neu zu bestimmen, die zuvor als verschoben analysiert worden waren. Philosophische Probleme von diesem Typus sind in der Philosophie analytischer Prägung von Ludwig Wittgenstein und in letzter Zeit besonders von Michael Dummett untersucht worden. Diejenige Charakteristik, welche den folgenden Überlegungen nach die Kennzeichnung einer besonderen Klasse von Disziplinen ermöglichen soll, ist zunächst das Vorliegen eines eigenen Typus von Ursache, und dann die Verbindung, welche die Kausalerklärung, die auf diesen Typ Ursache zurückgreift, mit der Erklärung von Handlungen eingeht. Wie sich zeigen wird, hat die exakte Bestimmung 12

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solcher Ursachen und dieser Verbindung zu philosophischen Schwierigkeiten geführt, die gerade die oben angedeutete Form aufweisen. Es sei vorab, als Vergleichsobjekt, das Programm der Einheitswissenschaft beschrieben, sodann das angesprochene philosophische Problem am gewählten Beispiel – der Charakterisierung einer Klasse von Disziplinen – näher erläutert, und schließlich ein Ausblick auf die Abfolge der Argumente in diesem Essay geliefert. Den Anlaß zur Entwicklung des Programms der Einheitswissenschaft setzte die Krise der Kantischen Systematisierung der Wissenschaften. Bekanntlich hatte Kant die mathematischen Urteile, bestimmte zentrale Sätze der Newtonschen Mechanik, z. B. das Kausalgesetz, und die Urteile der Metaphysik gegenüber den analytischen und den synthetisch-aposteriorischen in einer besonderen Klasse der synthetisch-apriorischen Urteile zusammengefaßt und als Bedingungen der Möglichkeit empirischer Erkenntnis gekennzeichnet. Diese Klasse von Urteilen läßt sich aber den Philosophen des Wiener Kreises zufolge nicht halten. In den prägnanten Worten Moritz Schlicks: »… diejenigen Urteile, die man für synthetisch und apriori gehalten hat, (sind) in Wahrheit entweder nicht synthetisch oder nicht apriori …« (M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, S. 69)

Und vergleichbar heißt es in der Programmschrift »Wissenschaftliche Weltauffassung – der Wiener Kreis«: »Gerade in der Ablehnung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnis apriori besteht die Grundthese des modernen Empirismus. Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt nur Erfahrungssätze über Gegenstände aller Art und die analytischen Sätze der Logik und Mathematik.« (R. Carnap, H. Hahn, O. Neurath, »Wissenschaftliche Weltauffassung – der Wiener Kreis«, S. 210)

In der Konsequenz der Kritik des synthetischen Apriori wurden also die mathematischen unter die analytischen Sätze, die Prinzipien der Naturwissenschaft unter die Erfahrungsurteile eingeordnet. Im Kontext dieser Neuordnung richtet sich nun die Einheitsthese gegen einen Dualismus im Bereich der Erfahrungswissenschaften, der besonders im Hinblick auf die Geschichte von Dilthey und durch Philosophen des Neukantianismus (Windelband, Rickert) vertreten wurde. Am Beginn stehen hier wieder die Auffassungen Schlicks in der Allgemeinen Erkenntnislehre. Über das psychophysische Problem A

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und die Annahme einer Sonderstellung der psychischen Qualitäten urteilt er dort, diese Annahme sei unhaltbar: »Wir sind also von der Überzeugung durchdrungen, daß alle Qualitäten des Universums, daß alles Seiende überhaupt insofern von einer und derselben Art ist, als es der Erkenntnis durch quantitative Begriffe zugänglich gemacht werden kann. In diesem Sinne bekennen wir uns zu einem Monismus, es gibt nur eine Art des Wirklichen – das heißt für uns: wir brauchen im Prinzip nur ein System von Begriffen zur Erkenntnis aller Dinge des Universums, es gibt nicht daneben noch eine oder mehrere Klassen von erfahrbaren Dingen, für die jenes System nicht paßt.« (M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, S. 299)

Was besagt die These von der Einheitswissenschaft? Man betrachte zunächst eine einfache, ontologische Vorform: In dieser Version behauptet sie, daß es sich bei der Vielfalt der Entitäten, Zustände, Prozesse, die wir in der Wirklichkeit vorfinden, letztlich um eines handelt: Geistige Zustände sind Gehirnzustände, Fremdseelisches ist Verhalten, Biologisches ist Physikalisch-Chemisches, und dieses wiederum ist (je nach Wahl des Fundaments) nichts anderes als das Erleben. Die These von der Einheit der Wissenschaft in dieser Version ist eine These von der Einheit des Seienden. Die ontologische Version der Einheitsthese ist jedoch nicht unproblematisch: All dasjenige, was hier miteinander identifiziert wird, bedeutet keinen Unterschied im Geschehen: ob nun ein physikalischer, ein chemischer, ein biologischer, ein psychischer Prozeß abläuft – das, was geschieht, ist dasselbe. Daher beginnt die eigentliche Diskussion des einheitswissenschaftlichen Programms bereits mit einer These, die sich nicht auf eine Einheit des Seienden, sondern auf eine Einheit der Sprache bezieht. Der Grund für diese Wendung zum Sprachlichen ist unschwer nachvollziehbar: Dasjenige, wovon gesagt wird, es sei eines, ist nicht eine Vielfalt von Ereignissen oder Zuständen usw., sondern es ist eben diese Vielfalt in je anderer Beschreibung. (Vgl. C. G. Hempel (Reduction), S. 180 f.) Ein und dasselbe Ereignis kann als psychologisches oder als physiologisches oder als physikalisches usf. beschrieben werden. Die Einheitsthese behauptet etwas über Ereignisse in diesen (oder anderen) Beschreibungen. Den ersten Versuch einer Durchführung der sprachlichen Einheitsthese unternahm Rudolf Carnap in Der logische Aufbau der Welt. Die These bezieht sich hier auf die Möglichkeit einer Konstitution der wissenschaftlichen Begriffe, ausgehend von der Basis des Ei14

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genpsychischen. Auf dieser Grundlage definiert Carnap die physikalischen Begriffe, aus diesen die fremdpsychischen und schließlich die geistigen. Carnaps Wahl dieser Basis, die er bald revidierte, erklärt sich aus der Absicht einer erkenntnistheoretischen Rekonstruktion: Der Gang der Konstitution zeichnet den Weg nach, den die Erkenntnis geht, und er beginnt beim Erleben des erkennenden Subjekts. Die Einheit der Sprache versteht sich also als die Einheit der wissenschaftlichen Begriffe, und zwar als Konstituierbarkeit der wissenschaftlichen Begriffe aus den eigenpsychischen. Doch die These von der Einheit der Sprache läßt sich nicht einmal in einer revidierten, schwächeren Form halten, der zufolge wissenschaftliche Begriffe nur auseinander ableitbar, nicht miteinander äquivalent wären. (Vgl. R. Carnap (Testability), § 15, und ders. (Foundations), S. 49 ff.) Denn es wäre dann zum Beispiel die Übersetzung einer psychologischen Aussage über Fremdpsychisches in Aussagen über Verhalten zu leisten. Doch weder ist eine solche Übersetzung möglich, noch läßt sich die (radikalere) Behauptung begründen, die Bedeutung psychologischer Aussagen sei gerade Verhalten. (Vgl. hierzu W. Stegmüller (Hauptströmungen I), S. 396 f.) Neben der These von der Einheit der Sprache untersucht Carnap eine weitere Einheitsthese, nämlich die These von der Einheit der Gesetze. Aufgrund der Einheit der Sprache könnten unterschiedliche Disziplinen logisch miteinander verknüpft werden. Dennoch hält er die Ableitung z. B. biologischer von physikalischen Gesetzen, und ebenso die psychologischer und soziologischer von biologischen und physikalischen wegen der Schwierigkeiten, die er hier aufgrund des (noch) unzureichenden Entwicklungsstandes der Wissenschaften für die Frage der Reduktion sieht, zunächst für unmöglich. (Vgl. R. Carnap (Foundations), S. 60 f.) Doch davon ganz unabhängig stellt sich für die Einheit der Gesetze ein prinzipielles Problem aufgrund der noch nicht verfügbaren Basissprache. Die These von der Einheit der Gesetze scheitert an der unerfüllten Voraussetzung von der Einheit der Sprache. 1 Das Programm der Einheitswissenschaft richtet sich wesentlich Dies heißt natürlich nicht, daß es nicht Beispiele höchst erfolgreicher Reduktionen gäbe – man denke etwa an die Reduktion der Thermodynamik auf die statistische Mechanik. (Vgl. E. Nagel (Structure), S. 338 ff.) Doch stellen diese und vergleichbare Fälle offensichtlich kein Modell für die Systematik der Wissenschaften insgesamt dar, wie sich nicht nur am Problem des Fremdpsychischen zeigt, sondern auch etwa an dem des wissenschaftlichen Fortschritts. (Vgl. hierzu C. G. Hempel (Reduction))

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gegen einen Dualismus im Bereich der Erfahrungswissenschaften. Von den Philosophen des Wiener Kreises wird diese Auffassung besonders als die Behauptung einer eigenen Methode des Verstehens rezipiert, etwa für die historischen Wissenschaften. 2 Gegen den Dualismus richtet sich die These von der Einheit der Methode. Mit dieser Version der Einheitsthese wird ein eigenartiges Verstehen in den Geisteswissenschaften teils bestritten, teils in seinem methodischen Anspruch relativiert. Entgegengesetzt wird ihm eine andere Methode, nämlich die der wissenschaftlichen Erklärung. Und für diese Methode wird von ihren Proponenten C. G. Hempel und P. Oppenheim von Anfang an universale Geltung reklamiert. Besonders der erste Schritt, mit dem die Methode der Erklärung in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingeführt wurde – nämlich der Versuch, ihre Geltung auch für die Geschichte nachzuweisen –, dann aber auch die versuchte Erweiterung auf den Bereich des Handelns werden unten im Detail vorgestellt werden. (Vgl. unten, Kap. 3) Ein Ergebnis dieser Betrachtung sei jedoch hier schon erwähnt: Wissenschaftliches Erklären wird von Hempel und Oppenheim als die Ableitung eines Explanandums aus Kausalgesetzen eingeführt. Doch bereits in »The Function of General Laws in History« gesteht Hempel zu, daß in einer Vielzahl von Fällen jene Gesetze, auf denen wissenschaftliche Erklärungen beruhen, nicht Kausalerklärungen sondern statistische Gesetze sind. Aus statistischen Gesetzen ist aber keine logische Ableitung einer auf Einzelnes bezogenen Konklusion möglich. Angesichts dieses Gegenbeispiels wird nicht nur die These von der Einheit der Methode von Anfang an als eine problematische eingeführt. Gerade an diesem Gegenbeispiel scheitert das mit der These eingeführte Programm auch auf lange Sicht betrachtet: Die sogenannte deduktiv-nomologische Erklärung stellt sich am Ende nur als Randphänomen des probabilistischen Erklärens heraus. Das Bemerkenswerte am Scheitern des Programms der Einheit der Wissenschaft auch in Form einer Einheit der Methode ist, daß mit ihm zugleich ein bestimmtes Verständnis von Philosophie scheitert; dieser Auffassung zufolge besteht Philosophie wesentlich in logischer Analyse. So hatte Carnap im Vorwort zur ersten Auflage des Vgl. R. Carnap (Sprache), S. 434; vgl. O. Neurath (Soziologie), S. 424; auch der Chronist des Wiener Kreises R. von Mises spitzt seine Darstellung des Neukantianismus letztlich auf die einer These des psychologischen Verstehens zu. (Vgl. ders. (Lehrbuch), S. 302 ff., insbes. auch S. 331 ff.) 2

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Aufbaus auf die »hervorragende Bedeutung der neuen Logik für die gesamte Philosophie« (und nicht nur für die Mathematik und Logik) verwiesen: »Die Fruchtbarkeit der neuen Methode erweist sich dadurch, daß die Antwort auf die Zurückführungsfrage zu einem einheitlichen, stammbaumartigen Zurückführungssystem der in der Wissenschaft behandelten Begriffe führt, das nur wenige Wurzelbegriffe benötigt« (R. Carnap (Aufbau), S. XVIII). Und im Manifest des Wiener Kreises »Wissenschaftliche Weltauffassung – der Wiener Kreis« heißt es: »Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führt dazu, daß sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden. In dieser Klärung von Problemen und Aussagen besteht die Aufgabe der philosophischen Arbeit, nicht in der Aufstellung eigener ›philosophischer‹ Aussagen. Die Methode dieser Klärung ist die der logischen Analyse … Diese Methode der logischen Analyse ist es, die den neuen Empirismus und Positivismus wesentlich von dem früheren unterscheidet …« (R. Carnap, H. Hahn, O. Neurath, »Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis«, S. 207 f.)

Beim Durchgang der verschiedenen Versionen der Einheitsthese zeigt sich aber, daß eben diese Methode an entscheidenden Stellen zu kurz greift, so bei dem Versuch der Durchführung des physikalistischen Programms, und so auch wieder bei der Explikation des Begriffs der Erklärung: Offenbar besteht die Angabe der Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe nicht durchweg in der logischen Reduktion auf ein Basisvokabular; und offenbar erschöpft sich eine Explikation des Begriffs der wissenschaftlichen Erklärung nicht im Verweis auf die Möglichkeit der logischen Ableitung. In der vorliegenden Untersuchung soll eine Klasse von Wissenschaften in ganz anderer Weise als den Prinzipien der verschiedenen Versionen der Einheitswissenschaft folgend charakterisiert werden. Die Differenz zu den Auffassungen des Wiener Kreises sei kurz herausgestellt: Eine bestimmte Klasse von Wissenschaften läßt sich durch die Dualität, durch das Ineinandergreifen zweier Methoden charakterisieren, einer noch näher zu bestimmenden, besonderen Art der Kausalerklärung und einer (somit nicht kausal verstandenen) Handlungserklärung durch die Absicht und Mittel-Zweck-Überzeugung des Handelnden. Im folgenden wird die These vertreten werden, daß sich dies Zusammenspiel der Methoden in Form eines Disputs darstellen läßt: Einer Handlungserklärung kann widersprochen A

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werden, indem dem Handelnden klar gemacht wird, daß er nicht, wie er annahm, aus den-und-den Gründen gehandelt, sondern daß er sich unter dem Einfluß einer bestimmten Ursache in der zu erklärenden Art und Weise verhalten habe. Und einer Kausalerklärung kann durch den Hinweis widersprochen werden, die Ursache, die die Erklärung voraussetzt, sei dem Handelnden bekannt gewesen. In beiden Fällen gilt diese Einspruchsmöglichkeit nur, sofern es sich um Kausalerklärungen eines besonderen, näher zu bestimmenden Typus handelt. (Z. B. gilt der Hinweis, daß die-und-die normalen neurophysiologischen Prozesse in seinem Organismus abgelaufen seien, nicht als Einspruch gegen die vom Handelnden vorgebrachte Handlungserklärung; und dieser Kausalerklärung kann auch nicht wegen der Kenntnis der angenommenen Ursache widersprochen werden.) Dreh- und Angelpunkt dieser argumentativen Figur ist ein Grundsatz, der als Prinzip der Ignoranz bezeichnet werden wird: Kausalerklärungen vom genannten Typus setzen die Unbekanntheit der vorausgesetzten Ursachen und damit die Geltung des Prinzips der Ignoranz voraus, Handlungserklärungen in der angedeuteten Weise dessen Aufhebung. Es wird sich zeigen, daß dies Prinzip in jenen Disziplinen, für welche seine Geltung behauptet wird, in ganz unterschiedlicher Form und Gestalt auftritt. Das Prinzip der Ignoranz ist für eine Klasse von Wissenschaften charakteristisch, die im weiteren als Handlungswissenschaften bezeichnet werden sollen. Neben der Geschichte gehören zu diesen Disziplinen die (experimentelle) Psychologie und die Psychoanalyse, an denen die Wirkungsweise des Prinzips im folgenden untersucht werden wird. Hierher gehören aber auch die Ethnologie, die Wirtschaftswissenschaft und eine Reihe weiterer Disziplinen. 3 Seine Wirkung als spezifisches Prinzip der Handlungswissenschaften wurde bisher noch nicht untersucht. Eine solche Untersuchung kann jedoch anknüpfen an eine Reihe von Einzeluntersuchungen in den genannten Disziplinen. Diese werden unten in auf diese bezogenen Fallstudien gewürdigt werden. Eine hervorragende Rolle für den Ansatz zu einer exakteren Bestimmung des Prinzips Vgl. für die Ethnologie die Auseinandersetzungen, die sich an P. Winchs Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie entzündet haben, und die z. B. von H. G. Kippenberg und B. Luchesi in Magie, die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens dokumentiert wurden; vgl. für die Wirtschaftswissenschaft O. Morgenstern, Wirtschaftsprognose.

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wird Robert K. Mertons Identifizierung sogenannter sich selbst erfüllender und sich selbst vernichtender Vorhersagen in den Sozialwissenschaften spielen. Das Prinzip der Ignoranz ist nicht das Konstitutionsprinzip derjenigen Wissenschaften, die hier als Handlungswissenschaften bezeichnet werden. Seine eingeschränkte Geltung ergibt sich bereits vom Bezug auf jene beiden Methoden her, deren Zusammenspiel es regelt, der Handlungserklärung und der Kausalerklärung. Es ist damit ein Prinzip des individuellen Handelns – ob zum Beispiel auch gemeinsames Handeln in ähnlicher Weise untersucht werden kann, bleibt hier offen. 4 Und es ist ein Prinzip der Kausalerklärung; die Bedeutung des kausalen Erklärens – wie auch die der Handlungserklärung – ist jedoch in den einzelnen Handlungswissenschaften ganz unterschiedlich; einen gewichtigeren Ort nimmt in vielen die probabilistische Erklärung ein, deren Rolle hier nicht untersucht wird, ebensowenig wie das Verhältnis dieser beiden Methoden zueinander. Dasjenige philosophische Problem, mit dem es die Philosophie der Handlungswissenschaften zu tun hat, könnte man als eines der Unübersichtlichkeit bezeichnen; der Philosoph, der mit diesem Problem kämpft, neigt dazu, Lösungsvorschläge zu präsentieren, bevor das Problem selbst ganz deutlich ist. Solche Vorschläge laufen oft auf die Leugnung oder aber sonst auf die Vereinnahmung jener Phänomene hinaus, die den Ansatz des Problems bildeten, beides auf Kosten der Erkenntnis und Anerkennung der Eigenart der untersuchten Phänomene und der mit ihnen verbundenen Begrifflichkeiten. Es ist gerade diese philosophische Haltung, die sich durch die Philosophie der Handlungswissenschaften zieht; sie zeigt sich, wenn die Erklärungen der gerade der Betrachtung unterzogenen Disziplin entweder allein als Handlungserklärungen oder aber allein als Kausalerklärungen nach Art der naturwissenschaftlichen ausgegeben werden – dort, wo sehr wohl Kausalerklärungen gegeben werden, jedoch solche von besonderer Art, in welchen nämlich auf Ursachen eines besonderen Typus zurückgegriffen wird, der sich nur in den Handlungswissenschaften und nicht in den Naturwissenschaften antreffen läßt. Die Behauptung, die untersuchte Disziplin erkläre ausschließlich durch Vgl. hierzu z. B. R. Tuomela, A Theory of Social Action; vgl. auch G. H. von Wrights Relativierung der Relevanz des praktischen Schlusses für die Sozialwissenschaften in ders. (Reply), S. 840.

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Handlungserklärungen, stellt eine Leugnung der besonderen Kausalerklärung dar, deren Subsumtion unter die naturwissenschaftlichen ihre Vereinnahmung. Die Aufgabenstellung dieser Arbeit ist daher wesentlich eine der Klärung und Erläuterung handlungswissenschaftlicher Begrifflichkeiten. Im Hinblick auf eine solche Aufgabe verfährt die Philosophie des Wiener Kreises normativ. Soweit sie eine Einheit der Sprache postuliert, normiert sie den wissenschaftlichen Sprachgebrauch: Es sollen nur solche Termini in die Wissenschaft aufgenommen werden, die in der beschriebenen Weise definiert oder reduziert werden können. (Eine Liste derjenigen Begriffe, die als nicht in dieser Weise definierbar betrachtet werden, stellt Neurath in einem index verborum prohibitorum zusammen. Zu dieser Liste gehören etwa »Existenz«, »Entität«, »Wirklichkeit«, »Ding«, »Verstehen«, »Motiv«, »Ich«, usf. (Vgl. O. Neurath (Grundlagen), S. 945 und ders. (Soziologie), S. 424 u. 431) Auch die Einheit der Methode ist ein normatives Prinzip. Es wird unten noch gezeigt werden, daß dort, wo die Existenz einer Erklärung unterstellt, die postulierte deduktiv-nomologische Form aber nicht gefunden wird, etwa in der Geschichte, die vorgefundene Form der Erklärung als elliptisch betrachtet wird. Alles Erklären soll nur von dieser Form sein dürfen. (Vgl. unten, Kap. 3.1) Demgegenüber versteht sich die im folgenden vorgenommene Untersuchung allein kritisch, und zwar im folgenden Sinne: Gegenüber theoretischen Entwürfen zur Bestimmung zentraler Kategorien der Handlungswissenschaften, z. B. »Handlung« oder »Selbsttäuschung« wird vermerkt, daß diese Versuche nicht mit der Art und Weise koinzidieren, in der wir uns üblicherweise dieser Begriffe bedienen. Doch dieser Hinweis soll nicht so verstanden werden, als ob unsere übliche Ausdrucksweise das Maß für die Verwendung dieser Begriffe darstellen würde. Hingewiesen wird nur auf die Differenz zwischen Theorie und Verwendungsweise. Und es soll zugestanden sein, daß Begriffe aufgrund stipulativer Definitionen anders verwendet werden könnten, als wir dies für gewöhnlich tun. Die Kritik gilt allein einer Auffassung, die diese Stipulation nun für Deskription nimmt, für eine Definition, welche die wahre Bedeutung der fraglichen Begriffe wiedergibt, einer Auffassung also, die das Moment der Entscheidung in der eigenen Vorgehensweise übersieht. Worin besteht die Besonderheit der vorgebrachten These eines Prinzips der Ignoranz in den Handlungswissenschaften? Oben wurde bereits erwähnt, daß dies Prinzip in den verschiedenen handlungs20

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wissenschaftlichen Disziplinen in ganz verschiedener Form auftritt. Im folgenden wird es im Falle der Geschichtsschreibung in jener Version untersucht werden, die dem Prinzip seinen Namen gibt, also als eins der Ignoranz bestimmter kausaler Bedingungen. Der Historiker steht dann vor der Pflicht, die Ignoranz der von seiner Kausalerklärung betroffenen Person nachzuweisen. In der experimentellen Psychologie erscheint es als eines der Unkenntnis der Versuchsperson, die im Experiment vom Experimentator hergestellt oder zumindest bewahrt wird, durch Täuschung oder durch Unterlassung der Mitteilung der Forschungshypothese; die Untersuchung im Fall der Psychoanalyse geht der Frage nach, ob derjenige, dessen Verhalten durch eine unbewußte Absicht verursacht ist, sich selbst über diese Absicht täuscht, so daß er also seine eigene Unkenntnis selbst hervorbringen würde. Wäre dies so, dann würde der Psychoanalytiker eine durch den Analysanden selbst verschuldete Unkenntnis durch seine Deutung aufheben. Die Untersuchung dieser drei Disziplinen – Geschichte, experimentelle Psychologie und Psychoanalyse – wurde gewählt, um der Ignoranz in gerade diesen drei Formen Rechnung tragen zu können: als Ignoranz simpliciter, als Täuschung und vielleicht als Selbsttäuschung. Die Argumentationsschritte der folgenden Überlegungen seien vorab zusammengefaßt: In Kapitel 1 werden Handlungs- und Kausalerklärungen unterschieden. Es wird gezeigt, daß in den Prämissen der Handlungserklärung, die festhalten, daß etwas für den Überlegenden erstrebenswert ist, und daß er glaubt, das Erstrebenswerte auch bekommen zu können, indem er die entsprechende Handlung vollzieht, etwas anderes zum Ausdruck kommt, als in der Kausalerklärung: die Prämissen der Handlungserklärung sind Ausdruck praktischer Erkenntnis – wie etwas zustande gebracht werden könnte –, die der Kausalerklärung Ausdruck theoretischer Erkenntnis, warum etwas geschah. Das Ziel der Überlegungen des Kapitels ist es zu zeigen, daß diese Unterscheidung nicht aufhebbar ist, daß es sich insbesondere bei der Handlungserklärung nicht um eine unvollständige Kausalerklärung handelt, die um ein Gesetz ergänzt werden könnte, derart, daß dann die vollständige Struktur einer kausalen Handlungserklärung zum Vorschein käme (P. M. Churchland). Das vorgeschlagene Kausalgesetz erweist sich vielmehr bei näherer Betrachtung als eine Aussage über die Bedeutung des Begriffs der Absicht; diese Aussage ist mithin kein Erfahrungssatz und daher auch kein empirisches Gesetz. A

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Die Koexistenz dieser beiden Erklärungstypen und ihre Unabhängigkeit voneinander ist eine wesentliche Voraussetzung des folgenden Kapitels, in dem der Frage nachgegangen wird, in welcher Beziehung sie in den Handlungswissenschaften zueinander stehen, und zwar gerade insofern, als sie voneinander unabhängig sind. In Kapitel 2 wird durch eine Untersuchung von Lüge, Täuschung und Selbsttäuschung der Boden für die sich anschließenden einzelwissenschaftlichen Fallstudien bereitet. Die in Kapitel 1 vorgenommene Unterscheidung von Handlungs- und Kausalerklärung erweist sich für das Verständnis dieser Begriffe als konstitutiv: Die Lüge kann ohne die dahinterstehende Absicht zur Täuschung eines anderen nicht vom Irrtum, einem irrtümlich geäußerten falschen Satz unterschieden werden; und der Versuch einer Definition der Selbsttäuschung unter Absehung von der Absicht, sich selbst zu täuschen (D. Davidson), scheitert, weil Selbsttäuschung dann nicht mehr von der widerfahrenden Täuschung unterscheidbar ist. Die Untersuchungen der Kapitel 3 – 5 gelten drei je verschiedenen Gestalten des Prinzips der Ignoranz. In Kapitel 3 wird zuerst noch einmal das Verhältnis von Handlungserklärung und Kausalerklärung betrachtet, welches in der Geschichtswissenschaft besonders deshalb zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat, weil sowohl die Handlungserklärung (R. Collingwood) als auch die Kausalerklärung (C. G. Hempel) zeitweilig zur ausschließlichen Form der historischen Erzählung proklamiert wurden. Demgegenüber wird hier gezeigt werden, daß bestimme Formen der historischen Erzählung nur unter Bezugnahme auf beide Erklärungstypen möglich sind: Die ironische Erzählung zum Beispiel besteht gerade darin, daß das menschliche Handeln als bloße Einbildung erwiesen wird, angesichts einer Vorsehung, durch die das Individuum dorthin gelenkt wird, wo ihm sein Platz schon zugewiesen ist. Das Prinzip der Ignoranz bestimmt gerade die Möglichkeit der in diesen Fällen gelieferten Kausalerklärung: Insofern es spezifisch historische Kausalerklärungen gibt, nomologische oder singuläre, muß der Historiker den Nachweis erbringen, daß die behauptete Ursache dem handelnden Subjekt unbekannt war. Gegenstand der zweiten Fallstudie ist das psychologische Experiment, eindeutig angesiedelt im Terrain der Kausalität. In Kapitel 4 wird am Beispiel der Milgramschen Experimente zu Autorität und Gehorsam gezeigt, wie die im Experiment untersuchten kausalen Zusammenhänge konstruiert werden, und zwar durch die Täuschung 22

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der betroffenen Versuchspersonen. Die Ignoranz des handelnden Subjekts ist also im psychologischen Experiment eine hergestellte, und insofern und in dieser Weise unterliegt auch dieser Bereich dem Prinzip der Ignoranz. Gerade im Zusammenhang mit den Milgramschen Experimenten wurde jedoch auch die Störung der untersuchten kausalen Abläufe im psychologischen Labor diskutiert: Die Ergebnisse dieser Untersuchungen können durch die Versuchspersonen verfälscht werden, die versuchen, Sinn und Zweck eines Experiments zu erraten, um sich dann im Sinne oder im Gegensinn der Forschungshypothese zu verhalten. Die Möglichkeit dieser Verfälschung beruht auf dem Prinzip der Ignoranz: Die betreffenden Kausalhypothesen sind von der Art, daß ihre Anwendung durch die Aufhebung ihrer Unbekanntheit unmöglich wird; der experimentelle Psychologe steht dann vor dem Problem der Entscheidung, ob das Ergebnis seines Experiments auf die von ihm untersuchte Variable oder auf deren Bekanntheit zurückzuführen ist. Es wird darauf verwiesen, daß der Versuch, die experimentelle Strategie der Täuschung (aus ethischen oder aus methodologischen Gründen) zu vermeiden, indem die experimentelle Situation durch Simulation ersetzt wird, mit der experimentellen Situation nicht äquivalent ist: Die Feststellung, daß Personen sich in simulierten Situationen gerade ebenso verhalten würden, wie in den experimentellen, täuscht nicht darüber hinweg, daß die angemessen Erklärung im einen Falle eine Kausalerklärung ist, im anderen aber nicht, sondern eine Erklärung, die auf die Absicht einer Person verweist, sich so zu verhalten, wie sie glaubt, dies unter jenen Umständen zu tun, unter denen sie einer bestimmten Verursachung tatsächlich ausgesetzt wäre. (Die experimentelle Situation der Simulation scheidet die Möglichkeit von Ergebnissen aus, die die Vp überraschen würden.) Es liegt nahe – und entspricht einer etablierten Interpretation –, durch unbewußte Motive verursachtes Verhalten auf eine Selbsttäuschung der sich so verhaltenden Person zurückzuführen. Auch die Psychoanalyse würde demnach mit zum Geltungsbereich des Prinzips der Ignoranz gehören: So wie historische Ursachen durch Ignoranz und experimentalpsychologische durch Täuschung unbekannt sind, verbirgt die Person ihre eigenen unbewußten Wünsche und Absichten durch Selbsttäuschung vor sich selbst. Die Psychoanalyse würde demnach Kausalerklärungen liefern, die auf Selbsttäuschung beruhen, und die psychoanalytische Therapie in der Aufdeckung dieA

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ser Selbsttäuschung bestehen. Aus den Überlegungen in Kapitel 2 geht hervor, daß dem nicht so ist. Denn eine Erklärung aufgrund von Selbsttäuschung ist keine Kausalerklärung. Ist also die Erklärung durch eine unbewußte Absicht eine Kausalerklärung, dann ist sie keine durch Selbsttäuschung. Dennoch spielt Selbsttäuschung bei psychoanalytischen Erklärungen eine Schlüsselrolle: Sie stellt jenes Modell dar, dem die Psychoanalyse mit der theoretischen Konstruktion ihrer Erklärungen folgt. Diese Erklärungen sind dann Kausalerklärungen, die ihrer Form nach durch Selbsttäuschungen erklären. Entzieht sich die Psychoanalyse dem Prinzip der Ignoranz, wenn ihre Erklärungen nicht die Unkenntnis der angenommenen Ursachen aufgrund von Selbsttäuschung supponieren? In Kapitel 5 wird erläutert, warum dies nicht der Fall ist: Psychoanalytische Kausalerklärungen folgen dem Prinzip der Ignoranz gerade so wie auch andere psychologische Kausalerklärungen – die von ihnen supponierten Ursachen werden durch Mitteilung und Kenntnisnahme aufgehoben. Das Ergebnis der Untersuchung des Prinzips der Ignoranz auf der Grundlage der Betrachtung einiger exemplarisch ausgewählter Disziplinen lautet, daß Kausalerklärungen eines bestimmten Typus auf der Unkenntnis der supponierten Ursache durch das betroffene Subjekt beruhen. Diese Unkenntnis kann auch durch Täuschung hergestellt (oder bewahrt) sein. Sie kann hingegen nicht das Produkt einer Selbsttäuschung sein. Der merkwürdige Fall der Psychoanalyse, in dem diese Unkenntnis als eine der Selbsttäuschung erscheint, ist in Wahrheit ein Fall bloßer Unkenntnis der Theorie (oder der erklärenden Hypothese) durch das Subjekt. Im abschließenden 6. Kapitel wird die Relation von Handlungserklärung und Kausalerklärung näher bestimmt, und zwar auch im Hinblick darauf, daß diese Relation von besonderer Bedeutung für die Abgrenzung der Handlungswissenschaften sein soll. Diese nähere Bestimmung knüpft noch einmal bei der Beschreibung dieser Relation im Zusammenhang mit der Situation im psychologischen Labor an (Kapitel 5). Dort wird erläutert, daß eine Kausalerklärung durch die Aufklärung der Vp über die Forschungshypothese aufgehoben wird. Das weitere Verhalten der Vp wird dann durch eine Handlungserklärung begründet, wenn etwa gesagt wird, daß die Vp sich nun im Sinne der dem Versuchsleiter unterstellten Erwartungen verhalten wird. Das Phänomen dieser Reaktion der Vp auf die Aufklärung hin läßt sich unter Umständen – falls sich nämlich die Hypothese ohne 24

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die Aufklärung als falsch erwiesen hätte, und falls die Vp vermutet, der Versuchsleiter erwarte deren Richtigkeit, und falls sie sich im Sinne dieser Erwartung verhalten will – als sogenannte sich selbst erfüllende Prophezeiung darstellen. In diesem Kapitel wird in Anknüpfung an Kritiken von R. K. Merton und J. Habermas durch A. Grünbaum die Relation von Handlungs- und Kausalerklärung als eine vergleichbar reflexive Relation bestimmt. Dabei zeigt sich, daß die Termini der sich selbst erfüllenden oder sich selbst vernichtenden Vorhersage zur Analyse dieser Relation nicht hinreichen und daß sie auch falsche Beschreibungen ihres intendierten Gegenstandes sind. Das Prinzip der Ignoranz erscheint zuletzt als Regulativ eines Gefüges von Bedingungen für Handlungs- und Kausalerklärungen der Art, daß Kausalerklärungen eines bestimmten Typus unter der Bedingung der Unbekanntheit der von ihnen supponierten Ursachen stehen; und daß Handlungserklärungen dann zunächst akzeptiert werden, wenn auf die Bekanntheit einer unterstellten Ursache hingewiesen werden kann. Das Zusammenspiel zweier Erklärungstypen wird als ein für die Handlungswissenschaften charakteristischer kategorialer Wechsel der Erklärung bezeichnet. Dies Zusammenspiel ist nicht abschließbar, und es ist daher auch nicht zugunsten eines der beiden Typen entscheidbar. Es ist daher gerade als ein Wechselspiel für die Handlungswissenschaften konstitutiv.

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1 Praktische Erkenntnis

Eine bestimmte Klasse von Wissenschaften – Psychologie und Psychoanalyse, Soziologie und Politologie, die Wirtschaftswissenschaften, Ethnologie, Geschichte und andere – haben es zumindest auch mit der Beschreibung und Erklärung menschlichen Handelns zu tun. Sie sollen im folgenden als Handlungswissenschaften bezeichnet werden. (Vgl. oben, S. 18) Als Handlungswissenschaften können diese Disziplinen dadurch gekennzeichnet werden, daß sie alle sich einer bestimmter Methode bedienen, nämlich des sogenannten praktischen Schlusses: Handlungen werden durch Rekurs auf die Überlegungen des Handelnden erklärt, der etwas für erstrebenswert und eine bestimmte Handlung für das Mittel der Wahl hält, um dies Erstrebenswerte zu erreichen, und zwar unter der Voraussetzung, daß er das Erstrebenswerte auch zu erreichen beabsichtigt. Die Erklärung durch einen praktischen Schluß soll im folgenden Handlungserklärung genannt werden. Doch in der Diskussion um den wissenschaftstheoretischen Status der Handlungswissenschaften wurde nun festgestellt, daß in diesen neben den Handlungserklärungen auch Erklärungen von ganz anderer Form vorgebracht werden, nämlich Kausalerklärungen, in denen aus einem (z. B. psychologischen oder soziologischen) Kausalgesetz und Anfangsbedingungen die Beschreibung eines Verhaltens logisch abgeleitet wird. Hingegen enthalten Handlungserklärungen durch praktische Schlüsse keinen allgemeinen Satz, also auch kein Gesetz; praktische Schlüsse sind, jedenfalls auf den ersten Blick, nicht schlüssig. Es fragt sich dann, mit welchem Recht sie als Erklärungen auftreten dürfen. Schon Aristoteles hat angesichts dieser Schwierigkeit den Gedanken verfolgt, ob es sich bei den praktischen Schlüssen nicht doch um theoretische handelt. 1 In der modernen wissenschaftstheoreti1

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Er sagt in De Motu Animalium, Kap. 7: »Wie geschieht es, daß das Denken manchmal

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schen Diskussion wurde dieser Versuch der Annäherung des Praktischen an das Theoretische als die These verfochten, es handle sich beim praktischen Schluß um eine unvollständige Kausalerklärung. Zu ergänzen sei gerade jenes Gesetz, jener allgemeine Satz, der die logische Ableitung des Explanandums aus dem Explanans erst ermöglicht; damit würde aus dem praktischen Schluß ein theoretischer, wäre die Ableitbarkeit der Wahrheit der Konklusion aus der der Prämissen dargelegt, und der methodische Dualismus der Handlungswissenschaften als eine bloße Vorläufigkeit beiseitegeräumt. Es ist eine Hauptvoraussetzung der vorliegenden Untersuchung, daß der Dualismus der Handlungswissenschaften in einem bestimmten Sinne unaufhebbar ist. Und daß eine adäquate Charakterisierung des wissenschaftstheoretischen Status der Handlungswissenschaften nicht in einer Reduktion des Praktischen auf das Theoretische bestehen kann, sondern gerade im Gegenteil darum bemüht sein muß, die Beziehung oder das Zusammenspiel zwischen den beiden Methoden, denen ihr je eigenes Recht zugestanden wird, so zu beschreiben, wie es sich in der Praxis dieser Disziplinen zeigt. Dies wird unten weiter erläutert werden. Um dieser These nachgehen zu können, bedarf es jedoch zunächst des Nachweises der Voraussetzung, daß die Ergänzung des praktischen Schlusses zu einem theoretischen tatsächlich mißlingt. Sie soll im nun folgenden ersten Kapitel belegt werden. Die Reduktion des Praktischen auf das Theoretische scheint nicht nur für Aristoteles nahezuliegen, sie entspricht der empiristischen Tradition der Wissenschaftstheorie, und sie stellt ein Hauptprogramm der gegenwärtigen Philosophischen Handlungstheorie analytischer Prägung dar. Im folgenden soll das Scheitern dieses Programms nachgezeichnet werden, und zwar durch ein Resümee der handlungstheoretischen Debatte innerhalb der Analytischen Philosophie seit den Fünfziger Jahren. Dies geschieht auf der Grundlage einer Durchsicht verschiedener Versionen des praktischen Schlusses auf die Frage hin, ob mit der jeweiligen Version denn nun eine devon einer Handlung begleitet wird und manchmal nicht, manchmal von einer Bewegung und manchmal nicht? Es sieht so aus, als ob gerade dasselbe geschehen würde wie im Falle des Nachdenkens und Schließens über unwandelbare Gegenstände, doch in diesem Falle ist das Ziel ein Theorem (denn sobald man die beiden Prämissen bedenkt, bedenkt man auch die Konklusion, und stellt sie auf), während hier die Konklusion, die sich aus den beiden Prämissen ergibt, die Handlung ist.« [Übersetzung T. K.] Offenbar sagt Aristoteles, daß in beiden Schlußformen das, was bedacht wird, dasselbe ist. A

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duktiv-nomologische Kausalerklärung vorliegt. Angesichts der negativen Antwort auf diese Frage und der Zurückweisung des reduktionistischen Programms wird das Ergebnis der Überlegungen des ersten Kapitels lauten, daß an der Irreduzibilität des Praktischen und damit an einer grundlegenden Voraussetzung für die darauffolgenden Überlegungen festzuhalten ist.

1.1 Praktischer Syllogismus Aristoteles, von dem der Schluß stammt, gibt neben anderen 2 das folgende Beispiel eines praktischen Schlusses (Nikomachische Ethik 1147a 25 ff.): 1. Man soll von allem Süßen kosten 2. Dies hier ist süß; Und er erläutert, daß derjenige, der dazu in der Lage sei und nicht gehindert werde, unter Voraussetzung der Prämissen zugleich zur Tat schreiten müsse (¿ma to‰to ka½ pr€ttein). Zwei Eigenarten dieses Schlusses seien hervorgehoben: 1.) Wie sich im folgenden zeigen wird, enthalten spätere Versionen des praktischen Schlusses zumeist in der ersten Prämisse die Feststellung, daß jemand etwas will bzw. daß jemand eine Absicht verfolgt. Dies ist im vorliegenden Falle, beim Aristotelischen praktischen Syllogismus, nicht so. Hier besagt die erste Prämisse keineswegs, daß etwas der Fall ist, also auch nicht, daß jemand etwas beabsichtigt; sie bringt vielmehr zum Ausdruck, daß etwas wünschenswert ist, daß etwas geschehen bzw. getan werden sollte. 3 2.) Im Vergleich mit einem logischen Schluß von der üblichen Form weist das Aristotelische Schema einen auffälligen Mangel auf: Es enthält keine Konklusion – Aristoteles spricht nicht davon, daß ein Satz aus den beiden Prämissen folVgl. f. weitere Beispiele (Metaphysik), 1032 b 6–10 und 1032b 18–21, (DeMotu), 701a 12–16, 701a 16–23, 701a 32–33, (Nikomachische Ethik), 1147a 1–10, 1147a 32–36. Vgl. für einen Überblick und die Diskussion der verschiedenen von Aristoteles gegebenen Formen G. Santas (Aristotle), insbes. S. 163 ff. 3 Dies »sollte« oder »ist wünschenswert« bringt Aristoteles oft durch »de…« zum Ausdruck, oder auch durch »sumyffrei« (Nikomachische Ethik), 1147a6). Anscombe, die den Aristotelischen praktischen Syllogismus in die gegenwärtige handlungstheoretische Diskussion eingeführt hat, spricht davon, daß die erste Aristotelische Prämisse etwas Gewolltes als begehrenswert charakterisiert (desirability-characterisation). (Vgl. G. E. M. Anscombe (Absicht), S. 111) 2

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ge, sondern er stellt fest, daß derjenige, für den die beiden Prämissen gelten, handeln müsse. Es sei der Form halber die Frage gestellt, ob es sich bei dieser allerersten Version des praktischen Schlusses etwa um eine deduktivnomologische Kausalerklärung handeln könnte. Offensichtlich ist dies nicht der Fall, und zwar wegen der beiden erwähnten Charakteristika: Eine Ursache wird in den Prämissen gar nicht erwähnt; und der Schluß ist, in Ermangelung einer Konklusion, auch nicht schlüssig. Betrachtet man nun beides im Zusammenhang, dann läßt sich dieses Schema vielleicht derart verstehen, daß es sich dabei nicht um einen theoretischen Schluß handelt, den derjenige ziehen könnte, der beobachtet, daß die beiden Prämissen zutreffen, und der dann darauf schließt, daß sich die entsprechende Konklusion ergibt. Es ist dies vielmehr das Schema der praktischen Überlegungen des Handelnden selbst: Dieser bedenkt bei sich, was er denn tun soll, da ihm das und das in der charakterisierten Weise als gut erscheint, wie er die Welt verändern könnte, um das für ihn Gute auch zu erreichen. Wer so überlegt, denkt nicht darüber nach, ob er die Absicht hat, derart, daß in der Prämisse dann die Antwort festgehalten wäre, daß er sie hat, um dann darauf zu warten, was denn nun, da er die Absicht hat, geschieht: Er erwartet nicht die Ausführung der eigenen Absicht. Und er ist auch nicht an der Wahrheit interessiert, so wie sie sich aus den Prämissen ableiten ließe, daran, ob die Konklusion in Anbetracht der Wahrheit der beiden Prämissen ihrerseits wahr ist; er bedenkt vielmehr die Prämissen um der Handlung willen, er überlegt, wie er zu verfahren hat, um seine Absicht auszuführen, oder auch: was er wahr zu machen hat, nicht, was wohl wahr werden wird. (Vgl. G. E. M. Anscombe (Absicht), S. 88 f.) G. E. M. Anscombe führt die Differenz von theoretischer und praktischer Wahrheit am Beispiel eines Einkaufenden vor, der von einem Detektiv beobachtet wird: Der Detektiv notiert dasjenige, was der Betreffende einkauft, in einer Liste; enthält diese Liste einen Fehler, dann wird der Detektiv seinen Fehler korrigieren, indem er diese Beschreibung, die Liste, berichtigt – er streicht »Butter« durch und notiert »Margarine«. Der Fehler, den er begangen hat, ist ein Fehler aufgrund von Beobachtung, ein »theoretischer« Fehler; daher muß er in diesem Fall das aufgrund seiner Beobachtungen erstellte Protokoll ändern. Hingegen liegen die Verhältnisse anders im Fall des Einkaufenden selbst; bringt er Butter anstatt Margarine mit, so wie dies eigentlich auf seinem Einkaufszettel notiert war, so wird er seinen Fehlgriff nicht durch die Korrektur seiA

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ner Liste bereinigen können – vielmehr muß er etwas tun, nämlich zum Laden zurückgehen und die Margarine holen. Seine Liste, so könnte man sagen, hat präskriptiven Charakter, und so wird die Verletzung einer Präskription geheilt. Im Falle des Einkaufenden liegt kein Beobachtungsfehler vor, sondern ein praktischer Fehler – der Einkaufende hat nicht das getan, was er tun wollte. Im theoretischen Fall wird das Protokoll verändert, die Beschreibung, weil diese der Welt nicht entspricht; im praktischen Fall wird der Fehler berichtigt, indem die Welt so verändert wird, daß sie der ursprünglichen Absicht entspricht. Praktische Erkenntnis beruht, anders als theoretische, nicht auf Beobachtung. Der praktische Schluß bei Aristoteles ist also alles andere als eine deduktiv-nomologische Kausalerklärung, dennoch hat er sehr wohl eine Verwendung, nämlich als die praktische Überlegung des Handelnden. 4

1.2 Deontischer Schluß Nun läßt sich die angemahnte Konklusion des Aristotelischen praktischen Syllogismus leicht ergänzen. Sie lautet: »Ich (oder man) sollte hiervon kosten.« Mit dieser Ergänzung liegt ein vollständiger Schluß vor, in welchem die Konklusion aus den aufgeführten Prämissen folgt. Man beachte jedoch, daß es sich hierbei um einen deontischen Schluß handelt. Die Differenz zwischen einem deontischen und einem theoretischen Schluß kann in Anlehnung an einen Vorschlag Anscombes (vgl. G. E. M. Anscombe (von Wright), S. 293), an den folgenden beiden Schemata, einmal dem eines theoretischen, dann dem eines praktischen oder deontischen Schlusses erläutert werden: In der Folgezeit hat G. H. von Wright bemerkt, daß das Aussprechen dieser Überlegung seinen eigenen kommunikativen Sinn haben kann. In Erklären und Verstehen schreibt er: »Der echt »praktische« Schluß könnte auch eine Verpflichtung zu einer Handlung genannt werden. Er ist eine in der ersten Person durchgeführte Begründung. Ihre Conclusio, wenn in Worten ausgedrückt, ist: »Ich soll a (jetzt) tun« oder »Ich soll a nicht später als zum Zeitpunkt t tun«. Die Einschränkungen »es sei denn, ich werde gehindert« oder »es sei denn, ich vergesse, auf den Zeitpunkt zu achten« gehören nicht zu dem Schluß als einer Verpflichtung. Sollte die Verpflichtung jedoch nicht erfüllt werden, so könnten sie als Entschuldigungen vorgebracht werden.« (G. H. v. Wright (Erklären), S. 173, Fußnote 33)

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Deontischer Schluß

1. Angenommen r 2. wenn r, dann q q Im Rahmen dieses Schemas wird aus der Wahrheit von Behauptungen oder Annahmen auf die Wahrheit einer weiteren Behauptung oder Annahme geschlossen. Demgegenüber weist der praktische Schluß in seiner deontischen Form einen anderen Inhalt und eine andere Form auf: 1. Fiat q 2. wenn r, dann q Fiat r Während die erste Prämisse im theoretischen Teil eine Annahme oder Behauptung darstellt, bringt sie im praktischen oder deontischen Fall zum Ausdruck, daß etwas geschehen soll. Die Konklusion des theoretischen Schlusses besagt, daß q wahr ist, sofern die Prämissen gelten; die Konklusion des praktischen Schlusses fordert dazu auf, r wahr zu machen; und der Gesamtschluß setzt davon in Kenntnis, daß q dadurch wahr gemacht werden kann, daß r wahr gemacht wird. Man beachte zunächst, daß der deontische Schluß nicht der Absicht entspricht, in der Aristoteles den praktischen Syllogismus vorbringt, denn dieser Absicht zufolge sollte ja die Konklusion die Handlung sein, derjenige, für den die Prämissen gelten, sollte »zugleich handeln«. Hingegen folgt aus dem deontischen Schluß nur, daß ich/jemand handeln sollte, daß dies wünschenswert wäre, nicht, daß ich es auch tue. Daher liegt zwar mit der deontischen Konstruktion ein gültiger Schluß vor, doch nicht solch einer, wie Aristoteles ihn ins Auge gefaßt hatte. Auch das Schema des deontischen Schlusses ist nicht dasjenige einer Kausalerklärung. Zwar ist der deontische Schluß logisch gültig, so wie dies für die Kausalerklärung erforderlich wäre. Doch ebensowenig wie im Falle des ursprünglichen Aristotelischen Schemas wird in den Prämissen des deontischen Schlusses das Vorliegen einer Ursache behauptet. Wie der ursprüngliche Aristotelische praktische Syllogismus hat auch der deontische Schluß eine Verwendung. Sie besteht in der Angabe, was getan werden müßte, um etwas Wünschenswertes Wirklichkeit werden zu lassen. Doch bleibt der deontische Schluß in seiner Konklusion bei der bloßen Angabe des Wünschenswerten, vor der Handlung, stehen. Und darin unterscheidet er sich sowohl vom A

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Aristotelischen praktischen Syllogismus als auch von dem der deduktiv-nomologischen Erklärung, die ja beide mit der Handlung selbst, bzw. mit deren Beschreibung enden sollen.

1.3 Der praktische Schluß als eigenständige Form der Erklärung Die erste und primäre Verwendung des ursprünglichen, Aristotelischen praktischen Syllogismus ist die als Handlungsüberlegung des Handelnden selbst; der Betreffende überlegt in diesem Fall, was er tun muß, um das, was er will, zu erreichen; Inhalt der Überlegung ist also die Relation zwischen dem, was in der ersten Prämisse als etwas Begehrenswertes charakterisiert wird, und der Handlung, die dies Begehrenswerte realisiert. Sie betrifft nicht die Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungen, die möglich wären, um ein Gewolltes zu erreichen – das wäre eine weitere, je nach den Umständen hinzukommende Überlegung 5 ; und sie betrifft auch nicht die Frage C. G. Hempels Theorie einer dispositionalen deduktiv-nomologischen Kausalerklärung des Handelns bleibt damit hier zunächst beiseite. Hempel stellte in den »Studies in the Logic of Explanation« fest, daß zwischen Kausalerklärungen und Handlungserklärungen aus den Gründen und Überzeugungen des Handelnden, eine bestimmte Handlung werde höchstwahrscheinlich die Wirkung haben, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, kein formaler Unterschied bestehe, und daß die determinierenden Motive und Überzeugungen zu den antezedenten Bedingungen der motivationalen Erklärung zu rechnen sind. (Vgl. C. G. Hempel (Studies), S. 251 ff.) Später erläutert er diese Feststellung, indem er motivationale Erklärungen als dispositionale charakterisiert. Hierbei bewirkt die Disposition (oder ein Bündel von Dispositionen), daß sich der Handelnde für diejenige Handlung entscheidet, die er für die beste hält. (Vgl. C. G. Hempel (Aspects), S. 463, S. 472 ff. und S. 478 ff.; vgl. unten, 3.3) Es sei erstens festgehalten, daß die Frage der Wahl des rechten Mittels (zur Erreichung eines gesetzten Ziels) ein wichtiger Gegenstand der Entscheidungstheorie ist. Auf diese Entscheidung bezieht sich bereits der Aristotelische Begriff der »prohairesis«. (Vgl. hierzu G. E. M. Anscombe (Thought)) Sie unterscheidet sich jedoch von der Fragestellung der Philosophischen Handlungstheorie, ob jemand bei gegebenen Prämissen handeln wird. Diese zweite Frage wird von der ersten üblicherweise abgehoben, indem von vorneherein von einer zweiten Prämisse ausgegangen wird, in der die Wahl der Handlung als bereits getroffen vorausgesetzt wird, wenn vom Glauben des Handelnden die Rede ist, er habe sich für die Handlung entschieden, die das beste Mittel für seine Zwecke darstellt. Zweitens sei vermerkt, daß die Konstruktion einer dispositionalen Handlungserklärung, mit der Hempel G. Ryle folgt, insofern zweifelhaft ist, als die Zuschreibung von Motiven und von Dispositionen Verschiedenes bedeutet: Habe ich die Absicht, einmal im Leben eine Weltreise zu machen, dann habe ich nicht die Disposition hierzu. Anders

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Der praktische Schluß als eigenständige Form der Erklärung

nach der Entscheidung zur Handlung, also die Frage der Absicht; bei der Handlungsüberlegung ist die Absicht des Betreffenden schon ausgemacht, diese Entscheidung schon gefallen. Die genannte primäre Verwendung des praktischen Schlusses ist prospektiv: Der Handelnde überlegt, bevor er handelt. Er denkt nicht über eine Ursache seiner bevorstehenden Handlung nach, derart, daß er nun die Handlung als deren Wirkung vorhersagen könnte. Dennoch weiß er, was geschehen wird, und er kann es vorhersagen, und zwar deshalb, weil er es tun wird. Eine dritte Person, welcher der praktische Schluß und die Absicht des Betreffenden vor der Handlung mitgeteilt wird, darf also ihrerseits begründet erwarten, daß dasjenige geschehen wird, was als Handlung aus dem praktischen Schluß folgt (wenn auch unter Berücksichtigung aller aufhebenden, aufschiebenden, verhindernden Faktoren, die schon Aristoteles teilweise in Betracht zieht). Doch die Begründung dieser Erwartung besteht allerdings nicht in einer Übersicht determinierender Faktoren; sie besteht im Hinweis auf die wahrheitsgemäße Äußerung der Handlungsüberlegungen durch den Handelnden. Es ist wichtig, an der Tatsache einer Vorhersage von diesem Typus festzuhalten: Denn aus ihrer Existenz folgt, daß mit der Mitteilung der Überlegung des Handelnden ein genuines Wissen vermittelt wird, ein Wissen darum, was geschehen wird. Es ist dieses Wissen, daß G. E. M. Anscombe in Anlehnung an Aristoteles als »praktische Erkenntnis« (practical knowledge) bezeichnet hat, und das unter anderem im praktischen Schluß seinen Ausdruck findet. (Vgl. G. E. M. Anscombe (Absicht), S. 90 ff.) In genau diesem Sinne läßt sich in der Retrospektive festhalten, daß die Überlegungen des Handelnden als Erklärungen bezeichnet werden dürfen. 6 Der Begriff der Erklärung ist notorisch mehrdeutig. Die verschiedenen Verwendungsweisen dieses Begriffs fügen sich insbesondere keineswegs in das Schema der deduktiv-nomologischen Erklärung. Nimmt man also die vorgefundene Vielfalt der alltäglichen und wissenschaftlichen Verwendungen zum Muster, so spricht nichts gegen das Zugeständnis, daß es sich auch beim praktischen Schluß als die Zuschreibung eines Motivs läuft die Zuschreibung einer Disposition immer darauf hinaus, ein regelmäßiges, nicht einmaliges Verhalten zu unterstellen. 6 Eine solche Erklärung ist, zumindest in einem Sinne, nämlich im ethischen, keine Rechtfertigung der Handlung. (Vgl. G. E. M. Anscombe (Absicht), S. 100 ff. für Anscombes Darlegung, inwiefern es sich beim praktischen Syllogismus nicht um einen »ethischen Schluß« handelt) A

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um einen Typus von Erklärung handelt. Es ist dann zuzugeben, daß der Begriff der Erklärung auf einer anderen Grundlage verwendet wird, daß seine Verwendung einem anderen Kriterium folgt, wenn wir ihn auf den praktischen Schluß anwenden, als wenn wir von der deduktiv-nomologischen Erklärung sprechen. Natürlich könnte der Vertreter der Verwendung von »Erklärung« nach dem Muster der deduktiv-nomologischen Erklärung sich dann entscheiden, den Begriff nur im Sinne des von ihm gewählten Musters zu verwenden; doch diese Entscheidung ist rein stipulativer Natur. Insbesondere schafft sie die Tatsache nicht aus der Welt, daß eine Antwort auf die Frage, warum das-und-das geschehen ist, wenn es sich bei diesem Geschehen um eine Handlung handelt, die Angabe der Prämissen des praktischen Schlusses nach der Art des Aristoteles ist, und daß wir uns mit dieser Antwort als einer Erklärung ebenso zufrieden geben, wie mit einer Antwort, die determinierende Faktoren im Sinne der deduktiv-nomologischen Erklärung aufführt.

1.4 Handlung und Verhalten Die auf Anscombes Rekonstruktion des Aristotelischen praktischen Schlusses folgende handlungstheoretische Diskussion ist ihr nicht darin gefolgt, daß der praktische Schluß im eigentlichen Sinne nicht schlüssig sei. Diese Debatte strebte vielmehr einem Schlußschema zu, das – in seiner einfachsten Form – als erste Prämisse einen allgemeinen Satz über den Zusammenhang von Absicht, Mittel-Zweck-Überzeugung und Handeln enthält; als zweite und dritte Prämisse die Feststellungen, daß eine Absicht und diese Überzeugung vorliegen; und schließlich die Konklusion, daß der, von dem dies ausgesagt wird, handelt. Die Vertreter der Auffassung, daß die Handlungserklärung eine Kausalerklärung sei, betrachten dabei die allgemeine Prämisse als ein Kausalgesetz; insgesamt wäre das beschriebene Schema dann das einer deduktiv-nomologischen Kausalerklärung des Handelns. 7 In diesem Schema wird – der Intention nach – gültig auf einen de-

In der Diskussion wird solch ein Kausalgesetz über den Zusammenhang von Absicht, Mittel-Zweck-Überzeugung und Handlung nach C. J. Ducasse, der dessen Notwendigkeit als erster vertreten hat, als Ducasse-Satz bezeichnet. (Vgl. etwa W. Stegmüller (Hauptströmungen II), S. 113 und C. J. Ducasse (Explanation), bes. S. 153.)

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skriptiven Satz geschlossen, der das Vorliegen der Handlung bescheinigt. In diesem Sinne wäre der praktische Schluß also doch ein theoretischer, propositionaler Schluß. Der Grund für diesen Neuansatz liegt vielleicht darin, daß eine Handlungstheorie auf der Suche nach dem allgemeinen Schema einer Handlungserklärung die eigenen Überlegungen des Handelnden nicht für den geeigneten Ausgangspunkt dieser Suche hält. Die Erklärung erfolgt vom Standpunkt der dritten Person aus; dann ist aber die Feststellung, daß jemand eine Absicht hat, notwendige Voraussetzung, die nicht, wie für den Handelnden selbst, unerwähnt bleiben darf. Für Anscombe freilich stellt dieser Ansatz nur einen Rückschritt zu jenem Mißverständnis des Praktischen als Theoretisches dar, das sie schon bei Aristoteles diagnostiziert hatte. Wenn die Pointe des Aristotelischen praktischen Schlusses darin besteht, die Überlegungen des Handelnden anzugeben, dann scheint seine Hauptschwäche unmittelbar offenzuliegen: Sie wird darin gesehen, daß mit diesem Schema keine Handlungserklärung vorliegt. Denn der Handelnde erklärt sich im Normalfall nicht selbst das eigene Handeln. Es wurde zu zeigen versucht, daß diese Analyse nur bedingt richtig ist: Die Mitteilung der praktischen Überlegungen des Handelnden ist für dritte informativ, stellt also eine Erklärung dar (und ist sogar von prognostischem Wert). Den ersten systematischen Versuch zu einer Vervollständigung des praktischen Schlusses unternimmt G. H. von Wright in Erklären und Verstehen. Er unterscheidet neben einer sogenannten Galileischen Tradition der kausalen Handlungserklärung im Sinne der causa efficiens eine Aristotelische Tradition der teleologischen Handlungserklärung im Sinne der causa finalis. Distinktives Merkmal der Kausalität im Sinne der Galileischen Tradition ist dabei die logische Unabhängigkeit von Ursache und Wirkung, so wie dies von David Hume hervorgehoben wurde. 8 Der vervollständigte praktische Schluß soll nun die teleologische Handlungserklärung wiedergeben,

8 Von Wright spricht von Kausalrelationen im Sinne Humes als von Humeschen Kausalrelationen. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 91) Im weiteren wird diesem Vorschlag von Wrights in der Weise gefolgt werden, daß die Begriffe der Ursache und Wirkung überhaupt nur im Sinne des Humeschen Kriteriums verwendet werden, freilich im Bewußtsein, daß diese Verwendung eine definitorische ist und dem Sprachgebrauch nicht entspricht (wir sagen durchaus, die Ursache einer Handlung seien die Absicht und die Mittel-Zweck-Überzeugungen des Handelnden gewesen).

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mithin eben keine Kausalerklärung im strengen Sinne einer Wirkursache liefern. 9 Von Wright identifiziert das von ihm rekonstruierte Schema im Sinne der teleologischen Tradition mit einer These, der in der gegenwärtigen handlungstheoretischen Diskussion allergrößte Bedeutung beigemessen wurde, daß es sich nämlich bei der Relation von Prämissen und Konklusion des praktischen Schlusses um eine logische Wahrheit handelt (das sogenannte Logische-Verknüpfungs-Argument (LVA)). Und zwar soll diese Relation nicht erst dann logisch wahr sein, wenn der praktische Schluß um einen allgemeinen Satz ergänzt ist, aus dem zusammen mit Anfangsbedingungen die Konklusion folgt (so wie dies ja bei jeder deduktiv-nomologischen Erklärung der Fall wäre), sondern bereits zuvor, und das heißt aus begrifflichen Gründen, weil die Konklusion nur die Definienda der in den Prämissen verwandten Begriffe entfaltet. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 91 f.) Demnach wäre es immer wahr, daß jemand so-undso handelt, wenn er die-und-die Absicht und die-und-die Überzeugung über die Ausführung der Absicht hat, und zwar deshalb, weil diese Absicht und diese Überzeugung zu haben nichts anderes bedeutet, als so zu handeln. In dieser Formulierung ist das LVA offensichtlich falsch: denn wir haben oft die-und-die Absicht und die entsprechenden Überzeugungen, ohne dann zu handeln. Daher bemüht sich nun von Wright um eine angemessenere Version, indem er das grundlegende Schema, in welchem von der Absicht und den Überzeugungen des Handelnden ausgegangen wird, unter Berücksichtigung der folgenden Momente erweitert, die zu einem gültigen Schlußschema führen sollen: 1. Der Beabsichtigende muß seine Absicht ausführen können (sonst kann man erst gar nicht sagen, er habe die Absicht, sondern allenfalls, er habe den Wunsch, daß …); 2./3. der Zeitpunkt der Ausführung muß präzisiert und aufgeführt werden, und zwar sowohl der der Handlung als auch der der Absicht; 4. der Beabsichtigende darf weder seine Absicht noch diesen Zeitpunkt vergessen; 5. er darf nicht zwischenzeitlich von der Ausführung seiner Absicht abgehalten werden. Von Wright stellt fest, daß es sich im Verständnis dessen, der die Handlungserklärung im Sinne der Galileischen Tradition als Kausalerklärung betrachtet, beim praktischen Schluß um eine »verkleidete Form einer mit dem Gesetzesschema der Erklärung übereinstimmenden deduktiv-nomologischen Erklärung« handelt; er selbst aber untersucht ein derart um einen allgemeinen Satz ergänztes Schema erst gar nicht. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 94)

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Auf diese Weise gelangt von Wright zu der folgenden »endgültigen Formulierung« des praktischen Syllogismus: »Von jetzt an beabsichtigt A, p zum Zeitpunkt t herbeizuführen. Von jetzt an glaubt A, daß er p zum Zeitpunkt t nur dann herbeiführen kann, wenn er a nicht später als zum Zeitpunkt t’ tut. Folglich macht sich A nicht später als zu dem Zeitpunkt daran, a zu tun, wo er glaubt, daß der Zeitpunkt t’ gekommen ist – es sei denn, er vergißt diesen Zeitpunkt oder er wird gehindert.« (G. H. von Wright, Erklären und Verstehen, S. 102)

Im Vergleich zu einem praktischen Schluß, der lediglich die Absicht und Überzeugung des Handelnden berücksichtigt, trägt die sogenannte endgültige Formulierung dem Umstand Rechnung, daß bei Handlungsüberlegungen das temporale Moment eine Rolle spielt: Nachdem jemand eine Absicht gefaßt hat, könnte er sie wieder ändern oder sie vergessen, ebenso auch seine Mittel-Zweck-Überzeugung; um diese Wirkung des Zeitmoments auszuschließen, fügt von Wright in den ersten beiden Prämissen eine Formulierung hinzu, die absichert, daß beides Bestand haben soll, nämlich »von jetzt an …«. Möglicherweise ist dem Handelnden bekannt, daß für seine Handlung eine zeitliche Beschränkung gilt, daß sie nach einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr ausführbar ist; dementsprechend wird er glauben, nicht später als bis zu diesem Zeitpunkt t’ handeln zu dürfen, und dieser Glaube muß in den Prämissen berücksichtigt werden. Hiermit verbindet sich erstens eine Einschätzung des Handelnden, ob dieser Zeitpunkt erreicht ist; und zweitens die Möglichkeit, diesen Zeitpunkt zu vergessen. Daher müssen auch die Überzeugung, daß der Zeitpunkt zu handeln gekommen ist, und die salvatorische Klausel, daß der Betreffende nur handelt, wenn er den Zeitpunkt nicht vergessen hat, mit in die Prämissen aufgenommen werden. Bestandteil dieser Klausel ist sodann noch ein weiterer, nicht-temporaler Faktor, daß nämlich der Betreffende nur dann handelt, wenn er an der Handlung nicht gehindert wird. Liegt mit diesem Schema der durch von Wright anvisierte gültige Schluß vor? Von Wright zieht die folgende Möglichkeit in Betracht: Jemand plant ein Attentat auf einen Tyrannen, »…der Zeitpunkt zu handeln ist für ihn gekommen. Er selbst ist dieser Ansicht. Vielleicht hatte er wirklich vor, den Tyrannen zu erschießen. Er steht vor dem Unmenschen, zielt auf ihn mit einem geladenen Revolver. Aber nichts passiert. Müssen wir sagen, daß er »gelähmt« ist? Er wird einer mediA

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zinischen Untersuchung unterzogen. Es findet sich nichts, was darauf hindeuten würde, daß er physisch daran gehindert war, seine Absicht zu verwirklichen. Müssen wir sagen, daß er seine Absicht aufgab oder daß er seine Meinung über die Erfordernisse der Situation revidierte? Er selbst weigert sich, eine dieser beiden Alternativen anzuerkennen. Müssen wir sagen, daß er lügt? Diese Fragen zielen auf die Konstruktion eines Falls ab, in dem sich die Behauptung, daß er gehindert wurde, daß er vergessen hat, auf den Zeitpunkt zu achten, oder daß er seine Absicht aufgab bzw. die Erfordernisse der Situation anders beurteilte, auf keine andere Grundlage stützen könnte, als auf die bloße Tatsache, daß er nicht in Übereinstimmung mit den Prämissen gehandelt hat. Gewiß, dies ist ein extremer Fall. Aber ich sehe nicht, weshalb er nicht vorkommen könnte … Wenn man sich einen derartigen Fall vorstellen kann, so zeigt dies, daß die Conclusio eines praktischen Schlusses nicht mit logischer Notwendigkeit aus den Prämissen folgt. Darauf zu insistieren wäre Dogmatismus.« (G. H. von Wright, Erklären und Verstehen, S. 109 f.)

Auch die »endgültige Formulierung« des praktischen Schlusses wäre demnach nicht schlüssig. Am Beispiel vom akratischen Tyrannenmörder zeigt sich für von Wright schlußendlich die Unhaltbarkeit des LVA. Ein Schema, das dem ursprünglichen LVA gerecht werden würde: wahre Prämissen bei wahrer Konklusion, ist letztlich nicht konstruierbar. 10 In anderer Form freilich hält von Wright dennoch am LVA fest: Das Verhältnis der Prämissen und der Konklusion im praktischen Schluß betrachtet er als eines der wechselseitigen Abhängigkeit ihrer Verifikationen: die Verifikation der conclusio setzt die Verifikation einer Menge von Prämissen voraus, »aus denen logisch folgt, daß das beobachtete Verhalten unter der Beschreibung, die diesem Verhalten in der conclusio gegeben wird, intentional ist. Dann können wir nicht mehr diese Prämissen bejahen und die conclusio verneinen, das heißt die Korrektheit der dem beobachteten Verhalten gegebenen Beschreibung verneinen«. Und die Verifikation der Prämissen setzt Von Wright vertritt diese Interpretation nicht mit letzter Entschiedenheit. Wenig später kommentiert er seine Deutung dahingehend, daß, wenn eine Handlung bereits vorliegt und eine praktische Argumentation zu ihrer Klärung oder Rechtfertigung konstruiert wird, sehr wohl eine logisch schlüssige Argumentation vorliege. Und er bemerkt: »Die Notwendigkeit des praktischen Schlusschemas ist, so könnte man sagen, eine ex post actu verstandene Notwendigkeit.« (G. H. von Wright (Erklären), S. 110) Ich schließe mich W. Stegmüllers Auffassung an, daß das Beispiel vom Tyrannenmörder nicht mehr und nicht weniger als die Ungültigkeit der »endgültigen Formulierung« des praktischen Schlusses zeigt, und daß die Redeweise von einer Notwendigkeit ex post actu bloße Metapher ist. (Vgl. W. Stegmüller (Probleme I), S. 490)

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die Identifikation eines bestimmten Verhaltens als intentional voraus, wobei diese Identifikation entweder durch die Prämisse selbst, oder durch irgend eine andere Menge von Prämissen, aus denen die Prämissen des betreffenden Schlusses folgen, geleistet werden kann: »In dieser wechselseitigen Abhängigkeit der Verifikation von Prämissen und der Verifikation von Konklusionen praktischer Syllogismen besteht meiner Meinung nach die Wahrheit des logischen Verknüpfungsarguments.« (G. H. von Wright, Erklären und Verstehen, S. 109)

Erst in dieser veränderten Version des LVA wird jedoch auch deutlich, daß von Wright mit seiner Untersuchung des praktischen Schlusses ein eigentümliches Anliegen verbindet: Der Sinn des ergänzten Schemas besteht darin herauszustellen, daß die Konklusion des praktischen Schlusses ein Verhalten ist, und aus den Prämissen geht hervor, daß dieses Verhalten intentional, ein Handeln ist. Man kann auch sagen: An diesem praktischen Schluß ist derjenige interessiert, der einen ganz bestimmten Zweifel hat, ob nämlich jene merkwürdigen Bewegungen, die jemand vor seinen Augen vollführt, im Dienste einer Absicht des Betreffenden vollzogen werden. Und man darf vielleicht anmerken, daß dieser Zweifel im Zusammenhang mit Handlungen nicht allzu häufig auftritt; üblicherweise nehmen wir nicht zunächst ein Verhalten wahr, das wir dann als ein Handeln deuten; wir bewegen uns in der uns vertrauten Lebenswelt, wenn wir es also nicht mit einer fremden Lebensform zu tun haben, in einer Umwelt von Handlungen; und in den meisten Fällen steht der Handlungscharakter dessen, was wir wahrnehmen, im Kontext der normalen Umstände völlig außer Frage (man denke etwa an einen Zug im Schachspiel). Gewiß gilt aber, daß das Interesse von Wrights am praktischen Syllogismus als einem Instrument zur Aufklärung dieses Zweifels nicht mit dem Interesse derjenigen identisch ist, die den praktischen Schluß als eine Art der deduktiv-nomologischen Erklärung sehen wollen. Von Wright betrachtet den praktischen Schluß mit seinen Prämissen als eine Erklärung im Sinne einer Deutung: Vor Augen steht ihm, daß das betreffende Geschehen auch als bloßes Verhalten gedeutet werden könnte. Das deduktiv-nomologische Interesse am praktischen Schluß besteht aber an einem anderen Explanandum, von dem man sagen könnte, daß es von vorneherein als Handlung beschrieben ist. Im einen Fall kann man fragen: Wann ist ein Geschehen eine Handlung? Im anderen: Welches ist die Summe der Bedingungen für das Eintreten von p, A

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wobei p jene Handlung ist, die durch die Konklusion des praktischen Schlusses »p« beschrieben wird. Nach der Auffassung Wolfgang Stegmüllers scheitert von Wright – wie sich an der merkwürdigen Vorstellung einer Notwendigkeit ex post actu zeigt – an einem Mißverständnis, wenn er nach einer logisch gültigen Version des praktischen Schlusses sucht. Denn die Frage der logischen Gültigkeit stellt sich zwar im Falle der deduktiv-nomologischen Kausalerklärung; sie stellt sich jedoch nicht im Falle einer Erklärung im ganz anderen Sinne, nämlich derjenigen für ein uns als rätselhaft erscheinendes Verhalten. Von Wright hat sein Unternehmen später weiter verfolgt und herausgearbeitet, daß seine besondere Frage durch den Verweis beantwortet wird, daß das als intentional zu erweisende Verhalten bestimmten Verpflichtungen und Präferenzen des Handelnden folgt. 11 Doch dieser Hinweis auf den Sinn eines Verhalten im Lichte einer bestimmten Werteordnung ist von ganz anderer Art als der Hinweis auf antezedente Bedingungen. Wenn er also auch im Falle dieser Erklärungen nach logischer Gültigkeit sucht, dann nur deshalb, weil er alle Erklärungen für Argumente, und das heißt für logische Schlüsse hält und damit irrigerweise der deduktiv-nomologischen Kausalerklärung als einem allgemein gültigen Vorbild folgt. Doch der Begriff der Erklärung ist nach Art einer Familie gestaltet: Erklärungen haben Ähnlichkeit miteinander, es ist ihnen nicht allen eine einzelne Eigenschaft gemeinsam, die sie entscheidend in ihrer Zugehörigkeit zum Begriff »Erklärung« kennzeichnen würde. Und auch das Merkmal der logischen Gültigkeit spielt nicht die Rolle eines solchen Kriteriums. Das Vorurteil eines argumentativen praktischen Schlusses muß also preisgegeben werden. Es eröffnet sich dann die Möglichkeit, ein Erklären eigener Art anzuerkennen, von dem Stegmüller als einem verstehenden Erklären spricht: Wird etwas in diesem eigenen Sinne verstanden, dann immer ein als seltsam oder rätselhaft erscheinendes Verhalten. Es sollte verdeutlicht werden, daß mit von Wrights Formulierung des praktischen Schlusses nach dem originär Aristotelischen Schema und nach dem deontischen Schema Anscombes ein weiteres Allerdings wurde bereits darauf verwiesen, daß er auch schon in Erklären und Verstehen bemerkt, S. 173, Fußnote 333, daß »der echt ›praktische Schluß‹ … eine Verpflichtung zu einer Handlung genannt werden könnte« [Hervorhebung T. K.]. (Vgl. auch ders. (Reply), S. 281)

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Die Handlungserklärung als singuläre Kausalerklärung

Erklärungsschema vorliegt, das durchaus seine Berechtigung hat. Es bezieht sein Recht aus der Verwendung als Erläuterung der Intentionalität von Verhalten. Aus eben diesem Grunde ist aber auch klar, daß die gesuchte Kausalerklärung noch nicht gefunden ist, denn eine Sinnerklärung kann diese Kausalerklärung nicht sein. Dennoch läßt sich festhalten, daß mit von Wrights Versuch zur Ergänzung des praktischen Schlusschemas ein Schritt hin zur Kausalerklärung vollzogen wäre, wenn denn der praktische Schluß eine solche sein sollte; denn für diese müßte allerdings gelten, daß sie die Bedingung der Schlüssigkeit erfüllt – während Stegmüller zuzustimmen ist, daß die Forderung, die Deutung von Verhalten als Handeln müsse diese Bedingung erfüllen, ein Mißverständnis darstellt.

1.5 Die Handlungserklärung als singuläre Kausalerklärung Ausgangspunkt für die Entwicklung der Handlungserklärung als einer kausalen Erklärung ist ein Vorschlag Donald Davidsons 12 : Eine Handlung wird durch Gründe erklärt, und diese Gründe sind die Ursache der Handlung. Im einzelnen nehmen die Prämissen dieser Erklärung die folgende Form an: Immer dann, wenn jemand etwas aus einem Grunde tut, hat er eine positive Haltung (pro attitude) gegenüber Handlungen einer bestimmten Art; und er weiß oder glaubt oder erinnert o. ä. dann, daß seine Handlung von dieser Art ist. Beides gemeinsam, positive Haltung und Überzeugung, bezeichnet Davidson als den »primären Grund« (primary reason) der Handlung. Demnach werden Handlungen kausal erklärt, und die Ursache einer Handlung ist ihr primärer Grund. Im Vergleich zu dem, was oben als die in der handlungstheoretischen Diskussion angestrebte Version einer deduktiv-nomologischen kausalen Handlungserklärung bezeichnet wurde, fällt bei dem von Davidson vorgeschlagenen Schema zweierlei ins Auge: 1. Von einer handlungsverursachenden Absicht ist in ihm zunächst noch gar nicht die Rede. Anstelle der gesuchten Absicht findet sich unter den Vorbedingungen der Handlung bei Davidson eine »positive Haltung«. Donald Davidson nennt die Kausaltheorie das »althergebrachte und zugleich alltägliche Verständnis« der Handlungserklärung (vgl. Donald Davidson (Handlungen), S. 3 und Fußnote 1), von dem sich jüngere Auffassungen, darunter diejenige Anscombes, unnötigerweise entfernt hätten.

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Diese kann in vielfacher Weise inhaltlich näher bestimmt werden: Sie kann ein Begehren oder ein Wollen (wanting) sein, ein Drang oder ein Reiz, eine Vielfalt moralischer Sichtweisen, ästhetischer Prinzipien, ökonomischer Vorurteile, gesellschaftlicher Konventionen, öffentlicher und privater Ziele und Werte. Mit diesen positiven Haltungen setzt er nun den Begriff der Absicht in Bezug: Es sei nicht abwegig, den Begriff des Wollens (wanting) als den Oberbegriff aufzufassen, der alle positiven Haltungen als Unterbegriffe umfaßt. Und die Minimalinformation, die die Mitteilung enthält, daß man etwas gewollt habe, sei, daß man es absichtlich getan habe – Minimalinformation im Vergleich zur umfassenderen, man habe es mit einer weiteren Absicht getan: »Warum hast du das Licht angeknipst?«, »Nun, ich wollte es eben«, im Vergleich zu: »Ich wollte nachsehen, wer in dem Zimmer ist.« Und ganz allgemein gilt, daß die Kenntnis eines primären Grundes die Kenntnis der Absicht bedeutet, mit der die Handlung vollzogen wurde. 13 Auch schon bei Davidson spielt also die Absicht des Handelnden bei der Erklärung seiner Handlung eine Rolle. Alle positiven Handlungen sind ein Wollen, sofern sie zum Handeln führen, und selbst im einfachsten Fall, in welchem keine ferneren Ziele mit ins Spiel kommen, verweist dies Wollen auf eine Absicht. 2. In den Prämissen des Schemas fehlt jeder Hinweis auf ein Kausalgesetz; Davidsons Erklärung ist eine singuläre Kausalerklärung, die Handlung wird durch den Verweis auf ein Einzelereignis geliefert, das als Ursache bezeichnet ist. Die Frage, die sich dann stellt, wirft er selbst auf: Wie ist es möglich, daß mit diesem Schema eine Erklärung vorliegt, »da ihm doch das erforderliche Element der Allgemeinheit zu fehlen scheint« (D. Davidson (Handlungen), S. 22). Davidsons Schlußschema enthält keine allgemeine Aussage, aus der Vgl. D. Davidson (Handlungen), S. 27; allerdings erschöpft die Kenntnis der Absicht nicht die des Primärgrundes, dessen Beschreibung über die Angabe der Absicht hinausreichen kann; ja, ein Ausdruck wie »die Absicht, mit der ich Wasser in den Topf fülle« leitet gerade über zu einer vollständigeren Beschreibung »… lautet, daß ich Tee kochen will«; dieser Ausdruck hat die äußere Form einer Beschreibung, ist jedoch synkategorematisch und hat im Kontext die Funktion, neue, umfassendere Beschreibungen zu erzeugen. Später subsumiert Davidson Beabsichtigen und Wollen unter die positiven Haltungen, wobei Beabsichtigen sich von Wollen und Wünschen darin unterscheidet, daß letztere nicht zum Handeln führen müssen, da etwas Wünschenswertes gleichwohl nicht verwirklicht werden muß (es kann ja auch das Gegenteil wünschenswert sein). (Vgl. D. Davidson (Beabsichtigen), S. 146 f. und 151 f.)

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Die Handlungserklärung als singuläre Kausalerklärung

sich die Konklusion deduktiv ableiten ließe. Im Licht späterer Überlegungen stellt sich die Situation noch schwieriger dar: In aufeinander folgenden Untersuchungen bestreitet Davidson überhaupt die Möglichkeit des Bestehens psychologischer und psychophysischer Gesetze. 14 Da es sich nun bei diesem postulierten Kausalzusammenhang von Primärgrund und Handlung um einen psychophysischen Zusammenhang handelt, läuft seine These darauf hinaus, daß dieser Zusammenhang nicht nur kein nomologischer ist, wie dem Schema ja abgelesen werden kann, sondern auch nicht sein darf. Doch dies Verbot steht wiederum in Widerspruch zu einer weit verbreiteten Theorie der Kausalität, der zufolge singuläre Kausalbehauptungen deshalb Erklärungskraft besitzen, weil sie auf allgemeine, auf Kausalgesetze zurückführbar sind. Davidson löst dies Dilemma durch ein zweiteiliges Argument. (Vgl. D. Davidson (Handlungen), S. 36 ff.) Erstens hebt er hervor, daß die Geltung der singulären Kausalerklärung nicht davon abhängt, ob ein prognostisches Gesetz bereits verfügbar ist oder nicht. Zurecht sind wir uns oft einer singulären Kausalerklärung völlig sicher, ohne über ein solches Gesetz zu verfügen. Manchmal sind wir im Stande, die singulären Kausalerklärungen zu verallgemeinern, und diese Verallgemeinerung liefert uns vielleicht ein Indiz für die Existenz eines Gesetzes, doch das muß nicht so sein: Wir sind uns völlig sicher, daß das Wasser im Topf siedet, weil vor einigen Minuten die Herdplatte angestellt wurde – obwohl es darüber keine Gesetze gibt; doch die Erfahrung mit Wassertöpfen und Herdplatten kann verallgemeinert werden; und diese Verallgemeinerung liefert einen Grund für die Annahme, daß es ein Gesetz gibt, welches die Kausalerklärung rechtfertigt. Zweitens stellt Davidson fest, daß jenes zuweilen nicht einmal verfügbare Gesetz keineswegs in den Begriffen verfaßt sein muß, die Teil der singulären Kausalerklärung sind. Erforderlich ist nur eines: daß immer dort, wo eine singuläre Kausalerklärung abgegeben wird, ein Gesetz herrscht, aus dem eine singuläre Kausalerklärung folgt, deren Termini dieselben Ereignisse beschreiben, denen auch die Beschreibungen der ursprünglichen singulären Kausalerklärung gelten. So ist etwa die Erklärung für das Sieden des Wassers gültig, weil es eine der statistischen Thermodynamik entstammende Erklärung über die Bewegungen von MoleküSo zuerst 1970 in (Ereignisse) und sodann in (Psychologie). Vgl. für eine Darlegung von Davidsons »Anomalismus des Geistigen«: J. Kim (Gesetze).

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len gibt. Und singuläre Handlungserklärungen aus Primärgründen sind deshalb gültig, weil es Gesetze gibt, aus denen Beschreibungen abgeleitet werden können, in die ganz andere Termini als »Handlung« und »Grund« eingehen, zum Beispiel neurologische, chemische oder physikalische. In Davidsons kausalen Handlungserklärungen aus Primärgründen gibt es also keine Absichten als determinierende Faktoren, doch es liegen immer dort Absichten vor, wo Primärgründe Handlungen verursachen. Und diese Erklärungen sind nicht deduktiv-nomologisch; doch wenn sie gelten – und wir sind uns ja ihrer Geltung gewiß – dann gibt es Gesetze, aus denen andere Beschreibungen eben jenes Geschehens abgeleitet werden können, welches wir zunächst als Handlung beschrieben hatten. Vielleicht sind Davidsons Auffassungen deshalb nicht weiter verfolgt worden, weil er selbst sie mehrfach als unvollständig und unbefriedigend charakterisiert hat. 15 Dem Interesse an einer Kausalerklärung des Handelns hat jedoch Davidsons Selbstkritik keinen Abbruch getan.

Eine vollständige Handlungserklärung in Davidsons Sinn müßte angeben, auf welche Weise genau Primärgründe Handlungen verursachen, denn sie müssen dies auf die richtige Weise tun, wie das folgende von Davidson zitierte Beispiel D. Bennetts zeigt: »Ein Mann versucht … einen anderen zu töten, indem er auf ihn schießt. Nehmen wir an, der Schütze verfehlt sein Opfer meilenweit, doch der Schuß schreckt eine Herde Wildschweine auf, die das beabsichtigte Opfer zu Tode trampeln. Wollen wir sagen, der Mann habe sein Opfer absichtlich getötet? Der springende Punkt ist, daß nicht jeder beliebige kausale Zusammenhang zwischen rationalisierenden Einstellungen und gewollter Wirkung genügt, um zu gewährleisten, daß die Herbeiführung der gewünschten Wirkung absichtlich war. Die Kausalkette muß auch in der richtigen Weise verlaufen.« Und er fährt fort: »Ich halte es für aussichtslos, im einzelnen angeben zu wollen, in welcher Weise Handlungen durch Einstellungen bewirkt werden müssen, damit die Handlung durch sie rationalisiert wird.« (D. Davidson (Handlungsfreiheit), S. 120 und 121) Auf diese Bemerkung folgt Davidsons eigenes, berühmtes »Bergsteigerbeispiel«: Ein Bergsteiger hält einen anderen am Seil, den er töten will; über diese seine eigene Absicht erschreckt er so sehr, daß er losläßt, mit der Folge, daß der andere abstürzt und umkommt. Davidsons Programm scheitert also am sogenannten Problem der »abwegigen oder verrückten Kausalketten« (wayward causation). (Vgl. hierzu auch J. Connolly u. T. Keutner, »Ein Wissen, das kein Licht ist«, Einführung zu G. E. M. Anscombe, Absicht, bes. S. LIII ff.)

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Die deduktiv-nomologische Kausalerklärung des Handelns

1.6 Die deduktiv-nomologische Kausalerklärung des Handelns Die voll entwickelte Version einer kausalen Handlungserklärung stammt von Paul M. Churchland. Dieser verfolgt das Ziel darzulegen, daß Handlungserklärungen tatsächlich Kausalerklärungen von deduktiv-nomologischer Form sind, und insofern schreitet er auf dem von Davidson gewiesenen Wege fort. Er wirft ihm jedoch vor, sich in nur ganz vorläufiger und eingeschränkter Weise darüber geäußert zu haben, welche gesetzesartigen Verbindungen in einer Handlungserklärung möglich und wahrscheinlich sind. Als Ziel dieses Vorwurfs ist unschwer Davidsons Einschränkung zu erkennen, daß wir möglicherweise erst in Zukunft jene Gesetze finden werden, welche die singuläre Handlungserklärung deutlich ablesbar zu einer formal gültigen, nomologischen Erklärung machen. Diesem Mangel möchte Churchland abhelfen und »versuchen zu zeigen, daß es einige ziemlich raffinierte gesetzesartige Prinzipien oder ›Gesetze‹ gibt, die speziell von unseren gewöhnlichen Handlungserklärungen vorausgesetzt werden, und daß eine Vielfalt interessanter Merkmale von Handlungserklärungen klar verständlich wird, wenn diese Hintergrundstruktur ans Licht gebracht worden ist.« (P. M. Churchland, »Der logische Status von Handlungserklärungen«, S. 305)

In einer Reihe von Schritten gelangt Churchland zu dem folgenden Prinzip: »L1: LXL1LH (Wenn gilt: (1) X will 1; (2) X glaubt, daß der Vollzug von H unter den gegebenen Umständen für ihn ein Mittel sei, um 1 zu erreichen; (3) es gibt keine Handlung, von der X glaubt, daß er mit ihr 1 erreichen würde, und für die er eine wenigstens gleichermaßen große Präferenz hat wie für H; (4) X hat keinen anderen Wunsch (bzw. keine anderen Wünsche), der ihn unter den gegebenen Umständen von seinem Wunsch 1 abbringt; (5) X weiß, wie man H tut; (6) X ist in der Lage H zu tun; so gilt: (7) X tut H.)« (P. M. Churchland, »Der logische Status von Handlungserklärungen«, S. 313)

Demzufolge wird eine Handlung durch Rekurs auf ein gesetzesartiges Prinzip L1 erklärt, welches besagt, daß jemand dann eine bestimmte Handlung vollzieht, wenn er etwas Bestimmtes will, wenn A

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die Handlung das Mittel seiner Wahl ist, um dieses Ziel zu erreichen (2 u. 3), wenn er nichts anderes mehr als dieses will (4), wenn er über die Kompetenz zu der betreffenden Handlung verfügt (5), und wenn die Situation so beschaffen ist, daß er entsprechend handeln kann (6). 16 Eine weitere Entwicklung des Schemas stammt von Raimo Tuomela: “(P1) A beabsichtigt, zum Zeitpunkt t einen bestimmten Zustand E herbeizuführen. (P2) A überlegt, daß er E zum Zeitpunkt t nur herbeiführen kann, wenn er X nicht später als zum Zeitpunkt t’ (t’ < t) tut. (P3) Es bestehen Normalbedingungen: 1. A weiß, wie man X tut; 2. Die besonderen Situationszustände lassen es zu, daß A X tut; 4. A wird nicht daran gehindert, X zu tun; 3. X handelt rational: a) X hat seine Absicht und seine Überlegung nicht vergessen; b) X hat seine Absicht und seine Überlegung nicht geändert; c) X ist nicht emotional oder physisch gestört; d) X hat den ins Auge gefassten Zeitpunkt nicht vergessen und irrt sich auch nicht in der Wahl dieses Zeitpunkts; (P4) Immer wenn A beabsichtigt, E zum Zeitpunkt t herbeizuführen und überlegt, daß es hierfür notwendig ist, X nicht später als zum Zeitpunkt t’ zu tun, und wenn Normalbedingungen bestehen, dann wird A X nicht später als zu jenem Zeitpunkt tun, den er für den Zeitpunkt t’ hält. (K) A schickt sich an, X nicht später als zu jenem Zeitpunkt zu tun, den er für den Zeitpunkt t’ hält. Tuomela schließt sich also Churchland in der Auffassung an, daß die Schlüssigkeit des praktischen Schlusses durch die Ergänzung um einen allgemeinen Satz (P4) abgesichert werden muß. Von ihm übernimmt er auch die Vorstellung, daß in die Prämissen praktischer Schlüsse Handlungspräferenzen eingehen müssen. Diese Auffassung schlägt sich jedoch in seinem Schema nicht nieder. Eine derartige Ergänzung würde auf die Hinzufügung der weiteren Prämissen hinauslaufen, daß ein Handelnder kein wichtigeres Ziel als das bereits erwähnte im Auge hat, und daß er keine weitere Handlung als ebenfalls notwendig betrachtet, um sein Ziel zu erreichen. (Vgl. R. Tuomela (Erklären), S. 49) Diese entscheidungstheoretische Einbettung der handlungstheoretischen Problematik wurde oben bereits kommentiert. (Vgl. oben, S. 32, Fußnote 5) Von besonderer Bedeutung für das Verständnis des Schlußschemas von Tuomela ist jedoch die Bedingung P3, die das Bestehen von »Normalbedingungen« zwischen dem gegenwärtigen Zeitpunkt, zu dem die Absicht gefaßt wird, und dem künftigen, zu dem gehandelt wird, feststellt. Die Feststellung der Normalbedingungen ist so etwas wie eine Newtonsche Störungstheorie des Handelns: Sie enthält die von von Wright her bekannte Klausel, daß der, von dem die Rede ist, den Zeitpunkt, zu dem er handeln wollte, nicht vergißt, und daß er nicht am Handeln gehindert wird. Sie enthält aber auch eine Bestimmung, der zufolge der Überlegende sich rational verhalten muß, damit die Konklusion des praktischen Schlusses schlüssig folgt. Dies ist dann der Fall, wenn der Handelnde sich dann auch tatsächlich im Sinne dessen verhält, was er weiß, und was er physisch und psychisch zu leisten vermag. (Tuomela vergleicht diese Differenz von Kenntnissen 16

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Churchland erarbeitet dies Schema für jene Fälle, in denen jemand handelt, weil er etwas wünscht. Jedoch hält er diese Fälle mit jenen für material äquivalent, in denen aus einer Absicht gehandelt wurde; dort, wo bei einer Handlung aus Absicht das Vorliegen des Wunsches bestritten wird – der Bankdirektor öffnet dem Einbrecher angesichts der gezückten Waffe den Geldschrank, obwohl er sein Geld gerne behalten würde –, zeigt dies nur, daß dieser Wunsch schwächer als ein anderer war, nämlich der, zu überleben. Mit der Feststellung dieser Äquivalenz soll nun die gesuchte deduktiv-nomologische Handlungserklärung vorliegen, und zwar unter Verwendung eines allgemeinen Gesetzes, nomologischen Prinzips über den Zusammenhang von Absicht, Überzeugung und Handlung. Hierbei ist dies Prinzip Churchlands Intention nach gerade solch ein psychologisches Gesetz, dessen Möglichkeit Davidson bestritten hatte, weshalb er denn den Nachweis der Geltung der Handlungserklärung, auch wenn er deren Geltung für unzweifelhaft erklärt hatte, oder Fähigkeiten einerseits und deren Anwendung oder Ausübung andererseits mit der von sprachlicher Kompetenz und Performanz.) Der Handelnde verhält sich irrational, sofern er in der Anwendung oder Ausübung gestört wird, etwa durch einen »augenblicklichen Gefühlszustand« oder einen »eventuellen Ödipuskomplex« oder ganz einfach, indem er sich in seinem Handlungskalkül irrt. (Vgl. R. Tuomela (Erklären), S. 50) Wie sich zeigen wird, unterscheidet sich Tuomelas Begriff der Rationalität von demjenigen Churchlands, mithilfe dessen dieser das »Akrasieproblem« lösen will. Das sogenannte Akrasieproblem bleibt in der Form, in der es durch von Wright aufgeworfen worden war, auch nach Ergänzung der Normalbedingungen bestehen. (Vgl. hierzu Tuomela (Action), S. 188 ff.) Seine Ausarbeitung des Schemas des praktischen Schlusses betrachtet nun Tuomela jedoch nicht einfach als die gesuchte deduktiv-nomologische Erklärung, um die es Churchland zu tun gewesen war. Vielmehr versteht Tuomela das vervollständigte Schema als eine »begriffliche (conceptual) Wahrheit über den Begriff des Beabsichtigens«, und zwar im Rahmen einer Auffassung vom Menschen, die diesen, im Gegensatz zu Tieren und Pflanzen, als ein handelndes Wesen versteht. Als Schema, das die Bedeutung des Begriffs »Absicht« zum Ausdruck bringt, hält Tuomela es für schlüssig und logisch gültig. (Dies ist vermutlich dann der Fall, wenn die Bedeutung des in Frage stehenden Begriffs tatsächlich richtig wiedergegeben wird.) Tuomela hatte schon den unvollständigen praktischen Schluß, in dem es um Ziele und die Überlegungen des Handelnden geht, als logisch gültig bezeichnet. (Vgl. R. Tuomela (Action), S. 170) Durch die Ergänzung um P4 wird der deskriptive praktische Schluß in einen theoretischen Schluß überführt. Im theoretischen Schluß geht es nicht um die Zwecke, Überzeugungen und Handlungen des Handelnden, sondern um Propositionen und die Beziehungen zwischen Propositionen, daher um die Inhalte propositionaler Einstellungen. Das heißt aber auch, daß der theoretische Schluß derjenige Schluß ist, bei dem wir uns recht eigentlich mit der Frage der Schlüssigkeit auseinandersetzen. A

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auf unbestimmte Zeit hatte aufschieben wollen. Mit Churchlands Schema würde dieser Nachweis jetzt vorliegen. Und im Gegensatz zu Anscombes praktischem Schluß handelt es sich bei diesem Schema um das einer genuinen Handlungserklärung: Es gibt nicht mehr die Überlegung des Handelnden wieder, sondern impliziert eine Handlungsbeschreibung in der dritten Person; es ist nicht mehr auf den Handelnden angewiesen, dessen Überlegung beim Handeln rekonstruiert wird, um den Hiat zwischen Prämissen und Handlung zu überwinden – die Handlungsbeschreibung folgt vielmehr aus den Prämissen: sind diese wahr, dann ist auch wahr, daß die Person handelt; dementsprechend folgt als Konklusion kein fiat, das wieder vor der Handlung stehen bleiben würde, sondern eine Proposition, die das Vorliegen der Handlung konstatiert. 17 Churchland diskutiert nun einen möglichen Einwand, der sich gegen sein Schema und dessen Anwendung erheben ließe, und der das soeben gezogene Resümee erschüttern könnte: Wäre es nicht denkbar, daß alle Prämissen des Schemas auf eine Person zutreffen, und daß die Person dann dennoch nicht handelt; Churchland nennt dies – von Wrights Beispiel vom »Tyrannenmörder« – einen Fall von Akrasie; L1 könnte dann nur durch einen Schachzug gerettet werden, nämlich durch die Ergänzung um eine weitere Prämisse des Inhalts, daß der, von dem die Prämissen ausgesagt werden, völlig rational sei. (Vgl. P. M. Churchland (Status), S. 315) Das heißt: Es ist irrational, etwas zu wollen, eine bestimmte Handlungsweise als das rechte Mittel zu betrachten usw., und dann nicht zu handeln – und daher wäre der Fall der Akrasie durch die Rationalitätsbedingung ausgeschlossen. Doch hier sei gegenüber Churchlands Konstruktion von L1 ein Einwand vorgebracht. Der Einwand besagt, daß Churchlands Vorgehensweise auf ein Immunisierungsverfahren hinausläuft. Man betrachte noch einmal die Konstruktion von L1! Churchland gewinnt L1 durch die Berücksichtigung jener im Alltagsleben vorkommenden, fraglos angemessenen Einwände – wie er sagt –, denen unsere üblichen Handlungserklärungen von der Form »X hat H getan, weil er 1 wollte« ausgesetzt sind. (Vgl. P. Churchland (StaChurchland knüpft bei Davidsons Thesen an, während Anscombes Theorie bei ihm keine Berücksichtigung findet. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß besonders die Ergänzung des praktischen Schlusses zu einem logischen Schluß sein wesentliches Anliegen darstellt.

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tus), S. 305 ff.) Um dies genau zu verstehen, stelle man sich eine Generalisierung dieser Handlungserklärung vor, und zwar L0: »Immer wenn jemand 1 will, wird er H tun«. Ein erster Einwand gegen L0 könnte lauten, L0 sei falsch, weil X 1 gewollt, aber I getan habe, und nicht H, und zwar deshalb, weil er H nicht für eine taugliche Handlung zum Erreichen von 1 hielt. Dies zunächst als Einwand auftretende Argument kann in der Weise zur Konstruktion eines Gesetzes verwandt werden, daß die Überzeugung von der Tauglichkeit als Mittel zum Zweck zur Präzisierung von L0 verwandt wird. X wird demnach immer dann H tun, wenn er 1 will, sofern er H als hinreichend für das Erreichen von 1 betrachtet. Auf diese Weise wird aus dem ursprünglichen Einwand gegen L0 der Teil einer präzisierten Version: L0’: »Immer wenn jemand 1 will, wird er H tun, sofern er H für hinreichend zum Erreichen von 1 hält.« Man betrachte einen nächsten Schritt! Die generalisierte Erklärung lautet L0’, zusammen mit den Anfangsbedingungen, daß X 1 will und H für hinreichend hält; es wird der Einwand vorgebracht, daß L0’ falsch sei, weil X nicht H sondern I getan habe, und zwar deshalb, weil er sowohl H als auch I für hinreichend hält, jedoch eine Präferenz für I hat. Wieder wird der Einwand in eine Präzisierung der Verallgemeinerung ungemünzt, die jetzt lautet: L0’’: »Immer wenn jemand 1 will, wird er H tun, sofern er H für hinreichend zum Erreichen von 1 hält und sofern er H gegenüber allen alternativen Handlungen präferiert.« Die weiteren, oben erwähnten Teile von L1 beruhen ebenfalls alle in derselben Weise auf der Berücksichtigung von Einwänden, die gegen Versionen von L0 vorgebracht werden könnten. Und nun betrachte man noch einmal den letzten Einwand, den Churchland als einen solchen gegen L1 formuliert! Auch hier verfährt er in derselben Weise. Offenbar ist es so, daß Churchland seine Konstruktionsstrategie konsequent verfolgt, die besagt, daß jeder Einwand zur Präzisierung von L verwandt werden soll: Keinem Einwand wird in der Weise stattgegeben, daß in Erwägung gezogen würde, L0 (als Bestandteil einer wie auch immer präzisierten Version von L) zurückzuziehen. Das heißt aber dann, daß das Konstruktionsverfahren für ein empirisches Gesetz in ein Immunisierungsverfahren von L0 umschlägt: Ein Satz, gegen den nichts gelten dürfen soll, A

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komme was da mag, ist kein Gesetz; wenn keine Erfahrung ihm widersprechen kann, dann besagt er auch nichts über die Erfahrung. Aus dieser Kritik folgt nun aber nicht etwa die Empfehlung an Churchland, anders zu verfahren und L0 anläßlich eines beliebigen Einwandes zurückzuziehen. Die Kritik besagt vielmehr, daß Churchland, wenn er sein Verfahren in der angegebenen Weise als »Strategie zur Aussonderung eines Gesetzes« ausgibt, sich selbst mißversteht: Er immunisiert L0, und dafür gibt es gute Gründe – es besteht tatsächlich ein tiefwurzelnder Zusammenhang zwischen Absicht und Handlung; doch dieser Zusammenhang ist kein erfahrungsmäßiger. Churchland, so lautet das hier vorgebrachte Gegenargument, steht vor einem typisch philosophischen Problem: Bestimmte Aussagen erscheinen als unumstößliche Erfahrungsaussagen, als Einsichten in essentielle Erfahrungszusammenhänge. Doch der Schein trügt: Wer an einer derartigen Einsicht festhält, beharrt deshalb auf einem Zusammenhang, weil in diesem ein semantisches Prinzip, ein Bedeutungszusammenhang zum Ausdruck kommt: Churchland besteht nicht deshalb darauf, daß jemand, der 1 will, immer H tut, weil er etwa entdeckt hätte (oder ihm beigebracht worden wäre), daß auf diese Absicht immer diese Handlung folgte; sondern weil man nicht erklären kann, was es heißen soll, 1 zu wollen, ohne auf die entsprechende Handlung zu verweisen. Man erklärt die Bedeutung von »1 wollen«, indem man beschreibt, was es heißt, H zu tun. Und die Bedeutung von »1 wollen« wird auf diese Weise angegeben, obwohl auf diese Absicht nicht immer H folgt. Churchland gibt nun diesem Gegenargument teilweise Raum; er gesteht zu, es sei »schwierig, vielleicht sogar unmöglich, L1 zu bestreiten, ohne die begriffliche Maschinerie zu unterminieren, die solch ein Verständnis ermöglicht, oder, besser, konstituiert« (P. M. Churchland (Status), S. 317); doch hieraus dürfe nicht die falsche Konsequenz gezogen werden, L1 sei »rundweg analytisch«; vielmehr soll L1 dennoch ein nomologisches Prinzip sein: »Wir können zugestehen, daß die Verwerfung von L1 eine tiefgreifende begriffliche Veränderung bedeuten würde; aber begriffliche Veränderung ist ein Charakteristikum für theoretische Veränderung, und der L1 zugesprochene Status ist der eines theoretischen, nomologischen Prinzips.« (P. M. Churchland, »Der logische Status von Handlungserklärungen«, S. 318)

Demzufolge wäre Analytizität, offenbar im Sinne einer graduellen Immunisierung, generell eine Eigenart »tief verankerter theoreti50

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scher, nomologischer Prinzipien«, und gerade so lautet auch Churchlands Schluß, wenn er z. B. darauf hinweist, daß die Verwerfung des Prinzips von der Masse-Energie-Erhaltung »im begrifflichen Rahmen der modernen Physik eine ähnliche Verwüstung (heraufbeschwören)« würde (P. M. Churchland (Status), S. 317 f.). Seine Strategie der Immunisierung von L1 verteidigt er also durch den Verweis auf die Naturwissenschaften, in denen ähnlich verfahren werde, ohne dem Verdacht der empirischen Gehaltlosigkeit ausgesetzt zu sein. Man beachte, daß diese Verteidigung von L1 nur unter einer ganz bestimmten Voraussetzung möglich ist, daß es sich nämlich bei L1 um einen theoretischen Satz nach Art jener naturwissenschaftlichen Gesetze und Prinzipien handelt, mit denen er hier verglichen wird. Diese Theorie der Theoretizität des Alltagsverstandes (die sogenannte theory-theory) lautet, daß Absichten, Wünsche, Überzeugungen als theoretische Entitäten nach Art von Quarks oder den Sphären der ptolomäischen und kopernikanischen Astronomie ihre Existenzberechtigung durch den Erfolg bei der Erklärung von Phänomenen im Kontext einer umfassenderen Theorie zu erweisen hätten. Doch selbst wenn man die Richtigkeit der Theoretizitätstheorie um des Arguments willen zugesteht, ist Churchlands Gedankengang in »Der logische Status von Handlungserklärungen« aus sich selbst heraus nicht klar nachvollziehbar. Die entscheidende Frage scheint doch zu lauten: Ist nun L1 analytisch oder synthetisch? Und wenn analytisch, wie kann es dann jenes Gesetz sein, das als Prämisse der kausalen Handlungserklärung notwendig wäre? Hier möge ein Blick auf Überlegungen von Ch. S. Chihara und J. A. Fodor weiterhelfen, denen Churchland bei seiner Verteidigung von L1 folgt. In »Operationalismus und normale Sprache: Eine Wittgenstein-Kritik« skizzieren die beiden Autoren eine Alternative zu Wittgensteins Unterscheidung des Begriffs eines Kriteriums von dem eines Symptoms. 18 Vgl. dieselben (Operationalismus), S. 250 ff. Beide Begriffe beziehen sich bei Wittgenstein auf die Rechtfertigung von Behauptungen. So kann die psychologische Behauptung »X hat Zahnschmerzen« durch die Angabe des Kriteriums für Zahnschmerzen gerechtfertigt werden; die Berechtigung der Behauptung ergibt sich dann aus dem, was wir über die Bedeutung von »Zahnschmerzen« gelernt haben. Dies Kriterium könnte z. B. in einer bestimmten Verhaltensweise bestehen, daß sich etwa jemand, der Zahnschmerzen hat, die Backe hält. Hingegen beruht die Berechtigung der Behauptung durch den Hinweis auf ein Sym-

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Nach Chihara und Fodor entstehen aus dieser Unterscheidung gewisse Schwierigkeiten und Unplausibilitäten, die die Entwicklung alternativer Sichtweisen wünschenswert machen. Eine solche Alternative schlagen sie vor: Die Behauptung etwa von der Existenz eines geladenen Teilchens wird nicht aufgrund einer Spur in der Wilsonschen Nebelkammer für sich belegt. Auch das Vorkommen von Träumen wird nicht aufgrund isolierter Beweise durch EEGs oder Traumberichte bewiesen: »In so einem Fall besteht die Rechtfertigung für die Existenzbehauptung weder in einer Berufung auf Kriterien noch in einer Berufung auf Symptome. In solchen Rechtfertigungen beruft man sich vielmehr auf die Einfachheit, Plausibilität und prognostische Adäquatheit eines Erklärungssystems als Ganzem.« (Ch. S. Chihara und J. H. Fodor (Operationalismus), S. 249) Gerade ebenso soll die Berechtigung unserer Behauptungen der Alltagspsychologie nicht in ihrem einzelnen Nachweis entweder durch Kriterien oder durch Symptome liegen, sondern auch diese erfährt ihre Rechtfertigung als Ganzes, entsprechend den soeben genannten Qualitätsmerkmalen. Akzeptiert man diesen Holismus der Bewertungen sowohl wissenschaftlicher Theorien als auch unserer Alltagspsychologie, dann wird Churchlands Verteidigung von L1 besser verständlich. Churchlands Reaktion auf den Analytizitätsverdacht gegenüber L1 bestünde dann in dessen Zurückweisung, jedoch nicht deshalb, weil L1 als synthetisch erwiesen worden wäre, sondern weil der geäußerte Verdacht nicht belegbar ist. Man betrachte noch einmal Churchlands ergänztes Schlußschema, diesmal in seiner Anwendung auf den Akratiker, das hier der Überschaubarkeit halber in der folgenden verkürzten Form dargestellt sein soll:

ptom darauf, daß bisher beobachtet wurde, daß das Symptom immer gemeinsam mit dem Kriterium auftrat. Und dies wäre dann die Feststellung einer empirischen Relation, nicht die einer grammatischen Beziehung. Wittgenstein sagt auch, daß in der Praxis der Unterschied zwischen Symptom und Kriterium meist nicht festliegt, sondern im Bedarfsfall definiert werden muß – und daß dies nicht unbedingt ein bedauerlicher Mangel an Klarheit sei. Es sei ein philosophisches Vorurteil, daß Sprache einem Kalkül gleiche, und philosophische Probleme erwüchsen aus diesem Vorurteil, nicht aus der Vagheit der Sprache. (Vgl. L. Wittgenstein (Blaues Buch), S. 46 ff.)

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(1) L1: p ^ q ^ r ^ s ^ t ^ u  h (2) p (3) q (4) r (5) s (6) t (7) :h (8) :(1–6) (9) :L1 _ :p _ :q _ :r _ :s _ :t _ :u Zunächst besteht das Schema aus den Komponenten der schon bekannten deduktiv-nomologischen Handlungserklärung mit dem Gesetz L1 und den Anfangsbedingungen (2)–(6). Als Schema eines Widerlegungsversuchs weist es die Form des modus tollens auf: Angesichts der ausbleibenden Handlung (7) ist dann die Konjunktion (1–6) falsch (8); doch läßt sich nicht entscheiden, welches Konjunkt hierfür verantwortlich ist: aus (8) folgt, daß entweder L1 oder p oder q usw. falsch ist. (9) Die Pointe der Verteidigung Churchlands besteht also im Hinweis darauf, daß in diesem Schema jedes Gegenbeispiel unspezifisch ist; aus dem Schema allein geht nicht hervor, welche Prämisse als falsch erwiesen ist; und daher auch nicht, welche als wahr überlebt. Also zeigt das Schema auch nicht, daß L1 von der Widerlegung durch den Akratiker ausgenommen bleibt. In späteren Schriften hat Churchland seinen holistischen Ansatz noch weiter ausgebaut: Dies zeigt sich etwa in seinen Schriften »Eliminative Materialism and the Propositional Attittudes« und in Matter and Consciousness. Denn in diesen Schriften ist er der Auffassung, daß es sich bei unserem »Alltagsverstand« (common sense) und damit auch bei unserer »Alltagspsychologie« (folk psychology) insgesamt um eine falsche Theorie handelt, die gerade insofern sie empirisch falsch ist, als ganze erfahrungsbezogen sein muß. Eine Reihe von Gründen für die Theorieförmigkeit des Alltagsverstandes liefert Churchland in der ersten der beiden genannten Schriften: Erstens haben Alltagsbegriffe (die zum Beispiel für propositionale Einstellungen stehen) Bedeutung gerade ebenso wie theoretische Begriffe im allgemeinen, soll heißen: im naturwissenschaftlichen Rahmen, durch das Netzwerk jener Gesetze, in denen sie auftreten; zweitens wird verständlich, begreift man die Alltagspsychologie als Theorie, warum es kein Problem des FremdpsychiA

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schen gibt: Werden geistige Zustände des anderen theoretisch gesetzt, dann gibt es weder einen problematischen deduktiven Schluß aus dem Verhalten des anderen, noch einen problematischen induktiven Analogieschluß von den eigenen mentalen Zuständen her. Drittens finden wir eben jene Gesetze vor, die für die Semantik der theoretischen Terme erforderlich sind. Unter anderem führt Churchland auf: »2. (x) (p) [(x befürchtet, daß p)  (x wünscht, daß :p)] 3. (x) (p) [((x hofft, daß p) ^ (x entdeckt, daß p))  (x freut sich, daß p)] (x) (p) (q) [((x glaubt, daß p) ^ (x glaubt, daß (wenn p, dann q)))  (vorausgesetzt er ist nicht verwirrt, abgelenkt und so weiter, glaubt x daß q)]«

Und es findet sich hier auch das schon bekannte »5. (x) (p) (q) [((x wünscht (desires), daß p) ^ (x glaubt, daß (wenn q, dann p)) ^ (x ist im Stande, q zu bewirken)) \ (vorausgesetzt es gibt keine widerstreitenden Wünsche oder andere Strategien, die vorgezogen werden, bringt x q hervor)]« (P. Churchland (Materialism), S. 71. Übers. T. K.)

Ist nun der Alltagsverstand eine Theorie, dann kann diese Theorie auch falsch sein. Churchland nennt eine Reihe von Gründen dafür, daß insbesondere die »Prinzipien der Alltagspsychologie radikal falsch sind, und ihre Ontologie bloß Illusion ist« (P. Churchland (Materialism), S. 72 f.); die Alltagspsychologie biete keine Erklärung für das Wesen seelischer Erkrankung an, für Kreativität, für individuelle Unterschiede an Intelligenz; sie hat nichts über Schlaf zu sagen, über Perzeption und Wahrnehmungstäuschungen, nichts über das Gedächtnis. Und nichts über Lernfähigkeit, besonders auch nicht über das Auftreten dieser Fähigkeit im vorsprachlichen oder nichtsprachlichen Bereich (bei Kindern und Tieren). Daher sind der Alltagsverstand und damit auch die Alltagspsychologie als sein Teil zu eliminieren, geradeso wie in der Wissenschaftsgeschichte auch anderes eliminiert wurde, ohne eine Spur zu hinterlassen; etwa der Wärmestoff, das Phlogiston, die Sternensphären und Hexen. (Vgl. P. M. Churchland (Matter), S. 43 f.) Demselben Schicksal sollen die sogenannten propositionalen Einstellungen verfallen: Es gibt kein Denken, Wissen, Befürchten, Glauben und auch kein Wünschen, Wollen und Beabsichtigen. Intentionalität ist bereits im Verschwinden begriffen: in grauer Vorzeit wollten die Elemente der Natur, die Sterne, der Mond, der Wind, der Fluß, der See usw., doch seit der wissenschaftlichen Revolution läßt die Nei54

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gung zu einer teleologischen Betrachtungsweise der materiellen (und auch der Tier-) Welt nach. (Vgl. P. Churchland (Materialism), S. 74) In den späteren Schriften zeigt sich also, daß Churchland den Erfahrungsinhalt von L1 durch die Einbettung in die Alltagspsychologie als ganze gegeben sieht; und daß diese erfahrungsbezogen ist, zeigt sich daran, daß sie falsch und dem Untergang geweiht ist. Als Teil der Alltagspsychologie wird L1 mit dieser zusammen untergehen. 19 In Anbetracht des Ziels meiner Überlegungen möchte ich mich hier auf eine kurze Replik beschränken, die Churchlands Kritik wesentlich an seinen eigenen Voraussetzungen mißt: 1. Churchland unterstellt, wie bereits Chirara und Fodor, auf die er sich beruft, eine gewichtige Voraussetzung, daß es sich nämlich bei der Alltagspsychologie, bei unser aller Verständnis von Wünschen, Überzeugungen, Absichten usf. usf. tatsächlich um eine Theorie handelt. Denn er bezieht sein Verständnis vom Status unseres alltäglichen psychologischen Verstehens geradewegs vom Verständnis zum Beispiel physikalischer Theorien, in denen theoretische Entitäten zu Zwecken der Erklärung eingeführt werden, etwa Protonen, Quarks und so weiter, wobei die Bedeutung der auf sie bezogenen Begriffe eben in der beschriebenen Weise definiert ist, u. d. h. durch implizite und partielle Definitionen. Theoretische Entitäten von dieser Art sollen nun unsere »propositionalen Einstellungen« sein, Überzeugungen, Wahrnehmungen usf. Doch im Kontext der handlungstheoretischen Diskussion hilft diese Auffassung nicht weiter, und zwar aus dem folgenden Grund: Die theory-theory gilt einem ganz besonderen Problem, und zwar dem der Erkenntnis des Fremdpsychischen: Das Fremdpsychische erscheint als undurchdringlich, ich habe vom anderen nur dessen VerChurchland läßt im Jahr nach dem Erscheinen der überarbeiteten Fassung von Matter and Consciousness, in dem die Alltagspsychologie noch als eine Interpretation des deduktiv-nomologischen Modells der Erklärung beschrieben wird, dies Modell (und auch die spezielle Anwendung auf die Alltagspsychologie) fallen. (Vgl. ders. (Folk Psychology), S. 236) Für die Gründe dieser Entscheidung verweist er ohne nähere Angaben auf die Literatur. Er schlägt vor, das deduktiv-nomologische Modell durch ein alternatives Modell der »prototypischen« Wissensrepräsentation zu ersetzen, das weniger an der Ableitung aus (impliziten) Gesetzen, als an der »Subsumption eines vorliegenden Einzelfalls unter einen relevanten Prototyp« orientiert ist. (Vgl. ders. (Folk Psychology)., S. 237 ff.)

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halten, seine propositionalen Einstellungen sind mir unerreichbar, meine Schlüsse von seinem Verhalten auf seine Einstellungen sind unüberprüfbar. Hier soll nun die theory-theory eine Lösung bieten: In der Physik wird Nichtbeobachtbares zur Erklärung von Beobachtbarem herangezogen, das aber selbst nicht durch Bezug auf Beobachtbares ostensiv definiert werden könnte – daher die implizite Definition dieser Begriffe. Genauso nun auch in der Psychologie: Für mich sind psychologische Termini nicht unter Bezug auf die mir verborgene Psyche des anderen definierbar – daher der Vorschlag, diese Begriffe im Rahmen der Theorie von der Theoretizität der Alltagspsychologie als implizit definiert zu betrachten. Churchland apostrophiert das Problem des Fremdpsychischen als Hauptgegenstand der theory-theory: »Noch wichtiger: Die Erkenntnis, daß es sich bei der Alltagspsychologie um eine Theorie handelt, liefert eine einfache und entscheidende Lösung eines alten skeptischen Problems, des Problems des Fremdpsychischen. Die problematische Überzeugung, daß ein anderes Individuum das Subjekt bestimmter geistiger Zustände ist, wird nicht deduktiv aus dessen Verhalten abgeleitet, noch wird es durch induktive Analogie aus dem unter Gefahren isolierten Fall des eigenen Selbst erschlossen. Bei dieser Überzeugung handelt es sich eher um eine einzelne erklärende Hypothese von der gewöhnlichsten Art. Ihre Aufgabe besteht darin, in Verbindung mit den Hintergrundgesetzen der Alltagspsychologie Erklärungen/Vorhersagen/Verständnis für das beständige Verhalten eines Individuums zu erzeugen, und sie ist in dem Maße überzeugend, in dem sie hierin erfolgreicher ist als eine konkurrierende Hypothese.« (P. M. Churchland, »Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes«, S. 69 [Übers. T. K.])

Doch das Problem steht vom Anbeginn der Diskussion her im Mittelpunkt der Entwicklung der Theorie der Theoretizität (vgl. z. B. W. Sellars (Empirismus), bes. S. 196); bei ihm knüpfen Chihara und Fodor an, Churchlands Gewährsleute bei der Entwicklung seiner Version der Theorie (vgl. dieselben (Operationalismus), S. 222 u. 251 ff.); und es liefert auch den Zündstoff für den kritischen, gegenwärtigen Vergleich der Theorie der Theoretizität mit der sogenannten Simulationstheorie, einer Wiederbelebung des alten Analogiearguments, daß Fremdverstehen nicht in einer Theorie vom anderen bestehe, sondern in einer Simulation der Seele des anderen auf der Grundlage der eigenen seelischen Vorgänge und Zustände. (Vgl. hierzu R. Gordon (Folk Psychology) u. P. M. Churchland (Folk Psychology), S. 233 ff.) 56

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Wie auch immer man sich zu dem Problem der Erkenntnis des Fremdpsychischen stellen mag; im jeden Fall handelt es sich dabei nicht um das Problem der Handlungserklärung. Gewiß kann ich vor dem psychologischen Problem stehen, die Absicht eines anderen zu erkennen; sofern es ein derartiges Problem auch als ein philosophisches gibt, könnte ich auch ein philosophisches Problem der Erkenntnis der Absicht des anderen haben. Doch mit den Problemen dieser Erkenntnis ist das handlungstheoretische Problem nicht erschöpft – es handelt sich beim handlungstheoretischen Problem im wesentlichen um ein anderes als um das des Fremdpsychischen. Und zu der spezifisch handlungstheoretischen Problematik trägt die theorytheory nichts bei. Zum Beweis: man betrachte das Problem der Erkenntnis der Absicht des anderen als gelöst –ich kenne also seine Absicht –, dann sind immer noch all jene Fragen nach dem Wesen einer Handlungserklärung und der Schlüssigkeit des praktischen Schlusses, der ja das Vorliegen der Absicht, die Erkenntnis von deren Bestehen tatsächlich voraussetzt, offen. Daher steht der Ansatz der theory-theory quer zum handlungstheoretischen Problem. 2. Churchlands Vorschlag einer holistischen Strategie zur Abwehr der Kritik von der Analytizität von L1 sei entgegengehalten, daß wir uns in der von ihm beschriebenen Weise nicht verhalten, und daß auch er selbst dieser Strategie nicht folgt. Es bleibt abzuwarten – und möge offenbleiben –, ob unsere Alltagspsychologie, der Churchland ihr ehrwürdiges Alter vorwirft, tatsächlich theorieförmig und zum Untergang verurteilt ist. Eines jedenfalls wird aus Churchlands Vorgehensweise deutlich: Solange wir an L0 festhalten und keine Widerlegung zulassen, wird L0 überleben; eben dies aber tut Churchland, wenn er L0 im Zuge der Konstitution von L1 gegen alle Einwände abschirmt. Sofern wir keine Widerlegung zulassen, ist freilich L auch kein empirischer Satz und kein Gesetz, sondern analytisch. Entscheidend ist hier, daß Churchland bei dieser Gelegenheit, entgegen dem holistischen Programm, gerade nicht ganzheitlich, und das heißt skeptisch, verfährt, indem er etwa die »Stoßrichtung« der Falsifikation offen läßt; vielmehr identifiziert er ja sehr wohl eine bestimmte Bedingung, die er dann für verantwortlich erklärt – im Falle des Akrasie-Einwandes etwa die Rationalitätsbedingung: Handelt der Betreffende unter den erwähnten Prämissen nicht, dann bleibt nach Churchland keineswegs offen, ob L1 falsch ist; es ist vielmehr für ihn ausgemacht, daß das nicht der Fall sein kann, und daher muß eine Rationalitätsbedingung als A

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Schutzwall gegen den Akratiker her. Churchland folgt also nicht dem holistischen Konzept, sondern er verfährt molekular, indem seine ganze Strategie der Verteidigung einer ganz bestimmten Aussage gilt. Die Unverletzlichkeit von L0 soll gewahrt bleiben und keineswegs zweifelhaft sein. Die Gründe dafür, warum wir und Churchland L1 zu einem analytischen Satz machen, wurden oben genannt: L0 bringt eine semantische Relation zum Ausdruck, die Bedeutung von »die Absicht 1«; und davon, daß wir die Bedeutung unserer Begriffe verstehen, wollen wir uns nicht abbringen lassen. Ist dieser Zusammenhang einmal durchschaut, dann freilich können wir jene Strategie der Immunisierung tatsächlich preisgeben, wir werden dann daran festhalten, daß die Absicht 1 nicht erläutert werden kann, wenn wir nicht über den Begriff jener Handlung verfügen (und ihn mit in die Erläuterung einbringen), die die Ausführung der Absicht 1 darstellt; wir werden aber konzedieren, daß es sehr wohl vorkommen mag, daß jemand zunächst eine Absicht hat, die er dann nicht ausführt. Gleiches gilt im übrigen auch für die anderen von Churchland in »Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes« angeführten »Gesetze der Alltagspsychologie«. Die Ergebnisse der Untersuchungen in diesem ersten Kapitel seien abschließend noch einmal zusammengestellt: Es wurde festgestellt, daß es auf der einen Seite die Überlegungen des Handelnden gibt, der in seinem Handeln etwas Erstrebenswertes erreichen möchte. Seine Überlegungen beziehen sich auf das, was er tun wird, um zum Ziel zu kommen. Aufgrund seiner Überlegungen kann er eine Vorhersage liefern, denn er verfügt über ein ganz bestimmtes, zukunftsbezogenes Wissen. Wie Anscombe sagt, weiß er, was geschehen wird, weil dies zukünftige Geschehen das Produkt seines Handelns ist. Andere, die seine Überlegungen und seine Absicht kennen, sind zu derselben Vorhersage fähig. Im nachhinein kann eine Erklärung, die sich auf die Absicht und Überlegungen des Handelnden bezieht, als Handlungserklärung bezeichnet werden. Es stellte sich dann die Frage, ob eine derartige Handlungserklärung als unvollständig betrachtet werden muß, als elliptische Version einer deduktiv-nomologischen Kausalerklärung. Wenn dies so wäre, dann müßte der praktische Schluß, das Schlußschema der praktischen Erklärung, um ein Gesetz ergänzt werden. Auf der Grundlage des vervollständigten Schlußschemas ließe sich so eine Handlung erklären, indem sie als Wirkung einer Ursache aus einem Kausalgesetz und denjenigen Anfangsbedingungen abgeleitet wird, die die Ur58

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Die deduktiv-nomologische Kausalerklärung des Handelns

sache als die Absicht und die Mittel-Zweck-Überzeugungen des Handelnden spezifizieren. Die Auffassung von der Unvollständigkeit der praktischen Erklärung wurde wesentlich auf ein Präjudiz der Argumentation zurückgeführt: als ob alle Erklärungen dem Ideal der deduktiv-nomologischen Erklärung in den Naturwissenschaften entsprechen und logische Schlüsse sein müßten. Demgegenüber wurde an der Zulänglichkeit der praktischen Erklärung in der Form festgehalten, welcher wir uns ständig bedienen. Einige Versuche der Vervollständigung des praktischen Schlusses wurden als Erklärungen anerkannt. Es wurde jedoch hervorgehoben, daß auch in diesen Fällen nicht etwa Erklärungen im deduktivnomologischen Sinne vorliegen. Die eigentliche deduktiv-nomologische Kausalerklärung, also die Ergänzung des praktischen Schlusses um ein Kausalgesetz des Handelns, wurde hingegen zurückgewiesen: Nicht die praktische Erklärung ist eine unvollständige, um ein Gesetz zu ergänzende Kausalerklärung, sondern dies sog. Kausalgesetz ist ein als Gesetz nur erscheinendes semantisches Prinzip. Mit diesem Prinzip kann die Bedeutung von »die Absicht so-und-so« erläutert werden. Es gibt also auf der einen Seite eigenständige praktische Erklärungen, die nicht als unvollständige Kausalerklärungen zu betrachten sind, und die daher auch nicht in solche überführt werden können. (Als besonderes Merkmal dieser Eigenständigkeit wurde die, wie man sagen könnte, praktische Wahrheit der Handlungsbeschreibung identifiziert: Wird die betreffende Aussage als Wirkung von Absicht und Überzeugung wahr, anstatt durch den Handelnden wahr gemacht zu werden, dann haben wir es nicht mit einer Handlungserklärung zu tun. Fälle, in denen sie wahr wird, ohne wahr gemacht zu werden, sind solche der »abwegigen Kausalität«; die Aussage wird dann wahr gemacht, wenn im Irrtumsfall noch einmal berichtigend gehandelt und nicht etwa die Beschreibung korrigiert wird.) Einleitend wurde festgestellt, daß Handlungswissenschaften durch ein Problem konkurrierender Methoden charakterisierbar sind. Im vorliegenden Kapitel wurde die Eigenständigkeit der einen gegenüber der anderen Methode vorgeführt. Offen bleibt bis jetzt, welche Kausalerklärungen denn in den Handlungswissenschaften eine Rolle spielen sollen, sofern an dieser Charakterisierung eines Dualismus der Handlungswissenschaften festzuhalten ist. Für die Beantwortung dieser Frage sei zunächst auf die Überlegungen im A

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dritten Kapitel und Hempels These der Nutzung etwa soziologischer und psychologischer, aber auch naturwissenschaftlicher Gesetze in der Geschichte verwiesen. Ob es aber auch für die Handlungswissenschaften spezifische Kausalerklärungen gibt, die dann in ihrer Beziehung zu Handlungserklärungen näher zu bestimmen wären, wird eine Hauptfrage der Gesamtüberlegungen der Kapitel 3 bis 6 ausmachen.

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2 Lüge und Selbsttäuschung

Das Ziel der vorliegenden Überlegungen ist die Charakterisierung einer bestimmten Klasse von Disziplinen, der Handlungswissenschaften, durch ein Prinzip der Ignoranz. Dies Prinzip bestimmt die Relation, die zwei Typen der Erklärung, die Handlungs- und eine besondere Art der Kausalerklärung, in diesen Disziplinen miteinander eingehen: Solche Kausalerklärungen setzen voraus, daß die in ihnen vorausgesetzte Ursache der Person, deren Verhalten sie gelten, unbekannt ist; ist sie ihr bekannt, dann kann die betreffende Person die Kausalerklärung zurückweisen und anstatt dessen eine Handlungserklärung vorbringen oder gegenüber der Kausalerklärung auf einer solchen beharren. Im hier folgenden Kapitel 2 sollen zunächst jene Gestalten analysiert werden, in welchen Ignoranz bei einer Durchsicht der Disziplinen begegnet. Ein ganz eigenes Problem stellt sich im Falle der Selbsttäuschung, das Kant in der folgenden Weise formuliert hat: »Die Wirklichkeit mancher inneren Lüge, welche die Menschen sich zuschulden kommen lassen, zu beweisen, ist leicht, aber ihre Möglichkeit zu erklären scheint doch schwerer zu sein; weil eine zweite Person dazu erforderlich ist, die man zu hintergehen die Absicht hat, sich selbst aber vorsätzlich zu betrügen einen Widerspruch in sich zu enthalten scheint.« (I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 9)

Kant unterscheidet also hier (von der äußeren) eine innere Lüge, mit der man nicht einen anderen, sondern sich selbst belügt. Daß es die innere Lüge gebe, hält er für beweisbar. Als problematisch hingegen betrachtet er die Erklärung ihrer Möglichkeit: Wie ist Selbsttäuschung, innere Lüge, möglich, wenn zur Definition der Lüge die zweite Person gehört, der Belogene, im Falle der Selbsttäuschung der Belogene aber keine zweite Person, sondern der Lügner selbst ist? Die Redeweise von der vorsätzlichen Selbsttäuschung scheint damit A

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Lüge und Selbsttäuschung

einen Widerspruch zu enthalten, wenn die innere Lüge unter die Definition der Lüge fällt. Erstens soll im folgenden jener Begriff untersucht werden, den Kant als Wurzel der Problematik der Selbsttäuschung aufdeckt: der Begriff der Lüge. Dies geschieht in Form eines historischen Exkurses, der seinen Ausgang bei einer Definition der Lüge durch Augustinus nimmt. Kants Problem – die Möglichkeit der Selbsttäuschung als Lüge – ist in diesem Jahrhundert von Jean Paul Sartre neu (und auch ohne expliziten Verweis auf diesen) formuliert worden. Es folgt daher zweitens eine Darstellung der Diskussion bei Sartre in L’être et le néant. Sartres Überlegungen wurden seit den Sechziger Jahren besonders in der Analytischen Philosophie aufgegriffen. Die Auseinandersetzung kulminierte in den Achtziger Jahren, als Donald Davidson Selbsttäuschung als eines der Hauptstücke einer Philosophie der Irrationalität behandelte. 1 Davidsons Theorie bildet den Gegenstand des dritten Teils der folgenden Ausführungen. Sartres und Davidsons Versuche einer Lösung des Problems der Selbsttäuschung haben gemeinsam, daß Selbsttäuschung nicht mehr als Lüge, als ein Sich-selbst-belügen, verstanden werden soll. Doch bei Preisgabe des Modells der Lüge ist auf einmal unklar, was denn mit der Unterstellung der Selbsttäuschung gemeint ist: Wird das Modell der Lüge aufgegeben, dann auch der Begriff der Selbsttäuschung. Dasjenige, was mit diesem Modell preisgegeben wird, ist, so wird sich zeigen, die Absichtlichkeit der Selbsttäuschung. Zumal bei Davidson wird Selbsttäuschung letztlich auf eine Form des Irrtums reduziert. 2 Dieser Reduktionsversuch entspricht den in Kapitel 1 abgewiesenen Versuchen zur Zurückführung der praktischen auf die theoretische Erklärung: Selbsttäuschung muß als Handlung und kann nicht als widerfahrendes Geschehen erklärt werden. Einen systematischen Überblick über den Verlauf der Diskussion bis 1987 findet man in A. R. Mele, »Recent Work on Self-Deception«. 2 Der Begriff der Täuschung ist im Deutschen zweideutig: Er bezeichnet erstens die Handlung, zweitens aber auch die widerfahrende Täuschung, den Irrtum. Dies gilt ebenso für den englischen Begriff deception. Der Versuch der Reduktion der Selbsttäuschung auf den Irrtum könnte als das Ergebnis eines Mißverständnisses gerade dieser Doppeldeutigkeit betrachtet werden. Im folgenden werden die beiden Bedeutungen nicht durch Einführung eigener Begrifflichkeiten unterschieden, sondern es wird darauf vertraut, daß die jeweilige Bedeutung aus dem Kontext ersichtlich ist. 1

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Lügen: Definition und paradigmatischer Fall

Das ganz eigene Problem der Selbsttäuschung besteht in dem schon von Kant aufgewiesenen Paradox. Doch wird dies Paradox, so lautet die These zur Selbsttäuschung in diesem Kapitel, durch die Preisgabe eines der definierenden Merkmale dieses Begriffs aufgelöst, dann geschieht das auf Kosten einer angemessenen Bestimmung der Begriffsbedeutung: »Selbsttäuschung« ist nur unter Rückgriff auf den Begriff der Absicht definierbar.

2.1 Lügen: Definition und paradigmatischer Fall Augustinus beschreibt in De mendacio das folgende als den paradigmatischen Fall der Lüge, als »jenen Fall, bei dem alle einhellig den Tatbestand der Lüge gegeben finden. Derjenige lügt, der willentlich das Falsche sagt, um zu täuschen: Es liegt daher auf der Hand, daß eine falsche Äußerung, vorgebracht im Willen zu täuschen, eine Lüge ist.« (Augustinus, »De mendacio«, caput V u. IV, 5) 3

Augustinus charakterisiert also den paradigmatischen Fall durch zwei Bestimmungen: Erstens: Die Lüge besteht hier in einer Äußerung, die falsch ist. Zweitens: Diese falsche Äußerung erfolgt in der Absicht zu täuschen. Er schränkt jedoch die Beschreibung mit den Worten ein, es sei eine andere Frage, ob dies allein eine Lüge sei. 4 Die Bedeutung dieser Einschränkung erläutert er folgendermaßen: Es ist auch möglich zu lügen, indem man die Wahrheit sagt, »wenn man meint, es sei unwahr und es als wahr ausspricht, wenn es auch in Wirklichkeit so sein mag, wie man es sagt« (daselbst, caput III, 3) 5 . Demzufolge ist »Lügen« nicht durch die Äußerung eines falschen Satzes definiert, obwohl diese Äußerung charakteristisch in jenem Fall vorliegt, der als erstes Beispiel einer Lüge in den Sinn kommt. Sondern man spricht auch von Lüge, wenn der Lügner einen wahren Satz äußert, von dem er nur glaubt, er sei falsch. Freilich mißlingt hier die Lüge – der andere glaubt im Ergebnis nicht etwas Falsches –, doch im Gegensatz zur Täuschung, von der nur die Rede sein kann, … hoc [genus] in quod omnes consentiunt … Nemo autem dubitat mentiri eum qui volens falsum enuntiat causa fallendi: Qua propter enuntiationem falsam cum voluntate ad fallendum prolatam, manifestum est esse mendacium. 4 Sed utrum hoc solum sit mendacium, alia questio est. 5 … et ut possit verum dicere mentiens, si putat falsum esse et pro vero enuntiat, quamvis revera ita sit ut enuntiat«. 3

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Lüge und Selbsttäuschung

wenn sie gelingt, ist die Verwendung von »Lüge« nicht an den Erfolg gebunden. 6 Worauf läuft diese Unterscheidung des Augustinus zwischen Definition und paradigmatischem Fall hinaus? Zur näheren Erläuterung dieser Bestimmungen stelle man sich eine Welt, eine Kultur und Sprache vor, in der beides, Definition und paradigmatischer Fall, koinzidieren würden. Wie im paradigmatischen Falle würden wir in dieser Welt also nur lügen, indem wir das Falsche sagen. Wo liegt das Problem dieser, wie man sagen könnte, Reduktion auf den paradigmatischen Fall? Offenbar darin, daß in dieser Welt eine Unterscheidungsmöglichkeit von Lüge und Irrtum entfällt; denn Irrtum äußert sich tatsächlich darin, daß wir das Falsche sagen. Doch bleibt nicht dennoch die Möglichkeit, zwischen Irrtum und Lüge zu unterscheiden, da es sich, selbst unter diesen Voraussetzungen, bei der Lüge um einen falschen Satz handelt, der im Gegensatz zu dem steht, was der Lügner glaubt? Wenn ich mit dem Satz »Ich bin kahl« lüge, dann glaube ich nicht, daß ich kahl bin. Im Falle des Irrtums hält der Äußernde hingegen den geäußerten Satz für wahr. In diesem Sinne unterscheidet auch Augustinus Irrtum und Lüge, wenn er hervorhebt, daß, anders als der Irrende, der Lügner das eine in der Seele trage und das andere in Worten ausdrücke. 7 Doch das muß nicht sein. Man stelle sich den Fall vor, in dem der Lügner einen Satz äußert, der wahr ist, und den er für wahr hält, den er deshalb äußert, weil er annimmt, sein Gegenüber werde ihm nicht glauben (z. B. deshalb, weil er weiß, daß der ihn für einen Lügner hält). Er sagt ihm also die Wahrheit, um in ihm einen falschen Glauben zu erzeugen. Hier gibt es keinen Gegensatz von Glauben und Äußerung. Warum würden wir in diesem Falle dennoch von Lüge sprechen, und es dem Lügner nicht durchgehen lassen, wenn er sich darauf zurückzieht, er habe ja die Wahrheit gesagt? Das Kriterium, das hier In seinem Kommentar der vorliegenden Passagen aus De mendacio spricht Thomas von Aquin daher vom Erfolg der Lüge als deren bloßer Vollendung, perfectio quaedam, er gehöre jedoch nicht mit zu ihrem Wesen, sei also von ihrer Definition unabhängig, non pertinet ad speciem mendacii. (Vgl. Thomas von Aquin (Summa theologiae), 2a 2ae, 110, art. 1, resp.) 7 Ille mentitur, qui aliud habet in animo, et aliud verbis … enuntiat. l. c., caput III, 3. Und Thomas von Aquin verweist darauf, der Begriff mendacium leite sich von contra mentem her. Vgl. l. c. 6

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Lügen: Definition und paradigmatischer Fall

den Ausschlag gibt, lautet, daß das Gesagte in der Absicht gesagt wurde zu täuschen, wenn es auch die Wahrheit war. Und dies – die zweite von Augustinus angeführte Bestimmung des paradigmatischen Falles, voluntas ad fallendum, ist offenbar in der hier skizzierten Welt das einzig verbliebene Instrument zur Unterscheidung von Lüge und Irrtum. Vielleicht ist bereits sichtbar, daß es in dieser Welt Lügen in unserem Sinne nicht gibt. Um dies noch deutlicher zu machen, führe man sich das Beispiel der griechischen Antike vor Augen, die mit der von uns erdachten Welt eine gewisse Ähnlichkeit hat. Anders als im Latein (mendacium), gibt es im (klassischen) Griechisch kein eigenes Wort für Lügen. Vielmehr wird das, was wir das Äußern eines falschen Satzes, Sich irren, Täuschen, Lügen, Fiktion nennen, insgesamt mit dem Prädikat veÐdesjai zum Ausdruck gebracht. Die gängige, heute von einem Interpreten an den nächsten weitergereichte Deutung dieser Tatsache lautet, daß es deshalb den griechischen Philosophen nur unter Mühen gelungen sei, schließlich das herauszuarbeiten, was sie, trotz der Unzulänglichkeit ihrer Sprache, doch schon immer halb dachten: die Unterscheidung von all diesem. 8 Das wird etwa von Rudolf Schottländer Aristoteles zugestanden, dem bei »seinem philosophisch geläuterten Bewußtsein die Äquivokation natürlich« – sagt Schottländer – »längst nicht mehr gefährlich sei«. (R. Schottländer (Lüge), S. 110 ff.) Daß es in der griechischen Kultur und Philosophie unseren Begriff des Lügens nicht gibt, heißt natürlich nicht, daß wir hier gar nichts vorfänden. Es soll anhand einiger Beispiele der These, daß die Griechen nicht gelogen haben, eine gewisse Plausibilität verliehen werden. Man betrachte das sogenannte Lügner-Paradoxon (veudmenos): »Ich lüge«. 9 Mit der Äußerung dieses Satzes, wird, wie es scheint, zugleich etwas Wahres und etwas Falsches behauptet: Denn ist es wahr, daß ich lüge, dann sage ich zugleich etwas Falsches, weil Zuerst bei R. Schottländer (Lüge), S. 99. Vgl. z. B. die Formulierung, S. 99, daß in den verschiedenen Fällen der Verwendung von veÐdesjai nicht ohne weiteres erkennbar sei, ob Lüge oder Irrtum gemeint ist. Gemeint, so lautet doch wohl die Antwort, ist veÐdesjai. Vgl. zur Rezeption z. B. P. Keseling, »Einführung« zu Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge, S. VI, und G. Falkenberg (Lügen), S. 68. 9 Vgl. J. M. Bochenski (Logik), S. 150 ff. Das Lügner-Paradox wird von Aristoteles in den Sophistischen Widerlegungen erwähnt und Diogenes Laertius schreibt es dem Zeitgenossen des Aristoteles, Eubulides zu. 8

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ich lüge. Doch mit dieser Erklärung wird auch schon deutlich, daß das Paradox mit Lügen nichts zu tun hat. Das läßt sich daran zeigen, daß die Bezugnahme auf Lüge hier einfach ersetzt werden kann durch den Bezug auf Falschheit: »Was ich sage, ist falsch«. Dies ist ein Fall gerade desselben Paradoxons. Der zweite Kontext, der angeführt werden soll, stammt aus den Platonischen Dialogen. Im »Kratylos« erwähnt Platon eher beiläufig eine These, »die viele behaupten und behauptet haben«, und die in den Dialogen »Euthydemos« und »Theaitet« weiter erörtert wird, daß es nämlich unmöglich sei zu lügen. (Vgl. »Kratylos« 429d und »Euthydemos« 283e ff.) (Schleiermacher übersetzt veÐdesjai mit »das Falsche sagen« im »Kratylos« und im »Theaitet«, mit »Lügen« im »Euthydemos«.) Im »Theaitet« findet sich die folgende Begründung der These (188d-189b): Sehen, Hören, Berühren ist immer das Sehen, Hören und Berühren von etwas. Fehlt dies etwas, dann sehe, höre und berühre ich auch nichts. Auch das Vorstellen ist immer das Vorstellen von etwas; das Falsche ist ein Nichtseiendes; also ist das Falsche nicht vorstellbar. (Die Begründung im »Euthydemos« ist analog.) Wie man sieht, ist auch dies eine Begründung ausschließlich dafür, daß falsche Sätze unmöglich sind, was auch immer in ihnen zum Ausdruck kommt; von Lügen ist noch gar nicht die Rede. Man betrachte auch die zweite von Augustinus ins Spiel gebrachte Bestimmung des paradigmatischen Falls der Lüge, daß nämlich in diesem Fall der falsche Satz immer in der Absicht zu täuschen geäußert werde. Hat die griechische Antike dann nicht doch eine Unterscheidungsmöglichkeit der Lüge und zwar als »das Falsche in der Absicht sagen, jemanden zu täuschen«? Sucht man in der Antike nach diesem begrifflichen Instrument, dann stellt man wieder fest, daß eine exakte Entsprechung unserer Begrifflichkeiten fehlt. Es handelt sich hier um eine bekannte und in der Literatur immer wieder hervorgehobene Tatsache, daß es in der griechischen Sprache und Philosophie kein Analogon zum Begriff der Absicht gibt. 10 Vgl. z. B. W. D. Ross (Aristotle), S. 20 ff.; G. E. M. Anscombe (Thought), S. 66 ff. und A. Dihle (Vorstellung), S. 31 ff. Dihle verweist auch darauf, daß es sich hierbei um ein in der Antike einzigartiges Phänomen handelt, welches sich seiner Auffassung nach aus dem besonderen Verhältnis der Griechen zu ihren Göttern herausbildete. Seneca formulierte dies Verhältnis später als »Ich gehorche dem Gott nicht, sondern stimme ihm zu« (Non pareo deo sed assentior). Diese Zustimmung ist eine Frage der Einsicht: Der Mensch kann aus Einsicht gehorchen, weil Sein und Denken, menschliche und göttliche

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Lügen: Definition und paradigmatischer Fall

Auch hier gilt aber, daß wir nicht nichts finden. Man vergleiche zum Zusammenhang von Lügen und fehlender Absicht in der griechischen Antike das Gespräch zwischen Hippias und Sokrates im platonischen Dialog »Hippias minor« (370a ff.), auf das auch Aristoteles in Metaphysik D 1025a, bei seiner Untersuchung des Falschen verweist. In dieser Diskussion geht es um die Frage, ob die Ilias oder die Odyssee das größere Kunstwerk, und das soll heißen, ob Achill oder Odysseus der größere Held sei. Hippias, der Gesprächspartner des Sokrates, bestreitet, daß Achill der schlechtere sei, weil er, wie Sokrates behauptet, das Falsche sagt, indem er nämlich ankündigt, er werde heimwärts segeln. Denn Achill sage offenbar »nicht aufgrund eines wohlüberlegten Plans das Falsche, sondern unfreiwillig« (o'k ¥x ¥piboul»@ yafflnetai veudmeno@ ⁄ll3 ˝kwn), Odysseus hingegen freiwillig und wohlüberlegt (kðn te ka½ ¥x ¥piboul»@). (370d 5–10) 11 Entscheidend für den Zusammenhang von Irrtum, Lüge und Absicht ist jedoch, daß es einen freiwilligen Irrtum ebensowenig wie Ordnung, ein und demselben Gesetz unterstehen, dem der Vernunft. Daher schließt Dihle, es habe im Rahmen der griechischen Kosmologie keine Notwendigkeit bestanden, »einen Terminus zu prägen, mit dem der Wille als solcher, ohne Bezugnahme auf den Intellekt, bezeichnet werden konnte« (l. c., S. 29). Anders im Alten Testament: Gefordert ist dort »allein die Bereitschaft, auf Gottes Befehle zu hören«; deshalb könne »Gehorsam niemals als Leistung des Intellekts verstanden werden« (l. c., S. 24). Gerade mit diesem Akt des Gehorsams sei jener klare Willensbegriff konzipiert, der unserem Begriff der Absicht entspricht. 11 Diese Passage gibt R. Schottländer wieder, indem er davon spricht, Achill sage »unabsichtlich die Unwahrheit«. (Vgl. ders. (Lüge), S. 109) Nun heißt ¥kðn – daß jemand etwas ohne äußeren Zwang tut – sicherlich etwas anderes als »absichtlich«. Die Differenz läßt sich dort festmachen, wo wir von Absicht im Gegensatz zur Freiwilligkeit sprechen und daher sagen würden, daß in der Antike dieser Begriff fehlt. Man vergleiche etwa ein Beispiel, das Aristoteles in der Nikomachischen Ethik G gibt, wenn er versucht, den Begriff der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit zu definieren: Seeleute, die bei Sturm die Ladung über Bord werfen, um ihr Leben zu retten (1110a 8 f.). Aristoteles nennt diese Handlung eine Mischung aus beidem (mikta½ … toia‰tai pr€xei@): freiwillig, weil im Augenblick der Tat das Prinzip der Bewegung der Glieder im Menschen liege. Und unfreiwillig, weil sich für dies Handeln niemand an sich entscheiden würde. Dies ist ein typischer Fall, in dem wir nicht von einer merkwürdigen Mischung von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit sprechen würden, sondern davon, daß die Seeleute, da unter Zwang, unfreiwillig handeln, doch sicher absichtlich. Etwas anders liegen die Dinge im Falle der Lüge des Achill. Denn die Unfreiwilligkeit dieser Lüge resultiert, will man dem Hippias folgen, daraus, daß Achill erst im nachhinein, »durch die Unglücksfälle des Heeres genötigt«, das zu etwas Falschem macht, was er zuvor gesagt hatte, daß er nämlich dableiben werde, und zu diesem späteren Zeitpunkt ohne alle Frage absichtlich. D. h. hier läge einfach der Fall einer Absichtsänderung vor, so würden wir sagen, und daher keine Lüge. A

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einen absichtlichen gibt. Die Betrachtung der Diskussion im »Hippias minor« zeigt daher, daß es, jedenfalls zu dieser Zeit, doch möglich ist, in der Antike den Unterschied zwischen einem irrtümlich geäußerten falschen Satz und einer anderen Äußerung zu erörtern, die unserer Lüge nahe kommt, und zwar aufgrund ihrer Freiwilligkeit. Die zitierten Kontexte sind nicht beweiskräftig. Doch sie zeigen, daß es an einigen Orten, die gemeinhin in der Philosophiegeschichte als positive Belege betrachtet werden, offenbar noch nicht um Lügen in unserem Sinne geht. Es sei jetzt der folgende Schluß aus dem Vergleich von Definition und paradigmatischem Fall bei Augustinus gezogen: Im Gegensatz zum paradigmatischen Fall gehört zur Definition der Lüge nicht der falsche Satz; der Lügner kann mit der Lüge irren, und dann sagt er etwas Wahres. »Lügen« bedeutet also nicht »veÐdesjai«. 12 Hingegen äußert sich der Irrtum immer im falschen Satz. Man könnte dann glauben, der Lügner äußere sich immer im Gegensatz zu dem, was er denkt (das contra mentem des Thomas v. Aquin); denn dies bleibt ja im Fall des Irrtums erhalten, wenn er etwas Wahres sagt, weil er es für falsch hält. Doch auch der Gegensatz von Denken und Äußerung gehört nicht notwendig zur Lüge. Denn der Lügner kann taktieren, indem er das ausspricht, was er für wahr hält, in der Vermutung, der andere werde aus seinen Gründen daraufhin das Gegenteil glauben. Es folgt also, daß der Lügner sagen kann, was er will, Wahres oder Falsches; und er muß sich auch nicht contra mentem äußern; was zählt, ist letztlich das zweite Kriterium des Augustinus, die Täuschungsabsicht (voluntas ad fallendum).

Es sei auf eine Konsequenz dieser Einsicht verwiesen: Lügen wird oft definiert als falsche Aussage, die im Gegensatz zu dem steht, was man weiß. Lüge ich nun mit einer wahren Aussage, die ich irrtümlich für falsch halte, dann steht diese Aussage natürlich nicht mehr im Gegensatz zu einem Wissen meinerseits, sondern nur im Gegensatz zu dem, was ich fälschlich glaube. Aus dieser Definition wird also, daß eine Lüge ein falscher Satz ist, sonst aber ein wahrer, den ich zu Unrecht für falsch halte; doch ich werde diesen Umstand im weiteren beiseite lassen, da er für die Frage der Selbsttäuschung unerheblich ist, und zwar in dem Sinne, daß das sog. epistemische Paradox (s. unten, 2.2) erhalten bleibt, auch wenn der Wissensoperator richtigerweise durch den Glaubensoperator ersetzt wird (Ich kann nicht p und :p zugleich wissen, sondern nur zugleich zu wissen glauben (dies gehört mit zur Bedeutung von »Wissen«)).

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Sartre über Selbsttäuschung

2.2 Sartre über Selbsttäuschung In L’être et le néant untersucht Sartre das Phänomen der Unaufrichtigkeit (mauvaise foi). (Vgl. J. P. Sartre (Sein), insbesondere 1. Teil, 2. Kapitel) Er widmet sich ausführlich der Frage, ob Unaufrichtigkeit als Lüge, und zwar als Sich-selbst-belügen aufgefaßt werden könnte. Idealiter, und das heißt, wenn er nicht mehr oder weniger Opfer der eigenen Lüge wird, behauptet der Lügner in sich die Wahrheit, die er in seinen Worten verneint. Der Lügner weiß also etwas und das, was er zum Ausdruck bringt, äußert er wider besseres Wissen: »Man lügt nicht über das, was man nicht weiß, man lügt nicht, wenn man einen Irrtum verbreitet, dem man selbst erliegt, man lügt nicht, wenn man sich irrt.« (J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 120 ff.)

Diese Bestimmung der Lüge folgt also dem aus dem Vorhergehenden bekannten paradigmatischen Fall des Augustinus. Kann die so bestimmte Lüge Modell der Unaufrichtigkeit sein? Das Hauptproblem einer solchen Übertragung sieht Sartre in der Aufhebung der Dualität von Lügner und Belogenem: »Bei der Unaufrichtigkeit geht es zwar auch darum, eine unangenehme Wahrheit zu verbergen oder einen angenehmen Irrtum als Wahrheit hinzustellen. Aber alles ist (gegenüber der Lüge) dadurch verändert, daß ich in der Unaufrichtigkeit mir selbst die Wahrheit verberge. Daher gibt es hier keine Dualität von Täuscher und Getäuschtem.« (J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 122)

Und zwar besteht dieses Problem darin, daß die Aufhebung der Dualität eine paradoxale Situation zur Konsequenz hat: »(In der Unaufrichtigkeit) sind der, den man belügt und der, der lügt, ein und dieselbe Person, was bedeutet, daß ich als Täuschender die Wahrheit kennen muß, die mir als Getäuschtem verborgen ist. … wie kann also die Lüge bestehen, wenn die Dualität, die sie bedingt, aufgehoben ist?« (J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 123)

Damit hat Sartre deutlich jenes epistemische Paradoxon herausgearbeitet, das für die folgende Diskussion bestimmend sein wird: Versteht man mauvaise foi nach Art einer Lüge, dann muß ein und dieselbe Person ein und dasselbe zugleich wissen und nicht wissen. 13 Der

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Vgl. jedoch oben, S. 68, Fn. 12. Martin Löw-Beer hat die Diskussion des Paradoxons A

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Schluß, den Sartre angesichts dieser Situation zieht, lautet, daß die Unaufrichtigkeit keine Lüge, kein Sich-selbst-belügen sein kann. Zumindest beiläufig erwähnt Sartre auch das zweite wichtige Bestimmungsstück der Lüge, deren Intentionalität: »Der Lügner hat die Absicht zu täuschen« (J. P. Sartre (Sein), S. 121). Doch spielt dies Merkmal bei der Erörterung der Unaufrichtigkeit keine wesentliche Rolle mehr, und schon gar nicht gelangt Sartre etwa dahin, dem epistemischen Paradoxon ein Paradoxon der Intentionalität zur Seite zu stellen. 14 Die Beachtung dieses Merkmals ist jedoch im Falle der Unaufrichtigkeit von mindestens ebenso großer Bedeutung wie im Falle der Lüge; denn die Reduktion auf den Irrtum erscheint hier als noch verführerischer. In Wirklichkeit wäre dann jemand, von dem wir sagen, er unterliege einer Selbsttäuschung, nur jemand, der sich irrt, z. B. im Hinblick auf ihm vorliegende Belege für eine bestimmte Überzeugung. 15 der Selbsttäuschung für obsolet erklärt, weil dessen Konstruktion eine notwendige Bedingung unterstellen soll, die de facto nicht erfüllt sei (»These T«): »Der erfolgreiche intersubjektive Täuscher weiß, daß der von ihm Getäuschte glaubt, was der Täuscher für falsch hält, und daß dieser, aus Sicht des Täuschers, falsche Glaube durch seine Intervention gebildet wurde.« Er kommentiert: »Daraus wird gefolgert, daß auch der erfolgreiche Selbsttäuscher wissen müßte, daß er meine, was er nicht meint. Aber (T) ist keine notwendige Bedingung für erfolgreiches Täuschen. Denn der Erfolg einer Täuschung oder Lüge bemißt sich einzig daran, ob die Täuschungsabsicht realisiert wurde. Ob eine Täuschung erfolgreich ist, hat mit Meinungen des Täuschers über den Erfolg oder Mißerfolg nichts zu tun.« (M. Löw-Beer (Selbsttäuschung), S. 27) Die These, die bei der Konstruktion des Paradoxons laut Martin Löw-Beer unterstellt wird, bezieht sich also auf ein Wissen des Lügners um den Erfolg seiner Handlung. Doch wie man sieht, geschieht die Konstruktion bei Sartre ganz ohne den Rückgriff auf eine solche Voraussetzung und allein unter Bezug auf ein anderes Wissen des Lügners, dasjenige, das Martin Löw-Beer meint, wenn er von dem spricht, »was der Täuscher für falsch hält«. Ich halte dieses Argument für falsch: Martin Löw-Beer könnte nur zeigen, daß das epistemische Paradoxon der Selbsttäuschung nicht gegeben ist, wenn er zeigen würde, daß es eine notwendige Bedingung für die Konstruktion des Paradoxons gibt, die nicht erfüllt ist. Nun soll diese notwendige Bedingung das Erfolgswissen des Täuschers sein. Doch von dieser Bedingung zeigt er nicht, daß sie nicht erfüllt ist, sondern, daß sie keine notwendige Bedingung ist. Also folgt nicht, daß es kein Paradoxon gibt. 14 Dies Paradoxon ließe sich etwa in der folgenden Art und Weise formulieren: Betrachtet man Unwahrhaftigkeit als Sich-selbst-belügen, dann müßte der Unwahrhaftige ein und dasselbe zugleich absichtlich tun und unabsichtlich erleiden. (Vgl. hierfür in anderer Formulierung und für die weitere Ausarbeitung der Konsequenzen des Modells der Lüge D. Pears (Paradoxes), S. 80 ff. und M. W. Martin (Self-Deception), insbes. S. 13 ff.) 15 Vgl. für eine Interpretation der Selbsttäuschung in diesem Sinne die Analyse D. Davidsons, unten, 2.3. Es ist die These H. Fingarettes gegenüber seinen Vorgängern in der

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Sartre über Selbsttäuschung

Vielleicht, so fragt Sartre nun weiter, läßt sich das Modell der Lüge für die Unaufrichtigkeit retten, wenn die Dualität, deren Aufhebung im Falle einer Übertragung tout court zum epistemischen Paradoxon führt, auf andere Weise wiederhergestellt wird, und zwar durch eine Kompartmentalisierung des Bewußtseins. Eben diesen Weg, so scheint es, geht die Psychoanalyse, wenn sie »die psychische Masse in zwei Teile spaltet, ›Ich‹ und ›Es‹»(J. P. Sartre (Sein), S. 125). Der Psychoanalyse zufolge würde demnach das Es den Part des Lügners, das Ich den des Belogenen vertreten. Dies bedeutet freilich, wie Sartre unterstreicht, nur eine partielle Übertragung des Modells, und zwar aus folgendem Grunde: Übernimmt das Es den Part des Lügners, dann belüge nicht mehr ich mich, wie in der Unaufrichtigkeit; ich bin der Belogene, aber nicht mehr der Lügner, denn das Es ist mir so fremd wie irgendeinem Außenstehenden. (Vgl. J. P. Sartre (Sein), S. 126) Doch auch so ist die Anwendung des Modells noch zu einfach gedacht. Man betrachte ein Beispiel, in dem Sartre sich vorstellt, er sei Kleptomane, ein Bücherdieb, der offenbar zusätzlich an einem Bekenntnisdrang leidet, denn er erklärt das eigene Verhalten als einen »von Selbstbestrafung hergeleiteten Prozeß, der mehr oder weniger direkt mit dem Ödipus-Komplex in Verbindung steht« (J. P. Sartre (Sein), S. 125). Durch den Diebstahl möchte er also erreichen, daß er, ertappt, für ödipale Wünsche bestraft wird. Und hier ist es nun nicht der ödipale Wunsch, der Trieb, der das Ich belügt, indem er diesem sagt: »Wir, ich der Trieb und du das Ich, halten Bücher für begehrenswert«, in Wirklichkeit aber die Mutter meint. Dem Trieb kann es nur darum zu tun sein, sich unverhüllt zum Ausdruck zu bringen, ihm geht es nur um Wahrhaftigkeit. (Vgl. J. P. Sartre (Sein), S. 128) Also bedarf es neben dem Es und dem Ich einer dritten Instanz, die den ödipalen Wunsch kennt und die verhindern möchte, daß er in ersten Phase der an Sartre anschließenden Diskussion, R. Demos, F. A. Siegler, J. V. Canfield und D. F. Gustafson sowie T. Penelhum, daß sie alle dies Element der Intentionalität in der Selbsttäuschung übersehen hätten. (Vgl. H. Fingarette (Self–Deception), S. 28 ff.) Auch Sartre selbst wurde vorgeworfen, er beschreibe nur Fälle von Täuschung und nicht solche von Selbsttäuschung. A. C. Danto, von dem dieser Vorwurf stammt, folgt jedoch einem anderen Kriterium und nicht dem der (fehlenden) Intentionalität: Die Gestalten in Sartres Beispielen (die Kokette, der Homosexuelle, der Kellner, der Mann am Abgrund usw.) befänden sich im Irrtum über sich selbst; sie würden die Wahrheit nicht kennen; doch gerade dies sei die Voraussetzung der Selbsttäuschung. (Vgl. A. C. Danto (Sartre), S. 77 f.) A

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Erscheinung tritt. Diese dritte Instanz ist die Zensur. Sie kennt die Wahrheit und sie will deren Aufdeckung verhindern. Demnach läge Selbsttäuschung immer dann vor, wenn das Ich einen Gedanken bildet, der von der Zensur hervorgebracht wurde, und von dem diese weiß, daß er falsch ist. 16 Ist diese Erklärung der Unaufrichtigkeit befriedigend? Das verneint Sartre in einem zweiteiligen Argument zum psychoanalytischen Zensurbegriff, welches im Kern darauf abzielt aufzudecken, welche Schwierigkeiten sich aus der Einführung eines homunculus Zensor ergeben. Die Zensur, so lautet Sartres Argument, könnte entweder unbewußt oder bewußt sein. Doch eine unbewußte Zensur ist nicht denkbar; denn um ihre Aufgabe wahrnehmen zu können, muß sie sich ihrer Rolle als Zensor bewußt sein; also ist sie (sich ihrer Rolle und daher ihrer selbst) bewußt. Ist sie dann als bewußte Zensur möglich? Auch das ist undenkbar; denn sie wäre so Bewußtsein vom Trieb, um nicht von ihm zu wissen; doch dann wäre die Zensur unaufrichtig, und es würde Unaufrichtigkeit durch Unaufrichtigkeit erklärt. Daher ist die Zensur weder als unbewußte noch als bewußte möglich. Man betrachte dies Argument nochmals von nahem; wie steht es um den ersten Teil, um die Frage nach der Möglichkeit einer unbewußten Zensur? Um diese Frage zu beantworten, so wurde gesagt, muß man sich die Funktion der Zensur vor Augen führen, die darin besteht, Tatbestände zu verschleiern, Wissen zu verhindern. Es bedarf also einer Instanz, die nicht nur weiß, was sich im Es abspielt, sondern die auch über Selbstbewußtsein verfügen muß, über »Wissensbewußtsein«; denn der Zensor muß die Triebe nicht nur unterscheiden, in erlaubte (Hunger, Durst, Schlaf) und unerlaubte; er muß auch die unerlaubten Es findet sich bei Sartre eine gewisse Ungenauigkeit in der Beschreibung der Anwendung des Modells, wenn er später doch wieder von den Verstellungen des Instinkts spricht und davon, daß die Zensur getäuscht wird. (Vergl. J. P. Sartre (Sein), S. 128) Denn diese Verhältnisse entsprächen doch jener anderen Anwendung, in welcher der Täuscher der Trieb und nicht etwa die Zensur ist. Hier wäre dann nicht mehr die Rede von dem Zensor, der dem Ich Informationen vorenthalten möchte, sondern vom Trieb, welcher gegenüber dem Zensor seine Wünsche zur Geltung bringen bzw. sie an diesem vorbei dem Ich zur Kenntnis bringen will. Und der Trieb täte dies durch eine entsprechende Verkleidung seiner Wünsche, durch deren symbolische Darstellung. Doch ist dies eine andere Anwendung des Modells, und aus der sich anschließenden Darstellung Sartres geht hervor, daß er bei seiner Kritik nicht den Trieb, sondern die Zensur als Täuscher im Auge hat.

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als zu verdrängende erfassen und das heißt, sagt Sartre, er muß eine Vorstellung von seiner Tätigkeit als Zensor haben, sich selbst also in der Vorstellung als solcher, als Zensor, repräsentieren. (Vgl. J. P. Sartre (Sein), S. 128) Und damit schließt Sartre die Möglichkeit der unbewußten Zensur ohne weiteres aus: denn wenn sie in der so dargestellten Weise nicht nur weiß, sondern auch Wissensbewußtsein hat, dann muß sie bewußt sein. Diese These vom notwendigen Selbstbewußtsein der Zensur, die damit auch notwendig bewußt ist, ist Teil einer ganz allgemeinen These Sartres vom menschlichen Bewußtsein. So sagt er zu Beginn von L’être et le néant: »Ein Bewußtsein, das von sich selbst nichts wüßte, ein unbewußtes Bewußtsein«, wäre »absurd« (J. P. Sartre (Sein), S. 20). Was ist es, das Sartre am unbewußten Bewußtsein als absurd erscheint? Ein solches Bewußtsein wäre eines, das sich seiner selbst nicht bewußt wäre, und dies ist es, was Sartre als undenkbar erscheint: Es kann kein Wissen geben, das sich seiner nicht bewußt ist. 17 Mit der Absurdität des unbewußten Bewußtseins meint Sartre also nicht einen etwa mit diesem Begriff verbundenen Widerspruch, z. B. daß zugleich ein Tatbestand gewußt werde (Bewußtsein) und nicht gewußt werde (unbewußt); als absurd empfindet er vielmehr ein Bewußtsein, das von sich selbst nichts wissen sollte und in dieser Hinsicht unbewußt wäre, also das Wissen um einen Tatbestand, dem ein Wissen um dies Tatbestandswissen fehlen würde. 18 Und im Falle der Zensur zeigt sich ja dies Wissensbewußtsein als ihr Selbstbewußtsein, dessen Notwendigkeit Sartre dargetan hatte (sie muß ihre Funktion kennen, um diese wahrnehmen zu können). Die Zensur also muß (sich ihrer selbst) bewußt sein. Wie ist es Sartre scheint die These vom Wissensbewußtsein zunächst zu bestreiten, wenn er Alains Formulierung »Wissen ist wissen, daß man weiß« verwirft. (Vgl. J. P. Sartre (Sein), S. 128) Es stellt sich jedoch bald heraus, daß diese Zurückweisung nur einem Wissen in bestimmter Form gilt: Alains Wissen, daß man weiß, ist »reflexiv«, das Wissensbewußtsein, welches Sartre an dessen Stelle rückt, »präreflexiv«. (Vgl. J. P. Sartre (Sein), S. 20–21) Der Sinn dieser Unterscheidung im gegebenen Zusammenhang ist die Vermeidung eines Regresses, der sich ergeben würde, wenn jede Erkenntnis Erkenntnis von sich selbst wäre; dieser infinite Regreß wäre wieder absurd, sagt Sartre. (Vgl. ders. (Sein), S. 21) Da Wissensbewußtsein Erkenntnis von anderer Art als unser Gegenstandswissen ist, wird der Regreß vermieden. 18 A. Wood beschreibt das Selbstbewußtsein des Zensors nach Sartre als ein »Wissen zweiter Ordnung«. (Vgl. ders. (Self-Deception), S. 202) 17

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um die Möglichkeit der bewußten Zensur bestellt? Sartres Gegenargument wurde erwähnt: Als bewußte wäre die Zensur Wissen vom Trieb, um Unwissen von ihm zu sein. Damit aber wäre nichts gewonnen; denn ein Wissen von etwas, um dies etwas nicht zu wissen, ist gerade das, was man als unaufrichtig bezeichnet; die Annahme einer bewußten Zensur führt daher in den Regreß. Dies Argument ist oft so rezipiert worden, als ob Sartre gegen die Psychoanalyse den Vorwurf erheben würde, die Annahme der Zensur führe generell, also auch als Annahme einer unbewußten Zensur, in den Regreß. Doch wie man sieht, bezieht sich das Regreßargument nur auf die Annahme einer bewußten Zensur. Ob die Psychoanalyse sich also Sartre geschlagen geben muß, hängt von der Akzeptabilität des ersten Teils des Psychoanalysearguments ab. Es lautete, die Zensur könne nicht unbewußt sein, weil jedes Wissen zugleich Wissensbewußtsein sei. Ist dies ein schlagender Einwand gegen die psychoanalytische Annahme von der unbewußten Zensur? Nein; denn man könnte Sartre dies Selbstbewußtsein der Zensur durchaus konzedieren, ohne daß die eigentliche psychoanalytische Annahme, daß nämlich die Zensur dem Ich unbewußt ist, überhaupt berührt wäre. Die Zensur könnte (und kann) sich selbst bewußt sein, ohne (dem Ich) bewußt zu sein. Betroffen wäre sie nur, wenn das Selbstbewußtsein der Zensur Teil des Bewußtseins des Ichs wäre – also unter der Voraussetzung der Einheit und Transparenz des Bewußtseins; doch diese Einheit will ja Sartre gerade beweisen, wenn er gegen die Vorstellung eines unbewußten Wissens Front macht; also darf er sie nicht voraussetzen. Demnach ist die psychoanalytische »Rettung des Modells der Lüge« möglich, trotz der von Sartre erhobenen Einwände. 19 Zu diesem Schluß gelangt auch D. Pears, vgl. z. B. ders. (Irrationality), S. 37. Mit gewissen Modifikationen hat Pears daher das Modell der Lüge als Lösung des Problems der Selbsttäuschung übernommen. Dies ist besonders deutlich in ders. (Freud), S. 97–112. Am heftigsten kritisiert wurde das homunculus-Modell – ein Zensor, der Absichten und damit ein eigenes Bewußtsein hat – von M. Johnston. Dieser Kritik zufolge wären Vorgänge wie Verdrängung, Verleugnung und andere seelische Prozesse, bei denen Zensur mit im Spiel ist, zielgerichtet, aber nicht intentional (»mental tropism«). (Vgl. ders. (Self-Deception), bes. S. 65 f.) Johnston ist entgegenzuhalten, daß die intentionalistische Beschreibung des Modells nicht ausschließt, daß mit dem Modell ein kausaler, und d. h. nichtintentionaler Prozeß, z. B. von der Art eines Tropismus erklärt wird.

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Jedoch: Ist auch das Modell gerettet, so nicht der Begriff; denn in einem anderen Punkt behält Sartre recht: In dieser Anwendung des Modells belüge nicht ich mich selbst. 20 Auf diese Frage nach dem Verhältnis von Modell und Begriff wird unten (2.4) noch zurückzukommen sein; im nun folgenden ist zunächst darzustellen, wie denn Sartre eine Lösung des Problems der Selbsttäuschung sieht, wenn diese keine Lüge sein soll und auch nicht psychoanalytisch gerettet werden kann, wie Sartre ja meint. Er kommt zunächst in seiner Untersuchung der Unaufrichtigkeit in L’être et le néant zu folgendem Schluß: »Wenn die Unaufrichtigkeit möglich ist, so weil sie die unmittelbare, ständige Bedrohung jedes Entwurfs des menschlichen Seins ist, weil das Bewußtsein in seinem Sein ein ständiges Risiko von Unaufrichtigkeit enthält und der Ursprung dieses Risikos ist, daß das Bewußtsein, gleichzeitig und in seinem Sein, das ist, was es nicht ist, und nicht das ist, was es ist.« (J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 159 f.)

Man betrachte, um ein besseres Verständnis zu gewinnen, Sartres Beispiel von der jungen Koketten beim ersten Rendezvous. Sich selbst und ihrem Verehrer gegenüber leugnet sie das sexuelle Moment, das die Begegnung ausmacht: Sie will nicht sehen, auf was die

Es stellt sich als Nebenthema die Frage, welche Konsequenzen diese Betrachtung für die Psychoanalyse hat. Dies Thema wird später weiter verfolgt werden (vgl. unten, 5.3), doch folgendes scheint deutlich: 1) Sartres Argument ist keine Widerlegung der Psychoanalyse, weil diese etwa ein widersprüchliches Modell verwenden würde. Es wurde gezeigt, daß Sartres Argument nicht greift. 2) Doch andererseits erklärt die Psychoanalyse auch nicht das Verhalten des Selbsttäuschers, wenn sie aufgrund von etwas Unbewußtem erklärt, Zensur oder Es, d. h. wenn nicht mehr Ich mich täusche. Mit dem Ich zugleich wird vieles genommen, was als konstitutiver Teil der Selbsttäuschung zu betrachten ist: daß der Betreffende etwas zugeben soll, daß ihm etwas vorzuwerfen ist usw. (Insofern ist eine ganze Tradition in der Nachfolge Sartres, die glaubt, das eigentliche Explanans der Psychoanalyse sei die Selbsttäuschung, auf der falschen Fährte. (Vgl. etwa besonders deutlich K. Gergen, der glaubt, der Begriff der Selbsttäuschung sei überhaupt erst mit der Psychoanalyse in die Welt gekommen, vgl. ders. (Ethnopsychology), S. 228 ff.)) Nachdrücklich hat jüngst Adolf Grünbaum darauf hingewiesen, daß die psychoanalytische Theorie der Fehlleistungen noch gar nicht Teil der eigentlichen psychoanalytischen Erklärung sei, die auf den Mechanismus der Verdrängung zurückgreifen würde, sondern bloße Propädeutik. (Vgl. ders. (Grundlagen), S. 325 ff.) Mir scheint, daß diese Auffassung auch mit Freuds Kriterium der »Bewußtseinsfähigkeit« des Vorbewußten übereinstimmt. (Vgl. S. Freud (Traumdeutung), Kap. VII, Abschn. F und ders. (Das Unbewußte), Abschn. II) Diese gesamte Thematik wird in Kap. 5 einer näheren Betrachtung unterzogen werden.

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Situation angelegt ist, bei ihm nimmt sie nur Bewunderung, Achtung, Respekt wahr; bis er ihre Hand ergreift, und dies verändert alles: denn nun kann sie an ihrer Fiktion nicht mehr festhalten, sie muß reagieren; entweder, indem sie seinen Händedruck erwidert, ein offenes Eingeständnis, daß es zwischen ihnen um mehr und um anderes geht, als sie bisher zugelassen hatte; oder indem sie die Hand zurückzieht, was die gesamte Situation zerstören würde. Sie entscheidet sich zu einem dritten, indem sie dem Verführer die Hand überläßt, doch ganz unabsichtlich: »Die junge Frau gibt ihre Hand preis, aber sie merkt nicht, daß sie sie preisgibt. Sie merkt es nicht, weil es sich zufällig so fügt, daß sie in diesem Augenblick ganz Geist ist. Sie reißt ihren Partner zu den höchsten Regionen der Gefühlsspekulation mit, sie spricht vom Leben, von ihrem Leben, sie zeigt sich unter ihrem wesentlichen Aspekt: eine Person, ein Bewußtsein. Und inzwischen ist die Scheidung von Körper und Seele vollbracht; die Hand ruht inert zwischen den warmen Händen ihres Partners: weder zustimmend noch widerstrebend – ein Ding.« (J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 134)

Es ist klar, wie dies Beispiel als ein Sich-selbst-belügen zu beschreiben wäre: Wenn die junge Kokette sich ganz als Geistwesen gibt, dann weiß sie in Wirklichkeit sehr genau um die Wünsche, die sie bestimmt haben, dies Rendezvous einzugehen, und die in eine ganz andere Richtung weisen, und auch um die ihres Verehrers. Dies Wissen ist geradezu Voraussetzung dafür, daß sie sich so als reiner Geist präsentieren, diese Wünsche derart vor sich verbergen kann. Doch aus den bekannten Gründen kann das nicht sein; die Möglichkeit der Unaufrichtigkeit wurzelt vielmehr, sagt nun Sartre, in der eigenartigen Struktur des menschlichen Bewußtseins, und zwar »in der Innenstruktur des präreflexiven cogito«, in dem »die menschliche Realität in ihrem unmittelbarsten Sein … das ist, was sie nicht ist, und nicht das ist, was sie ist« (J. P. Sartre (Sein), S. 153). Die Besonderheit dieser Struktur ist darin zu sehen, daß das Bewußtsein nicht nur Wissen ist. 21 Sartre verdeutlicht dies am Beispiel des Zählens: Wenn ich meine Zigaretten zähle, dann finde ich etwas über die Welt heraus; als Ergebnis weiß ich dann, daß die Welt zwölf Zigaretten enthält, die mir gehören: »Ich habe den Eindruck der Enthüllung einer objektiven Eigenschaft dieser Zigarettenmenge: es sind zwölf. Diese Eigenschaft 21

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Diese These begegnete bereits bei Sartres Kritik an Alain, vgl. oben S. 73, Fn. 17.

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erscheint meinem Bewußtsein als eine in der Welt existierende Eigenschaft.« (J. P. Sartre (Sein), S. 22) Er bezeichnet dies Wissen als setzendes oder reflexives Bewußtsein. Ebenso bin ich mir nun dieser Tätigkeit des Zählens selbst bewußt. (Bei Sartre heißt das, daß ich mir meines Bewußtseins bewußt bin, da ja die Tätigkeit des Zählens selbst nicht anderes als reflexive Erkenntnis ist.) Dies Bewußtsein, das nicht zu einem Wissen führen soll, bezeichnet Sartre als präreflexiv, im Gegensatz zur erkennenden Reflexion. Daß ich mir der Tätigkeit bewußt bin, sagt Sartre, zeigt sich daran, daß ich die Frage »Was tust du da?« sofort beantworten kann mit »Ich zähle«. Daß ich dies aber nicht weiß, beweisen seiner Auffassung nach bestimmte Experimente Piagets, in denen Kinder addieren konnten, dann aber nicht zu erklären vermochten, was sie da getan hatten. (Vgl. J. P. Sartre (Sein), S. 22) Die Tatsache des präreflexiven Bewußtseins ist der Schlüssel zum Verständnis der Unaufrichtigkeit, wenn diese keine Lüge sein soll: Die junge Frau weiß nichts davon, daß sie dem Verehrer ihre Hand überläßt, obwohl ihr ihre Handlung präreflexiv bewußt ist. Doch dies präreflexive Bewußtsein ist eben nicht jenes Wissen, das nach Sartre Konstituens der Lüge ist. Insofern kommt es erst gar nicht zum Widerspruch, denn präreflexives Bewußtsein und das, was die junge Frau vorgibt – Ich bin ganz Geist – stehen nicht auf ein und derselben Ebene. Man sieht, wie dieses Modell das Erscheinungsbild der Unaufrichtigkeit rettet: Natürlich gibt es in der Unaufrichtigkeit nicht die gegenwärtige Selbstbeschreibung »Ich verhalte mich so, als wäre meine Hand ein Ding«; es gibt diese Beschreibung nur durch den anderen oder als Selbstbeschreibung post hoc. Im Modell und in Wirklichkeit kann ich auf Anfrage antworten (und werde dann sagen) »Wie konnte ich mich nur so belügen!«. Es gibt also in beiden Fällen, dem des präreflexiven Bewußtseins und dem der Selbsttäuschung ein Im-nachhinein-sagen-können und die Unmöglichkeit der gegenwärtigen Selbstbeschreibung und gegenwärtigen Wissensbehauptung. Einen charakteristischen Zug der Unaufrichtigkeit erfaßt Sartres Modell freilich nicht: Beide Zuschreibungen von Unaufrichtigkeit, die gegenwärtige Zuschreibung durch andere und die Selbstzuschreibung post hoc schreiben ein Wissen zu (»Eigentlich weißt Du doch, daß Du dich belügst … wußte ich doch, daß ich mich belüge!«). An der Stelle dieses Wissens findet sich im Modell nur eine merkwürdiA

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ge zeitliche Topologie und ein an diesem Ort mögliches Bewußtsein, das nicht weiß. Damit ist gezeigt, wie Sartre das Paradoxon vermeidet, das bei der Erklärung der Unaufrichtigkeit als einem Sich-selbst-belügen entsteht. Noch offen ist, wie er denn nun Unaufrichtigkeit selbst erklärt, ist die Gefahr des Paradoxons einmal aus dem Weg geräumt. Für Sartre besteht Unaufrichtigkeit in der unterbliebenen Synthese von »Faktizität« und »Transzendenz«: desjenigen, was den Menschen in einer gegebenen Situation bestimmt einerseits – sein Körper, die Umstände, seine Vergangenheit – und seiner Freiheit andererseits, die diese Vorgegebenheiten übersteigen kann. (Vgl. J. P. Sartre (Sein), S. 134 f.) Man betrachte nochmals die junge Frau beim Rendezvous. Hier würde eine gelungene Synthese darin bestehen, daß sie ihrem Verehrer ihre Hand überläßt, nicht, als wäre die ein Ding, sondern weil sie im vollen Bewußtsein ihrer eigenen Wünsche etwas dazu tut, damit diese in Erfüllung gehen. Eine solche Handlungsweise nennt Sartre »authentisch«. Ihre Erklärung bezieht sich auf die Wünsche des Handelnden und ein diesen entsprechendes Verhalten. 22 Doch die Synthese wird nicht vollzogen, wie man sieht: Die junge Frau verhält sich, als ob ihr Körper etwas von ihr ganz Unabhängiges wäre, ein Ding; als ob ihr Verhalten also einer ganz anderen Form der Erklärung folgen müßte, mit denen etwa die Ursachen einer Lähmung angegeben werden. Dies ist allerdings noch nicht die Pointe der Unaufrichtigkeit, die vielmehr in jenem Schibboleth besteht, mit dem Faktizität und Transzendenz vertauscht werden: Mit ihrem Verhalten gibt die junge Frau ihre Freiheit als Faktizität aus: »Ich überlasse dir nicht meine Hand, sondern ich kann nichts dagegen tun, daß sie hier liegen bleibt (und ich kann auch nichts dafür)«; und natürlich ihre Faktizität als Freiheit: »Ich bin mein Geist, etwas von der Art sexueller Wünsche kenne ich nicht«. Das menschliche Bewußtsein, sagt Sartre, ist das, was es nicht ist und nicht das, was es ist. Es ist, heißt das, seine Freiheit, das, was es aufgrund seiner Entscheidung sein kann und deshalb noch nicht ist. M. Löw-Beer hat Sartres Analyse von Faktizität und Transzendenz im Hinblick auf die verschiedenen Erklärungstypen ausgearbeitet, die hier mit im Spiel sind. (Vgl. ders. (Selbsttäuschung), Kapitel XI)

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Und es ist nicht das, was es schon ist, es ist nicht identisch mit seiner Determination, der Situation, dem Körper, der Vergangenheit. Unaufrichtigkeit beruht auf der Möglichkeit, mit diesen beiden zu spielen, sie zu vertauschen. Sie ist für Sartre also die unterbliebene Koordination von beiden. (Vgl. J. P. Sartre (Sein), S. 134 f.) Sartres eigener Lösungsversuch, besonders sein Versuch der Vermeidung des epistemischen Paradoxons, wurde in der folgenden Diskussion – im Gegensatz zu seinem Problemaufriß – kaum rezipiert. Dies ist vielleicht gerade auf den soeben dargestellten Zusammenhang zurückzuführen: daß diese Auflösung so tief in seiner umfassenderen Philosophie eingebettet ist, daß sie kaum als aus dieser lösbar und unabhängig von ihr präsentierbar erscheint. Im vorliegenden Zusammenhang bemerkenswert ist, daß Sartres Vermeidung des epistemischen Paradoxons doch auf eine Zweiteilung zurückgreift, die er zwar nicht als Kompartmentalisierung des Bewußtseins begreift – das präreflexive Bewußtsein »ist ja eins mit dem Bewußtsein, von dem es Bewußtsein ist« (J. P. Sartre (Sein), S. 23) –, bei der aber doch eine Dualität aufgemacht wird, die Sartre für die Erklärung der Unaufrichtigkeit nach dem Modell der Lüge vermißte. Auch rückt ihn diese Strategie wieder in die Nähe der zuvor kritisierten Psychoanalyse oder allgemein aller Ansätze, die versuchen, Unaufrichtigkeit durch Kompartmentalisierung zu erklären. Zusammenfassend sei an dieser Stelle nun die Problemsituation skizziert, so wie sie sich nach Sartres Formulierung und Kritik darstellt: Sartre macht zunächst auf ein bestimmtes Problem aufmerksam, daß nämlich dem Begriff der Selbsttäuschung ein Widerspruch anhaftet, sofern man ihn dem Modell der Lüge zufolge als ein Sichselbst-belügen versteht. Eine erste, skeptische Reaktion auf das so aufgewiesene Paradox könnte in der Preisgabe des Phänomens bestehen: Ein derartiges, widersprüchliches Phänomen gibt es nicht, der Begriff der Selbsttäuschung ist leer. 23 Die dogmatische Gegenreaktion besteht in der Behauptung, daß Selbsttäuschung aufgrund einer Kompartmentalisierung des BeMit dem Skeptizismus auf dieser Argumentationsstufe geht oft die Interpretation einher, wer sich zur Selbsttäuschung bekenne, sei in Wahrheit einfach ein Lügner, etwa zum Zwecke der Exkulpation: Der Alkoholiker, der versichert, er könne beim nächsten Glas aufhören, will den anderen belügen, nicht sich selbst. Und wenn er im nachhinein sagt, er sei einer Selbsttäuschung unterlegen, so ist dies nur ein Entschuldigungsversuch.

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wußtseins doch möglich sei: In einem unterteilten Bewußtsein ist die Dualität von Lügner und Belogenem wiederherstellbar. Die skeptische Antwort stammt wiederum von Sartre: Sind beide Kompartments, das des Lügners und das des Belogenen, in der Einheit des Bewußtseins bewußt, dann ist eine Lösung des Problems der Selbsttäuschung nicht möglich, es sein denn, die psychoanalytische Zensur wäre selbst wieder unwahrhaftig; doch hier ist nichts gewonnen, dieser Lösungsansatz führt zum Regreß. Der Dogmatiker hält dem entgegen, daß die psychoanalytische Zensur unbewußt agiert. Das skeptische Gegenargument Sartres – die Zensur muß bewußt sein, da sie eine Vorstellung von der eigenen Tätigkeit haben muß – ist abzuweisen; die Zensur darf durchaus selbstbewußt sein, es ist hinreichend, wenn das Ich von den Zensurvorgängen nichts erfährt. Ein anderes Argument Sartres bleibt jedoch gültig: Der Sinn des Begriffs geht mit dieser Lösung verloren: Nicht mehr ich bin es, der sich selbst belügt, ich werde von etwas anderem, dem Es belogen. Sartre schlägt sich nun seinerseits auf die Seite des Dogmatikers, und er hält Unaufrichtigkeit aufgrund der Unterscheidung von reflexivem und präreflexivem Bewußtsein für möglich. Der skeptische Einwand lautet auch hier, daß mit dieser Lösung der Sinn des Begriffs »Selbsttäuschung« verloren geht, dem zufolge dem Unaufrichtigen sehr wohl ein Wissen attestiert wird, nicht bloß (präreflexives) Bewußtsein. Es erscheint nach dieser Durchsicht skeptischer und dogmatischer Argumente ein Ausweg offen zu bleiben: Vielleicht ist eine Lösung des Problems der Selbsttäuschung auf der Grundlage eines kompartmentalisierten Bewußtsein möglich, derart, daß zwar beide Kompartments bewußt sind, jedoch nicht transparent, das heißt, ohne daß Einheit des Bewußtseins bestünde, wie Sartre angenommen hatte. Die Möglichkeit dieses Auswegs untersucht Donald Davidson.

2.3 Donald Davidsons Philosophie der Irrationalität Davidson versucht gegen Sartre eine Rehabilitation »einiger der wichtigsten Thesen Freuds«, von denen er meint, »daß ihnen keinerlei begriffliche Verwirrung anhafte, würden sie nur in hinreichend weitem Sinne dargestellt«. (D. Davidson (Paradoxes), S. 290) 80

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Man betrachte das folgende Beispiel für Selbsttäuschung: Meier ist kahl; die Wahrnehmung dieses Tatbestandes motiviert ihn dazu, sich vorzuspiegeln, er sei nicht kahl. Davidson wirft zwei Probleme auf: 1. Wie kann ein geistiges Ereignis (die in der Selbsttäuschung hervorgebrachte Überzeugung) durch ein anderes (die Wahrnehmung) kausal erklärt werden, wenn die Ursache nicht zugleich auch einen Grund für das zu erklärende Ereignis darstellt? 2. Selbsttäuschung erfordert das Fortbestehen der Ursache, denn es ist der Fortbestand der Wahrnehmung, der das Andauern der Selbsttäuschung gewährleistet: Gerade solange er sich als kahl wahrnimmt, fährt Meier fort sich vorzuspiegeln, er sei es nicht. Dann stellt sich aber das weitere Problem: Wie kann man p glauben (man sei kahl) und zugleich das Gegenteil :p (man sei nicht kahl)? Davidsons erstes Problem wird vor dem Hintergrund seiner Handlungstheorie verständlich. (Vgl. oben, 1.5) Dieser Theorie zufolge wird eine Handlung durch einen »Primärgrund« erklärt, und das heißt, durch die Angabe einer Absicht und einer Mittel-ZweckÜberzeugung des Handelnden; z. B. setze ich Wasser auf, weil ich die Absicht habe, Tee zuzubereiten, und weil ich glaube, dafür kochendes Wasser zu benötigen. Der Primärgrund zeigt also, daß die Handlung im Lichte der Absicht und Mittel-Zweck-Überzeugung des Handelnden rational ist, er begründet die Handlung. Er zeigt jedoch nicht nur, daß die Handlung rational ist, sondern verursacht diese auch; denn nur so ist gesichert, daß der Handelnde auch tatsächlich aus dem angegeben Grunde handelt (sonst könnte er ja auch den Primärgrund bei sich erwägen, ohne zum Handeln überzugehen). (Vgl. D. Davidson (Handlungen), bes. Abschnitt III) Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist nun die Betrachtung der begründenden Charakteristik des Primärgrundes. Denn an ihr legt Davidson dar, daß eine Handlung gerade dadurch erklärt wird, daß sie als rational (im Lichte des Primärgrundes) erscheint. Und eben hieraus ergibt sich das Problem der Erklärung irrationalen Handelns: Besteht die Erklärung einer Handlung im Nachweis ihrer Rationalität, wie soll dann eine irrationale Handlung überhaupt erklärbar sein? Nun wäre eine solche Erklärung denkbar, wenn sie in physikalischen oder neurophysiologischen Begriffen abgegeben werden könnte. Dies erscheint als zunächst möglich, da jedes Ereignis unterschiedliche Beschreibungen erfahren kann, physikalische, chemische, neurophysiologische, psychologische. Doch im Fall der Irrationalität A

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muß die Beschreibung psychologisch sein, da von Irrationalität nur dort überhaupt die Rede sein kann, wo Begriffe wie die des Glaubens, der Meinung usw. ins Spiel kommen, Begriffe des Geistigen also, von etwas, das auch als rational oder irrational beschrieben werden kann. Also muß die gesuchte Erklärung sich auf Geistiges beziehen. (Vgl. D. Davidson (Paradoxes), S. 299) Wie ist eine solche Erklärung denkbar, die dies Geistige nicht begründet? Zunächst, indem auf Ursachen zurückgegriffen wird, die nur verursachen und nicht begründen (und die immer noch in der Sprache des Mentalen beschrieben sind). Gibt es so beschaffene geistige Ursachen? Es gibt sie, und zwar in Situationen sozialer Interaktion. Man betrachte das folgende Beispiel: Ich möchte Dich zu einem Besuch in meinem Garten verführen und pflanze dort deshalb eine wunderschöne Blume. Du möchtest sie von nahem betrachten und betrittst meinen Garten. Hier hat mein Wunsch Deinen Besuch verursacht. Doch natürlich war er nicht Grund Deines Besuchs. (Du mußtest ja gar nichts von ihm wissen.) Davidsons Schluß lautet daher, daß eine erklärende Kausalrelation in mentaler Sprache, die keine Begründung darstellt, möglich ist, wenn wir es mit Ereignissen nicht in einem Bewußtsein zu tun haben, sondern, wie in diesem Fall, in mehreren. Und jetzt ist es nur noch ein Schritt zur Auffassung eines kompartmentalisierten Bewußtseins: Meier glaubt in Kompartment 1, er sei kahl, daß p. Dieser Glaube verursacht ihn, den gegenteiligen Glauben herbeizuführen, er sei nicht kahl, :p, jedoch in Kompartment 2. Hier verursacht der erste Glaube den zweiten, doch natürlich begründet er ihn nicht. (Der erste Glaube wäre allenfalls Grund für den Ankauf eines Haarwuchsmittels, sofern man an dessen Wirksamkeit glaubt.) Die Kompartmentalisierung des Bewußtseins ist zugleich auch die Lösung des zweiten von Davidson aufgeworfenen Problems. Worin genau besteht die Schwierigkeit, eine Überzeugung zu haben und zugleich die gegenteilige? Immerhin liegt ja doch die Auffassung nahe, dies sei ganz leicht, z. B. wenn ich nicht erkenne, daß die beiden Überzeugungen einander widersprechen. Dieser Überlegung folgt auch Davidson: Will man Selbsttäuschung erklären, dann muß man erklären, wie es möglich ist, daß der Widerspruch nicht offenkundig wird. Man muß also erklären, wie jemand p glauben kann und :p glauben kann, nicht aber (p ^ :p). Eben hierfür kommt die Kompartmentalisierung auf: Wer sich selbst täuscht, glaubt in Kompartment 82

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1 p und in Kompartment 2 :p; er glaubt aber nicht (p ^ :p); die Kompartmentalisierung verhindert das Zustandekommen der Konjunktion, die Manifestation des Widerspruchs. Somit ist deutlich, welche wichtige These Freuds Davidson übernimmt, und in welchem Ausmaß: Wie Freud geht er von der Auffassung des kompartmentalisierten Bewußtseins aus. 24 Doch läßt er es genau hiermit auch bewenden: Die Erklärung der Selbsttäuschung erfordert nicht, daß eines der Kompartments unbewußt sei; es ist hinreichend, daß es zwei gegeneinander abgeschottete Abteilungen des Geistes gibt, von denen jedoch jede für sich zugänglich bleibt. (Vgl. D. Davidson (Paradoxes), S. 304) Mit der Einführung der These von der Kompartmentalisierung des Bewußtseins ist nun ein Rahmen gesetzt, innerhalb dessen Selbsttäuschung beschrieben und erklärt werden kann; die Aufteilung des Bewußtsein zeigt in Hinblick auf das Problem gegensätzlicher Überzeugungen und hinsichtlich des Problems der Verursachung irrationaler Handlungen, wie Selbsttäuschung möglich ist. 25 Die Frage nach der eigentlichen Beschreibung und Erklärung ist damit jedoch immer noch offen. Für die Beantwortung dieser Frage ist es zunächst wichtig, einem Eindruck entgegenzuwirken, der sich bei der Betrachtung der Darlegungen Davidsons vielleicht aufdrängt, daß es sich nämlich bei seiner Analyse der Selbsttäuschung um eine Erklärung im Sinne des Lügenmodells handle. Obwohl Davidson das Modell der Kompartmentalisierung am Beispiel einer sozialen Interaktion einführt, welche die Täuschung einer anderen Person beinhaltet, und obwohl in diesem Modell in einem Kompartment die eine Überzeugung und Die Attraktivität der These Davidsons erklärt sich zum guten Teil daraus, daß mit ihr auf philosophischem Wege ein Modell Bestätigung zu erfahren scheint, welches sich in den Einzelwissenschaften – Neurophysiologie, Psychologie, Linguistik – größter Beliebtheit erfreut, das »split-mind«-Modell. (Vgl. hierzu z. B. A. Oksenberg-Rorty (Self), bes. S. 19 ff. u. Fn. 9.) Nun geht es in der Philosophie nicht um Erklärung und Prognose durch Modelle; eher stellt sie fest, daß ein Bild zu bestimmten begrifflichen Verwirrungen geführt hat, indem es etwa mißverstanden und überinterpretiert wurde. Die Philosophie mag also in der Lage sein, ein Bild zurechtzurücken. Doch dies zu tun, indem sie selbst ein neues, anderes Bild anbietet, erscheint als philosophisch wenig erfolgversprechend (wenn auch manchmal unvermeidlich – wie sich dann im nachhinein zeigt). 25 Zugleich zeigt Davidson auch, daß irrationales Handeln eben keine Widerlegung seiner Handlungstheorie darstellt. Dies wird unten deutlicher werden, wenn sich Selbsttäuschung in Davidsons Sinn als Irrtum u. d. h. als unabsichtlich und damit eben letztlich nicht als Handlung erweisen wird. 24

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im anderen die gegenteilige unterhalten wird, bringt er ganz deutlich zum Ausdruck, daß er (wie schon Sartre) Selbsttäuschung als Lüge für unmöglich hält. Der Lügner will sich als jemand darstellen, der etwas Bestimmtes glaubt, was er in Wirklichkeit nicht glaubt. Diese Absicht muß er vor dem anderen verbergen wollen. Dann erscheint aber die Selbsttäuschung unmöglich, da sie in der Absicht geschehen müßte, genau diese Absicht vor sich zu verbergen. 26 Ebensowenig will Davidson die Lüge als Modell durch die Anwendung auf seelische Instanzen retten: Es gibt bei Davidson keinen Zensor und auch kein Belogen-werden des Bewohners des einen Kompartments durch den eines anderen: Die Annahme eines unabhängigen Agens, sagt Davidson, ist überflüssig; die Relationen zwischen den Kompartments des Bewußtseins können rein funktional betrachtet werden, und das heißt, daß die Inhalte des einen Kompartments diejenigen eines anderen verursachen. (Vgl. D. Davidson (Paradoxes), S. 304) An die Stelle des Lügenmodells tritt bei Davidson insgesamt ein anderes, das ich im folgenden als »Bestätigungsmodell« bezeichnen werde. Es besagt, soviel vorab, daß, wer sich selbst täuscht, sich in der Bewertung einer Hypothese irrt. Er überschätzt oder unterschätzt die Belege, die eine bestimmte Hypothese stützen bzw. bestätigen. Um diesen Ansatz gut verständlich zu machen, sei bei einem Vorschlag von Alfred R. Mele angesetzt, der kurz vor Davidson, vieles von dessen Argumentation in schärferer Form vorweggenommen hat. Wie die meisten Vertreter der Analytischen Philosophie ist auch Mele mit dem Problem der Paradoxie der Selbsttäuschung befaßt, das er mit anderen darin sieht, wie man zugleich p und :p glauben kann. Seine Lösung des Problems lautet, es gebe diese Paradoxie nicht, weil zur Erklärung des Phänomens der Selbsttäuschung der Rekurs auf die eine der beiden Überzeugungen überflüssig sei. Ist von Selbsttäuschung die Rede, dann sei es hinreichend, auf die Bildung der anderen Überzeugung Bezug zu nehmen, und zwar unter einer besonderen Bedingung. Vgl. D. Davidson (Deception), S. 88. Es wurde gezeigt, daß eine derartige Definition der Lüge, die auf den Gegensatz von Denken und Äußerung verweist, zu kurz greift. (Vgl. oben, 2.1) Davidson erkennt jedoch an gleicher Stelle, S. 87, auch die entscheidende Rolle der Täuschungsabsicht an.

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Man betrachte ein Beispiel. In einem Film Billy Wilders legt ein Detektiv dem Ehemann Stück um Stück den photographischen Beweis für die Untreue seiner Ehefrau vor. Beim letzten Bild, das zeigt, wie sie mit dem Nebenbuhler unter der Bettdecke verschwindet, bricht der Ehemann in den Ruf aus »Oh diese schreckliche Ungewißheit!« Glaubt hier der gehörnte Ehemann noch immer an die Treue seiner Frau, dann irrt er nach Mele, weil er die Belege, die gegen diese seine Meinung sprechen, falsch bewertet, unterschätzt. Doch diese Fehleinschätzung ist noch nicht hinreichend, damit von Selbsttäuschung die Rede sein könnte, bei einer Fehleinschätzung von Evidenzen simpliciter sprechen wir eher von Irrtum oder von Täuschung. Es muß nach Mele eine besondere Bedingung zu dieser Fehleinschätzung hinzutreten, damit aus der Täuschung, dem Irrtum, Selbsttäuschung wird, und zwar, daß der Betreffende wünscht, daß die fragliche Überzeugung wahr sei sowie daß dieser Wunsch ihn dazu bewegt, die verfügbaren Daten zu manipulieren. Die Selbsttäuschung des Ehemanns, nicht gehörnt zu sein, entspringt also der irrtümlichen Bildung dieses Urteils, der Fehleinschätzung der vorgelegten Beweisstücke, und zwar verursacht durch den Wunsch, daß es tatsächlich nicht so sein möge. (Vgl. A. R. Mele (Self-Deception), S. 368–370) Tatsächlich gibt es hier kein Paradox. Meles Analyse setzt beim Wunsch ein, daß :p der Fall sein möge, welcher Wunsch zur Fehlbewertung der Daten und damit zur Bildung der Überzeugung :p führt. Es gibt hier keine Kompartmentalisierung, Selbsttäuschung ist einfach nicht mehr als dieser Wunsch, verbunden mit der Fehlbewertung. Doch zieht dies eine besondere Konsequenz nach sich, daß nämlich Selbsttäuschung dieser Auffassung nach unabsichtlich wäre: Der Betrogene irrt bei der Durchsicht des Beweismaterials, und demnach handelt es sich bei der Selbsttäuschung um einen bestimmten Typus des Irrtums, einen Typus, dem zwar ein Wunsch zugrunde liegt, der aber dennoch unabsichtlich bleibt. Dies ist auch ganz explizit Meles These, die er durch das folgende Argument stützt: Im Falle des Begriffs »Selbsttäuschung« sei zu unterscheiden zwischen dessen buchstäblicher Bedeutung und jener Bedeutung, die üblicherweise mit diesem Begriff transportiert werde. Nach Meles Dafürhalten heißt »Selbsttäuschung« in dieser A

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zweiten Bedeutung »unabsichtliche Täuschung« im angegebenen Sinne. 27 Mele hält nicht alle Selbsttäuschung für unabsichtlich. Er gibt das folgende Beispiel eines »Pascalschen Programms« für absichtliche Selbsttäuschung: Wer nicht an Gott glaubt, könnte es doch für nützlich halten, dies zu tun und ein Programm entwerfen – Teilnahme an den entsprechenden Ritualen, Beten des Rosenkranzes, Anzünden von Wachskerzen usw. –, nach dessen Vollzug er gläubig wäre (und das er dann nicht mehr, wie zuvor, als Täuschung bezeichnen würde). (Vgl. A. R. Mele (Self-Deception), S. 374; vgl. B. Pascal (Pensées), Fr. 233) Für Mele ist dies ein Beispiel absichtlicher Selbsttäuschung, weil hier am Anfang der Täuschung eine Absicht steht, nämlich die Absicht, die eigene Meinung durch eine Täuschung zu ändern. In der weiteren Diskussion wurden Beispiele nach Art des Pascalschen Programms als »selbstinduzierte Täuschungen« bezeichnet. Es ist zu beachten, daß auch die Ausnahme, die Mele hier konzediert, ein Pascalsches Programm, bei dem am Anfang eine Absicht zur Täuschung besteht, nicht irrational ist. Auch hier wird die Irrationalität dadurch vermieden, daß es nicht zum Widerspruch kommt: Wenn der Atheist zum Gläubigen geworden ist, glaubt er nicht mehr an die Nichtexistenz Gottes, der Glaube :p hat den ersten Glauben p abgelöst. Mele zufolge ist also Selbsttäuschung rational, ob sie nun, wie in den meisten Fällen, unabsichtlich geschieht oder ob ihr in Ausnahmefällen eine Täuschungsabsicht vorweggeht. Davidson knüpft in seiner Analyse der Selbsttäuschung bei einer Problemlage an, die der von Mele entwickelten entspricht. Damit soll nicht gesagt sein, daß Davidson unmittelbar auf Mele Bezug nimmt, vielmehr erwähnt er ihn gar nicht; sondern nur, daß sich Davidsons Auffassung besonders gut als die Anerkennung einiger und die Zurückweisung anderer Elemente der Selbsttäuschung charakterisieren läßt, so wie diese von Mele herausdestilliert wurden. Davidsons zentrale These lautet, daß es sich bei der Selbsttäuschung um eine selbstinduzierte Täuschung handelt, die in der Fehldeutung der relevanten Daten besteht: Vgl. A. R. Mele (Self-Deception), S. 368. Mele ist dennoch der Auffassung, daß die Analyse uns der Verantwortlichkeit im Falle der Selbsttäuschung nicht entbindet: wir würden ja oft auch für unsere Irrtümer verantwortlich gemacht. (Vgl. ders. (Self-Deception), S. 377)

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»Selbsttäuschung ist … eine Form selbstinduzierter Bestätigungsschwäche, wobei das Motiv für die Herbeiführung einer Überzeugung die gegenteilige Überzeugung ist (oder was auch immer als hinreichender Beleg zugunsten der gegenteiligen Überzeugung betrachtet wird).« (D. Davidson, »Deception and Division«, S. 89 [Übers. T.K.])

Ein Glaube p verursacht also in der Selbsttäuschung die Absicht zur Bildung von :p; diese Absicht wird in die Tat umgesetzt indem sie ihrerseits eine gewisse Schwäche hervorruft, »Bestätigungsschwäche« (weakness of the warrant), derart, daß die Aufmerksamkeit in der Selbsttäuschung von den p bestätigenden Belegen abgezogen wird oder dadurch, daß der Betreffende beginnt, nach Belegen für :p zu suchen. Indem er die These von der Selbsttäuschung als selbstinduzierter Täuschung vertritt, setzt Davidson denjenigen Fall als generell gültig, den Mele als Ausnahme betrachtet hatte, die absichtliche Selbsttäuschung. Er unterstreicht dies durch den Hinweis, daß gerade dies, die Absichtlichkeit, auch die Verwandtschaft von Selbsttäuschung und Lüge ausmache: »Der Selbsttäuscher muß die ›Täuschung‹ [Davidsons Anführungszeichen] wollen. Zumindest soweit ähnelt Selbsttäuschung der Lüge; es gibt ein absichtliches Verhalten, das auf die Hervorbringung einer Überzeugung abzielt, die der Handelnde nicht teilt, wenn er zur Tat schreitet.« (D. Davidson, »Deception and Division«, S. 87 [Übers. T.K.])

In beiden Fällen, Selbsttäuschung und Lüge, will also der Täuscher die Täuschung. Daß Davidson dennoch nicht der Auffassung ist, Selbsttäuschung sei Lüge, weil es sonst zum Widerspruch in Hinblick auf die Täuschungsabsicht käme, wurde oben erwähnt. Man sieht dann, wie die These von der selbstinduzierten Täuschung gerade hier weiterhilft: In der selbstinduzierten Täuschung gibt es eine Täuschungsabsicht (wie auch im Fall der Lüge), doch der Widerspruch wird vermieden, da die Absicht zum Zeitpunkt der Täuschung nicht mehr besteht. Doch jetzt trennen sich die Wege: Anders als Mele hält Davidson Selbsttäuschung für irrational, und zwar aus dem folgenden Grunde: Die Ursache der Selbsttäuschung, die Überzeugung p, darf die Selbsttäuschung nicht nur auslösen, sie muß vielmehr als wirkende fortbestehen. Denn nur der Fortbestand dieser Überzeugung sichert den Bestand der gegenteiligen Überzeugung :p. Man führe sich dies am Beispiel des kahlen Meier nochmals vor Augen: Meier A

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hat gerade darin ein Motiv, sich einzubilden, er sei nicht kahl, daß ihm (unliebsamerweise) seine Kahlheit gegenwärtig ist. 28 Gerade daher läßt Davidson auch einen Fall nach der Art von Meles Pascalschem Programm nicht als Selbsttäuschung gelten. Er selbst gibt ein Beispiel, in dem jemand, im Vertrauen darauf, er werde dies schon zur rechten Zeit vergessen haben, einen falschen Termin in seinen Terminkalender einträgt, um einer unerwünschten Verabredung zu entgehen. (Vgl. D. Davidson (Deception), S. 88, Fußnote 5) Er stellt heraus, daß in diesem Beispiel, und dies gilt auch für ein Pascalsches Programm, der Umstand ausgebeutet wird, daß mit der eigenen Vergeßlichkeit kalkuliert werden kann. Es handelt sich demnach um Beispiele, bei denen nicht man selbst, sondern das zukünftige Selbst hinters Licht geführt wird. Und solche Fälle dürfen nicht als Selbsttäuschung betrachtet werden: »Hier wird die beabsichtigte Überzeugung nicht durch die Absicht, die sie hervorbrachte, getragen (sustained), und es liegt hier nicht notwendig Irrationalität in irgendeinem Sinne vor«. Vom oben Gesagten her ist Davidsons Kritik klar: Selbsttäuschung kommt nur in Gang und hat nur Bestand, solange der Mechanismus besteht, dessen Teil die Ausgangsüberzeugung ist. Wird dieser Teil der Maschinerie abgetrennt, dann gibt es auch keine Selbsttäuschung mehr. Eben dies aber geschieht im Pascalschen Programm und auch in Davidsons Beispiel; hier wird die Ausgangsüberzeugung und mit ihr die Absicht zur Täuschung außer Kraft gesetzt (im Pascalschen Programm durch eine Meinungsänderung, in Davidsons Kalkül durch das Vergessen der Absicht) und daher ist die zustande gekommene Täuschung keine Selbsttäuschung mehr – die Absicht trägt die Täuschung nicht mehr, wie Davidson sagt. 29 DavidNur so ist übrigens auch Selbsttäuschung von Wunschdenken unterscheidbar. Meles Beschreibung ist tatsächlich eine Beschreibung von Fällen von Wunschdenken: Daß jemand wünscht, etwas sei so, und daß dieser Wunsch die Phantasie erzeugt, daß es so sei. Hier gibt es keine Irrationalität im Sinne eines Widerspruchs. 29 Es ist für Davidson nicht ganz einfach, diese Verhältnisse im Rahmen seiner Handlungstheorie zum Ausdruck zu bringen, und tatsächlich drückt er sich nicht immer eindeutig aus. Spricht er beim Kalkül mit der Vergeßlichkeit davon, hier trage die Absicht nicht die Handlung, so sagt er wenig später, p trage :p im Sinne von Verursachung. Doch natürlich verursacht die Absicht die Täuschung auch im Kalkül mit der Vergeßlichkeit – was sonst? (In diesem Sinne würde also die Absicht im Kalkül mit der Vergeßlichkeit sehr wohl tragen.) Gewöhnlich würden wir wohl sagen, daß im Falle des Kalküls die Täuschung nicht die 28

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son knüpft demnach bei Meles Beispiel einer absichtlichen Selbsttäuschung an, die er aber, im Gegensatz zu diesem, für irrational hält; d. h. demjenigen, der sich selbst täuscht, sind p und :p gegenwärtig – :p wird sonst erst gar nicht gebildet bzw. hat andernfalls nicht Bestand. (Daher ist auch der Kalkül mit der Vergeßlichkeit für Davidson keine Selbsttäuschung, weil in ihm die Absicht zur Bildung von :p in einem Sinne nicht mehr weiter wirkt.) Die Absichtlichkeit verbindet Selbsttäuschung und Lüge. Doch nun darf Selbsttäuschung wegen des sich dann ergebenden Widerspruchs keine Lüge sein. So daß sich für Davidson die Frage stellt, wie man an der Absicht zur Bildung von :p, der Täuschungsabsicht, festhalten und doch dem Widerspruch entgehen kann? Davidsons Schachzug, und das ist nun seine Erklärung der Selbsttäuschung, besteht darin, daß er, im Vergleich zur Lüge, die Täuschungsabsicht samt deren Ausführung von dem trennt, was dann im weiteren, immer noch im Sinne der Täuschungsabsicht, geschieht. Absichtlich ist die Herbeiführung der Täuschung; doch nicht diese selbst, sie bleibt unabsichtlich. Wie genau dies geschieht, wurde bereits erläutert: Wer sich selbst täuscht, stellt bestimmte Bedingungen der Täuschung bei sich her, nämlich die von Davidson so genannte Bestätigungsschwäche. Es ist dies, was er absichtlich tut, in der Ausführung seiner Täuschungsabsicht. Doch daß er sich dann täuscht, geschieht unabsichtlich, als Auswirkung dieser Schwäche. Man versteht Davidson gut, wenn man dies Modell mit optischen Täuschungen im Physikunterricht vergleicht; bei solchen Täuschungen wird eine Apparatur aufgebaut, es werden bestimmte Bedingungen geschaffen. Und als Ergebnis der so geschaffenen Bedingungen findet die Täuschung statt. Natürlich ist der Aufbau der Apparatur absichtlich und mit dem Aufbau ist die entsprechende Absicht ausgeführt. Doch würden wir die Täuschung selbst so nicht mehr nennen, sie ist nicht Teil dessen, was absichtlich hingestellt Ausführung der Absicht darstellt (sondern sie verursacht); haben wir aber die Absicht jemanden zu täuschen, dann ist die Täuschung (z. B. daß wir einen falschen Satz aussprechen) diese Ausführung. Für Davidson freilich steht dieser Weg nicht offen, weil seiner Auffassung nach die Absicht Ursache der Ausführung ist. Daher müßte er hier eigentlich eine andere Unterscheidungsmöglichkeit zwischen dem Kalkül mit der Vergeßlichkeit und der eigentlichen selbstinduzierten Täuschung im Sinne der Selbsttäuschung finden. (Wir haben es also im Falle der kalkulierten Vergeßlichkeit mit einem Beispiel von »abwegiger Verursachung« zu tun. (Vgl. hierzu D. Davidson (Handlungsfreiheit), S. 131)) A

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wird, sondern läuft als Ergebnis dieser Bedingungen autonom ab. In derselben Weise ist die Herstellung der Bedingungen für Täuschung im Sinne der Davidsonschen Beschreibung absichtlich; aber daß dann der Getäuschte Belege für seine Überzeugung als Ergebnis der Bedingungen überschätzt oder unterschätzt, dies ist nicht mehr absichtlich, wenn es auch der Absicht entspricht, in der die Bedingungen hergestellt wurden. In einer Hinsicht freilich muß dies Bild präzisiert werden: Der Versuchsleiter darf den Raum nicht verlassen; diese physikalische Apparatur ist für ihr Funktionieren darauf angewiesen, daß er sie in Gang hält. Dürfte er sie sich selbst überlassen, dann würde sie dem Kalkül mit der Vergeßlichkeit entsprechen; denn der Tagebucheintrag wirkt autonom (z. B. auch dann, wenn die zu treffende Person dem Tagebuchschreiber mittlerweile besonders sympathisch ist und er sie immer wieder gern trifft). Hält der Versuchsleiter die Maschinerie in Gang, dann funktioniert sie gerade so lange, wie die Täuschungsabsicht andauert. Obwohl es also nach Davidsons Analyse im Falle der Selbsttäuschung eine Absicht gibt, die die Selbsttäuschung trägt, und nicht nur eine, die sie anfänglich einleitet, bleibt es doch bei der von Mele gezogenen Konsequenz, daß nämlich Selbsttäuschung im Kern unabsichtlich ist. Sie ist Irrtum oder Täuschung, und es gibt keine Täuschungsabsicht, auch wenn, wer sich selbst täuscht, die Täuschung will. Die Unabsichtlichkeit der Selbsttäuschung entspricht nun, so möchte ich meinen, im Gegensatz zu den entsprechenden Bemerkungen Meles nicht unserem Verständnis von der Bedeutung, die dieser Begriff hat. So weit, wie ihm dies möglich ist, führt Davidson Absichtlichkeit an die Selbsttäuschung heran. Doch es bleibt eine Differenz, die dieser Art Analyse widersteht. Warum? Die Gründe für die verbleibende Differenz liegen gerade in Davidsons Modell der Wahl. Die Absichtlichkeit der Selbsttäuschung ist im Modell der Lüge mit eingebaut. Wir sahen anfangs, daß Absichtlichkeit gerade das Definiens ist, mit dem Lüge von Irrtum oder Täuschung unterschieden werden kann. Hingegen gibt es im Bestätigungsmodell eine derart eingebaute Charakteristik nicht. Im Hinblick auf Belege, die eine Hypothese stützen oder widerlegen, kann ich mich nur irren, Selbsttäuschung als Bestätigungsschwäche führt demnach zur Täuschung, doch nie zur Absichtlichkeit. Es ist also verständlich, warum die Unterscheidung von Irrtum und ab90

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sichtlicher Täuschung kollabiert, wenn Davidson dem Modell der Bestätigung folgt. Davidson mag noch so viele Absichten ausmachen, die hier tragend mit im Spiel sind; wenn Selbsttäuschung nach dem Modell der Bestätigung erklärt wird, muß sie in diesem Modell bloßer Irrtum bleiben.

2.4 Die Rhetorik der Selbsttäuschung Denkt man noch einmal an die Problemsituation zurück, vor der Davidson nach Sartres Analyse stand, dann muß man zu dem Urteil kommen, daß er, wie auch Sartre selbst, keinen neuen Ausweg aufgezeigt hat. Angesichts des Dilemmas, entweder den Begriff adäquat bestimmen oder aber rechtfertigen zu müssen, inwiefern das beschriebene Phänomen Selbsttäuschung sein kann, entscheiden sich beide für die zweite Lösung; sie beschreiben einen anderen Gegenstand, können dann aber nicht mehr begründen, daß es sich bei diesem um Selbsttäuschung handeln soll. 30 Man führe sich die Problemlage nochmals vor Augen: Auf das von Sartre herausgearbeitete Paradox der Selbsttäuschung ist zunächst die skeptische Reaktion möglich: Es gibt kein derartiges Phänomen. Der Skepsis wurden im wesentlichen drei affirmative Auffassungen entgegengestellt: Sartres Versuch einer Rettung des Phänomens bei Einheit des Bewußtseins; doch unter diesem Versuch leidet der Begriff, sofern wir unter dessen Bestimmungsstücke rechnen, daß, wer sich selbst täuscht, ein Wissen hat, daß er den Inhalt der Lüge eigentlich kennt. Dann die psychoanalytische Aufteilung des Sich-selbst-belügens auf einen inneren Lügner (die Zensur) und einen inneren Belogenen (das Ich). Sartres Hauptkritik, hier werde unzulässigerweise die Einheit des Bewußtseins mißachtet, wurde zurückgewiesen. Doch einem zweiten Einwand wurde stattgegeben, daß nämlich hier nicht mehr ich mich selbst belüge: das Modell der Lüge bleibt erhalten, doch ein anderer füllt die Rolle des Lügners aus, die Zensur. Auch in diesem Falle geht der Begriff der Selbsttäuschung »Wird Selbsttäuschung im Sinne des Wortes konstruiert, dann scheint zu folgen, daß, wer sich selbst täuscht ein und dieselbe Aussage sowohl glaubt als auch nicht glaubt … wird Selbsttäuschung nicht im Wortsinne konstruiert, dann steht man vor der Schwierigkeit zu erklären, warum sie so bezeichnet wird.« (R. Audi (Self-Deception), S. 92 [Übers. T. K.])

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als eines Sich-selbst-belügens verloren (und wird in den des Belogenwerdens-durch-einen-anderen aufgelöst). Die dritte Auffassung folgte der Psychoanalyse in der Kompartmentalisierung des Geistes; doch soll es kein Unbewußtes mehr geben; gegen Sartre festgehalten wird nur die (auch psychoanalytische) Preisgabe der Einheit des Bewußtseins; mit Sartre hält allerdings auch Davidson die innere Lüge für unmöglich. Es zeigte sich, daß auch die dritte Auffassung für die Rettung des Phänomens der Selbsttäuschung einen Preis in derselben Münze zahlt: Ein wichtiges Definiens des Begriffs findet sich nicht wieder, hier: die Absichtlichkeit der Selbsttäuschung. Das Fazit dieser Betrachtung lautet also, daß doch entweder dem Skeptiker Recht zu geben ist – es gibt keine Selbsttäuschung – oder aber, daß der Begriff in nur modifizierter Weise festgehalten werden kann, so wie im einzelnen beschrieben. Doch diese Schlußfolgerung ist nicht unausweichlich. Man betrachte noch einmal das soeben formulierte Dilemma: Die adäquate Bestimmung des Begriffs der Selbsttäuschung besteht offenbar in der Angabe des Widerspruchs; doch bestimmt man ihn adäquat, dann kann ihm kein Gegenstand entsprechen. In dieser Formulierung des Dilemmas stimmen Dogma und Skepsis überein. Nun hält der Skeptiker den Begriff der »Selbsttäuschung« für unabänderlich kontradiktorisch – dann kann der Begriff nichts bezeichnen und muß bedeutungslos sein; hingegen glaubt der Dogmatiker, »Selbsttäuschung« müsse etwas bezeichnen – dann kann er nicht kontradiktorisch sein. In dieser Explikation der skeptischen und dogmatischen Konsequenzen des Dilemmas wird besonders eines deutlich: daß Skeptiker und Dogmatiker eigentlich je zwei Thesen vorbringen, eine faktische – es gibt oder gibt keinen Gegenstand Selbsttäuschung; und eine begriffliche – »Selbsttäuschung« hat oder hat keine Bedeutung; und daß zwischen den faktischen und den begrifflichen Thesen ein Zusammenhang besteht, in dem beide Positionen konform gehen: daß die Antwort auf die Frage, ob der Begriff Bedeutung hat, davon abhängt, ob es den Gegenstand gibt. Beide Positionen halten also mit anderen Worten nur Beschreibungen (oder deskriptive Begriffe) für bedeutungsvoll. 31 Im folgenden sei nun gezeigt, daß das Dilemma der Selbsttäuschung genau auf dieser bedeutungstheoretischen Voraus31 Man erinnere sich hier an die sogenannte Wahrheitstheorie der Bedeutung, die von Gottlob Frege beiläufig eingeführt und von Davidson im Anschluß an Alfred Tarski be-

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setzung beruht, auf der Annahme, daß nur Beschreibungen bedeutungsvoll sind. Hierfür soll zuerst untersucht werden, wie denn der Kontext des Begriffs der Selbsttäuschung tatsächlich beschaffen ist, ob er, heißt das, wirklich zum Zweck der Beschreibung verwendet wird. Und zwar ist die Verwendung von »Selbsttäuschung« zuallererst gekennzeichnet durch bestimmte Arten der Zuschreibung von Selbsttäuschung. Diese Zuschreibung erfolgt erstens durch andere im Augenblick der Selbsttäuschung und zweitens durch den Betreffenden selbst, dann jedoch im nachhinein. (Sie erfolgt drittens auch durch andere im nachhinein.) Zwischen den beiden ersten Arten der Zuschreibung besteht ein Zusammenhang: In typischen Fällen der Selbsttäuschung vertritt der, dem sie zugeschrieben wird, eine bestimmte Überzeugung. Auf die Zuschreibung hin ändert er dann seine Meinung und er stimmt selbst post hoc der Zuschreibung zu. Der Übergang, die Meinungsänderung samt dem Eingeständnis, daß man sich wohl selbst belogen habe, geschieht nicht ohne weiteres. Man erinnere sich an das Beispiel vom Ehemann, dem der Detektiv mit einer Reihe von Fotografien den Ehebruch seiner Frau vorführt. Wer sich selbst täuscht, kann also dem vorgelegten Beweismaterial lange widerstehen. sonders auf natürliche Sprachen angewandt wurde. (Vgl. für einen Überblick G. P. Baker und P. M. S. Hacker (Language), besonders Kapitel 4 bis 6) Im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse ist Wittgensteins Anwendung der Wahrheitstheorie der Bedeutung auf die Bedeutung molekularer Sätze im Tractatus logico-philosophicus. Dort sagt er: »Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. … Man versteht ihn, wenn man seine Bestandteile versteht.« (L. Wittgenstein (Tractatus), 4.024). So versteht man z. B. den Sinn einer Konjunktion p ^ q, wenn man verstanden hat, daß diese nur unter einer Bedingung wahr ist, nämlich wenn p wahr ist und wenn q wahr ist. Entscheidend ist nun, daß z. B. die Kontradiktion p ^ :p unter keiner Bedingung wahr ist, und daher sinnlos. (Vgl. L. Wittgenstein (Tractatus), 4.461) Wie Wittgenstein erläutert, ist die Kontradiktion kein Bild der Wirklichkeit, sie läßt keine mögliche Sachlage zu. (Ders. (Tractatus), 4.462) Im Tractatus sind also die Wahrheitsbedingungen die Bedeutung eines Satzes. Da eine Kontradiktion keine Wahrheitsbedingungen hat, ist sie bedeutungslos. Eine Bedeutungstheorie von dieser Art ist es, die im Hintergrund des hier diskutierten Dilemmas steht. (Es ist vielleicht der Wechsel von der Diskussion eines widersprüchlichen Begriffs zu der der Kontradiktion erläuterungsbedürftig. Hierzu ist zu sagen, daß die Explikation eines sogenannten widersprüchlichen Begriffs zu einer Kontradiktion führt; »weißer Rappe« läßt sich explizieren als Äußerung zweier kontradiktorischer Sätze »X ist schwarz« und »X ist weiß« über denselben Gegenstand.) A

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Können wir beweisen, uns und ihm, daß er der Selbsttäuschung unterliegt, daß er das präsentierte Material fehldeutet, und nicht nur dies (daß er sich nicht nur irrt), sondern mehr noch, daß er dies absichtlich tut? Das können wir offensichtlich nicht. Die Auswege und Winkelzüge, die dem Ehemann im Beispiel offenstehen, sind sicher nicht alle verlegbar. Doch auch wenn die Zuschreibung durch andere nicht den Charakter eines Beweises hat, so gibt es doch unzweifelhafte Beispiele; was würden wir z. B. dazu sagen, wenn der Ehemann, endlich den Ehebruch zur Kenntnis nehmend, nun anmerkte, wirkliche Treue habe nichts mit Sex zu tun? Wir würden hier, glaube ich, auch wenn er derart auf seiner Meinung beharrt, unsererseits die Zuschreibung der Selbsttäuschung nicht aufgeben, sondern im Gegenteil ihn als besonders hartnäckigen Fall einstufen. Es fällt also – neben den erwähnten Modi der Zuschreibung – ein zweites Merkmal der Verwendung des Begriffs der Selbsttäuschung ins Auge: Wird normalerweise jemandem etwas Geistiges auf diese Weise zugeschrieben, daß er Schmerzen hat oder einen Farbeindruck, daß er über etwas nachdenkt oder etwas glaubt usw. – geistige oder seelische Zustände oder Prozesse – dann ist er in der Lage, dies zu bestätigen oder abzustreiten. Hierbei dient die Bestätigung als eines einer ganzen Reihe von Kriterien dafür, daß wir in der Annahme gerechtfertigt sind, der Betreffende habe jetzt z. B. Schmerzen usw. In der Philosophie der Psychologie ist aber traditionell dieser Bestätigung, die angeblich auf dem einzigen direkten Zugang beruht, immer ein besonderer, ausgezeichneter Status beigemessen worden. Das zweite Kennzeichen der Selbsttäuschung neben den erwähnten Modi der Zuschreibung besteht nun darin, daß gerade diese Bestätigung durch die gegenwärtige Selbstzuschreibung entfällt. Zwar gibt es eine Bestätigung post hoc, doch nichts von der Form: »Ja, jetzt täusche ich mich selbst«, so wie »Ja, ich habe jetzt Zahnschmerzen«. Im Vergleich zur Zuschreibung anderer psychologischer Prädikate weist die Verwendung des Begriffs der Selbsttäuschung einen blinden Fleck an einer Stelle auf, die von der Tradition als entscheidend betrachtet wurde. Zu dieser Beschreibung der Art und Weise, wie wir tatsächlich vom Begriff der »Selbsttäuschung« Gebrauch machen, sei jetzt festgehalten: Die Beschreibung dieser Verwendung ist die Beschreibung der Bedeutung des Begriffs. Diese Beschreibung zeigt zunächst, daß wir uns eines widersprüchlichen Begriffs in einer ganz bestimmten 94

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Art und Weise bedienen. Eine solche Zuschreibung wie »X täuscht sich selbst« ähnelt der Beschreibung eines inneren Prozesses wie »X putzt sich die Zähne«. Es scheint so, als müßte man nur noch die adäquate, die widerspruchsfreie Beschreibung dieses Prozesses finden. Doch es gibt einen bestimmten Zug, der uns vorsichtig stimmen könnte: Dasjenige, was wir in der Tradition als die intimste Bestätigung eines solchen Prozesses zu nehmen gewohnt sind, entfällt hier: die Bestätigung aufgrund von Introspektion. 32 Fehlt diese Beschreibung durch Introspektion, dann werden uns vielleicht auch jene beiden Zuschreibungen in anderem Lichte erscheinen, über die wir tatsächlich verfügen. Vielleicht handelt es sich auch bei Ihnen nicht um Beschreibungen. Doch nicht deshalb nicht, weil sie in sich widersprüchlich wären (und also keine Beschreibungen sein können), sondern weil wir sie anders verwenden. Zu welchem Zweck werden sie dann verwendet, wenn nicht zu dem der Beschreibung von etwas Seelischem? Das ist vielleicht aus dem bisherigen schon sichtbar geworden: Derjenige, dem Selbsttäuschung unterstellt wird, soll in bestimmter Weise beeinflußt werden, und zwar soll er dazu gebracht werden, seine Meinung zu ändern; hierfür werden ihm einmal die üblichen Gründe geliefert, die vorgetragen werden, wenn jemand einen andern von etwas überzeugen will; zum anderen aber auch jene Argumente, die gerade im Falle einer Selbsttäuschung einschlägig sind, und die oben am Beispiel schon vorgestellt wurden: daß der Betreffende doch eigentlich gegen sein besseres Wissen urteile; daß er dies nur tue, weil es seinem Wunsch entspräche, würden die Dinge anders liegen; und schließlich: daß er sich widersprüchlich verhalte – um ihm dies zu zeigen, erinnert man den Selbsttäuscher z. B. an andere Gelegenheiten, bei denen er just jenes Wissen bewiesen habe, dem entgegen er heute urteile. Zuschreibungen von Selbsttäuschungen werden also zum Zwecke der Überredung verwendet, sie sind nicht deskriptiv, sondern persuasiv. Doch ist dies eigentlich eine Lösung des philosophischen Problems? Was ist denn mit dem Ergebnis gewonnen, daß Zuschreibungen von Selbsttäuschung nicht Beschreibungen von WidersprüchHiermit soll nicht gesagt sein, daß psychologische Aussagen in der ersten Person Präsens sonst Beschreibungscharakter hätten, keineswegs. Doch den Anhänger der Tradition (der Cartesianischen), der diese Auffassung vertritt, sollte es nachdenklich stimmen, daß diese psychologische Aussage hier ganz fehlt.

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lichem sind, sondern, sagen wir, Vorwürfe der Widersprüchlichkeit zu bestimmten Zwecken? Ist denn nicht das eine so problematisch wie das andere? Noch mehr: Entkräftet nicht die Einsicht, daß hier Widersprüchliches unterstellt wird, die Zuschreibung geradezu? Fällt sie nicht auf den zurück, der etwas Derartiges zuzuschreiben versucht? Nun kann man sich vielleicht jemanden vorstellen, dem eine Selbsttäuschung zugeschrieben wird, der auf so philosophische Weise durch eine Analyse der Widersprüchlichkeit des ihm Vorgeworfenen reagiert. (Und wir würden dies vielleicht als Zeichen seiner besonders tiefen Verbohrtheit nehmen.) Es wurde auch oben schon bemerkt, daß Selbsttäuschung nicht nachgewiesen werden kann; der Betreffende kann bei seinem Standpunkt bleiben. (Und es läßt sich auch nicht beweisen, daß er sich nicht einfach irrt). Doch üblicherweise, dies ist der für Selbsttäuschung charakteristische Ausdruck, wird er nach einiger Zeit klein beigeben und jene zweite Zuschreibung produzieren, die Selbstzuschreibung der Selbsttäuschung post hoc. Und weit entfernt davon, als entkräftendes Argument zu wirken, funktioniert der Vorwurf der Widersprüchlichkeit normalerweise als Verstärkung in der Kette der Überzeugungsbemühungen. In anderen Worten: Der Widerspruch ist paradox, doch der Vorwurf des Paradoxen als Mittel kann bestimmte, beschreibbare Wirkungen zeitigen. Kehren wir noch einmal zur philosophischen Diskussion der Selbsttäuschung durch den Skeptiker und den Dogmatiker zurück! Was ist mit der hier vorgelegten Lösung über diese Auseinandersetzung gesagt? Nicht eigentlich, daß doch der Skeptiker recht hat, daß es Selbsttäuschung nicht gibt usw.? Er hat, so scheint es, in gewisser Weise recht: Will er sagen, daß wir mit unseren Zuschreibungen nicht etwas beschreiben, was sich in dem Betreffenden abspielt, dann, so meine ich, hat er recht; tatsächlich sind unsere Zuweisungen keine Beschreibungen, sie sind Persuasionsversuche. Doch dies ist nicht das Resümee des Skeptikers; der meint vielmehr, unsere Zuweisungen seien sinnlos, leer, und er will uns raten, den Begriff ganz fallen zu lassen. Eigentlich, so will er sagen, tun wir dem, mit dem wir so umgehen, bitter unrecht. 33 Und hier hat er etDie derzeitige Spielart dieses Skeptizismus ist der sogenannte Eliminative Materialismus: Dieser Auffassung zufolge handelt es sich bei unserer Alltagspsychologie und

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Die Rhetorik der Selbsttäuschung

was mißverstanden: Wir verwenden Sprache, auch Behauptungssätze, auch Sätze von der Form von Beschreibungen, ja sogar Kontradiktionen, nicht immer in ein und derselben Weise: und sie sind nicht bedeutungslos, wenn gezeigt wird, daß sie keine Beschreibungen sein können. Nun gut, aber liegt nicht doch die ganze Rechtfertigung des mit der Zuweisung erhobenen Vorwurfs darin, daß sich im Geiste des Betreffenden das und das abspielt? Die Antwort lautet, daß wir derartige Zuweisungen offenbar ohne diese Rechtfertigung vornehmen. Und das heißt nicht, daß es hier gar keine Rechtfertigung gibt. Gegen den Skeptiker darf also daran festgehalten werden, daß sich die Frage nach der Existenz der Selbsttäuschung danach entscheidet, ob wir die Zuschreibung der Selbsttäuschung rechtfertigen können, und daß wir dies ständig tun, auch gegenüber uns selbst. So daß die Skepsis einem bestimmten Vorurteil entstammt: dem Vorurteil, daß diese Zuschreibung so wie eine Beschreibung zu rechtfertigen wäre – doch dem ist nicht so. Es sollte schon klar sein, daß nicht nur der Skeptiker irrt: Sartre und Davidson versuchen ein Phänomen durch Verschiebung, leichte Veränderung, durch Umdefinition des Begriffs zu retten. Doch das heißt, daß sie, wie der Skeptiker, davon ausgehen, es müsse sich bei der Zuschreibung von Selbsttäuschung um eine Beschreibung handeln; da es nichts in sich Widersprüchliches geben kann, verändern sie den Gegenstand entsprechend und geraten auf die beschriebenen Abwege. Sie haben Recht damit, daß es nichts Widersprüchliches geben kann; doch Unrecht damit, daß zu allem, was die Form einer Beschreibung hat, ein Gegenstand gesucht werden muß. Eine Aussage dieser Form kann doch eine andere Funktion haben. Natürlich ist es ihnen nicht verwehrt, »Selbsttäuschung« neu zu definieren, so daß der Begriff jetzt auch deskriptiv Bedeutung erhält. Doch wenn sie nun meinen, mit dem neu definierten Begriff endlich die richtige Beschreibung für einen Gegenstand gefunden zu haben, der auf diese adäquate Beschreibung wartete und bisher wegen unserer widersprüchlichen Begrifflichkeit nicht recht wahrgenommen werden konnte, dann irren sie. Es scheint so, als beantworteten sie unseren alltagspsychologischen Begriffen um eine primitive, eine Prototheorie; sie ist durch die Psychologie unserer Zeit längst überholt, ihre Begriffe sind daher auszumerzen und durch diejenigen der derzeit gültigen Theorie zu ersetzen. (Vgl. oben, 1.6, S. 54) A

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die Frage: »Was ist Selbsttäuschung?«, indem sie auf den endlich gefundenen Gegenstand zeigten: »Das da!« (als ob sie also wirklich ein Phänomen retten würden). In Wahrheit haben sie nur einen Begriff in seiner Bedeutung neu bestimmt und eine solche Neubestimmung ist willkürlich. Sie irren sich also insofern, als sie nicht sehen, daß hier eine Entscheidung mit im Spiel ist, daß nämlich der Begriff von heute an so verstanden werden soll. Doch es bleibt uns überlassen, ob wir der Neudefinition folgen wollen, angesichts der Tatsache, daß der Begriff schon immer in völlig zufriedenstellender Weise Bedeutung hatte. Die Ergebnisse der Überlegungen in diesem zweiten Kapitel seien noch einmal im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung im ganzen betrachtet! Das Hauptziel dieser Überlegungen bestand darin hervorzuheben, daß der Versuch einer Rettung des Begriffs der Selbsttäuschung durch Neu- oder Umdefinition zwar immer möglich ist, jedoch zu Lasten des Gebrauchs geschieht, den wir üblicherweise von diesem Begriff machen. Zumal gegenüber Davidson wurde eingewandt, daß die Definition der Selbsttäuschung als eines selbstinduzierten Irrtums ein wichtiges Moment dieses Gebrauchs verfehlt: Wir betrachten Selbsttäuschung als ein Handeln und nicht als ein Widerfahrnis. Im Sinne der im ersten Kapitel getroffenen Unterscheidung von Handlungs- und Kausalerklärung sind Erklärungen aufgrund der Täuschung der Person, deren Verhalten erklärt werden soll, Kausalerklärungen, Erklärungen durch Selbsttäuschung hingegen Handlungserklärungen. Diese Feststellung wird besonders bei der Betrachtung experimentalpsychologischer und psychoanalytischer Erklärungen in den Kapiteln 4 und 5 noch weiter erläutert werden.

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3 Erzählen, Erklären und Verstehen

Mit der These von der Geschichte, die erzählt, rechnet Benedetto Croce in seinem Akademie-Vortrag von 1893, »Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht«, die gesamte Historiografie der Kunst zu. (Vgl. B. Croce (Geschichte), S. 22) Diese Zurechnung begründet er mit dem Interesse der Geschichtsschreibung an der Darstellung des Einzelnen, während die Wissenschaft das Einzelne nicht zur Darstellung bringen, sondern unter allgemeine Gesetze subsumieren wolle. 1 Für Dilthey und für die Philosophen des Neukantianismus (Rickert, Windelband) rechtfertigt dies historiografische Interesse nicht das Verdikt der Unwissenschaftlichkeit, wohl aber den Anspruch auf eine Eigenständigkeit der Historie gegenüber den Naturwissenschaften: Naturwissenschaften erklären aus Gesetzen, die Geschichte versteht. Gegen solche Vorstellungen richten sich ganz eindeutig die Überlegungen C. G. Hempels in »The Function of General Laws in History« aus dem Jahre 1942, in welchem er die These vertritt, daß Geschichte nach Art der Naturwissenschaften erklärt, und zwar in Form deduktiv-nomologischer Kausalerklärungen. 2 Diese These läuft auf eine methodische Einheit der Wissenschaften hinaus: Geschichte ist der Methode nach Naturwissenschaft. 3 Das besondere Kennzeichen der These Hempels besteht in der Croce hat seine Auffassung später noch einmal bekräftigt: »Man wird diese einfache und grundlegende Wahrheit, die doch vielen Geistern so schwer zugänglich ist, die von den Schatten des Naturalismus und des Positivismus befangen sind, nie genug betonen können: daß der Begriff der Ursache … der Geschichte äußerlich ist und bleiben wird, da er aus dem Boden der Naturwissenschaften erwuchs und in deren Bereich seine Aufgabe findet.« (B. Croce (Storia), S. 16) 2 Hempel nennt keinen Namen, doch steht er auch mit dieser seiner Kritik in der Tradition des Wiener Kreises. (Vgl. R. von Mises (Lehrbuch), 5. Abschnitt) 3 Daß die Kausalerklärung das Ideal der naturwissenschaftlichen Methode sei, ist angesichts der Entwicklung der modernen Physik schon früh bestritten worden. (Vgl. etwa Ph. Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen, Wien 1932) 1

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Verwendung eines nomologischen Kausalbegriffs. 4 Dieser Begriff erlaubt eine logische Deutung des Erklärungsbegriffs: Erklären ist dann die Ableitung aus einem allgemeinen Satz, eben dem Gesetz. Der nomologische Kausalbegriff ersetzt den in der Tradition des Wiener Kreises als metaphysisch empfundenen Begriff der Naturkausalität, der damit überflüssig wird. 5 In gewisser Form wieder aufgenommen wurde die Position Diltheys und des Neukantianismus – wenn auch nicht unter Berufung auf diese – von Robin Collingwood und sodann von William Dray in der Analytischen Geschichtsphilosophie. Die bestimmenden Elemente der Reprise sind die Vorstellung vom historiografischen Interesse am Einzelnen und die damit verbundene kritische Haltung gegenüber der deduktiv-nomologischen Erklärung in der Geschichte. Hierbei ist das zu verstehende Einzelne die individuelle historische Handlung: Nach Dray liefert die Geschichtswissenschaft primär sog. rationale Erklärungen, die die Handlungsgründe des Handelnden angeben, und die nicht nomologischer Natur sind. Zugleich wieder aufgenommen wird auch die Ausgangsthese von der erzählenden Geschichtsschreibung: »Erzählen« soll jetzt gerade bedeuten, darüber zu berichten, wie Handlungen durch menschliches Wollen zustande kamen. 6 Dieser Begriff war kurz zuvor von K. R. Popper erläutert worden. (Vgl. K. R. Popper, (Logik), § 12) Von Popper stammt auch das klassische Argument gegen die beschreibende oder darstellende Geschichte: »… wenn wir an spezifischen Ereignissen und ihrer Erklärung interessiert sind, so nehmen wir in der Regel alle die vielen universellen Gesetze, die wir gerade brauchen, als gegeben hin. Jene Wissenschaften nun, die dieses Interesse an spezifischen Ereignissen und an ihrer Erklärung besitzen, können wir … die historischen Wissenschaften nennen.« (Vgl. ders. (Gesellschaft), S. 326) Diesem Argument zufolge sind wir in der Geschichte tatsächlich am Einzelnen interessiert, wollen jedoch dies Einzelne durchaus erklären und stützen uns bei der Erklärung stillschweigend auf Gesetze. 5 Die Einheitsthese auf der Grundlage eines nicht-nomologischen Kausalbegriffs wird etwa zur selben Zeit vertreten von M. Mandelbaum. (Vgl. ders. (Problem), S. 224 u. 265) Der von Mandelbaum verwendete Begriff der »existentiellen Abhängigkeit« (existential dependence) läuft auf den einer notwendigen Bedingung hinaus und ist daher kein »metaphysischer Begriff«. (Vgl. auch ders. (Analysis), S. 39) 6 Dennoch stellen sie Kausalerklärungen dar, doch dies im Sinne der Kausalanalyse Collingwoods, der zufolge eine, die historisch wichtige, Bedeutung von »Ursache«, gerade in dem besteht, was der Handelnde will – die causa finalis seines Tuns. Und es sind diese Absichten des Handelnden, die der Historiker verstehen muß. Bei Dray ist gar nicht davon die Rede, wie der Historiker zu seiner Erklärung gelangt – sondern nur vom Gegensatz zweier Erklärungstypen, der deduktiv-nomologischen und der rationalen Erklärung –, und bei Collingwood nicht von Verstehen, sondern von 4

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Nun konzediert Dray allerdings das Bestehen von Kausalerklärungen im Hempelschen Sinne in der Geschichte neben der von ihm als besonders charakteristisch betrachteten rationalen Erklärung. 7 Und mit dieser Konzession ist jenes Problem aufgeworfen, auf welches die Überlegungen dieses Kapitels zulaufen werden: Wie verhalten sich deduktiv-nomologische und intentionalistische, auf die Absicht des Handelnden bezogene Handlungserklärungen zueinander? In der sich anschließenden Diskussion wird allerdings die Auffassung von der Handlungserklärung als der prototypischen historischen Erzählung geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Handlungsbeschreibungen sind für A. C. Danto überhaupt keine Erzählungen. Hingegen stellen Kausalbehauptungen prototypische Fälle jener Charakterisierungen von Ereignissen dar, die er als Erzählungen herausarbeitet. (Vgl. A. C. Danto (Philosophie), S. 253 f., S. 257 ff., S. 263 ff.) Ebenso hält er auch nomologische Kausalerklärungen für narrativ rekonstruierbar. (Vgl. A. C. Danto (Philosophie), S. 377) Und auch Haydn White, der jener Strömung im Narrativismus nahesteht, die mit Croce Historie als Kunst aufgefaßt wissen will, räumt der Kausalerklärung in seiner Philosophie der Geschichte noch entsprechenden Raum ein – als zumindest einer wichtigen Strategie, mit der der Historiker dem selbstgestellten Anspruch nachkommen möchte, doch auch Wissenschaftler zu sein. (Vgl. H. White (Metahistory), S. 10 u. S. 25 ff.) Die Prämissen der Untersuchungen im hier folgenden Kapitel können nun wie folgt zusammengefaßt werden: Gegen Windelband und Croce wird daran festgehalten, daß Geschichte erklärt und daß sie auch kausal erklärt. 8 Nach-Denken (re-thinking). Gerade Dray hat Collingwood gegen den Vorwurf in Schutz genommen, mit der These vom Nach-Denken einem historischen Psychologismus zu verfallen. (Vgl. ders., (Collingwood), S. 13–15) Ebensowenig ist freilich Rickerts Verstehensbegriff psychologistisch zu deuten. (Vgl. hierzu etwa K. O. Apel (Verstehen), S. 172 ff.) 7 Diese Konzession steht im Gegensatz zu Collingwoods Kausalanalyse, der zufolge der Begriff der Kausalität zu streichen wäre, soweit er über den der causa finalis hinaus geltend gemacht werden soll. 8 M. Mandelbaum: »Eins der am weitesten verbreiteten Vorurteile in der Theorie der Geschichtsschreibung ist das Mißtrauen gegenüber dem Begriff der Verursachung. Doch die tatsächliche Praxis der Historiker hängt von der Annahme und der Verwendung der Kausalanalyse ab. Diese praktische Annahme dessen, was in der Theorie verworfen wird, stellt ein Paradox dar, das wohl der Untersuchung wert ist.« (Vgl. ders. (Analysis), S. 30) A

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Es wird weiter davon ausgegangen, daß in der Geschichte verschiedene Begriffe der Kausalität verwandt werden 9 : zum einen der nomologische Kausalbegriff im Sinne der Rekonstruktion Hempels und Poppers, zum anderen nicht-nomologische Kausalbegriffe, etwa bezogen auf die Angabe notwendiger Bedingungen wie bei Mandelbaum und Dray, oder bezogen auf die Angabe der Absichten von Handelnden, die Angabe der causa finalis im Sinne Collingwoods und wiederum Drays. Wird nun eingeräumt, daß Geschichtsschreibung in dieser Form auf unterschiedliche Kausalbegriffe rekurriert, dann stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander. Im folgenden sollen jene Antworten untersucht werden, die auf diese besondere Frage gegeben wurden: Dargestellt wird zuerst das deduktiv-nomologische Paradigma der Erklärung, das Hempel zunächst an der Geschichtsschreibung exemplifizierte, und das er später auch für die intentionalistische, die Erklärung aufgrund der Absichten des Handelnden, geltend machte (3.1 und 3.3). Das Paradigma der deduktiv-nomologischen Erklärung wird sodann konfrontiert mit der Gegenposition Collingwoods, in der alles Erklären gerade auf die intentionalistische Erklärung reduziert wird (3.2). Die beiden folgenden Abschnitte sind nicht-reduktionistischen Ansätzen gewidmet, der Auffassung, daß verschiedene Erklärungstypen nebeneinander Bestand haben könnten. Diese Auffassung wird in Form zweier Thesen über das Verhältnis der beiden Erklärungstypen erläutert, einer Kompatibilitäts(Gardiner) und einer Komplementaritätsthese (von Wright) (3.4 und 3.5). Es wird sich zeigen, daß die Antworten des Reduktionismus und die des Antireduktionismus gleichermaßen unbefriedigend bleiben: Intentionalistische Erklärungen sind weder in deduktiv-nomologische überführbar oder umgekehrt, noch sind sie stets miteinander verträglich oder ergänzen einander. Daher bildet den Abschluß der Untersuchungen in diesem Kapitel eine Skizze der Relation dieser beiden Erklärungstypen (3.6). Gegen die Kompatibilitätsthese und die Komplementaritätsthese wird die Auffassung vertreten werden, Beiseite bleibt hier die engere Frage nach den historischen Gesetzen: ob nämlich Erklärungen in der Geschichte auf eigene historische Gesetze rekurrieren oder auf solche anderer Disziplinen und ob es sich denn, die Existenz historischer Gesetze einmal vorausgesetzt, bei diesen um Kausalgesetze oder um statistische Gesetzmäßigkeiten (vgl. E. Zilsel (Physik)) handelt.

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daß der Kern dieser Relation in der Möglichkeit besteht, der Erklärung vom einen Typ durch eine vom anderen Typ zu widersprechen. Diese Möglichkeit ist in der Kenntnis oder aber der Ignoranz der Ursache des eigenen Verhaltens durch die von der Erklärung betroffenen Person begründet.

3.1 Die deduktiv-nomologische Erklärung und die Einheit der Wissenschaft In Logik der Forschung expliziert K. R. Popper einen Begriff der Kausalerklärung, dem zufolge einen Vorgang kausal erklären heißt, dessen Satzbeschreibung aus Kausalgesetzen und Randbedingungen deduktiv abzuleiten. (Vgl. K. R. Popper (Logik), S. 31) Als Autor der These von der Geltung dieser deduktiv-nomologischen Kausalerklärung auch in der Geschichte wird C. G. Hempel betrachtet. 10 Das Hauptproblem für diese These sieht Hempel in der Tatsache begründet, daß sie der faktischen Vorgehensweise des Historikers zu widersprechen scheint: Jene Gesetze, auf die er sich bezieht, sind nur selten ganz explizit. Hierfür nennt Hempel zwei Ursachen: 1. Die in Anspruch genommenen Gesetze sind häufig solche der Individual- oder Sozialpsychologie, die jedermann aus der Alltagserfahrung geläufig sind. Daher werden sie nicht eigens erwähnt. 11 2. Oft ist es schwierig, die zugrundegelegten Annahmen hinlänglich exakt und zugleich in Übereinstimmung mit allen verfügbaren relevanten empirischen Daten zu formulieren. Die Erklärung einer Revolution durch den Unmut eines großen Teiles der Bevölkerung etwa setzt offensichtlich eine allgemein gültige Regularität voraus; doch ist es nur schwer möglich anzugeben, welches Ausmaß und welche Form diese Unzufriedenheit annehmen muß, und welche Bedingungen hinzukommen müssen, damit es zur Revolution kommt. (Vgl. Hempel (Function), S. 236 f.) Erklärungen in der Geschichtswissenschaft sind daher Erklärungsskizzen, die vervollständigt werden müssen, indem Gesetze Vgl. C. G. Hempel (Function); ähnlich dann auch Popper selbst in (Gesellschaft), Bd. II, S. 323 ff. 11 Ähnlich betrachtet auch Popper die bei der historischen Erklärung für gültig vorausgesetzten Gesetze, etwa der Soziologie oder Psychologie, als trivial. (Vgl. K. R. Popper (Gesellschaft), Bd. II, S. 326 ff.) 10

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und Randbedingungen präzisiert werden, will man eine wirklich explizite Erklärung erreichen. Gegen welche Auffassung richtet sich Hempels Theorie der historischen Erklärung? »Der Historiker, so wird uns gesagt, versetzt sich selbst an den Platz der Personen, die in jenes Geschehen verwickelt sind, welches er erklären möchte; er versucht sich so vollständig wie möglich jene Umstände zu vergegenwärtigen, unter denen sie gehandelt haben, und die Motive, die ihre Handlungen beeinflußten; und durch diese imaginäre Identifizierung mit seinen Helden kommt er zu dem Verständnis und damit zu einer angemessenen Erklärung der Ereignisse, mit denen er befaßt ist.« (C. G. Hempel, »The Function of General Laws in History«, S. 239 [Übers. T. K.])

Geschichte wäre demnach wesentlich von den Naturwissenschaften durch eine sozialwissenschaftliche Methode unterschieden, nämlich die des einfühlenden Verstehens. Hempel bestreitet nicht, daß diese Methode wirklich in der Geschichte und im Alltag Verwendung findet. Doch erklärt sie noch nicht. Vielmehr gehört sie in einen ganz anderen Kontext, und zwar in den der Heuristik: Tatsächlich kann der Versuch der Versenkung in ein historisches Individuum zur Bildung einer Hypothese führen, warum der Betreffende so und so gehandelt habe. Die Begründung der Hypothese aber steht noch aus, sie muß auf anderem Wege erfolgen. Und diesen anderen Weg hat Hempel nun aufgezeigt: die Subsumption unter allgemeine Gesetze. Diese besondere Heuristik ist nicht einmal notwendig: Es ist völlig gleichgültig, woher der Historiker seine Hypothesen bezieht – wenn es um deren Gültigkeit geht, ist er auf einen anderen Kontext, auf den der Rechtfertigung durch Deduktion aus Gesetzen und Randbedingungen verwiesen. Mit der irritierenden These eines deduktiv-nomologischen Erklärens in der Geschichte, bei dem die Gesetze, aus denen abgeleitet wurde, unsichtbar bleiben, setzt Hempel einen Fixpunkt, auf den jeder nachfolgende Beitrag zur Debatte Bezug genommen hat. Doch zeigen sich bereits hier, am Ursprung des Hempelschen Programms, zwei dunkle Wolken am Horizont, die einen Schatten auf sein Modell werfen: 1. Statistische Erklärungen: Auch in der Geschichte sind, wie in den Naturwissenschaften, die meisten Gesetze nicht von deterministischer, sondern eher von statistischer Natur. Dementsprechend findet sich schon in Hempels erster Darstellung ein Widerspruch, wenn 104

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er zunächst von deterministischen Gesetzen ausgeht, dann jedoch die Existenz statistischer Gesetze in der Geschichte einräumt. 12 Diese Konzession ist deshalb problematisch, weil die Erklärung des Einzelfalls nur durch logische Deduktion aus Allaussagen möglich sein soll; aus probabilistischen Hypothesen läßt sich über den Einzelfall aber nichts ableiten. Sofern also mit Hempels These der Anspruch einer rationalen Rekonstruktion des Begriffs der historischen Erklärung erhoben wird – der Anspruch zu zeigen, daß die Erklärung einer logischen Relation entspricht, nämlich der der Deduktion – ist sein Unternehmen schon gescheitert, bevor es recht in Gang gekommen ist. 13 2. Handlungserklärungen: Alle von Hempel aufgeführten Beispiele deduktiv-nomologischer Erklärungen in der Geschichte beziehen sich auf das Verhalten von Gruppen: Das erste liefert eine Erklärung für die Selbsterhaltungstendenz bürokratischer Institutionen (unter anderem daraus, daß Machtausübende die ihnen verliehene Kontrollgewalt nicht aufgeben wollen); das zweite erklärt das Migrationsverhalten von Farmern (aus der Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse infolge von Dürre und Sandstürmen); das dritte die Genese einer Revolution (aus der wachsenden Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung). (Vgl. C. G. Hempel (Function), S. 236 f.) Nach Hempel erklären diese Erklärungen durch den Rekurs auf soziologische und psychologische Gesetze: 14 Menschliche Gruppen verhalten sich regelmäßig unter bestimmten Bedingungen in einer bestimmten Art und Weise. Und sind auch die Gesetze, denen dies Vgl. C. G. Hempel (Function), S. 231, wo Hempel in der Definition der Erklärung ausdrücklich von einer deterministischen Regelmäßigkeit ausgeht, und S. 237, wo für viele Erklärungen in der Geschichte probabilistische Hypothesen zugegeben werden. 13 Vgl. für eine ausführlichere Darstellung dieser Kritik A. Donogan (Popper-HempelTheory). Hempel hat versucht, diesem Problem zu begegnen, indem er nur von probabilistischen Hypothesen »mit hoher Wahrscheinlichkeit« spricht, die also dem Status nach den deterministischen nahekommen würden. (Vgl. ders. (Function), S. 237) Es hat sich jedoch in der Folgezeit herausgestellt, daß auch Erklärungen aufgrund niedriger Wahrscheinlichkeiten als solche betrachtet werden dürfen; daher erscheint überhaupt der Ansatz einer Logik der Erklärung als verfehlt. Dies hat schließlich W. Stegmüller dazu veranlaßt, vom Ende des logischen, und vom Beginn eines neuen, epistemisch-pragmatisch orientierten Paradigmas der Erklärung zu sprechen. (Vgl. W. Stegmüller (Probleme I), Kap. II) 14 Hempel zieht auch die Möglichkeit in Betracht, daß in historische Erklärungen genuin historische Gesetze eingehen könnten; und auch naturwissenschaftliche Gesetze können in der Historiographie eine Rolle spielen (wenn etwa die Niederlage eines Heeres durch den Mangel an Lebensmitteln usw. erklärt wird). (Vgl. C. G. Hempel (Function), S. 242) 12

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regelmäßige Verhalten folgt, in historischen Erklärungen implizit, so können sie doch unschwer benannt werden. Doch das Interesse des Historikers gilt in starkem Maße nicht nur dem Verhalten menschlicher Gruppen, sondern auch dem individuellen Handeln Einzelner. Handlungserklärungen hatte Hempel in seinem Argument gegen den Neukantianismus kritisiert, doch nur in einer Hinsicht: Er hatte die Vorstellung verworfen, daß deren Auffindung durch Einfühlung in den Handelnden zugleich eine Rechtfertigung der Erklärung darstellen könnte. Doch mit dieser Kritik ist natürlich über Handlungserklärungen in der Geschichte nichts entschieden. Es fragt sich vielmehr, ob Handlungserklärungen auf dem Wege legitimiert werden können sollen, den Hempel für Erklärungen von kollektivem Verhalten weist: Durch den Nachweis eines stillschweigend zugrundegelegten Gesetzes. Diese Überlegung aber bleibt Hempel schuldig. Er scheint zu übersehen, daß die nach Auffassung vieler Historiker für die Geschichte zentrale Erklärung, die Handlungserklärung aus Absichten und Mittel-Zweck-Überzeugungen des Handelnden, von anderer Form ist als jene Erklärungen, deren Ergänzbarkeit z. B. durch soziologische oder sozialpsychologische Gesetze er ausdrücklich vorsieht. So daß also offen bleibt: Sollen Handlungserklärungen überhaupt aus der Geschichte ausgeschlossen sein, da ja jene Rechtfertigung zu verwerfen ist, mit der sie – wie es scheint – üblicherweise verbunden sind – die Rechtfertigung durch Einfühlung; oder soll auch von ihnen gelten, daß der Historiker, der sich ihrer bedient, stillschweigend ein Gesetz zugrundelegt? Von einem Kandidaten für diese Rolle ist freilich bei Hempel keine Rede, ein solches Gesetz ist nicht in Sicht. Hiermit wird der erste Teil jener Situation sichtbar, die das Problem von Geschichte und Kausalität ausmacht: Hempels These, die zwar besagt, daß alles Erklären, und damit auch das historische, von der Art der deduktiv-nomologischen Kausalerklärung sei; deren Anwendung auf einen Typus aber noch aussteht, der für die Geschichte als höchst wichtig erscheint, den Typus der Handlungserklärung durch die Absichten und Überlegungen des Handelnden. Demnach würde also die sog. Einheitsthese einen Teil der historiographischen Vorgehensweise erfassen: Auch die Geschichte gibt Kausalerklärungen; einen anderen aber läßt sie offen, nämlich Handlungserklärungen. Der zweite Teil dieser Problemsituation von Geschichte und Kausalität besteht in einer Gegenthese zu derjenigen Hempels: Sie 106

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Handlungserklärung und die Kritik

behauptet die Unabhängigkeit der Geschichte, und zwar unter Verweis gerade auf die von Hempel ausgelassene Handlungserklärung. Zudem verbindet sich mit ihr der Gedanke, daß Kausalität, jedenfalls in dem von Hempel aufgefaßten Sinne, in der Geschichte nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle spiele. Dieser Gedanke erfährt unterschiedliche Begründungen.

3.2 Handlungserklärung und die Kritik der deduktiv-nomologischen Erklärung Die zeitgenössische Debatte um Kausalität und Geschichte in der Analytischen Philosophie hat sich in der Auseinandersetzung mit Hempels Einheitsthese nicht auf ein empathisches Verstehen berufen, welches Hempel ins Zentrum seiner Kritik gerückt hatte. Gardiner, Dray und andere stützten sich vielmehr dort, wo sie gegen Hempel Stellung bezogen, auf Thesen R. G. Collingwoods und dessen Auffassung von historischer Erklärung und der Rolle von Kausalität in der Geschichte. Hauptvertreter der Relevanz von Handlungserklärungen in der Geschichte ist W. Dray: Wenn in der Geschichte von Verursachung die Rede ist, dann entspricht dieser Begriff der Ursache nicht demjenigen der deduktiv-nomologischen Erklärung Hempels; gemeint ist vielmehr ein eigener Sinn, der in der Handlungserklärung zum Tragen kommt und der für diese spezifisch ist. Es ist diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Bedeutungen von »Ursache« und der Heraushebung der Handlungserklärung für die Geschichte, die Dray von Collingwood übernimmt. (Vgl. W. Dray (Laws), S. 115 u. 153 ff.) In The Idea of History, »Human Nature and Human History« von 1936, erläutert Collingwood, wie die Erforschung von Geschichte zu denken ist, wenn das Interesse des Historikers wesentlich vergangenen menschlichen Handlungen gilt: Handlungen sind Ereignisse, die ein Innen und ein Außen haben. Das Außen wird in Begriffen der Physik beschrieben: Cäsars vergossenes Blut im Senat; das Innen nur in Begriffen des Denkens: Cassius’ Überlegung, nur durch den Mord an Cäsar könne die republikanische Verfassung noch gerettet werden. Für den Naturwissenschaftler ist die Natur nur »Phänomen«, das sich als Schauspiel der Betrachtung darbietet; er sucht nicht nach dem Innen des Ereignisses, sondern er überschreitet das Ereignis, inA

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dem er es in seiner Beziehung zu anderen Ereignissen beobachtet und so unter ein Naturgesetz faßt. Hingegen interessiert den Historiker immer beides, denn Handlungen sind eine Einheit von Innen und Außen. Daher auch kann er nicht in der Kontemplation verweilen, er betrachtet historische Ereignisse nicht, sondern blickt in sie hinein, um den ihnen innewohnenden Gedanken zu erkennen, er versteht das Außen als Ausdruck des Innen. Wie vollzieht der Historiker diesen Erkenntnisschritt? Collingwoods Antwort auf diese Frage lautet, daß der Historiker die Vergangenheit reinszeniert (re-enactment), indem er die Gedanken vergangener Denker im eigenen Geiste neu durchdenkt (re-thinking). Die Reinszenierung der Vergangenheit, so betont Collingwood, bedeutet nicht, dem Zauber eines fremden Geistes zu verfallen, ist nicht ein passives sich selbst Aufgeben. Vielmehr geschieht sie im Kontext des eigenen Wissens und ist damit kritisch, »sie bildet sich ein Urteil über den Wert (des vergangenen Denkens) und korrigiert die Fehler, die sie in ihm entdecken kann« (!). (Vgl. R. G. Collingwood (Idea), S. 215) Während also der Naturwissenschaftler nach dem verursachenden Ereignis sucht, bleibt der Historiker beim zu erklärenden Ereignis stehen; der Akt historischer Erkenntnis besteht nur in einem, im Schritt vom Außen zum Innen; ist dieser Schritt getan, dann gibt es für den Historiker nichts weiteres zu erkennen: »Weiß er, was geschah, dann weiß er bereits, warum es geschah«, sagt Collingwood. Doch dies bedeutet nicht die Vertreibung der Kausalität aus der Geschichte: »Für die Geschichte besteht der zu entdeckende Gegenstand nicht im bloßen Ereignis, sondern in dem Gedanken, der in ihm zum Ausdruck kommt. Diesen Gedanken zu entdecken heißt schon, ihn zu verstehen. Hat der Historiker die Tatsachen überprüft, dann gibt es keinen weiteren Prozeß, der darin bestehen würde, ihre Ursachen zu untersuchen. Weiß er, was geschah, dann weiß er bereits, warum es geschah. Dies bedeutet nicht, daß ein Begriff wie ›Ursache‹ im Hinblick auf die Geschichte notwendig unangebracht wäre; es heißt nur, daß er in einem besonderen Sinne verwendet wird. Fragt ein Wissenschaftler ›Warum hat sich dieses Stück Lackmuspapier rosa gefärbt?‹, dann meint er, ›Bei welchen Gelegenheiten färbt sich Lackmuspapier rosa?‹. Fragt ein Historiker, ›Warum erstach Brutus Caesar?‹, dann meint er, ›Was hat Brutus überlegt, was brachte ihn zu der Entscheidung, Caesar zu erstechen?‹. Für ihn bedeutet die Ursache

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des Ereignisses den Gedanken im Geist der Person, durch deren Handeln das Ereignis zustande kam: Und dies ist nicht etwas anderes als das Ereignis, es ist das Innen des Ereignisses selbst.« (R. G. Collingwood, The Idea of History, S. 214 f. [Übers. T. K.])

Collingwood bringt hier eine merkwürdige These vor, die die Interpreten vor Schwierigkeiten gestellt hat: »Ursache« beziehe sich in der Geschichte auf die Überlegungen des Handelnden. Diese Ursache sei kein vorgängiges anderes Ereignis, sondern das Innen des zu erklärenden Ereignisses selbst. Das zu erklärende Ereignis richtig zu beschreiben, heiße schon, es kausal zu erklären. Besonders William Dray hat diese These für unvertretbar erklärt. 15 Er begründet seine Kritik durch ein Prinzip, das er bei A. C. Danto vorfindet. Dies Prinzip besagt, daß jede Handlungserklärung relativ zu einer Handlungsbeschreibung erfolgt; und daß die Erklärung grundsätzlich nicht auf der Ebene erfolgt, auf der die Handlungsbeschreibung geliefert wird. (Vgl. W. Dray (History), S. 49; vgl. A. C. Danto (Narration), S. 218) Man betrachte Collingwoods Beispiel von Cäsars Überschreiten des Rubikon: Daß Cäsar die Absicht hatte, den Rubikon zu überqueren, ist Dantos Prinzip zufolge keine Erklärung dieser Handlung. Erklärt wird sie durch eine weitere Absicht, nämlich die, auf Rom zu marschieren bzw. die Absicht, den Rubikon zu überqueren ist eine Handlungserklärung, jedoch die einer anders beschriebenen Handlung, nämlich der, daß er die Brükke über den Rubikon betritt usw. Nun behauptet aber Collingwood Dray zufolge gerade dies: daß die in die Erklärung eingehende Absicht die Absicht zur Handlung in der Beschreibung sei, in der die Handlung erklärt wurde. Und genau dies verbietet Dantos Prinzip. Insoweit also ein besonderer Sinn von »Ursache« in der Geschichte damit verknüpft sein soll, daß die Ursache hier kein vom Vgl. W. Dray (History), S. 38; Verteidiger der These sind A. Donogan (Philosophy), S. 201 ff. und L. O. Mink (Mind), S. 189. Dray kritisiert Donogans Interpretation, der Historiker bestätige zumeist ein historisches Faktum, wenn er es erkläre, die Belege für ein Faktum seien nicht zugleich Belege für dessen Erklärung. (Vgl. W. Dray (History), S. 46) Minks Deutung, die Erklärung bestehe in der Vervollständigung der Beschreibung der Handlung, die der Historiker ausfindig macht, und das heißt eine Beschreibung der Handlung in der Absicht, die er letztlich vertritt, weist Dray zurück, weil auch hier nur die Frage nach dem Was des Geschehens beantwortet werde, und nicht die nach seiner Erklärung. (Vgl. W. Dray (History), S. 47)

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verursachten verschiedenes Ereignis darstellen, und daß sie deshalb zugleich mit dem Verursachten, der Handlung, verstanden werden soll, muß Collingwoods Versuch, einen eigenen historischen Sinn von »Ursache« in The Idea of History nachzuweisen, als gescheitert betrachtet werden. Collingwood erneuert jedoch diesen Versuch mit allem Nachdruck kurz darauf in An Essay on Metaphysics: Dort unterscheidet er drei Bedeutungen (sense I-III) von »Ursache«. (Vgl. R. G. Collingwood (Essay), Kap. XXIX ff.) Unter Ursächlichkeit im Sinne III versteht Collingwood den Begriff so, wie er »traditionell in Physik und Chemie und, allgemein, in den theoretischen Naturwissenschaften gebraucht wurde«. (Vgl. R. G. Collingwood (Essay), S. 287) In diesem Sinne von »Verursachung« geschehen Naturereignisse in Abhängigkeit voneinander, doch unabhängig vom menschlichen Willen. Die Ursache ist hier (a) hinreichende und (b) notwendige Bedingung für das Eintreten oder Bestehen der Wirkung. Hinzu kommt, daß die Ursache der Wirkung vorausgeht. Auch bei der Wirkung einer Ursache im Sinne II handelt es sich um ein Naturereignis, das hier jedoch daraufhin betrachtet wird, daß es durch uns, durch den Menschen, hervorgebracht oder verhindert werden kann. Von der Ursache in diesem Sinne spricht Collingwood daher auch als von einem Hebel, mit dem das verursachte Ereignis manipuliert werden kann. (Vgl. R. G. Collingwood (Essay), S. 296) Der Begriff der Ursache in dieser Bedeutung findet seine Verwendung in den praktischen Naturwissenschaften, etwa den Ingenieurwissenschaften oder der Medizin, bei denen es um die Beherrschung der Natur geht. Die Wirkung einer Ursache im Sinne I ist hingegen kein Naturereignis mehr, sondern »die freie und überlegte Handlung eines bewußt und verantwortlich Handelnden«. Als die Ursache selbst bezeichnet Collingwood hier nicht mehr, wie in The Idea of History, die Gedanken, die Absicht des Handelnden, sondern, daß diesem ein Grund geliefert wird (causing him to do …). Hauptsächlich im Sinne I wird der Begriff in der Geschichte verwendet. Denn Geschichte hat es mit menschlichem Handeln zu tun und bei der Verursachung in Sinn I sind sowohl Ursache als auch Wirkung Handlungen. (Vgl. R. G. Collingwood (Essay), S. 285 f.) Als Beispiel für die Verursachung im Sinne I gibt Collingwood den Fall einer Vertagung des Parlaments durch den Parlamentspräsidenten an, hervorgerufen durch die Rede eines Parlamentsmit110

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glieds. Hier liefert also dies Parlamentsmitglied dem Präsidenten durch seine Rede den Grund dafür, seinerseits tätig zu werden und die Sitzung zu vertagen. Collingwood unterstreicht, daß Verursachung in dieser Bedeutung nicht zwingend ist: Wenn A den B zu einem Mord überredet, dann ist der Mord eine Handlung aus dem freien Willen des B, obwohl A ihm den Grund geliefert hat (caused him to …). Schließlich enthält Verursachung im Sinne I zwei Elemente: 1) Eine vom Handelnden wahrgenommene Situation (causa quod oder efficiens); 2) eine in dieser Situation (und aufgrund dieser Situation) gebildete Absicht (causa ut oder finalis) – Verursachung im Sinne I operiert entweder durch Information über die Situation oder dadurch, daß jemand zur Bildung einer Absicht bewegt wird. (Vgl. R. G. Collingwood (Essay), S. 292 f.) Das Interesse an Collingwoods Theorie der Kausalität ist nun darin begründet, daß mit ihr eine These von der Eigenständigkeit der Geschichte vorgebracht wird. Und gerade auf diese rekurriert die sich anschließende Debatte in der Auseineinandersetzung mit Hempels Auffassung von der Einheit der Wissenschaft. Die These wird deutlicher bei der Betrachtung jenes Zusammenhangs, den Collingwood zwischen den verschiedenen Bedeutungen von »Ursache« sieht. Seine Deutung dieses Zusammenhangs ist wesentlich kritisch, und zwar mit dem Ziel der Desillusionierung einer bestimmten Auffassung, die sich mit Sinn III, wie er glaubt, in der gesamten neuzeitlichen Wissenschaft von Kant bis hin zu Einstein verbindet. 16 Es ist dies die Auffassung von der Existenz einer Kausalerklärung in rein physikalischen und chemischen Begriffen. Es gibt derartige, rein naturwissenschaftliche Erklärungen, und zwar, in der Nachfolge Newtons, als gesetzmäßige Erklärungen. Doch sobald die Sprache der Kausalität mit ins Spiel kommt, ist die Erklärung keine mehr in Begriffen reiner Naturprozesse, sie ist vielmehr anthropomorph, infiziert durch Vorstellungen, die letztlich von den Beschreibungen menschlichen Handelns abgezogen sind. Collingwood identifiziert also im Zusammenhang mit KausaliVgl. R. G. Collingwood (Essay), S. 333; jedoch nicht mit den Theorien Newtons; im Gegensatz zur Auffassung Kants gibt es bei Newton gerade kein Kausalprinzip, die Erklärung durch die Bewegungsgesetze tritt an die Stelle der Kausalerklärung. (R. G. Collingwood (Essay), S. 326)

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tät ein besonderes philosophisches Problem: Seit Kant supponiert die Naturwissenschaft ein Prinzip, das Kausalgesetz. Sie glaubt, mit diesem Prinzip die Metaphysik überwunden zu haben, besonders die anthropomorphen, animistischen Vorstellungen der Renaissance und des Neuplatonismus. Doch sie nimmt nicht wahr, daß die hauptsächliche Idee, die sie mit dem Begriff der Kausalität vermitteln möchte, die des Zwangs, ihrerseits bloßer Anthropomorphismus ist. (Vgl. R. G. Collingwood (Essay), S. 322) Dies ist die Kritik, die den Zusammenhang zwischen den drei Bedeutungen von »Ursache« offenlegt: Sowohl Sinn II als auch Sinn III leiten sich aus Sinn I ab. Im Sinne II ist Ursache eine Handlung, die Wirkung ein Naturereignis. Wenn wir diesen Begriff der Ursache verwenden, dann steht im Hintergrund ein Bild, das dem Animismus Griechenlands und der frühen Renaissance entlehnt ist: Wir behandeln die Natur als eine beseelte, die Dinge der Natur, als ob sie Mitmenschen wären, die wir dazu bringen können, sich unseren Plänen entsprechend zu verhalten, so wie dies dem Begriff im Sinne I entspricht. Daß wir uns hier nicht offen der Zweck-Mittel-Sprache, sondern der von Ursache und Wirkung bedienen, vermittelt dann den Eindruck, daß nicht nur ein Ereignis zum nächsten führt, sondern daß das eine das andere erzwingt – so wie ein Mensch einen anderen zwingen kann. (Vgl. R. G. Collingwood (Essay), S. 308 ff.) Im Sinne von Bedeutung III sind Ursache und Wirkung Naturereignisse. Hier von Kausalität zu sprechen, evoziert bestimmte Auffassungen des Neuplatonismus, dem zufolge nicht einfach alle Dinge von Gott erschaffen wurden, sondern einige auch ihrerseits mit dem Vermögen zur Schöpfung ausgestattet wurden (wenn auch mit einem vergleichsweise minderen). (Vgl. R. G. Collingwood (Essay), S. 324) Alle Redeweise von Kausalität ist also anthropomorph. Und wenn die Naturwissenschaft etwa im 19. Jahrhundert den Begriff der Ursache in Bedeutung III gerade benutzt, um anthropomorphe Naturauffassungen zu kritisieren, dann bedient sie sich einer zweischneidigen Waffe, mit der sie gerade jene Stellung festigt, die sie angreift. Die aus dieser Kritik zu ziehende Konsequenz lautet, daß nur ein Gebrauch von »Ursache« wirklich bestehen kann, der primäre, Sinn I. Weder Physiker und Chemiker noch Ingenieure und Ärzte bedienen sich einer Sprache, die tatsächlich wiedergibt, was sie darzustellen scheint: Naturprozesse oder menschliches Einwirken auf Naturprozesse. Mit der Einführung der kausalen Terminologie wer112

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den Naturprozesse und Ereignisse wie Beziehungen von Mensch zu Mensch behandelt, als ob sie Macht ausüben oder sich fügen könnten. Nur der Historiker spricht tatsächlich von Menschen und ihren Beziehungen; daher darf er allein bedenkenlos von Ursache und Wirkung sprechen. In An Essay on Metaphysics vollzieht also Collingwood eine gegenüber der Kausaltheorie in The Idea of History radikale Akzentverschiebung: Der naturwissenschaftliche Gebrauch eines Begriffs der Ursache war dort völlig unangefochten, die einzige Sorge Collingwoods bestand darin, einen historischen Sinn von »Ursache« zu retten, obwohl doch Handlung und Ursache als untrennbar erschienen. Jetzt ist die Stoßrichtung die umgekehrte: Der primäre Begriff der Ursache ist der historische, und der naturwissenschaftliche hält vor ihm nicht Stand. Die These von der Eigenständigkeit der Geschichte lautet jetzt nicht mehr, daß in der Geschichte ein spezifischer Begriff der Ursache verwendet werde, oder besser: Dieser Befund gilt nur noch an der Oberfläche. Die Eigenständigkeit der Geschichte soll nun vielmehr darin zum Ausdruck kommen, daß überhaupt nur in ihr allein rechtmäßig Kausalerklärungen abgegeben werden dürfen. Die Ursachen, die in diese Kausalerklärungen eingehen, sind im übrigen nicht mehr die Gedanken des Handelnden, sondern die Handlungen seiner Mitmenschen, die ihn seinerseits zum Handeln bewegen. Mit Collingwoods Theorie liegt die Gegenposition zur Einheitsthese Hempels in ihrer entschiedensten Form vor: Nicht nur hebt er die Relevanz der Handlungserklärung für die Geschichte hervor und unterstreicht zugleich, daß mit ihr ein eigener Sinn von »Ursache« gegeben sei; er bestreitet zudem, daß irgendeine andere Verwendung des Begriffs rechtens sein könnte, auch nicht der in den Naturwissenschaften beheimatete Begriff im Sinne III, – so wie Hempel seinerseits die Gültigkeit der deduktiv-nomologischen Kausalerklärung für allgemeingültig in den Naturwissenschaften und in der Geschichte deklariert hatte. Gegen Hempel ins Feld geführt werden die Argumente Collingwoods besonders von W. Dray, freilich in abgeschwächter Form. Dray übernimmt von Collingwood die Einschätzung, daß der Handlungserklärung in der Geschichte ein zentraler Ort zuzuweisen ist 17 . Er Vgl. für die Berufung auf Collingwood: W. Dray (Laws), S. 121 ff., wo er seine Ausarbeitung der Handlungserklärung als den Versuch bezeichnet, »rational zu rekonstru-

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teilt dessen Auffassung, daß mit der Handlungserklärung ein eigener Begriff der Kausalität gegeben sei. (Vgl. W. Dray (Laws), S. 153 ff.) Doch den weitergehenden Anspruch, allein dieser Begriff der Kausalität sei legitim und auch, daß sich nur dieser Begriff in der Geschichte antreffen lasse, wird zurückgewiesen. Was die Struktur der Handlungserklärung angeht, so ist Dray der Auffassung, daß Hempel in seiner Kritik des historischen Verstehens übersieht, daß mit der Handlungserklärung sehr wohl eine logisch distinkte Form der Erklärung vorliegt. (Vgl. W. Dray (Laws), S. 121) Es ist diese Form der Erklärung, die Dray herauszuarbeiten versucht. Eine Handlungserklärung »rekonstruiert die Kalkulation der Mittel durch den Handelnden die dieser zum Erreichen seiner Zwecke angesichts der Umstände anstellt, in denen er sich befindet«. (W. Dray (Laws), S. 122) Diese Rekonstruktion des Historikers gibt die Handlungsgründe des Handelnden an, und Dray bezeichnet daher die Klasse dieser Erklärungen als die der »rationalen Erklärungen«. (Vgl. W. Dray (Laws), S. 124) Eine rationale Erklärung zeigt, daß die betreffende Handlung dasjenige war, was es, aus den gegebenen Gründen, zu tun galt, im Gegensatz zu dem, was unter solchen Gegebenheiten normalerweise geschieht, etwa in Übereinstimmung mit bestimmten Gesetzen. (Besonders mit dieser Unterscheidung zieht Dray die Grenze gegenüber der deduktiv-nomologischen Erklärung.) Tatsächlich wird die historische Erklärung oft darin bestehen, Unverständliches aufzuklären, Implizites explizit zu machen, etwa die eigenartigen Umstände einer bestimmten Handlung, die besonderen Absichten des Handelnden – der Historiker selbst hätte unter denselben Umständen vielleicht ganz andere – usw. Doch ein Gesetz wird sich nicht unter dem befinden, was der Historiker aufzudecken hat, will er das Geschehene erklären. Er hat sein Ziel erreicht, wenn ein »logisches Gleichgewicht« erreicht ist, Handlung und die entsprechende Kalkulation miteinander zur Deckung gebracht sind. 18 ieren (»to ›make sense‹ of«), was Collingwood insbesondere über historisches Verstehen zu sagen hat«. 18 Vgl. W. Dray (Laws), S. 125. Drays Argument gegen Hempels These der nomologischen Erklärung in der Geschichte, auf das hier nur kurz hingewiesen sei, lautet: Wollte der Historiker tatsächlich ein Gesetz formulieren, aus dem ein historisches Ereignis in seiner ganzen Spezifität abgeleitet werden könnte, dann wäre dies Gesetz in einem völlig anderen als in dem von Popper und Hempel gemeinten Sinne trivial – es müßte nämlich so spezifisch sein, daß es vielleicht nur einen Fall, und zwar den zu erklärenden, erfassen würde – die Karikatur eines Gesetzes. (Vgl. W. Dray (Laws), S. 32–39)

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Man sieht, worin hier Drays Rekonstruktion von Collingwoods historischer Erklärung besteht: Er greift eher auf dessen frühere Beschreibung in The Idea of History denn auf den »Sinn I« aus dem Essay zurück – bei Dray ist keine Rede vom Liefern eines Grundes. Doch hält er an der Zuordnung fest, daß mit der »rationalen« Handlungserklärung eine besondere Bedeutung von »Ursache« verknüpft sei. Auch im übrigen übernimmt er Collingwoods Semantik der Kausalität, kritisiert jedoch deren Einschätzung im Hinblick auf die Geschichte: Ursachen im Sinne II sind manipulierbare notwendige Bedingungen; doch ist Dray der Auffassung, daß Ursachen in diesem Sinne für den Historiker sehr wohl von Interesse sein können. Ursachen im Sinne III sind zugleich notwendige und hinreichende Bedingungen: Gegen Collingwood will Dray auch diese Ursachen in der Geschichte zulassen, um jenen Erklärungen gerecht zu werden, die Historiker unter Hinzunahme theoretischen Wissens liefern, das aus den Sozial- und Naturwissenschaften bezogen wird. (Vgl. G. Dray (Laws), S. 117) Mit diesen, von Dray gelieferten Einschränkungen einer an der Handlungserklärung orientierten Wissenschaftstheorie der Geschichte ist die Skizze der Problematik abgeschlossen, welche die Beziehung von Geschichte und Kausalität charakterisiert: Es ist dies die Situation eines Patt zwischen zwei Auffassungen, denen je die Durchsetzung ihres umfassenden Anspruchs mißlingt. Hempel verfehlt im ersten Anlauf sein Ziel, nämlich den Beleg dafür, daß die wichtigste historische Erklärung, die Handlungserklärung, Teil des deduktiv-nomologischen Paradigmas ist. Und Collingwoods Kritik der Kausalität wird als solche und in ihrer Anwendung auf die Geschichte zurückgewiesen. Die These vom Anthropomorphismus der Kausalterminologie wird von Dray nicht einmal mehr erwähnt; und daß »Ursache« in der Geschichte ausschließlich in Collingwoods

Hempel wirft Dray in seiner Antwort einen kategorialen Fehler vor: In einer deduktivnomologischen Erklärung abgeleitet werden nicht Ereignisse in ihrer (unendlichen) Vielfalt, sondern Aussagen und das heißt Prädikationen, in denen einem Namen oder einer definiten Beschreibung ein Prädikat zugeordnet wird. Der Gegenstand, für den die Beschreibung oder der Name steht, kann in der Geschichte ebensowenig erklärt werden, wie in den Naturwissenschaften (denn ein Name kann nicht abgeleitet werden); doch gibt es keinen Grund, warum eine Satzbeschreibung deshalb nicht abgeleitet werden können sollte, weil sie ein historisches und kein natürliches Ereignis beschreibt. (Vgl. C. G. Hempel (Reasons), S. 149 ff.) A

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»historischem Sinne« verwendet würde, verneint Dray ausdrücklich. 19 Das Ergebnis der Betrachtung dieser ersten Runde zwischen den beiden Standpunkten lautet also: In der Geschichte gibt es beides, nomologische Kausalerklärung und Handlungserklärung (oder kausale Erklärung in einem besonderen, nicht-nomologischen Sinne von Kausalität). So daß zwei Optionen offenstehen: Eine zweite Runde, in der der eigentlich intendierte Anspruch doch noch durchgesetzt werden kann; oder die Erläuterung, wie denn die Relation zwischen den beiden Erklärungstypen beschaffen sein mag, wenn beide gelten dürfen sollen.

3.3 Deduktiv-nomologische Handlungserklärung Das Patt zwischen deduktiv-nomologischer und Handlungserklärung hat Hempel sehr bald aufzulösen versucht. Er wendet sich der Handlungserklärung in den »Studies in the Logic of Explanation« von 1948 zu und stellt dort fest, auch die motivationale Erklärung bestehe in der Subsumption unter allgemeine Gesetze, wobei »die determinierenden Motive und Überzeugungen unter den antezedenten Bedingungen aufzuführen sind«, und daß »kein formaler Unterschied zwischen der motivationalen und der kausalen Erklärung besteht«. Demzufolge handelt es sich bei den »determinierenden Motiven und Überzeugungen« um »(a) den Wunsch [des Handelnden] vor der Handlung, ein bestimmtes Ziel zu erreichen und (b) seine Überzeugung, die ebenfalls der Handlung vorausgeht, daß die und die Handlungsweise mit größter Wahrscheinlichkeit zu der angestrebten Wirkung führen werde«. (Vgl. C. G. Hempel (Studies), S. 254) »Motivationale Erklärungen« sind also Handlungserklärungen im bisher besprochenen Sinne. Hiermit ist zunächst der Anspruch der Einheitsthese unterstrichen. Die ursprüngliche Darstellung ist dahingehend ergänzt, daß auch die Handlungserklärung Teil des deduktiv-nomologischen Paradigmas der Erklärung sein soll. Die zweite Runde in der Auseinandersetzung zwischen deduktiv-nomologischem Paradigma und handlungstheoretisch orientierUnd zwar verneint er es auch und gerade für die erste Bedeutung, die Collingwood dem Begriff in The Idea of History verleiht, die Gedanken des Handelnden.

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ter Betrachtungsweise entzündet sich an einer These, welche von Patrick Gardiner in die historische Debatte eingeführt und dort gegen Hempel gewendet wird. Die These lautet, daß Handlungserklärungen dispositionale Erklärungen und deshalb keine Kausalerklärungen sind. Hempel selbst greift diese These in einer Form auf, die ihr im Anschluß an Gardiner von William Dray gegeben wird, um zu zeigen, daß dispositionale, und daher auch Handlungserklärungen, sehr wohl deduktiv-nomologische Erklärungen sind. Gelingt Hempel dieser Versuch, dann ginge die zweite Runde an ihn. Doch wird sich zeigen, daß es auch hier bei dem für die erste Runde konstatierten Patt bleibt. In seiner Erläuterung der Kausalerklärung in der Geschichte knüpft Gardiner unmittelbar bei Hempels Begriff der Erklärungsskizze an. (Vgl. P. Gardiner (Nature), S. 65) Er stimmt weitgehend mit ihm darin überein, daß die Geschichtswissenschaft Kausalerklärungen liefere, und daß es im Bereich der historischen Kausalerklärung einen gleitenden Übergang von der Erklärungsskizze zur vollständigen Erklärung gebe. Das für Gardiner entscheidende Merkmal historischer Situationen ist deren Komplexität, welche sich daran zeige, daß es nicht die eine, wahre Ursache einer historischen Situation gebe. Der Komplexität der historischen Situation gerecht werden Historiker daher, indem sie stets mehrere Ursachen zu deren Erklärung angeben: »Es gibt mehrere Antworten auf die Frage ›Warum hat sich der Erste Weltkrieg ereignet?… Eine Antwort liegt auf der Ebene individueller menschlicher Vorsätze, Wünsche, Schwächen und Fähigkeiten; eine andere Antwort findet sich auf der Ebene nationaler Angelegenheiten, diplomatischer Traditionen, Pläne, eine weitere Antwort auf der Ebene politischer Bündnisse, Verträge, der internationalen Struktur Europas im Jahre 1914; und noch eine Antwort schließlich liegt auf der Ebene wirtschaftlicher Trends, der gesellschaftlichen Organisation, der politischen Doktrin, der Ideologie usf.« (P. Gardiner, The Nature of Historical Explanation, S. 105 [Übers. T. K.])

Für den vorliegenden Zusammenhang besonders interessant ist, daß für Gardiner auch menschliche Zielsetzungen, Wünsche, Pläne usw. die in die Prämissen von Handlungserklärungen eingehen, zu jenen Ursachen zu rechnen scheinen, die von Historikern angeführt werden. Doch Gardiner korrigiert diesen Eindruck sofort: Dispositionen sind keine Ursachen und daher sind Handlungserklärungen – bei denen es sich um dispositionale Erklärungen handelt – keine Kausalerklärungen. Dispositionale Handlungserklärungen erklären, indem sie eine bestimmte Handlung als »einen Fall von« unter die FeststelA

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lung subsumieren, daß jemand sich ganz allgemein unter diesen Bedingungen so verhält. 20 Worin besteht das Problem einer kausalen Interpretation von Dispositionen? Gardiner identifiziert diese Auffassung mit Collingwoods »Innen-Außen-Theorie« des menschlichen Handelns: So als ob jeder Handlung ein inneres, ein geistiges Ereignis entsprechen würde (das nur dem Handelnden zugänglich ist, und) das dies Handeln verursacht. Doch es gibt keine geistige Verursachung. Zum Begriff der Ursache gehört, daß die Ursache beobachtbar ist; also sind motivationale Erklärungen nicht solche aus irgendwie eigenartigen Ursachen, sie sind vielmehr gar keine Kausalerklärungen. (Vgl. P. Gardiner (Nature), S. 118–120) Mit dieser Beschreibung des Erklärens in der Geschichte konstatiert Gardiner also gerade jenes Patt zwischen Kausal- und Handlungserklärung, von dem oben die Rede war: Der Historiker liefert Kausalerklärungen; doch neben den Kausalerklärungen gibt es einen eigenen weiteren Typus, den der Handlungserklärungen. Der Schluß, den er selbst aus dieser Diagnose zieht, wird unten beschrieben werden (vgl. unten, 3.4). William Dray hat nun Gardiners These, daß Handlungserklärungen keine Kausalerklärungen seien, aufgenommen und zugleich korrigiert. Der Fehler, den Dray bei Gardiner (und bei Ryle) sieht, liegt in einer falschen Analyse des Begriffs »Ursache«; charakterliche Dispositionen würden von Historikern immer wieder als Ursachen angeführt. Gardiners Analyse widerspreche also dem Augenschein. (Vgl. W. Dray (Laws), S. 150 ff.) Der tiefere Grund für diese fehlerhafte Analyse liegt nach Dray in der Annahme, nur (beobachtbare) Ereignisse könnten Ursachen sein; in Wahrheit gebe es keinerlei Ein-

Vgl. P. Gardiner (Nature), S. 125. Ich schließe mich hiermit der Deutung W. Drays an, daß Gardiner mit dieser These die Auffassung G. Ryles aufgreift, Motive seien Dispositionen. (Der Terminus »Disposition« fällt bei Gardiner gar nicht.) (Vgl. W. Dray (Laws), S. 144) Ryle hatte die Vorstellung verworfen, Motive könnten Ursache sein, weil solche unbeobachtbaren Ursachen dann nie jemandem bekannt wären, während wir doch in Wirklichkeit die Motive anderer Menschen durchaus entdecken können. Der Zusammenhang von Dispositionen und Handlungen ist nicht gesetzmäßig, sondern gesetzesartig. Und »wenn man jemandem ein Motiv für eine Tat unterstellt, ist das nicht ein kausaler Schluß auf ein unbeobachtbares Ereignis, sondern die Unterordnung eines Ereignissatzes unter einen gesetzesartigen Satz«. (Vgl. G. Ryle (Begriff), S. 114 ff., insbesondere S. 117)

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schränkungen für die Übernahme der kausalen Rolle. Daher »können auch Gründe Ursachen sein«. (Vgl. W. Dray (Laws), S. 153) Doch Drays Kritik nimmt nun eine überraschende Wendung, denn, daß Gründe Ursachen sein dürfen, soll nun keineswegs heißen, daß Handlungserklärungen in Hempels Sinne deduktiv-nomologische Erklärungen darstellen würden. Wenn Gründe als Ursachen zulässig sind, dann handelt es sich bei dieser Zulässigkeit vielmehr um eine der Verwendung des Wortes »Ursache«, dem freilich in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zukommt, nämlich der bekannte »Sinn I« Collingwoods. Demnach hält Dray gegen Ryle und Gardiner daran fest, daß Dispositionen, und damit auch Motive, durchaus Ursachen sein können. Doch wenn man sie als Ursachen bezeichnet, dann erhält dieser Begriff dabei die bekannte, von Collingwood unterschiedene, besondere Bedeutung. Und zwar bedient man sich der Redeweise von Dispositionen oder von Ursachen, wenn man einen gegenüber der Handlung externen Standpunkt bezieht: »›Disposition‹ ist eine Zuschauerwort; es gehört eher zur Sprache der Beobachtung und Vorhersage als zu der der Überlegung und Entscheidung.« (Vgl. W. Dray, Laws and Explanation in History, S. 149)

Daher ist es »Spektatorismus«, wenn Handlungserklärungen allein in der Sprache von Dispositionen analysiert werden: »(Die dispositionale Analyse) verfehlt die logische Konstruktion typischer Handlungserklärungen, weil sie den Untersuchenden in eine Lage manövriert, von der aus er sie vom falschen Standpunkt her betrachtet.« (W. Dray, Laws and Explanation in History, S. 150)

Doch bezieht man zuweilen diesen Standpunkt, und zwar dann, wenn man den Handelnden als jemanden betrachtet, der manipuliert werden soll (oder kann). Dem externen steht der interne Standpunkt gegenüber, der Standpunkt des Handelnden; aus dessen Sicht kann von Dispositionen und Ursachen keine Rede sein. Er erklärt vielmehr die eigenen Handlungen durch »rationale Erklärungen«; er legt seine Gründe dar, erwähnt seine Absichten und erläutert, inwiefern die Handlung die Ausführung dieser Absichten darstellt. Es darf nicht übersehen werden, daß Drays Kritik an Gardiner diesem in den wesentlichen Punkten recht gibt: Die Handlungserklärung ist keine deduktiv-nomologische Kausalerklärung. Und wenn in ihr doch der Begriff der »Ursache« verwendet wird, dann handelt es A

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sich um einen anderen Sinn (Sinn I), als den, der in der deduktiv-nomologischen Erklärung zum Ausdruck kommt (Sinn III). Und selbst in dieser Bedeutung kommt der Begriff nur dann zur Verwendung, wenn der Handlung gegenüber eine ganz bestimmte, eine äußerliche Haltung bezogen wird. Die Kritik an Gardiner erscheint als minimal: daß er eine eigentümliche und fast verdächtige Verwendung des Wortes »Ursache« übersehen habe. Gegenüber Drays Unterscheidungen ist zu bemerken, daß er im Eifer des Gefechts über das Ziel hinausschießt und in eine unhaltbare Position gerät: Er stellt fest, daß Historiker legitimerweise Handlungserklärungen als Kausalerklärungen bezeichnen, wobei die Bedeutung des in diesen Erklärungen zugrundegelegten Begriffs der Verursachung Collingwoods Sinn I sei. Ist dies so, dann allerdings erübrigt sich die gesamte Kritik am »Spektatorismus« der Kausalanalyse, denn mit Verursachung im Sinne I ist eine solche Haltung ja nicht verknüpft. Wohlwollend darf Dray vielleicht so verstanden werden, daß die Verwendung des Begriffs »Ursache« in Sinn I im Alltag und durch Historiker in der philosophischen Analyse zu einer Verwirrung geführt hat – zu derjenigen Hempels: als ob nämlich auch die Handlungserklärung auf Ursachen im Sinne III rekurriere; und dies würde dann laut Dray ein Mißverständnis des in diesem Kontext vorfindlichen Ursachebegriffs darstellen. In einer Reihe von Versuchen hat Hempel seinerseits die dispositionale Analyse der Handlungserklärung fortgeführt, zuletzt 1965 in »Aspects of Scientific Explanation« (vgl. auch zuvor ders. (Action) und (Reasons)). Der erste Teil seiner Überlegungen knüpft bei Ryle an und gilt der Frage, ob dispositionale Erklärungen tatsächlich nur auf gesetzesartige Aussagen und nicht vielmehr auf Gesetze rekurrieren. Im zweiten Teil fragt er, ob Handlungserklärungen dispositionale Erklärungen im soeben präzisierten Sinne sind. In beiden Fällen lautet seine Antwort Ja. Bisher war es so erschienen, als ob Gardiner mit Ryle dispositionale Erklärungen deshalb nicht als Kausalerklärungen hatte zulassen wollen, weil Dispositionen, Motive, unzugänglich und nicht beobachtbar wären. 21 Dieses Argument hatte nicht erst Dray verworfen, sondern zuvor schon Hempel selbst, weil auch in den NaturwissenOben wurde bereits erläutert, daß die ursprüngliche Auffassung, diejenige Ryles, komplizierter als die von Gardiner übernommene Version ist: Ryles Schluß hatte gelau-

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schaften durchaus determinierende Faktoren in die Prämissen der deduktiv-nomologischen Erklärung eingehen, die der unmittelbaren Beobachtung entzogen sind. (Vgl. C. G. Hempel (Studies), S. 254) Doch Hempel hebt nun hervor, daß Ryle dispositionale Erklärungen auch aus einem weiteren Grunde nicht als kausale zugelassen hatte – und zwar aus eben jenem Grunde, der ihn bestimmte, im Zusammenhang mit dispositionalen von gesetzesartigen Aussagen zu sprechen. Ryles Bedenken hatte gelautet, daß es dispositionalen Aussagen, die sich auf bestimmte Dinge oder Personen beziehen, an der notwendigen Allgemeinheit fehle, und daß sie daher nicht als Gesetze bezeichnet werden dürften: Sie handeln von der Brüchigkeit dieser Fensterscheibe, der Löslichkeit dieses Stückes Zucker in Wasser, vom Jähzorn dieses Menschen usw. Hingegen beziehen sich Gesetze auf Allgemeines, auf Brüchiges, auf Lösliches, auf jähzornige Menschen überhaupt. (Vgl. G. Ryle (Begriff), S. 163) Dies Bedenken Ryles kann ausgeräumt werden. Denn die auf Partikuläres bezogene, dispositionale Aussage kann durch eine völlig allgemeine ersetzt werden, die ein Gesetz zum Ausdruck bringt; dieses Gesetz handelt dann gerade von brüchigen oder löslichen Gegenständen oder von jähzornigen Menschen, und der jeweils vorliegende Fall wird zu den Randbedingungen gerechnet. (Vgl. C. G. Hempel (Aspects), S. 457 ff.) Dispositionale Erklärungen können somit als deduktiv-nomologische Erklärungen konstruiert werden, und Hempel wendet sich nun der Frage zu, ob auch Handlungserklärungen als dispositionale Erklärungen in diesem Sinne aufgefaßt werden dürfen. 22 Er untersucht diese Frage am Beispiel von Bismarcks Redaktion der Emser Depesche im Jahre 1870. (Vgl. C. G. Hempel (Aspects), S. 479 ff.) Über einen Krieg mit Frankreich hoffte Bismarck die Einigung der deutschen Einzelstaaten unter preußischer Führung herbeiführen zu können; er war zudem davon unterrichtet, daß die Kriegsvorbereitungen der preußischen Armee soweit fortgeschritten waren, daß ein Zuwarten die Situation nur hätte verschlechtern können. In dieser Lage suchte Bismarck nach einem Kriegsgrund, der Frankreich als Aggressor würde erscheinen lassen, denn nur von tet, daß Motive keine derartigen inneren unbeobachtbaren Ereignisse sein können, da sie uns ja oft bekannt sind. (Vgl. oben, S. 118, Fußnote 20) 22 Mit der dispositionalen Analyse von Handlungserklärungen knüpft Hempel bei früheren Ansätzen Rudolf Carnaps an, die Psychologie des Fremdpsychischen generell dispositional zu verstehen. Vgl. hierzu R. Carnap (Psychologie), S. 112 ff. Vgl. auch Hempels Hinweise in: ders. (Aspects), S. 474, Fußnote 20. A

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einem solchen Grund erwartete er die gewünschte Wirkung auf die süddeutschen Staaten. Kurz zuvor hatte der Preußenprinz Leopold von Hohenzollern seinen Anspruch auf die spanische Krone aufgegeben. Frankreich, das diese Expansion der preußischen Einflußsphäre nicht hatte dulden wollen, sandte einen Emissär zu Wilhelm I. nach Ems mit der Aufforderung, den Verzicht auf den spanischen Thron auch für alle Zukunft zu erklären. In einer Depesche an Bismarck erläuterte Wilhelm diesem seine Gründe für die Zurückweisung der Forderung und stellte ihm die Veröffentlichung des Inhalts frei. Tatsächlich veröffentlichte Bismarck die Emser Depesche, doch tat er dies in redigierter Form, und zwar derart, daß die Zurückweisung der französischen Forderung als Beleidigung des Gesandten Benedetti erscheinen mußte. Die Veröffentlichung tat ihre Wirkung, wurde in Frankreich als nationaler Affront betrachtet, und das französische Kabinett ordnete die Mobilmachung an. Das Explikandum dieser Erklärung besteht in der Tatsache, daß Bismarck eine gekürzte und damit ihrem Sinn nach veränderte Version der Emser Depesche veröffentlichte. Wie wird diese Tatsache erklärt? Das Explanans soll aus drei Dispositionen bestehen: 1. dem vom Handelnden ins Auge gefaßten Ziel seiner Handlung; 2. seiner Überzeugung, dies Ziel mithilfe bestimmter Mittel auch erreichen oder verwirklichen zu können (vgl. C. G. Hempel (Aspects), S. 473); 3. der Rationalität des Handelnden, und das heißt hier, der Disposition, den beiden ersten Dispositionen entsprechend zu handeln. Wozu genau bedarf es dieser dritten Disposition? Hempel unterstreicht erstens, daß sie eigens erwähnt und aufgeführt werden muß, weil sie nicht durch die Zuschreibung der ersten beiden Dispositionen mit zugeschrieben wird. Befolgen wir nicht eine implizite Konvention, wenn wir aufgrund der Handlung einer Person urteilen, sie verfolge die und die Ziele und habe die und die Überzeugungen? Denn dies Urteil setzt doch voraus, daß die Handlung nach der rationalen Überlegung des Handelnden jenes Mittel darstellt, das am meisten Aussicht auf Erfolg verspricht. Doch dagegen spricht, daß wir an unserer Zuschreibung von Absichten und Mittelüberzeugungen festhalten und die der Rationalität aufgeben können. Besonders deutlich wird dies z. B. in Fällen, in denen dem Handelnden ein logischer Fehler in seinem Kalkül unterläuft. Also ist die Rationalität des Handelnden eine eigens zu berücksichtigende Prämisse. (Vgl. C. G. Hempel (Aspects), S. 475 ff.) 122

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Deduktiv-nomologische Handlungserklärung

Die neu identifizierte, eigene Rationalitätsprämisse spielt nun für die von Hempel anvisierte Erklärung die entscheidende Rolle. Denn was genau erklärt eigentlich Bismarcks Handlungsweise (die Redaktion seiner Vorlage)? Dem Eisernen Kanzler, so erläutert Hempel, standen mehrere Handlungsoptionen offen: die Publikation der »überarbeiteten« Fassung, die Publikation des Originaltextes, die Unterlassung der Publikation, vielleicht auch die Bekanntgabe an alle preußischen Botschaften, ohne Weitergabe an die Presse usw. (Vgl. C. G. Hempel (Aspects), S. 480 f.) Die Erklärung der Handlungsweise Bismarcks erfolgt, indem diese als das Ergebnis einer rationalen Entscheidung zwischen mehreren Alternativen beschrieben wird: Im Hinblick auf Bismarcks Ziel – Krieg mit Frankreich, durch Frankreich verschuldet – sind nicht alle Handlungsoptionen gleichwertig; Bismarcks Handlungsweise wird erklärt, indem sie als die nach Bismarcks Überzeugung tauglichste dargestellt wird, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Bismarcks Handlung wird also als rational bezeichnet, weil er sich für das seinem Wissensstand nach beste Mittel entschieden hat. Und diese Erklärung als dispositional zu bezeichnen bedeutet, Bismarck die Disposition zuzuschreiben, sich angesichts einer solchen Situation alternativer Handlungsoptionen für das summa summarum beste Mittel zu entscheiden. Ist nun die Handlungserklärung dispositional im von Hempel beschriebenen Sinn, dann, so lautet das Fazit, entspricht sie dem deduktiv-nomologischen Paradigma. Zum Abschluß dieses Abschnitts sei hier nur kurz ein Argument vorgebracht, warum dieses Fazit nicht gezogen werden darf. Hempel, so das Argument, wechselt im Verlauf seiner Überlegungen das Explanandum, und zwar derart, daß zuletzt gar keine Handlungserklärung mehr vorliegt. Dies kann man am Beispiel der Emser Depesche leicht vor Augen führen: Was genau wird in diesem Fall erklärt? Das Explanandum ist hier nicht mehr Bismarcks Redaktion der Depesche, nicht die Handlung, oder wenn, dann nur in einem bestimmten Sinne; erklärt wird vielmehr Bismarcks Mittelwahl (also genauer gesagt: eine andere Handlung), warum also Bismarck so handelte und nicht anders – Veröffentlichung in der ursprünglichen Form, Bekanntgabe bei den Gesandtschaften und so fort. Gezeigt wird, daß ein rational Handelnder ceteris paribus das beste Mittel wählt. Es ist aber offensichtlich, daß diese Erklärung nicht an die Stelle der Handlungserklärung treten kann. A

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Auf anderem Wege läßt sich dies nochmals erweisen: Auch wenn Bismarck seine Entscheidung über den besten zu wählenden Weg einmal getroffen hat, folgt noch gar nicht, daß er nun handelt. Hierzu bedarf es einer weiteren Entscheidung, nämlich der, den gewählten Weg nun auch zu begehen. Vielleicht beruht diese Kritik auf einer Fehldeutung der Absichten Hempels. Sicher hatte Hempel eine Handlungserklärung im Sinne, die auf einem Bündel der von ihm erwähnten Dispositionen beruht – Ziele und Überzeugungen des Handelnden, und nicht allein auf dessen Rationalität. (Vgl. insb. C. G. Hempel (Aspects), S. 472 ff.) Doch weist er eine solche komplexe Erklärung nirgends vor. Und besonders: Auch die Ergänzung der Prämissen um Hinweise auf diese weiteren Dispositionen führt nicht an das von Hempel verfolgte Ziel der Erklärung der Handlung durch Deduktion aus Gesetzen. Dies wurde oben bereits bei der Betrachtung des Versuchs gezeigt, den praktischen Schluß zu einem deduktiv-nomologischen zu ergänzen. (Vgl. oben, 1.6) Wie ist es nun um die Auseinandersetzung zwischen dem deduktiv-nomologischen Paradigma und der handlungstheoretischen Auffassung zum Ende der zweiten Runde bestellt? Collingwoods Richtspruch einer generellen Verbannung der Kausalität aus der Geschichte wird nicht aufgenommen. Auch die Theoretiker, die an der Eigenständigkeit der Handlungserklärung festhalten, gestehen die Existenz von Kausalerklärungen in Hempels Sinn zu, bestreiten jedoch deren Relevanz für die Historie. Auf der anderen Seite unternimmt Hempel einen neuen Versuch zur Durchsetzung des deduktiv-nomologischen Paradigmas und zwar in Form dispositionaler Erklärungen. Doch auch dieser Versuch der Reduktion der Handlungserklärung scheitert. Daher bleibt es zum Schluß der zweiten Runde bei demselben Ausgang, den die erste genommen hatte: Beide Erklärungstypen bestehen in der Geschichte Seite an Seite.

3.4 Die Kompatibilität von Handlungserklärung und Kausalerklärung Die bisher in diesem Kapitel beschriebene Auseinandersetzung ist eine der versuchten Annexionen: So wie Collingwood nur mehr einen sogenannten historischen Sinn von Kausalität (Sinn I) in der 124

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Die Kompatibilität von Handlungserklärung

Geschichte gelten lassen und jeden anderen aus der Wissenschaft insgesamt verbannen wollte, so will Hempel dem Vorbild der kausalen naturwissenschaftlichen Erklärung auch in der Geschichte Geltung verschaffen. Betrachtet man diese beiden Unternehmungen als gescheitert, dann heißt das für die deduktiv-nomologische Kausalerklärung und die Handlungserklärung, daß zunächst beiden Geltung zuzubilligen ist. So hatte zwar Patrick Gardiner die Handlungserklärung zuerst unter den Kausalerklärungen aufgeführt, diese Einreihung dann jedoch ausdrücklich zurückgenommen. (Vgl. P. Gardiner (Nature), S. 18 und S. 133 ff.) So daß mit dieser Revision eine neue Frage entsteht: Wenn weder Kausalität auf die historische Bedeutung reduziert, noch historische Erklärungen nach Art naturwissenschaftlicher interpretiert werden können, wenn also eine Nachbarschaft beider Erklärungstypen in der Geschichte zugestanden werden muß – in welchem Verhältnis stehen sie dann zueinander? Oben wurde bereits erwähnt, daß sich innerhalb dieser Diskussion zuerst Gardiner dem Problem in dieser Form zuwandte. (Vgl. oben, S. 102) Seine Antwort folgt einem Modell, das er im Zuge von Überlegungen entwickelte, ob es in der Geschichte so etwas wie »wesentliche« oder »eigentliche Ursachen« (real causes) gebe, und zwar am Beispiel möglicher Erklärungen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Gardiner fragt sich aus diesem Anlaß, wem Recht zu geben sei, einem Journalisten, der vielleicht die Schüsse von Sarajevo als Ursache darstellt, oder dem Historiker, der geneigt ist, die Ereignisse in Sarajevo als eine Bedingung unter vielen zu sehen. Seine Antwort lautet, daß »der historische Prozeß nicht einer Maschine gleicht, die durch einen metaphysischen Dynamo hinter der Bühne in Bewegung gehalten werden muß«: »Es gibt keine absoluten Eigentlichen Ursachen, die darauf warten, von Historikern mit hinreichend starken Vergrößerungsgläsern entdeckt zu werden. Was es gibt, sind Historiker, die auf verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlicher Entfernung beschreiben, Historiker mit unterschiedlicher Aufgabenstellung und unterschiedlichen Interessen, Historiker, die in unterschiedlichen Kontexten und von unterschiedlichen Standpunkten aus schreiben.« (P. Gardiner, The Nature of Historical Explanation, S. 109 [Übers. T. K.])

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In Ermangelung einer entscheidenden metaphysischen Instanz, der »eigentlichen Ursache«, wären also beide, Journalist und Historiker, im Recht, wenn sie einen bestimmten Faktor als den fundamentalen hervorheben; denn beide nähern sich der Frage von einem anderen Standpunkt aus an, und auf verschiedenen Ebenen. Und daher ist denn auch die Vorstellung falsch, der Historiker widerspräche dem Journalisten, wenn er behauptet, das Attentat von Sarajevo sei nicht die eigentliche Ursache für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. (Vgl. P. Gardiner (Nature), S. 105) Es gibt hier nur verschiedene Ebenen der Fragestellung und Betrachtung, verschiedene Allgemeinheitsebenen, es gibt, wie Gardiner dann allgemein resümiert, »keinen Konflikt, nur einen Unterschied des Standpunkts und der Zielsetzung«. (Vgl. P. Gardiner (Nature), S. 139) Die verschiedenen Kausalthesen, die vom Journalisten und vom Historiker ins Spiel gebracht werden, sind allesamt miteinander verträglich. Diese, wie wir sagen wollen, auf die verschiedenen Kausalerklärungen bezogene Kompatibilitätsthese ist deshalb interessant, weil sie für Gardiner auch zum Modell für die Beziehung von Kausalerklärung und Handlungserklärung wird. Und dies ist ein neuer zu erklärender Fall, weil Gardiner ja die Handlungserklärung ausdrücklich nicht mehr als Kausalerklärung hatte bezeichnen wollen. Gardiner entwickelt die Erklärung dieses Falls am Beispiel von physiologischer (oder neurophysiologischer) und psychologischer oder historischer Erklärung. Zwischen diesen Erklärungen besteht Kompatibilität: Wenn jemand ein Treppenhaus hochsteigt, dann besteht kein Widerspruch zwischen der Erklärung, die auf der Beschreibung der Aktivität seines Blutkreislaufs oder von Abläufen in seinem Gehirn beruht, und jener, die seine Absichten und Überzeugungen erwähnt, etwa, daß er von einem Mansardenfenster aus einen besseren Schußwinkel auf den Konvoi des Präsidenten haben werde, der in Kürze vorbeikommen soll, und daß er ein Attentat plane: »Der Physiologe ist am Verhalten des Blutkreislaufs, der Struktur der Gehirnzellen interessiert: Der Psychologe oder der Historiker ist daran interessiert, was Menschen denken, sagen, empfinden, tun. Es gibt keinen Widerspruch, nur einen Unterschied der Betrachtungsweise oder des Vorsatzes.« (P. Gardiner, The Nature of Historical Explanation, S. 139)

Die Kompatibilitätsthese in der Version Gardiners soll hier nur kurz kommentiert werde. Zunächst ist sicher der Feststellung zuzustimmen, daß normalerweise zwischen physiologischer oder neurophy126

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Die Kompatibilität von Handlungserklärung

siologischer und der Handlungserklärung kein Widerspruch besteht. (Allerdings eben nur normalerweise und das heißt, bei unbeeinflußten physiologischen Abläufen: Ich kann jemanden darauf hinweisen, er habe unter Einfluß einer Droge die Wahrheit gesagt. Und dieser Hinweis stünde im Widerspruch zu seiner Begründung, er habe so aus Liebe zur Wahrheit gehandelt.) Ob jedoch auch Kompatibilität zwischen Kausalerklärung und Handlungserklärung besteht, wenn die Kausalerklärung keine physiologische ist, sondern von anderer Art, erscheint als fraglich. Man betrachte als Beispiel A. J. P. Taylors Debatte mit der Zunft über die Ursache des Zweiten Weltkriegs. Es gibt in dieser Frage die Mehrheitsmeinung, der zufolge der Zweite Weltkrieg seine Ursache allein im Wollen Hitlers hatte (etwa in dessen Verfolgung der weiteren Absicht, »Deutschlands Lebensraum zu erweitern«). (Vgl. W. Dray (Controversy), S. 71 f.) Gegen die traditionelle Interpretation vertrat Taylor die Auffassung, Hitler habe sich im wesentlichen so verhalten, wie dies von einem normalen deutschen Politiker (oder normalen europäischen Politiker) unter den gegebenen Umständen zu erwarten war: Durch das Abkommen von Versailles war Deutschland »seiner natürlichen Rolle in Mitteleuropa beraubt«, bei gleichzeitig ungeschmälerten Möglichkeiten, diese Rolle wiederzuerlangen. In einer derartigen Situation neigten die europäischen Politiker der damaligen Zeit zu gewalttätigen Lösungen, andere Führer europäischer Mächte nicht weniger als Hitler. Die Ursache des Zweiten Weltkriegs war demnach der Mangel an Realismus bei den Westmächten, und nicht etwa ein Plan Hitlers, in dem der Weltkrieg ein Mittel zum Zweck darstellte. (Vgl. W. Dray (Controversy), S. 79 ff.) Es bleibe dahingestellt, welcher der beiden Erklärungen der Vorzug zu geben ist. 23 Denn es ist auch vor dieser Entscheidung zunächst einmal die Feststellung möglich, daß die beiden Erklärungen einander widersprechen: Entweder Hitler plante den Krieg als Mittel zu einem Zweck, den er z. B. auch ganz unabhängig von der damaligen Situation Deutschlands ins Auge gefaßt hatte (oder hätte) oder ein anderer deutscher Politiker an seiner Stelle, und versehen mit denselben tyVgl. hierzu die eingehende Bewertung bei Dray. Auch im übrigen ist die Darstellung hier stark verkürzt; insbesondere zeigt Dray, daß in die zweite Erklärung ein normatives Element einfließt – »Welchen politischen Zustand der damaligen Zeit betrachtet der Historiker als normal«?, sodann schildert er auch eine Reihe weiterer Kausalerklärungen neben den beiden angeführten. Für die Beurteilung der Frage nach Kompatibilität ist es jedoch nicht nötig, das Beispiel bis ins Detail zu verfolgen.

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pischen Charaktermerkmalen der Politiker seiner Zeit, hätte nicht umhingekonnt, über kurz oder lang die Lage Deutschlands auf gewaltsame Weise zu verändern. Und diese beiden Erklärungen entstammen verschiedenen Erklärungsebenen im Sinne Gardiners: Nur die erste ist eine Handlungserklärung; während die zweite durch Verweis auf eine Ursache erklärt – die Mißachtung einer gewissen Veranlagung europäischer Politiker durch die Westmächte. Zwischen diesen beiden Erklärungen besteht also keineswegs Kompatibilität, so wie zugegebenermaßen im Falle von Handlungserklärung und »normaler« physiologischer Erklärung. Der Vertreter der traditionellen Interpretation will sagen, daß Hitler für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich war und eben nicht die Politiker von Versailles. Wer auf der traditionellen Erklärung des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs besteht, hebt damit gerade hervor, daß ein anderer an Hitlers Stelle anders gehandelt hätte, daß man in Deutschland mit den Konsequenzen des Vertrags von Versailles anders hätte umgehen können, daß man etwa um den Nachlaß der Reparationen noch intensiver hätte verhandeln können und so fort. Der versuchte Nachweis der Handlungserklärung dient gerade der Widerlegung der Kausalerklärung; diese Argumentation wäre bei Kompatibilität der beiden Erklärungen fruchtlos. Schließlich läßt sich zeigen, daß die Kompatibilität von Erklärungen unterschiedlicher Allgemeinheit nicht einmal dann gegeben ist, wenn es sich bei diesen Erklärungen nur um Kausalerklärungen handelt. Man betrachte etwa noch einmal Gardiners Beispiel vom Ausbruch des ersten Weltkriegs. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß eine ökonomische Erklärung für den Ursprung des ersten Weltkriegs gerade mit dem Ziel der Falsifikation z. B. einer Erklärung gegeben wird, die dies Ereignis aus dem Scheitern der Diplomatie herleitet. Die Erklärung in dieser Absicht hat dann die Form: »Was auch immer an diplomatischen Bemühungen unternommen worden wäre, irgendwann mußte es zum Handelskrieg zwischen … kommen«. Auf diese Form gebracht, ist der Widerspruch zwischen den beiden Erklärungen sichtbar. Gardiners Generalthese zur Lösung jenes Problems, das sich aus dem Mißerfolg des deduktiv-nomologischen Paradigmas ergeben hatte, die Beziehung zwischen Handlungserklärung und Kausalerklärung in der Geschichte sei eine der Kompatibilität, ist also vielleicht nur für jenen Bereich gültig, aus dem sie sich ursprünglich herleitet, dem Bereich von Handlungserklärung und physiologischer 128

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Kausalerklärung. Es wird noch zu zeigen sein, daß die Kompatibilitätsthese selbst in diesem Bereich über die von Gardiner gelieferte Beschreibung hinaus präzisiert werden muß, um ihre Gültigkeit zu bewahren. (Vgl. unten, S. 140 f.) Offen bleibt die Frage nach der Beziehung zwischen Handlungserklärung und Kausalerklärungen anderer Art, so wie sie von Gardiner erwähnt werden, wenn auf diese Beziehung die Kompatibilitätsthese nicht zutrifft.

3.5 Komplementarität, Quasi-Kausalität und Quasi-Teleologie Auch Georg Henrik von Wright ist der Auffassung, daß es sich bei der Handlungserklärung nicht um eine Kausalerklärung handelt. Seine diesbezüglichen Überlegungen wurden bereits dargelegt. (Vgl. oben, 1.4) Der Nachweis dieser Auffassung bildet die Grundlage der sich bei von Wright anschließenden Durchmusterung verschiedener Arten von Erklärungen in der Geschichte und in den Sozialwissenschaften. Im Überblick ergeben sich ihm drei verschiedene Arten der Erklärung: echt kausale Erklärungen, »quasi-kausale« Erklärungen und teleologische Erklärungen; ein vierter Typus, die »quasi-teleologische« Erklärung, scheint ihm in der Geschichte nicht vorzukommen. 24 Den verschiedenen Arten mißt er nicht das gleiche Gewicht bei: Vielmehr wird deutlich, daß ihm als der eigentliche Modus historischer Erklärung der der intentionalen Erklärung erscheint, und er zeigt dies daran, wie andere Modi der Erklärung ihre Relevanz erst durch den Bezug auf diesen erhalten. Von Wright untersucht zuerst den Stellenwert echter Kausalerklärungen in der Geschichte. Er unterscheidet zunächst KausalWie zuvor ist auch hier anzumerken, daß von Wright den Begriff »Kausalität« zweideutig verwendet, und zwar einmal als einen Oberbegriff, der Humesche und NichtHumesche Kausalität umfaßt, sodann aber auch als Unterbegriff zur Bezeichnung allein der Humeschen Kausalität. Spricht er, so wie hier, von »echter Kausalitat« (vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 126), dann ist damit Humesche Kausalität im Gegensatz zur Nicht-Humeschen gemeint, die in diesem Wortgebrauch keine oder nur scheinbare Kausalität wäre. Sagt er wenig später, »Ursache« im Nicht-Humeschen Sinne sei eine ganz legitime Verwendung dieses Begriffs, so schwebt ihm hingegen die erste der beiden Bedeutungen vor. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 130; vgl. auch oben, S. 35, Fußnote 8)

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erklärungen durch die Angabe hinreichender von solchen durch die Angabe notwendiger Bedingungen. Erstere beantworten die Frage »Warum notwendig?« (warum etwas geschehen mußte), letztere die Frage »Wie möglich?« (wie etwas geschehen konnte). (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 124 ff.) Als Beispiel für eine Erklärung durch hinreichende Bedingungen führt er die archäologische Erklärung für die Zerstörung einer Stadt an, etwa durch ein Erdbeben oder eine Flutkatastrophe oder auch als Folge von Ereignissen, die aus menschlichen Handlungen resultierten. Solche Erklärungen werden in der Geschichte gegeben, sind aber nicht direkt historisch relevant, sondern nur im Zusammenhang mit menschlichem Handeln: Ein Vorgang, der intentionalistisch beschrieben wird oder werden kann, z. B. die wirtschaftliche Zugrunderichtung einer Region durch die Zerstörung ihrer Hauptstadt, geschieht nicht als unmittelbare Ausführung einer Absicht durch eine Rivalin. Hier sind vielmehr intermediäre Vorgänge mit im Spiel, und diese stellen echte Kausalprozesse dar. Zum Beispiel läßt eine Stadt in der anderen Brandsätze legen, und als Folge dieser Handlung geht diese in einer großen Feuersbrunst zugrunde. Der an sich historisch uninteressante Vorgang der Feuersbrunst, verursacht durch die Brandsätze, ist ein echter Kausalprozeß, der zwischen die Absicht – Zugrunderichtung einer rivalisierenden Region – und ihre Ausführung tritt – Zerstörung der Hauptstadt. 25 Von besonderem Interesse für von Wrights Darlegungen in diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung »grundlegender« und »nicht grundlegender« Handlungen. Zunächst sind grundlegende Handlungen (basic actions) solche, die nicht durch den Vollzug einer weiteren Handlung vollzogen werden. (Der Begriff der grundlegenden oder Basis-Handlung stammt von A. C. Danto, zuerst in: ders., »What can we do?«; von Wright folgt aber F. Stoutlands Argument gegen Danto, daß eine Basishandlung nicht eine solche ist, die durch eine andere Handlung des Betreffenden verursacht wurde, sondern eine, die nicht durch den Vollzug einer anderen vollzogen wird. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 165, Fn. 38)) Z. B. schließe ich das Fenster, indem ich durch eine Drehbewegung meines Handgelenks die Stellung des Fenstergriffs verändere und so das Schloß verriegle. Hier ist das Verschließen des Fensters keine grundlegende Handlung, denn man könnte fragen, wie ich das tue, und ich würde dann durch den Verweis auf meine Bewegung antworten: »… indem ich meine Hand drehe«. Hingegen gibt es eine solche Frage und Antwort für die Bewegung selbst nicht mehr, sie ist eine Basishandlung. Und jetzt läßt sich von Wrights Analyse der intermediären Kausalität vielleicht so verstehen, daß bei nicht grundlegenden Handlungen zweierlei möglich ist: daß die Handlung durch eine andere Handlung vollzogen wird; oder aber, daß sie unter Auslösung eines dazwischentretenden Kausalprozesses vollzogen wird. Was in diesem Fall genau geschieht, wird aus von Wrights Beschreibung ersichtlich: Unmittelbar intentional ist etwa im Falle des Beispiels der zugrundegerichteten Region das Legen der

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Komplementarität, Quasi-Kausalität und Quasi-Teleologie

Als Beispiel für eine Erklärung durch notwendige Bedingungen nennt von Wright den Hinweis auf die Verfügbarkeit einer bestimmten Technologie in einer historischen Epoche; etwa ermöglicht der Flaschenzug das Heben schwerer Gewichte und damit bestimmte bauliche Leistungen. Die Möglichkeit dieser Leistungen wird daher unter anderem durch einen rein kausal funktionierenden Mechanismus erklärt; solch ein Mechanismus ist notwendige Bedingung für das Vollbringen der zu erklärenden Leistung. Worin besteht das Interesse des Historikers an diesen Kausalerklärungen? Der Historiker ist am intentionalen Kontext dieser Erklärungen interessiert, an den Absichten, die dazu führten, daß solche Kausalvorgänge ausgelöst wurden, und daran, daß die Wirkungen wiederum menschliche Verhältnisse betreffen. Er ist also an einem derartigen Kausalvorgang insofern interessiert, als dieser Handlungen beim Zustandekommen eines bestimmten Zustandes oder Ereignisses ergänzt. 26 Von Wright zeigt hier, daß Humesche und Nicht-Humesche Kausalität einander in der historischen Erklärung ergänzen. Diese These von der Komplementarität von Kausalität und Intentionalität tritt neben die von Gardiner her bekannte Kompatibilitätsthese. Von Wrights Analyse stellt also die intentionalistische oder Brandsätze; die verursachte Feuersbrunst ist (eine Humesche) Wirkung dieses Ereignisses, aber als kalkulierte Folge desselben. Diese Folge ist eine, die man durch die Handlung herbeiführt. (Vgl. G. H. Wright (Erklären), S. 67, Abs. 8) Der wirtschaftliche Niedergang der zugehörigen Region, der erreicht werden soll, der also der Absicht entspricht, in welcher der Brand gelegt wird, ist dann nicht unmittelbare Ausführung dieser Absicht. 26 Anders als Collingwood sieht von Wright in der historischen Erklärung auch Raum für den Typus von Kausalität, den dieser als »Sinn II« bezeichnet hatte: Kausalvorgänge, die durch menschliche Handlungen in Gang gesetzt werden. (Vgl. oben, S. 110) Schon W. Dray hatte Collingwoods Einschränkung der Geschichte auf »Sinn I« kritisiert, und auch »Sinn II« zulassen wollen. (Vgl. oben, S. 115 und W. Dray (Laws), S. 115 f.) Über M. Mandelbaum und W. Dray geht von Wright hinaus, indem er nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingungen in der historischen Analyse berücksichtigt wissen will. (Vgl. M. Mandelbaum (Problem), S. 224 u. 265; und W. Dray (Laws), Kap. VI) Im Vergleich zu Collingwood und Dray betrachtet allerdings von Wright die durch Bedingungsrelationen beschriebenen Kausalvorgänge innerhalb intentionaler Kontexte als »echte« Kausalvorgänge; hierbei spielt es keine Rolle, ob ein solcher Kausalvorgang durch eine Handlung in Gang gesetzt wird oder ob er eine Handlung ermöglicht; so gesehen verdient Collingwoods »Sinn II« keinen eigenen Namen; und Drays notwendige Bedingung ist nicht Bedingung einer Handlung. A

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Handlungserklärung in den Mittelpunkt historischen Erklärens. Ihr Interesse zeige sich nicht nur daran, daß Historiker nach eben solchen Erklärungen suchen; sondern auch daran, daß dort, wo in der Geschichte tatsächlich echte Kausalerklärungen gegeben werden, deren Relevanz eine bedingte ist: sie dienen als Ergänzungen von intentionalistischen Erklärungen, und über diese dienende Funktion hinaus kommt ihnen keine Bedeutung zu. Soll sich die Bedeutung der Humeschen Kausalität in der Geschichte auf die bloße Ergänzung von Handlungserklärungen beschränken, dann stellt sich sofort die Frage, wie es denn um jene geschichtswissenschaftlichen Erklärungen bestellt ist, die im Verlaufe der Diskussion als Musterbeispiele kausalen oder jedenfalls nomologischen Erklärens herausgestellt worden waren. Hierzu zählen etwa Hempels Beispiele der Emigration von Farmern aus der »dust bowl«, der Ursprung einer Revolution, die Selbsterhaltungstendenz von Verwaltungsapparaten. 27 Zumindest die ersten beiden Beispiele rekurrieren auf das, was von Wright »universelle Motive« nennt; universelle Motive sind trivial und müssen vom Historiker meist nicht erwähnt werden. Doch sie sind nicht zwingend: Jemand, der untergehen will, wird gerade in der »dust bowl« bleiben, und nicht versuchen, die bestehenden Verhältnisse zu verändern. (Vgl. für von Wrights Beispiele: ders. (Erklären), S. 131 ff.) Werden diese Verknüpfungen als Humesche Kausalrelationen gedeutet, dann nur deshalb, weil die universellen Motive, die dem entsprechenden Handeln zugrunde liegen, gewöhnlich keine Erwähnung finden. 28 Von Wright erörtert den Status solcher Erklärungen am Beispiel des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs und der Schüsse von Sarajevo. Das Attentat auf den Erzherzog löste einen, wie es scheint, unaufhaltsamen Mechanismus aus: das österreichische Ultimatum an Serbien; daraufhin militärische Vorbereitungen Rußlands; hierdurch Stärkung der Haltung Serbiens gegenüber Österreich; daraufhin Kriegserklärung Österreichs an Serbien; Vollmobilisierung Ruß(Vgl. oben, S. 105) Hierher gehören auch von Marx hervorgehobene Verknüpfungen ökonomischer mit kulturellen oder soziologischen Faktoren oder die von Max Weber beschriebenen kausalen Einflüsse religiöser Auffassungen auf ökonomisches Handeln. 28 W. Stegmüllers Interpretation von der Verträglichkeit dieser Kausalerklärungen mit intentionalistischen steht also im konträren Gegensatz zu den Thesen von Wrights. (Vgl. W. Stegmüller (Hauptströmungen II), S. 139) (Diese Verträglichkeitsthese darf nicht mit derjenigen von Wrights verwechselt werden, die sich auf die Verträglichkeit von neurologischer und psychologischer Erklärung bezieht (s. unten, S. 140 f.).) 27

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Komplementarität, Quasi-Kausalität und Quasi-Teleologie

lands, Kriegserklärung des Deutschen Reichs an Rußland, Ultimatum an Frankreich usf., Zug um Zug. Von welcher Art ist »die Unaufhaltsamkeit dieses Mechanismus« ? Offenbar nicht von der Art, mit welcher der Funke das Pulverfaß zur Explosion bringt, sie ist nicht von der Art einer Kettenreaktion; vielmehr gibt es, wie man sagen könnte, eine komplizierte Mechanik der politischen Einschätzungen und Verpflichtungen, an deren Funktion sich alle beteiligten Parteien gebunden fühlen. Was hier geschieht, ist eine schrittweise Veränderung der politischen Situation; jeder Schritt zwingt die Beteiligten zur Neubeurteilung und einer entsprechenden immer wieder neuen Willensbildung. Und so kommt es zu einer Reihung praktischer Schlüsse, veranlaßt durch die jeweils neue Situation und entsprechende Beurteilung – bei gleichzeitigem Festhalten an ein und demselben letzten Ziel: »Die Schüsse hatten eine neue Situation geschaffen. In dieser neuen Situation wurde eine bestimmte Handlung notwendig, die – bei gleichbleibenden Zielen und Zwecken der Handlung – vorher nicht notwendig geworden war.« (G. H. von Wright (Erklären), S. 130) Man versteht also, wie die Parteien in die Verwicklungen des Krieges von 1914/18 gerieten, woher der Eindruck stammt, daß sie nicht anders konnten als usw. Zur Vermeidung des Ersten Weltkriegs hätten globale Ziele geändert werden müssen, zu deren Änderung niemand bereit war, der darauf hoffte, die Situation mit geringeren Anpassungen bewältigen zu können. Die Mechanik wird durch das globale Ziel in Gang gesetzt, dessen Verwirklichung bei immer wieder veränderter Situation immer wieder andere Handlungen notwendig macht. Es ist ganz legitim, so sagt von Wright, das Attentat von Sarajevo als Ursache des ersten Weltkriegs zu bezeichnen. Doch dann wird »Ursache« nicht im Sinne Humescher Kausalität verwendet; die Gültigkeit dieser Erklärung wird nicht durch Rekurs auf eine Gesetzmäßigkeit begründet, sondern eben über eine Reihung praktischer Schlüsse. Von Wright bezeichnet daher diesen Typus der Erklärung als quasi-kausal. Der Kategorie der Quasi-Kausalität kommt in der Auseinandersetzung um historisches Erklären besondere Sprengkraft zu. Denn sie ist auf jenen zentralen Bereich von Erklärungen bezogen, die als Modelle kausaler Erklärung vorgewiesen worden waren, und die ihre Gesetze aus benachbarten Regionen beziehen, Soziologie, Psychologie usw. Diese von Hempel so identifizierten Ursachen bezeichnet von Wright jetzt als bloß scheinbare. Es handle sich bei ihnen in Wahrheit um »Ziele und Zwecke … die manchmal A

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die ziemlich subtilen Produkte kultureller, politischer, religiöser etc. Traditionen (sind)«; zuweilen auch sind diese Ziele »derart ›lapidar‹ und anthropologisch universell, daß (ihnen) der Historiker keine besondere Beachtung zu schenken braucht« (vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 131); als Beispiel nennt von Wright etwa die Tendenz, sich angesichts von Naturkatastrophen, Hungersnöten und dergleichen in Sicherheit zu bringen. So also erkläre sich Poppers und Hempels These von der Trivialität der in der Historie verwendeten Gesetze als die Universalität mancher Motive. 29 Sicher ist von Wright im Hinblick auf viele Erklärungen zuzustimmen. Es lohnt jedoch, über die Reichweite des von ihm gewählten Beispiels nachzudenken. Welches sind »jene Leute, die [in der ›dust bowl‹] blieben, und die sich dem Tod auslieferten«? Dabei kann es sich offenbar nur um Menschen handeln, denen z. B. ihre überkommene Scholle mehr wert war, als ein grüneres Stück Land in Kalifornien. Diese Menschen nahmen einen bewertenden Vergleich möglicher Handlungsziele vor und entschieden dann aufgrund des Vergleichs. Dann ist jedoch gegenüber von Wright kritisch zu bemerken, daß Quasi-Kausalität nur dort herrscht, wo ein Ziel, eine Absicht in dieser Weise ins Kalkül auch tatsächlich mit einbezogen werden kann oder wird. Und eben dies ist bei vielen soziologischen und psychologischen Kausalzuschreibungen nicht der Fall. Ein Blick in ein Lehrbuch der Sozialpsychologie und auf die Determinanten von Gruppenverhalten macht verständlich, was gemeint ist: Man betrachte z. B. das sog. Risikoschub-Phänomen und die im Anschluß an ein Experiment von J. A. F. Stoner diskutierte These, daß Gruppen risikofreudiger entscheiden als einzelne. 30 Das Phänomen beinhaltet, daß Personen bestimmte Entscheidungssituationen, nachdem sie einer Gruppendiskussion ausgesetzt waren, risikofreudiger beurteilen. Hieraus läßt sich eine Kausalhypothese gewinnen, daß nämlich der Austausch in der Gruppe die Risikobereitschaft ceteris paribus erP. Ricoeur scheint mir die kritische Stoßrichtung der Argumente von Wrights ganz zu verkennen, wenn er Quasi-Kausalität mehrfach als ein »›gemischtes‹ Modell aus kausaler Erklärung und teleologischer Schlußfolgerung« bezeichnet. (P. Ricoeur (Zeit), S. 197; vgl. auch S. 209 ff.) Von Wrights Begriff der Quasi-Kausalität steht, wie auch der später eingeführte Begriff der Quasi-Teleologie eindeutig im Dienste einer Kritik des Geltungsanspruchs der Kausalität in der Geschichte. 30 Vgl. für eine Darstellung der Diskussion D. Cartwright, »Determinants of Scientific Progress: The Case of Research on the Risky Shift«. 29

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höht. Würde man diese These zur Kausalerklärung einer historischen Situation heranziehen, dann wäre dies nur möglich, sofern deren Inhalt nicht schon in die Entscheidungsbildung der betreffenden Gruppe eingegangen ist. Man denke etwa an Kennedys Zurückhaltung während der Kubakrise im Jahre 1961: Es ist bekannt, daß sich Kennedy zur vorangegangenen Schweinebuchtinvasion von den Militärexperten im Kabinett hatte drängen lassen, und daß eben diese Erfahrungen tatsächlich bei der Entscheidungsfindung in der Kubakrise eine Rolle spielten. In der folgenden Weise ließen sich diese Abläufe im Sinne eines Risikoschubs interpretieren: Die Invasion in der Schweinebucht erfolgte aufgrund der durch einen Risikoschub verursachten Entscheidung im Kabinett. Zumal nach dem Fehlschlag der Operation wurde dem Präsidenten und seinen Beratern dieser Mechanismus bewußt. Daher spielte er in der Kuba-Krise keine Rolle mehr. (Eine alternative Erklärung lautet, daß Kennedy zu Beginn seiner Amtszeit eher dazu neigte, sich in verschiedenen Fragen auf Expertenwissen zu verlassen, und daß das Risiko im Fall der Kuba-Krise beträchtlich höher lag als bei der Schweinebuchtinvasion, doch kommt es hier nicht auf die Wahrscheinlichkeit der Erklärung an, sondern auf die Unterscheidung eines Typs der Kausalerklärung, der nicht in einen der Quasi-Kausalität auflösbar ist.) Dort also, wo Ursachen Teil des Kalküls der oder des Handelnden sind, handelt es sich bei diesen Ursachen nicht um Humesche Ursachen. Doch in vielen Fällen soziologischer oder psychologischer Erklärung ist dies gerade nicht so und kann nicht so sein. Historische Kausalerklärungen durch Humesche Ursachen der genannten Art setzen genau dies voraus: Daß den Handelnden diese Ursachen unbekannt sind. Sofern sie also als Handelnde bezeichnet werden, geschieht das nicht aufgrund der so unterstellten Ursachen, sondern weil sie selbst sich angesichts der Ignoranz dieser Ursachen Handlungsgründe schmieden; so wie es vielleicht Kennedy im Falle der Schweinebuchtinvasion für richtig befand, dem Rat erfahrener Experten zu folgen. Doch, so wie hier angenommen, lautet die eigentliche Erklärung im vorliegenden Falle eben nicht, daß der Präsident der Expertise folgte. 31 Wolfgang Stegmüller hat also zurecht bemerkt – auch wenn er die kritische Stoßrichtung der Kategorie der Quasi-Kausalität nicht völlig deutlich macht –, daß von Wrights Analyse eine historische Kausalforschung nicht ausschließt. (Vgl. W. Stegmüller (Hauptströmungen II), S. 139 f.)

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Die Betrachtung universeller Motive ergänzend geht von Wright ausführlich auf weitere Faktoren ein, die als Anlässe zur Absichtsbildung dienen können. Auf solche Faktoren verweist ein Handelnder oft als Antwort auf die Frage, was ihn dazu brachte, das und das zu tun. 32 Und das, was jemanden dazu brachte, das und das zu tun, reicht hier von rein physischem Zwang über den reflexhaften Gehorsam gegenüber einem Befehl bis hin zu Normen, deren Zielsetzungen man billigt. Auch in diesen Zusammenhängen will von Wright zeigen, daß Humesche Kausalität entweder irrelevant oder, entgegen dem Anschein, gar nicht existent ist: Physischer Zwang etwa kann keine Humesche Ursache einer Handlung sein: »Es ist eine bemerkenswerte Asymmetrie, daß physischer Zwang Handlungen kausal unmöglich, aber nicht kausal notwendig machen kann.« (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 133) Schlägt jemand einen anderen mit meiner Hand, dann ist das nicht meine Handlung; verhindert jemand durch physische Gewaltanwendung meine Handlung, dann ist die verhinderte Handlung auch keine (sie ist nicht etwa eine unterlassene, was wiederum eine Handlung wäre). Zwingt mich ein Räuber mit vorgehaltener Pistole, ihm meinen Geldbeutel auszuliefern, dann werde ich das nicht tun, wenn ich will, daß man mich tötet (auch hier erzwingt der physische Zwang kein Handeln). Die Befolgung eines Befehls ist eine Handlung (will ich in den Karzer, dann führe ich den Befehl nicht aus). Soweit und insofern sich die Befolgung eines Befehls einem Reflex annähert, ist sie eine Humesche Wirkung; doch dann ist sie insoweit auch keine Handlung mehr. Der sog. Befehlsnotstand macht sich, so kann man hinzufügen, dies Bild zunutze: als ob man – »ich konnte nicht anders« – einer Humeschen Ursache unterlegen sei. Der letzte Erklärungstyp, den von Wright untersucht, ist der der Quasi-Teleologie. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 139 ff.) Erklärungen von diesem Typus sieht er paradigmatisch in der Biologie am Werk; eine typische derartige Erklärung lautet etwa, daß die Frequenz der Atembewegungen steigt, um den Sauerstoffverlust des Blutes auszugleichen. Das Explanans, das geliefert wird, ist ein Zweck, angezeigt durch das um-zu-Bindeglied mit dem Explanandum. Doch natürlich ist die teleologische Form nur Oberfläche, die Dies hat Ähnlichkeit mit Collingwoods Sinn I, der ja durch den Verweis darauf bestimmt ist, daß ein anderer dem Handelnden einen Grund geliefert hat (caused him to do, bei von Wright made him do).

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teleogische Erklärung eine verkürzte Version der kausalen, die etwa entsprechende Feedback-Prozesse erwähnen würde. 33 Existieren in der Geschichte (oder in den Sozialwissenschaften) vergleichbare Kausalitäten, die durch den Anschein der Teleologie verdeckt werden? Von Wright erörtert die Frage am Beispiel des wirtschaftlichen Aufschwungs Polens unter Kasimir dem Großen im XIV. Jahrhundert, der maßgeblich der Aufnahme aus Deutschland vertriebener Juden zu verdanken war. Eine Beschreibung dieses Sachverhalts könnte lauten, daß es die Bestimmung der vertriebenen Juden war, den Aufschwung Polens hervorzurufen (ganz ohne deren Absicht und Kenntnis); im Sinne dieser Beschreibung hätte Geschichte ein Telos, menschliches Handeln bestünde in der Verwirklichung dieses vorgegebenen Endziels. 34 Gibt diese Beschreibung Anlaß zu einer Kausalanalyse, so wie dies bei teleologisch beschreibbaren biologischen Vorgängen der Fall ist? Dies verneint von Wright: Wie auch bei den zuvor analysierten quasi-kausalen Erklärungen, ist der zu erklärende Mechanismus ein motivationaler; der motivationale Mechanismus wird einmal durch kausal erscheinende oder als solche beschriebene Vorgänge verdeckt und ein andermal durch die teleologische Beschreibung. Es gibt in der Geschichte keine Quasi-Teleologie, es gibt hier nicht nur als teleologisch beschriebene Kausalvorgänge. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 139 f.) Dasselbe gilt für die systemtheoretische Analyse gesellschaftlicher Vorgänge. Wird ein Vorgang z. B. als negativer Feedback-Prozeß analysiert – wenn etwa durch eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe unternommene Demonstrationen und Streiks als der Versuch interpretiert werden, bestimmte Auswirkungen einer Regierungspolitik abzuschwächen –, dann ist dieser Vorgang, anders als etwa ein biologischer Feedback-Prozeß, keine Humesche Kausalrelation. Auch hier sieht von Wright einen motivationalen Mechanismus am Werk. Von Wright erkennt also in der Geschichte nur einen ganz Einen entscheidenden Schritt, mit dem die teleologische Erklärung in der Biologie durch die kausale ersetzt wurde, sieht von Wright in Rosenblueths, Wieners und Bigelows Vorschlag von 1943, teleogische Erklärungen durch systemtheoretische zu ersetzen, besonders von der Form des negativen Feedbacks, u. d. h. durch Kausalverkettungen. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 28 ff.) 34 Im Hintergrund dieser Überlegung von Wrights steht die Geschichtsphilosophie Hegels und auch A. C. Dantos Analyse der Unabschließbarkeit der Historiographie angesichts ihrer Revidierbarkeit. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 140 f.) 33

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schmalen Geltungsbereich kausaler Erklärungen. Ihre Funktion ist die einer Ergänzung der eigentlich relevanten Handlungserklärungen, Kausalerklärungen und Handlungserklärungen sind komplementär. Eine Anzahl von Erklärungstypen, die auch als Kausalerklärungen in Frage kommen könnten, erweisen sich hingegen als verkappte Handlungserklärungen: Dies sind zunächst die durch von Wright als quasi-kausal bezeichneten Erklärungen; auch teleologisch erscheinende Erklärungen zeigen sich bei näherer Betrachtung als intentionalistische, nicht etwa als kausale, wie dies hingegen in den biologischen Wissenschaften tatsächlich der Fall ist. In der Folgezeit hat sich von Wrights Einschätzung der Geschichtswissenschaft verschoben. Jenes ganze Kapitel, das er in Erklären und Verstehen der Wissenschaftstheorie der Geschichte und der Sozialwissenschaften widmet, überarbeitete er noch einmal gründlich in einer Untersuchung, deren Schwergewicht nicht mehr auf den, wie er nun sagt, internen Determinanten des Handelns liegt – den Handlungsgründen: Absicht und Mittel-Zweck-Überzeugung des Handelnden – sondern auf externen Determinanten. 35 Externe Determinanten sind gesellschaftliche Regeln und Normen, »symbolische Herausforderungen«, die das gesellschaftliche Subjekt unter Druck setzen, da bei Nichtbefolgung entsprechende Sanktionen erfolgen. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 42–45). In Erklären und Verstehen hatte von Wright sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit solch ein Regeln und Normen befolgendes Verhalten kausal (im Humeschen Sinne) sei, und er hatte diese Antwort verworfen. Bei dieser Abweisung von Kausalerklärungen regelbefolgenden Handelns bleibt es, doch er unterscheidet jetzt deutlicher als zuvor zwischen absichtlichem Handeln und einem Handeln, das in einer Absicht geschieht. (Vgl. G. H. von Wright (Freedom), S. 40 f.; vgl. auch G. H. von Wright (Reply), S. 824) Man betrachte das BeiVgl. G. H. von Wright (Freedom), S. 28. Im Hinblick auf die internen Determinanten legt sich von Wright jetzt darauf fest, daß der praktische Syllogismus weder eine Beziehung logischer noch eine kausaler Notwendigkeit zum Ausdruck bringt. (In Erklären und Verstehen hatte er ja noch eine Version des logischen Verknüpfungsarguments für richtig gehalten.) Doch er bleibt dabei, daß die Beziehung zwischen Prämissen und Konsequenz im praktischen Schluß sui generis sei. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 65) Ihre Eigenart besteht darin, daß demjenigen, dem die in den Prämissen angesprochenen voluntativen und kognitiven Einstellungen zugeschrieben werden, zugleich eine Verpflichtung zugeschrieben wird, und zwar diejenige, die entsprechende Handlung auszuführen – sonst halten wir ihn für irrational oder sagen, wir verstünden ihn nicht, sofern er selbst es ist, der sich diese Einstellungen zuschreibt.

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spiel des Anhaltens bei Rot im Straßenverkehr; hier erscheint die Beschreibung, der Fahrer halte in der Absicht an, die Straßenverkehrsregel zu befolgen, als künstlich. Die Beschreibung könnte manchmal angemessen sein, etwa wenn der Fahrer in tiefer Nacht auf einsamer Landstraße überlegt, ob er die Regel befolgen soll oder nicht und sich dann dazu entschließt. Doch dies ist nicht der Normalfall. Normalerweise gibt es vor der Ampel keine Überlegung, der Fahrer hält einfach an. Was ihn handeln läßt, ist nicht, daß er dies beabsichtigt, sondern, daß die Ampel Rot anzeigt, die externe Determinante selbst. Dennoch ist das Verhalten des Fahrers kein Reflex und daher auch nicht kausal (im Humeschen Sinne) bedingt. Im Falle eines Unfalls etwa, bei dem der Fahrer bei Rot auf das Gaspedal anstatt auf die Bremse trat, kann er im nachhinein sagen, er habe eigentlich beabsichtigt zu bremsen. Und die Möglichkeit dieser Antwort zeigt, daß das Handeln des Betreffenden, obwohl ihm keine Überlegung vorausging, und daher auch keine Absicht, dennoch absichtlich war. (Vgl. G. H. von Wright (Freedom), S. 40–41) Die Hauptkonsequenz dieser Unterscheidung, die von Wright jetzt hervorhebt, ist, daß der praktische Schluß im Vergleich zur früheren Bewertung an Bedeutung verliert. Denn im Schema des praktischen Schlusses, so wie ihn von Wright in Erklären und Verstehen rekonstruiert hatte, wird nur jenes Handeln erklärt, das in einer bestimmten Absicht ausgeführt wird und nicht nur einfach absichtliches Handeln; die Erwähnung der Absicht stellte ja gerade die erste, die »voluntative« Prämisse dar. Im Geschichtskapitel von Erklären und Verstehen bildete der praktische Schluß den Dreh- und Angelpunkt der Argumentation: Für eine Reihe von Erklärungen, die nicht als solche erschienen, sollte gezeigt werden, daß es sich auch bei diesen um solche handelte, die dem Schema des praktischen Schlusses folgen. Für einen weiten Bereich dieser Erklärungen, die auf äußere Determinanten abzielen, wird diese These jetzt zurückgenommen: Die Erklärung von normen- und regelgeleitetem Handeln erfolgt nicht durch praktische Schlüsse. (Vgl. auch G. H. von Wright (Reply), S. 840) Und eben solche Erklärungen sind als historische und sozialwissenschaftliche zumindest ebenso häufig wie die durch praktische Schlüsse. Von Wrights neue Unterscheidung ist wichtig: denn sie bricht mit der in der bisherigen Diskussion geläufigen Dichotomie der Erklärung – es gibt Verstehen und Erklären, intentionalistische und kausalistische Erklärungen, praktische oder theoretische Schlüsse. Von Wright führt jetzt ein Drittes ein. Freilich bleibt er eine nähere A

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Erklärung schuldig, worin – über die negative Abgrenzung hinaus – dieser dritte Typus der Erklärung formal besteht. Aus der kurzen Betrachtung der neueren Überlegungen von Wrights nach Erklären und Verstehen kann das Fazit gezogen werden, daß sich an einem in dieser Nachlese nichts ändert: am Verhältnis von Kausalerklärung und intentionaler Erklärung. Zwar wird der Geltungsbereich des praktischen Schlusses beschnitten; doch bleibt es bei der in Erklären und Verstehen herausgearbeiteten Relation der Komplementarität von kausaler und intentionalistischer Erklärung. Und auch auf anderer Ebene bleibt die dichotome Einteilung von Erklären und Verstehen erhalten: daß es auf der einen Seite unabsichtliches Verhalten, auf der anderen Seite insgesamt absichtliches ist, das erklärt wird. Eingeschränkt wird also gerade nur der Geltungsbereich des praktischen Schlusses, der Erklärung durch die Absicht. 36 Den Abschluß dieser Skizze der Betrachtungen von Wrights soll ein kurzer Hinweis auf die Tatsache bilden, daß sich in seiner philosophischen Handlungstheorie nicht nur die prägnant herausgearbeitete These über die Komplementarität von Kausalität und Handeln findet. Von Wright geht auch auf die Kompatibilitätsthese ein, der zufolge Kausal- und Handlungserklärungen alternative, gleich gültige Erklärungen ein und desselben Verhaltens darstellen sollen. 37 Die Frage, die von Wright hier untersucht, lautet erstens, ob denn dasselbe Verhalten, das durch den praktischen Schluß erklärt wird,

Man kann sich dem Eindruck nur schwer entziehen, daß von Wright hier einem Rest antiquierter Willensmetaphysik, einem Psychologismus der Intentionalität verfällt. Als das eigentliche Kriterium der Zuschreibung von Absichten betont er immer wieder die tatsächlich stattgehabte Überlegung des Handelnden (G. H. von Wright (Freedom), S. 36 f., S. 40 f.), während die Berufung auf die eigene Absicht post hoc nur die Absichtlichkeit der Handlung, nicht das tatsächliche Vorliegen der Absicht belegen dürfen soll. So als ob nur das Verweisenkönnen auf das innere Ereignis die Zuschreibung von Absichten rechtfertigen könnte. Hiermit hängt eine bestimmte Deutung des praktischen Schlusses zusammen; in dieser Interpretation ist der praktische Schluß der Schluß vom Vorliegen eines Ereignisses auf ein anderes, vom introspektiv beobachteten inneren Ereignis Absicht auf das äußere, die Handlung. Da ersteres nun im Falle des regelbefolgenden Handelns nicht gegeben sein soll, ist dies Handeln nicht durch den praktischen Schluß erklärbar. Und nun könnte man sagen: Wenn beim Gebrauch von »Absicht« andere Kriterien als das der (introspektiven) Beobachtbarkeit greifen – z. B. das der Behauptbarkeit post hoc – dann könnte auch in diesen Fällen der praktische Schluß herangezogen werden. 37 Von Wright beruft sich für die Kompatibilitätsthese auf F. Waismann, dann A. Flew und N. Malcolm. (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 173, Fn. 34) 36

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nicht vielleicht zugleich auch kausal erklärt werden kann und zweitens, im unmittelbaren Anschluß, sofern es eine solche andere Erklärung gibt: von welcher Art die Beziehung zwischen praktischem Schluß und Kausalerklärung hier ist. Er wirft zunächst die Frage auf, wie es eigentlich überhaupt zu einem Verträglichkeitsproblem kommen kann. Er erläutert diese Frage durch den Vergleich der Konklusionen von praktischem Schluß und Kausalerklärung. Man betrachte z. B. einen Mann, der beabsichtigt, an einer Tür zu läuten, und der glaubt, dies nur tun zu können, indem er auf den Klingelknopf drückt. Keine Konklusion, die anstatt der entsprechenden Handlung ein nicht-intentionalistisches Geschehen schildert, folgt aus diesen Prämissen – z. B. »folglich bewegte sich der Körper des Mannes so, daß dadurch ein Druck auf den Knopf verursacht wurde«. Ebenso ist auch klar, daß die Konklusion einer Kausalerklärung nicht-intentionalistisch sein muß: Aus einer bestimmten Reizung des Nervensystems folgt nur, daß sich der Körper eines Menschen bewegt, nicht, daß er ihn bewegt. So gesehen, gibt es überhaupt kein Verträglichkeitsproblem, weil praktischer Schluß und Kausalerklärung gar nicht dasselbe erklären, sondern verschiedene Explananda haben, nämlich der praktische Schluß eine Handlungsbeschreibung, die Kausalerklärung die Beschreibung eines physikalischen Vorgangs. Doch solch eine Darstellung der Dinge, meint von Wright, ist zu einfach, und zwar deshalb, weil gerade dieser Vorgang, den die Konklusion der Kausalerklärung beschreibt, intentionalistisch gedeutet und damit eben doch zum Explanandum eines praktischen Schlusses werden kann. So daß sich nun die Frage stellt: Bleibt hier die Handlungserklärung adäquat, trotz gültiger Kausalerklärung? (Vgl. G. H. von Wright (Erklären), 110–116) Es gibt Fälle, so zeigt von Wright jetzt, in denen bei ein und demselben Vorgang die Handlungserklärung angesichts einer Kausalerklärung vielleicht zurückgezogen werden müßte: Wenn z. B. jemand eine Tür öffnet, die im gleichen Augenblick »von selbst« aufgeht, z. B. durch irgendeinen gleichzeitig tätigen Mechanismus. Die Begründung dafür, in diesem Fall doch an der Handlungserklärung festzuhalten, könnte lauten, daß die Türe in jedem Falle durch den Betreffenden geöffnet worden wäre, auch wenn sie sich nicht geöffnet hätte – dann läge ein Fall von kausaler Überdetermination vor. Wollte man hingegen die Handlungserklärung fallen lassen, dann würde eine mögliche Begründung lauten, daß der MechaA

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nismus ihm gerade die Möglichkeit zum Handeln genommen habe. Die Entscheidung ist also in diesem Falle zweifelhaft. Sein Interesse gewinnt dies Beispiel durch den Vergleich mit jenem Typus der Erklärung, an den sofort und zuerst zu denken ist, wenn nach einer kausalen Erklärung von Verhalten gesucht wird, dem der neurophysiologischen. Ist es auch hier so, daß die Handlungserklärung angesichts der neurophysiologischen zurückzuziehen wäre? Nein, doch aus einem anderen Grunde, nämlich cum grano salis, weil sich mein Arm nicht gehoben hätte, hätte ich ihn nicht gehoben (cum grano salis, weil natürlich denkbar wäre, daß ein anderer kommt und ihn hebt). Hingegen gibt es hier keinen Mechanismus, der das Verhalten, das ich in Gang setze, von selbst in Gang setzt, und »der mir die Möglichkeit zum Handeln nimmt«, wie ich sagen würde, wenn die Handlungserklärung zurückgezogen wird. Der neurophysiologische Mechanismus liefert mit anderen Worten nicht jene Begründung für eine Retraktion, die der äußere liefert. Daher gibt es hier keine Retraktion, Handlungserklärung und Kausalerklärung sind kompatibel. Von Wright macht deutlich, daß dies für Basishandlungen gilt. Bei Nicht-Basishandlungen, z. B. wenn ich die Tür öffne, indem ich die Klinke drücke, indem ich meinen Arm senke usw. gibt es eine partielle Retraktion, eine »Redeskription der Handlung unter einem sozusagen ›verstümmelten‹ Aspekt« (vgl. G. H. von Wright (Erklären), S. 118); wir würden sagen: »Selbst wenn er nicht die Tür geöffnet hat, zumindest hat er seine Muskeln angespannt, seinen Arm gesenkt, daß er das getan hat, daran soll festgehalten werden.« Demgegenüber können Basishandlungen nicht partiell zurückgezogen werden.

3.6 Ignoranz und Erzählung In der Einleitung zum vorliegenden Kapitel wurde bemerkt, daß ganz Unterschiedliches in der Geschichtswissenschaft als »Erzählung« bezeichnet wird. Hierzu rechnen auch Handlungserklärungen aus den Absichten und Überzeugungen des Handelnden und Kausalerklärungen von der Art, wie sie Hempel in »The Function of General Laws in History« angeführt hatte. Im Mittelpunkt der Betrachtung standen zunächst monistische Auffassungen und die Frage, ob einem dieser beiden Erklärungstypen in der Geschichte auf Kosten des anderen der Vorzug zu geben sei. Da 142

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solche Reduktionsversuche sich in beiden Fällen als erfolglos erwiesen, galt die Fragestellung sodann der Beziehung, die die beiden Erklärungstypen miteinander eingehen. Es wurden zwei Antworten auf die Frage nach der Relation von Handlungs- und Kausalerklärungen hervorgehoben, die Kompatibilitäts- und die Komplementaritätsthese. Im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels soll gezeigt werden, daß diese Thesen die Relation der beiden Erklärungstypen miteinander nicht erschöpfend behandeln und nicht allen Spielarten des Verhältnisses gerecht werden. Insbesondere soll die These vertreten werden, daß wichtigen Formen der Erzählung ohne die Berücksichtigung einer dritten Art von Beziehung neben denen der Komplementarität und Kompatibilität nicht Rechnung getragen werden kann. Unten soll näher erläutert werden, daß diese dritte Beziehung gerade nicht in einer Form der Verträglichkeit oder sogar wechselseitigen Ergänzung dieser Erklärungstypen, sondern vielmehr in der Möglichkeit besteht, einen je spezifischen Einwand zu erheben. Da dieser Einwand darauf verweist, daß dem Subjekt einer behaupteten Verursachung die supponierte Ursache bekannt bzw. unbekannt sei, wird in diesem Zusammenhang von einem Prinzip der Ignoranz gesprochen werden, dem die Relation von Handlungs- und Kausalerklärung folgt. Daß die Geschichte kein Schauspiel und der Historiker kein distanzierter Betrachter dieses Schauspiels sei – mit dieser Kritik einer an den Naturwissenschaften orientierten Geschichtswissenschaft hatten Collingwood und Dray die Handlungserklärung ins Zentrum einer Methodologie der Geschichte gerückt: Die eigentliche Aufgabe des Historikers besteht gewissermaßen in der Teilnahme an der zu erzählenden Geschichte, indem er gleichsam in einer Reinszenierung die Absichten und Überlegungen desjenigen versteht, von dessen Handeln er berichtet. Seine Erzählung besteht wesentlich in der Lieferung einer Handlungserklärung. 38 Mit dieser Interpretation der Handlungserklärung als Erzählung folge ich einem Hinweis Maurice Mandelbaums in »A Note on History as Narrative« auf Collingwood und Dray. (Vgl. ders. (Note), S. 425) Collingwood selbst äußert sich nicht über eine narrativistische Tradition, als deren Teil er sich begreifen würde; doch seine Vorstellung von Handlungen, deren Begründung darin besteht, daß sie durch andere Handlungen ausgelöst werden, kommt einer Auffassung von einer allein Handlungen berücksichtigenden historischen Erzählung sehr nahe. William Dray, der den Begriff der Erzählung zuerst in die Diskussion der Analytischen Geschichtsphilosophie eingeführt hat, bezeichnet ursprünglich als Erzählungen Ant-

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Es sei zunächst auf einen Einwand gegen diese handlungsorientierte Tradition aufmerksam gemacht, in der es noch nicht um die Frage der Erzählung geht, wohl aber darum, daß dem Adressaten der Erklärung bei einer derart eingeschränkten historiographischen Vorgehensweise vieles an der dargestellten historischen Handlung ganz unverständlich bliebe. Evelyn Barker bespricht in »Rational Explanations in History« die folgende Erklärung aus W. H. Prescotts The Conquest of Peru für das merkwürdige Verhalten des Inka-Herrschers Atahuallpa, der sich mit nur geringem Gefolge und unzureichendem Schutz in die Gewalt Pizarros begab, womit sein Untergang besiegelt war. Sie zitiert Prescott wie folgt: »›Es ist schwierig, sich dies schwankende Verhalten des Atahuallpa [der sich zu dem Besuch von Pizarro hatte drängen lassen, T. K.] zu erklären, das sich so sehr von dem kühnen und entschlossenen Charakter, den ihm die Geschichte zuschreibt, unterscheidet. Es besteht kein Zweifel daran, daß er den weißen Mann ganz im guten Glauben besuchte; obwohl Pizarro wahrscheinlich zu Recht vermutete, daß seine freundliche Haltung auf einer sehr schwankenden Grundlage ruhte. Es gibt wenig Grund zur Annahme, daß er der Ehrlichkeit der Fremden mißtraute, sonst hätte er sich nicht so ganz ohne Not entschlossen, sie unbewaffnet zu besuchen. Zweifellos entsprach sein ursprünglicher Vorsatz, mit all seinen Truppen aufzutreten, dem Wunsch, seinen königlichen Stand vor Augen zu führen, und vielleicht auch dem, den Spaniern größere Ehre zu erweisen; als er jedoch einwilligte, ihre Gastfreundschaft anzunehmen und die Nacht in ihren Quartieren zu verbringen, war er willens, einen Großteil seiner bewaffneten Soldatenschaft zurückzulassen und sie in einer Art und Weise zu besuchen, die volles Vertrauen in ihren guten Willen bewies. Seine Stellung im Reich war zu unangefochten, als daß er ohne weiteres hätte Verdacht schöpfen können; und vermutlich war er nicht in der Lage, die Kühnheit zu verstehen, mit der einige wenige Männer, wie diejenigen, die nun in Cajamarca versammelt waren, einen Angriff auf einen mächtigen Monarchen inmitten seiner siegreichen Armee planten. Er kannte das Wesen der Spanier nicht.‹« (Evelyn Barker, »Rational Explanations in History«, S. 176–177 [Übers. T. K.])

Prescotts Beispiel ist zunächst das einer gescheiterten oder besser einer unter den gegebenen Umständen unangebrachten Absicht. worten auf die »Wie möglich?«- (im Gegensatz zur »Warum notwendig?«-) Frage, nicht aber die von ihm als die wichtigste geschichtswissenschaftliche Erklärung beschriebene »rationale Erklärung«. (Vgl. W. Dray (Narrative), S. 17 und dann ders. (Nature), S. 168) Er verweist aber später darauf, daß Antworten auf die »Wie möglich?«-Frage Handlungserklärungen seien.

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Denn Atahuallpa will einer Einladung Pizarros Folge leisten, um diesen mit seinem Besuch zu ehren. Pizarro aber hat ihn eingeladen, um ihn festzusetzen. Dennoch erklärt der Hinweis auf Atahuallpas Absicht, warum dieser sich zu Pizarro begibt. Man beachte aber, daß seine Absicht dies nicht in der Weise erklärt, in der Absichten für gewöhnlich Handlungen begründen, nämlich als deren Ausführung: Denn das Massaker an seinem Gefolge, seine Festnahme, die schließliche Hinrichtung stellen nicht die beabsichtigte Ehrung des Pizarro dar. Barker kommentiert Prescotts Erklärung in folgender Weise: »… eine rationale Erklärung liefert nur jene Handlungsgründe, deren sich der Handelnde wahrscheinlich bewußt war, und die also in seine praktische Kalkulation eingehen konnten. Da der Historiker nur ›die Kalkulation des Handelnden noch einmal durchgeht‹, kann seine rationale Erklärung nichts einschließen, was dem Handelnden unbekannt war. Sie kann daher jene Handlungen nicht erklären, bei denen dies Unwissen einen entscheidenden Faktor der Handlung darstellte, wie im Fall des Atahuallpa. Erklärungen von der oben angeführten Art [Prescotts Erklärung des Verhaltens von Atahuallpa, T. K.] sind jedoch in der Geschichte keine Seltenheit und sie stellen jene Art von Erklärung dar, die auf ganz natürliche Weise zu einer Theorie vom Typus umfassender Gesetze (covering law type) passen.« (E. Barker, »Rational Explanations in History«, S. 177 [Übers. T. K.])

Zu erklären ist also, warum Atahuallpa den Pizarro besucht, obwohl ihm dieser nach dem Leben trachtet. Die Erklärung lautet, daß Atahuallpa gerade dies nicht weiß bzw. nicht für vorstellbar hält, weil er die Spanier nicht kennt oder auch, weil er sich selbst überschätzt. Nun beschreiben die Prämissen von Handlungserklärungen gerade die Überlegungen des Handelnden (und seine Absicht), Dinge also, derer er sich bewußt ist. Daher kann die Erklärung des genannten Explanandums keine Handlungserklärung sein. Sie ist vielmehr, wie Barker erläutert, eine Kausalerklärung von besonderer Art, die nämlich darauf beruht, daß derjenige, von dem sie gilt, etwas nicht weiß. Und hierauf bezieht sich nun Barkers These von der Unzulänglichkeit der Handlungserklärung in der Geschichte: Viele Ereignisse der Vergangenheit können durch den Handelnden nicht erklärt werden, weil sie ihm in einer bestimmten Beschreibung unbekannt sind. Atahuallpa kann erklären, warum er sich zu Pizarro begibt (auch wenn die Sache dann schief geht). Doch ihm ist unbekannt, daß er sich mit gerade dieser Unternehmung in tödliche Gefahr begibt; so daß, in Barkers Worten, der »Historiker als Zuschauer zu einem besA

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seren Verständnis der historischen Ereignisse gelangen kann, als die Handelnden selbst oder ihre Zeitgenossen« (E. Barker (Explanations), S. 178). Und sie schließt daher gegen Collingwood und Dray, daß eine bestimmte Art des »Spektatorismus«, u. d. h. der Kausalerklärung, mit zum Wesen der Geschichtsschreibung gehört. Denn es gibt Ereignisse, die durch die Unkenntnis bestimmter Faktoren durch die Akteure zustande kommen, und die daher nur durch Kausalerklärungen, nicht durch die Überlegungen der Akteure selbst, erklärt werden können. Da die Kenntnis dieser Faktoren Voraussetzung der Kausalerklärung ist, kommt gerade bei ihnen dem Historiker eine besondere Rolle zu. Barkers Entdeckung einer besonderen Klasse historischer Kausalerklärungen hat offensichtlich Konsequenzen für die Frage der historischen Erzählung: Die Festlegung des historischen Erzählens auf das Liefern von Handlungserklärungen schließt einen wichtigen Typus der Erklärung aus der Erzählung aus, und zwar gerade einen solchen, bei dem der Erzähler selbst mit ins Spiel kommt, da sein Wissen für diese Erklärung konstitutiv ist. Im folgenden seien die Untersuchungen A. Dantos als eine Revision des Narrativismus im Sinne dieser Kritik beschrieben. In Analytische Philosophie der Geschichte hat Arthur C. Danto eine besondere Struktur erzählender Sätze in der Geschichtsschreibung herausgearbeitet. Dantos Untersuchung beginnt bei der Fiktion des sogenannten »idealen Chronisten«. (Vgl. A. C. Danto (Philosophie), S. 241) Dieser verfügt über die Gabe der instantanen Transkription: Er verzeichnet in der »idealen Chronik« jedes Ereignis im Augenblick seines Geschehens. Daher ist die »ideale Chronik« die vollständige Aufzeichnung aller vergangenen Ereignisse. Ist der »ideale Chronist« ein Historiker? Danto zeigt, daß er dies in einem wichtigen Sinne nicht ist: Obwohl die ideale Chronik alle vergangenen Ereignisse verzeichnet, ist sie kein vollständiger historischer Bericht. Denn ein solcher enthält nicht nur instantane Transkriptionen, sondern insbesondere auch eine weitere Klasse von Beschreibungen, nämlich erzählende Sätze. Unter einer »Erzählung« oder einem »erzählenden Satz« versteht Danto Aussagen, die eine spezifische temporale Struktur aufweisen. Man betrachte zum Beispiel die Feststellung »Der Dreißigjährige Krieg begann im Jahre 1618«. Diese Aussage handelt von einem bestimmten Ereignis, dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Insofern jedoch, als der Dreißigjährige Krieg den Namen seiner Dauer verdankt, bezieht sie sich auch auf 146

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ein weiteres Ereignis, nämlich sein Ende. Entscheidend für Dantos Begriff der Erzählung ist nun, daß das erste Ereignis als Beginn des Dreißigjährigen Krieges nur vom Zeitpunkt des zweiten her beschrieben werden kann. Daher kann diese Beschreibung vom idealen Chronisten, vom Standpunkt der Gleichzeitigkeit aus, nicht geliefert werden. Und insofern ist auch die vollständige ideale Chronik gegenüber der Geschichtsschreibung, so wie sie tatsächlich vom Historiker betrieben wird, notwendig unvollständig. Die allgemeine Form der Erzählung in Dantos Sinn läßt sich etwa derart angeben, daß eine bestimmte Beschreibung eines Ereignisses E2 zum Zeitpunkt t2 notwendige Bedingung für die Beschreibung eines Ereignisses E1 zum Zeitpunkt t1 ist. Diese notwendige Bedingung ist für den idealen Chronisten nicht erfüllbar. (Vgl. A. C. Danto (Philosophie), S. 251) Danto identifiziert eine Fülle von Erzählungstypen, die allesamt durch Prädikate einer bestimmten Klasse konstituiert werden. Zu dieser Klasse gehören zum Beispiel: »Aristarchs Theorie antizipierte die des Kopernikus«, »Petrarca leitete die Renaissance ein«, »Piero da Vinci zeugte ein Universalgenie«, und ebenso »sagte richtig vorher«, »begann«, »regte an«, »… wurde der Autor von … geboren« usf. usf. (Vgl. A. C. Danto (Philosophie), S. 254) Es handelt sich also bei den »erzählenden Sätzen« nicht um einen geringfügigen, zu vernachlässigenden Anteil im Gesamt des historischen Berichts. Doch auch mit dieser Feststellung ist deren Bedeutung noch nicht hinreichend beschrieben. Die entscheidende Charakteristik von Aussagen der besagten Form ist darin zu sehen, daß mit ihrer Existenz dem Historiker eine besondere Rolle zugewiesen ist: Erzählungen werden notwendig im nachhinein geliefert, und da der Historiker derjenige ist, der von Vergangenem berichtet, bedarf es des Historikers, dessen, der im nachhinein berichtet, damit eine Erzählung möglich ist. In dieser Definition der Erzählung gibt es keine Erzählung ohne Historiker, so ließe sich Dantos Entdeckung beschreiben. Noch mehr: Wenn als »historische Erzählung« bis hin zu Danto die schlichte Aneinanderreihung von Beschreibungen betrachtet werden konnte, erläuterungsfähig allenfalls nach literaturwissenschaftlichen Kriterien, so steht mit dieser Definition der »Erzählung« eine genuin historiographische Erläuterung zur Verfügung, der zufolge dem Begriff der historischen Erzählung auch ein spezifischer historiographischer Sinn verliehen wird, nämlich als der Erzählung, die für ihr Zustandekommen des Historikers bedarf: Anders als im A

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Falle der Chronik, wird der Standpunkt, von dem aus die historische Erzählung erfolgt, durch die Erzählung selbst mit bezeichnet. Die aufgedeckte Struktur der Erzählung nutzt Danto dann in kritischer Absicht gegenüber jeder Philosophie der Geschichte, die in der Geschichte als ganzer einen Sinn zu sehen vermeint; solche »substanzialistischen« Philosophien erwecken den Anschein, als ob sie nur dasjenige im ganzen betrachten würden, welches die Geschichtswissenschaft als Teil untersucht. Doch es besteht ein gewichtiger Unterschied, der wieder am Standpunkt der historischen Betrachtung festzumachen ist: Derjenige Standpunkt, von dem aus dem Ganzen der geschichtliche Sinn gegeben werden könnte, läßt sich auch nur im nachhinein beziehen, Heilsgeschichte etwa wird vom Standpunkt des errungenen Heils, vom Ende der Geschichte her verfaßt. Doch dieser Standpunkt, der auf die Geschichte folgt, läßt sich nicht beziehen. Daher ist die substanzialistische Sinngebung bloße Spekulation. (Vgl. A. C. Danto (Philosophie), S. 11 ff.) Diese kurze Skizze der Dantoschen Definition einer historischen Erzählung wurde nur deshalb gezeichnet, weil es sich auch bei der Behauptung von Kausalitäten um Erzählungen im definierten Sinne handelt. Natürlich kann aufgrund eines Ereignisses ein anderes Ereignis prognostiziert werden. Die wesentliche Unsicherheit dieser Prognose hat Hume herausgestellt. Doch die Beschreibung des ersten Ereignisses als Ursache erfolgt unter Bezug auf das zweite, und zwar in dessen Beschreibung als Wirkung. Die Beschreibung eines Ereignisses als Ursache gehört daher mit zu der dem idealen Chronisten unzugänglichen Klasse von Beschreibungen, sie gehört zur Klasse der Erzählungen. (Vgl. A. C. Danto (Philosophie), S. 253) Wenn man bedenkt, daß Erzählen als bloße Chronik, daß die Aneinanderreihung von Handlungsbeschreibungen als Modellfall der Erzählung galt, als These gerade gegen die Vorstellung einer kausal erklärenden Geschichtswissenschaft gerichtet, dann stellt Dantos Auffassung, Kausalerklärungen seien Erzählungen im eigentlich bedeutsamen Sinne, die bislang geltenden Verhältnisse auf den Kopf. Doch zumindest die Radikalität dieser Verkehrung könnte vielleicht angezweifelt werden: Wenn sich der Status der Erzählung auch für die Handlungserklärung retten ließe, dann würde die Kausalerklärung zumindest nicht zu deren Lasten ins Zentrum der historiographischen Methode einrücken. Läßt sich also auch die Handlungserklärung als »Erzählung« im von Danto definierten Sinne deuten? In einer eingehenden Untersuchung dieser Frage unterscheidet Dan148

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to von der Klasse der Erzählungen bildenden Prädikate eine Klasse sogenannter Projektverben. (Vgl. A. C. Danto (Philosophie), S. 259) Als Beispiel einer unter Verwendung eines Projektverbs gebildeten Aussage betrachtet er den Satz »Jones pflanzt Rosen«; und er weist darauf hin, daß ein derartiger Satz zu Recht dann geäußert werden kann, wenn alles, was beobachtet wird, darin besteht, daß Jones den Boden umgräbt, düngt, sät, Sämereien kauft, Samenkataloge studiert, Nachbarn um Rat fragt usf. Kurzum: »Das Vorhandensein von Rosen ist das Resultat, auf das alle diese getrennten Verrichtungen hinführen sollen; und weil wir eine Verbindung zwischen ihnen und einem solchen Resultat wahrnehmen, neigen wir dazu, diese verschiedenen Verrichtungen mit den Begriffen des jeweiligen Resultats zu kennzeichnen.« (A. C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S. 258)

Muß das Projekt, das sich in den geschilderten Verrichtungen äußert, erfolgreich sein, so daß sich die Berechtigung der Beschreibung vom Resultat ableiten läßt? Dies ist nach Dantos Dafürhalten nicht der Fall: Sofern etwa ein Orkan Jones Werk zerstört, bevor auch nur die erste Blüte zu sehen ist, bleibt es doch wahr, daß Jones Rosen pflanzte: »Es ist nicht logisch erforderlich, daß das spätere Ereignis eintrete, damit der Satz wahr ist … Rosensamen aussäend, pflanzt Jones … Rosen, komme was da will«. (A. C. Danto (Philosophie), S. 264) Die Erzählung beschreibt nicht nur das frühere Ereignis unter Bezugnahme auf das spätere; sie ist auch nur dann wahr, wenn beide Ereignisse eintreten. Weil hingegen unter Verwendung eines Projektverbs gebildete Aussagen in ihrem Wahrheitswert nicht davon abhängen, was später geschieht, sind alle Aussagen dieser Klasse keine Erzählungen, sie sind daher dem idealen Chronisten zugänglich, Teil der idealen Chronik. 39 Bedeutet die Einordnung der Handlungsbeschreibungen in die Chronik die Leugnung ihrer Relevanz für die Geschichtsschreibung? Und, damit zugleich, auch die der Handlungserklärungen? Danto wendet sich dieser Frage später zu, und zwar in einer Ergänzung der Analytischen Philosophie der Geschichte zum Thema des Verhältnisses von Erzählung und Wissen. Er erläutert dort an folgendem Beispiel noch einmal den Charakter der Erzählung: Im Danto konzediert allerdings, daß das Projektverb als solches nur deshalb seine Rolle spielen kann, weil die beschriebenen Verrichtungen zumeist erfolgreich sind. (Vgl. ders. (Philosophie), S. 486, Fn. 19)

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Jahre 1722 führte die italienische Schauspieltruppe des Luigi Ricoboni im Italienischen Theater in Paris Marivauxs »Arlequin poli par l’amour« auf, und sie leitete mit dieser Aufführung die Zerstörung der commedia dell’arte ein. (Vgl. A. C. Danto (Narration), S. 357 ff.) Die Niederschrift des Stückes und dessen Aufführung kamen aber unter besonderen Umständen zustande. Denn die italienische Komödie war unter Ludwig XIV. aus Frankreich vertrieben worden, und der Regent, der Herzog von Orléans, hatte Ricoboni nach Paris eingeladen, um eine vermutete Nachfrage zu befriedigen. Die italienische Schauspielertruppe scheiterte jedoch mit ihrem Programm, da die Pariser offenbar etwas anderes als das Dargebotene als italienische Komödie erwartet hatten. Ricoboni suchte und fand in Marivaux einen Stückeschreiber, dessen Produkt dem Geschmack des Pariser Publikums eher entsprach. Im Anschluß an das Pariser Gastspiel führte er die neue Mode – in welcher besonders die improvisierten Dialoge durch vorgefertigte ersetzt wurden – auch in Italien ein und besiegelte damit das Schicksal der ursprünglichen Aufführungsweise. Entscheidend für diese Geschichte ist nun, daß kein Teilnehmer an dieser Entwicklung deren Ende beabsichtigte: Weder der Herzog von Orléans, noch Marivaux, noch Ricoboni hatten die Absicht, eine neue Epoche der Theatergeschichte einzuleiten, doch eben dies war die unbeabsichtigte Folge ihres Handelns. Der Herzog beabsichtigte die Erneuerung einer verlorengegangenen Tradition; Ricoboni wollte das Überleben seiner Schauspieltruppe sichern, und Marivaux zu Geld und Ruhm gelangen. Doch diese ganz verschiedenen Absichten begründen nicht die Aufnahme der Episode in die Theatergeschichte. Der Grund dafür liegt vielmehr in der Bedeutung, die ihr durch den weiteren Verlauf zukommt. Ist dann nicht die Erwähnung der verschiedenen Absichten, der Anteil der Handlungsbeschreibungen in der historischen Erzählung irrelevant? Daß dem doch nicht so ist, zeigt Danto durch den Verweis auf einen bestimmten Typus der Geschichtsphilosophie, als dessen Ursprung er Giambattista Vicos Scienza Nuova identifiziert, dann aber auch Hegels und Marxens Theorien der geschichtlichen Entwicklung. (Vgl. A. C. Danto (Narration), S. 358 ff.) Laut Vicos Hauptprinzip der Scienza Nuova verstehen wir die geschichtliche Welt, im Gegensatz zur Natur, weil sie von uns selbst, vom Menschen, erschaffen wurde. (Vgl. G. Vico (Wissenschaft), S. 51 f.) Wir verstehen sie also einerseits durch den Rückgriff auf jene Absichten, 150

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die hinter dem menschlichen Handeln stehen. Andererseits entspricht die Geschichte keineswegs dem menschlichen Wollen: »Die Gesetzgebung betrachtet den Menschen, wie er ist, um daraus für die menschlichen Gesellschaften Nutzen zu ziehen; so macht sie aus der Grausamkeit, der Habsucht und dem Ehrgeiz – welche drei Laster das gesamte Menschengeschlecht verwirren – die Kriegskunst, den Handel und die Staatskunst; also die Kraft, den Reichtum und die Weisheit der Gemeinwesen; solcher Art schafft sie aus jenen drei großen Lastern, die sonst ohne Zweifel die menschliche Erzeugung auf der Erde vernichten würden, einen glücklichen bürgerlichen Zustand. Dieser Grundsatz zeigt, daß hier göttliche Vorsehung mitwirkt, und daß sie ein göttlicher gesetzgebender Geist ist: die aus den Leidenschaften der Menschen (die alle nur an ihrem persönlichen Nutzen hängen und deshalb wie wilde Tiere in den Wüsten leben würden) die bürgerlichen Ordnungen hervorbringt, durch die sie in menschlicher Gemeinschaft leben können.« (G. Vico, Die neue Wissenschaft, S. 25) 40

Der Geschichte liegt also einmal das menschliche Wollen zugrunde. Doch dies individuelle und selbstsüchtige Wollen wird durch die göttliche Vorsehung konterkariert und zum Guten gewendet. Zwischen Vicos Prinzip von der Verständlichkeit der Geschichte als menschlichem Produkt und der Einsicht in die objektive, durch Gottes Willen vorbestimmte Entwicklung, besteht ein unauflösbarer WiVgl. auch G. Vico: »… müssen wir nicht sagen, daß dies der Ratschluß einer übermenschlichen Weisheit sei, die die Welt ohne die Gewalt tyrannischer Gesetze, nur die natürlichen Sitten der Menschen gebrauchend, auf göttliche Art regelt und lenkt? Denn nur die Menschen selbst haben diese Welt der Völker geschaffen – dies war das erste unbestrittene Prinzip dieser Wissenschaft –, aber sie ist, ohne Zweifel, hervorgegangen aus einem Geist, der von den besonderen Zielen der Menschen oft verschieden, manchmal ihnen entgegengesetzt und immer ihnen überlegen ist; jene beschränkten Ziele hat er seinen höheren dienstbar gemacht und sie stets verwandt, um das menschliche Geschlecht auf dieser Erde zu erhalten. Denn die Menschen wollen tierische Wollust üben und ihre Geburten verderben, und zustande bringen sie die Keuschheit der Ehen, auf denen die Familien sich aufbauen; die Väter wollen ihre väterlichen Gewalten über die Klienten ohne Maß ausüben und unterwerfen sie dabei den staatlichen Gewalten, aus denen die Gemeinwesen entstehen; die herrschenden Stände der Adligen wollen die Herrenfreiheit über die Plebejer mißbrauchen und gelangen unter die Herrschaft der Gesetze, die die Volksfreiheit ausmachen; die freien Völker wollen sich von der Fessel ihrer Gesetze lösen und geraten in die Abhängigkeit von Monarchen; die Monarchen wollen ihre Untertanen durch alle Laster der Sittenlosigkeit erniedrigen, damit sie sich sicher fühlen, und bereiten sie dazu vor, als Sklaven das Joch stärkerer Völker zu ertragen; die Völker wollen sich selbst zugrunde richten und retten ihre Überbleibsel in die Einöden, aus denen sie, wie der Phönix, neu auferstehen.« (Vgl. ders. (Wissenschaft), S. 225 f.)

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derspruch: Sofern Geschichte deshalb verständlich ist, weil sie eine menschliche Schöpfung darstellt, ist sie eben nicht als Resultat göttlicher Providenz erklärlich. 41 Danto interpretiert nun aber die Erklärung durch göttliche Vorsehung als eine ironische, und zwar im Sinne der Tropenlehre Vicos: Der Mensch verfolgt zwar seine bösen Absichten, doch unversehens, und gegen seinen Willen, wendet die Vorsehung sein böses Wollen zu einem guten Ausgang. 42 Wenn Geschichte auf diese Weise verläuft, dann mag der Mensch tun oder lassen, was er will, er mag sich für das Rad betrachten, das die Welt in Schwung hält, und ist doch nur Teil jenes Getriebes, welches von einer anderen Macht in Bewegung versetzt wird. Für eine Darstellung der Geschichte nach dieser Art ist nun aber weder die Perspektive des Handelnden noch die des Erzählenden für sich genommen hinreichend. Damit ein historischer Bericht dem Tropus der Ironie folgen, als Tragödie oder Komödie dargestellt werden kann, denen dieser Tropus zugrunde liegt, bedarf es einer doppelbödigen Perspektive oder besser, beider Perspektiven, der des Handelnden und der des Erzählers. Beide Perspektiven verhalten sich zueinander in ganz bestimmter Art und Weise: Für die ironische Perspektive des Erzählers bedarf es ergänzend der Ignoranz des Handelnden: Dieser weiß nicht, daß seine Handlungsüberlegungen nichtig sind, daß er in Wirklichkeit dem Entwurf der Vorsehung folgt. Dantos Analyse in Narration and Knowledge läuft auf zwei Erweiterungen der ursprünglichen Theorie hinaus: Erstens gilt die zunächst semantische Theorie erzählender Sätze jetzt auch für die literarische Form des historischen Berichts – eine Erzählung gibt es nur aus der Sicht des Erzählers; ebenso gibt es auch die historische Tragödie nur vom Ausgang der Geschichte her, aus der Sicht des Autors. I. Berlins Hinweis, auch die göttliche Absicht und nicht nur das menschliche Wollen sei auf dem Wege der historischen Rekonstruktion verständlich, ist einer von vielen Versuchen zur Aufklärung dieses Widerspruchs. (Vgl. ders. (Vico), S. 73; vgl. auch E. Hora in: G. Vico (Wissenschaft), S. 240) 42 H. White hat die von Vico ausgehende Linie der ironischen Geschichtsschreibung weiter, bis ins 19. Jahrhundert verfolgt. Vgl. sein prägnantes Beispiel, das er Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Reiches entnimmt: »Die Renaissance beruht auf dem Erfolg, den in Byzanz ein Fanatismus über einen anderen davontrug, der Gelehrte aus Konstantinopel nach Italien vertrieb, die dort ihr Wissen von der klassischen Antike verbreiteten, das schließlich (ironischerweise) dazu diente, den christlichen Aberglauben zu überwinden, in dessen Dienst es (ironischerweise) von den Mönchen des Mittelalters gebraucht worden war.« (H. White (Metahistory), S. 79) 41

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Zweitens zeigt sich aber im Gegensatz zum früheren, semantischen Ansatz, daß für wichtige Formen der Geschichtsschreibung, die, jetzt literaturwissenschaftlichen Kriterien folgend, als Erzählungen bezeichnet werden können, erzählende Sätze im semantischen Sinne nicht hinreichen: Eine historische Erzählung nach literaturwissenschaftlichen Kriterien bedarf beider Perspektiven, die bisher als solche bezeichnet wurden, der des Handelnden und der des Erzählers. In Narration and Knowledge verfolgt Danto das weitere Ziel zu zeigen, daß die substantialistischen Geschichtsphilosophien, die Geschichte insgesamt im Sinne des erwähnten Stilmittels charakterisieren wollen, gerade einer Verwirrung dieser beiden Perspektiven unterliegen: Vico (und Hegel und Marx) stellen Geschichte so dar, als ob dasjenige, was eigentlich zur Perspektive des Erzählers gehört (und nur im nachhinein erzählt werden kann), die Perspektive des Handelnden beschreiben würde: so als ob Marivaux um der Auflösung der commedia dell’arte willen den Arlequin poli par l’amour verfasst hätte. Im Zusammenhang unserer Überlegungen stellen sie ein interessantes Modell für die Kollision von Handlungserklärung und Kausalerklärung überhaupt dar, und die diesbezügliche Analyse Dantos sei hier noch einmal hervorgehoben: Erzählen in jenem Sinne, dem er sich in Narration and Knowledge zugewandt hat, im Sinne eines literarisch geformten historischen Berichts, ist nur möglich unter Berücksichtigung beider Erzählungen, so wie diese oben definiert worden waren, als Handlungsbeschreibungen und als »narrative Sätze«. Zudem müssen diese beiden in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen: Der Handelnde kennt die Ursachen seines Verhaltens nicht, und legt sich deshalb seine Handlungsgründe zurecht. Die Erzählung des Historikers (man denke an Vicos Providenz) erweist diese Gründe für falsch und ersetzt sie durch die wahren Gründe. 43 Die in diesem Abschnitt untersuchten Erklärungen seien noch Dieser Schluß aus den Überlegungen Dantos folgt nicht dessen Anliegen, der in Narration and Knowledge vielmehr eine kompliziertere These über die Ignoranz des Handelnden vorbringen will: Würde der Handelnde die Zukunft kennen, dann würde die Zukunft feststehen; nun erzählt der Historiker aber, um zu erklären, warum es so gekommen ist; wäre das zu erklärende Geschehen von dem in der Erklärung berichteten unabhängig, dann wäre die Erzählung überflüssig; im Falle der feststehenden Zukunft wäre diese aber von allem unabhängig, was jetzt geschieht. Nun erzählen wir aber – also ist die Zukunft (für den Handelnden) offen. In Dantos Worten: Das Zukunftswissen des Handelnden würde die Struktur der Erzählung auflösen. (Vgl. A. C. Danto (Narration), S. 353)

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einmal zusammengefaßt, um auf diesem Wege zu einer präzisen Form des früher eingeführten Prinzips der Ignoranz zu kommen! (1) Das erste betrachtete Beispiel war dasjenige der Erklärung Prescotts für das Verhalten des Inka Atahuallpa. Das Explanandum dieser Erklärung lautete, warum sich Atahuallpa in Gefahr begeben habe; und das Explanans, daß Atahuallpa diese Gefahr nicht wahrgenommen habe oder vielleicht auch nicht habe wahrnehmen können. Man beachte aber, daß dies Explanans keine Erklärung des angegebenen Explanandum liefert; eher stellt es dessen Zurückweisung dar. Dies ist folgendermaßen gemeint: Die Frage, warum Atahuallpa sich in Gefahr begeben habe, erfordert als Antwort eine Handlungsbegründung – die Nennung der Absicht und Überlegung des Handelnden. Das genannte Explanans besagt aber, daß Atahuallpa diese Absicht gerade nicht hatte oder haben konnte, weil ihm die Gefahr, in die er sich begab, unbekannt war. Dies Explanans fordert ein anderes Explanandum, nämlich, warum er in Gefahr geriet, nicht, warum er sich in Gefahr begab. Und dies Explanandum und Explanans bilden die Komponenten einer Kausalerklärung. Man kann also zusammenfassend sagen, daß hier die Unterstellung zurückgewiesen wird, jemand habe eine Absicht ausgeführt. An die Stelle der Erklärung durch die Absicht tritt die Kausalerklärung. (Atahuallpas eigene, tatsächliche Überlegung, er wolle Pizarro ehren und ihn deshalb aufsuchen, bleibt hier ganz außer Betracht, weil in diese Überlegung Atahuallpas Verhalten in noch einmal anderer Beschreibung eingeht – eben als der Besuch Pizarros.) Fällt nun das so beschriebene Verhältnis von Handlungs- und Kausalerklärung unter das Prinzip der Ignoranz? Eine Vielzahl historischer Kausalerklärungen berufen sich darauf, daß jemandem, dessen Verhalten erklärt werden soll, etwas unbekannt war. Die Ignoranz des Betreffenden wird dann als die Ursache seines Verhaltens bezeichnet. Und zugleich wird mit der Unterstellung dieser Ursache eine Handlungserklärung zurückgewiesen, und zwar eine Handlungserklärung, bei der der betreffende Faktor Eingang in die Prämissen findet. Denn Unbekanntes kann nicht Teil des Explanans einer Handlungserklärung sein, die ja gerade das widergibt, was der Handelnde überlegt. (Atahuallpa wollte sich nicht in Gefahr begeben.) Dennoch fällt die so beschriebene Relation nicht unter das Prinzip der Ignoranz, und zwar aus dem folgenden Grunde: Das Prinzip der Ignoranz bezieht sich nicht auf einen beliebigen Faktor, der mit in der Handlungserklärung berücksichtigt werden müßte; es bezieht 154

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sich vielmehr auf die Ursache selbst. Damit gilt es von solchen Fällen, in denen der Handelnde einen Grund für sein Verhalten hat und dann erfährt, daß dieser sein Grund nicht der wahre Grund ist – woraufhin er ihn als Begründung zurückzieht. Eben dies, daß die Ignoranz sich auf die Ursache selbst eines Verhaltens bezieht, ist aber in der von Barker umrissenen Struktur nicht der Fall. 44 (2) Eine zweite Form des Unwissens wird von Kausalerklärungen insofern vorausgesetzt, als sie Erzählungen in Dantos Sinne darstellen. Dies Unwissen ist für den Handelnden nicht einmal im Prinzip behebbar: Er kann zwar vermuten, daß ein bestimmtes Ereignis ein anderes bewirken werde, doch vor Eintritt des späteren Ereignisses läßt sich das frühere nicht als Ursache beschreiben (ebenso wie jemand 1618 vermuten kann, der gerade beginnende Krieg werde 30 Jahre dauern, ohne ihn bereits als solchen bezeichnen zu können). (3) Es wurden sodann Kausalerklärungen betrachtet, die Danto eher der sogenannten substantialistischen Geschichtsphilosophie als der Geschichtsschreibung zurechnet. Das besondere Kennzeichen dieser Kausalerklärungen darf darin gesehen werden, daß mit ihnen den Handlungserklärungen des Handelnden unmittelbar widersprochen werden kann: Der Mensch glaubt, seines schnöden, individuellen Interesses halber zu handeln, doch in Wahrheit lenkt die Vorsehung alles zum Guten. Hier müßte der Handelnde seine Begründung fallen lassen: Aus welchen Motiven auch immer er sich so verhält, wie er das tut – der Lauf der Welt wird durch seine Motive nicht berührt. Also folgt, was er tut, nicht seinen Gründen, sondern denen einer höheren Macht. Historische Kausalgesetze, sofern es denn solche gäbe, würden in dieser Weise den Lauf der Geschichte bestimmen und auf der Ignoranz des Individuums aufbauen – sie Danto macht (ohne Bezug auf Barker) deutlich, daß er dasjenige Unwissen, das bei den von Barker behandelten Kausalerklärungen mit im Spiel ist, als nicht spezifisch historisch bezeichnen möchte, weil es im Prinzip durch den Handelnden behebbar wäre (vgl. ders. (Narration), S. 350); dies gesteht auch Barker zu, wenn sie das Wissen des Handelnden für prinzipiell ergänzbar hält, so daß es sich dem des Historikers annähert: Alles an fehlender Information ist in diesem Falle zur Zeit der Handlung verfügbar. Um diesen Typus von Unwissen handelt es sich in Barkers Beispiel: Es wäre im Prinzip denkbar, wenn auch vielleicht nicht faktisch, daß sich Atahuallpa über die Spanier besser informiert hätte. Hingegen steht der Modus der Erzählung zum Zeitpunkt der Handlung prinzipiell nicht zur Verfügung und insofern auch nicht die Beschreibung eines Ereignisses als kausal wirksam, denn hierbei würde es sich um eine Erzählung handeln. Insofern zieht Danto den Kreis enger als Barker: Kausalerklärungen sind als Erzählungen historische Erkenntnis, und nicht schon als ein Wissen post hoc.

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würden zugleich durch Aufklärung, durch die Beseitigung dieser Ignoranz außer Wirkung gesetzt. 45 Die Erklärungen der substantialistischen Geschichtsphilosophie sind für sich genommen, als Verwirrungen der Temporalität, von besonderem Interesse: Sie stellen Geschichte insgesamt so dar, als ob diese dem Plan eines handelnden Individuums folgen würde. Sie sind jedoch auch interessant, weil sie in ihrer Struktur, und das heißt als Einwände gegen Handlungserklärungen, ein Modell für solche Kausalerklärungen darstellen, die dem Prinzip der Ignoranz folgen. Von den unter (1) betrachteten Fällen unterscheiden sie sich dadurch, daß es hier die Ursache des Geschehens selbst ist, die dem Handelnden unbekannt bleibt. (Die Reaktion des Handelnden bestünde also, wird ihm die Kausalerklärung mitgeteilt, nicht, wie etwa im Falle Atahuallpas vorstellbar, darin, anders zu handeln; sie könnte darin bestehen, im bisherigen Tun fortzufahren, aber bei anderer Begründung.) Doch beruhen sie auf einer falschen Prämisse: als ob der Geschichtsphilosoph jene Perspektive tatsächlich innehätte, von der aus Geschichte als Ganzes erzählt werden könnte. So daß sich die Frage stellt: Ob denn Kausalerklärungen von dieser Form nicht nur in der substantialistischen Geschichtsphilosophie, sondern auch in der Geschichtswissenschaft selbst anzutreffen sind. (4) Für das Beispiel einer geschichtswissenschaftlichen Erklärung, die unter das Prinzip der Ignoranz fällt, denke man zurück an die Erläuterung der Entscheidungsfindung Kennedys im Fall der Schweinebuchtinvasion und in dem der Kuba-Krise! Die Entscheidung zum Angriff wurde im ersten Fall auf einen Risikoschub im Kabinett zurückgeführt, die Entscheidung zur Zurückhaltung im zweiten Falle auf die Einsicht in den Mechanismus der Entscheidungsfindung im ersten Falle. Seine erste Entscheidung hätte Kennedy durch wie auch immer geartete Opportunitäten begründen können; der Einwand gegen diese Begründung hätte gelautet, daß seine Entscheidung in Wahrheit durch einen Gruppenprozeß zustande gekommen sei. Im Falle der ersten Entscheidung war also ein kausaler Faktor wirksam, der demjenigen, dem er unterstellt wurde, unbekannt war; und die Aufklärung dieses Faktors führte zu dessen Irrelevanz im Falle der zweiten Entscheidung. Man vergleiche noch einmal die drei vorgestellten Beispiele für Hierzu rechnen Otto Neurath und E. Zilsel in erster Linie die Entwicklungsgesetze des Marxismus, beide unterstreichen aber deren statistischen Charakter.

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kausales Erklären in der Geschichtswissenschaft und ihre Beziehung zur Handlungserklärung im Hinblick auf das Prinzip der Ignoranz: Barker hatte einen besonderen Typus der historischen Kausalerklärung vorgestellt, der auf der Ignoranz des Handelnden beruhte. Erklärungen von diesem Typ beruhen auf der Unkenntnis der Erfüllung bestimmter Bedingungen, die gelten müssen, damit eine Person ihre Absicht auch ausführen kann. Derartige Erklärungen fallen nicht unter das Prinzip der Ignoranz im intendierten Sinne. Ihre Betrachtung ermöglicht jedoch eine Präzisierung des Prinzips, von dem nun gesagt werden kann, daß es sich nur auf solche Kausalerklärungen beziehen soll, welche die Unkenntnis der Ursache selbst voraussetzen. Um Erklärungen von eben diesem Typus handelt es sich bei den von Dray herausgearbeiteten Kausalerklärungen der substantialistischen Geschichtsphilosophie. In diesen werden Ursachen des menschlichen Verhaltens als dessen eigentliche Begründung vorausgesetzt, welche Handlungsgründe auch immer sich der Mensch zurechtlegen mag. Der wahre Grund seines Verhaltens ist ihm unbekannt. Die Kritik der substantialistischen Geschichtsphilosophie lautete, daß diese Erklärungen von einem Standpunkt aus geliefert werden, den der Historiker nicht beziehen kann: Da sie einen Gesamtsinn der Geschichte unterstellen, erfolgen sie vom Ende der Geschichte her, von jenem Standpunkt aus, der allein einen Blick auf das Gesamt der Geschichte erlaubt. Der Geschichtsphilosoph betrachtet die Geschichte als Ganzes so, wie der Historiker die Vergangenheit sieht. Doch natürlich ist es nur auf spekulativem Wege möglich, einen derartigen Standpunkt einzunehmen. Gibt es auch geschichtswissenschaftliche – im Gegensatz zu substanzialistischen – Kausalerklärungen, die unter das Prinzip der Ignoranz fallen? Das Beispiel einer solchen Erklärung wurde mit Kennedys Entscheidung zum Angriff in der Schweinebucht gegeben. Es steht für die aus der Diskussion bekannten (Hempel, Zilsel) Kausalerklärungen in der Geschichte, die von psychologischen oder auch soziologischen Gesetzen ausgehen, welche der Person, von der sie behauptet werden, unbekannt sind. Diese Kausalerklärungen fallen, neben den noch zu betrachtenden experimentalpsychologischen und psychoanalytischen, unter das Prinzip der Ignoranz. Zumal gegenüber den Erklärungen der Psychologen ist für die historischen Erklärungen festzuhalten, daß der Historiker jene Ignoranz, die er für sie voraussetzen muß, schon vorfindet. Natürlich begegnet auch der HiA

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storiker Fällen, in denen das Unwissen einer Person auf Täuschung beruht. Doch geht diese Täuschung nicht vom Historiker aus. Im vorliegenden Kapitel wurde die Geschichte als Handlungswissenschaft charakterisiert. 46 Als solche verfährt sie nicht monistisch: Sie liefert sowohl Handlungs- als auch Kausalerklärungen. Doch die Ursachen, die in diese Erklärungen eingehen, sind von besonderer Art; zwar spielen in der Geschichte, wie von Wright zum Erweis der Komplementaritätsthese dargelegt hat, auch naturwissenschaftliche Ursachen eine Rolle; doch die handlungswissenschaftlich relevanten Ursachen sind nicht von dieser Art. Ihre Eigenart besteht darin, daß sie der Person, deren Verhalten erklärt wird, unbekannt sein müssen. Damit steht der Historiker vor der Pflicht, die Ignoranz der von einer derartigen Erklärung betroffenen Person nachzuweisen. Er wird sich üblicherweise einer solchen Kausalrklärung bedienen, um eine Handlungserklärung zu widerlegen. Und der Historiker kann die Handlungserklärung verteidigen, indem er auf die Kenntnis der unterstellten Ursache durch die betroffene Person verweist. Sowohl Handlungserklärungen als auch Kausalerklärungen wurden in der Debatte um den wissenschaftstheoretischen Status der Geschichte als Erzählungen bezeichnet. Die erste Verwendung folgte der Vorstellung, daß Geschichtsschreibung wesentlich menschliches Handeln festzuhalten habe. Zweitens sollten Kausalerklärungen Erzählungen in einem ganz anderen, einem semantischen Sinne sein, da ihr Wahrheitswert prinzipiell nur aus der Perspektive des erzählenden Historikers überprüfbar ist. In einer dritten Kurt Röttgers hat festgestellt, daß Erzählen gerade die Differenz der Geschichtsschreibung gegenüber der Sozialwissenschaft ausmache – Geschichte könne als erzählende nicht als die mit den nicht mehr vorhandenen Gegenständen befaßte Sozialwissenschaft betrachtet werden. Diese Feststellung widerspricht nicht der These von der Ähnlichkeit dieser Disziplinen in anderer Hinsicht, nämlich als Handlungswissenschaften, und zwar auch dann nicht, wenn manche Erzählungen gerade von jenem Wechselspiel berichten, welches das konstituierende Merkmal der Handlungswissenschaften bildet – von der oben angesprochenen Frage der Vieldeutigkeit des Begriffs der Erzählung einmal ganz abgesehen. (Vgl. K. Röttgers (Text), S. 7 ff. sowie ders. (Geschichtserzählung), S. 29) Es wurde einleitend erwähnt, daß ein Nachfolgeprojekt zu den Einheitswissenschaften im Hinblick auf die Frage der Wissenschaftlichkeit eher eine Pluralität von konstitutiven Merkmalen und daher eine Vielzahl einander überlappender Wissenschaftsklassifikationen zu berücksichtigen hätte, als auf ein einziges entscheidendes Kriterium zu verweisen. (Vgl. oben, S. 5) Um eine solche Relation zweier Klassifikationen handelt es sich im vorliegenden Fall.

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Verwendung des Begriffs greifen hingegen Handlungs- und Kausalerklärungen einer besonderen Art in eigentümlicher Weise ineinander. Danto hat gezeigt, daß diese Struktur oder Relation in spekulativen Erklärungen der Geschichtsphilosophie anzutreffen ist, und daß diese Verwendung literaturwissenschaftlichen Kriterien folgt. Dreh- und Angelpunkt dieser Relation der beiden Erklärungstypen in der Geschichtswissenschaft ist die Ignoranz der Personen, deren Handeln erklärt wird. Das Prinzip der Ignoranz ist jedoch von allgemeinerer Natur und umfaßt – in anderer Gestalt – weitere Disziplinen aus dem Bereich der Handlungswissenschaften.

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Handlungswissenschaftliche Kausalerklärungen folgen dem Prinzip der Ignoranz: Die Ursachen, auf die sie sich beziehen, müssen der Person, von der sie gelten, unbekannt sein. Im vorangegangenen Kapitel 3 wurde dieser Zusammenhang am Beispiel geschichtswissenschaftlicher Erklärungen näher erläutert. Es wurde dargelegt, daß nicht alle Kausalerklärungen in der Geschichte auf der Ignoranz der Ursache beruhen. Auch die Unbekanntheit bestimmter Anfangsbedingungen von Handlungserklärungen gibt Anlaß zu Kausalerklärungen. Von Kausalerklärungen, bei denen die Ursache selbst unbekannt ist, gilt das Prinzip zuerst in jener Gestalt, die ihm den Namen gibt, u. d. h. in der Form der vorgefundenen Ignoranz der Ursache: Die Behauptung der Geltung einer solchen Ursache erlegt dem Historiker die Nachweispflicht auf, daß die Ursache dem, dessen Verhalten erklärt werden soll, unbekannt war. Natürlich kann dieser Beweis auch darin bestehen zu zeigen, daß die betreffende Person getäuscht wurde. Der eigentliche Ort der Kausalerklärung durch Täuschung ist jedoch das psychologische Labor: Den Versuchspersonen ist die Ursache ihres Verhaltens unbekannt, weil sie systematisch getäuscht oder doch über die Verursachung im unklaren gelassen werden. Dies bedeutet nicht, daß in der Psychologie nicht auch einfach Unkenntnis eine Rolle spielen könnte, etwa in Feldexperimenten, bei denen das Verhalten von Versuchspersonen ohne Eingriff durch den Psychologen in Hinblick auf bestimmte Determinanten beobachtet wird. Doch auch in derartigen Experimenten darf den Versuchspersonen natürlich nicht mitgeteilt werden, daß sie darauf hin unter Beobachtung stehen, wie sie sich unter dem Einfluß bestimmter Faktoren verhalten. Das psychologische Labor hat eine umfangreiche methodologische Diskussion über den Status experimenteller Ergebnisse ausgelöst: Handelt es sich bei diesen Ergebnissen nicht um bloße Arte160

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fakte, um Kunstprodukte der experimentellen Situation selbst, anstatt um die Wirkungen der untersuchten Faktoren? Am Beginn standen hier die berühmten Experimente, in denen Robert Rosenthal u. a. die Auswirkung der Erwartungen des Versuchsleiters auf die experimentellen Ergebnisse demonstrierten (»Versuchsleiter-Effekt«), besonders aber auch die Kritik Martin T. Ornes, der zufolge diese Ergebnisse wieder nicht die Wirkung der untersuchten Faktoren, sondern diejenige des bewußten Handelns der Versuchspersonen darstellten, die sich bemühten, den Sinn des Experiments zu durchschauen, um dann den Erwartungen des Versuchsleiters als »gute Versuchsperson« entsprechen zu können. (Vgl. R. Rosenthal (Experimenter Effects) und M. T. Orne (Social Psychology)) In der philosophischen Diskussion wurde diese methodologische Auseinandersetzung der experimentellen Psychologie kaum rezipiert. Die Problematik soll daher im folgenden am Beispiel dargelegt werden. 1 Das Instrument der Täuschung findet besonders häufig in den Experimenten der Sozialpsychologie (und in persönlichkeitspsychologischen Tests) Verwendung. 2 Ein gut bekanntes sozialpsycholoDie philosophische Diskussion ist aber der darzustellenden innerpsychologischen vorausgegangen. Am Anfang steht Kants These von der Unmöglichkeit einer wissenschaftlich (u. d. h. mathematisch, also für Kant apriorisch) verfahrenden Psychologie in der Kritik der reinen Vernunft. Herbart und dann die physiologische Psychologie des 19. Jahrhunderts begegnen dieser Herausforderung durch die Mathematisierung der Psychologie und durch die Einführung der experimentellen Methode. Die Diskussion der Gegenwart wird eingeleitet durch Diltheys Vorwurf eines Selbstmißverständnisses gegenüber der experimentellen Psychologie. Diese verschenke die unmittelbare Gewißheit der inneren Erfahrung und sei nicht mehr in der Lage, ihre Aufgabe als philosophische Grundlagenwissenschaft wahrzunehmen. Ebbinghaus erwidert, daß vielmehr Dilthey die Entwicklung der neuen Disziplin im 19. Jahrhundert falsch verstanden und dargestellt habe; gegen Diltheys Unterscheidung einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie setzt er die These eines methodischen Monismus der kausalen Erklärung. (Vgl. Th. Mischel (Kant); K. J. Bruder (Subjektivität); N. D. Schmidt (Philosophie), bes. S. 37 ff.) Die Diskussion um die denkende Versuchsperson ist die überraschende Wiederkehr einer Auseinandersetzung gerade auf jenem Terrain, in dem die Psychologie am deutlichste nach Art der Naturwissenschaften vorzugehen schien. 2 L. J. Stricker berichtet aufgrund einer Durchsicht sozialpsychologischer Zeitschriften des Jahrgangs 1964, daß in etwa 19 % von 457 überprüften Untersuchungen Täuschung eingesetzt wurde. (Vgl. L. J. Stricker (Deceiver), S. 13) Diese (und andere, vergleichbare Angaben) täuschen. Denn sie schließen nicht jene Fälle ein, in denen Versuchspersonen das Ziel des Experiments stillschweigend vorenthalten wird. Auf der Grundlage einer Übersicht von etwa tausend Untersuchungen, die in den wissenschaftlichen Zeitschriften der American Psychological Association (APA) ver1

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gisches Laborexperiment ist Stanley Milgrams Experiment zur Gehorsamkeitsbereitschaft, an dem, wie zu zeigen sein wird, auch eine Reihe der kritischen Argumente Ornes entwickelt wurde. Ihr besonderes Interesse gewinnt diese Studie für den vorliegenden Zusammenhang, weil gerade an ihr die Problematik der Täuschung intensiv diskutiert worden ist. Sie besteht (a) in einem ethischen Aspekt, der die Diskussion zunächst in Gang setzte: Dürfen Menschen getäuscht werden, wie auch immer es um den Kontext, die Rechtfertigung der Täuschung durch die wissenschaftliche Zielsetzung bestellt sein mag? Dieser Aspekt wird im folgenden nicht weiter behandelt werden; (b) in einem methodologischen Aspekt. Die Frage, die hier im Mittelpunkt steht lautet: Sind Täuschungsexperimente ökologisch valide? Der Vorstellung und Intention des Forschers zufolge wird um der besseren Kontrollierbarkeit der wirkenden Faktoren willen ein Ausschnitt der Wirklichkeit im Labor nachgestellt. Die Absicht des Forschers auf Isolation und Identifizierung der in der Wirklichkeit wirkenden, entscheidenden Faktoren wird also nur dann erfüllt, wenn diese Rekonstruktion realistisch ist. Die Tatsache der Täuschung in Experimenten gibt nun Versuchspersonen (im weiteren Vpn) Anlaß, sich im Experiment anders zu verhalten als in der Wirklichkeit: Das Experiment hat für die Vp »Aufforderungscharakter«, die Vp sieht sich herausgefordert, jene Hypothese aufzudecken, die der Forscher im Experiment tatsächlich untersucht, im Gegensatz zu derjenigen, die er gegenüber der Vp zu untersuchen vorgibt. Und die Vp wird sich im Sinne dieser ihrer ureigensten Forschungstätigkeit verhalten: etwa, indem sie versucht, sich im Sinne der dem Versuchsleiter (im weiteren Vl) unterstellten Hypothese zu verhalten, z. B. indem sie versucht diese zu bestätigen. Es ist klar, daß eine derartige Bestätigung, aufgrund eines (wenn auch einseitigen) Komplotts, nicht diejenige Bestätigung ist, die sich der Vl erhoffte. Hieraus wird deutlich, wie genau die oben aufgeworfene Frage öffentlicht wurden, stellte R. J. Menges fest, daß die Versuchspersonen in nur 3 % der dort veröffentlichten Experimente vollständig unterrichtet wurden. In 17 % wurden sie bewußt getäuscht, in 80 % aller Fälle war die Unterrichtung unvollständig. (Diese Zahlenangaben beziehen sich auf die unabhängigen Variablen, die Angaben für die abhängigen Variablen lauten 3.5 %, 21 % und 75 %.) (Vgl. R. J. Menges (Openness), S. 1031–32. Wie man sieht, wird also die sozialpsychologische Vp in einem Großteil aller Experimente in kalkulierter Weise getäuscht; und in fast allen Experimenten wird ihr die Kenntnis der Forschungshypothese vorenthalten.

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zu formulieren ist. Die Frage nach der Validität des Täuschungsexperiments ist die Frage nach der Validität jenes Experiments, in dem die Täuschung der Vp mißlingt, bzw. in der der Täuscher selbst zum Getäuschten wird. Seine Experimente zur Gehorsamsbereitschaft führte Milgram ab dem Jahr 1960 in Yale durch. Milgram lud 40 Vpn – Männer; Einwohner der Stadt New Haven; Arbeiter, Angestellte, Freiberufler; im Alter von 20–50 Jahren – in das psychologische Laboratorium der Universität zu einem Experiment über »Gedächtnisleistung und Lernvermögen« ein. Bei ihrem Eintreffen wurden jede Vp und eine weitere Person (in Wahrheit ein Helfer des Forschers) von einem Vl (einem weiteren Helfer) in die Verfahrensweise des Experiments eingeführt: Gegenstand des Experiments sei der Zusammenhang von Lernen und Strafe, ob und in welchem Ausmaß sich Bestrafung auf Lernerfolg auswirke und ob die Person des Strafenden einen Unterschied bewirke; einer der beiden Anwesenden solle daher die Rolle des Lehrers, der andere die des Schülers übernehmen. Die Aufgabe des Schülers bestehe in der Erinnerung und Wiedergabe von Wortassoziationen. Der Lehrer solle Fehlversuche des Schülers bestrafen, und zwar durch die Verabreichung elektrischer Schocks. Hierbei sei jeder neue Fehlversuch mit einem stärkeren Schock als dem vorhergehenden zu bestrafen. Das Laboratorium war in zwei Räume unterteilt; in dem einen Raum wurde der »Schüler« im Beisein des »Lehrers« auf einen elektrischen Stuhl gesetzt und festgeschnallt; in dem anderen saßen der Vl sowie der Lehrer vor einem Schockgenerator. 3 Auf dem Schockgenerator konnte der Lehrer Schocks in der Stromstärke von 15 bis 450 Volt erteilen, abgestuft in Schritten von je 15 Volt; diese Skala war außerdem (für je 60 Volt) mit Wertungen versehen, die von »leichter Schock« bis »Gefahr: bedrohlicher Schock« reichten. Jenseits dieser letzten Wertung waren zwei Schockstufen durch »XXX« markiert. Die Vp wurde vor Beginn des Lernexperiments durch einen Schock in Höhe von 45 Volt davon überzeugt, daß der Schockgenerator auch wirklich funktioniert (was in Wirklichkeit nicht der Fall war). Die Zuweisung der Rollen von Schüler und Lehrer erfolgte durch den Vl 3 Im weiteren werde ich die dramatis personae mit den Namen derjenigen Rollen bezeichnen, die sie in dieser Inszenierung spielen, als »Versuchsleiter« den Versuchsleiter in diesem Lernexperiment, als »Schüler« und »Lehrer« den Schüler und Lehrer in dem so inszenierten Lernexperiment.

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per Losentscheid, (jedoch so, daß auf die Vp immer die Lehrerrolle entfiel). Während der folgenden Prozedur von Belehrung und Bestrafung ist nun der Schüler für den Lehrer in Experiment 1 weder sichtbar noch hörbar, bis der Lehrer das Schockniveau 300 Volt erreicht hat. Wenn der Lehrer den 300-Volt-Schock verabreicht, hört er den Schüler gegen die Wand des Nachbarraums treten. Von diesem Augenblick an erscheinen die Antworten des Schülers nicht mehr, wie bis dahin, in der dafür vorgesehen Antwortbox. Die so beschriebene Situation in Experiment 1 entspricht der Beschreibung in Milgrams erster Veröffentlichung über seine Experimente von 1963, »Behaviorial Study of Obedience«. Im zumeist diskutierten sog. »Standardexperiment« 2 wird die Situation für die Vp durch die folgenden Elemente verschärft: Die Vp kann den Schüler jetzt durch eine mit Folie beklebte Glasscheibe zumindest undeutlich wahrnehmen; auf die Schocks hin erfolgen (per Tonband abgespielte, standardisierte) akustische Reaktionen des Schülers. Diese Reaktionen reichen von einer Äußerung leichten Mißbehagens (75 Volt) über Schmerzäußerungen (120 Volt), die Bekundung, das Experiment jetzt abbrechen zu wollen (150 Volt), qualvolles Brüllen (270 Volt), verzweifeltes Schreien, er, der Schüler werde jetzt keine Antworten auf die Testfragen geben (300 Volt), bis hin zum Verstummen (jenseits von 330 Volt). (Vgl. hierzu St. Milgram (Experiment), S. 40) Besonders die Weigerung des Schülers, weitere Antworten zu geben – die Aufkündigung der Zusammenarbeit also (300 Volt) – brachte die Vp häufig dazu, sich mit der Bitte um Rat an den anwesenden Vl zu wenden. Sie erhielt dann von diesem die Anweisung, die nichtgegebene Antwort wie eine falsche zu behandeln, und das heißt per Schock zu bestrafen (ab 300 Volt: »schwerer Schock«). Daneben gab es auch seitens des Vl eine Reihe standardisierter Antworten auf von der Vp geäußerte Bedenken oder auf die Weigerung hin, fortzufahren. Die Antworten lauteten: 1. »Bitte, fahren Sie fort!«, oder »Bitte machen Sie weiter!« 2. »Das Experiment erfordert, daß Sie weitermachen.« 3. »Sie müssen unbedingt weitermachen!« 4. »Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!« Während diese Äußerungen des Vls einfache Befehle, Ausdruck der Autorität des Vls darstellen und das Verfahren vorantreiben, enthielt eine weitere Äußerung des Vl auch ein Element der Entlastung 164

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der Vp, wenn diese nämlich auf eine entsprechende Frage hin die Antwort erhielt, die erteilten Schocks seien zwar schmerzhaft, hinterließen jedoch keine bleibende Schädigung (der Lehrer solle also weitermachen wie abgemacht). Dennoch befindet sich die Vp in einem deutlichen Konflikt zwischen den Äußerungen des Schülers auf der einen Seite, der auf den Abbruch der Prozedur dringt, und den Befehlen und Hinweisen des Vl auf der anderen, er solle fortfahren. Daß sich die meisten Vpn in einem Zustand der Anspannung befanden, war an ihrem Verhalten deutlich ablesbar: Die Vpn schwitzten, zitterten und lachten zuweilen ängstlich. Wie oben erwähnt, galt das Forschungsinteresse im Zusammenhang des Experiments nicht dem Lernerfolg bei Bestrafung, sondern der Gehorsamsbereitschaft der Vpn. Dieser eigentliche Gegenstand des Experiments wurde gegenüber den Vpn erfolgreich kaschiert. Die Täuschung im Experiment beginnt bei der Auswahl des Umfelds: Das, wie Milgram hervorhebt, »elegante Interaktions-Laboratorium auf dem Boden der Yale-Universität« soll bei den Vpn den Eindruck erwecken, es mit einer gediegenen wissenschaftlichen Institution von dementsprechender Reputierlichkeit zu tun zu haben. (Hierzu tragen auch Kleidung und Auftreten des Vls weiter bei: Der graue Kittel eines Technikers und ein neutrales, ein wenig strenges Verhalten.) Dieser Eindruck bestärkt die Vp in ihrer Gehorsamsbereitschaft und im Glauben, es mit einer Veranstaltung zu tun zu haben, bei der mit offenen Karten gespielt wird. Die Täuschung setzt sich fort bei den beteiligten Personen: Zwei Helfern werden Rollen zugewiesen – dem einen die Rolle des Vl, dem anderen die Rolle einer zweiten Vp, der dann – eine weitere Täuschung – durch Losentscheid, wie es scheint, die Aufgabe des Schülers zufällt. Bloße Staffage ist auch die Ausstattung des Labors: Die Vp erhält zwar einen Probeschock von 45 Volt, um sich von der Echtheit der elektrischen Anlage zu überzeugen; doch der Schockgenerator sendet trotz entsprechender Beschriftung keine Stromstöße aus, noch empfängt der auf dem elektrischen Stuhl fixierte Schüler welche. Die Reaktionen des Schülers kommen, wie bereits erwähnt, vom Band. All diese Details dienen nur der Ergänzung und Ermöglichung der einen, hauptsächlichen Täuschung, daß es nämlich bei diesem Experiment um den Schüler als Vp gehe, um dessen Lernerfolg, und nicht um die eigentliche Vp, den Lehrer und seine Gehorsamsbereitschaft. Unter diesen Bedingungen verhielten sich nun die 40 Vpn im A

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»Standardexperiment« (2) wie folgt: 8 brachen die Bestrafung des Schülers vor der Grenze von 180 Volt ab (»mittlerer Schock«; auf dieser Schockebene schreit der Schüler, der Vl solle ihn herausholen, er weigere sich, länger mitzumachen und schließlich, er könne den Schmerz nicht mehr aushalten). Zwei weitere Vpn brachen bei 285 bis 300 Volt ab (»schwerer Schock«; bei 300 Volt weigert der Schüler sich noch einmal, weitere Antworten zu geben). Weitere 5 Vpn brachen bei 315 bis 360 Volt ab (»sehr schwerer Schock«: Bei 315 Volt kommt die dritte Weigerung des Schülers, ab 330 Volt ist von dem Schüler nichts mehr zu hören, es erscheinen keine Antworten mehr in der Antwortbox.) Eine weitere Vp brach schließlich bei 375 Volt ab (»Gefahr! Bedrohlicher Schock«). (Vgl. St. Milgram (Experiment), S. 40 und S. 51) Die restlichen 25 Vpn hingegen schöpften das gesamte verfügbare Potential aus und schockten weiter bis 450 Volt. Dies bedeutet also in der Summe, daß sich von 40 Vpn nur 15 dem Vl widersetzten, während 25 dessen Anweisungen Folge leisteten, bis der Vl das Experiment abbrach. Milgram unterstreicht, als wie überraschend dieses Ergebnis betrachtet werden müsse: Studenten und Kollegen, die vor dem Experiment in einer Fragebogenaktion und informell nach ihrer Einschätzung befragt worden waren, hatten dem Ergebnis gerade entgegengesetzte Erwartungen geäußert, daß nämlich niemand in einem solchen Experiment bis zum Ende der Skala gehen würde. 4 Die Diskrepanz zwischen Erwartung und Ergebnis deutete Milgram später im Sinne der sogenannten Attributionstheorie: Die Ursache des Verhaltens eines anderen wird vornehmlich diesem anderen selbst zugerechnet; da niemand einem anderen grundlos Schmerzen zufügen wolle, sei zu erwarten, daß kaum jemand im Experiment dem Versuchsleiter Folge leisten werde. (Vgl. St. Milgram (Experiment), S. 47) Die vorgängige Erwartungshaltung Unbeteiligter hat Milgram in systematischerer Form noch einmal untersucht. (Vgl St. Milgram (Experiment), S. 43 ff.) Gerade auch im Hinblick auf die Milgram-Experimente hat L. Ross diese Attributionshypothese noch weiter ausgearbeitet und dabei besonders hervorgehoben, daß diesem generellen und fundamentalen Attributionsfehler der Alltagspsychologie, oder, wie Ross sagt, des »intuitiven Psychologen«, die prinzipielle Unterschätzung situationaler Faktoren entspreche. (Vgl. L. Ross (Intuitive Psychologist), S. 186 f.) Es darf bezweifelt werden, daß Milgram durch die Ergebnisse seines Experiments im selben Ausmaß überrascht wurde wie die von ihm in dieser Sache Befragten: denn in einer Pilotstudie, die sich von den hier bisher geschilderten Experimenten dadurch unterschied, daß es für den Lehrer weder sichtbare noch hörbare Reaktionen des Schülers gab, gingen fast alle Vpn dieser Untersuchung bis an die oberste Schockgrenze. Für Milgram sind die Ergebnisse des Experiments 2 also keineswegs überraschend; sie sind vielmehr das Ergebnis seiner Einrichtung der Bedingungen des Experiments. Hier wird be-

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Milgrams Experiment wurde verschiedentlich wiederholt, auch außerhalb der Vereinigten Staaten, stets mit einem dem in New Haven erzielten vergleichbaren Resultat. (Vgl. St. Milgram (Experiment), S. 197) Bis hierher wurde Milgrams sogenanntes Standardexperiment dargestellt. Das Standardexperiment ist jedoch nur eine Version, ausgewählt aus einer Vielzahl von Varianten. Hier sei ein Durchgang vorab erwähnt, der im strengen Sinne keine Variante des Experiments darstellt, sondern mit zum Entwurf selbst gehört, da ohne ihn die Ergebnisse des Experiments nicht aussagekräftig wären: das Verhalten der Vpn kann nur dann als durch die im Experiment gesetzten Bedingungen verursacht betrachtet werden, wenn eine Kontrollgruppe, die diesen Bedingungen nicht ausgesetzt wurde, tatsächlich kein entsprechendes Verhalten zeigt. Es ist also zunächst herauszufinden, ob die angenommene Ursache überhaupt für das Zustandekommen dessen, was als ihre Wirkung betrachtet wird, notwendig ist. Milgram untersucht diese Frage durch einen Vergleich seiner Hypothese, das aggressive Verhalten der Vpn sei durch deren Gehorsamsbereitschaft verursacht, mit einer konkurrierenden Hypothese, ihre Aggressivität entstamme den im Menschen latent vorhandenen Aggressionstrieben, die dann hervorbrächen, wenn sie befreit werden, indem sie z. B. in einer bestimmten Situation ihre Legitimation finden. 5 Der Zuschnitt dieses Durchgangs sah wie folgt aus: Bei sonst gleichbleibenden Bedingungen wurde der Vp die Wahl der Schockstärke freigestellt. Die Institution Experiment, die als Legitimation der aggressiven Impulse aufgefaßt werden kann, bleibt also bestehen. Zum höheren Zwecke des Fortschritts der Wissenschaft darf, ja soll reits sichtbar, wie L. Ross sagt, daß die Relevanz einer solchen Untersuchung nicht im Beweis liegt, daß Menschen autoritätshörig sind. Sie liegt vielmehr im Nachweis, daß eine solche Variable unter anderen wichtig ist, relativ z. B. zu persönlichen und situationalen Einflüssen, die viele von uns zuvor für entscheidend gehalten hätten. (Vgl. L. Ross (Intuitive Psychologist), S. 213) 5 Vgl. Milgram (Experiment), S. 89 ff. und S. 192 ff. L. Ross hat Milgram kritisiert, weil er in seinem Experiment ohne die Überprüfung anhand einer Kontrollgruppe vorgegangen sei. (Vgl. L. Ross (Intuitive Psychologist) S. 213) Geht man von den ersten Veröffentlichungen Milgrams aus, dann erscheint der Vorwurf als berechtigt. Doch spätestens in Obedience to Authority von 1974 wird der hier erwähnte Durchgang beschrieben und auch ausdrücklich in seiner Funktion als Kontrollexperiment herausgestellt. A

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die Vp Elektroschocks erteilen. Sie kann ihren aggressiven Neigungen ganz so folgen, wie es ihr beliebt; und sie wird hohe Schockhöhen wählen, wenn denn eine solche Neigung vorhanden ist. Es zeigte sich, daß nur 2 von 40 Vpn Schocks von 375 bzw. 450 Volt gaben. Alle anderen 38 Vpn dieses Durchgangs gingen nicht über 150 Volt hinaus, derjenige Schocklevel, bei dem der Schüler das Experiment erstmals abbrechen will, 28 nicht über 75 Volt (erste Anzeichen von Unbehagen), 3 Vpn gaben überhaupt nur den niedrigsten Schock. Im Gesamtdurchschnitt wurden Schocks von 45 bis 60 Volt gegeben, in der Stärke also etwa vergleichbar dem Probeschock, den die Vpn selber erfahren hatten. Das Ergebnis dieses Versuchs nimmt Milgram als Beleg dafür, daß der durch das Experiment gesetzte Rahmen nicht hinreichend für die Produktion des entsprechenden aggressiven Verhaltens bei den Vpn ist. Der Gehorsam gegenüber einer Autorität muß als weitere Bedingung hinzutreten. Ursache des aggressiven Verhaltens ist also kein vorab autonom bestehender Aggressionstrieb, sondern das Sich-Überantworten der Vpn an die Autorität. Dieses soll daher als die Ursache des beobachteten Verhaltens betrachtet werden dürfen. 6 Welche weiteren, mitwirkenden Faktoren untersucht Milgram auf dieser Basis? In einer Reihe weiterer Durchgänge variiert er zuerst, wie bereits in den oben beschriebenen Experimenten 1 und 2, die Nähe von Lehrer und Schüler; im 3. saß der Schüler im selben Raum mit dem Lehrer, im 4. mußte der Lehrer ihn zusätzlich berühren: Der Schüler erhielt ab 150 Volt nur dann einen Schock, wenn der Lehrer seine Hand nahm und sie, gegen den Willen des Schülers, mit Wie oben erwähnt, hat L. Ross in »The Intuitive Psychologist and his Shortcomings« ein Kontrollexperiment vermißt, in dem die sog. »Basisrate« festgestellt worden wäre – also das Ausmaß des zu erklärenden Verhaltens, daß Vpn bei Aussetzung des verursachenden Faktors zeigen würden. Nun hat Milgram dies Kontrollexperiment offenbar nachgeliefert. Doch erfüllt es die Erwartungen? Dies wäre nur dann der Fall, wenn es zeigen würde, daß die Vpn ohne den Druck des Versuchsleiters die Schüler tatsächlich nicht schocken würden. W. Stuwe und E. Timaeus haben in diesem Zusammenhang auf die oben schon erwähnte Pilotstudie Milgrams hingewiesen, in der, bei ausbleibenden Reaktionen des Schülers, die Vpn fast alle bis zur höchsten Voltstufe weiter schockten, und zwar, wie die Autoren unterstreichen, ohne erneute Aufforderung durch den Versuchsleiter. (Vgl. W. Stuwe, E. Timaeus (Bedingungen), S. 246) Demnach würde die Pilotstudie auch zeigen, daß der durch den Versuchsleiter ausgeübte Druck keine notwendige Bedingung für das Verhalten der Vpn darstellt, und daß im Kontrollexperiment Faktoren am Werk sind, welche die Aggressivität der Vpn zügeln, z. B. Unsicherheit und Bedenken in einer nicht vertrauten Situation und Umgebung.

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Gewalt auf eine Schockplatte drückte. Insgesamt nahm der Prozentsatz der gehorsamen Lehrer bei größerer Nähe deutlich ab, ebenso auch der durchschnittlich erteilte stärkste Schock. Doch selbst bei der zuletzt beschriebenen Prozedur gingen noch mehr als ¼ der Vpn bis zum maximal möglichen Schock von 450 Volt. In weiteren Durchgängen wurde die Versuchsanordnung in der folgenden Weise abgeändert: Experiment 5: Der Schüler hat einen leichten Herzfehler und das Experiment findet in weniger eindrucksvollen Räumlichkeiten statt, doch immer noch an der Yale-Universität. (26 Vpn gehorchten bis zum Ende des Versuchs, der durchschnittlich erteilte Schock lag bei 360 bis 375 Volt.); Experiment 6: Austausch der Helfer – der Vl war im Gegensatz zu den ersten Experimenten jetzt »onkelhaft und sanft«, der Schüler wirkte eher bedrohlich (kein Einfluß auf das Ergebnis); Experiment 7: Der Vl verläßt nach der Instruktion der Vpn den Raum und erteilt seine Anordnungen per Telefon (9 gehorsame Vpn; Durchschnittsschock bei 270 Volt). Diese Variante geht in Richtung auf den Kontrollversuch; das niedrige Ergebnis unterstreicht das dort erzielte; Experiment 8: Frauen als Vpn (kein Einfluß auf das Ergebnis); Experiment 9: Der Schüler verpflichtet sich unter der Bedingung, daß der Versuch abgebrochen wird, wenn er dies verlangen würde (16 gehorsame Vpn; 320 Volt Durchschnittsschock); Experiment 10: Das Experiment wird nun in ein Bürohaus in einer anderen Stadt verlagert und von einer frei erfundenen Institution durchgeführt (»Research Associates of Bridgeport«) (19 gehorsame Vpn; Durchschnittsschock 315 Volt); Experiment 11: Kontrollexperiment – die Vpn wählen die Höhe des Schocks selbst (eine Person schockt bis 450 Volt, Durchschnittsschock von 75 Volt). Eine Reihe weiterer Durchgänge betrafen die Art und Weise, in der den Vpn die Autorität präsentiert wurde: Experiment 12: Bei 150 Volt erfolgt die Aufforderung zum Weitermachen nicht durch den Vl, sondern durch den Schüler selbst (der das Experiment gewissermaßen von der sportlichen Seite her nimmt). Hingegen rät der Vl zum Abbruch. (Sämtliche 20 Vpn dieses Durchgangs folgten in dieser Lage dem Vl, nicht dem Schüler.) Experiment 13: Der Vl wird ans Telefon gerufen und verläßt den Raum. An seiner Stelle fordert nun ein in diesem Durchgang zusätzA

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lich mit eingeschleuster Helfer dazu auf, das Experiment fortzusetzen. (16 von 20 Vpn verweigern unter diesen Umständen den Gehorsam.) In einer Variante dieses Durchgangs versuchte der eingeschleuste Helfer die Rolle der Vp als Lehrer zu übernehmen bzw. zwang die Vp dazu, ihm diese Rolle zu überlassen. In all diesen Fällen protestierte die Vp gegen das Experiment, versuchte z. T. den Helfer mit physischer Gewalt zu hindern, benahm sich also ganz anders gegenüber demjenigen, von dem die Befehle ausgingen, als in den anderen Durchgängen gegenüber dem Vl. Experiment 14: Der Vl gibt zu erkennen, daß er unter Zeitdruck steht; da der Schüler in diesem Durchgang nicht auf dem elektrischen Stuhl Platz nehmen will, läßt sich der Vl selbst auf diesem nieder. (Alle 20 Vpn brechen bei 150 Volt ab, als der Vl um Abbruch bittet, obwohl der andere Helfer zum Weitermachen auffordert.) Experiment 15: Zwei Vl, die widersprüchliche Befehle erteilen. (Von 20 Vpn brachen 18 zum Zeitpunkt des Widerspruchs ab) Experiment 16: Zwei Vl, von denen einer unter einem Vorwand die Rolle des Schülers übernimmt. (Von 20 Vpn sind 13 bis zum Ende gehorsam, durchschnittlicher Schock 355 Volt: der Vl in der Opferrolle wird also wie ein gewöhnlicher Schüler behandelt.) Experiment 17: Zwei zusätzliche Helfer in der Rolle weiterer, der Vp gleichgestellter Lehrer. Diese beiden Helfer brechen ab, der erste bei 150 Volt, der zweite bei 210 Volt. (Nur 4 von 40 Vpn sind unter dieser Bedingung des Ungehorsams gleichrangiger Gruppenmitglieder gehorsam, alle anderen folgen dem Vorbild der Gruppenmitglieder.) Experiment 18: Die Vp erledigt nur Hilfstätigkeiten, ein Helfer erteilt die Schocks. (Nur 3 Vpn von 40 weigern sich unter diesen Bedingungen, am Experiment bis zum Ende mitzuwirken.) Zusammengefaßt lassen sich Milgrams Variationen des Grundexperiments 2 wie folgt ordnen: Experimente 1–4 variieren die räumliche Nähe zwischen Schüler und Lehrer. Zusammengehörig sind die Durchgänge 12–13, bei denen untersucht wird ob ein Rollenwechsel Einfluß auf das Verhalten der Vpn hat sowie die Durchgänge 14 bis 16, bei denen die Vpn sich vor die Aufgabe gestellt sieht, herauszufinden, wer die Autorität ist. Schließlich gehören auch die Experimente 17 und 18 zusammen, bei denen die Vp sich im Zusammenhang einer Gruppe bewegt. Die Experimente 5, 6, 8, 9 und 10 untersuchen Einzelfaktoren. Das Experiment 11 ist das oben bereits 170

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beschriebenen Kontrollexperiment, bei dem die Autorität des Vls auf die Wahl der Schockhöhe keinen Einfluß hat. Auch im Experiment 7 (Vl verläßt den Raum) ist diese Einflußnahme abgeschwächt. Man betrachte zum besseren Verständnis der Struktur der Milgramschen Experimente nun noch einmal das Kausalgefüge, das Milgram auf der Basis der so beobachteten Bedingungen skizziert: Hilfreich ist zunächst der Hinweis auf die bereits erwähnte Pilotstudie, in der fast alle Vpn bis zur maximalen Schockhöhe gingen, und zwar allein aufgrund der Beschriftungen am Schockgenerator als Informationsbasis über das vermutliche Befinden des Schülers. (Vgl. St. Milgram (Conditions), S. 61) Man wird also sagen dürfen, daß der Einfluß der Autorität des Vls, gemeinsam mit der durch das Experiment gesetzten Umgebung, eine hinreichende Bedingung für das auftretende Verhalten der Vpn darstellt. 7 Dies gilt jedoch nur für das Gesamt dieser Faktoren; denn die ersten Versuchsdurchgänge zeigen ja, daß die zunehmende Nähe zum Schüler, eine entsprechende Abänderung der Versuchsanordnung also, immer mehr Lehrer in ihrer Gehorsamsbereitschaft schwankend macht. Wie Milgram weiter berichtet, änderte er die Versuchsanordnung, um eine Skalierung seiner Ergebnisse vornehmen zu können: um individuelle Unterschiede kenntlich machen zu können, und zwar bei Angabe der im einzelnen verantwortlichen Faktoren. Damit verändert sich zugleich der Gegenstand bzw. die zentrale Aussage des Experiments: Dieser Gegenstand ist nicht mehr allein Gehorsamsbereitschaft und das zentrale Ergebnis des Experiments lautet nicht mehr einfach, daß Menschen Autoritäten gehorsam sind. Im Gesamt der Milgramschen Experimente untersucht wird vielmehr das Verhalten der Vpn in einem Zusammenspiel diverser Faktoren. Dies führe man sich noch einmal anhand der Frage vor Augen, worüber genau das Experiment etwas aussagt! Die Ergebnisse des Experiments besagen erstens etwas über Individuen: Es kann in jedem einzelnen Durchgang, jeder Variante des Experiments jeder Man behalte hierbei jedoch die oben erwähnte Kritik von Stuwe und Timaeus im Sinn, daß die Gehorsamsbereitschaft der Vpn nicht die entscheidende Variable in diesem Experiment sein könne, wenn die Vpn ohne weitere Aufforderungen durch den Versuchsleiter den maximalen Schock erteilen. (Vgl. oben, S. 168, Fußnote 6) Dieser so gedeutete Befund scheint im übrigen dem des Kontrollexperiments zu widersprechen – dort schockten ja die Vpn aus eigenem Antrieb überhaupt nicht –, kalkuliert man nicht die Differenz an Nähe mit ein.

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einzelnen Vp ein numerischer Wert zugeordnet werden, der das Ausmaß ihrer Gehorsamsbereitschaft bezeichnet. Individuen können also im Hinblick auf ihrer Gehorsamsbereitschaft relativ zu einer bestimmten Versuchsvariante miteinander verglichen werden. Zweitens besagt das Experiment etwas über Gruppen: Es können Versuchsvarianten im Hinblick auf die Produktion eines stärkeren oder schwächeren Ausmaßes an Gehorsamsbereitschaft bei Gruppen von Vpn miteinander verglichen werden. Dies stärkere oder schwächere Ausmaß der Gehorsamsbereitschaft gibt Milgram durch den durchschnittlich erteilten maximalen Schock an. Hingegen besagen Milgrams Experimente nichts darüber, ob ein Individuum X in einer bestimmten Variante ein höheres oder niedrigeres Ausmaß an Gehorsamsbereitschaft zeigen wird als in einer anderen. Eben daher macht die Redeweise von der Gehorsamsbereitschaft eines Individuums auch nur Sinn relativ zu einer spezifischen, wohlbestimmten experimentellen Variante. Aus dem Gesagten geht hervor, daß das Explanandum des Vergleichs der verschiedenen von Milgram untersuchten Experimentdurchgänge das Verhalten von Gruppen ist. Und es zeigt sich, daß sich Gruppen in Abhängigkeit von den folgenden Faktoren in interessanter Weise verschieden voneinander verhalten: 1. Je größer die Nähe zwischen Täter und Opfer, umso weniger zeigen die Gruppenmitglieder Gehorsamsbereitschaft. (Durchgänge 1 bis 4. Unter den Faktor Nähe läßt sich auch die Pilotstudie subsumieren, bei der ein Maximum an Distanz bestand.) 2. Ohne Einwirkung einer Autorität zeigen Gruppen ein merklich geringeres aggressives Verhalten. (Vgl. das Kontrollexperiment 11; in dieselbe Richtung weisen auch das Experiment 7, Absentierung des Vls und das Experiment 10, Ort Bridgeport anstatt Yale-Universität. Ebenfalls in diese Richtung deuten eine Reihe solcher Experimente, in denen die Autorität als geschwächt erscheint, vgl. Experimente 12 bis 16.) 3. Gruppenprozesse sind von besonderer Bedeutung, sei es wegen des Modellcharakters des Verhaltens anderer Gruppenmitglieder (Experiment 17), sei es wegen der Delegation von Verantwortlichkeit auf andere Gruppenmitglieder (18). Im Zusammenhang der hier angestellten Betrachtung kommt besonders einer Kritik der Schlüsse, die Milgram aus seinen Experimenten gezogen hat, besondere Bedeutung zu, und zwar den Thesen M. T. Ornes und Ch. H. Hollands in »On the Ecological Validity of 172

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Laboratory Deceptions«. Die Kritik von Orne und Holland lautet, daß die von Milgram gemessene Gehorsamsbereitschaft ein experimentelles Artefakt sei, und das heißt ein Produkt der experimentellen Situation, ohne Gegenstück in der außerexperimentellen Wirklichkeit. 8 Nach Orne besitzen Experimente »Aufforderungscharakter«; auf seiten der Vpn (besonders der freiwilligen Vpn und zumal des Hauptanteils der Freiwilligen, nämlich Psychologiestudenten) entspricht diesem Aufforderungscharakter ein »problemlösendes Verhalten«: Die Vp versucht den wirklichen Zweck des Experiments zu ergründen, um eine »gute Vp« zu sein, um die Hypothese des Forschers bestätigen zu können. (Vgl. M. T. Orne (Social Psychology), S. 778 f.) Allerdings ist sich die Vp zumeist dessen bewußt, daß sie nicht mehr über das Experiment wissen sollte, als ihr mitgeteilt wurde, und daß ein Zuviel an Wissen ihren Ausschluß aus dem Experiment bedeuten würde. Da sie nun aber teilnehmen möchte – unter anderem weil sie das Ziel des Forschers teilt – die Beförderung des Fortschritts der Wissenschaft –, und weil sie möchte, daß das Experiment gelingt, geht sie mit dem Forscher ein »Bündnis der Ignoranz« ein (pact of ignorance), d. h. also, sie läßt sich nicht täuschen, aber sie verhält sich so, als ob die Täuschung erfolgreich wäre. (Vgl. M. T. Orne (Social Psychology), S. 780) Orne und Holland vergleichen das Milgram-Experiment mit einem Zauberkunststück auf der Bühne, in dem ein Assistent des Zauberkünstlers von einem aus dem Zuschauerraum auf die Bühne gebetenen Freiwilligen guillotiniert wird: Der Zauberer führt vor, daß die Guillotine funktionstüchtig ist und einen Kohlkopf spaltet. Er gibt auch dem Freiwilligen Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, daß es sich um eine echte Guillotine handelt. Obwohl also die Betätigung des Instruments unweigerlich zur Enthauptung des Assistenten führen wird, gehorcht der Zuschauer dem Zauberkünstler widerstandslos. Natürlich wird er sich etwas unbehaglich fühlen, vielleicht sogar Zeichen der Nervosität von sich geben, »und sei es auch nur, weil das in diesem Zusammenhang von ihm erwartet wird«. (Vgl. M. T. Orne u. Ch. H. Holland (Validity), S. 129) In der experimentellen Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von der (hier vermißten) »externen Validität« (vgl. J. Bredenkamp, »Experiment und Feldexperiment«, S. 338) oder der »ökologischen Validität« eines Experiments. (Vgl. Orne und Holland (Validity))

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Ornes und Hollands These lautet also einfach, daß die experimentelle Täuschung mißlingt: Die Vp glaubt ebensowenig, daß sie dem Schüler wirklich Schmerz zufügt, wie der Zuschauer auf der Bühne, daß er den Assistenten köpft. Die Täuschung sei alles andere als überzeugend: 1. Wozu überhaupt die Vp? Gibt es irgendetwas, was der Vl allein nicht zustande brächte? (Vgl. M. T. Orne, Ch. H. Holland (Validity) S. 128) 2. Wie muß die Erklärung dafür lauten, daß die Vp den herzkranken Schüler weiter schockt, nachdem der sich über Brustschmerzen beklagt hat? Kann sie denn wirklich lauten, daß die Vp um eines Lernexperiments willen den Tod des Schülers in Kauf nimmt? Das ist undenkbar, und die einzig mögliche Erklärung lautet mithin, daß die Vp nicht an die ihr vorgespiegelte Realität glaubt. Es handelt sich demnach bei Experimenten »vom Typ Milgram« nicht um Täuschungen, so Ornes und Hollands These, sondern um so etwas wie eine stillschweigende Vereinbarung von der Art, wie sie auch zwischen mitwirkendem Zuschauer und Zauberkünstler besteht: »Diese Inszenierung erfordert zwar, daß ich (Zuschauer) etwas nicht durchschaue, doch du (Zauberer), bürgst dafür, daß das Opfer unter der Guillotine nicht wirklich seinen Kopf verliert. D. h. soviel durchschaue ich doch: Daß die Quälerei des Schülers, wie auch immer in Szene gesetzt, nur vorgetäuscht ist.« Und diese Vereinbarung deckt nicht nur ab, daß die Vp sich verhält, als ob sie getäuscht würde; sie besagt auch, daß im Verlauf des Experiments keinem der Beteiligten wirklich etwas passiert. Derartige Vereinbarungen sind in unserer Gesellschaft nicht unüblich: Wir delegieren die Sorge um die Funktionstüchtigkeit der Bremsen unseres Wagens an den Automechaniker, die Sorge um die Flugsicherheit an den Piloten, und wir schlucken die grünen Pillen, die der Arzt uns verschreibt. Also spiegelt (die Gehorsamsbereitschaft) der Vp nicht das wider, was sie außerhalb der experimentellen Situation tun würde, sondern eher die Bereitschaft, dem Forscher und dem experimentellen Rahmen zu vertrauen. (Vgl. M. T. Orne und Ch. H. Holland (Validity), S. 134) Vielleicht, so Orne und Holland, gelten diese Überlegungen nicht für alle Vpn; doch müsse man in Experimenten des Typs Milgram mit zwei Gruppen von Personen rechnen, die sich ihrem manifesten Verhalten nach nicht unbedingt voneinander unterscheiden:

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»Die Mehrheit der Vpn geht normalerweise davon aus, daß die Situation im wesentlichen ungefährlich sei, während eine kleinere Gruppe die Situation so hinnimmt, wie sie zu sein scheint. Der Logik nach nehmen diese beiden Personengruppen an höchst verschiedenen Experimenten teil. Gehorsam in der ersten Gruppe erlaubt Rückschlüsse darauf, was diese Personen in anderen experimentellen Situationen, doch nicht, was sie außerhalb eines solchen Kontextes tun würden.« (Ch. H. Holland, »On the Ecological Validity of Laboratory Deceptions«, S. 133 [Übers. T. K.])

Doch da die beiden Gruppen ihrem Verhalten nach nicht notwendig unterscheidbar sind, subsumiert Milgram zu Unrecht eine Mehrheit von Vpn unter die andere Gruppe, für welche allein seine Feststellungen Gültigkeit besitzen. Ornes und Hollands Ratschlag in dieser Lage ist nicht revolutionär; wir können, so meinen sie, weder auf die wissenschaftliche Methode noch auf die experimentelle Technik verzichten; was wir als Psychologen tun müssen, ist, Experimente zu entwerfen, die von den Vpn insgesamt nicht als solche erkannt werden. (Vgl. M. T. Orne, Ch. H. Holland (Validity), S. 135) Wir müssen also die Täuschung verbessern, und zwar, indem wir sie auf das Experiment als solches erweitern. Milgram hat auf die Kritik Ornes und Hollands in überaus heftiger Weise geantwortet. Er unterstellt ihnen eine umfangreiche Liste von Ungenauigkeiten und Fehlern: 1. Sein Ansatz sei falsch wiedergegeben: der Vp wird durchaus eine spezifische Aufgabe zugewiesen, die der Vl nicht übernehmen kann, daß nämlich untersucht werden solle, welchen Unterschied es ausmachen würde, wenn verschiedene Personen die Rollen des Lehrers und des Schülers übernehmen würden (St. Milgram (Interpreting), S. 143/45); 2. Orne und Holland würden sich in Widersprüche verwickeln: Die Gefügigkeit von Vpn werde einerseits behauptet und andererseits geleugnet; 3. die Kritik sei schlichtweg unwissenschaftlich (»anekdotisch und spekulativ«): Der Hinweis auf den Aufforderungscharakter des Experiments erfolgt immer ex post facto, so könne nur argumentiert werden, wenn die Ergebnisse schon eingebracht sind, es gebe hier keine Voraussage des Ergebnisses eines Experiments. Er resümiert, Ornes Ansatz ziele offenbar doch nicht auf eine Verbesserung der experimentellen Methode ab; sie sei vielmehr AusA

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druck eines radikalen Zweifels an der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt. (Vgl. St. Milgram (Interpreting), S. 150) Auf das zweite hauptsächliche kritische Argument der Unglaubwürdigkeit der Täuschung wegen der Unverhältnismäßigkeit von Risiko und Zweck des »Lernexperiments«, besonders bei Herzschwäche des Schülers, geht Milgram nicht ein. Doch wendet er sich noch einmal der Frage zu, inwieweit vom Erfolg der Täuschung insgesamt ausgegangen werden dürfe. Dabei unterscheidet er drei mögliche Ziele der experimentellen Täuschung: 1. Die Vpn sollen glauben, daß es sich bei dem Experiment um ein Lernexperiment handelt; 2. sie sollen glauben, daß der Schüler wirklich Schocks erhält; 3. sie sollen glauben, daß der Schüler Gegenstand des Experiments ist. Für das eigentliche Experiment zur Gehorsamsbereitschaft ist nur die zweite Täuschung wirklich relevant: Wenn die Vpn tatsächlich glauben, Schocks zu erteilen, dann steht ihr Gehorsam zur Debatte. Erstens unterstreicht Milgram nun gegen Orne und Holland erneut, daß die Vpn in ihrer überwiegenden Mehrzahl an die Realität der Schocks glaubten: 1. Auf entsprechende nachträgliche Befragung hin hätten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alle Vpn geantwortet, die Schocks seien für den Schüler extrem schmerzhaft gewesen; 2. alle Vpn gaben Zeichen jener Anspannung von sich, unter der sie als Folge des Konflikts im Experiment standen: Schwitzen, Zittern, Stottern. Derartige unwillkürliche Symptome der Anspannung seien nicht willentlich dem Experimentator zuliebe produzierbar, so wie Orne dies unterstellt habe. 3. Ein Jahr nach dem Experiment wurden die Vpn nochmals unmittelbar dazu befragt, ob sie denn während des Experiments wirklich geglaubt hätten, daß dem Schüler wirksame Schocks erteilt worden seien. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten (369 von 658 d. h. ca. 56 %) versicherten, sie hätten im vollen Glauben gehandelt, der Schüler erhalte schmerzhafte Schocks; 2,4 % gaben an, sie seien sich sicher gewesen, daß dem nicht so war; 24 % vs. 11,4 % hielten es für wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich, daß der Schüler Schocks erhalten habe; etwa 6 % sagten, sie hätten sich einfach nicht entscheiden können. In seiner Deutung dieser Ergebnisse hebt Milgram gegen Orne hervor, daß also immerhin 3⁄4 der Vpn nach eigenem Bekunden im Glauben gehandelt hätten, der Schüler erhalte Schocks. Zweitens gibt er zu bedenken, daß die erfragten Antworten nicht eindeutig seien: Die Angabe einer Vp, sie habe nicht an die Wirksamkeit der elektrischen Apparatur geglaubt, hat den Charak176

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ter einer Exkulpation – ist dem Schüler nach Auffassung der Vp nichts geschehen, dann hat sie sich auch nicht schuldig gemacht. Vielleicht rationalisiert also diese Vp ihr damaliges Verhalten. In diesem Sinne wäre die Leugnung der Wirksamkeit der Apparatur durch das damalige Verhalten bewirkt und nicht dessen Ursache. Seinerseits habe er (Milgram) geschätzt, daß pro Durchgang 2 bis 4 Vpn nicht geglaubt hätten, Schocks zu erteilen. Doch da die Behauptung, nicht getäuscht worden zu sein, auch als Rationalisierung post factum verstanden werden könne, habe er sich prinzipiell geweigert, die Daten irgendeiner einzelnen Vp auszuschließen. Insgesamt betrachtet Milgram die Leugnung der Wirksamkeit der Apparatur nur als einen von mehreren Mechanismen, die im Experiment erzeugte Spannung abzubauen. (Weitere solche Mechanismen sind Vermeidung – die Vp versucht, der Wahrnehmung der Folgen ihres Tuns zu entgehen, etwa indem sie sich abwendet oder abschirmt; das Erdenken von Auswegen – die Vp versucht, dem Schüler die Schocks zu ersparen, indem sie ihm etwa souffliert; und auch die Gehorsamsverweigerung selbst. (Vgl. St. Milgram (Experiment), S. 184 ff.) Ist die Auseinandersetzung zwischen Orne, Holland und Milgram – über die von letzterem gelieferten Argumente hinaus – entscheidbar? Eine Überlegung könnte hier weiterhelfen: Nach Orne gehorchen die Vpn, weil sie aufgrund des Aufforderungscharakters des Experiments von dessen Harmlosigkeit überzeugt sind. Gemeinsam mit Evans überprüfte Orne diese Hypothese 1965 noch einmal, indem er Vpn besonders für diese selbst gefährliche Aufgaben ausführen ließ. Man sollte annehmen, daß das Risiko für die eigene Person zu einer erhöhten Rate an Ungehorsam führt, sofern die Vpn an die Echtheit des Experiments glauben. Doch 50 % der Vpn faßten mit der Hand in schäumende Salzsäure oder holten aggressive Schlangen aus Käfigen. Dies Ergebnis spräche also für Ornes Theorie der Täuschung des Psychologen. Die Berechnung der Evans/Orneschen Ergebnisse ist allerdings angefochten worden: In Milgrams Versuchen kann eine Vp nur einmal den Gehorsam verweigern (und wird dann ausgeschlossen); in Ornes und Evans Experiment werden jeder Vp vier Aufgaben gestellt, so daß sie also viermal verweigern kann, und Orne und Evans haben die Weigerungen über alle vier Bedingungen/Aufgaben hinweg addiert. In einer mit Milgrams Anordnung vergleichbaren Berechnung liegt nun aber der durchschnittliche Gehorsam in Evans und Ornes Experiment bei 29 %; so berechnet, spräche das ErA

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gebnis klar gegen Ornes These. (Vgl. hierzu Wim Meeus u. Quinten Raaijmakers (Autoritätsgehorsam), S. 77 f.) Auch Holland selbst hat die gemeinsame These im nachhinein nochmals überprüft und ein negatives Ergebnis erzielt. Neben einer Wiederholung des Milgramschen Standardexperiments besteht der Kern seines Versuchs in einem Durchgang mit drastisch reduzierten Schockstärken (10 % der Schockstärken des Standardexperiments). Wegen der viel höheren Glaubwürdigkeit eines solchen Experiments (Schocks zwischen 1,5 bis 45 Volt erscheinen als akzeptabel) erwartete Holland in diesem Durchgang einen wesentlich geringeren Gehorsam. Diese Erwartung erfüllte sich nicht: Vpn waren unter beiden Bedingungen vergleichbar gehorsam. 9 Wie auch immer der Ausgang des Disputs zwischen Milgram und Orne zu bewerten sein mag, in einem beruht dieser Dissens auf einer gemeinsamen Voraussetzung, daß nämlich das Bewußtsein der Vp eine zu kontrollierende Störvariable sei. Und die nötige Kontrolle soll entweder durch experimentelle Täuschung erfolgen (Milgram) oder durch die Täuschung darüber, daß die Vp es überhaupt mit einem Experiment zu tun hat (Orne). 10 Diese These vom Bewußtsein der Vp als Störvariable ist in der Folgezeit zuerst von F. Dick kritisiert worden: »Die Vorenthaltung der Hypothese bzw. der Lüge über diese und über die Bedeutung der Vpn ergibt sich nicht … aus der Methodik der konstant zu haltenden Störbedingungen. Diese Methodik erfordert nur die Konstanthaltung, und die Kenntnis der Hypothese wäre konstant zu halten, indem die Vgl. den Bericht in Meeus/Raaijmakers (Autoritätsgehorsam), S. 78. Doch vielleicht hat Holland vorschnell kapituliert: Ist es undenkbar, daß Menschen im Standardexperiment gehorsam sind, weil ihnen das Experiment als unglaubwürdig erscheint, während sie in Hollands glaubwürdigerem Durchgang ebenso gehorsam sind, weil ein Schock bis 45 Volt, wie ihnen ja bei ihrer Einführung in das experimentelle Setting am eigenen Leibe vorgeführt wird, als durchaus tolerabel erscheint? Beide Gruppen sind also gehorsam, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Spräche das Ergebnis wirklich gegen dasjenige Ornes, müßten nicht gerade dann viel höhere Raten an Gehorsam in Hollands Durchgang auftreten, weil mit zunehmender Schockstärke auch die Gehorsamsverweigerung zunehmen sollte? Hier bleiben Fragen offen. 10 Hierbei weist Milgram Orne darauf hin, daß es die von ihm, Orne, geforderten, als solche von den Vpn nicht erkannten Experimente schon gebe. (Er zitiert ein Experiment von Hofling u. a., in dem Krankenschwestern in einem Krankenhaus telefonisch zur Ausgabe einer irregulär hohen Dosis eines nicht zugelassenen Medikaments aufgefordert wurden. Nur eine von 22 Krankenschwestern verweigerte den Gehorsam. (Vgl. St. Milgram (Interpreting), S. 149 f.) 9

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Hypothese entweder allen Vpn vorenthalten oder aber allen genannt würde. Die Kenntnis der Hypothese ist eben nicht eine beliebige neben zahlreichen Störbedingungen. Die Methodik verlangt nur die Konstanthaltung der Kenntnis der Hypothese oder ihre zufällige Verteilung über die Vpn. Sie verlangt nicht die Ausschaltung der Kenntnis. Es ist die Besonderheit des Gegenstandes, des Bewußtseins, welche die Ausschaltung der Kenntnis der Hypothese … notwendig macht.« (F. Dick, Kritik der bürgerlichen Sozialwissenschaften, S. 351 f.)

Dicks Argument gegen die These vom Bewußtsein als einer Störvariablen besteht also im Hinweis, daß Wissenschaftler mit Störvariablen anders umgehen, als Psychologen dies mit dem Bewußtsein der Vpn tun: Es fehlt dem Psychologen im experimentellen Szenario eine Option, nämlich die der Information der Vpn; würde er alle Vpn gleichermaßen vom Ziel des Experiments in Kenntnis setzen, dann wäre dies eine Form der Gleichbehandlung, mit der die Konstanthaltung der Störvariablen erreicht wäre; doch das informierte Bewußtsein wäre damit nicht unter Kontrolle. Man betrachte einen der Versuchsdurchgänge Milgrams (Experiment 17), an welchem neben dem Lehrer und dem Schüler zwei weitere Helfer beteiligt sind, und zwar, wie die Vp, in der Rolle des Lehrers. Diese beiden widersetzen sich den Anweisungen des Vl, der erste bei 150 Volt, der zweite bei 210 Volt. Beide lassen sich dann in einer Ecke des Raums nieder und sind Zeugen des weiteren Geschehens. Der Vl befiehlt der allein vor dem Schockgenerator verbliebenen Vp, fortzufahren, da das Experiment vollständig zuendegeführt werden müsse. Unter dieser Bedingung des Widerstands anderer, gleichrangiger Personen (vielleicht auch unter der Bedingung der Überwachung durch andere, die kein konformes Verhalten an den Tag gelegt haben) ist die Wirksamkeit des angenommenen eigentlichen kausalen Faktors stark reduziert: Nicht mehr 16 von 40, sondern 36 von 40 Vpn widersetzten sich in dieser Variante dem Vl. (Vgl. St. Milgram (Experiment), S. 139) Im Zusammenspiel mit der als eigentlicher Ursache angenommenen Autorität wirkt also der Einfluß einer Gruppe gleichrangiger Personen, die durch ihr Vorbild (und durch ihre weitere Anwesenheit) Druck ausüben, als Störvariable: Das vom Verhalten der Gruppe in Experiment 5 abweichende Verhalten dieser Gruppe kann ceteris paribus durch den Einfluß der Störvariable »Gruppendruck« erklärt werden. Und jetzt stellt sich die Frage: Ist auch das Bewußtsein der Vp eine derartige, auszuschaltende A

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Störvariable? Man vergleiche noch einmal mit Durchgang 17: Wird in dieser Variante die Vp durch die Gruppe unter Druck gesetzt, wird also die Wirkung der Störvariablen zugelassen, dann führt dies zu den oben angegebenen eindeutigen Verhältnissen, der Minderung des Gehorsams der Vp. Wie steht es um die Wirkung der Störvariable »Bewußtsein«? Sie führt keineswegs zu vergleichbar eindeutigen Ergebnissen: Die Aufklärung der Täuschung führt durchaus nicht notwendig zu einem anderen statistischen Ergebnis als dem vorgefundenen. Es ist durchaus denkbar, daß sich die Vp weiterhin geradeso verhält, als ob sie getäuscht worden sei – z. B. aufgrund privater Theorien über Sinn und Ziel des Experiments. Es ist also zuallererst dies festzuhalten: Im Fall der Aufklärung kann es prinzipiell zu einem Ergebnis kommen, das bei der Inkraftsetzung einer genuinen Störvariablen völlig ausgeschlossen ist: Daß sich nämlich an den quantitativen Verhältnissen überhaupt nichts ändert. Ändert sich aber nichts an den Ergebnissen im Falle der Inkraftsetzung der Störvariablen, dann können wir sie so nicht bezeichnen. Geniert dies Argument den Experimentalpsychologen? Wohl kaum: Erstens hat Dick damit Unrecht, daß diese Charakteristik allein das psychologische Szenario kennzeichnen würde – sich selbst vernichtende und sich selbst erfüllende Prophezeiungen haben als Feedbackprozesse durchaus auch in den Naturwissenschaften ihren Platz. (Vgl. hierzu unten, Kap. 6) Doch selbst wenn dem nicht so wäre, käme es dem Psychologen ja nur darauf an, das Bewußtsein zu kontrollieren, auf ein hinlängliches Instrument also und nicht auf die spezielle, von Dick ins Auge gefaßte Option. Und auch Dick bestreitet nicht, daß die Kontrolle der Störvariablen Bewußtsein durch die Konstanthaltung durch Desinformation oder Ausschaltung funktioniert. Betrachtet man Milgrams Antwort auf Orne als nicht recht zufriedenstellend – zumal im Hinblick auf die Unverhältnismäßigkeit der drastischen Bestrafungen –, dann stellt sich die Frage nach der Möglichkeit methodischer Alternativen zur experimentellen Täuschung. Auf zwei mögliche Alternativen hat Herbert C. Kelman verwiesen. Die erste besteht in der Durchführung von Feldexperimenten anstatt der problematischen Experimente im Labor. Vor den Versuchspersonen kann in der natürlichen Umgebung, in der diese Experimente durchgeführt werden, eher geheimgehalten werden, daß überhaupt ein Experiment stattfindet. Dies entspricht also dem oben 180

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erwähnten Vorschlag Ornes, die Täuschung auf das Experiment insgesamt auszuweiten. (Vgl. H. C. Kelman (Use), S. 10; vgl. oben, S. 175) Feldexperimente weisen jedoch den gravierenden Mangel auf, daß die ins Spiel kommenden Faktoren nur schwer kontrollierbar und daher die entstehenden Effekte nicht ohne weiteres eindeutig zuweisbar sind. (Vgl. J. Bredenkamp (Experiment), S. 363 f.) Der zweite Alternativvorschlag Kelmans ist der des Rollenspiels, der die Information der Vpn über Sinn und Zweck des Experiments vorsieht; diese werden sodann gebeten, sich nicht im Sinne ihrer Erwartung zu verhalten, welches Ergebnis des Experiments der Vl wohl erhofft, sondern dessen Anweisungen getreulich zu befolgen. (Vgl. H. C. Kelman (Use), S. 9) Im Anschluß an Kelman wurde mehrfach untersucht, ob sich rollenspielende Vpn tatsächlich so wie in gelungenen Täuschungsexperimenten verhalten. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen fielen unterschiedlich aus. Das eigentliche Problem besteht jedoch nicht darin, daß sich die sich selbst spielenden Vpn manchmal so verhalten, als ob sie getäuscht worden wären, und dann wieder ganz anders. Es besteht also nicht im unschlüssigen empirischen Ergebnis. Arthur C. Miller merkte in einer Übersicht der einschlägigen Untersuchungen an, daß sich deren Autoren von dem Ergebnis hätten einnehmen lassen (soweit denn in dieser Form zustandegekommen), daß sich die Rollenspieler wie getäuschte Vpn verhielten. Besonders gegenüber einem Experiment, in dem getäuschte Vpn und Rollenspieler unmittelbar miteinander verglichen wurden (Horowitz und Rothschild) hob er jedoch hervor, daß die Ergebnisse der Rollenspieler ganz verschieden gedeutet werden könnten, je nachdem, ob diese nun tatsächlich der Bitte des Vl entsprachen oder nicht: Das Verhalten der Vpn kann dasselbe sein, ob hervorgebracht aufgrund der Bereitwilligkeit, am Experiment mitzuwirken oder aufgrund einer Neigung zur Störung desselben. (Vgl. A. C. Miller (Role Playing), S. 629 u. 632) Dieser Hinweis Millers bezieht sich auf die Frage, ob die Ehrlichkeit des Rollenspiels der Vpn aufgrund der Gleichheit der Ergebnisse dieser Experimente mit solchen aufgrund von Täuschung vorausgesetzt werden darf. Doch auch diese Frage erscheint noch nicht als das Hauptproblem der Methode des Rollenspiels. Sie betrifft vielmehr das Problem, wie denn die Ergebnisse dieser Experimente überhaupt zu interpretieren sind. Zweifelhaft ist nicht nur, ob, wie Miller sagt, A

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identisches Verhalten immer auf ein und dieselbe Ursache zurückgeführt werden kann; sondern ob der experimentelle Psychologe in diesen Experimenten eigentlich jenen Typus von Ergebnis erzielt, den er anstrebt. Man nehme einmal an, das von Miller angesprochene Problem der Ehrlichkeit des Rollenspiels sei gelöst und alle Rollenspieler im Experiment nach bestem Wissen und Gewissen darum bemüht, sich so zu verhalten, als ob sie getäuscht würden. Doch nun beachte man, daß das Verhalten der Vpn im Rollenspiel intentional ist: Die Vpn folgen einer Handlungsüberlegung, nämlich der, sich so zu verhalten, als ob sie getäuscht würden. In die Überlegungen einer Person kann jedoch nur das eingehen, was ihr bekannt ist. Und aus dieser Bedingung ergibt sich ein Problem, das die Grenzen dieser Methode als solcher, und das heißt zur Reduplikation echter Täuschungsversuche aufzeigt: Die Versuchspersonen werden in ihrem Verhalten ihrer Selbsteinschätzung folgen: Sie werden sich so verhalten, wie sie glauben, sich unter den beschriebenen Bedingungen zu verhalten; und es gibt keinen Grund für die Richtigkeit ihrer Annahmen (man denke nur an Milgrams Vorbefragung zurück). Nach der Methode des Rollenspiels, so könnte man sagen, sind überraschende Ergebnisse in der Psychologie unmöglich. Es erscheint also klar, daß Rollenspiel als Methode nicht an den Platz der Täuschung treten kann: Denn unverhersehbare Ergebnisse können auf diese Weise nicht redupliziert werden, und, so darf man hinzufügen, gerade diese Ergebnisse sind von besonderem wissenschaftlichen Interesse, weil sie allein neue Erkenntnisse vermitteln und damit den Fortschritt der Psychologie als Wissenschaft ausmachen. Man führe sich die Bedeutung der Auseinandersetzung um das Problem experimenteller Artefakte für die vorliegenden Überlegungen noch einmal vor Augen: Die Geltung der Kausalerklärungen der experimentellen Psychologie setzen voraus, daß den Vpn die untersuchten ursächlichen Faktoren unbekannt sind. Im psychologischen Labor wird diese Unkenntnis produziert, und zwar durch die Täuschung oder zumindest unterlassene Information über Sinn und Zweck des Experiments: Man stelle sich nun vor, daß die Versuchspersonen die Täuschungen des Experiments durchschauen und verstehen, daß ihre Gehorsamsbereitschaft auf den Prüfstand steht, und nicht etwa die Lernfähigkeit einer anderen Person. 11 Sofern die 11

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Vpn daraufhin dasselbe Verhalten zeigen, wie z. B. im Standardexperiment, kann dies Verhalten nicht mehr auf ihre Gehorsamsbereitschaft und das experimentelle Setting zurückgeführt werden. Man wird dann nach einer anderen Erklärung für das Verhalten der Vpn suchen. Eine derartige Erklärung könnte lauten, daß die Vpn Wohlverhalten an den Tag legen und im Sinne der dem Vl unterstellten Erwartungen handeln wollen. Das Dilemma des psychologischen Labors beruht also auf dem Prinzip der Ignoranz: Die vorgeschlagenen Kausalerklärungen setzen die Unkenntnis der supponierten Ursachen seitens der Vpn voraus. Diese Unkenntnis gehört mit zu den Anfangsbedingungen der vorgeschlagenen Kausalhypothese. Die Kenntnisnahme der Ursache beseitigt eine entscheidende Bedingung für die Anwendung der Hypothese. Verweisen die Vpn darauf, daß ihnen die Hypothese bekannt gewesen sei, dann ist diese als Erklärung nicht mehr anwendbar. Haben die Vpn trotz Kenntnis der Hypothese das aus ihr folgende Verhalten an den Tag gelegt, dann lautet eine mögliche Erklärung, daß sie dies z. B. als »gute Versuchspersonen« taten. Die so angebotene Erklärung ist eine Handlungs-, keine Kausalerklärung. Es sei abschließend auf eine besondere Eigenheit der hier beschriebenen Struktur verwiesen. Untersucht wurde der Fall, in dem sich die Vpn auf die Kenntnisnahme der Ursache hin so verhielten, als ob die Aufklärung nicht stattgefunden hätte – dies ist der von Orne ins Auge gefaßte Fall, in dem die Vpn, nachdem sie die experimentelle Täuschung durchschaut hatten, nicht etwa beschlossen, das Experiment zu sabotieren, sondern vielmehr versuchten, sich so zu liche Forschungshypothese zu erkennen. Auch Ornes Kritik bezog sich ja eher auf die Glaubwürdigkeit der Bestrafung, als auf die des Lernexperiments. Die genauere Beschreibung der Logik der Milgramschen Experimente würde also besagen, daß eine Reihe von Täuschungen zusammenwirken, um die in der Forschungshypothese supponierte Ursache für das Verhalten der Vp vor dieser zu verbergen: Durchschaut die Vp die Wirkungslosigkeit der elektrischen Apparatur, dann kann ihr Verhalten vielleicht immer noch als Gehorsam interpretiert werden; doch bezieht sich dieser Gehorsam jetzt nur noch auf ein Bedienen von Hebeln einer Apparatur, ohne daß dies weitere Konsequenzen hätte; und die Bereitschaft zu einem derartigen Gehorsam, eine für die Vp nicht ganz verständliche, aber durch das Setting verantwortete Handlung zu vollziehen, wäre nicht weiter skandalös. Man beachte, daß die Wirkung des untersuchten, ursächlichen Faktors in Milgrams Experiment bereits durch die Aufdeckung der Wirkungslosigkeit der Apparatur, und nicht erst durch die Kenntnis des Faktors selbst außer Kraft gesetzt wird. Denn schon hier würde man das Verhalten der Vp auf deren Bemühen, eine gute Vp zu sein, zurückführen, und nicht mehr auf ihre Gehorsamsbereitschaft. A

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verhalten, als ob die Täuschung noch Bestand habe, um es so zu retten. Einmal unterstellt, sie hätten sich in ihrer Selbsteinschätzung nicht getäuscht – dann besteht das Dilemma des Psychologen darin, zu unterscheiden, ob das Verhalten der Vpn auf der gelungenen Täuschung beruht und damit eine echte Bestätigung der Forschungshypothese darstellt, oder gerade auf der Aufklärung der Täuschung, was nur eine scheinbare Bestätigung bedeuten würde. Ein Dilemma dieser Form läßt sich als reflexive Vorhersage analysieren, ähnlich den von Robert Merton identifizierten sich selbst erfüllenden und sich selbst vernichtenden Prophezeiungen. Diese Untersuchung wird in Kapitel 6 vorgenommen werden.

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In den beiden vorangegangenen Kapiteln wurde gezeigt, daß es sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Psychologie das Zusammenspiel zweier Erklärungsformen ist, der intentionalen und der deduktiv-nomologischen Erklärung eines bestimmten Typus, die den wissenschaftstheoretischen Status dieser Disziplinen bestimmen. Wegen der besonderen Relation, welche die beiden Erklärungstypen in diesen Disziplinen miteinander eingehen, daß nämlich einer Handlungserklärung durch eine Kausalerklärung und einer Kausalerklärung durch eine Handlungserklärung widersprochen werden kann, wurden beide Wissenschaften als Handlungswissenschaften bezeichnet. Denn im Vergleich zu den allein kausal erklärenden Naturwissenschaften ist bei diesen Disziplinen die Handlungserklärung das Hinzukommende, und dasjenige, welches den Anlaß zu diesem Zusammenspiel bietet. In der Geschichtsschreibung erlegt diese Struktur dem Historiker eine Verpflichtung auf: Soll seine Erklärung als eine derartige Kausalerklärung gelten dürfen, dann muß er nachweisen, daß die Ursache, auf die er sich in seiner Erklärung bezieht, der Person, deren Handeln erklärt wird, unbekannt war. Er ist also derjenige, dem das bekannt ist, was der Handelnde nicht wußte. Die Problematik sozialwissenschaftlicher Erklärungen im engeren Sinne (die ja herkömmlicherweise die historischen nicht mit einschließen) ist wesentlich mit durch das Muster sogenannter sich selbst erfüllender und sich selbst zerstörender Prophezeiungen charakterisiert. Es wurde gezeigt, daß bestimmte sozialwissenschaftliche Kausalerklärungen, ebenso wie historische, voraussetzen, daß sie jenen, von denen sie gelten sollen, unbekannt sind. Im psychologischen Experiment wird diese Ignoranz durch Täuschung hergestellt. Die Frage, ob die Täuschung gelingt und damit nach der Richtigkeit der Einschätzung des psychologischen Experiments als einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, wurde in die experimentelle MethodenA

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lehre verwiesen; das wissenschaftstheoretische Fazit lautet, daß die experimentelle Hypothese der Vp verborgen bleiben muß, wenn die sich aus dem Experiment ergebende Erklärung als Kausalerklärung gelten dürfen soll. Die exakte Beschreibung der Form des Zusammenspiels von Handlungs- und Kausalerklärung wird im abschließenden Kapitel (6) erfolgen. Dort wird auch die Frage beantwortet werden, welche Charakteristik genau jene Kausalerklärung abgrenzt, die in dies Zusammenspiel eingeht. Im vorliegenden Kapitel (5) wird zunächst in einer weiteren, dritten Fallstudie das Verhältnis von Handlungserklärung und Kausalerklärung in der Psychoanalyse untersucht. Die gegenwärtige Problemsituation der Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse wurde besonders deutlich in Adolf Grünbaums Versuch einer induktivistischen Grundlegung der psychoanalytischen Klinik (im Gegensatz zur Metatheorie) herausgearbeitet. Zwei große Fragestellungen bilden den Ausgangspunkt seiner kritischen Untersuchung. 1. Karl Raimund Popper zufolge sind psychoanalytische Hypothesen prinzipiell nicht widerlegbar und daher unwissenschaftlich: Zwar erfährt die »Psychoanalyse unaufhörlich Bestätigung durch einen Strom sie verifizierender« Beobachtungen; doch die Wissenschaftlichkeit einer Theorie wird nicht durch ihre (logisch letztlich unmögliche) Verifikation dargelegt. Dieser Beweis wird nur durch den Nachweis ihrer Falsifizierbarkeit erbracht – der Wissenschaftler ist zwar nicht in der Lage zu zeigen, daß er die Wahrheit gefunden hat; doch wenn Theorien falsifizierbar sind, dann können jene, deren Falschheit bewiesen wurde, beiseite gelegt werden. Der Wissenschaftler verfährt weiterhin auf der Grundlage von Beweisen und daher rational. Und nun soll der entscheidende Mangel der Psychoanalyse darin bestehen, daß es schlichtweg keine möglichen Tatsachen gebe, die der Theorie widersprechen würden: »Ich bin nicht in der Lage, einen Sachverhalt anzugeben, … der immunisiert werden müßte, um nicht mit der Freudschen Theorie zusammenzustoßen.« (K. R. Popper (Replies), S. 1005 [Übers. T. K.]) Wenn Äpfel ceteris paribus nicht mehr vom Baum fallen, sondern aufwärts steigen würden, so stünde dies im Widerspruch zu Newtons Physik. Doch es gebe kein menschliches Verhalten, das sich in gleicher Weise als nicht aus der Psychoanalyse ableitbar aus186

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machen ließe. In diesem Sinne also sei Psychoanalyse keine Wissenschaft. Grünbaum hat diese These Poppers durch den Aufweis von Beispielen aus Freuds Werk widerlegt: Der Ursprung der Paranoia aus verdrängter Homosexualität, die Theorie vom Traum als phantasierter Wunscherfüllung, die Hypothese von der frühkindlichen Verführung als Ursache hysterischer Erkrankungen – es gibt genug Fälle, in denen Freud angesichts widerstrebender Fakten entweder überlegte, bestimmte Thesen zurückzuziehen oder in denen er sie tatsächlich preisgab. 1 2. Die zweite große Frage neben der nach der Widerlegbarkeit gilt dem Status psychoanalytischer Erklärungen: Handelt es sich um Grünbaum kritisiert Poppers Thesen zudem als widersprüchlich, wenn dieser erstens behauptet, es gebe keine der Theorie widersprechenden Fakten, und zweitens, die Theorie werde eben gerade doch gegenüber solchen Fakten immunisiert. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 185) Freilich bringt Popper diesen zweiten Einwand zwar gegen die Marxsche Geschichtsschreibung vor, nicht aber gegen die Psychoanalyse. Allerdings erwähnt Popper beiläufig eine andere Form der Immunisierung, deren Problematik Freud von Anbeginn an beschäftigt hat, nämlich die Zurückweisung des Einspruchs des Patienten gegen die Deutung des Analytikers. (Vgl. K. R. Popper (Conjectures), S. 38, Fn. 3) Diese Strategie der Zurückweisung ist Teil der, wie man sagen kann, klassischen Kritik der Psychoanalyse überhaupt. Die Kritik lautet, daß psychoanalytische Deutungen Unterstellungen des Analytikers wären, Suggestionen also, an denen dieser gegen den Einspruch des Patienten mit dem Argument festhält, der Einwand sei bloßer Widerstand (welcher in seiner Intensität der Kraft entspricht, mit der der Patient das Problem für sich abwehrt). (Der Vorwurf, Psychoanalyse sei unbewußte Suggestion durch den Analytiker (im Ggs. zur Feststellung, sie verwende Suggestion bewußt zu therapeutischen Zwecken, nicht viel anders als die Hypnose), wurde wohl zuerst von Wilhelm Fließ erhoben, »Der Gedankenleser liest bei den anderen nur seine eigenen Gedanken«, so zitiert ihn Freud in einem Brief vom 7. Aug. 1901 (vgl. (Freud-Fließ), Einl., S. XXII).) Freud besprach den Einwand in den Vorlesungen, S. 434 f.: »… die sexuellen Erlebnisse sollen wir den Kranken »eingeredet« haben, nachdem uns in der eigenen verderbten Phantasie solche Kombinationen gewachsen sind«, und in der späten Schrift über »Konstruktionen in der Psychoanalyse«, wo er sich zumal über die »arme, hilflose Person« des Patienten äußert, mit der angeblich ›nach dem berüchtigten Prinzip »Heads I win, Tails you loose«‹ verfahren werde. Wie auch immer der Suggestionsvorwurf, die »am häufigsten gegen die Psychoanalyse erhobene Einwendung« (Vorlesungen, S. 434) zu beurteilen sein mag – hier wird zunächst von Freud gewiß ein Widerspruch zwischen Theorie und Tatsachen konstatiert, so daß also, bezieht man diese Strategie mit ins Kalkül ein, durchaus mit Grünbaum ein Widerspruch in Poppers Kritik festgestellt werden kann. (Man vergleiche für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Thesen Poppers und für den Versuch eines Nachweises der Falsifizierbarkeit der psychoanalytischen Philosophie: H. Thomä u. H. Kächele (Probleme), bes. S. 232 ff.)

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Kausalerklärungen nach Art der naturwissenschaftlichen, und ist ihr rationaler Charakter auf diese Weise gesichert? Oder kommt ihnen ein irgendwie gearteter Sonderstatus zu, so daß ihre Wissenschaftlichkeit zweifelhaft oder jedenfalls erst noch zu erweisen wäre? Einer Auffassung zufolge, die im weiteren als »psychoanalytischer Intentionalismus« bezeichnet werden soll, erfolgen psychoanalytische Erklärungen durch praktische Schlüsse, sind also Handlungserklärungen. Da Handlungserklärungen keine deduktiv-nomologischen Erklärungen im naturwissenschaftlichen Sinne darstellen, vertritt der psychoanalytische Intentionalismus mit dieser These die Auffassung, daß psychoanalytischen Erklärungen allerdings ein Status sui generis zukommt. Hingegen besagt eine andere Meinung, daß psychoanalytische Erklärungen ordnungsgemäße Kausalerklärungen sind, deren Überprüfung freilich noch größtenteils ausstehe. Die Auseinandersetzung um diese zweite Frage wird den Gegenstand des vorliegenden Kapitels bilden. Der Gang der Argumente sei vorab kurz skizziert: Die soeben aufgeführten Auffassungen sollen zuerst an einer Fallvignette aus Freuds Vorlesungen veranschaulicht werden (5.1). Es folgt eine Kritik des psychoanalytischen Intentionalismus: Sind psychoanalytische Erklärungen intentionaler oder kausaler Natur? Die intentionalistische These simpliciter (Toulmin, Flew) besagt zunächst, daß es sich bei unbewußten Absichten oder Wünschen um eine neuartige, neu entdeckte Spezies unserer vertrauten Wünsche und Absichten handelt. Diese These verwechselt einen theoretischen Entwurf – die Setzung eines hypothetischen Konstrukts – mit einer empirischen Entdeckung und ist daher nicht haltbar (5.2). Vielleicht ist aber der psychoanalytische Intentionalismus doch vertretbar, und zwar in einer elaborierten Version, die sich nicht auf den eigentlichen unbewußten Wunsch bezieht, sondern auf die Absicht, sich selbst im Hinblick auf eben diesen Wunsch zu täuschen, wobei der Wunsch als Ergebnis der gelungenen Selbsttäuschung unbewußt wäre. Psychoanalytische Erklärungen in diesem Sinne sind dann solche durch den Hinweis auf die Selbsttäuschung desjenigen, dessen Handeln erklärt wird. Und dies Handeln ist zu beschreiben, nicht, wie im Falle des simplen Intentionalismus, als Erfüllung des (unbewußten) Wunsches, sondern als die Ausführung der Absicht des Handelnden, sich selbst zu täuschen. Diese wissenschaftstheoretische Auffassung der Psychoanalyse stellt (seit Sartre) so etwas wie den received view der Psychoanalyse dar. (Vgl. hierzu oben 2.2, S. 75, Fußnote 20) Doch unbewußte Absichten unterschei188

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den sich von der Absicht zur Selbsttäuschung: Mit zu den konstitutiven Merkmalen der Selbsttäuschung gehört das Wissen darum, daß ich mich selbst täusche, wenn ich dies tue, ein Wissen, das sich in besonderer Weise äußert, nämlich als Fähigkeit zum Eingeständnis, daß ich mich selbst getäuscht habe. Zu den konstitutiven Merkmalen unbewußter Absichten gehört hingegen das gerade Gegenteil, nämlich die Unfähigkeit zu einem solchen Geständnis. Daher kann solch ein elaborierter Intentionalismus nicht aufrecht erhalten werden: Psychoanalytische Erklärungen sind nicht Erklärungen aufgrund von Selbsttäuschung, weil unbewußte Wünsche und unbewußte Absichten, anders als Selbsttäuschungen, nicht einfach eingestanden werden können (5.3). Nun wurde Selbsttäuschung, wie oben gesehen, auch ganz anders denn als absichtliche Handlung interpretiert, so wie dies der elaborierte Intentionalismus erfordern würde. Im Sinne dieser alternativen Interpretation ist Selbsttäuschung eine widerfahrende Täuschung, und das gilt auch dann, wenn man Selbsttäuschung als eine widerfahrende Täuschung versteht, die durch ein Handeln dessen, dem sie widerfährt, eingeleitet wird. (Vgl. oben, 2.3) Das Verhalten des Betreffenden unter dem Eindruck der Selbsttäuschung, wird dann nicht mehr durch eine Handlungserklärung, durch Rekurs auf die Absicht zur Selbsttäuschung erklärt, sondern als die Wirkung der so erzeugten Täuschung, und das heißt durch eine Kausalerklärung. Oben wurde jedoch gezeigt, daß eine derartige Reduktion der Selbsttäuschung auf die bloße Täuschung eine begriffliche Verschiebung bedeutet und dem geltenden Verständnis des Begriffs der Selbsttäuschung nicht gerecht wird. Solch eine kausalistische Interpretation der Psychoanalyse aufgrund von Selbsttäuschung stammt von Jürgen Habermas: Die Psychoanalyse erklärt durch Selbsttäuschungen, wobei das erklärte Verhalten durch die Selbsttäuschung kausal verursacht wird, die psychoanalytische Erklärung also eine Kausalerklärung ist. Allerdings hält Habermas dennoch an einem Sonderstatus der Psychoanalyse gegenüber den Naturwissenschaften fest, und zwar insofern, als es die Psychoanalyse mit einem besonderen Typus der Kausalität des Unbewußten zu tun habe, die nämlich durch Reflexion, dadurch, daß sie in der Therapie verstanden wird, aufgelöst werden kann. Gerade die Habermassche Theorie ist für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse, weil sich doch mit ihr eine Fortsetzung der im Falle der Historie und der experimentellen PsychoA

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logie angestellten Betrachtung anzubieten scheint: Jene Ignoranz, die im Falle der Geschichtsschreibung vorgefunden und die im Experiment durch Täuschung hergestellt wird, und die Kausalerklärungen eines besonderen Typs erst rechtfertigt, wird nach Habermas’ Auffassung vom Subjekt durch Selbsttäuschung in sich selbst erzeugt und rechtfertigt so die psychoanalytische Kausalerklärung. Doch gegen diese Auffassung erheben sich ein Reihe von Bedenken: Erstens gilt auch gegenüber Habermas’ kausalistischer Theorie das bereits gegen die intentionalistische Version der Selbsttäuschung geltend gemachte Argument, daß nämlich ganz allgemein psychoanalytische Erklärungen nicht durch den Hinweis auf Selbsttäuschung erfolgen, weil es nicht so etwas wie das Eingeständnis unbewußter Absichten und Wünsche gibt. Zweitens, und im besonderen, ist Habermas kausalistische Auffassung der Selbsttäuschung zugunsten der intentionalistischen zurückzuweisen, weil in ihr die Bedeutung des Begriffs der Selbsttäuschung verfehlt wird. Ein drittes Gegenargument stammt von Adolf Grünbaum, daß nämlich mit dieser Theorie Ursache und Verursachung verwechselt würden: Daraus, daß sich eine Ursache, ob durch Reflexion oder wie auch immer, außer Kraft setzen lasse, folge nicht, daß man es mit einem besonderen Typus der Kausalität zu tun habe. Durch eine materialistische Rekonstruktion zeigt er, daß es sich bei dem von Habermas dargestellten Prozeß der Aufklärung um einen Vorgang handelt, der vergleichbar auch in den Naturwissenschaften auftritt. Von hierher also drohe dem naturwissenschaftlichen Status der Psychoanalyse keine Gefahr (5.4). Also sind psychoanalytische Erklärungen nicht intentionalistische Erklärungen durch Selbsttäuschung; sie sind aber auch nicht deshalb Kausalerklärungen, weil die Selbsttäuschung kausal eine Täuschung produziert hätte, die nun gewissermaßen selbständig das zu erklärende Verhalten bewirken würde. Mit der Redeweise von den unbewußten Wünschen, Absichten, Motiven wird offenbar etwas Neuartiges eingeführt, dessen Sinn erst näher bestimmt werden muß: Entitäten von noch unbestimmtem Charakter und noch einzugrenzender Wirkung. Solche Entitäten werden üblicherweise als hypothetische Konstrukte bezeichnet und sie stellen die vermuteten Ursachen einer Kausalerklärung dar. Demnach wären psychoanalytische Erklärungen zwar Kausalerklärungen, jedoch nicht aufgrund von Selbsttäuschung (5.5). Und nun stellt sich die Frage, ob denn mit der Preisgabe der Selbsttäuschung als Kern der psychoanalytischen Kausalerklärung 190

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zugleich auch das Prinzip der Ignoranz für die Psychoanalyse preisgegeben wird. Ist nicht Habermas’ Suche nach einer Erklärung dafür, daß Unbewußtes bewußt gemacht und damit seine Wirkung außer Kraft gesetzt werden kann, ganz berechtigt, selbst wenn man Grünbaums Kritik stattgibt, daß durch diesen Eingriff kein neuer Typ von Kausalität in die Welt kommt? Was soll denn »Bewußtmachung unbewußter Wünsche« noch heißen, wenn die Habermassche kausalistische Theorie zurückzuweisen ist? Kann nicht vielleicht doch in irgendeiner Form am Prinzip der Ignoranz für die Psychoanalyse festgehalten und damit auch Habermas’ Anliegen Rechnung getragen werden? (5.6) Im folgenden wird Grünbaums Zurückweisung der Thesen Poppers von der Unwiderleglichkeit der Psychoanalyse vorausgesetzt. Das Hauptgewicht liegt auf der anderen Fragestellung nach dem Status psychoanalytischer Erklärungen und hier wieder auf der Kritik des received view, psychoanalytische Erklärungen erfolgten durch den Hinweis auf Selbsttäuschungen. Diese Auffassung wird mit Grünbaums These konfrontiert, psychoanalytische Erklärungen seien zwar kausale, jedoch nicht solche durch Rekurs auf Selbsttäuschung. Es wird dann näher erläutert, in welcher Weise Grünbaum diese Erklärungen für überprüfungsbedürftig hält. Den Abschluß bildet der Versuch, am Prinzip der Ignoranz und damit an einer gewissen Eigenständigkeit der psychoanalytischen Erklärung festzuhalten, der diese wieder in die Nähe der bisher betrachteten historischen und experimentalpsychologischen rückt.

5.1 Ein Fall von Zwangsneurose In den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse skizziert Freud den Fall einer Zwangsneurotikerin, einer 30-jährigen Dame, die u. a. die folgende merkwürdige Zwangshandlung vielmals am Tage ausführt: Sie läuft in das benachbarte Zimmer, stellt sich neben einem dort stehenden Tisch auf, läutet dem Stubenmädchen, gibt diesem irgendeinen belanglosen Auftrag (oder auch nicht), und läuft dann wieder in ihr Zimmer zurück. Gewiß kein schweres Leidenssymptom, wie Freud urteilt, doch eines, »das die Wissensbegierde reizen durfte« (S. Freud (Vorlesungen), S. 262 ff.). So oft nun Freud die Kranke fragt, warum sie dies tue und »was dies für einen Sinn habe«, bekundet sie ihre Unwissenheit. Doch eines Tages wird sie A

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»plötzlich wissend«, als es Freud gelingt, »ein großes prinzipielles Bedenken bei ihr niederzukämpfen«: Sie erzählt nunmehr, ihr Mann habe sich vor mehr als zehn Jahren in der Hochzeitsnacht als impotent erwiesen. Er sei vielmals in jener Nacht aus seinem Zimmer in das ihre gekommen, um den Versuch zu wiederholen, doch vergebens. Am Morgen habe er ärgerlich gesagt: »Da muß man sich ja vor dem Stubenmädchen schämen, wenn sie das Bett macht«, eine zufällig dabeistehende Flasche roter Tinte ergriffen und diese auf das Bett geschüttet »aber nicht gerade auf eine Stelle, die ein Anrecht auf einen solchen Fleck gehabt hätte«. Freud versteht zunächst den Zusammenhang von Zwangshandlung und Erzählung nicht ganz. Doch dann führt ihn die Dame zum Tisch im Nachbarzimmer – die Analyse findet offenbar in den Räumen der Patientin statt – und »läßt (ihn) dort auf der Decke einen großen Fleck entdecken«; sie erklärt ihm auch, sie stelle sich so zum Tisch, daß das herbeigerufene Stubenmädchen den Fleck sehen müsse. Und damit ist die Parallele zwischen Zwangshandlung und Hochzeitsnacht klar: Die Patientin identifiziert sich mit ihrem Mann, indem sie von einem Zimmer zum anderen läuft, sie wiederholt hiermit die Begebenheiten aus seiner Sicht; doch mit der Zwangshandlung verfolgt sie darüber hinaus eine Absicht: Sie ersetzt das Bettuch durch das Tischtuch, um dem Stubenmädchen immer aufs neue vorzuführen, daß die Ehe in der Hochzeitsnacht vollzogen wurde. Zweck der Zwangshandlung ist also die Leugnung oder Korrektur der Impotenz des Ehemanns, »sie dient der Tendenz, den Mann über sein damaliges Mißgeschick zu erheben« (vgl. S. Freud (Vorlesungen), S. 263). Doch handelt es sich dabei, wie Freud sagt, um eine Absicht besonderer Art, die Patientin »führt die Zwangshandlung im Dienste einer Absicht aus, von der sie nichts weiß, der Absicht, ein peinliches Stück der Vergangenheit zu korrigieren und den von ihr geliebten Mann auf ein höheres Niveau zu stellen« (vgl. S. Freud (Vorlesungen), S. 276). 2 Man beachte, daß die Rehabilitierung des Ehemanns durch die vorgenommene Handlung mißlingt: Der rote Fleck auf dem Tischtuch ist keineswegs jener Beweis, den der Ehemann seinerseits durch rote Tinte auf dem Bettuch hatte nachliefern wollen. Vielmehr stellt er diesen Beweis im Gesamt der Geschichte nur symbolisch dar, die Rehabilitierung ist insgesamt eine symbolische. Die Psychoanalyse trägt solch einer Symbolisierung Rechnung, indem sie neurotisches Verhalten generell als Kompromißbildung begreift, als einen Kompromiß zwischen dem Wunsch des Neurotikers einerseits und

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Die Patientin lebt seit Jahren von ihrem Mann getrennt, kämpft um die gerichtliche Scheidung, ist jedoch innerlich nicht von ihm frei; Symptom dieser Unfreiheit ist nun die Zwangsneurose: Sie bleibt ihrem Mann loyal, dies sosehr, daß sie ihm mit der Krankheit eine Rechtfertigung der Trennung liefert, und »ein behagliches Sonderleben ermöglicht«. Die psychoanalytische Erklärung ist in dieser Form noch unvollständig; denn man wird nicht behaupten wollen, daß jede Frau auf ein vergleichbares Erlebnis in dieser Art und Weise reagieren würde. Daher ergänzt Freud seine Erklärungen um eine genetische, um eine kausale Erklärung der Absichtsbildung, aus der also das Zustandekommen einer Absicht von gerade dieser Form hervorgeht: Die Zwangsneurose ist das Ergebnis einer (im Gegensatz zur Hysterie) lustvollen sexuellen Episode. 3 4 Gerade diesen Fall von Zwangsneurose hat nun Freud in exemplarischer Weise doppeldeutig dargestellt. 5 Die bisher gelieferte Bedem Verbot, sich diesen Wunsch einzugestehen andererseits: Der verbotene Wunsch wird verdrängt und äußert sich daher nur in verkleideter Form. Dies heißt, daß wenn Verhalten in der Psychoanalyse durch den Rückgriff auf eine unbewußte Absicht, einen unbewußten Wunsch erklärt wird, dies Verhalten niemals die unmittelbare Ausführung der Absicht oder Erfüllung des Wunsches darstellt. 3 Im Falle der vorliegenden Studie gibt Freud eine solche Ergänzung nicht, wohl aber im Zusammenhang der Darstellung eines zweiten Falls von Zwangneurose, dem Einschlafritual eines jungen Mädchens, den er an gleicher Stelle schildert. Dort erwähnt er, daß die Zwangsneurose auf eine erotische Bindung des Mädchens an seinen Vater zurückzuführen sei, deren Anfänge in ihren frühen Kinderjahren lägen. (Vgl. S. Freud (Vorlesungen), S. 269) Eine Ätiologie der Zwangsneurose skizziert Freud in einem am 1. 1. 1896 an Wilhelm Fließ verschickten Manuskript »Die Abwehrneurosen (Weihnachtsmärchen)«, in dem die zwangneurotische Sympomatik auf ein lustvolles kindliches sexuelles Erlebnis zurückgeführt wird, das dann der Verdrängung verfällt (hingegen liegt der Hysterie eine Unlustempfindung, eine sexuelle Schädigung zugrunde). (Vgl. S. Freud (Freud-Fließ), S. 169 ff.) Freud hat diese genetische These bald darauf in »Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen« veröffentlicht. (Vgl. S. Freud (Bemerkungen), S. 379) 4 Auch dies ist vielleicht noch nicht der letzte Zweck der Erkrankung, an späterer Stelle (S. 304 f.) kommt Freud noch einmal auf diese Patientin zu sprechen und erwähnt, daß deren Identifikation mit ihrem Mann »viel mit den Voraussetzungen der Homosexualität zu tun« habe. 5 Hierauf hat erstmals verwiesen A. Flew in »Psychoanalytic Explanation«, S. 142: »Freud als praktizierender Psychoanalytiker ist in erster Linie damit beschäftigt, die Motive, Vorsätze und Absichten der Patienten für ihr neurotisches Verhalten zu entdekken und die Patienten dazu zu bringen, diese wahrzunehmen und zuzugeben; diese Motive und so weiter werden als ›unbewußte‹ bezeichnet, weil die Patienten keine Kenntnis von ihnen haben, bevor er nicht seine Arbeit getan hat. Doch Freud als Theoretiker A

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schreibung ist dabei Teil der einen Darstellung; in ihr wird dem Verhalten der Patientin in eigentümlicher Weise Sinn gegeben: So, als ob die Patientin mit ihrem Verhalten ein Ziel verfolgt habe, nämlich die symbolische Wiedergutmachung des Mißgeschicks ihres Mannes. Doch der Patientin ist ihr eigenes Handeln ja ganz unverständlich; weder weiß sie, daß ihr Verhalten überhaupt in den Zusammenhang der Hochzeitsnacht gehört – das »Woher« der Zwangshandlung. Noch ist ihr klar, warum sie (bei vertauschten Rollen), dies Ereignis immer und immer wieder wiederholen muß – das »Wozu«. Um also das psychoanalytisch erklärte Handeln als intentional zu bezeichnen, fehlt es an einem konstitutiven Element – dem Wissen von dieser Absicht. Daher, so scheint es, wird dies Handeln so erklärt, als ob es intentional wäre; es wird diesem Handeln ein Sinn gegeben, den es, jedenfalls zunächst, für den Handelnden nicht hat. Dort, wo dem Handelnden seine Handlung als sinnlos erscheint, gibt er ihr oft seinerseits einen Sinn – und er macht sie so zu einer vernünftigen. Solche Selbstinterpretationen bezeichnet Freud als Rationalisierungen. So würde man z. B. im vorliegenden Fall eine Handlungsbegründung der Patientin, sie handle so, wie sie es tut, weil sie eben dem Stubenmädchen Aufträge erteilen wolle, als Rationalisierung bezeichnen. Und insofern, als der Handelnde in der Rationalisierung seinem Handeln eine falsche Bedeutung verleiht, verhält er sich nicht nur so, als ob sein Handeln Sinn hätte, er verhält sich auch so, als ob er sich selbst täuschen würde. Daher ist die Psychoanalyse insgesamt als eine Analyse von Selbsttäuschungen aufgefaßt worden. Freud gibt also zuerst eine intentionale Erklärung der Zwangshandlung. Doch läßt er es bei dieser nicht bewenden. Neben der erwähnten genetischen Erklärung der Absichtsbildung liefert er in der erwähnten Passage eine weitere Kausalerklärung der Handlung der Patientin: Weil sowohl das »woher« als auch das »wozu« der Kranken unbekannt gewesen seien, hätten »seelische Vorgänge in ihr gewirkt, die Zwangshandlung war eben deren Wirkung; sie hatte die Wirkung in normaler seelischer Verfassung wahrgenommen, aber nichts von den seelischen Vorbedingungen dieser Wirkung war zur scheint (zu dieser Zeit) zu glauben, daß er die Existenz unbewußter geistiger Prozesse erschlossen hat, die wirkliche und handgreifliche Zwangshandlungen produzieren.« [Übers. T. K.]

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Kenntnis ihres Bewußtseins gekommen. Sie hatte sich ganz ebenso benommen wie ein Hypnotisierter, dem Bernheim den Auftrag erteilte, fünf Minuten nach seinem Erwachen im Krankensaal einen Regenschirm aufzuspannen, der diesen Auftrag im Wachen ausführte, aber kein Motiv für sein Tun anzugeben wußte. … Einen solchen Sachverhalt haben wir im Auge, wenn wir von der Existenz unbewußter seelischer Vorgänge reden. Wir dürfen alle Welt herausfordern, von diesem Sachverhalt auf eine korrektere wissenschaftliche Art Rechenschaft zu geben, und wollen dann gern auf die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge verzichten. Bis dahin werden wir aber an dieser Annahme festhalten, und wir müssen es mit resigniertem Achselzukken als unbegreiflich abweisen, wenn uns jemand einwenden will, das Unbewußte sei hier nichts im Sinne der Wissenschaft Reales, ein Notbehelf, une façon de parler. Etwas nicht Reales, von dem so real greifbare Wirkungen ausgehen wie eine Zwangshandlung!« (S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 277)

Im Vergleich zur vorigen Erklärung wechselt Freud also von der Sprache der Beschreibung absichtlicher Handlungen über zu der von Ursache und Wirkung, wobei er mit Nachdruck auf der Realität der neu entdeckten Ursachen besteht. 6 Nun gibt es zwischen den beiden Erklärungsmodi eine Art begriffliches Scharnier, wenn man so will: »Der Sinn … war ihr unbekannt geblieben … (und) also hatten seelische Vorgänge in ihr gewirkt.« (Vgl. S. Freud (Vorlesungen), S. 276 f., Hervorhebung T. K.) Hier gibt Freud an, wann genau er den Modus der Erklärung wechselt: Von Absichten und Handlungen zu sprechen, ist dann legitim, wenn die Absicht dem Handelnden auch bekannt ist. Ist sie ihm nicht bekannt, dann haben wir es mit einer »unbewußten Absicht« zu tun, also einem Gebilde von ganz anderer Art, und dieses Gebilde ist als Ursache zu betrachten, als ein seelischer Vorgang, der bestimmte Wirkungen hervorruft. Doch darüber hinaus kommentiert Freud das Verhältnis der beiden Modi nicht weiter. Und die Frage, die sich stellt, und die Freuds Interpreten größte Schwierigkeiten bereitet hat, lautet, welcher Beschreibung denn nun der Vorzug zu geben sei bzw. ob etwa beide miteinander vereinbar sind, so wie Freuds hier zitierte Überlegungen dies nahezulegen scheinen, und wie genau diese Vereinbarkeit dann zu bestimmen wäre.

Als Autoren der Einschränkung, das Unbewußte sei nur eine Redensart, ein Behelf, une façon de parler, zitiert Freud Pierre Janet. (Vgl. S. Freud (Vorlesungen), S. 258)

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5.2 Psychoanalytischer Intentionalismus Ein erster Versuch, die Frage nach der Beziehung von kausaler und intentionaler Erklärung in der Psychoanalyse zu beantworten, stammt von Stephen Toulmin. Die Schwierigkeiten mit der Psychoanalyse rühren von einer Betrachtungsweise her, die diese zu sehr in die Nähe der Naturwissenschaften rückt. Manche psychoanalytischen Erklärungen weisen tatsächlich Ähnlichkeiten mit naturwissenschaftlichen auf – Toulmin denkt hier etwa an die kausale Herleitung von neurowissenschaftlichen Kausalerklärungen: Die Ursache darf fiktiv sein – der Psychoanalytiker interessiert sich in erster Linie für die Erzählung des Patienten, dafür, was dieser über seine eigene Geschichte berichtet, und allenfalls sekundär für unabhängige Zeugnisse seines Vorlebens. Sogar im Hinblick auf Erklärungen, die den naturwissenschaftlichen doch am nächsten zu kommen scheinen, gilt also, daß Ähnlichkeit eher mit einer Darstellung von Gründen oder Motiven als mit der von Ursachen besteht: Ausschlaggebend ist das, was der Betreffende äußert, und er kann, anders als bei der Angabe von Ursachen, nicht überstimmt werden. Von einer anderen Erklärungsart, der die psychoanalytische gleicht, gilt dies von vorneherein – der Angabe der eigenen Gründe, und, daß diese stimmig sein müssen. Daher urteilt Toulmin allgemein: »Der Kern der Entdeckung Freuds besteht in der Einführung einer Technik, in welcher der Psychotherapeut eher mit der Untersuchung der Motive für, als mit der der Ursachen von neurotischem Verhalten beginnt. (…) Die Technik kann als Erweiterung der vertrauteren Technik betrachtet werden, ›Gründe‹ für Handlungen anzugeben – eine Technik, die (…) selbst in Verbindung mit der Erfüllung der Ziele des Handelnden verstanden werden kann.« (St. Toulmin, »The Logical Status of Psychoanalysis«, S. 138 [Übers. T. K.])

Einen Schritt weiter in der von Toulmin gewiesenen Richtung geht Antony Flew: Es sei noch deutlicher hervorzuheben, daß in psychoanalytischen Erklärungen die Begriffe des Motivs, der Absicht, des Wunschs, des Grundes usw. erweitert werden, und zwar derart, daß es nun möglich sei, von eigenen Motiven, Absichten, Wünschen usw. zu sprechen, die mir unbekannt sind. Eine derartige begriffliche Erweiterung einmal vorausgesetzt, so lautet nun Flews These, hat Freud etwas völlig Neuartiges entdeckt, daß nämlich neben den bereits bekannten bewußten Motiven, Absichten, Wünschen usw. auch 196

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eine ganz andere Spezies unbewußter derartiger Prozesse existiert. Zwischen den beiden Arten, bewußten und unbewußten Motiven, besteht ein bloß gradueller Unterschied, es gibt ein ganzes Spektrum der Angabe von Motiven, das von der ungezwungenen und direkten Äußerung der eigenen Gründe, über das Verheimlichen derselben vor anderen, bis hin zur Entdeckung derselben erst am Ende einer langwierigen Psychoanalyse reicht. 7 Gehören nun unbewußte Motive zur Spezies der Motive insgesamt, dann sind psychoanalytische Erklärungen von völlig anderer Art als Kausalerklärungen. Eine Wirkursache, auf die sich die Kausalerklärung ja bezieht, ist handfest und räumlich identifizierbar. Dies gilt aber weder für bewußte noch für unbewußte Motive. Daher können Erklärungen durch Motive keine Kausalerklärungen sein. Während sich Freud bei der Arbeit am einzelnen Fall ganz richtig der Sprache von den Motiven neurotischen Verhaltens bediene, mißversteht er sich selbst, wenn er in der Generalisierung seiner Ergebnisse und beim Entwurf der psychoanalytischen Theorie zu einer anderen Sprache wechsle, nämlich zu der der Kausalität. (Vgl. A. Flew (Explanation), S. 142 ff.) Nun gibt es tatsächlich potentielle Kausalerklärungen, etwa des neurotischen Verhaltens, nämlich die Erklärungen der Neurophysiologie. Da es sich jedoch bei psychoanalytischen Erklärungen überhaupt nicht um Kausalerklärungen handelt, sind wir auch nicht dazu verurteilt, auf den Fortschritt der Physiologie und den damit unweigerlich bevorstehenden Untergang der Psychoanalyse zu warten. (Vgl. A. Flew (Explanation), S. 143 f. und 146) Vielmehr sind Motive und Ursachen so verschieden voneinander, daß die auf sie bezogenen Erklärungen nicht miteinander konkurrieren. Sie sind nicht ineinander übersetzbar und auch nicht aufeinander reduzierbar. Die eigentliche psychoanalytische Erklärung ist keine Kausalerklärung: »Es scheint, daß Freuds Entdeckung des unbewußten Geistes, unbewußter geistiger Prozesse nicht als die Entdeckung eigenartiger Wirkursachen, sondern als die Entdeckung betrachtet werden sollte, daß ein sehr viel größerer Teil des menschlichen Verhaltens, insbesondere des neurotischen menschlichen Verhaltens motiviert ist, oder, besser, in Begriffen von Motiven erklärt

An der Tatsache der Kompromißbildung geht damit diese Form des Intentionalismus ganz vorbei. (Vgl. oben, S. 192 f., Fußnote 2; vgl A. Flew (Explanation), S. 145)

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werden kann, als irgend jemand zuvor vermutet hatte.« (Vgl. A. Flew, Psychoanalytic Explanation, S. 145 [Übers. T. K.])

Mit Flews Auffassung liegt also eine intentionalistische Interpretation der Psychoanalyse par excellence vor. Diese Interpretation besagt, daß psychoanalytische Erklärungen keine Kausalerklärungen sind. Sie sind vielmehr, ebenso wie andere Erklärungen aus Motiven, einem eigenen Typus zuzurechnen. Dieser Typus ist bekanntlich der einer praktischen Erklärung. 8 Die Auffassung Toulmins und Flews, Daß psychoanalytische Erklärungen Handlungserklärungen durch praktische Schlüsse sind, in denen auf (wenn auch unbewußte) Absichten Bezug genommen wird, hat viele Interpreten dazu bestimmt, diese Erklärungen als Deutungen aufzufassen, in denen mit der unbewußten Absicht der Sinn der betreffenden Handlung aufgedeckt wird, und zu glauben, daß die richtige Erklärung eines neurotischen Verhaltens dann gefunden sei, wenn sich in der Analyse (etwa durch freie Assoziationen) eine Absicht zeigt, die das betreffende Verhalten als Ausführung dieser Absicht sinnvoll und verständlich macht. Gegen diese Auffassung hat Grünbaum ein Argument von der, wie man sagen könnte, kausalen Irrelevanz der thematischen Nähe vorgebracht: »Unabhängig davon, wie stark die thematische Affinität zwischen einem mutmaßlich verdrängten Gedanken und einer unangemessenen neurotischen Handlung auch ist, so reicht diese ›Bedeutungsverwandtschaft‹ für sich genommen noch nicht aus, zu belegen, daß die angenommene Verdrängung ›die versteckte Intentionalität‹ hinter dem gegebenen Verhalten ist. Denn thematische Affinität allein bürgt nicht für ätiologische Abstammung, wenn nicht weitere Beweise vorliegen, daß eine thematisch verwandte Verdrängung tatsächlich das Verhalten erzeugte.« (A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, S. 99) Das Argument besagt also, daß die Tatsache, daß Analytiker und Analysand im Anschluß etwa an einen Versprecher auf einen Wunsch stoßen, der dem Versprecher einen Sinn verleiht – »thematische Affinität« –, nicht belegt, daß dieser Wunsch diesen Versprecher auch verursacht hat. Gewiß ist es möglich, dem betreffenden Verhalten in vielfacher Weise Sinn zu geben, und Freud liefert kein Kriterium, bei welchem von mehreren möglichen Wünschen in der Analyse Halt gemacht werden soll. Das Argument Grünbaums richtet sich besonders gegen P. Ricoeurs Philosophie der Psychoanalyse. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 79 ff.; vgl. P. Ricoeur (Question)) Diese Kritik Grünbaums an der psychoanalytischen Hermeneutik wird in einer der allerersten methodologischen Auseinandersetzungen um den wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse teilweise vorweggenommen. In dieser Debatte stammt das hermeneutische Argument von Karl Jaspers: Freud irrt, wenn er die Psychoanalyse für kausal erklärend hält, vielmehr ist sie verstehende Psychologie. (Vgl. K. Jaspers, »Kausale und ›verständliche‹ Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose bei der Dementia praecox«, S. 169. Die entscheidenden Partien dieses Aufsatzes, der bei der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychatrie im Jahre 1912 einging, wurden vom Autor später in seine Allgemeine Psychopathologie übernommen.) Das eigentliche psychologische Verstehen ist hierbei für Jaspers das einfühlende Verstehen, »wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht«, das »genetische Verstehen« der seelischen Zusammenhänge selbst. (Vgl. l. c., S. 160) Als erfolgreich erweist sich das einfühlende, genetische Ver-

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daß psychoanalytische Erklärungen sich ihrer Form nach auf Absichten oder Wünsche sowie auf bestimmte Überzeugungen stützen, wie die Absichten ausgeführt, die Wünsche erfüllt werden können, soll im folgenden als simpler psychoanalytischer Intentionalismus bezeichnet werden. stehen durch ein unmittelbares Evidenzerlebnis, das »seine Überzeugungskraft in sich selbst hat«: »Die Evidenz des genetischen Verstehens ist etwas Letztes« (K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, S. 252). Gegen Jaspers hebt Heinz Hartmann hervor, daß es durchaus zwei einander widersprechende Auffassungen vom Handeln (oder Glauben) eines Menschen geben kann, die beide in gleichem Ausmaß als evident erscheinen. Er führt das folgende Beispiel an: »Wir hätten einen Mann vor uns, der, selbst kraftvoll und ungebrochen, alles Krankhafte, Schwächliche und Halbe verabscheut und bekämpft. Aus der eigenen Gesundheit und Wohlgeratenheit des Mannes ist uns diese Stellungnahme verständlich, wir erleben diesem verständlichen Zusammenhang gegenüber eine unmittelbare Evidenz. Nun nehmen wir an, wir ›lernten diesen Mann genauer kennen‹, wir erführen von ihm oder anderen, daß er an einem nicht gern eingestandenen, uns bisnun verborgen gebliebenen, schweren Defekt leidet, daß er im Grunde nicht nur ein schwer kranker, sondern auch ein innerlich unsicherer Mensch sei. Auch jetzt verstehen wir, auch der Zusammenhang zwischen der eigenen Schwäche und Unsicherheit eines Menschen und den Abscheu und Haß gegenüber diesen Eigenschaften bei anderen ist uns einsichtig und auch die Einsicht in diesen Zusammenhang ist von einem Evidenzerlebnis begleitet. … Wir müssen dann sagen: Das Evidenzerlebnis hat uns getäuscht, oder: Evidenzerlebnis steht gegen Evidenzerlebnis, und die Entscheidung ›richtig oder falsch‹ kann offenbar aus der Evidenz nicht abgeleitet werden.« (H. Hartmann, Die Grundlagen der Psychoanalyse, S. 61 f.) Solche Fälle sind keineswegs selten, vielmehr »spielt gerade in der Psychoanalyse das Aufdecken des bloß scheinbaren Zusammenhängens eine ungeheure Rolle« (H. Hartmann, l. c., S. 62). Für die Entscheidung dieser Fälle liefert aber Jaspers keine Kriterien, dafür, wann denn nun ein Evidenzerlebnis tatsächlich Kennzeichen für ein richtiges Verstehen ist. Dies Argument ist dem von der Irrelevanz der thematischen Nähe ganz ähnlich: Beide Argumente besagen, daß die Tatsache, daß einem Verhalten Sinn gegeben werden kann, noch nicht bedeutet, daß derjenige, dessen Verhalten verstanden wird, auch im Sinne dieser Deutung gehandelt hat. (Im Fall des Selbstverstehens sind die Schwierigkeiten, wie Hartmann unterstreicht, gar noch größer.) Nun bezieht Jaspers den Begriff des genetisch verständlichen Zusammenhangs von Max Weber. (Vgl. K. Jaspers (Zusammenhänge), S. 163) Doch gerade Weber betont den Konstruktionscharakter sinnhafter Deutungen, daß nämlich »›eine sinnhaft noch so evidente Deutung als solche und um dieses Evidenzcharakters willen noch nicht beanspruchen kann, auch die kausal gültige Deutung zu sein. Sie ist stets an sich nur eine besonders evidente kausale Hypothese‹«, so zitiert Hartmann Weber aus Wirtschaft und Gesellschaft. (Vgl. H. Hartmann (Grundlagen), S. 69) Insgesamt greift die Debatte zwischen Jaspers und Hartmann diejenige zwischen Dilthey und Ebbinghaus über Verstehen und Erklären in der Psychologie auf. (Vgl. H. Hartmann, l. c., S. 54 ff.; vgl. für eine Darstellung N. D. Schmidt (Philosophie), bes. S. 37 ff.) A

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Die kritische Hauptfrage an die Adresse des simplen Intentionalismus lautet gewiß, wie ich denn nur eine Absicht ausführen soll, von der ich nichts weiß? 9 Im Hintergrund dieser Frage steht ganz offenbar die Vorstellung, daß es Absichten, von denen ich nichts weiß, nicht geben kann. Wie soll die von Toulmin und Flew für die

Letztlich, so wird hier deutlich, läuft das Argument von der kausalen Irrelevanz der thematischen Nähe auf den Einwand des genetischen Fehlschlusses hinaus: daß eine Deutung auf dem Wege der Einfühlung und in Verbindung mit einem Erlebnis der besonderen Evidenz gewonnen wurde, besagt noch nichts über ihre Richtigkeit. Deren Nachweis wäre auf anderem Wege zu erbringen. Dies Argument ist im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung bereits von Hempel her geläufig. (Vgl. oben, S. 104) In seinen weiteren Überlegungen kommt Hartmann zu dem Urteil, die sinnhafte psychoanalytische Deutung sei bloße façon de parler; die Deutbarkeit des Symptoms »bedeutet … nichts anderes als die Möglichkeit, ihm einen Platz im (kausalen) seelischen Zusammenhang anzuweisen« (H. Hartmann (Grundlagen), S. 81) 9 Eine weitere, zweifache Kritik des simplen Intentionalismus stammt von A. Grünbaum: 1. Toulmins Begründung des Intentionalismus hatte gelautet, bewußte und unbewußte Gründe seien geistige Faktoren und könnten deshalb keine Ursachen sein. (Die These von der Unmöglichkeit einer geistigen Verursachung (Gardiner) und deren Zurückweisung (Dray) begegnete bereits oben im geschichtsphilosophischen Kapitel. (Vgl. oben, 3.2)) Darauf erwidert Grünbaum, der Begriff der Kausalität sei ontologisch neutral. Ob etwas als Ursache bezeichnet werden dürfe, hänge nicht von dessen Materialität oder Immaterialität, sondern allein davon ab, ob sein Auftreten dasjenige eines anderen Ereignisses, bezeichnet als »Wirkung«, wahrscheinlich mache, ob also der »ursächliche« Faktor kausal relevant ist. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 126 ff.) 2. Wichtige Gruppen psychoanalytischer Erklärungen entziehen sich der Darstellung durch die praktische Erklärung. So lasse sich z. B. paranoides Verhalten – etwa im berühmten Fall Schreber – nicht so beschreiben, als ob jemand es unbewußt als Mittel zur Erfüllung seiner homosexuellen Wünsche betrachten könnte. Und in einer bekannten Fallvignette aus der Psychopathologie des Alltags fällt einem jungen Kollegen Freuds der Teil eines Vergil-Zitats, »aliquis«, in der Zeile »Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor« nicht ein. Freud erklärt diese Fehlleistung (auf Umwegen) aus der Befürchtung des jungen Mannes, seine Geliebte erwarte möglicherweise ein Kind von ihm. Hier sei das Vergessen kein Mittel zum Ungeschehenmachen der Schwangerschaft, sagt Grünbaum. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 311 ff.) Grünbaums zweite Kritik geht m. E. an der Tatsache vorbei, daß die Psychoanalyse Symptome als »Kompromißbildungen« versteht, also nicht als manifeste, sondern erst als verkleidete Wunscherfüllung. Z. B. beseitigt in der Vergil-Episode die Fehlleistung sehr wohl die Schwangerschaft, nämlich in symbolischer Form: indem der befürchtete aliquis vergessen, d. h. beseitigt wird. Auch Schrebers Paranoia kann sehr wohl als verkleidete Wunscherfüllung gedeutet werden, indem im Verfolgungswahn nun jemand »hinter ihm her ist« – so etwa würden die psychoanalytischen Erläuterungen der Wunscherfüllung in den beiden von Grünbaum gelieferten Beispielen lauten. Doch in einer Hinsicht ist Grünbaums Kritik stattzugeben: Gerade wenn Symptome Kompromißbildungen sind, können sie nie durch praktische Erklärungen simpliciter erklärt wer-

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Psychoanalyse reklamierte Entdeckung einer neuen Spezies unbewußter Absichten überhaupt möglich sein? Eine enge Verbindung zwischen Absichten und Bewußtsein wurde von Stuart Hampshire in Thought and Action behauptet, und zwar in Form des folgenden Arguments: »Ohne Zweifel ist es unmöglich, daß [ein Mensch] nicht weiß [was er zu tun versucht], da daraus, daß etwas mit einer Absicht oder absichtlich getan wird, folgt, daß man weiß, was man tut; und etwas bei einer zukünftigen Gelegenheit tun wollen, schließt bereits ein, daß man weiß, was man dann tun wird oder zumindest zu tun versuchen wird. Es besteht daher kein Bedarf an jenem doppelten oder reflexiven Wissen, das der schwerfällige Ausdruck ›Wissen, was man beabsichtigt‹ einzuschließen scheint. Die Aussage ›Ich weiß jetzt, was ich zu tun beabsichtige‹ ist nur ein redundanter Ausdruck für die Aussage ›Ich weiß jetzt, was ich tun werde‹, und ›Ich weiß, worin meine Absicht in dem, was ich jetzt tue, besteht‹ ist ein übermäßig redundanter Ausdruck für die Aussage ›Ich tue dies mit einer Absicht oder absichtlich‹.« (St. Hampshire, Thought and Action, S. 102 [Übers. T. K.])

Hampshires Argument besagt offenbar, daß die Zuschreibung einer Absicht zugleich die Zuschreibung eines Wissens ist, daß nämlich der Beabsichtigende zugleich weiß, was er tut. Und wenn er weiß, was er tut, dann weiß er zugleich, daß er es beabsichtigt. Daher, so läßt sich das Argument ergänzen, muß derjenige, der etwas tut, seine Absicht kennen. 10 Die Konsequenz dieses Arguments lautet, daß es keine unbewußten Absichten geben kann, und daß die Entdeckungen, von denen der simple Intentionalismus spricht, ein Ding der Unmöglichkeit sind. 11 den; das entsprechende Symptom ist immer nur in verkleideter Form Erfüllung des angenommenen unbewußten Wunsches. 10 Es ist notwendig wahr, so sagt Hampshire auch, daß ein Mensch, der bei Bewußtsein ist, danach gefragt werden kann, was er tut, und daß er diese Frage dann beantworten kann, indem er auf eine Handlungsbeschreibung zurückgreift. (Vgl. St. Hampshire (Thought), S. 93) Vgl. auch ders.: »… wenn ich etwas zu tun beabsichtige, dann weiß ich unfehlbar, was ich zu tun beabsichtige …« (St. Hampshire (Thought), S. 120 [Übers. u. Hervorheb. T. K.]) 11 In aller Klarheit ist dies von F. A. Siegler geäußert worden, der den Begriff der unbewußten Absicht für in sich widersprüchlich hält. (Vgl. F. A. Siegler (Intentions)) Hampshire selbst scheint zu zögern: Dort wo er unbewußte Absichten im psychoanalytischen Sinne bespricht, unterscheidet er zwischen »unbewußten Plänen (purposes)« und »unbewußten Absichten (intentions)«. Es bestehe kein Widerspruch oder keine begriffliche Verwirrung im Begriff des »unbewußten Plans«, Verwirrung entstehe nur bei der Abtrennung von Absicht und Bewußtsein. (Vgl. St. Hampshire (Thought), S. 133) A

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Dies kritische Fazit läßt sich vielleicht in der folgenden Weise noch einmal verdeutlichen: In der Psychoanalyse wird z. B. neurotisches Verhalten so erklärt, als ob jemand mit diesem Verhalten die Ausführung einer bestimmten Absicht anstreben würde. Doch dies ist ein Bild. Tatsächlich führt der Neurotiker eine unbewußte Absicht aus. Und es ist eine Überinterpretation des angebotenen Bildes, unbewußte Absichten als eine Spezies von Absichten zu verstehen, so wie dies der simple Intentionalist tut. Ein interessanter Verteidigungsversuch des simplen Intentionalismus stammt von Ilham Dilman: Was würden wir im Falle des folgenden Beispiels sagen: Eine Frau bittet ihren Mann, ihr aus dem Schlafzimmer eine Schere zu bringen. Er geht, kramt in der Schublade, ist aber nicht recht bei der Sache, und erinnert sich erst, als er die Schere erblickt, daran, was er im Schlafzimmer tun wollte, und an seine Absicht, die Bitte seiner Frau zu erfüllen. Und nun lautet Dilmans Frage: Würden wir in diesem Fall nicht doch sagen, daß der Mann dabei sei, die Bitte seiner Frau zu erfüllen, also eine Handlung zu vollziehen, also eine Absicht auszuführen, obwohl ihm diese Absicht nicht gegenwärtig ist, er sie vielleicht auf Nachfrage hin gar nicht hätte angeben können? Zeigt also dies Beispiel nicht, daß es doch unbewußte Absichten gibt, bzw. daß die Bewußtheit der Absicht, so wie wir den Begriff gebrauchen, eben nicht mit zu den Merkmalen dieses Begriffs gehört? Dilman vergleicht diesen Fall mit dem des posthypnotischen Befehls: Können wir nicht auch dort sagen, der Hypnotisierte befolge einen Befehl, und ihm damit die Absicht zu seinem Tun zuschreiben, obwohl er sich zum Zeitpunkt der Handlung nicht an die Worte des Hypnotiseurs erinnert und sich selbst nicht als jemanden betrachtet, der einen Befehl befolgt? (Vgl. I. Dilman (Freud), S. 70 ff.)

Die These des simplen Intentionalismus beinhaltet die weitere, daß derjenige, der eine unbewußte Absicht ausführt, handelt. Sonst wäre sein Verhalten nicht durch einen praktischen Schluß erklärbar. Kritisiert man nun (mit Siegler) den Begriff einer unbewußten Absicht als widersprüchlich, dann setzt die Kritik genau dies voraus: Denn der aufgedeckte Widerspruch lautet, daß die Absicht einerseits unbekannt sein soll, und andererseits bewußt, weil die Handlungsbehauptung gerade besagt, daß jemand eine ihm bekannte Absicht verfolgt. Gegen Siegler hat R. K. Shope darauf verwiesen, daß Freud gerade nicht davon ausgeht, daß die Ausführung unbewußter Absichten absichtlich sei. (Vgl. R. K. Shope (Freud), S. 149 f.).

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Doch Dilmans Verteidigungsversuch mißlingt, da er beide Beispiele m. E. falsch analysiert. Seine Argumente dafür, beide Male von einem Handeln zu sprechen, obwohl keine Kenntnis der Absicht besteht, lauten, beide Male gebe es zumindest eine Erinnerung an die Absicht in einem bestimmten Sinne, bei dem Hypnotisierten, wenn er erneut in Hypnose versetzt wird, und bei dem Ehemann, beim Anblick der Schere; und es gebe ein praktisches Wissen im Sinne eines Wissens um das, was der Handelnde tut, welches darin zum Ausdruck komme, daß er es tut. Doch würden wir aufgrund dieser so bestimmten Kriterien wirklich darauf schließen, der Betreffende führe eine Handlung aus, handle, um eine Absicht zu verwirklichen? Würden wir nicht vielmehr im Falle des posthypnotischen Befehls sagen, der Hypnotisierte führe nicht einen Befehl aus, sondern folge einem posthypnotischen Befehl? Und daß das, was diesem Geschehen vorausgehe, nicht die Bildung einer Absicht sei, sondern das Wirken eines bestimmten kausalen Mechanismus, zu dem auch die Hypnose, das Versetzen in einen entsprechenden Zustand, gehört. Wir unterstellen Mario in Thomas Manns Novelle nicht die Absicht, den Zauberer zu küssen, sondern stellen fest, daß diese Absicht all seinem Wollen zuwider ist, mit den bekannten Konsequenzen. Im Fall des Ehemanns würden wir nicht sagen, dieser habe sich in einem bestimmten Sinne seiner Absicht erinnert, wie sich an seinem Kramen in der Schublade zeigt. Wir würden vielmehr sagen, er habe zunächst die Absicht gebildet, die Bitte seiner Frau zu erfüllen, doch diese dann vergessen und sich ihrer erst wieder beim Anblick der Schere erinnert. Hingegen ist der Gang ins Schlafzimmer, das Öffnen der Schublade, das Kramen, unbeabsichtigte Wirkung der Absicht, die bestanden hatte, und die jetzt vergessen ist, nicht aber deren Ausführung – obwohl die Absicht bestanden hat und obwohl deren Ausführung gerade in dem bestehen würde, was der Mann tut. Es bleibt also zunächst bei der Kritik des simplen Intentionalismus, daß es keine Entdeckung unbewußter Absichten geben kann, weil die eigene Absicht notwendig bekannt ist. Dennoch macht Dilman auf einen wichtigen Tatbestand aufmerksam. Wenn er zu bedenken gibt, ob wir nicht doch in einem bestimmten Sinne von unbewußten Absichten sprechen können, indem wir etwa einem bestimmten Kriterium, z. B. der Erinnerungsfähigkeit, mehr Gewicht zugestehen usf., dann zeigt er, daß wir es beim Streit um die Möglichkeit unbewußter Absichten mit der Frage A

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nach der Zulässigkeit der bestimmten Anwendung eines Begriffs zu tun haben. 12 Doch dann greift er zu kurz, wenn er zeigen will, daß unsere gewöhnliche Verwendung von »Absicht« unbewußte Absichten mit umfasse. An den von ihm selbst ausgewählten Beispielen läßt sich zeigen, daß dies nicht der Fall ist. Es eröffnet sich jetzt freilich eine andere Möglichkeit: Natürlich steht der Neueinführung eines Begriffs »unbewußte Absicht« nichts im Wege. Die Sachlage läßt sich vielleicht in Analogie zu einigen Überlegungen Wittgensteins zum Begriff eines »unbewußten Gedankens« klären: »Es ist … wahr, daß wir unwiderstehlich von einer Bezeichnung angezogen oder abgestoßen werden können. … Die Idee, daß es unbewußte Gedanken gäbe, hat viele Leute empört. Andere wiederum haben gesagt, daß diese sich in der Annahme irrten, daß es nur bewußte Gedanken geben könne, und daß die Psychoanalyse unbewußte Gedanken entdeckt hat. Die Psychoanalytiker andererseits haben sich von ihrer eigenen Ausdrucksweise zu dem Gedanken verleiten lassen, daß sie mehr getan haben, als neue psychologische Reaktionen zu entdecken; daß sie sozusagen bewußte Gedanken, die unbewußt waren, entdeckt haben. Die ersteren hätten ihren Einwand folgendermaßen formulieren können: ›Wir wollen den Ausdruck »unbewußte Gedanken« nicht gebrauchen; wir wollen das Wort »Gedanke« auf das, was ihr »bewußte Gedanken« nennt, beschränken.‹ Sie vertreten ihren Standpunkt falsch, wenn sie sagen: »Es kann nur bewußte und keine unbewußten Gedanken geben.« Denn wenn sie von unbewußten Gedanken nicht sprechen wollen, dann sollten sie auch den Ausdruck »bewußte Gedanken« nicht gebrauchen.« (L. Wittgenstein, Das Blaue Buch, S. 93) 13

Was bei Wittgensteins Betrachtung deutlich wird, ist, daß die Verwendung einer Bezeichnung in einer Hinsicht willkürlich ist; nicht im Hinblick auf die im Sprachgebrauch vorgegebene Verwendung; deren Beschreibung unterliegt sehr wohl den Bedingungen, die der Gebrauch setzt; aber im Hinblick darauf, ob wir uns an den bestehenden Gebrauch halten wollen oder nicht. Es ist uns freigestellt, eine neue Definition, einen anderen Gebrauch vorzuschlagen. Sofern wir In unklarer Weise hatte dies auch schon Flew gesehen, wenn er einerseits von der Erweiterung des Begriffs der Absicht sprach und andererseits von der Entdeckung bisher unbekannter Absichten, so als ob der ursprüngliche Begriff schon unbekannte Absichten enthalten würde und nur deren Existenz noch unklar sei. (Vgl. oben, S. 196 f.) 13 Wittgensteins Philosophie der Psychoanalyse wurde im Zusammenhang erstmals von J. Bouveresse dargestellt. (Vgl. ders. (Wittgenstein)) 12

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mit unserem Vorschlag Gehör finden, sollten wir uns allerdings darüber im klaren sein, daß mit einer neuen Bezeichnung allein noch nichts gewonnen ist, daß dieser erst noch Bedeutung verliehen werden muß. Hätte Dilman mit seiner Beschreibung des bestehenden Sprachgebrauchs recht gehabt, dann hätten wir tatsächlich immer schon Absichten gekannt, von denen der Handelnde nichts weiß (und die Psychoanalyse hätte diesen noch einige weitere hinzugefügt). Doch diese Beschreibung ist falsch, vielmehr stellt der Ausdruck »unbewußte Absicht« den Vorschlag zu einer sprachlichen Neuerung dar. Dann ist aber noch ganz unklar, worin genau der Vorschlag über die Bezeichnung hinaus bestehen soll, dies ist noch erläuterungsbedürftig – der Begriff erscheint uns nur als vertraut, weil wir den anderen, den der bewußten Absicht, kennen, der ihm nahezustehen scheint. Mit der Redeweise von unbewußten Absichten zeigt also die Psychoanalyse nicht die Neuentdeckung einer bisher unbekannten Region der Seele an, sie führt nur eine neue Form der Darstellung ein. Und dieser neuen Form der Darstellung muß erst noch Bedeutung gegeben werden, obwohl, oder vielleicht gerade weil wir glauben, sie schon zu verstehen. Eine derartige Einführung neuer Begriffe zu Erklärungszwecken ist aus dem Bereich der Naturwissenschaften wohl bekannt, nämlich die der Annahme bestimmter theoretischer Entitäten. (Und der kognitive Status solcher Annahmen ist nicht erst seit der Diskussion der fundamenta calculi der heliozentrischen Hypothese in der wissenschaftlichen Revolution umstritten.) Im vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist aber, daß, wenn unbewußte Absichten theoretische Entitäten sind, das eigentliche Mißverständnis des simplen Intentionalismus darin besteht, daß er eine theoretische Konstruktion mit einer empirischen Entdeckung verwechselt. Der simple Intentionalist irrt nicht einfach darin, daß er behauptet, es sei etwas entdeckt worden, wo dies nicht der Fall war, sondern darin, daß hier von geglückter oder mißglückter Entdeckung nicht die Rede sein kann, er begeht, in anderen Worten, einen kategorialen Fehler. Weitere Belege für den Status unbewußter Absichten als theoretischer Konstrukte werden im folgenden Abschnitt vorgelegt werden. Man betrachte noch einmal die Ergebnisse der Diskussion dieser Version des Intentionalismus: Der simple psychoanalytische Intentionalismus nimmt an, daß psychoanalytische Erklärungen praktiA

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sche Schlüsse sind, die bestimmte Handlungen aus unbewußten Absichten erklären. Die Kritik dieser Auffassung lautet, daß unbewußte Absichten nicht ausführbar, daß sie ein Ding der Unmöglichkeit sind, daß ein Mensch vielmehr immer sagen kann, was er tut, und daß dies darauf hinausläuft, daß seine Absichten immer bewußt sind. Im Lichte der Betrachtung Dilmans wird hieraus die Frage, ob zu den Begriffsmerkmalen des Absichtsbegriffs, so wie wir diesen üblicherweise verwenden, Bewußtheit gehört, und ob nicht daher eine Entdeckung unbewußter Absichten von vornherein ausgeschlossen ist. Wir haben es also in dieser Diskussion nicht, wie der simple Intentionalismus vermeinte, mit einer Tatsachenfrage zu tun, sondern mit einer Frage der sprachlichen Darstellung. Der Versuch einer Verteidigung, die zeigen will, daß wir manchmal doch von absichtlichem Handeln sprechen, wenn dem Handelnden keine Absicht bewußt ist, z. B. beim Befolgen eines posthypnotischen Befehls, scheitert, wie sich an der fehlerhaften Analyse derjenigen Beispiele zeigt, die von der Verteidigung ins Feld geführt werden. Die Grundschwierigkeit des simplen Intentionalismus besteht also darin, daß man sich unbekannte Wünsche nicht erfüllen, daß man unbewußte Absichten nicht ausführen kann, sofern man diese Begriffe – Absicht, Wunsch – in ihrem gewöhnlichen Verständnis nimmt.

5.3 Unbewußtes und Selbsttäuschung Die These des simplen psychoanalytischen Intentionalismus – Psychoanalyse erklärt durch den Rückgriff auf die Wünsche (oder Absichten), die in dem zu erklärenden Verhalten zum Ausdruck kommen – beschreibt sicher nicht die zumeist vertretene hermeneutische Auffassung vom Status der psychoanalytischen Erklärung. Der hermeneutische received view versucht vielmehr, die intentionalistische Grundschwierigkeit zu umgehen, und zwar indem er die Unbekanntheit des Wunsches oder der Absicht ins Explanandum der Erklärung mit aufnimmt. Zu erklären ist dann, warum sich jemand so verhält, als ob er den Wunsch xyz hätte, ohne von diesem Wunsch zu wissen. (Daß er nichts von ihm weiß, zeigt sich, bestimmten Kriterien entsprechend, z. B. aus der unzureichenden Begründung des Verhaltens durch eine Rationalisierung.) Und dies komplexe Explanandum wird nun erstens dadurch erklärt, daß der Betreffende den Wunsch hat, 206

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und daß er ihn zweitens nicht kennt, weil er sich über dessen Bestehen hinwegtäuscht. Man mache sich diesen Typ noch einmal am Beispiel klar: Warum läuft Freuds Patientin immer wieder ins Nachbarzimmer, stellt sich neben den Tisch, läutet nach dem Stubenmädchen und schickt dieses dann mit einem belanglosen Auftrag wieder fort? Es erscheint so, als ob sie dort etwas vorführen wollte, doch davon weiß sie nichts, vielmehr begründet sie ihr Tun mit der Erteilung des Auftrags, einer Begründung freilich, die offensichtlich fadenscheinig ist. Hier lautet die psychoanalytische Erklärung im Sinne des received view, daß die Patientin einen unbewußten Wunsch hat, der in ihrem Verhalten zum Ausdruck kommt, und über den sie sich selbst täuscht. Die Hauptthese dieser zweiten Version des Intentionalismus lautet also, daß Psychoanalyse bestimmte Formen des Verhaltens typisch durch Selbsttäuschung erklärt; und die Subsumption dieser Auffassung unter den psychoanalytischen Intentionalismus stammt nicht, wie im simplen Intentionalismus, von jenem unbewußten Wunsch her, der im Verhalten zum Ausdruck kommt; von Intentionalismus ist hier vielmehr wegen der Absicht zur Selbsttäuschung die Rede. Im folgenden soll diese Version als elaborierter psychoanalytischer Intentionalismus bezeichnet werden. 14 Der elaborierte psychoanalytische Intentionalismus verbindet sich mit einem ganz bestimmten Verständnis vom psychoanalytischen Unbewußten. Daß einem Menschen etwas unbewußt ist, heißt in diesem Verständnis nicht, daß er es nicht weiß, sondern daß er es auf andere Weise weiß. Die Psychoanalyse ist dann die Methode der Wahl, dem Betreffenden den Zugriff auf sein unbewußtes Wissen möglich zu machen oder ihn zum Geständnis dessen zu bewegen, was er ja eigentlich doch weiß. Die These vom Unbewußten als einem unbewußten Wissen ist unmittelbare Konsequenz des elaborierten Intentionalismus. Denn wenn der, dessen Verhalten erklärt werden soll, sich selbst täuscht, dann weiß er dies, er kann es sagen, zugeben, und damit auch den Inhalt seiner Selbsttäuschung; er kann gestehen. daß er diesen Neben Th. Mischel und Sartre ist auch D. Davidson ein Vertreter des elaborierten Intentionalismus (vgl. oben, 2.3); gleiches gilt, wie sich noch zeigen wird, für J. Habermas (vgl. unten, 5.4). Man findet die These auch bei H. Fingarette (Self-Deception), Kap. 6; D. Hamlyn (Intentions), S. 18; R. Schafer (Language), S. 234–245; E. Erwin (Psychoanalysis), S. 228 ff.

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Wunsch hatte, und daß er sich über diese Tatsache immer nur selbst getäuscht hatte. Dies ist schon bei Sartre ganz eindeutig das Fazit seiner Überlegungen zur mauvaise foi, und er zitiert zustimmend Wilhelm Stekel, der gegen das Unbewußte einwendet, daß er bei der weiblichen Frigidität jedesmal, wenn es ihm gelungen sei, seine Untersuchungen weit genug voranzutreiben, festgestellt habe, daß der Kern der Psychose bewußt sei. Die Ursache der Frigidität sei kein unbewußtes Geschehen, sondern schlicht »pathologische Unaufrichtigkeit (mauvaise foi): ›(…) Diese pathologisch frigiden Frauen bemühen sich, sich im voraus von der Lust abzulenken, die sie fürchten: Viele lenken z. B. ihre Gedanken während des Geschlechtsakts auf ihre täglichen Beschäftigungen ab, überschlagen ihr Wirtschaftsgeld. Wer würde hier von Unbewußtem sprechen?‹« (Vgl. J. P. Sartre (Sein), S. 131) Man betrachte auch die folgenden Überlegungen Th. Mischels, eines Hauptproponenten des received view, zu Freuds zwangsneurotischer Patientin: »Und wenn der Analytiker sich daran macht, dem Patienten ein »unbewußtes Motiv« zuzuschreiben, dann wird, falls die Deutung richtig ist, erwartet, daß der Patient zumindest im Idealfall ihr schließlich zustimmt, obwohl die Verneinung des Motivs durch den Patienten die Deutung durch den Analytiker nicht entwertet. … Wenn Freuds Patientin schließlich zugibt, daß dies das Motiv für ihre zwanghaften Handlungen war, stimmt sie dann theoretischen Überlegungen zu, die zeigen, daß dies die »bewegende Kraft« war, die ihr Verhalten verursachte? Selbstverständlich ist sie dazu nicht in der Lage. Aber sie und nur sie kann schließlich zugeben, daß dies tatsächlich der »Grund« für ihre eigenartigen Handlungen war.« (Th. Mischel, »Psychologie und Erklärungen menschlichen Verhaltens«, S. 25)

Und an anderer Stelle über einen anderen Patienten Freuds, den sogenannten »Rattenmann«: »Deshalb sind andere unter Umständen besser als Lorenz in der Lage, die Feindseligkeit zu erkennen, von der er selbst nichts wissen will. Obgleich Lorenz seine eigenen Gefühle in einer Weise erkennen kann, die anderen nicht offensteht, heißt dies nicht, daß er sich nicht über sie täuschen kann oder daß es sinnlos ist, anzunehmen, er könnte – vielleicht mit Hilfe anderer – herausfinden, welcher Natur seine Gefühle und Intentionen tatsächlich sind. Wenn andere genug über Lorenz wissen, über seine Denkweise, seine Gefühle und sein Verhalten in unterschiedlichen Kontexten, können sie vielleicht mit Recht sagen, er müsse irgendwie genau wissen, daß er seinen Vater haßt. Sein ehrlich gemeintes Leugnen zeige nur, daß er sich über seine wirk-

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lichen Gefühle täusche. Der Begriff der Selbsttäuschung ist schließlich kein theoretisches Konstrukt, das von der Psychoanalyse zuerst eingeführt wurde. Es läßt sich nur schwer vorstellen, daß alle diejenigen, die sich bei der Erklärung menschlichen Verhaltens vor und nach Augustinus auf diesen Begriff bezogen haben, Unsinn geredet haben sollten. Wenn wir solche Interpretationen vorbringen, erwarten wir natürlich unter anderem, daß die Person letztlich selbst erkennen und zugeben wird, daß sie die genannten Dinge wirklich empfand oder beabsichtigte. Aber solch Eingeständnis unter idealen Bedingungen, d. h. wenn alle Widerstände überwunden wurden usw. ist Teil dessen, was Psychoanalytiker unter einer »richtigen Interpretation« verstehen.« 15 (Th. Mischel, »Zum Verständnis neurotischen Verhaltens: Vom ›Mechanismus‹ zur ›Intentionalität‹«, S. 206).

An der These vom eigenartigen, unbewußten Wissen des Neurotikers zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit die Hauptschwäche des elaborierten Intentionalismus: Aus der These von der Selbsttäuschung des Neurotikers folgt, daß diesem die Gründe seines Handelns letztlich bewußt sind, daß er sie letztlich zugeben kann, wenn man ihm nur entsprechend zusetzt. Wenn er sich selbst täuscht, dann vollzieht er eine Handlung, dann verfolgt er eine Absicht zur Selbsttäuschung; also weiß er eigentlich, was er sich wünscht; also kann er es sagen. Doch dies heißt, die eigentliche psychoanalytische These zu leugnen. Denn diese besagt ja, daß der Betreffende, der Neurotiker, seinen Wunsch nicht kennt, daß er ihm unbewußt ist, daß er ihn eben nicht zugeben kann. Ein unbewußter Wunsch ist eben kein Wunsch, so könnte man sagen. 16 Wie Flew spricht auch Mischel vom Kontinuum, das bei der neurotischen Abwehr endet. Es ist ein allgemeines Kennzeichen des Intentionalismus, für die Auffassung, daß es in der Psychoanalyse um eine Erweiterung der uns bisher bekannten Gründe geht, daß eine sehr wohl bestehende scharfe Grenze immer übersehen wird, nämlich diejenige der Einführung der psychoanalytischen Theorie bzw. theoretischer Entitäten. Es gibt also in diesem Kontinuum einen Bruch. Man könnte auch sagen, daß der Sinn des Intentionalismus für theoretisches Denken nur schwach entwickelt ist. 16 Eine grundsätzliche Kritik des hermeneutischen received view stammt von M. Eagle, der erstens bemerkt, Verdrängung könne nicht Selbsttäuschung sein, weil sie dem Betreffenden widerfährt, und also keine Handlung ist wie die Selbsttäuschung. (Vgl. M. Eagle (Psychoanalysis), S. 81 ff.). Zweitens, und besonders gegen Mischel, bemerkt er, daß mit der »Geständnisthese« ein falsches Bild von der Überprüfung psychoanalytischer Thesen geliefert werde: Derjenige, dem ein unbewußter Wunsch zugeschrieben wird, habe zu diesem Wunsch keinen privilegierten Zugang. (Vgl. M. Eagle (Validation), S. 266) Und selbst wenn jemand der Selbsttäuschung unterliegt, gestehen wir zu, daß ein anderer in einer besseren Position sein könnte, um dies zu erkennen (Vgl. das., S. 271). 15

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Freud selbst hat genau zwischen Selbsttäuschung und Unbewußtem unterschieden: Man erinnere sich an die oben gegebenen Kennzeichen der Selbsttäuschung. Das erste lautete, daß die Zuschreibung der Selbsttäuschung durch andere erfolgt, das zweite, daß auch die Selbstzuschreibung möglich sei, dann aber post hoc. Es ist eben dies zweite Kennzeichen, die Möglichkeit der Selbstzuschreibung – daß ich zugeben kann, mich selbst getäuscht zu haben, z. B. wenn mich jemand darauf anspricht – welches auch in die psychoanalytische Begrifflichkeit mit eingeht. Allerdings koinzidiert diese Kennzeichnung mit derjenigen der »Bewußtseinsfähigkeit« des sog. Vorbewußten in Freuds Traumdeutung; das Unbewußte hingegen ist »bewußtseinsunfähig«. 17 Demnach wäre also das Vorbewußte, wie die Selbsttäuschung, bewußtseinsfähig und könnte bei gegebenem Anlaß eingestanden werden. Hingegen ist das Unbewußte bewußtseinsunfähig und stimmt daher, diesem Kriterium folgend, nicht mit Selbsttäuschung überein. Diesem Schluß scheint ein anderes Kennzeichen des Systems von Bewußtem und Unbewußtem zu widersprechen 18 , und zwar, daß Freud, erstmals in der Traumdeutung, und später dann noch einmal in prägnanter Weise in den metapsychologischen Schriften, von einer »neuen«, einer »zweiten« Zensur spricht. Bei der ersten Zensur handelt es sich um die bereits bekannte, die den Zugang zwischen Die These vom Validierungsprivileg desjenigen, von dem eine psychoanalytische Erklärung gelten soll, hat auch Habermas vertreten. (Vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 318); Grünbaum verfährt mit Habermas ebenso wie mit Merton: Das von Habermas in einer petitio principii postulierte Validierungsmonopol lasse sich auch für eine entsprechende medizinische und dann für eine allgemein physikalische Situation rekonstruieren, und könne daher nicht für einen Sonderstatus der Psychoanalyse in Anspruch genommen werden. (Vgl. unten, S. 219 f. und Fußnote 23; vgl. für die Argumente gegenüber Merton: unten, S. 256; s. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 43 ff.) 17 Vgl. S. Freud (Traumdeutung), S. 582 und 585; die Termini stammen aus Joseph Breuers Beitrag zu den mit Freud 1895 gemeinsam publizierten Studien über Hysterie, wo Breuer, unabhängig von einer Systematisierung, zwischen bewußtseinsfähigen und bewußtseinsunfähigen Vorstellungen unterscheidet. (Er bildet den Terminus, wie er in einer Fußnote bemerkt, in Analogie zu dem der »Hoffähigkeit«.) Vgl. J. Breuer/S. Freud (Studien), S. 197. 18 Ebenfalls als Widerspruch erscheint die Zurechnung des Vorbewußten zum Unbewußten, so wie von Freud in der Traumdeutung noch vorgenommen. Doch Freud korrigiert diese Zuordnung später und rechnet dann das Vorbewußte dem Bewußten zu, oder, anders gesagt: Die eigentliche und »strenge Zensur waltet am Übergang vom Unbewußten zum Vorbewußten (oder Bewußten) ihres Amtes«. (Vgl. S. Freud (Das Unbewußte), S. 132)

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Unbewußtem und Bewußtsein überwacht. Doch nun führt Freud mit der zweiten Zensur auch eine kontrollierende Instanz zwischen Vorbewußtem und Bewußtem ein. (Vgl. S. Freud (Traumdeutung), S. 582; vgl. ders. (Das Unbewußte), S. 150/152) Demnach wären auch die Inhalte des Vorbewußten, wäre auch Selbsttäuschung bewußtseinsunfähig. Dieser Widerspruch ist jedoch vordergründig: Das Vorbewußte ist seinen Inhalten nach heterogen; einen Teil bezeichnet Freud als unmittelbar, ohne Einschaltung der Zensur, bewußtseinsfähig; der andere Teil gehöre zwar qualitativ zum System Vorbewußtes, er bestehe jedoch aus »Abkömmlingen des Unbewußten«, und sei daher »faktisch dem Unbewußten« zuzurechnen. (Vgl. S. Freud (Das Unbewußte), S. 149) Anstatt von zwei Zensuren könnte man also auch von der einen sprechen, die sich immer gegen das Unbewußte richtet, auch dann, wenn sich dies, in anderer Gestalt, als »Abkömmling« im System Vorbewußtes vorfindet. So als ob die eine Zensur, wie Freud sagt, »sich im Laufe der individuellen Entwicklung um ein Stück vorgeschoben habe« (S. Freud (Das Unbewußte), S. 152). Was heißt es dann aber, einen solchen »Abkömmling des Unbewußten« im Vorbewußten anzusiedeln? Eins der von Freud genannten Beispiele für solche Abkömmlinge sind die neurotischen Symptome. (Vgl. S. Freud (Verdrängung), S. 110 ff.) Man betrachte das hysterische Symptom der Konversion, etwa im Falle von Freuds Patientin Dora: Der unbewußte Wunsch Doras nach gewissen oralen Sexualpraktiken äußert sich in einem Hüsteln, setzt sich also in ein körperliches Symptom um. In dieser Form, als Symptom, ist das Unbewußte nun natürlich »hoffähig«, bewußtseinsfähig oder bewußt, und als solches z. B. Gegenstand der besorgten Bemühungen von Doras Vater um die Gesundheit seiner Tochter. Doch daß das Symptom ein Abkömmling dieses unbewußten Wunsches ist, verfällt der Zensur. Es gibt also keine Zensur des eigentlich Vorbewußten, es bleibt bei dessen Bewußtseinsfähigkeit; und damit bleibt es auch bei der Schlußfolgerung, daß Erklärungen aufgrund unbewußter Absichten nicht Erklärungen durch eine Selbsttäuschung des Handelnden sind bzw. daß die Interpretation psychoanalytischer Erklärungen als solcher aufgrund von Selbsttäuschungen das Unbewußte gerade leugnen. 19 Das weite Feld der Psychopathologie des Alltags ist reich bestellt mit Beispielen von Selbsttäuschung, die demnach durch Rückgriff auf Vorbewußtes zu erklären sind. Und

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Das Gesagte wird vielleicht deutlicher bei der Betrachtung einer Passage aus Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, wo er sich noch einmal dem Thema der Fehlleistungen zuwendet. Er unterscheidet dort drei Gruppen von Versprechern: Eine erste, in der der Sprecher sich eigentlich bewußt entschlossen hatte, einem Wunsch nicht nachzugeben (z. B. jemanden zu beschimpfen); eine zweite, in der dieser Wunsch zwar bestand, aber nicht unmittelbar vor dem Versprecher, mit dem er erfüllt wird; eine dritte, wo dieser Wunsch überhaupt nicht als eigener erkannt wird. Und für diese dritte Gruppe nimmt Freud nun an, auch hier habe der Wunsch einmal irgendwann, vielleicht vor langer Zeit, bestanden. 20 Er betrachtet also die drei Gruppen insofern als ähnlich, als in jedem Fall ein Wunsch »zurückgedrängt« wird, wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Doch dem soeben Gesagten zufolge gibt es in der Reihung der drei Gruppen eine Bruchstelle: Denn die Motive sind in den beiden ersten Gruppen bewußtseinsfähig, in der dritten jedoch nicht. In den beiden ersten Gruppen kann der Wunsch von dem betreffenden Sprecher erfragt werden, in der dritten Gruppe hingegen ist er eine Annahme. Während in den beiden ersten Gruppen die Erklärung auf eine Selbsttäuschung des Sprechers rekurriert, die dieser einräumen kann, wird der Sprecher in der dritten Gruppe als jemand behandelt, der sich so verhält, als ob er sich selbst täusche. Auch im Falle des elaborierten Intentionalismus spielt, so könnte man jetzt sagen, die Überinterpretation eines Bildes eine Rolle. Das Verhalten des Neurotikers wird erklärt, als ob dieser sich über Freud hebt daher in seiner entsprechenden Schrift deutlich hervor, daß nur solche Fälle von Versprechen, Verlesen, Vergessen wirklich psychoanalytisch erklärt werden, von deren »Motivierung (wir) nichts in uns verspüren«, deren Motiv wir also nicht sofort angeben können. (Vgl. S. Freud (Psychopathologie), S. 189) Im Anschluß an Timpanaro unterstreicht auch A. Grünbaum die Exklusion bewußtseinsfähiger Fehlleistungen aus der Domäne der psychoanalytischen Explikanda. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 325 ff.) 20 (Vgl. S. Freud (Vorlesungen), S. 83 ff.; in der beschriebenen Passage spricht Freud von störenden »Intentionen« und »Tendenzen«.) In einer kurz zuvor veröffentlichten Schrift zur Behandlungstechnik findet sich ein ganz ähnlicher Passus zum Thema Erinnern, in dem Freud Erinnertes von dem unterscheidet, »was nie ›vergessen‹ werden konnte, weil es zu keiner Zeit bemerkt wurde, niemals bewußt war«, und gegenüber frühen Erlebnissen, die erst nachträglich verstanden, meist nicht erinnert werden, zu deren Annahme man sich jedoch »durch die zwingendsten Motive aus dem Gefüge der Neurose genötigt« sieht. (Vgl. S. Freud (Erinnern), S. 208 f.)

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einen Wunsch selbst täusche, so wie dies im Falle rezenter, bewußtseinsfähiger Wünsche tatsächlich auch war. Doch es ist ein Mißverständnis, auch das neurotische Verhalten als Produkt der Selbsttäuschung zu verstehen. Denn im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Gruppen gibt es im dritten Falle nichts Bewußtseinsfähiges und daher auch kein Eingeständnis. Was beim Übergang von den ersten beiden, alltagspsychologischen Gruppen zu der dritten geschieht, ist gerade die Einführung der psychoanalytischen Theorie. Diese Theorie wird eingeführt, indem auf eine theoretische Erklärung zurückgegriffen wird, nämlich auf die Verdrängung aufgrund eines Konflikts. (Diese für die dritte Gruppe spezifische Erklärung wird in Freuds Übersicht nicht diskutiert.) Vielleicht könnte man sagen: Aus Gründen der Didaktik, um die psychoanalytische Theorie als den Umgang mit längst vertrauten Phänomenen erscheinen zu lassen, verschleiert Freud in einem gewissen Ausmaß durch die angegebene Reihung und durch Verwendung eines Bildes, das den ersten beiden Gruppen entnommen ist, die Einführung der Theorie. (Er ist mithin am Zustandekommen des received view nicht ganz unschuldig.) Dennoch macht seine Beschreibung deutlich, daß bei den Fällen der dritten Gruppe etwas Eigenes geschieht, nämlich die Erklärung aufgrund einer theoretischen Annahme. Diese Annahme ist gerade die des Unbewußten, während Erklärungen aufgrund von Vorbewußtem oder von Selbsttäuschungen den ersten beiden Gruppen zugerechnet werden müssen. Demnach ist auch Freud zufolge zwischen Selbsttäuschung und Verdrängung oder Abwehr scharf zu unterscheiden. Und der elaborierte psychoanalytische Intentionalismus muß ebenso als Rekonstruktion der psychoanalytischen Erklärung verworfen werden wie zuvor der simple Intentionalismus: Psychoanalytische Erklärung erfolgt nicht durch einen praktischen Schluß, weder durch Rekurs auf den Wunsch, dessen Erfüllung das zu erklärende Verhalten darstellen würde, noch durch Rückgriff auf die Absicht zur Selbsttäuschung. Das Verhältnis der beiden Versionen des Intentionalismus kann vielleicht als der Disput zweier Kontrahenten betrachtet werden, die den eigentlichen Grund ihrer Auseinandersetzung nicht durchschauen. In diesem Disput bezieht der simple Intentionalist eine realistische Position: Er hält unbewußte Absichten für eine neue Spezies der geläufigen Absichten und meint, die Psychoanalyse habe mit ihnen einen neuen Erfahrungsbereich erschlossen. Demgegenüber stellt sich der elaborierte Intentionalist auf einen antirealistischen StandA

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punkt: Er gesteht zu, daß es Selbsttäuschungen gibt und betrachtet Erklärungen durch unbewußte Absichten als eine Art von Erklärungen durch Selbsttäuschung. Damit vermeidet er die realistische Affirmation eines Fundes solcher Merkwürdigkeiten wie Wünsche, von denen der Wünschende nichts weiß; doch er schießt über das Ziel hinaus – denn die Identifizierung von Unbewußtem und Selbsttäuschung bedeutet die Leugnung unbewußter Wünsche. Realistische Behauptung und antirealistische Negation teilen jedoch die im Falle des simplen Intentionalismus bereits dingfest gemachte Voraussetzung, daß es sich bei unbewußten Wünschen um eine neue Art von Gegenständen handeln würde – nur hält der Antirealist die Klasse dieser Gegenstände für leer. Man könnte auch sagen, in der Hitze des Gefechts kommt ihm eines nicht in den Sinn, daß es sich nämlich bei unbewußten Wünschen oder Absichten um etwas ganz anderes als etwas neuerdings Erfahrbares handeln könnte. Bei der Betrachtung des von Dilman unternommenen Rettungsversuchs des simplen Intentionalismus wurde schon sichtbar, worauf das Mißverständnis am Grunde dieser Kontroverse zurückgeführt werden könnte: Der Realist sucht nach einer Rechtfertigung für die Verwendung des Begriffs einer »unbewußten Absicht«; er findet diese Rechtfertigung in einem Reich neuer Erfahrungen, die der Begriff bezeichnet. Der Antirealist sieht, daß es dieses Reich so nicht gibt, wie das der Realist voraussetzt; doch auch er sucht nach einer Rechtfertigung, und er findet sie in der Selbsttäuschung. Doch wenn der Begriff der unbewußten Absicht Selbsttäuschungen bezeichnet, dann ist seine Bedeutung gegenüber derjenigen verschoben, in welcher er im Rahmen der psychoanalytischen Theorie verwendet wird, gerade so, wie dies auch bei Annahme der realistischen Rechtfertigung der Fall ist. Der Begriff »unbewußte Absicht« bezeichnet weder eine Klasse neu erfahrbarer noch bezeichnet er eine Klasse bereits altbekannter innerer Gegenstände. Tatsächlich bezeichnet er überhaupt nichts, bevor dem neu eingeführten theoretischen Begriff Sinn gegeben ist. Und dies ist das gemeinsame Mißverständnis der Intentionalisten: Als Erfahrungsbegriffe werden theoretische Begriffe mißverstanden; solchen Begriffen wird im Fortschreiten der Forschung Sinn verliehen, sie haben ihn nicht von vorneherein. Natürlich spielen bei ihrer Einführung Bilder eine Rolle, die von heuristischem Wert sein können; solche Bilder wurden oben im Zusammenhang der intentionalistischen Interpretationen erwähnt. Doch ob die neu eingeführten theoretischen Entitäten wirklich von Wert sind, muß sich erst noch, 214

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und das heißt bei der Überprüfung der Theorie herausstellen. Ein Begriff wie »unbewußte Absicht« bezeichnet ein theoretisches Konstrukt; doch die Konstruktion dieser Entität beginnt erst mit seiner Einführung; und ob der betreffende Begriff Bedeutung hat, und welche, dies ist zum Zeitpunkt seiner Einführung noch weitgehend offen. Eines allerdings ist klar, wenn denn unbewußte Absichten theoretische Konstrukte sind: daß es sich dann bei psychoanalytischen Erklärungen um theoretische, und das heißt kausale Erklärungen handelt. Insofern ist dann die Redeweise, jemand handle wegen einer unbewußten Absicht, in einem bestimmten Sinne bloße façon de parler, nämlich als Unterstellung einer bestimmten Art von Absicht; die buchstäbliche Lesart dieser Redeweise besagt, daß der Betreffende wegen einer (noch näher zu bestimmenden) Ursache handelt, die eben als unbewußte Absicht bezeichnet wird. So wie die Evolutionstheorie Darwins kann also vielleicht auch die Psychoanalyse als ein theoretischer Mechanismus verstanden werden, der intentionalistische Verhaltensbeschreibungen in kausalistische überführt. Den Ausgangspunkt der Untersuchung der elaborierten Version des Intentionalismus bildeten die oben angestellten Überlegungen zur Selbsttäuschung. Besonders gegen Davidson wurde dort daran festgehalten, daß Selbsttäuschung nicht eine widerfahrende Täuschung, ein Irrtum ist, sondern eine absichtliche Handlung. (Vgl. oben, 2.3) Nun ist Verhalten aufgrund einer Täuschung kausal verursacht. Ist jedoch die Selbsttäuschung keine widerfahrende Täuschung, dann muß das entsprechende Verhalten auch nicht kausal verursacht sein. Z. B. ist das Verhalten der Vp im gelungenen psychologischen Experiment kausal erklärbar. Hingegen gehen wir nicht in dieser Weise mit dem Selbsttäuscher um, vielmehr drängen wir ihn, sich sein Wissen einzugestehen, und wir machen ihn für sein Tun verantwortlich, wir setzen ihm zu, sich (und uns) die Gründe für sein Verhalten offenzulegen. Das Verhalten desjenigen, mit dem wir so verfahren, wird nicht, wie bei einer Täuschung, durch eine Kausalerklärung, sondern vielmehr durch einen praktischen Schluß erklärt, der ja gerade auf die Handlungsgründe abhebt. Betrachtet man nun irrtümlich die Selbsttäuschung doch als widerfahrende Täuschung (und sei es auch als selbstinduzierte), dann führt dies noch einmal zu eigenen Problemen für das Verständnis der psychoanalytischen Erklärung. Es wurden bereits Gründe dafür geliefert, warum psychoanalytische Erklärungen ganz allgemein nicht durch den Rückgriff auf Selbsttäuschung erfolgen: Von demjeA

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nigen, dessen Verhalten durch einen unbewußten Wunsch erklärt wird, ist das für eine Selbsttäuschung konstitutive Geständnis nicht zu haben. Im folgenden soll belegt werden, daß hinzukommende, besondere Gründe noch einmal gegen die Erklärung durch Selbsttäuschung als psychoanalytische Erklärung sprechen, wenn man die Erklärung durch Selbsttäuschung nach Art der Erklärung durch eine widerfahrende Täuschung und das heißt als Kausalerklärung auffaßt. Eine solche Auffassung wurde besonders durch Jürgen Habermas in Erkenntnis und Interesse vertreten.

5.4 Selbsttäuschung als Kausalerklärung Oben war Jürgen Habermas als einer der Vertreter des received view in der Philosophie der Psychoanalyse mit aufgeführt worden, als Proponent der Auffassung, psychoanalytische Erklärungen seien motivationale Erklärungen, in denen auf Selbsttäuschung zurückgegriffen wird. Und es ist richtig, daß Habermas, wie Sartre, keinen Zweifel daran läßt, daß er psychoanalytische Erklärungen für Erklärungen durch Selbsttäuschung hält: »Die psychoanalytische Deutung befaßt sich nun mit solchen Symbolzusammenhängen, in denen ein Subjekt sich über sich selbst täuscht. Die Tiefenhermeneutik, die Freud der philologischen Diltheys entgegensetzt, bezieht sich auf Texte, die Selbsttäuschungen des Autors anzeigen.« (J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 267) 21

Demzufolge wären die unbewußten Inhalte dem Subjekt zugänglich, und zwar durch Selbstreflexion; zwar besteht eine Arbeitsteilung zwischen dem Analytiker, der nach Art des Archäologen die Vergangenheit des Patienten rekonstruiert, und dem Patienten, der sich erinnert; doch »erst die Erinnerung des Patienten entscheidet über die Triftigkeit der Konstruktion; wenn sie zutrifft, muß sie auch für den Patienten ein Stück verlorengegangener Lebensgeschichte »wiederbringen«, d. h. eine Selbstreflexion auslösen können«. 22 Vgl. auch J. Habermas (Erkenntnis), S. 268, 285 u. 313 Vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 282; ich lasse hier die von M. Eagle herausgearbeitete Problematik des Primats der Selbstinterpretation des Patienten, die auch Grünbaum gerade im Zusammenhang mit Habermas unterstrichen hat, beiseite. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 44 ff.; vgl. oben, S. 209 und Fußnote 16) Habermas stützt sich

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Doch neben dieser Version des received view bringt nun Habermas eine eigenartige Betrachtung mit ins Spiel, nach der Psychoanalyse zugleich auch kausal erklären soll: Die unbewußten Motive, mit denen die Psychoanalyse sich befaßt – abgespaltene Symbole und abgewehrte Motive–»gewinnen gegenüber dem Bewußten ein Moment von hinterrücks Antreibendem, von Triebhaftem zurück«; diese verbogenen und abgelenkten Intentionen »haben sich aus bewußten Motiven zu Ursachen verkehrt und unterwerfen daher das kommunikative Handeln der Kausalität naturwüchsiger Verhältnisse« (vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 312). Auf diese Weise wird ein »kausaler Zusammenhang … als ein hermeneutisch verstehbarer Sinnzusammenhang formuliert. Diese Formulierung erfüllt gleichzeitig die Bedingungen einer kausalen Hypothese und einer Interpretation. … Das … Verstehen übernimmt die Funktion der Erklärung.« (Vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 331) Allerdings handelt es sich hierbei um einen besonderen Typus von Kausalität, um die Kausalität naturwüchsiger Verhältnisse, die nicht auf einer Invarianz der Natur, sondern auf einer Invarianz der Lebensgeschichte beruht. (Habermas bezeichnet Kausalität von diesem Typus mit Hegel als Kausalität des Schicksals.) Die wichtige Differenz dieses Typs von Kausalität besteht in ihrer Auflösbarkeit durch Reflexion. (Vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 330) Die Lebensgeschichte des Neurotikers besteht also in einer vergangenen Konfliktsituation und zwanghaft wiederholten Reaktionen in der Gegenwart, den Symptomen, formuliert als ein Wunsch, der den Konflikt auslöst; als die Abspaltung des Wunschsymbols; die Ersatzbefriedigung des zensierten Wunsches; die Symptombildung und die sekundäre Abwehr. Habermas Redeweise von einem besonderen Typus der Kausalität soll nun heißen, daß diese (so formulierten) Kausalzusammenhänge durch eine Bewegung der Selbstreflexion in der Analyse aufgehoben werden (vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 306, 330). Indem der Patient die Herkunft und Verursachung seiner Symptome erinnert, beseitigt er zugleich den Kausalzusammenhang. Insofern nun Habermas die herkömmliche Auffassung mit einem Kausalismus der psychoanalytischen Erklärung verbindet, besonders auch auf Freuds Schrift »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«; man sollte Habermas gegenüber Grünbaum zugute halten, daß die bloße Mitteilung der Deutung an den Patienten ineffektiv ist und es insofern tatsächlich einen großen Anteil der Arbeit durch den Patienten in der Analyse gibt. A

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kann er nicht als zentraler Vertreter des elaborierten Intentionalismus betrachtet werden. Er selbst äußert sich über die Beziehung dieser beiden Anteile seiner Konzeption – Selbsttäuschung und Kausalität – nicht weiter. Er entwirft offenbar das folgende Bild des Zusammenspiels von Selbsttäuschung und Verursachung: Der, dessen Verhalten durch einen unbewußten Wunsch bestimmt ist, unterliegt einer ihm widerfahrenden Täuschung und zugleich täuscht er sich; die ausgeführte Selbsttäuschung wäre im Sinne dieses Verständnisses die Täuschung, der er unterliegt. Habermas Verknüpfung von Selbsttäuschung und Kausalität in der psychoanalytischen Erklärung ist für die vorliegenden Überlegungen von eigenem Interesse. Denn die folgende Gestalt scheint sich doch für diese Überlegungen anzubieten: So wie in der Geschichtsschreibung handlungswissenschaftliche Kausalerklärungen voraussetzen, daß dem Akteur die Ursache seines Tuns unbekannt, und so wie in der experimentellen Psychologie Kausalerklärungen die Täuschung der Vpn voraussetzen, so setzen auch psychoanalytische Kausalerklärungen die Ignoranz des Subjekts voraus, und zwar deshalb, weil sich das Subjekt in seinen unbewußten Wünschen und Absichten selbst täuscht. Die primäre Problematik der Habermasschen Deutung psychoanalytischer Erklärungen sei hier noch einmal zusammengefaßt: Er betrachtet diese Erklärungen als Erklärungen durch Selbsttäuschung. Daher müßte er sie eigentlich als Handlungserklärungen auffassen, die auf die Täuschungsabsicht des Subjekts rekurrieren. Doch solch eine Überlegung läßt sich bei Habermas nicht finden. Anstatt dessen unterstreicht er gerade den kausalen Charakter der psychoanalytischen Erklärung. Allerdings soll es sich nun bei der »Kausalität des Unbewußten« um eine besondere Form der Kausalität handeln, nämlich eine solche, die durch Reflexion auflösbar ist. Es ist aber nicht zu sehen, wie diese Spezifizierung der psychoanalytischen Kausalität die mangelhafte Analyse der Selbsttäuschung aufwiegen könnte. Habermas gerät hier in das Fahrwasser einer Auffassung, die mit derjenigen Davidsons vergleichbar ist: Oben wurde festgehalten, daß im Sinne einer derartigen Analyse der Selbsttäuschung diese nicht von Täuschung unterscheidbar ist und daher die Bedeutung des Begriffs verfehlt. Bei dieser Kritik bleibt die im vorigen Abschnitt geäußerte noch außen vor, daß nämlich psychoanalytische Erklärungen generell, und das heißt auch bei korrekter Analyse des Begriffs der Selbsttäuschung, eben nicht unter Rückgriff auf Selbsttäuschung geliefert werden. 218

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Auf eine weitere Schwäche der Habermasschen Analyse verweist Grünbaum: Dessen Unterscheidung eines besonderen Typus der Kausalität des Schicksals gegenüber der Kausalität der Natur ist abwegig. Habermas kennzeichnet diesen Typ der Kausalität des Unbewußten dadurch, daß er vermittels Reflexion aufhebbar sei. Diese besondere Kausalrelation besteht zwischen dem unbewußten Wunsch (verbunden mit der entsprechenden Ätiologie) und dem Symptom. Sie wird aufgelöst durch Aufklärung, das Ergebnis der Reflexion, indem aus dem »Es« »Ich« wird, also dadurch, daß diese Verursachung verstanden wird. (Vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 309 und 331) Grünbaum weist erstens die Berechtigung der Differenz zurück; man betrachte etwa einen Fall von regelmäßig auftretenden Gallenkoliken, die durch die Bewegung von Gallensteinen verursacht sind. Die Auflösung der Gallensteine durch Einnahme eines bestimmten Medikaments beseitigt die Gallenkoliken. Dieses Beispiel aus der somatischen Medizin ist dem psychoanalytischen genau analog. 23 In beiden Fällen wird eine Ursache beseitigt, und daher findet die Wirkung nicht mehr statt. Also gibt Habermas zunächst einmal kein unterscheidendes Merkmal gegenüber den Naturwissenschaften an. Zweitens weist Grünbaum Habermas zusätzlich eine, wie er sagt, »Scheinargumentation« nach, wenn dieser von einem Sondertypus der Kausalität sprechen will, weil die betreffenden Kausalzusammenhänge durch Reflexion »bezwungen« und »aufgehoben« werden können. (Vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 309 und 331) Tatsächlich bleibt der Zusammenhang von Ursache und Wirkung – daß nämlich die Ursache die Wirkung bewirkt – nicht nur von der Aufhebung der Ursache völlig unbeeinträchtigt; noch mehr: Die therapeutische Abstellung der Wirkung durch die Aufhebung der Ursache setzt diesen Zusammenhang gerade voraus. Und tatsächlich will ja Habermas auch keineswegs bestreiten, daß die Psychoanalyse neue Kausalzusammenhänge entdeckt habe – ganz im Gegenteil: Sie hat neue Kausalzusammenhänge im klassischen Sinne von Kausalität entdeckt, und dies, sein Zugeständnis, spricht er aus, indem er auf den »kausalen Zusammenhang … zwischen einer vergangenen Konfliktsituation und den zwanghaft wiederholten Reaktionen in der GegenVgl. A. Grünbaum (Grundlagen) S. 29; er führt ein weiteres analoges Beispiel aus der physikalischen Wärmelehre an und zeigt, daß auch die in ihm beschriebenen Prozesse nach Habermas Kriterien nicht unter die Kausalität der Natur fallen würden. (Vgl. daselbst S. 31 f.)

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wart (Symptome)« verweist. (Vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 331) Grünbaums Kritik läßt sich so zusammenfassen, daß Habermas Ursache und Verursachung verwechselt. Tatsächlich lassen all dessen Argumente die Kausalrelation im klassischen Sinne unberührt. Und daher ist die Redeweise von einem neuen Typus der Kausalität des Schicksals unbegründet. Dennoch wirkt die Kritik Grünbaums bei erster Ansicht als überzogen, vielleicht als Scheingefecht. Denn eine wohlwollende Interpretation kann diejenige These, um die es Habermas hier zunächst zu tun ist, die Feststellung einer Differenz im Umgang mit Kausalität in der Psychoanalyse und in den Naturwissenschaften, durchaus erhalten. Im Sinne dieser wohlwollenden Interpretation wäre Habermas Auffassung dann folgendermaßen zu rekonstruieren: Die Psychoanalyse hat es bei der Verursachung durch unbewußte Wünsche durchaus mit einem ganz eigenartigen Bereich zu tun, freilich nicht mit einer eigenartigen Form der Kausalität – die bleibt, was sie auch in der Domäne der Naturwissenschaften darstellt –, aber mit einem Bereich eigenartiger Ursachen. Und zwar handelt es sich dabei um Ursachen, die durch Aufklärung bzw. Reflexion aufgehoben werden können. Solche Ursachen gehören nicht mit zum Geltungsbereich der Naturwissenschaften. Allerdings unterscheidet diese Differenz nicht nur die Psychoanalyse: Daß die Ursache durch Aufklärung ihre Wirkung verliert, ist ja vielmehr eine Charakteristik, die oben bereits für die Historiographie und die Sozialwissenschaften bzw. die experimentelle Psychologie aufgezeigt wurde. Auch in dieser Hinsicht also wäre Habermas These korrekturbedürftig, oder, positiv gewendet: Habermas fügt den bisher hier aufgeführten Beispielen für einen bestimmten Typus der Kausalerklärung unter der Bedingung der Ignoranz ein weiteres hinzu – das der Psychoanalyse. Diese Feststellung steht nun jedoch offenbar im Widerspruch zur ersten, oben an Habermas geübten Kritik. Dort war nämlich bestritten worden, daß psychoanalytische Kausalerklärungen auf einer Selbsttäuschung der Person beruhen, deren Verhalten erklärt wird. So daß sich die Frage stellt: In welcher Weise ist die Person ignorant, deren Verhalten erklärt wird, sofern ihr Verhalten durch Kausalerklärungen, die dem Prinzip der Ignoranz folgen, erklärt werden soll, wenn sie nicht aufgrund einer Selbsttäuschung unwissend ist? Die Antwort lautet, so glaube ich, daß das hier Unbekannte die vorgebrachte psychoanalytische Hypothese ist: Sie ist der Person unbe220

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Psychoanalytische Kausalerklärungen

kannt, deren Verhalten erklärt werden soll. Die Bedeutung und die Güte der Termini und Theorien wird im Fall der Psychoanalyse gerade so ausgearbeitet und überprüft, wie im Falle jeder theoretischen Sozialwissenschaft, und das heißt auf experimentellem Wege. Psychoanalytische Erklärungen sind Kausalerklärungen. Dann bleibt ihre Beschaffenheit zunächst offen. Insbesondere muß erst noch untersucht werden, ob auch diese Kausalerklärungen Gegenstand des Prinzips der Ignoranz sind – ob sie Ursachen voraussetzen, die durch ihre Kenntnis unwirksam werden.

5.5 Psychoanalytische Kausalerklärungen Man kehre hier noch einmal zu einer Betrachtung der Ergebnisse des psychoanalytischen Intentionalismus zurück! Dieser scheitert in einer simplen Version, da der Begriff einer unbewußten Absicht als widersprüchlich erscheint. Und eine, vielleicht widerspruchsfreie Neudefinition würde nicht weiter helfen, da sie den Begriff aus der Klasse der Absichten in der eigentlichen Bedeutung des Begriffs herausrücken würde. Auch der elaborierte Intentionalismus scheitert. Sollen unbewußte Absichten deshalb unzugänglich sein, weil sich der Handelnde über sie selbst täuscht, dann sind sie nur bedingt unbewußt: Der Handelnde kann sie sich und anderen eingestehen, insbesondere bedarf es für dieses Geständnis keiner psychoanalytischen Methode – diese Version des Intentionalismus läuft vielmehr auf die Leugnung des Unbewußten und nicht auf dessen logische Rekonstruktion hinaus. Die Problemlage in der Philosophie der Psychoanalyse wurde oben als die Frage nach der Einordnung von Erklärungen durch unbewußte Wünsche oder Absichten charakterisiert, z. B. Freuds Erklärung für einen Fall von zwangsneurotischem Verhalten. Es sei also noch einmal unterstrichen, daß es sich gerade um diese Erklärung handelt, die entweder eine praktische oder aber eine kausale sein soll. Nach der Betrachtung des Intentionalismus soll im weiteren davon ausgegangen werden, daß eine Erklärung von diesem Typus keine praktische Erklärung ist. Daher soll nunmehr untersucht werden, ob es sich hierbei um Kausalerklärungen vom Typus der aus den Naturwissenschaften bekannten deduktiv-nomologischen Erklärungen handelt. In welcher Form sie als praktische interpretiert wurde, ist gezeigt worden. Wie kann sie nun aber als kausale verstanden werden? A

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Man betrachte als (ein weiteres) Beispiel einer psychoanalytischen Kausalerklärung die Erklärungsskizze einer hysterischen Störung (»Emma«), die Freud im Entwurf einer Psychologie (1895) zeichnet: Die Patientin ist nicht mehr in der Lage, allein einen Laden zu betreten. In der Analyse begründet sie ihr Unvermögen durch zwei Erinnerungen: Im Alter von acht Jahren besuchte sie einen Kramladen, um Süßigkeiten zu kaufen und wurde dabei vom Händler sexuell belästigt; trotz dieser Erfahrung besuchte sie dann den Laden noch ein zweites Mal. Als sie im Alter von zwölf wieder einmal in einem Laden etwas einkaufen ging, sah sie dort zwei Verkäufer, die miteinander lachten, und lief erschrocken davon. Der eine Verkäufer erweckte ihr sexuelles Gefallen. (S. Freud (Entwurf), S. 432 f.) In dieser frühen Falldarstellung rekonstruiert Freud minutiös die Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Szenen, um zu zeigen, weshalb der Patientin gerade diese Erinnerungen zur Begründung ihrer Angst einfallen: Das frühere Erlebnis hat bei der Patientin einen sexuellen Wunsch wachgerufen (weshalb sie denn auch den Krämer noch ein weiteres Mal besucht); dieser Wunsch wird in der zweiten Szene verdrängt – zwar schreibt sie schon der ersten Szene die Herkunft eines »drückenden bösen Gewissens« zu, doch offenbar ist ihr in der zweiten, in der es wieder um eine sexuelle Versuchung geht, viel deutlicher, daß ihr Wunsch unstatthaft ist. (Im Entwurf schreibt Freud dies der nachträglichen Erkenntnis des sexuellen Charakters der ersten Szene zu.) Der Wunsch wird also verdrängt, weil er im Widerspruch zu gewissen kulturellen Normen steht, die bei der Patientin gegenüber dem Wunsch die Oberhand behalten. Später tritt der verdrängte Wunsch in verkleideter Form wieder in Erscheinung. Der Wunsch »Ich möchte, daß er mir zu nahe tritt« äußert sich als die Befürchtung »Er könnte mir zu nahe treten«, und damit als die Angst davor, den Laden zu betreten, d. h. als das zu erklärende Symptom. In der Folgezeit hat Freud eine solche emotionale Verwirrung als »Verkehrung ins Gegenteil« analysiert. Vom unbewußten Wunsch, zusammen mit dem dargestellten Mechanismus, wird nun gesagt, er sei die Ursache des zu erklärenden Verhaltens. Nun gewinnt eine derartige singuläre Kausalerklärung ihre Geltung durch die Existenz eines allgemeinen Gesetzes, von dem das Explanandum der singulären Erklärung ableitbar ist. 24 Ein solches GeD. Davidson hat gezeigt, daß die singuläre Kausalerklärung gültig ist, sofern ein allgemeines Kausalgesetz existiert. Doch muß dieses Gesetz noch nicht bekannt sein, und

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setz läßt sich, wie die Vorgeschichte des Falles andeutet, aus Freuds klinischer Theorie, der Verdrängungslehre, gewinnen, dem »Grundpfeiler, auf dem das Gebäude der Psychoanalyse ruht« (S. Freud (Geschichte), S. 54). Für den Fall einer hysterischen Störung besagt die Theorie in einer frühen Version, daß eine solche Störung durch einen sexuellen Übergriff in der Kindheit verursacht ist, daß die mit dieser Erfahrung (dennoch) verbundenen sexuellen Wünsche zu einem späteren Zeitpunkt verdrängt werden, und daß der verdrängte Wunsch dann wieder in Erscheinung tritt, zurückkehrt, und sich in irgendeiner Weise äußert, etwa in symbolischer Form oder sonstwie verändert durch die Mechanismen der hysterischen Symptombildung (wie dem der oben genannten Verkehrung). (Später betrachtet Freud als Ursache der Hysterie nicht einen realen früheren Übergriff, sondern die erwachsene Phantasie eines solchen.) Durch die Verdrängungslehre wird also die singuläre Kausalerklärung um einen allgemeinen Satz ergänzt, der auch die Ursachenbehauptung detailliert ausführt; es wird deutlich, was es heißt, einen unbewußten Wunsch zu haben, nämlich, daß etwas von derund-der Art vorgefallen ist, und daß der Vorfall so-und-so verarbeitet wurde. Insgesamt läßt sich aus dem allgemeinen Satz, zusammen mit der Behauptung, daß in einem gegebenen Fall die Anfangsbedingungen des allgemeinen Satzes zutreffen, die Beschreibung eines zu erklärenden Verhaltens deduzieren. Auf diese Form gebracht, ist die Versuchung weniger stark, den unbewußten Wunsch als Wunsch im Sinne einer Antezedensbedingung eines praktischen Schlusses zu verstehen und es wird deutlicher, daß es sich bei ihm um einen kausalen Faktor handelt, der, gemeinsam mit anderen kausalen Faktoren, ein bestimmtes Verhalten bewirkt. Ihre Pointe erhält die Rekonstruktion vor dem Hintergrund einer anderen These darüber, inwiefern Erklärungen durch unbewußte Wünsche Kausalerklärungen sind. Dieser alternativen These zufolge stammt der kausal erklärende Charakter der klinischen Theorie von der sogenannten Metapsychologie her. (Vgl. hierzu A. Grünbaum (Grundlagen), S. 20 ff.) Die Metapsychologie bees muß auch nicht in Termini der singulären Erklärung verfasst sein. Die Gültigkeit einer singulären Kausalerklärung hängt allein von der Existenz eines Gesetzes ab, aus dem irgendeine Beschreibung jener Ereignisse folgt, die in möglicherweise ganz anderer Beschreibung in die singuläre Erklärung eingehen. (Vgl. D. Davidson (Handlungen), S. 36 ff.; vgl. oben, 1.5) A

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stimmt den Aufbau des seelischen Apparats und seine Unterteilung in Bewußtes, Vorbewußtes und Unbewußtes (topographischer Gesichtspunkt); die Triebtheorie (dynamischer Gesichtspunkt); und die Determination des Verhaltens durch seelische Energie sowie die Abfuhr dieser Energie durch Verhalten (ökonomischer Gesichtspunkt). 25 Die Abläufe im so aufgebauten seelischen Apparat und deren Außenwirkung folgen streng kausalen Gesetzlichkeiten. Die Erklärungen der klinischen Theorie sind es, die eine singuläre Kausalerklärung wie diejenige des Verhaltens der Patientin Emma zu einer vollgültigen deduktiv-nomologischen Erklärung ergänzen sollen. 26 Die Vertreter der exegetischen These, daß Freud einen derartigen Begründungszusammenhang zwischen klinischer Theorie und Metapsychologie intendiert habe (Habermas u. a.) sind nun zugleich auch Kritiker der Annahme, daß eine solche Begründung bestehe. Freud habe eine derartige Begründung intendiert, doch sei diese Intention fehlgeleitet, Ausdruck eines »szientistischen Selbstmißverständnisses« der Psychoanalyse. Das Ziel des psychoanalytischen Gesprächs sei die Erinnerung an ein unterdrücktes Stück Lebensgeschichte; die Loslösung des Strukturmodells (bw/ubw) von dieser Gesprächssituation und die Anbindung an ein Energieverteilungsmodell könne jedoch dieser Zielsetzung prinzipiell nicht entsprechen. (Vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 300–308) In seiner Kritik verwirft A. Grünbaum die exegetische These: Freud habe einen derartigen Zusammenhang zwar im Entwurf im Jahre 1895 vor Augen gehabt, dann jedoch für immer verworfen. Es gebe Freud zufolge keine deduktive Validierung der klinischen Theorie durch die Metapsychologie. Vielmehr habe er später die Metapsychologie zum spekulativen Überbau erklärt, und Grünbaum zitiert Freud mit dem Resümee, daß von diesem Überbau »jedes Stück ohne Schaden und Bedauern geopfert oder ausgetauscht werden (könne), sobald seine Unzulänglichkeit erwiesen« sei. Es wird also der Reduktionismus durch die Vorstellung einer unmittelbaren Bestätigung Vgl. hierzu D. Rapaport (Struktur), Kap. II. Vgl. für eine Übersicht der diversen Interpretationsmöglichkeiten zur Relation von klinischer Theorie und Metapsychologie R. R. Holt (Death), besonders S. 130 ff. 26 Wie Habermas richtig erläutert, ist die erste Metapsychologie in Freuds Entwurf physikalistisch, d. h. eine fiktive neurophysiologische Metatheorie der Psychologie. Freud ersetzt dann, zuerst in der Traumdeutung, diese fiktive Neurophysiologie durch eine ebenso spekulative psychologische Topologie. (Vgl. J. Habermas (Erkenntnis), S. 303) 25

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der klinischen Theorie ersetzt, ein Modell der ontologisch-reduktiven durch ein Modell der epistemischen und methodologischen Rechtfertigung. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 17 u. 19 sowie ders. (Theory), S. 5) Die klinische Theorie muß, heißt das, was ihre Wissenschaftlichkeit angeht, auf eigenen Füßen stehen; ihr wissenschaftlicher Status ist nicht etwa dadurch gesichert, daß sie aus der Metapsychologie abgeleitet werden kann; denn die Metapsychologie darf selbst nicht als im Vergleich mit der klinischen Theorie fundierteres Wissen betrachtet werden. Nun soll der Primat der Metapsychologie gerade insofern bestehen, als in ihr Kausalerklärungen in naturwissenschaftliche Termini gefaßt, seelische Prozesse als die Verarbeitung von Energiemengen aufgefaßt sind. Und die singulären Kausalerklärungen der klinischen Theorie sollen durch Ableitung von diesen in ihrem Status gesichert werden. Besteht nun dieser Primat nicht, dann müssen ihre Erklärungen auf andere Weise als Kausalerklärungen ausgewiesen werden. Wie zuvor gezeigt wurde, erfolgt eben dieser Nachweis durch die Herleitung der Explananda der singulären Kausalerklärung aus Prämissen der Verdrängungslehre. Demnach wären Erklärungen durch unbewußte Wünsche selbständige Kausalerklärungen im Rahmen der Verdrängungstheorie und für ihren Status als Kausalerklärungen nicht auf eine Ergänzung um Gesetze angewiesen, die der Metapsychologie entstammen. Nach der Zurückweisung der metapsychologischen Ergänzung ist die Frage der Güte dieser Kausalerklärungen noch ganz offen. Behauptet wird lediglich, daß Erklärungen aus unbewußten Wünschen der Form nach gültige Kausalerklärungen sind, weil andere Möglichkeiten der Ergänzung um Kausalgesetze bestehen und ein Nachweis der formalen Gültigkeit mithin auf die metapsychologische Ergänzung nicht angewiesen ist. Die Frage der empirischen Gültigkeit dieser Erklärungen, die einen wichtigen Gegenstand der Untersuchungen Adolf Grünbaums bildet, soll im folgenden ausgeklammert bleiben.

5.6 Die klinische Fundierung der psychoanalytischen Erklärung Da jedoch auf gewisse Ergebnisse der Grünbaumschen Überlegungen unten zurückgegriffen wird, sei hier aber zumindest eine Skizze dieser weitergehenden Kritik der Validierung der klinischen Theorie eingeschoben. Das Hauptstück der Darlegungen Grünbaums bildet der Nachweis der Unzulänglichkeit der bisherigen klinischen BestäA

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tigung. Worin besteht zunächst die »klinische Bestätigung der Psychoanalyse«? Sie wird angeblich geliefert durch den erfolgreichen Ausgang der psychoanalytischen Therapie, und zwar, so rekonstruiert Grünbaum Freuds Gedankengang, aus den folgenden Gründen: 1.) Die psychoanalytische Methode ist notwendig für die Erkenntnis der unbewußten seelischen Ursachen der Neurose, und 2.) diese Einsicht ist wiederum notwendig für die Heilung der Neurose. Grünbaum bezeichnet diese Konjunktion von Bedingungen als »These von der Notwendigen Bedingung« (TNB) und als »Freuds Hauptthese« (vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 232). Unter Voraussetzung der TNB ist die Wahrheit der psychoanalytischen Deutung Voraussetzung der Heilung von Neurosen, und daher bestätigt der psychoanalytische Therapieerfolg die Wahrheit der Theorie (und er bestätigt, daß der Analytiker im besonderen Fall das Pathogen mithilfe der freien Assoziationen des Patienten richtig bestimmt hat sowie die Freudsche Persönlichkeitstheorie unter Einschluß der ätiologischen Hypothesen zur Entwicklung der Psychoneurosen und die allgemeinen Hypothesen zur psychosexuellen Entwicklung). (Vgl. A. Grünbaum (Theory), S. 17 f.) Zusätzlich liefert TNB ein Argument gegen den für die Bestätigung der Psychoanalyse entscheidenden Vorwurf, die vom Patienten gelieferten Daten seien bloßes Produkt der Suggestion (durch den Analytiker): Wenn nur die durch die Psychoanalyse gewonnene Einsicht in die unbewußten Ursachen der Neurose Heilwirkung hat, dann kann nur eine solche Deutung zur Heilung führen, die tatsächlich diese Einsicht vermittelt, einen wirklich vorhandenen Zusammenhang aufdeckt, mit der inneren Wirklichkeit des Patienten übereinstimmt, und diesem nicht etwa nur etwas ihm Fremdes eingibt. Eine Deutung, die bloße Suggestion wäre, würde keine Heilung bewirken, weil sie nicht die wirklichen Ursachen der Neurose aufdeckt. Grünbaum bezeichnet dies Argument als »Übereinstimmungsargument«. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 233) Im Hinblick auf die Frage der Bestätigung der Psychoanalyse sichert das Übereinstimmungsargument ab, daß es sich bei den Äußerungen des Patienten um echte Bestätigungen handelt, nicht etwa um Scheinbestätigungen, um durch die Suggestionen des Analytikers kontaminierte Daten. Grünbaums kritisches Argument gegenüber der »Hauptthese« lautet nun, Freud bleibe einfach die Begründung für seine zentrale theoretische These schuldig, daß Neurosen (sowie Träume und Fehl226

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leistungen) auf Verdrängungen zurückgeführt werden können. Das psychoanalytische klinische Standardargument für die Theorie besteht im Hinweis auf die Methode der freien Assoziation und beruft sich darauf, daß die Kette der freien Assoziationen eine Umkehrung (der Kausalität in) der Pathogenese darstelle: Sofern im Ausgang vom neurotischen Symptom zuvor verdrängte Erinnerungen aufgrund einer Kette freier Assoziationen wiedererinnert werden, ist diese Verdrängung mit guter Wahrscheinlichkeit die Ursache für das Symptom. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 303, 305 u. 378) Doch Freud liefere einfach keine Begründung dafür, warum die Methode der freien Assoziation zur Aufdeckung der Ursachen neurotischen Verhaltens führen soll. Insofern steht der »Grundpfeiler« der Psychoanalyse auf schwankendem Boden. Es kommt hinzu, daß Freud selbst die TNB einige Jahre nach ihrer Formulierung (in seiner abschließenden, 28. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse: »Über die analytische Therapie«, 1917) zurückgezogen hat, und zwar in »Hemmung, Symptom und Angst« von 1926. Hier räumt Freud die Möglichkeit von Spontanremissionen ein und d. h. von solchen Heilungen, die sich eben nicht aufgrund der psychoanalytischen Therapie ergeben haben. (Vgl. S. Freud (Hemmung), S. 293) Dann ist aber die psychoanalytisch herbeigeführte richtige Einsicht in die Pathogene der Neurose keine notwendige Bedingung der Heilung und daher die Heilung keine Bestätigung der psychoanalytischen Theorie. Die sich im Rahmen der psychoanalytischen Therapie ergebende Heilung könnte daher als Placebo-Effekt interpretiert werden. Es folgt, daß auch die klinische Bestätigung (nach der metapsychologischen) nicht zuverlässig ist. Grünbaums Resümee lautet, daß die Bestätigung der Psychoanalyse nicht auf intraklinischem, sondern auf dem für die sog. akademische Psychologie üblichen Wege der experimentellen Überprüfung und durch epidemiologische Untersuchungen erfolgen müsse. Besonders durch seine Zurückweisung der Thesen, die Rechtfertigung der Psychoanalyse habe über die Metapsychologie oder aber, sie habe innerklinisch zu erfolgen, ebenso aber auch durch seine detaillierte Auseinandersetzung mit hermeneutischen Ansätzen, hat Grünbaum die Philosophie der Psychoanalyse auf eine neue Grundlage gestellt. Aus der Kritik an seinen Auffassungen 27 sei hier erstens Man vgl. für einen Überblick der Diskussion den von ihm selbst zusammengestellten Diskussionsband A. Grünbaum (Hg.), Kritische Betrachtungen zur Psychoanalyse.

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das Argument herausgehoben, er treffe die Sache nicht, weil er eine vorsintflutliche Version der Psychoanalyse aufs Korn nehme und das heißt, sich ausschließlich auf Freuds Theorien beziehe und die Fortentwicklung dieser Theorien nach Freud außer Acht lasse. Dieser Vorwurf wurde zuerst in einer Rezension an den Grundlagen der Psychoanalyse von Jane Flax erhoben und später dann noch einmal ohne Bezug auf diese von Carlo Strenger erneuert. (Vgl. J. Flax, »Psychoanalysis and the Philosophy of Science: Critique or Resistance?« und C. Strenger, Between Hermeneutics and Science, Kap. 4) Der Einwand bezieht sich besonders auf die Objektbeziehungstheorie (Fairbairn u. a.), auf die Ich-Psychologie (A. Freud, H. Hartmann), auf die Arbeiten in der Nachfolge Melanie Kleins, H. Kohuts Narzißmus-Theorie, die sich nach der Auffassung Strengers zu einer »modernistischen Sichtweise der Psychoanalyse« zusammenfügen, der zufolge es in der Analyse nicht mehr so sehr um die Aufdeckung kausaler Zusammenhänge, sondern eher um die Beachtung der Gegenwart des Patienten geht und darum, dessen Befindlichkeit und Haltung in dieser Gegenwart zu stabilisieren. Für Grünbaum stellt sich in der Auseinandersetzung mit Flax dieser Einwand als die Frage dar, ob denn die Theorie der Objektbeziehungen besser begründet ist als die klassische Psychoanalyse. In seiner Antwort betont er, daß auch die neueren Ansätze an der Verdrängungstheorie und an der Methode der freien Assoziation zur Aufdeckung des Verdeckten festhalten. (Vgl. A. Grünbaum (Object Relations Theory), S. 47) Damit aber verfallen sie ebenso der Kritik wie Freuds eigene Auffassung. 28 Ein zweites gegen Grünbaum vorgebrachtes Argument lautet, daß dessen Kritik zu weit gehe, wenn er alle bisherigen experimentellen Bestätigungen der Psychoanalyse verwerfe. 29 Die Verfechter dieser Auffassung folgen Grünbaum also auf seinem Wege bis hin zu der Schlußfolgerung, die Psychoanalyse könne allein auf dem üblichen, experimentellen Wege überprüft werden, sie machen dann jedoch geltend, daß dies in erheblichem Maße auch schon geschehen sei. Diese Debatte um das Ausmaß der Bestätigung oder Überprüfung der psychoanalytischen Theorie soll hier nicht aufgegriffen werVgl. hierzu auch B. von Eckhardt (Grünbaum), S. 279 ff. Vgl. für diesen Einwand z. B. P. Kline (Kritik) und J. Masling (Fallstudien); die entschiedenere Variante dieses Vorwurfs lautet, Grünbaum habe das verfügbare experimentelle Beweismaterial schlicht nicht zur Kenntnis genommen.

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den. 30 Grünbaums Forderung nach einer zielgenauen experimentellen Überprüfung der Verdrängungstheorie sei jedoch im folgenden noch einmal einer näheren Betrachtung unterzogen. Er erhebt diese Forderung im Zusammenhang mit einer Versuchsreihe M. T. Motleys u. a., die er nämlich für das genannte Ziel als irrelevant betrachtet. Zum Abschluß des vorliegenden Abschnitts (5.6) soll daher kurz auf ein Experiment verwiesen werden, das Motleys Versuche fortsetzt und im Sinne der Forderungen Grünbaums ergänzt. Im folgenden Abschnitt (5.7) soll anhand dieses Experiments dann noch einmal das Prinzip der Ignoranz in bezug auf die Psychoanalyse einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Als Beispiel für den Versuch einer Überprüfung der psychoanalytischen Theorie, die deren Geltung weder aus der Metapsychologie ableiten noch klinisch bestätigen will, nennt Grünbaum eine Reihe von Experimenten, die M. T. Motley u. a. zum Thema sogenannter Versprecher unternommen haben. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 330 ff.; vgl. M. T. Motley (Verification)) In diesen Versuchen wurden Vpn Reihen von Doppelwörtern dargeboten, z. B. »bill deal«, »bark dog«, »bay doll«, die still gelesen werden sollten; im Anschluß an die Reihe erschien auf einem Bildschirm ein Doppelwort mit vertauschten Anfangsphonemen, z. B. »darn bore«, welches laut zu lesen war. Es zeigte sich, daß das laut zu lesende Doppelwort häufiger falsch gelesen wurde, wenn es sich dabei um ein sinnvolles Wortpaar und nicht um Unsinnswörter handelt; und daß auch die spezifische Bedeutung des Doppelworts Einfluß auf die Verlesehäufigkeit hat. In dieser Weise untersuchte Motley etwa den Zusammenhang zwischen Sexualängstlichkeit – gemessen anhand des Mosher Sex Guilt Inventorys – und Versprecherhäufigkeit. Eine hoch sexualängstliche Gruppe von Vpn versprach sich in diesem Experiment bei Wortmaterial mit sexueller Thematik häufiger als eine niedrig ängstliche Gruppe. Motley interpretierte dies Ergebnis als Bestätigung der Freudschen Theorie von der Verursachung vergleichbarer Fehlleistungen durch verdrängte, unbewußte Faktoren. Grünbaum hält diese Interpretation für falsch: Denn der im ExVgl. jedoch S. Fisher, R. P. Greenberg (Credibility); P. Kline (Fact); P. Fonagay (Integration); J. Masling (Studies); und D. G. Shulman (Investigation) für einen Überblick entsprechender Arbeiten; vgl. für die schon allein in Anbetracht der Vielfalt und des Umfangs dieser Untersuchungen nicht recht überzeugende Antwort: A. Grünbaum (Antwort), S. 176.

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periment untersuchte Faktor der Sexualängstlichkeit, welcher ja vor dem Experiment bei den Vpn abgefragt wird, ist alles andere als unbewußt. Also steht Freuds Hypothese gar nicht zur Debatte. Konrad Schüttauf u. a. haben jedoch diese Kritik Grünbaums aufgegriffen und Motleys Überlegungen in einem Versuch mit Zwangsneurotikern weiter fortgeführt. (Vgl. ders. u. a., »Induzierte ›Freudsche Versprecher‹ und zwangsneurotischer Konflikt«) Im Versuch wurden den Vpn zwei Reihen von Doppelwörtern angeboten, eine Reihe mit Doppelwörtern aus dem in diesem Falle kritischen Themenkreis der Zwangsneurose und eine andere Reihe ihrem Sinn nach neutraler Doppelwörter. Der experimentellen Hypothese zufolge müßte die Differenz der Versprecher im Falle der kritischen Doppelwörter und der neutralen Doppelwörter bei den Zwangsneurotikern größer sein als im Falle einer nicht zwangsneurotischen Kontrollgruppe. (Vgl. K. Schüttauf (»Freudsche Versprecher«), S. 10) Bei der ausgewählten Gruppe von Vpn handelte es sich dementsprechend um Patienten mit zwangsneurotischer Diagnose (daselbst, S. 8), die weder über das Ziel des Experiments informiert, noch mit der psychoanalytischen Theorie der Zwangsneurose vertraut waren. Das Ergebnis des Experiments bestätigte die Hypothese, und zwar, wie die Verfasser hervorheben, nicht nur im Hinblick auf die Anzahl der Versprecher im angegebenen Sinne, sondern auch im Hinblick auf mituntersuchte thematisch unspezifische Entstellungen. (Eine »unspezifische« Entstellung wäre etwa das Lesen von: »rink streich« anstatt, richtig: »rink steich«; die spezifische Entstellung würde hingegen lauten: »stinkreich«. (Vgl. K. Schüttauf (»Freudsche Versprecher«), S. 61)) Derartige Versprecher wurden von Schüttauf als bezeichnende Kompromißbildungen und insofern als überraschende und daher besonders nachdrückliche Bestätigung der Hypothese gewertet. (Vgl. K. Schüttauf, (»Freudsche Versprecher«), S. 7) (Neben der Sprechfehlerhäufigkeit wurde als weitere wichtige Variable die Reaktionszeit der Vpn untersucht: Die psychoanalytische Auffassung läßt für Zwangskranke auch bei richtig gesprochenen Wörtern aus dem kritischen Themenkreis eine höhere Latenzzeit als bei unkritischen Wörtern erwarten, da sich deren Kontrolle besonders auf das konfliktbezogene Material richtet. Auch hier bestätigten die Ergebnisse des Experiments die theoretischen Erwartungen: Die Reaktionszeiten für richtig gesprochene konfliktbezogene Wörter waren bei den Zwangskranken höher als bei den gesunden Vpn der Kontrollgruppe.) 230

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Die Bewußtmachung des Unbewußten

In diesem Experiment ersetzt der unbewußte zwangsneurotische Konflikt, den die Diagnose unterstellt, Motleys bewußte Sexualängstlichkeit. Insofern wird Grünbaums Forderung nach einer unbewußten und nicht nur allenfalls vorbewußten Ursache erfüllt. Mit Schüttaufs Experiment liegt das Beispiel einer Bestätigung der Verdrängungstheorie vor, die nicht auf metapsychologischen Voraussetzungen oder innerklinischen Daten beruht.

5.7 Die Bewußtmachung des Unbewußten Abschließend soll nun noch einmal die Frage nach der Charakterisierbarkeit der Handlungswissenschaften durch das Prinzip der Ignoranz aufgeworfen werden: Läßt sich diese These für die Psychoanalyse retten? Man erinnere sich noch einmal an Freuds Einführung des unbewußten gegenüber dem vorbewußten Wunsch (s. o., S. 210). Hier bietet Freud, wie vermerkt, ein Bild an: Daß man sich den unbewußten Wunsch, nach Art des vorbewußten, also durch eine Selbsttäuschung verschleiert vorstellen könnte. Die Aufdeckung, Bewußtmachung des unbewußten Wunsches würde dann auch diesem Bild folgen: Der Betreffende kann bedrängt werden, seinen Wunsch einzugestehen. Daß aber dieses Bild nicht im buchstäblichen Sinne zu verstehen ist, Psychoanalyse habe es mit der Aufhebung durch Selbsttäuschung bewirkter Ursachen kraft Reflexion zu tun, dies wurde gegen Habermas gezeigt. Verläuft aber die Bewußtmachung des Unbewußten nicht nach Art der Aufdeckung einer kausal wirkenden Selbsttäuschung, wie ist sie dann zu verstehen? Anders als Freud dies aus den genannten, didaktischen Gründen nahelegt, ähnelt Bewußtmachung nicht der Aufdeckung der Selbsttäuschung, sondern eher, wie soeben am Beispiel beschrieben, der Mitteilung der Forschungshypothese im Experiment. Die Deutung wäre dann das Angebot einer Theorie, und zugleich, durch deren Mitteilung, auch die Aufhebung der durch die Theorie unterstellten Ursache. (Was hier genauer unter Aufhebung zu verstehen ist, wird im nächsten Kapitel deutlicher werden.) Die These, die hier als Antwort auf die Frage nach der Gültigkeit des Kenntnisarguments in der Psychoanalyse vertreten werden soll, besagt nun, daß die Deutung, mit welcher der Analytiker dem Patienten die unbewußten Ursachen seines Verhaltens ins Bewußtsein rückt, nichts anderes als die Publikation dieser Ursachen ist, und das A

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Psychoanalyse und Selbsttäuschung

Bewußtwerden dieser Ursachen für den Patienten ist nichts anderes als deren Zurkenntnisnahme. Psychoanalytisches Deuten und Bewußtwerden ist nichts anderes als Information und Zurkenntnisnahme, so wie dies aus den bisher angestellten Überlegungen zum Prinzip der Ignoranz schon vertraut ist. Der Status dieses Arguments in der Psychoanalyse ist also identisch mit dem in der experimentellen Psychologie und in der Geschichtsschreibung: Die Aufhebung der in einer psychoanalytischen Erklärung angenommenen Ursachen erfolgt durch die Kenntnisnahme jener Hypothesen, in denen die Ursachen vorausgesetzt werden. Allerdings gibt es in der Psychoanalyse nicht das für die experimentelle Psychologie konstitutive Element der Täuschung, und zwar auch nicht als Selbsttäuschung; in dieser Hinsicht, d. h. als Wissenschaft, die unter der Voraussetzung der Unbekanntheit der Ursachen Verhalten im nachhinein erklärt, gleicht die Psychoanalyse eher der Geschichtsschreibung als der experimentellen Psychologie. Man führe sich dies noch einmal an der psychoanalytischen Deutung selbst vor Augen. Freud entwickelt die Deutung zuerst nach dem Muster der Hypnose, so wie er selbst und Josef Breuer sie etwa bei hysterischen Erkrankungen eingesetzt hatten. Das therapeutische Verfahren bestand dabei in der Extinktion eines Symptoms durch einen posthypnotischen Befehl. (Vgl. z. B. S. Freud (Fall), S. 6) Von einem anderen Verfahren, das Freud und Breuer als »kathartisches« bezeichneten, berichtet letzterer in den Studien über Hysterie (»Anna O.«). Hierbei erzählte die Patientin in der Hypnose von Geschehnissen der Vergangenheit, die ihr in der Gegenwart völlig unzugänglich waren, auf die aber ihr jetziges Wachverhalten eine Reaktion darstellte; dies Berichten bewirkte dann das Verschwinden der pathologischen Reaktion, des Symptoms. Freud und Breuer interpretierten die Heilung als eine durch Autohypnose. In einem anderen Fall aus den Studien über Hysterie (»Lucy von R.«) folgte Freud sodann einer Entdeckung des Psychiaters Hyppolite Bernheim, daß das in der Hypnose Erinnerte bei entsprechender Einwirkung auf die Patientin auch im Wachzustand zugänglich ist. (Vgl. S. Freud (Studien), S. 93 f.) Er ließ sich daher von den pathogenen vergangenen Geschehnissen im Wachzustand berichten, mit demselben Ergebnis der Löschung der pathologischen Symptomatik wie auch im Falle der Hypnose. Von der Einwirkung auf die Patientin, der Freud auf die Stirn drückt, und die er anweist, einfach das auszusprechen, was sie vor sich sehe oder was ihr als Einfall durch den Kopf gehe, ist es bis zur 232

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Die Bewußtmachung des Unbewußten

Deutung nur ein kurzer Schritt: »Ich wurde allmählich so kühn, daß ich den Patienten, die zur Antwort gaben: ›Ich sehe nichts‹ oder ›Mir ist nichts eingefallen‹, erklärte: das sei nicht möglich. Sie hätten gewiß das Richtige erfahren, nur glaubten sie nicht daran, daß es das sei, und hätten es verworfen«. (S. Freud (Studien), S. 94) Entscheidend für die vorliegenden Überlegungen ist nun, daß es ein ganz bestimmter Begriff der Deutung ist, der sich aufgrund dieser Vorgeschichte entwickelt. Im Sinne dieses Begriffs gibt es ein zunächst verborgenes, vergessenes Ereignis, das pathogen wirkt; dieses Ereignis wird durch die Deutung aufgedeckt (in der Hypnose berichtet), woraufhin es seine pathogene Wirkungskraft verliert, der oder die Kranke ist schlagartig vom Symptom erlöst. 31 Die oben aufgestellte Behauptung von der Gültigkeit des Prinzips der Ignoranz in der Psychoanalyse soll nun besagen, daß die Verhältnisse im Fall der Kenntnisnahme z. B. der Versuchshypothese im Milgramschen Experiment, gerade denen im Falle der, wie man sagen könnte, schlagenden Deutung in der Psychoanalyse entsprechen: Aufgrund der Bekanntgabe und Kenntnisnahme einer Verursachung wird die behauptete Ursache außer Kraft gesetzt, es wird eine Verhaltensänderung möglich. Insofern ähnelt Bewußtmachung einfach der Erklärung, die auch sonst jemandem gegeben werden mag, der an einem psychologischen Experiment teilgenommen hat, sie kommt einer partiellen Einführung in die Theorie gleich, von der zuvor behauptet worden war, daß sie auf denjenigen, dem jetzt die Erläuterung angeboten wird, zutreffe. Mit dieser These ist folgendes gesagt: Das Argument vom Bestehen von Kausalität durch Unkenntnis gilt auch in der Psychoanalyse, jedoch nicht wegen einer durch Selbsttäuschung selbstinszenierten Unkenntnis. Es ist dies vielmehr jene Unkenntnis, die auch angesichts anderer theoretischer Entwürfe in den Sozialwissenschaften besteht (und die im Experiment normalerweise sorgfältig durch Täuschung bewahrt wird). Somit unterscheiden sich psychoanalytische in nichts von anderen sozialwissenschaftlichen Kausalerklärungen, soweit auch in diesen auf theoretische Entitäten zurückgegriffen wird. Daß auch bei den beeindruckenden frühen Fällen, an denen Freud die psychoanalytische Deutung entwickelt, die Dinge nicht immer in derart mustergültiger Form abliefen, läßt sich ebenfalls bei »Lucy von R.« nachlesen, wo das erste Symptom, eine Geruchshalluszination, nach der Behandlung durch ein zweites, eine andere Geruchshalluszination ersetzt wird.

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Man betrachte diese Verhältnisse noch einmal anhand von Schüttaufs Experiment: Schüttauf bemerkt zunächst, daß sich die Täuschung der Vpn als überflüssig erwiesen habe. (Vgl. ders. (Sprechfehlerexperiment), S. 57) Er erwähnt jedoch auch, daß sie über den Sinn des Experiments nicht aufgeklärt wurden, und daß sie mit der Ätiologie ihrer Erkrankung nicht vertraut und daher auch für die experimentelle Hypothese nicht sensibilisiert waren. (Vgl. daselbst, S. 59) Wurden also die Vpn auch nicht getäuscht, so war ihnen doch weder das Ziel des Experiments noch die dem Experiment zugrundeliegende Hypothese bekannt. Es bestünde also auch in diesem Experiment die Möglichkeit einer Aufdeckung der Forschungshypothese gegenüber den Vpn. Was könnte die Aufklärung bewirken? Das Ergebnis der Bekanntgabe der Forschungshypothese sollte in der Angleichung der Leistungen der Versuchs- und der Kontrollgruppe bestehen, gerade ebenso, wie die Bekanntgabe der Forschungshypothese in Milgrams Experimenten zu einer Angleichung des Verhaltens der Vpn führen würde. Daß nun das Prinzip der Ignoranz in der Psychoanalyse in derselben Art und Weise Gültigkeit haben soll wie in der experimentellen Psychologie, besagt dann im vorliegenden Fall, daß bei der psychoanalytischen Deutung der Zwangssymptome nicht mehr und nichts anderes geschehen würde, als bei der Mitteilung der Forschungshypothese an die Teilnehmer dieses Experiments. Diese Mitteilung ist gerade die Deutung des zwanghaften Verhaltens. 32 Erhebt sich nun gegen diese Anwendung des Prinzips der IgnoGenau genommen hält die Versuchshypothese eine Korrelation zwischen zwei Phänomenbereichen fest: Zwangsgedanken und/oder -handlungen einerseits und die Sensibilität gegenüber dem analen Bereich entstammenden Wörtern (z. B. Mastdarm, Kanalratte, Armleuchter, stinkreich usf. (Vgl. K. Schüttauf (Sprechfehler-Experiment), S. 86)) Die Erscheinungen beider Bereiche gehören zu dem von der Psychoanalyse konstatierten Krankheitsbild Zwangsneurose. Doch kommt dem ersten Bereich insofern besondere Bedeutung zu, als das Vorliegen dieser Erscheinungen definitorisch behandelt wird: Es wird derjenige Mensch als Zwangsneurotiker bezeichnet, der von sich behauptet, sich solcher Gedanken nicht erwehren, solche Handlungen nicht unterlassen zu können. Im Kontext der psychoanalytischen Theoriebildung stellt dieser Phänomenbereich damit die Operationalisierung, die operationale Definition eines bestimmten unbewußten Wunsches dar, der dann seinerseits als Ursache einer weiteren Symptomreihe betrachtet wird, die nicht mehr dem definitorischen Ausgangsbereich, sondern dem des Analen zugeordnet wird. Unmittelbar im Experiment überprüft wird also diese Korrelation zwischen zwei Phänomenbereichen, mittelbar aber die Verursachung der Phänomene des zweiten Bereichs durch das Konstrukt unbewußter Wunsch XYZ, da die Phänomene des ersten Bereichs Definienda dieses Konstrukts darstellen.

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ranz nicht ein entscheidender Einwand, und zwar: Es mag richtig sein, daß die Bekanntgabe und Kenntnisnahme bestimmter Ursachen diesem einfachen Bild von der Wirksamkeit der psychoanalytischen Deutung entsprechen. Wie kann man aber jene mühsame Arbeit des Patienten, der gegen heftigen inneren Widerstand versucht, sich etwas bewußt zu machen, gleichsetzen mit einer Belehrung durch den Analytiker, mit dem Verständnis einer Theorie? Man vergleiche auch noch einmal mit Schüttaufs Experiment: Wird diese Vorstellung einer Deutung den dort vorgefundenen Verhältnissen gerecht? Soll man wirklich erwarten, daß die Mitteilung der Versuchshypothese dazu führt, die Verhaltensdifferenz zwischen Zwangskrankem und Kontrollgruppe auszugleichen? Und noch drastischer: Läuft dieser Vorschlag nicht auf dasselbe hinaus, was oben dem Vertreter des received view vorgeworfen worden war, nämlich auf die Leugnung des Unbewußten, dessen Reduktion auf eine bloße façon de parler? Freud hat auf die Frage nach der Unmittelbarkeit der Wirkung der Deutung in einer kleinen Schrift zur psychoanalytischen Technik »Erklären, Wiederholen, Durcharbeiten« geantwortet. Er erklärt dort, warum die bloße Mitteilung der Deutung eben noch nicht wirksam ist. Die Wirkung tritt vielmehr mit Verzögerung ein. Damit sie eintreten kann, ist es notwendig, daß der Patient all jene Widerstände durcharbeitet, die sich auf seiner Seite der Hinnahme der Deutung entgegenstellen. (Vgl. S. Freud (Erinnern), bes. S. 214 f.) Gerade ebenso unterstreicht auch Strachey, daß bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die »mutative Deutung« wirksam werden kann. 33 Auch Strachey nennt die Beseitigung des Widerstands als wichtigste Bedingung mutativer Deutungen. Erst nach Erfüllung dieser Bedingungen ist die ursächliche unbewußte Strebung »›wirklich‹« bewußt. (J. Strachey (Grundlagen), S. 408) Demnach könnte es so erscheinen, als sei die psychoanalytische Deutung keine mutative Deutung im Sinne des oben skizzierten einInteressanterweise bezeichnet er als mutative Deutung keineswegs die »schlagende Interpretation«, bei der es dem Patienten »wie Schuppen von den Augen fällt«, nicht den beeindruckenden Gestaltwechsel; mutativ ist eine Deutung vielmehr, wenn sie »in der richtigen Dosierung« verabreicht wird und das heißt, dem »Prinzip der minimalsten (sic) Dosen« folgt (vgl. J. Strachey (Grundlagen), S. 501). Im Hintergrund steht die These Melanie Kleins, der Therapeut müsse als ein milderes Über-Ich das strenge des Patienten ersetzen, und dies sei ein langwieriger, kein plötzlicher und überraschender Vorgang. (Vgl. hierzu Ph. Grosskurth (Klein), S. 258 ff.)

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fachen Bildes, und als sei sie daher von anderer Form als die Kenntnisnahme im Sinne des Prinzips der Ignoranz. Doch so sollten Freuds und Stracheys Hinweise nicht verstanden werden. Erstens gibt es mutative Deutungen, auch wenn es vielleicht einer sorgfältigeren Beachtung ihrer Wirkungsbedingungen bedarf, als dies Freud in der Frühzeit der Theorie als notwendig erschienen war. Zweitens bleibt es dabei, daß die eigentliche Aufhebung der pathogenen Ursache in deren Bewußtmachung besteht, und das heißt, daß die Zurkenntnisnahme des Inhalts der Deutung eine hinreichende kurative Bedingung ist, sofern dieser Inhalt erst einmal »wirklich« bewußt geworden ist. Hinzu tritt, daß die Anerkennung einer peinlichen Theorie nicht leicht fällt. Das Erlernen einer Theorie am Beispiel und die Anwendung auf den eigenen Fall, die der von altersher vertrauten Sicht auf die eigene Person direkt zuwiderläuft, sodann das allmähliche Verständnis für die Chance, die sich mit der neuen Sichtweise bietet, die gesamte Neuordnung der inneren Person – all dies ist nicht nur (doch auch) ein kognitiver Prozeß, ist nicht nur ein Prozeß des mühevollen Erlernens einer komplizierten Struktur, sondern gleichzeitig ein Prozeß, der die Emotionen und Wertsetzungen der Person mit betrifft. Der Begriff der »Bewußtmachung« gehört also tatsächlich mit zum Bild der unbewußten Wünsche und Absichten, als das die psychoanalytischen theoretischen Entitäten erscheinen. Ebenso wie der Begriff des Unbewußten selbst ist der der Bewußtmachung zunächst eine erläuterungsbedürftige Darstellungsform. Die angebotene Interpretation macht die Suggestionskraft dieses Bildes erst recht verständlich: Deutungen imponieren nicht, weil endlich ein Licht auf einen finsteren Winkel des seelischen Innenlebens fallen würde – dies ist die Darstellungsform, in welche die Bewußtmachung gekleidet ist; sondern, weil mit einer Deutung, die in diesem Gewande auftritt, tatsächlich ein Kenntniszuwachs verbunden ist, nämlich das Erlernen der Theorie oder besser: Mit der durchschlagenden Deutung findet tatsächlich ein Gestaltwechsel statt – die Person ist schlagartig fähig, sich selbst im Lichte der Theorie wahrzunehmen, als ausgestattet mit neuen Möglichkeiten und neuen Freiheiten. Das Verständnis der psychoanalytischen Deutung als einer Mitteilung oder Information folgt unmittelbar aus dem Verständnis unbewußter Wünsche und Absichten als theoretischer Konstrukte: Über Entitäten dieser Art und ihre Wirkung kann derjenige, auf den oder in dem sie wirken sollen, gerade ebenso unterrichtet werden, 236

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wie jemand, dessen Verhalten ansonsten aus einem theoretischen Konstrukt erklärt wird, etwa LM (Leistungsmotivation) oder dem IQ (Intelligenzquotient) usf. Geschieht nun hier nicht eben das, was oben dem elaborierten Intentionalismus zum Vorwurf gemacht worden war, nämlich die Leugnung des Unbewußten? (Und zwar hatte der elaborierte Intentionalist die Existenz des Unbewußten bestritten, indem er nur noch die Existenz der Selbsttäuschung gelten ließ.) Doch so ist der Vorschlag nicht gemeint. Man betrachte die Frage noch einmal von nahem: Zwischen dem Realisten und dem Skeptiker, dem naiven und dem elaborierten Intentionalisten, stand zur Diskussion, ob eine Erfahrungsaussage wahr oder falsch sei, nämlich die Existenzaussage, daß es unbewußte Absichten und Wünsche gebe. Der Realist wollte diese Behauptung gelten lassen, der Skeptiker nicht. Der letztere wollte aber die fraglichen Phänomene auch nicht ganz abweisen, und sie zumindest noch als solche der Selbsttäuschung akzeptieren. Gegen beide Versionen des Intentionalismus war eingewandt worden, daß es sich bei diesen Existenzsaussagen nicht um Erfahrungssätze handelt, sondern um Behauptungen über die Existenz theoretischer Entitäten. Nun ist es richtig, daß mit diesem Einwand die Existenz unbewußter Absichten in gewisser Weise bestritten wird. Und zwar wird bestritten, daß über die Existenz unbewußter Absichten in derselben Art und Weise entschieden wird, wie über die von Absichten im gewöhnlichen Sinne. Doch der Einwand richtet sich auch gegen die skeptische These: Die Existenz unbewußter Absichten ist nicht mit der Strategie des Skeptikers anfechtbar: Es gibt nicht deshalb keine unbewußten Absichten, weil diese nicht auffindbar sind, wenn man nach ihnen als nach einer Spezies unserer gewöhnlicher Absichten sucht. Doch recht verstanden besagt dieser Einwand keineswegs, daß es keine unbewußten Absichten gibt. Die positive These gegenüber dem Realisten und dem Skeptiker lautet vielmehr, daß theoretischen Konstrukten das Existenzprädikat in eigener Weise zukommt. Wir meinen mit »x existiert« nicht immer ein und dasselbe. Wir verfügen über bestimmte Kriterien, nach denen wir Existenzaussagen über physikalische Gegenstände verwenden, andere, nach denen wir uns mit der Verwendung von Existenzaussagen über Fremdpsychisches richten; und wieder andere bestimmen unsere Verwendung von ExiA

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stenzbehauptungen über theoretische Konstrukte in den Wissenschaften. Die Frage nach dem ontologischen Status hypothetischer Konstrukte hat in der Wissenschaftstheorie eine ganz eigene Diskussion ausgelöst. In dieser Diskussion lassen sich wieder eine realistische und eine skeptische oder instrumentalistische Auffassung unterscheiden. Und es finden sich solche hypothetischen Konstrukte, die eher der einen und andere, die eher der entgegengesetzten Auffassung entsprechen: Ist dieser ontologische Status eher durch solche Verhältnisse bestimmt, wie sie etwa beim Postulat eines achten Planeten (des Neptun) zur Erklärung der Bahnstörungen des Uranus vorlagen; oder sind sie eher nach Art der ptolemäischen Kinematik und Geometrie verständlich, der zufolge die Grundannahmen dieser Mathematik bloße fundamenta calculi waren? Zudem gibt es jene Fälle, in denen sich der Status der entsprechenden Behauptung im Verlauf der Forschung ändert: Die theoretische wird zu einer empirischen Hypothese, wie im Fall des Positron, doch sind in einem solchen Falle Entscheidungen mit im Spiel. Beide Haltungen, Realismus und Instrumentalismus, orientieren sich in der Affirmation und der Existenznegation an Behauptungen empirischer Existenz. Es wurde versucht zu zeigen, daß ein Großteil von Existenzbehauptungen diesem Modell nicht folgen. Insofern bedeutet die Behauptung, unbewußte Absichten und Wünsche seien theoretische Konstrukte nicht, diesen die Existenz abzusprechen. Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist nicht die Betrachtung der offenbar noch einmal ganz unterschiedlichen Kriterien, nach denen Existenzbehauptungen in den Wissenschaften gerechtfertigt werden; sondern die Feststellung, daß es zwischen diesen und den Existenzbehauptungen z. B. der Alltagspsychologie unserer Wünsche und Absichten einen Hiatus gibt. Dieser Abstand ist als solcher dadurch bestimmt, daß hypothetische Entitäten wissenschaftliche Konstruktionen darstellen. Und diese Konstruktionen erfahren ihre Rechtfertigung als Explanantia im Kontext der dazugehörigen Theorie. Freud hat im Kontext der psychoanalytischen Theorie ein Bündel hypothetischer Konstrukte – unbewußte Wünsche, unbewußte Absichten usf. – entworfen. Solch ein Entwurf ist zunächst der einer Darstellungsform; doch ob diese Darstellungsform bloße façon de parler ist, das muß sich erst noch erweisen. Und zwar erweist es sich an der sich anschließenden Ausarbeitung 238

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(und Überprüfung) der Theorie. Eben dies ist die Existenzform hypothetischer Konstrukte im Gegensatz zu der empirisch vorfindbarer (oder nicht auffindbarer) Gegenstände. Die in diesem Abschnitt vorgetragene Auffassung der Konzepte der Deutung und Bewußtmachung entspricht gerade diesem Verständnis unbewußter Wünsche und Absichten als theoretischer Konstrukte. Hypothetische Konstrukte spielen ihre Rolle im Rahmen der Theorie, und sie entstehen und vergehen gemeinsam mit diesen. Der stärkste Widersacher der These, daß es sich bei unbewußten Wünschen, Absichten usf. um theoretische Konstrukte handelt, ist Ilham Dilman. Sein Hauptargument lautet, daß diese These über eine wichtige Unterscheidung hinweggeht, und zwar die zwischen der Erkenntnis der eigenen und die fremder unbewußter Empfindungen und Wünsche. Den eigenen Fall hebt er besonders insofern ab, als mit ihm nicht nur die Erkenntnisfähigkeit angesprochen sei, sondern auch der Wille: »Es ist letztlich an ihm selbst, ob er den Widerstand gegen die Analyse aufgeben und die Bewußtwerdung des Unbewußten zulassen will.« (I. Dilman (Unconscious), S. 337) Die Haltung gegenüber den eigenen Absichten, Wünschen, Einstellungen und Empfindungen, ob bewußte oder unbewußte, ist nicht die eines Beobachters. Vielmehr steht die Bewußtwerdung in eigenem Falle in meiner Macht, und daher habe ich gegenüber meinem eigenen Unbewußten eine andere Haltung als gegenüber dem der anderen. Allenfalls für andere (etwa für den Analytiker) könnten meine unbewußten Absichten und Wünsche einen theoretischen Status, den eines theoretischen Konstrukts haben. Diese Kritik stellt sich freilich bei näherer Betrachtung eher als Bestätigung denn als Widerlegung der These vom Unbewußten als eines theoretischen Konstrukts heraus: Im Hintergrund steht hier der received view. Und wenn Dilman davon spricht, daß es beim Analysanden liege, ob er den Widerstand fallen läßt oder nicht, dann ist der dieser Behauptung zugrundeliegende Begriff des Unbewußten der einer Selbsttäuschung: Deren Aufdeckung liegt tatsächlich in der Macht des Analysanden, weil er sich selbst täuscht: »Letztlich liegt es bei ihm, ob er sein Leben, seine Art und Weise mit Problemen umzugehen, seine Beziehungen zu Menschen, seine Arbeitseinstellung ändern wird oder nicht.« (I. Dilman (Unconscious), S. 337, Fn. 4 [Übers. T. K.]) Es ist richtig, daß ein Unbewußtes im Sinne der Selbsttäuschung kaum als theoretisches Konstrukt verstanden werden könnte. Doch A

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oben wurde gezeigt, daß dieser Begriff nicht der von Freud eingeführte ist. Vielleicht hat der Analysand dem theoretischen Konstrukt Unbewußtes gegenüber tatsächlich keine theoretische Haltung, weil für ihn beim Abwägen der angebotenen Sichtweise viel auf dem Spiel steht. Doch ändert dies nichts am Status der Theorie. Es besteht, wie Freud im Zusammenhang mit der Erinnerung unbewußter Absichten bemerkt hat, ein weiteres Bedenken gegen diese Darstellung der Bewußtmachung überhaupt, nämlich deren verzögerte Wirkung: Die Mitteilung an den Patienten bewirkt in vielen Fällen zunächst keinerlei Effekt. Im Sinne dieses Bedenkens wäre also gegen die Geltung des Prinzips der Ignoranz in der Psychoanalyse zu bemerken, daß es offenbar insofern ungültig ist, als ja die Mitteilung der Deutung, die Aufhebung der Ignoranz, folgenlos bleibt. Diesem Einwand werden wir uns im letzten Abschnitt von Kapitel 6 noch einmal zuwenden.

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6 Handlungs- und Kausalerklärung, ein Disput

Am Beispiel verschiedener Wissenschaften wurde in der vorliegenden Untersuchung eine zentrale These veranschaulicht: daß bestimmte Ursachen nur unter der Bedingung ihrer Unkenntnis durch die Person, deren Verhalten sie erklären sollen, wirksam werden können; während die Kenntnis der behaupteten Ursache der Feststellung der Person Raum verschafft, sie habe aus den und den Handlungsgründen gehandelt. Dementsprechend galten die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel einer besonderen argumentativen Figur, die sich etwa in Form des folgenden Dialogs darstellen läßt: Jemand erklärt sein Verhalten durch die Absicht, die er mit diesem Verhalten verbindet. Nun widerspricht man ihm und behauptet, eigentlich habe seinem Verhalten die-und-die (ganz andere) Ursache zugrunde gelegen. Gehört nun die behauptete Ursache einem bestimmten Typus an, dann kann derjenige, dessen Verhalten so erklärt werden soll, der Kausalerklärung widersprechen, indem er darauf hinweist, daß er von ihr Kenntnis gehabt habe. Er kann dann an seiner ursprünglichen Handlungserklärung festhalten. Man betrachte etwa das folgende Beispiel: Weil er der Gegenseite vortäuschen will, nicht zu wissen, mit wem er es zu tun hat, findet sich der als Frauenliebhaber bekannte Geheimagent X zum Rendezvous mit der feindlichen Agentin Y ein. Die Gegenpartei erklärt aber sein Erscheinen damit, daß X ihr in die Falle gegangen sei: X habe der Versuchung nicht widerstehen können. Doch X kann diese Erklärung zurückweisen: Er habe die Spekulation der anderen Seite auf seine leichte Entflammbarkeit durchschaut, und daß ihm Y nur als Lockvogel präsentiert worden sei. Dennoch sei er zum Treffen erschienen, habe das Spiel mitgespielt, um vielleicht weitere Informationen zu erhalten; und das Rendezvous sei auch unter diesen Bedingungen amüsant gewesen. Hier wird also an einer Handlungserklärung gegenüber einer Kausalerklärung festgehalten, und zwar auf der Grundlage der A

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Kenntnis der behaupteten Ursache, nämlich einer Charaktereigenschaft von X. Unter diesen Umständen wird die Kausalerklärung zurückgezogen. (Natürlich gibt es noch einen anderen Modus der Kritik einer Kausalerklärung, nämlich den, der auf eine konkurrierende Ursache verweist.) Aus dem Beispiel geht aber auch hervor, daß eine Handlungserklärung mit einer Kausalerklärung des betreffenden Typus gerade dann angefochten werden kann, wenn die behauptete Ursache unbekannt ist. Die zunächst abgegebene Handlungserklärung wird dann zurückgezogen. Man betrachte eine Variante des Beispiels, in der X infolge eines posthypnotischen Befehls am vereinbarten Ort erscheint. Teilt man ihm mit, daß der posthypnotische Befehl die Ursache seines Erscheinens ist, dann wird er seine Handlungserklärung fallen lassen. Hauptgegenstand des Historie-Kapitels war die Relation von Handlungs- und Kausalerklärungen, so wie diese Beziehung in der Diskussion um historisches Erklären nicht erst seit Collingwood immer deutlichere Konturen angenommen hat: Angesichts der Unmöglichkeit eines Reduktionismus der einen oder der anderen Seite stellte sich zum Ende dieser Untersuchung als das eigentliche Problem die Bestimmung des Verhältnisses beider Erklärungstypen zueinander heraus. Zusätzlich wurde der Versuch unternommen zu zeigen, daß die soeben genannte Bedingung bestimmter Kausalerklärungen auch in der Geschichte eine Rolle spielt: Der Historiker, der sich einer solchen Kausalerklärung bedient, behauptet damit zugleich, daß die betreffende Ursache dem historischen Subjekt, dessen Verhalten der Historiker so erklären will, unbekannt war. Am Beispiel experimentalpsychologischer Hypothesen wurde sodann die Bedingung der Ignoranz in einer komplexeren Form untersucht, bei welcher die Unkenntnis einer Ursache nicht, wie im Falle historischer Erklärungen, vorgefunden, sondern, als Produkt eines Täuschungsmanövers oder zumindest der unterlassenen Aufklärung, hergestellt wird (und das gilt sowohl im Falle von Vorhersagen, als auch in dem von Erklärungen, ist also nicht etwa durch den Wechsel der Betrachtung von diesen zu jenen verursacht). Schließlich wurden psychoanalytische Kausalerklärungen als solche beschrieben, bei denen sich derjenige, von dem sie gelten sollen, zwar nicht selbst täuscht, so daß er auf diese Weise die für solche Kausalerklärungen erforderliche Ignoranz selbst herstellen würde; bei denen jedoch das Modell der Selbsttäuschung Pate steht, so als 242

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Handlungs- und Kausalerklärung, ein Disput

ob der Betreffende in dieser Weise ignorant wäre, während er es in Wahrheit in der gewöhnlichen Weise ist, und das heißt, weil er die Ursache seines Verhaltens nicht kennt, wie auch immer der intentionalistischen psychoanalytischen Beschreibung dieser Ursache Sinn zu geben wäre. Den Anstoß zu jener Debatte, bei der im folgenden angeknüpft werden wird, gab Robert Merton mit seiner Erörterung sich selbst erfüllender oder sich selbst vernichtender Prophezeiungen. Im folgenden soll gezeigt werden, daß das Prinzip der Ignoranz die Wirkungsweise dieser Vorhersagen regelt, und daß eine genauere Betrachtung der Thesen Mertons auch zu einem besseren Verständnis der soeben angedeuteten Disputform von Handlungs- und Kausalerklärungen führen kann. In Social Theory and Social Structure identifiziert er erstens ein Problem sozialwissenschaftlicher Vorhersagen. Dort spricht er von einem »Mechanismus des sich selbst erfüllenden gesellschaftlichen Glaubens, bei dem ein in gutem Glauben begangener Fehler seine eigene nichtige Bestätigung hervorbringt«

und von einem anderen »Mechanismus …, der malerisch als ›sich selbst vernichtende Prophezeiung‹ bezeichnet wird, und der Überzeugungen mit einschließt, die die Erfüllung eben jener Umstände verhindern, die sich sonst ergeben hätten.« (R. Merton, Social Theory and Social Structure, S. 182 [Übers. T. K.])

Merton konstatiert also die Existenz eines Problems der sozialwissenschaftlichen Vorhersage, das im Falle sich selbst erfüllender Vorhersagen in deren bloß scheinbarer Bestätigung besteht, und im Falle sich selbst vernichtender Vorhersagen in der Verhinderung der vorhergesagten Zustände, die sonst eingetroffen wären. 1 Merton bespricht sich selbst erfüllende Vorhersagen ganz allgemein als Teil »unvorhergesehener Folgen vorsätzlichen gesellschaftlichen Handelns«, deren anderen Teil sog. latente Funktionen darstellen: »Es handelt sich bei beiden um Typen nicht vorhergesehener Konsequenzen des Handelns oder der Entscheidung oder des Glaubens, wobei der eine gerade diejenigen Umstände hervorbringt, die irrtümlich als schon bestehend angenommen worden waren, während der andere überhaupt nicht beabsichtigte Ergebnisse zeitigt.« (R. Merton (Theory), S. 182 [Übers. T. K.]) Die Entdeckung sich selbst vernichtender Vorhersagen führt Merton auf John Venn zurück (vgl. R. Merton (Theory), S. 182); dem Phänomen zuerst und nachdrücklich zugewandt hatte sich jedoch Oskar Morgenstern: »Nehmen wir an, es gäbe einen Volkswirt-

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Beide Fälle zusammengenommen machen in den Sozialwissenschaften ein besonderes Problem der reflexiven Vorhersage aus, ein Problem, heißt das, welches durch die Reflexion oder Kenntnisnahme der Vorhersage selbst entsteht. 2 Zweitens formuliert Merton unter Bezugnahme auf das Problem der reflexiven Vorhersage eine Abgrenzungsthese der Humanoder Sozialwissenschaften: »Die sich selbst erfüllende Vorhersage und die sich selbst vernichtende Vorhersage sind für den Gesellschaftswissenschaftler in zweifacher Hinsicht von Interesse. Nicht nur stellen sie Verhaltensmuster anderer Menschen dar, die er untersuchen will, sondern auch solche Muster, die schwierige und ganz besondere methodologische Probleme seiner eigenen Forschung hervorbringen. Dies Phänomen erschwert besonders die empirische Überprüfung gesellschaftswissenschaftlicher Vorhersagen. Denn da diese Vorhersagen von eben jenen Personen mit berücksichtigt werden können, auf die sie sich beziehen, ist der Gesellschaftswissenschaftler stets mit der Möglichkeit konfrontiert, daß seine Vorhersage in die Situation als ein neuer und dynamischer Faktor eingehen und eben jene Bedingungen verändern wird, unter denen die Vorhersage anfangs wahr war. Diese Charakteristik von Vorhersagen ist kennzeichnend für menschliche Angelegenheiten. Sie findet sich nicht bei Vorherschaftler, der das Problem der Wirtschaftsprognose gelöst hätte, und er würde eine solche anstellen; wenn er sie nicht veröffentlicht, wird sich nichts anderes ereignen, als daß die Ereignisse, die er mit Hilfe seiner Einsichten vorausbestimmen konnte, eben tatsächlich eintreten werden. Macht er aber seine nächste Prognose allgemein bekannt, und glauben ihm die in Betracht kommenden Mitglieder der betreffenden Volkswirtschaft, so wird sich ein anderes ereignen: Die Abläufe werden nicht so eintreten, wie er sie vorausgesagt hat.« (Vgl. ders. (Wirtschaftsprognose), Abschn. 6) Morgenstern bezeichnet dies Problem als »eines der schwierigsten und zentralsten Probleme …, das die Theorie der Prognose überhaupt aufzuweisen hat«. (O. Morgenstern (Wirtschaftsprognose), Abschn. 42; vgl. auch ders. (Theory), S. 466 ff.) Auch K. R. Popper hat schon früh auf vergleichbare Abläufe hingewiesen (vgl. seine Bemerkungen zum sogenannten »Ödipuseffekt«, ders. (Elend), Abschn. 5). Im öffentlichen Raum haben erstens die Veröffentlichungen von Wahlprognosen Aufmerksamkeit erregt, so in den USA die der Fehlprognose durch den Literary Digest bei den Präsidentschaftswahlen 1936; und in der BRD die Zurückhaltung (der für die CDU/ CSU) günstigen Wahlprognose im Jahr 1965 durch das Institut für Demoskopie in Allensbach. (Vgl. hierzu H. Honolka (Eigendynamik), S. 16 f.) Zu Diskussionen führte auch der Befund eines sogenannten »Pygmalion-Effekts« durch J. Loretan, dann durch R. Rosenthal und L. Jacobsen, daß die Erwartungshaltung des Lehrers sich auf Verhalten und Leistung von Schülern auswirke. (R. Rosenthal, L. Jacobsen (Pygmalion)) 2 Der Terminus der »reflexiven Vorhersage« als Oberbegriff der sich selbst vernichtenden und der sich selbst erfüllenden Vorhersage stammt von R. Buck, vgl. ders. (Reflexive Predictions).

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Sich selbst vernichtende Vorhersagen

sagen über die Welt der Natur.« (R. Merton, Social Theory and Social Structure, S. 183 [Übers. T. K.])

Die Möglichkeit der Kenntnisnahme von Vorhersagen durch eben diejenigen, von denen sie gelten sollen, ist demnach ein Charakteristikum menschlicher Angelegenheiten und daher für die Sozialwissenschaften bezeichnend. Man beachte jedoch, daß sich die Bestimmung des Problems reflexiver Vorhersagen, die Merton hier gibt, von seiner zunächst angeführten Definition zu unterscheiden scheint. Denn er spricht in der ersten oben wiedergegebenen Charakterisierung von der Vorhersage selbst, die scheinbar bestätigt oder scheinbar falsifiziert werde; in der vorliegenden zweiten Beschreibung des Problems ist hingegen von einer Veränderung der Bedingungen die Rede, unter denen die Vorhersage galt. Eine exakte Bestimmung des von Merton identifizierten Problems soll nun folgen und zwar in Form einer sukzessiven Überprüfung von Versionen des Problems reflexiver Vorhersagen (I–IV) im Dienste der Abgrenzungsthese; so daß die leitende Frage lautet: Welche Problemversion könnte tatsächlich spezifisch für menschliche Angelegenheiten sein? Am Ende soll eine präzise und damit befriedigendere Formulierung der Hauptthese unserer Untersuchung stehen. Diese wird lauten, daß ein Wechselspiel von Handlungs- und Kausalerklärung, von Absichtsbekundung und kausaler Vorhersage, die Eigenart der Handlungswissenschaften ausmacht, und nicht etwa Probleme mit Vorhersagen, die sich als wider Erwarten falsch oder wahr erweisen. Den ersten Schritt bildet eine nähere Betrachtung sich selbst vernichtender Vorhersagen.

6.1 Sich selbst vernichtende Vorhersagen und die nichtige Invalidierung sozialwissenschaftlicher Gesetze Robert Merton versteht das Problem der Vorhersage im Falle der sich selbst vernichtenden Vorhersage (self-defeating oder self-destroying prophecy) zunächst offenbar als ein Problem der Invalidierung eigentlich richtiger Hypothesen oder Gesetze (I). In vergleichbar prägnanter Formulierung findet sich das Problem jedoch bei Merton nicht, sondern erst in dessen Rezeption durch Ernest Nagel. (Vgl. ders. (Structure), S. 470 f.; vgl. auch A. Gewirth (Gesetze), Abs. 3) So verstanden verhält sich jemand, dem die Vorhersage seines VerA

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Handlungs- und Kausalerklärung, ein Disput

haltens bekannt wird, gerade im Gegensinne dieser Vorhersage und macht sie damit falsch. Merton gibt als Beispiel die Vorhersage eines Überangebots an Weizen, deren Bekanntwerden dazu führt, daß Farmer ihre Produktion umstellen, weniger Weizen produzieren, und derart die ohne die Bekanntgabe richtige Vorhersage falsch machen. 3 Man denke auch an das einleitende Beispiel vom Geheimagenten X zurück, dem die Erwartung der gegnerischen Partei bekannt wird, er werde aufgrund seiner Verführbarkeit zum Rendevouz mit der Agentin Y kommen. Zwischen den beiden Beispielen bestehen wichtige Unterschiede: Im Falle des vorhergesagten Überangebots an Weizen wird die Vorhersage normalerweise nur dann falsch werden, wenn viele beschließen, ihr zuwider zu handeln, gleichzeitig aber vermuten, diesen Entschluß jeweils allein zu treffen. Denn hätten sie nur gewußt, daß viele auf die Bekanntgabe der Einschätzung mit der Umstellung ihrer Produktion reagieren würden, dann hätten sie ihre Produktion nicht umgestellt. Daß die Vorhersage falsch wird, geschieht also wider den Willen derjenigen, die sie falsch gemacht haben. Man nehme an, der Agent X beschließe, sich nicht zum Rendevouz einzufinden, nachdem er die Falle durchschaut hat. Es liegt ganz bei ihm, die Erwartungen der Gegenseite zu durchkreuzen, und wenn er dies tut, dann deshalb, weil er zu der Auffassung gekommen ist, daß dies seinen Interessen entspreche. Doch trotz dieser Unterschiede wäre auch dies dann eine sich selbst vernichtende Vorhersage. (Allerdings hatte sich ja X entschlossen, die Erwartungen der Gegenseite zu erfüllen. In der ursprünglichen Form scheint also das Beispiel bis hierher nicht recht ins Schema zu passen.) Nach Mertons Auffassung ist jedoch die sozialwissenschaftliche Vorhersage problematisch, weil die Veröffentlichung der Hypothese dieselbe ungültig macht. 4 Gegen diese Beschreibung des Problems wurde eingewandt, daß es sich bei sich selbst vernichtenden Vorhersagen keineswegs um Falsifikationen handelt. Wissenschaftliche Vorhersagen sind ganz allgemein nicht einfach zukunftsbezogene Behauptungen, etwa von der Art »Morgen wird der Kornpreis fallen«; R. Buck hat zu Recht darauf verwiesen, daß es hier keine »eigentlich richtigen« Hypothesen gibt, sondern nur solche, die sich ohne ihre Veröffentlichung als richtige erwiesen hätten. (Vgl. ders. (Reflexive Predictions), S. 360) 4 Vgl. R. Merton (Theory), S. 183 f. Tatsächlich sieht Merton hier sogar ein Paradoxon der sozialwissenschaftlichen Vorhersage, die nämlich entweder veröffentlicht und damit invalidiert oder aber geheimgehalten und damit zur Kenntnis post factum werde, wenn ihre Veröffentlichung erst nach dem vorhergesagten Ereignis stattfinden dürfe. 3

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Sich selbst vernichtende Vorhersagen

vielmehr sind sie begründete Vorhersagen, Ableitungen aus antezedenten Bedingungen, u. d. h. ihrer Form nach immer Konditionalsätze, die etwas unter einer bestimmten Bedingung vorhersagen, z. B. »Sofern es morgen ein Überangebot an Korn geben wird, wird der Kornpreis fallen«. Ist nun das Antezedens dieses Konditionals falsch, dann bleibt dessen Gültigkeit davon völlig unberührt; denn das Konsequens wurde ja nur unter Voraussetzung der Wahrheit des Antezedens behauptet. Die Gültigkeit des Konditionals wäre nur dann betroffen, wenn das Konsequens bei wahrer Voraussetzung falsch wäre. Von der Falschheit des Antezedens ist nicht die Gültigkeit, sondern die Anwendbarkeit des Konditionals betroffen: Die Vorhersage verliert dann ihre Pointe. 5 Adolf Grünbaum und Ernest Nagel haben hervorgehoben, daß im Falle der sich selbst vernichtenden Vorhersage gerade in dieser Weise eine Abänderung der Antecedensbedingungen stattfindet (wie ja Merton beiläufig auch schon festgestellt hatte): »… die Verbreitung dieser Prophezeiungen verändert die Anfangsbedingungen, aufgrund welcher die Vorhersagen abgegeben wurden, und sie würde, zumindest im Prinzip, jemand anderen nicht daran hindern, das Ergebnis auf der Grundlage der tatsächlichen, abgeänderten Anfangsbedingungen korrekt vorherzusagen …« (A. Grünbaum (Historical Determinism), S. 239 [Übers. T. K.])

Dies läuft auf die folgende These hinaus: In seiner vollständigen Form enthält das Antecedens derartiger Vorhersagen (oder: es enthält stillschweigend) eine Klausel, die besagt, daß die Ursache des Vorhergesagten unbekannt ist. Das heißt, daß die betreffende konditionale Vorhersage nach Mitteilung der Anfangsbedingungen einfach nicht mehr applizierbar ist, weil ihre Antezedensbedingungen nicht mehr erfüllt sind, und nicht, daß die konditionale Vorhersage selbst ungültig wäre. Gibt es morgen kein Überangebot an Korn, dann steht die Vorhersage, daß morgen der Kornpreis fallen würde, gäbe es ein Überangebot an Korn, einfach nicht zur Debatte. Laut Grünbaum kommt es vielmehr auf der Grundlage der veränderten Bedingungen zu einer neuen Vorhersage. Er sagt nicht, von welcher Form die neue Vorhersage wäre, die auf die Kenntnisnahme folgen soll. Vgl. E. Nagel (Structure), S. 470 f.; auf Ähnliches will wohl auch A. Gewirth hinweisen, wenn er von der »geltungsmäßigen Invarianz« sozialwissenschaftlicher Gesetze spricht. (Vgl. ders. (Gesetze), S. 449–454)

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Seine Beschreibung müßte daher folgendermaßen ergänzt werden: Die neue Vorhersage gibt an, wie sich der Betreffende angesichts der Kenntnis der alten Vorhersage verhalten wird. Demnach wird in der zweiten Vorhersage die erste zitiert. Im folgenden soll eine Vorhersage von dieser Form als »Vorhersage zweiter Ordnung« bezeichnet werden. 6 Im Ergebnis ist hier zunächst festzuhalten, daß es im Falle der sich selbst vernichtenden Vorhersage kein Problem der Invalidierung (konditionaler) wissenschaftlicher Vorhersagen gibt. In Grünbaums Charakterisierung und der folgenden Kritik läßt sich unschwer die Analogie seiner oben wiedergegebenen Kritik an Habermas’ These einer Kausalität des Schicksals erkennen. Habermas hatte ja behauptet, die Aufklärung löse die Kausalität des Unbewußten auf. (Vgl. oben, 5.4) Diese Behauptung entspricht gerade der These von der Invalidierung der zugrundeliegenden Kausalhypothese durch deren Bekanntmachung. Und Grünbaum hatte die frühere Kritik in den Grundlagen der Psychoanalyse nun dahingehend verschärft, das Argument falle auf den Urheber zurück: Denn würden in der Psychoanalyse Verdrängungen aufgedeckt und beseitigt, um ein Symptom zu beseitigen, und sei diese Therapie erfolgreich, dann bestätige sie den angenommenen Kausalzusammenhang und hebe ihn nicht auf. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 24 ff., s. oben, 5.4) Analog bestätigt die Reaktion der Person, der die Prognose ihres Verhaltens mitgeteilt wurde, und die sich dann im Gegensinne verhält, die mitgeteilte Hypothese eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen den ursprünglich angenommenen antecedenten Bedingungen und deren Wirkung, und widerlegt sie nicht. Weder Grünbaum noch Nagel befassen sich mit der Frage, ob es sich etwa bei den so außer Kraft gesetzten Ursachen um solche besonderer Art handelt. Doch dies ist allerdings der Fall: Zwar besteht kein Unterschied zwischen Natur- und Humanwissenschaften im 6 Ich nehme an, daß die Einbeziehung der neuen Anfangsbedingungen für die zweite Vorhersage dasjenige ist, was Th. Herrmann als »Hineinnahme« der »mit dem Bekanntwerden einhergehenden Änderung der Kontextinformation« in die Konstruktion des Gesetzes bzw. der Theorie meinte. (vgl. Th. Herrmann, (Einwände), S. 136, vgl. oben Kap. 4) Man beachte jedoch, daß es sich hier nicht um die Berücksichtigung der Möglichkeit einer Veränderung der Anfangsbedingungen bei der Aufstellung der ursprünglichen Hypothese oder des Gesetzes handelt – wie auch? –, sondern vielmehr bei der Aufstellung der neuen Hypothese, in der die alte erwähnt wird (also bei der Aufstellung der Vorhersage zweiter Ordnung).

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Sich selbst vernichtende Vorhersagen

Hinblick auf eine Invalidierung von Hypothesen durch sich selbst vernichtende Vorhersagen; es gibt jedoch einen Unterschied zwischen jenen Ursachen, die den Gegenstand der Naturwissenschaften, und jenen, die den der Humanwissenschaften bilden – erfahre ich, daß ich in Lebensgefahr schwebe, weil ich ein tödliches Gift zu mir genommen habe, dann muß ich etwas tun, muß etwas geschehen, um dies Agens außer Kraft zu setzen, um die Situation so zu verändern, daß die Vorhersage keine Anwendung mehr findet. Wird mir aber gesagt, und nehme ich zur Kenntnis, daß ich die-und-die Wahlentscheidung für die-und-die Partei treffen würde, weil ich zu der-undder Bevölkerungsgruppe rechne, dann findet diese Vorhersage aufgrund der Mitteilung allein keine Anwendung mehr, und es muß nichts zusätzlich geschehen, um das Eintreffen der Wirkung auszuschließen. Was auch immer ich nach der Mitteilung tun werde, selbst wenn ich mich im Sinne der Vorhersage verhalte, wird nicht mehr Wirkung dieser Ursache sein, ohne daß es zu mehr als zu eben dieser Mitteilung selbst gekommen wäre. Die These lautet also, daß es die Humanwissenschaften mit einem besonderen Typus von Ursachen zu tun haben, die durch ihre Kenntnisnahme allein außer Kraft gesetzt werden können, während die Außerkraftsetzung von Ursachen im gewöhnlichen, naturwissenschaftlichen Sinne erst nach deren Publikation einsetzt und nicht durch dieselbe. 7 Man beachte, daß die Kritiker von Charakterisierung (I) durchaus zugestehen, daß sozialwissenschaftliche Vorhersagen in besonderer Weise durch ihre Bekanntgabe gefährdet sind. Die Kritik lautet zunächst nur, daß diese Gefährdung nicht der Geltung der zugrunGrünbaum befaßt sich möglicherweise deshalb nicht mit der Identifizierung dieses besonderen Typus der Ursache, weil er die Frage, auf welche Weise genau eine Ursache außer Kraft gesetzt wird, ob durch physikalische Einwirkung oder auf anderem, nicht physikalischem Wege, für irrelevant hält. Die kausale Relevanz eines Ereignisses hängt davon ab, ob es für das Auftreten eines zweiten Ereignisses »einen Unterschied bewirkt«, und zwar unabhängig davon, ob es sich nun bei diesem zweiten Ereignis um ein physikalisches oder ein psychisches oder ein psychophysisches handelt: Der Status der Ursache ist ontologisch neutral. (Vgl. A. Grünbaum (Grundlagen), S. 122 ff.; dieser Gedanke ist bereits von Dray vom Streit um die Dispositionen her bekannt, vgl. oben, S. 118 f.) Daß aber psychologische Ursachen, deren Existenz einmal konzediert, auch auf psychologischem Wege beseitigt werden können, etwa durch eine Information, bedarf dann keiner eigenen Überlegung mehr. Den vorliegenden Überlegungen zufolge besteht allerdings die Besonderheit dieser Ursachen nicht im Modus ihrer Beseitigung durch Publikation (und Kenntnisnahme); sondern darin, daß sie nur bei den Handlungswissenschaften allein auf diesem Wege beseitigt werden.

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deliegenden konditionalen Zusammenhänge gilt. Gefährdet ist vielmehr ihre Anwendbarkeit, und zwar deshalb, weil mit der Bekanntgabe die Welt in einer Weise verändert ist, die eine Anwendung unmöglich macht, da ihre Anfangsbedingungen jetzt nicht mehr erfüllt sind. So gesehen handelt es sich bei den Sozialwissenschaften um eine, was die Geltung ihrer Hypothesen betrifft, erfolgreiche, aber in der jeweiligen Version kurzlebige Veranstaltung, freilich nicht kurzlebiger als eben jener Weltzustand, dem eine Hypothese gegolten hatte. Und natürlich bestreiten die Kritiker auch nicht, daß bei der sich selbst vernichtenden Vorhersage eine Verkehrung des Wahrheitswertes jener Proposition stattfindet, die das Konsequens der konditionalen Vorhersage bildet. Ohne die Publikation der Vorhersage wäre diese Proposition falsch gewesen, sie wurde jedoch für wahr gehalten und sie wird nun, als Folge der Bekanntgabe, wahr gemacht. Weil irrtümlich ein Preisverfall befürchtet wurde, bauten die Weizenbauern weniger Weizen an. Es ist also ein und dieselbe Proposition, die ohne Bekanntgabe falsch gewesen wäre, und die jetzt, aufgrund veränderter antezedenter Bedingungen, das heißt also nach Meinung der Kritiker, als Wirkung einer anderen Ursache, wahr wird. Keine Beachtung schenken die Disputanten dem sich ergebenden korrelativen Problem der Erklärung, daß nämlich der Wissenschaftler aufgrund der Möglichkeit der sich selbst vernichtenden Vorhersage post hoc vor der Aufgabe der Identifizierung der richtigen Ursache steht, ob also die Falschheit des Konsequens auf die Ungültigkeit seiner Hypothese oder auf deren Kenntnis zurückzuführen ist, die ja, wie angemerkt, eben nicht zur Ungültigkeit der Hypothese führt. Doch natürlich könnte die Hypothese wegen des falschen Konsequens nun als ungültig erscheinen. Insofern stellt die sich selbst vernichtende Vorhersage für den Wissenschaftler ein Problem der nichtigen Invalidierung, der scheinbaren Falsifikation dar, oder auch: ein sich post hoc ergebendes Problem der Ambiguität des Konsequens. Merton hatte jedoch seinen Hinweis mit der Abgrenzungsthese verbunden, der zufolge die sich selbst zerstörende Vorhersage ein für menschliche Angelegenheiten kennzeichnendes Phänomen sein soll. Diese These weisen Grünbaum und Nagel allerdings zurück, und zwar mit folgender Analogie: Ein Geschoß mit Selbstlenkungsmechanismus erhält von seinem Bordcomputer die Information, es werde das Ziel auf dem augenblicklichen Kurs nicht treffen. Also kor250

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Sich selbst erfüllende Vorhersagen und nichtige Validierung

rigiert es seine Bahn, trifft das Ziel und macht den konsequentialen Teil der Vorhersage falsch. Die Rakete verhält sich ganz so wie der Weizenfarmer in Mertons Beispiel, funktioniert aber nach streng naturwissenschaftlichen Vorgaben, nämlich denen einer negativen Rückkopplung; die sich selbst zerstörende Vorhersage ist demnach nicht kennzeichnend für die Sozial- oder Humanwissenschaften. (Vgl. A. Grünbaum (Historical Determinism), S. 239 f. sowie E. Nagel (Structure), S. 469 f.) Die Beurteilung dieser Kritik sei für einen Augenblick aufgeschoben. 8

6.2 Sich selbst erfüllende Vorhersagen und nichtige Validierung Merton hatte nicht nur auf die sich selbst vernichtende, sondern nachdrücklich auch auf einen zweiten Typus der »reflexiven Vorhersage«, auf den der sich selbst erfüllenden Vorhersage verwiesen. Man betrachte sein Beispiel: Die Kunden der Last National Bank hören gerüchteweise von einer Insolvenz ihrer Bank und heben daher, ehe es zu spät ist, ihre Ersparnisse ab. Daraufhin wird die Bank insolvent. Sie wäre aber ohne das Verhalten ihrer Kunden nicht insolvent geworden. Hier wird also eine zunächst, und das soll heißen, ohne ihre Publikation falsche Vorhersage »Die LNB wird bankrott machen« aufgrund der Bekanntgabe wahr gemacht. Wie in I ist jedoch auch hier die ursprüngliche Hypothese gar nicht mehr betroffen, weil nach der Bekanntgabe nicht mehr anwendbar. Es gibt hier also keine Bestätigung der ohne ihre Bekanntgabe falschen Hypothese; bestätigt wird vielmehr eine andere Hypothese, die gerade auf der Grundlage dieser Bekanntgabe gebildet wird. Doch dem Wissenschaftler stellt sich wieder ein Problem der Identifizierung, da Hypothesen scheinbar bestätigt werden, die sich ohne ihre Veröffentlichung als falsch erwiesen hätten. (Vgl. R. Merton (Theory), S. 476 ff.) Wie im Falle der sich selbst vernichtenden Vorhersage die Widerlegung ist hier die Bestätigung eine scheinbare, weil die Bekanntgabe die Antezedensbedingungen ändert, und, mit anderen Worten, eben nicht mehr die ursprüngliche, sondern eine Man sieht jedoch auch hier die Ähnlichkeit mit der Habermas-Kritik Grünbaums, wo er nach ganz demselben Muster einer naturwissenschaftlichen Analogisierung von Prozessen verfährt, die als charakteristisch humanwissenschaftlich behauptet worden waren. (Vgl. oben, 5.4, S. 219)

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neue Hypothese auf dem Prüfstand steht. Es tritt also, wie man in Analogie zum Falle der sich selbst vernichtenden Vorhersage sagen könnte, ein Problem der nichtigen Besta¨tigung (II) auf. Oben war gerade dieses Problem als das der sogenannten guten Vp dargestellt worden, sofern nämlich die Bestätigung einer sonst falschen experimentellen Hypothese allein auf dem Eifer der Vp beruht, den Wunsch des Experimentators zu erfüllen, daß seine Hypothese wahr sein möge. (Vgl. oben, 4, S. 182 ff.) Ebenso wie die sich selbst vernichtende Vorhersage betrachtet Merton die sich selbst erfüllende als eine humanwissenschaftliche Besonderheit. Doch Grünbaum zeigt, daß auch hier ein rein physikalischer Mechanismus von der Art denkbar ist, daß eine falsche Information über einen bevorstehenden Zusammenstoß das Steuerungssystem einer Rakete so beeinflußt, daß der Zusammenstoß dann stattfindet und die Information wahr macht. Wieder bestreiten die Kritiker Mertons keineswegs die Existenz eines Problems, nämlich das der Verkehrung des Wahrheitswertes des Konsequens aufgrund seiner Kenntnisnahme. Sie bestreiten jedoch erneut die Spezifität dieses Problems für die Humanwissenschaften. Die Diskussion der sich selbst vernichtenden und der sich selbst erfüllenden Vorhersage läßt sich also nun wie folgt zusammenfassen: Es besteht in den Sozialwissenschaften kein Problem der Bestätigung oder der Invalidierung von Vorhersagen durch ihre Kenntnisnahme. Die Kenntnisnahme betrifft den Wahrheitswert der (konditionalen) Vorhersage gar nicht. Wohl aber ändert sie die Antezedensbedingungen derart, daß die ursprünglich angenommene Ursache nun nicht mehr besteht und andere Hypothesen und Ursachen an deren Stelle treten. Und infolge dieser neu anzunehmenden Hypothesen ergibt sich nun eine Umkehrung des Wahrheitswertes der Proposition, die als Konsequens in die ursprüngliche Vorhersage eingegangen war. Dies Problem der Verkehrung des Wahrheitswertes der Konsequenz (I + II) geben Mertons Kritiker zu, und damit auch das Problem der Gefährdung sozialwissenschaftlicher Hypothesen und das damit verbundene Problem der Identifizierung der für den sich ergebenden Wahrheitswert verantwortlichen Ursache. Doch ist diese Situation kein abgrenzendes Kriterium der Sozialwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften. Es fragt sich, ob diese Beschreibung die Sache trifft, und ob insbesondere Mertons Abgrenzung mit der vorgebrachten Kritik wirk252

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Der Schematismus der reflexiven Vorhersage

lich hinfällig ist. Bei etwa diesem Diskussionsstand war die Diskussion im Psychologie-Kapitel suspendiert worden.

6.3 Der Schematismus der reflexiven Vorhersage Im folgenden sei ein Argument betrachtet, dem zufolge diese zusammenfassende Beschreibung zu kurz greift. Man denke an das Beispiel des Geheimagenten zurück, der die gegnerische Falle durchschaut und sich dennoch zum Rendezvous eingefunden hatte. Dessen Gegner waren von einer bestimmten Auffassung ausgegangen, was der Mann tun würde, und zwar aufgrund einer Einschätzung seines Charakters: X sei ein Frauenliebhaber und werde daher der Versuchung nicht widerstehen können usw. X hatte diese Überlegung durchschaut und daher Kenntnis von der sich aus ihr ergebenden Vorhersage seines Verhaltens. Wäre ihm all dies unbekannt gewesen, so hätte er zweifellos der Einladung der Schönen Folge geleistet; nun ist es ihm bekannt; und doch folgt nichts aus seiner Kenntnisnahme; er verhält sich so, als habe sie nicht stattgefunden. Die dargestellte Konstellation ist eben nicht die der sich selbst vernichtenden Vorhersage, obwohl sich zunächst alles so anläßt, sondern es bleibt bei der Wahrheit der Proposition, die in die ursprüngliche Vorhersage als Konsequens einging. Hier wird sichtbar, daß die sich selbst zerstörende und die sich selbst erfüllende Vorhersage Teil eines umfassenderen Schematismus sind, der in der Diskussion bisher keine Berücksichtigung fand. Zu diesem Schematismus gehören neben der Umkehrung des Wahrheitswertes im Falle der sich selbst vernichtenden und in dem der sich selbst erfüllenden Vorhersage zwei weitere Fälle, in denen es beim ursprünglichen Wahrheitswert bleibt. Im folgenden wird dies als der Schematismus der reflexiven Vorhersage bezeichnet werden. Das Problem, das sich stellt, besteht jedoch nicht in der Nichtberücksichtigung weiterer möglicher Fälle, also in der unvollständigen Rezeption des Schematismus; aufgrund des Schematismus kann jetzt vielmehr gezeigt werden, warum die vorliegende Problemsituation als eine der Verkehrung der Wahrheitswerte des Konsequens falsch beschrieben ist. Denn diese Verkehrung findet nicht notwendig statt, doch die Situation bleibt problematisch, wenn auch in anderer Form: Sie zeigt sich jetzt als eine, in welcher mit der Kenntnisnahme der Vorhersage dem, der zu dieser Kenntnis gelangt, anheimgestellt A

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ist, sich gegen oder für die Vorhersage zu entscheiden, diese entweder wahr oder falsch zu machen, je nach Absicht. 9 Spielt sich also die Kenntnisnahme im Kontext dieses vollständigen Schematismus ab, dann hat es der Sozialwissenschaftler keineswegs mit einem Problem der Verkehrung des Wahrheitswertes zu tun. Sein Problem ist ein anderes, und zwar, da der Betreffende sich in der beschriebenen Weise für oder gegen die Vorhersage entscheiden kann, ein Problem der unsicheren Vorhersage (III). Wird X bekannt, daß die anderen mit seiner Verführbarkeit rechnen, dann ist sein Erscheinen ganz sicher zweifelhaft. Bereits an dieser Stelle der Analyse läßt sich dann das folgende gegenüber Merton und angesichts von Grünbaums Maschine festhalten: Die vieldiskutierte Annahme von der Existenz einer sich selbst vernichtenden oder sich selbst erfüllenden Prophetie ist falsch. Denn die Bekanntgabe (»Prophetie«) für sich genommen entscheidet nicht darüber, was geschehen wird, also auch nicht über Vernichtung oder Erfüllung. Aus der Bekanntgabe folgt nur eines, nämlich die Unsicherheit, ob die Vorhersage sich nun erfüllen werde oder nicht. Diese Feststellung ist das unmittelbare Ergebnis der Anerkennung des Schematismus bekannt gewordener Vorhersagen. Keinesfalls muß also die Mitteilung und Kenntnisnahme eine »Trotzreaktion« hervorrufen, so wie z. B. von Schopenhauer in einer berühmten Passage seiner »Preisschrift über die Freiheit des Willens« von 1839 beschrieben: »(Wir wollen) uns einen Menschen denken, der, etwa auf der Gasse stehend, zu sich sagte: ›Es ist sechs Uhr abends, die Tagesarbeit ist beendigt, ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Club gehen; ich kann auch auf den Turm steigen, die Sonne untergehen zu sehen; ich kann auch ins Theater gehen; ich kann auch diesen oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Tor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wieder kommen. Das alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.‹ … Kehren wir zu jenem aufgestellten, um sechs Uhr deliberierenden Menschen zurück und denken uns, er bemerke jetzt, daß ich hinter ihm stehe, über ihn philosophiere und seine Freiheit zu all jenen ihm möglichen Handlungen abstreite; so könnte es leicht geschehen, daß er, um mich zu widerlegen, eine davon ausführte: Dann wäre aber gerade mein Leugnen und dessen Wirkung auf seinen Widerspruchsgeist das ihn dazu nötigende Motiv gewesen. Jedoch würde dasselbe ihn nur zu einer oder der anderen von den leichteren unter den oben angeführten Handlungen bewegen können, z. B. ins Theater zu gehen; aber keineswegs zur zuletzt genannten, nämlich in die weite Welt zu laufen, dazu wäre dies Motiv viel zu schwach.« (A. Schopenhauer (Grundprobleme), S. 210– 212) Wie sich am Beispiel vom Geheimagenten X zeigt, können die Handlungsmotive dessen, der auf die Mitteilung reagiert, ganz unabhängig von dem Motiv sein, die Vorhersage widerlegen oder bestätigen zu wollen.

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Der Schematismus der reflexiven Vorhersage

Man beachte, wie bereits vermerkt, daß dieser Schematismus nicht nur ein Problem der unsicheren Vorhersage hervorbringt. Neben der Unsicherheit der Vorhersage gibt es auch eine Unsicherheit der Erklärung: Nehmen wir an, die Gegenseite will erklären, daß X sich am verabredeten Ort eingefunden hat; dann besteht post hoc Ungewißheit, ob X kam, weil er der Versuchung nicht widerstehen konnte oder ob er aus eigenen Gründen kam, nachdem und obwohl ihm die Überlegungen der Gegenseite klar wurden. Diese Ungewißheit entsteht gerade, sofern der vollständige Schematismus in Betracht gezogen wird, in dem ja der Betreffende nach deren Bekanntgabe auch im Sinne der Vorhersage handeln kann. Ist nun der Schematismus und das mit ihm verbundene Problem der unsicheren Vorhersage kennzeichnend für die menschlichen Belange? Auf der Linie der Überlegungen Grünbaums könnte das folgende Gegenargument vorgebracht werden: In den Steuerungsmechanismus der Grünbaumschen Rakete ist ein Zufallsgenerator eingebaut, der nach dem Zufallsprinzip darüber entscheidet, wie die Rakete nach Bekanntgabe der Vorhersage reagiert. D. h. also die Rakete wird ihren Kurs entweder korrigieren oder auch nicht, und ihre dem Zufall folgende Entscheidung ist ungewiß, gerade so wie die des Agenten X, der seine Gegner durchschaut hatte. 10 Die Unsicherheit der Erklärung ist ebenfalls nach physikalischen Prinzipien rekonstruierbar: Verfehlt die Rakete ihr Ziel, dann ist ungewiß, ob sie dies aufgrund der ursprünglichen antezedenten Bedingungen oder aufgrund der Entscheidung eines Zufallsgenerators tat, sofern möglicherweise ein solcher mit im Spiel ist. Ist nicht diese Beschreibung der Problemsituation aufgrund des vervollständigten Schematismus als eine der unsicheren Vorhersage irreführend? Würde nicht Grünbaum hier sagen: »Neues Spiel, neues Glück« und entweder ein Verhalten im Sinne der ursprünglichen Vorhersage oder eben in deren Gegensinn prognostizieren, je nach Beschaffenheit der nun wieder neu zu bestimmenden Anfangsbedingungen, passend zur neuen Fragestellung nach der Reaktion eines Menschen, dem eine Vorhersage seines Verhaltens mitgeteilt wird? Michael Scriven hat das folgende Gedankenexperiment vorgeschlagen: Jemandem wird mitgeteilt, daß ein anderer sein Verhalten vorhergesagt habe, doch der Inhalt der Vorhersage wird ihm verschwiegen. Sofern nun sein überwiegendes Motiv (gegenüber denkbaren Alternativen) darin besteht, die Vorhersage zu widerlegen, dann wäre die Verwendung eines Zufallsgenerators zur Bestimmung seines Verhaltens eine vorteilhafte Strategie. (Vgl. M. Scriven (Unpredictability), S. 413)

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Dies ist offenbar eine Frage des Informationsstandes. Das heißt, liegen bestimmte Informationen über den Betreffenden vor, die einen Rückschluß auf das besondere Verhalten in einer derartigen Situation zulassen, über seinen Charakter, sein vergangenes Verhalten unter vergleichbaren Umständen, dann ist eine Reduzierung der Unsicherheit und die neue kausale Vorhersage zweiter Ordnung möglich. Sofern aber als einzige neue Information gerade nur die Tatsache der Kenntnisnahme der Vorhersage hinzutritt, kommt es zum Problem der unsicheren Vorhersage im angegebenen Sinne. Man muß also die Rekonstruktion der Kenntnisnahme durch einen Zufallsgenerator richtig verstehen, und zwar als eine Momentaufnahme der Unsicherheit vor der darauf folgenden Konstruktion der Nachfolgeerklärung. Insofern auch folgt aus der Annahme des Zufallsgenerators nicht, daß die sich anschließende Erklärung probabilistisch sein müßte. Die durch die Kenntnisnahme erzeugte Unsicherheit geht in die sich anschließende Erklärung nicht mit ein, sondern wird im Zuge der zunächst erforderlich werdenden Untersuchungen der Anfangsbedingungen reduziert. Gleiches gilt natürlich auch für die aufgrund der Kenntnisnahme mögliche Handlungserklärung. Etwas Weiteres wird hier deutlich: Die Eigentümlichkeit des vollständigen Schematismus besteht nicht in der Verkehrung des Wahrheitswertes oder in der Richtigkeit der einen oder der anderen Erklärung; vielmehr ist der Schematismus gekennzeichnet durch einen kategorialen Wechsel der Vorhersage oder der Erklärung, der sich in Abhängigkeit der jeweils gültigen Anfangsbedingungen u. d. h. der Bekanntheit oder Unbekanntheit der unterstellten oder wirkenden Ursachen ergibt. Das heißt, daß es durchaus bei der Vorhersage eines bestimmten Verhaltens bleiben kann, wenn einer Person die ihr unterstellte Verhaltensursache bekannt wird; doch wird dies Verhalten jetzt nicht mehr aufgrund der ursprünglich angenommenen Ursache, sondern vielmehr aufgrund einer angesichts der Kenntnisnahme der Ursache gebildeten Absicht der betreffenden Person vorhergesagt werden. Es muß sich also nicht die Vorhersage ändern, ändern kann sich jedoch deren Typus (»X wird sich einfinden, nicht, weil er nicht widerstehen kann, sondern weil er eigene Zwecke verfolgt«). Ebenso besteht im Falle der Erklärung ein entscheidendes Kennzeichen in der Eröffnung der Möglichkeit zum kategorialen Wechsel: Die Unsicherheit der Erklärung bezieht sich gerade auf die Frage, ob ein und dasselbe Verhalten durch die zunächst angenommene Ur256

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Kategorialer Wechsel

sache oder ob es durch eine Absicht der handelnden Person zu erklären ist. Freilich ist dies die Eröffung einer Möglichkeit, zu der es eine Alternative gibt. Der Schematismus eröffnet die Möglichkeit zum kategorialen Wechsel, doch kann es auch bei einer kausalen Vorhersage oder Erklärung bleiben. Hierauf wird sofort zurückzukommen sein. Doch ist nicht auch dieser Hinweis auf die Möglichkeit des kategorialen Wechsels irreführend, da Grünbaum, indem er zu einer kausalen Vorhersage oder Erklärung zweiter Ordnung fortschreitet, diese Möglichkeit einfach übergehen und beiseite lassen wird? Dieser Frage soll weiter unten (6.5) noch einmal nachgegangen werden.

6.4 Kategorialer Wechsel Bedeutet die physikalische Rekonstruierbarkeit auch der unsicheren Vorhersage die definitive Zurückweisung der Abgrenzungsthese? Um zu sehen, daß dies nicht so ist, betrachte man noch einmal das Zusammenspiel von Vorhersage oder Kausalerklärung und Zurkenntnisnahme! Insbesondere sei zunächst eine Ergänzung der einleitenden These formuliert (vgl. oben, 6, S. 241) Diese These hatte gelautet, daß solche Ursachen, die durch ihre bloße Kenntnisnahme beseitigt werden können (ohne daß etwas weiteres hinzukäme), demjenigen unbekannt sein müssen, dessen Verhalten sie erklären sollen oder dessen Verhalten auf ihrer Grundlage vorhergesagt werden soll; und daß Handlungserklärungen aufrecht erhalten werden können, wenn jene Kausalerklärungen, die an ihre Stelle treten, demjenigen, dessen Verhalten erklärt werden soll, bekannt sind. Die Zurückweisung der Kausalerklärung aufgrund der Bekanntheit der Ursache, so könnte man sagen, schafft Raum für eine andere Kategorie der Erklärung, nämlich für Handlungserklärungen. Dieser Zusammenhang läßt sich nun folgendermaßen ergänzen: Beharrt der Betreffende aufgrund der Bekanntheit der Ursache auf seiner Handlungserklärung, dann kann ihm eine zweite Kausalerklärung entgegengehalten werden, die sein Verhalten jetzt aus einer anderen kausalen Struktur ableitet, zu der mit gehört, daß die erste Ursache bekannt ist. Oben wurde eine derartige Kausalerklärung als eine solche »zweiter Ordnung« (vgl. oben, 6.1, S. 248) bezeichnet. A

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Man stelle sich vor, die Gegner des Geheimagenten X bringen in Erfahrung, daß X die ihm gestellte Falle durchschaut hat. Und nun überlegen sie, wie er wohl reagieren werde. Sie kennen ihn als einen Menschen, der kein Risiko scheut; und daher vermuten sie jetzt, daß er sich aufgrund seiner Risikobereitschaft dennoch am vereinbarten Ort einfinden werde. Diese Erklärung durch die Risikobereitschaft von X, bei der die Kenntnis der ersten Vorhersage mit ins Kalkül einbezogen wird, würde die Handlungsbegründung, die X selbst gibt, daß er nämlich kommen werde, um seine Gegner seinerseits zu täuschen, konterkarieren: X kommt nicht deshalb, weil er die und die Gründe bei sich erwogen hat, sondern weil er die Gefahr liebt. Und nun ist wieder ein nächster Schritt denkbar, mit welchem die Irrelevanz auch dieser zweiten Vorhersage durch deren Bekanntheit aufgezeigt wird, usf. usf. Hier wird also sichtbar, daß die Frage nach dem angemessenen Typus von Erklärung komplexer ist, als bisher dargestellt: Es besteht offenbar ein Wechselspiel von erster Kausalerklärung, Zurkenntnisnahme dieser Kausalerklärung und kategorialer Wechsel zur Handlungsbegründung, erneuter kategorialer Wechsel zur Kausalerklärung zweiter Ordnung angesichts der Zurkenntnisnahme der ersten Kausalerklärung, usw. Die Aufgabe der Erklärung wird nach dieser Ergänzung im Vergleich mit der oben im Zusammenhang mit den Problemen der unsicheren Vorhersage dargestellten Situation noch einmal komplizierter (vgl. oben, S. 254): Post hoc steht der Wissenschaftler vor einem Problem der Vieldeutigkeit des zu erklärenden Verhaltens; dies Verhalten ist entweder zurückführbar auf die erste möglicherweise ins Spiel kommende Ursache; oder auf die Absicht des Handelnden, sich im Sinne einer durch diese Ursache begründbaren Vorhersage zu verhalten, sofern er diese kennt; oder auf eine zweite Ursache, die den Betreffenden dazu veranlaßt hätte, sich angesichts der Kenntnis der ersten Vorhersage dennoch in deren Sinne zu verhalten. Dieser Alternation von Handlungs- und Kausalerklärungen oder den entsprechenden Vorhersagen liegt, so darf man dann weiter sagen, ein bestimmtes Bedingungsgefüge zugrunde, in dem sich der Handlungswissenschaftler zurechtfinden muß: 1. Jede Kausalerklärung des bewußten Typs von beliebiger Ordnung (erster, zweiter usf.) kann als gegenstandslos erwiesen werden, wenn die Kenntnis der in sie eingehenden Ursache dargelegt wird. Auf diese Weise wird häufig, wenn auch nicht immer, eine Handlungserklärung verteidigt 258

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Kategorialer Wechsel

(sonst aber eine Kausalerklärung höherer Ordnung vorgebracht); 2. Jede Handlungserklärung kann mit einer Kausalerklärung angefochten werden, sofern die in die Kausalerklärung eingehende Ursache unbekannt ist (und wir lassen sie zumeist als Einwand gelten, wenn nämlich die Handlungserklärung als unplausibel erscheint). Mit der Skizze des handlungswissenschaftlichen Bedingungsgefüges ist das methodologische Problem des Handlungswissenschaftlers hinreichend beschrieben. Seine Aufgabe besteht unter anderem in der Untersuchung der Kenntnisse desjenigen, dessen Verhalten oder Handeln er voraussagt oder erklärt, und das heißt in der exakten Bestimmung der Anfangsbedingungen der Vorhersage oder Erklärung, die er liefern will. Auf der Grundlage seiner Untersuchung muß er dann entscheiden, ob er eine kausale Vorhersage liefern will oder aber die Absichtsbekundung eines anderen hinzunehmen bereit ist, da er feststellt, daß diesem die ins Auge gefaßte Hypothese über eine Verursachung seines zukünftigen Verhaltens schon bekannt war, oder ob er eine kausale Vorhersage zweiter Ordnung abgeben will usf. und analog für den Fall der Erklärung post hoc. Damit aber besteht sein Problem nicht nur in der Verkehrung des Wahrheitswertes der Konsequenz (I + II), und auch nicht nur in Problemen der Unsicherheit der Erklärung oder Vorhersage (III); sein Problem ist zusätzlich das des kategorialen Wechsels der Vorhersage oder Erkla¨rung (IV), d. h. der Zuordnung der Anfangsbedingungen und der Entscheidung darüber, ob im gegebenen Fall eine Kausalerklärung beliebiger Ordnung oder aber eine Handlungserklärung geboten ist. Die philosophische Fragestellung lautet dann, ob das methodologische Problem eine Besonderheit der Handlungswissenschaften darstellt. Am Beginn der Diskussion dieser Frage steht offensichtlich eine kausalistische Version der Einheitsthese, der zufolge ein Disput um Anfangsbedingungen handlungswissenschaftlicher Erklärung immer auf ein und dieselbe Weise entschieden wird, nämlich durch die Feststellung der Anfangsbedingungen für die einschlägige Kausalerklärung. Dieser Auffassung zufolge gäbe es hier kein für die Handlungswissenschaften spezifisches Moment. Gegen gerade eine solche Form der Einheitsthese richtete sich Mertons oben so genannte Abgrenzungsthese, in den Handlungswissenschaften sei darauf Rücksicht zu nehmen, daß Personen auf Vorhersagen ihres Verhaltens in bestimmter Weise handelnd reagieren könnten. Die BeschreiA

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bung der handlungswissenschaftlichen Problematik als einer des kategorialenWechsels erlaubt jetzt noch einmal eine Neufassung der Abgrenzungsthese, die daher mit der physikalischen Rekonstruktion der unsicheren Vorhersage und Erklärung eben noch nicht als zurückgewiesen betrachtet werden darf. Im Folgenden sei das Fazit aus dieser Diskussion um die Eigenständigkeit der Handlungswissenschaften gezogen.

6.5 Rekonstruierbarkeit des kategorialen Wechsels Gegen die Abgrenzungsthese in Mertons Version anläßlich der Unterscheidung sich selbst vernichtender und sich selbst erfüllender Prophezeiungen hatten Grünbaum und Nagel Beispiele ins Feld geführt, in denen ein Mechanismus sich ganz ähnlich wie eine Person verhielt, die von einer Vorhersage ihres Verhaltens erfahren hatte, und sie hatten die These in dieser Form zurückgewiesen. Das von Merton entworfene Szenario war sodann um Fälle erweitert worden, in denen Personen von Vorhersagen erfuhren, ohne sich daraufhin im Gegensinn der Vorhersage zu verhalten. Aus dem so erweiterten Tableau ergab sich eine zweite Version der Abgrenzungsthese, der zufolge es in den Handlungswissenschaften eine besondere Form der Unsicherheit von Erklärung und Vorhersage gibt, weil sich die informierte Person in deren Sinne oder eben im Gegensinne verhalten könnte. Es wurde eingeräumt, daß auch diese Version der Abgrenzungsthese durch Verweis auf einen Mechanismus – einen Zufallsgenerator – zurückgewiesen werden kann, der vor ein analoges Problem stellt. Doch ist durch die Kritik der Abgrenzungsthese in ihrer zweiten Version eine definitive Widerlegung noch nicht erbracht. Der Neufassung zufolge besteht nur in den Handlungswissenschaften die Schwierigkeit zu entscheiden, ob ein Verhalten durch eine Handlungserklärung oder ob es durch eine Kausalerklärung erklärt werden sollte. Auch gegen diese These gibt es Einwände: Eine Möglichkeit, der Abgrenzungsthese in dieser Version zu begegnen, besteht wieder im Gebrauch des schon erprobten Instruments der mechanischen Rekonstruktion: Die Differenz, die schon Merton hatte hervorheben wollen, ist gewiß die zwischen dem Entschluss, die Vorhersage auf deren Mitteilung hin dennoch wahr zu machen, und jenem anderen 260

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Fall, in dem die Vorhersage wahr wird. Nun denke man sich einen Computer, dessen Programm mit einer sog. »Absichtsschleife« ausgestattet ist. Durchläuft das Programm diese Schleife, dann soll der Output als »Wahrmachen der Vorhersage« bezeichnet werden. Durchläuft es sie nicht, dann wird derselbe Output »Wahrwerden der Vorhersage« genannt. Die Analogie zum menschlichen Verhalten liegt auf der Hand: Wie im Falle des Computerprogramms soll es auch im Gehirn eine Absichtsschleife geben, und deren Existenz und Funktion erklärt in völlig hinreichender Weise den begrifflichen Unterschied zwischen dem Wahrmachen und dem Wahrwerden einer Vorhersage. 11 Die Konsequenz der Analogie, läßt sie sich durchhalten, ist ebenfalls eindeutig: Auch praktisch begründete Vorhersagen sind in Wahrheit kausal begründete, die spezifische Ursache im vorliegenden Fall ist die Aktivierung der Absichtsschleife. Also gibt es keinen kategorialen Wechsel der Begründung, der eine Abgrenzung rechtfertigen würde. Zugleich wird aufgrund dieser Rekonstruktion deutlich, warum wir uns der façon de parler bedienen, in manchen Fällen normaler Verursachung von Absichten und Handlungen zu sprechen: Dies tun wir immer dann, wenn wir einen bestimmten Typus der Verursachung verzeichnen, bei dem das Programm (unser Programm) die Absichtsschleife durchläuft. Doch diese Analogie ist zurückzuweisen: Herbert Feigl beschreibt in »The ›Mental‹ and the ›Physical‹« ein sogenanntes Autocerebroskop, eine Vorrichtung also, durch die die Aktivitäten des eigenen Gehirns beobachtbar werden. Mit Hilfe des Autocerebroskops könnten die Aktivitäten der Absichtsschleife in actu beobachtet werden. Dann stehen wir wieder vor der bereits bekannten Situation: Zeigt sein Autocerebroskop dem Agenten X die Absicht an, sich alsbald zum Rendevouz mit der Agentin Y aufzumachen, und tut er dies dann auch, dann stellt sich erneut die Frage: ob ihm zuzugestehen ist, er habe, wie er sagt, seiner Wahrnehmung im Cerebroskop zum Trotze so gehandelt oder ob nach einer Ursache zweiter Ordnung zu su-

Zunächst ist die Verwandtschaft dieses Vorschlags mit dem der sog. Type-type-Identität in der Cognitive Science nicht zu übersehen. Dieser Vorstellung zufolge sind z. B. Absichten mit bestimmten Typen von neurophysiologischen Korrelaten identisch. (Vgl. etwa hierzu und auch zu den bekannten Einwänden gegen die Identifizierung propositionaler Einstellungen mit bestimmten Klassen von Substrata: N. A. Stillings u. a. (Science), S. 326 ff.)

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chen ist. 12 Die Absichtsschleife wäre demnach nicht jene letzte Instanz, die verbürgen würde, daß sich alle Anfangsbedingungen letztlich als solche kausaler Erklärungen erweisen. Gravierender als dieser erneute Vorschlag zur mechanischen Rekonstruktion, diesmal zur Rekonstruktion der Absicht hinter der Handlung selbst, ist vielleicht ein zweiter Hinweis auf die Möglichkeit zur Zurückweisung der Abgrenzungsthese als These vom kategorialen Wechsel; diesem Hinweis zufolge hätten wir es einfach deshalb allein mit aufeinander folgenden Kausalerklärungen zu tun, weil Handlungserklärungen erst gar nicht mit ins Spiel kommen. Es wird zunächst auf einen kausalen Zusammenhang als Basis für eine Vorhersage oder Erklärung hingewiesen. Ist zur Kenntnis zu nehmen, daß die Person, deren Handeln vorhergesagt oder erklärt werden soll, über eine auf diesem Zusammenhang beruhende Hypothese informiert war, dann erfolgt unmittelbar der Übergang zur Vorhersage oder Erklärung zweiter Ordnung, zu deren Anfangsbedingungen bekanntlich genau diese Information der betreffenden Person gehört – ohne jede Rücksichtnahme auf irgendeine Absichtsbekundung oder Handlungserklärung durch die Person selbst. Deren Beitrag zur Erklärung oder zur Vorhersage bleibt schlicht außer Betracht. Doch diesem Einwand der Unbeachtlichkeit der Absichtsbekundung und Handlungserklärung, dem Hinweis auf die Möglichkeit, sie beiseite zu lassen und zu umgehen, muß man sich nicht fügen. Was als Teil des Bedingungsgefüges des Schematismus der reflexiven Vorhersage und Erklärung beschrieben wurde, ist genau jener Ort, an dem sich die Handlungserklärung und Absichtsbekundung zur Geltung bringen kann. Wir akzeptieren eine Handlungserklärung, eine Absichtsbekundung als Vorhersage einer Handlung unter einer ganz bestimmten Bedingung, die Teil dieses Gefüges ist: daß wir eine Kausalhypothese als Unterstellung zurückweisen können, weil uns die unterstellte Verursachung bekannt war. Im Übergang zur Kausalhypothese zweiter Ordnung erfolgt gegenüber der Handlungserklärung auch sehr wohl eine eigene Wen-

Vgl. H. Feigl (Mental), S. 456. Feigl verwendet das Autocerebroskop allerdings zum Nachweis der sog. Identitätstheorie. Es soll die Identität etwa solcher Empfindungen wie Liebe, Hass, Verlegenheit, Überschwang mit Gehirnzuständen darlegen, wenn etwa einem »crescendo« (oder »accelerando« oder »ritardando«) des empfundenen Ärgers vergleichbare körperliche Erregungsänderungen entsprechen, die auf dem Bildschirm des Cerebroskops sichtbar und so für den Betreffenden beobachtbar werden.

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nahme genügt nicht. Erstens muß uns die auf die Kenntnisnahme hin vorgebrachte Handlungserklärung in begründbarer Weise als zweifelhaft erscheinen: Z. B. fordern Rationalisierungen in der Psychoanalyse deshalb Kausalerklärungen heraus, weil sie eben nicht als Erklärungen einleuchten. Solange kein Zweifel an der Handlungserklärung besteht, solange nach der Ursache zweiter Ordnung nur deshalb gesucht wird, weil sie sich ja finden lassen muß, ist diese Suche bloßer Dogmatismus desjenigen Philosophen, der einer Handlungserklärung nicht ihr Recht zugestehen will, weil er für diesen Disput ein anderes Ende vorgesehen hat. Doch entspricht dieser Suche dann keine Notwendigkeit in der Sache, und wir müssen uns an ihr nicht beteiligen. Der Disput um die Anfangsbedingungen handlungswissenschaftlicher Erklärungen und Vorhersagen endet also nicht – im Sinne der Einheitsthese – stets auf ein und dieselbe Weise, nämlich durch die Angabe der einschlägigen Ursache. Ebenso wie die Absichtsbekundung oder Handlungserklärung durch die Bekanntheit einer zuvor unterstellten Verursachung begründet werden muß, bedarf es dann der entsprechenden Begründung auch für die Suche nach einer Ursache zweiter Ordnung. Daher kann deren Notwendigkeit nicht einfach vorausgesetzt werden, so wie dies mit der Einheitsthese geschieht. Die Handlungswissenschaften sind demnach tatsächlich durch die Besonderheit charakterisiert, daß sie immer wieder vor ein bestimmtes Problem stellen, vor die Entscheidung, ob das ihnen Vorliegende Anfangsbedingungen der Vorhersage einer Handlung oder einer kausalen Vorhersage, einer Handlungserklärung oder einer Kausalerklärung sind. Robert Merton hatte Unrecht mit der Auffassung, daß Handlungswissenschaften durch sich selbst vernichtende oder durch sich selbst erfüllende Prophezeiungen gekennzeichnet werden könnten. Doch sind sie dadurch abgrenzbar, daß in ihnen immer aufs Neue entschieden werden muß, ob dem Handelnden in seiner Selbsteinschätzung gefolgt werden kann oder ob ihm eine ihm fremde Verursachung seines Handelns zu unterstellen ist. Gegen Grünbaum ist festzuhalten, daß er vielleicht eines übersehen hat: daß es in der Wissenschaft und im Alltag einen logischen Ort der berechtigten Handlungserklärung und Absichtsbekundung gibt, welcher auf der Grundlage des Schematismus der reflexiven

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Vorhersage und Erklärung gegen eine kausale Unterstellung verteidigt werden kann.

6.6 Der Geltungsbereich der Handlungswissenschaften Wie nachdrücklich läßt sich die jetzt exakter ausgearbeitete These von der Abgrenzbarkeit der Handlungswissenschaften vertreten? Besonders eine Teilthese, so soll abschließend gezeigt werden, bedarf gewiß noch einmal der näheren Bestimmung. Den Anlaß zur Präzisierung liefert eine Beobachtung, auf die oben zum Ende des Kapitels über Psychoanalyse hingewiesen wurde, daß nämlich die Mitteilung der (einmal unterstellt) richtigen Deutung etwa eines pathologischen Verhaltens dieses keineswegs ohne weiteres auflöst. (Vgl. oben, 5.7) In der bisherigen Betrachtung wurde ein bestimmter Typus von Ursache identifiziert, der durch die bloße Mitteilung (oder Wahrnehmung) außer Kraft gesetzt werden kann. Man denke etwa an den Fall des hypnotisierten Agenten zurück: Ihm wurde mitgeteilt, er folge mit seinem Erscheinen am Orte der Verabredung einem posthypnotischen Befehl; das kann er bestreiten, wenn er belegt, daß ihm diese Manipulation bekannt gewesen sei, und daß er sich auch jetzt daran erinnere; er habe aber aus den folgenden Gründen … dennoch kommen wollen. Man betrachte ein anderes Beispiel: Dem Käufer in einem Warenhaus wird mitgeteilt, daß er bisher in seinem Kaufverhalten dem Arrangement von Werbepsychologen gefolgt ist, die primär zu verkaufende Waren in Augenhöhe und Reichweite plaziert haben; kauft er auch künftig aus Bequemlichkeit in erster Linie Waren, die in dieser Weise arrangiert wurden, obwohl er sich an die Mitteilung erinnert, dann ist, so könnte man sagen, seine Bequemlichkeit nicht mehr die Ursache seines Handelns. Dies sind zwei klare Fälle, in denen eine Ursache durch ihre Mitteilung aufgehoben wird. 13 Ein weiterer, scheinbar klarer Fall von Aufhebung aufgrund bloßer Kenntnisnahme begegnete oben bei der Betrachtung der Selbsttäuschung: Von jemandem, der sich selbst täuscht, und dem dies bewußt gemacht wird, könnte dann nicht mehr gesagt werden, er handle so, wie er das tut, weil er sich selbst täuscht. Es wurde jedoch ausgeführt, daß es sich hierbei wegen des Wissens um die Selbsttäuschung, das mit deren Absichtlichkeit gegeben ist, eher um eine Absichtsänderung als um die Aufhebung einer Ursache handelt.

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Die verzögerte Wirkung der Mitteilung einer psychoanalytischen Deutung bespricht Freud in einer der behandlungstheoretischen Schriften, »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«. Freud erläutert zunächst, daß es zwar in der Hypnose – der Technik der Wahl in der psychoanalytischen Frühzeit –, nur selten jedoch bei der aktuelleren Technik einer Deutung der Verdrängungswiderstände, so etwas wie eine Mitteilung und anschließende Erinnerung des Verdrängten, also der Ursache etwa eines neurotischen Symptoms gebe. Denn »das ideale Erinnern des Vergessenen in der Hypnose (entspricht) einem Zustande, in welchem der Widerstand völlig beiseite geschoben ist«. (S. Freud (Erinnern), S. 211) Hingegen erreicht die neuere Technik, die gerade bei diesem Widerstand ansetzt, anstatt ihn beiseite zu schieben, dies Ideal nur selten. Sie tut dies durch die Deutung des Widerstandes in der Übertragung; doch hat die Deutung nicht die unmittelbare Beseitigung des Widerstandes zur Folge: »Man muß dem Kranken die Zeit lassen, sich in den ihm nun bekannten Widerstand zu vertiefen, ihn durchzuarbeiten, ihn zu überwinden, indem er ihm zum Trotze die Arbeit nach der analytischen Grundregel fortsetzt. … Der Arzt hat dabei nichts anderes zu tun, als zuzuwarten und einen Ablauf zuzulassen, der nicht vermieden, auch nicht immer beschleunigt werden kann. … Dieses Durcharbeiten der Widerstände … ist aber jenes Stück Arbeit, welches die größte verändernde Einwirkung auf den Patienten hat und das die analytische Handlung von jeder Suggestionsbeeinflussung unterscheidet.« (S. Freud, »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, S. 215)

Im Gegensatz zu den beiden oben genannten Fällen schildert also Freud den der psychoanalytischen Deutung als einen, in dem die Mitteilung durchaus die Ursache für ein bestimmtes Symptom beseitigt; doch ist »diese Einleitung (noch nicht) die ganze Arbeit«; die Mitteilung wirkt mit Verzögerung, sie setzt einen, wie Freud hervorhebt, autonomen Prozeß in Gang, eine Art Ruminieren, und erst am Ende dieses Prozesses steht dann die gelungene Kur (und vielleicht die Erinnerung). Die psychoanalytische Deutung steht als Beispiel einer solchen verzögerten Wirkung der Mitteilung oder Wahrnehmung der Ursache nicht alleine da. Als ein analoges Beispiel sei ein beliebiger Fall von sogenannter verbaler Konditionierung zitiert, in dem ein Versuchsleiter das verbale Verhalten einer Vp durch bestimmte Verstärker verändert. Zum Beispiel wird in einem Experiment die Häufigkeit der Verwendung eines bestimmten Fürworts (z. B. »Ich«) A

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gesteigert, indem dessen Verwendung jedesmal durch ein zustimmendes »Hm-hm« belohnt wird. 14 Entscheidend bei derartigen Konditionierungen ist nun, daß das so erzeugte Verhalten auf die Mitteilung der Ursache hin keineswegs einfach unterlassen wird. Vielmehr verhält sich die Vp noch eine Zeit lang im Sinne der Konditionierung. Das konditionierte Verhalten ist also stabil, und zwar sogar gegenüber der Kenntnisnahme seiner Ursächlichkeit. 15 Der psychoanalytische und der verhaltenstheoretische Fall erinnern nun an andere, in denen ebenfalls aufgrund der Mitteilung etwas in Gang gesetzt werden kann, ein Mechanismus, und erst am Ende des Wirkens des Mechanismus ist dann auch tatsächlich die Ursache außer Kraft gesetzt. Man denke etwa an eine medikamentöse Behandlung: Erfahre ich, daß ich an dem-und-dem leide, das durch ein Medikament X bekämpft werden kann, dann kann ich gegen dieses Leiden vorgehen, indem ich dessen Ursache durch die Einnahme von X beseitige. Dieser Umgang mit Kausalität wurde oben als der mit typisch naturwissenschaftlichen Ursachen bezeichnet: Diese können beseitigt werden, wenn von ihnen Kenntnis genommen und dann gegen sie vorgegangen wird. Und ähnlich scheinen die Dinge im Fall der psychoanalytischen Deutung und der Verhaltenstherapie zu liegen. Doch jene Gegenstände, gegen die wir uns hier wenden, sind eindeutig seelischer oder geistiger Natur. Demnach betrachten wir wohl einige dieser Gegenstände insofern nach dem Muster der physikalischen, als wir ihnen eine gewisse Autonomie zugestehen; und das zeigt sich daran, daß wir sie als quasi-physikalische Verursacher betrachten. Es gibt also Ursachen, die durch ihre Kenntnisnahme außer Kraft gesetzt werden; und es gibt Ursachen, die wir außer Kraft setzen können, nachdem wir von ihnen Kenntnis erlangt haben, wenn wir dies wollen. Doch die Grenze zwischen beiden ist nicht scharf; denn einige seelische oder geistige Ursachen werden offenbar auch nicht durch ihre Kenntnisnahme allein außer Kraft gesetzt. Es sei Vgl. etwa eine Beschreibung bei E. Timaeus (Experiment), S. 116 ff.; man beachte freilich, daß derartige Experimente gerade im Hinblick auf die Wahrnehmung der Konditionierung durch die Versuchspersonen kritisiert wurden. 15 Die Stabilität von neurotischem Verhalten, etwa Phobien, erhellt aus den umfangreichen Vorkehrungen, die zu seiner Löschung erforderlich sind, etwa die Erstellung einer Angsthierarchie und der schrittweise Abbau der einzelnen angsteinflößenden Vorstellungen im Zuge der Behandlung. (Vgl. etwa L. J. Pongratz (Lehrbuch), S. 112 f.) 14

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denn, wir entschließen uns, die Sache so zu sehen, daß die volle Wahrnehmung und Kenntnisnahme der Ursache erst nach Ablauf des jeweiligen Mechanismus gelungen ist. Dies allerdings wäre eine Entscheidung zur Grenzziehung, nicht etwa die Auffindung einer Grenze, die schon vorher bestanden hätte.

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Bibliographie R. R. Holt (Death): »The Death and Transfiguration of Metapsychology«, in: International Review of Psychoanalysis 8 (1981) 129–143 H. Honolka (Eigendynamik): Die Eigendynamik sozialwissenschaftlicher Aussagen, Frankfurt a. M. 1978 K. Jaspers (Zusammenhänge): »Kausale und ›verständliche‹ Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose bei der dementia praecox (Schizophrenie)«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 14 (1913) 158–263 K. Jaspers (Psychopathologie): Allgemeine Psychopathologie, Berlin/Heidelberg/New York 9 1973 M. Johnston (Self-Deception): »Self-Deception and the Nature of Mind«, in: B. P. McLaughlin/A. Oksenberg-Rorty (Hgg.), Perspectives on Self-Deception, Berkeley 1988, 63–91 I. Kant (Metaphysik): »Die Metaphysik der Sitten«, in: Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VI, Berlin 1907/14, 1–493, zit. nach dem Wiederabdruck in: Kants Werke, Berlin 1968 I. Kant (Kritik): Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, in: Kants gesammelte Schriften, hrsg. Von der Königklich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. III, Berlin 1904/11; zit. Nach dem Wiederabdruck in: Kants Werke, Berlin 1968 Herbert C. Kelman (Use): »Human Use of Human Subjects: The Problem of Deception in Social Psychological Experiments«, in: Psychological Bulletin 67 (1967) 1–11 J. Kim (Gesetze): »Psychophysical Laws«, in E. LePore und B. McLaughlin (Hgg.), Actions and Events. Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, Oxford 1985, 369–386; zit. nach ders., »Psychophysische Gesetze«, in: E. Picardi und J. Schulte (Hgg.), Die Wahrheit der Interpretation, Frankfurt 1990, 140–169 H. G.Kippenberg, B. Luchesi (Hgg.) (Magie): Magie – Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt 1978 P. Kline (Fact): Fact and Fantasy in Freudian Theory, New York 2 1972 P. Kline (Kritik): »Grünbaums philosophische Kritik an der Psychoanalyse – oder: Was ich nicht weiß, ist keine Wissenschaft«, in: A. Grünbaum (Hg.), Kritische Betrachtungen zur Psychoanalyse, Berlin/Heidelberg/New York 1991, 100–102 M. Löw-Beer (Selbsttäuschung): Selbsttäuschung, Freiburg 1990 M. Mandelbaum (Problem): The Problem of Historical Knowledge, New York 1938 M. Mandelbaum (Analysis): »Causal Analysis in History«, Journal in the History of Ideas (1942) 30–50 M. W. Martin (Self-Deception): Self-Deception and Self-Understanding, Kansas 1985 J. Masling (Studies): Empirical Studies of Psychoanalytic Theorie, Bd. 1, London 1983; Bd. 2, London 1986 J. Masling (Fallstudien): »Psychoanalyse: Fallstudien und experimentelle Daten«, in: A. Grünbaum (Hg.), Kritische Betrachtungen zur Psychoanalyse, Berlin/Heidelberg/New York 1991, 115–117 W. Meeus, Q. Raaijmakers (Autoritätsgehorsam): »Autoritätsgehorsam in Experimenten des Milgram-Typs: Eine Forschungsübersicht«, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie (1989) 70–85 A. R. Mele (Self-Deception): »Self-Deception«, Philosophical Quarterly 33 (1983), 365– 377 A. R. Mele (Work): »Recent Work on Self-Deception«, American Philosophical Quarterly 24 (1987) 1–17

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Bibliographie R. J. Menges (Openness): »Openness and Honesty versus Coercion and Deception in Psychological Research«, American Psychologist (1973) 1030–1034 R. Merton (Theory): Social Theory and Social Structure, 2. erw. Ausgabe, New York 1968 St.Milgram (Study): »Behavioral Study of Obedience«, in: Journal of Abnormal Psychology 67 (1963) 371–378 St. Milgram (Conditions): »Some Conditions of Obedience and Disobedience to Authority«, in Human Relations 18 (1965) 57–76 St. Milgram (Interpreting): »Interpreting Obedience: Error and Evidence«, in: A. G. Miller (Hg.), The Social Psychology of Psychological Research, New York 1972, 138–159 St. Milgram (Experiment): Obedience to Authority. An Experimental View, New York 1974; zit. nach: ders., Das Milgram-Experiment, Hamburg 1982 A. G. Miller (Role Playing): »Role Playing: An Alternative to Deception? A Review of the Evidence«, in: American Psychologist 27 (1972) 623–636 L. O. Mink (Mind): Mind, History and Dialectic, Bloomington 1969 Th. Mischel (Psychologie): »Psychology and Explanations of Human Behaviour«, in: Philosophy and Phenomenological Research 23 (1963) 578–594; zit. nach: »Psychologie und Erklärungen menschlichen Verhaltens«, in: ders., Psychologische Erklärungen, Gesammelte Aufsätze, Frankfurt 1981, 7–32 Th.Mischel (Kant): »Kant and the Possibility of a Science of Psychology«, in: The Monist (1967) 399–622; zit. nach: ders., »Kant und die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Psychologie«, in: ders., Psychologische Erklärungen, Gesammelte Aufsätze, Frankfurt 1981, 114–142 Th. Mischel (Verständnis): »Understanding Neurotic Behaviour: From ›Mechanism‹ to ›Intentionality‹«, in: Th. Mischel (Hg.), Understanding Other Persons, Oxford 1974, 216–256; zit. nach: ders., »Zum Verständnis neurotischen Verhaltens: Vom ›Mechanismus‹ zur ›Intentionalität‹«, in: ders., Psychologische Erklärungen, Gesammelte Aufsätze, Frankfurt 1981, 180–229 R. von Mises (Lehrbuch): Kleines Lehrbuch des Positivismus. Einführung in die empiristische Wissenschaftsauffassung, Den Haag 1939; zit. nach der Neuausgabe Frankfurt/M. 1990 O. Morgenstern (Wirtschaftsprognose): Wirtschaftsprognose, eine Untersuchung ihrer Voraussetzungen und Möglichkeiten, Wien 1928 O. Morgenstern (Theory): »Descriptive, Predictive and Normative Theory«, in: Kyklos XXV (1972) 699–714 M. T. Motley (Verification): »Verification of ›Freudian‹ Slips and Semantic Prearticulatory Editing via Laboratory-Induced Spoonerisms«, in: V. A. Fromkin (Hg.), Errors in Linguistic Perfomance: Slips of the Tongue, New York 1980, 133–147 E. Nagel (Structure): The Structure of Science, London 1961 O. Neurath (Soziologie): Empirische Soziologie, Wien 1931; zit. nach dem Wiederabdruck in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 1, Wien 1981, 423–527 O. Neurath (Grundlagen): Foundations of the Social Sciences, in: International Encyclopedia of Unified Science, Bd. I und II: Foundations of the Unity of Science, Bd. 2, Chicago 1944; zit. nach der deutschen Übersetzung: »Grundlagen der Sozialwissenschaften«, in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 2, Wien 1981, 925–978

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Bibliographie A. Oksenberg-Rorty (Self): »The Deceptive Self: Liars, Layers, and Lairs«, in: B. P. McLaughlin/A. Oksenberg-Rorty (Hgg.), Perspectives on Self-Deception, Berkeley 1988, 11–28 M. T. Orne (Social Psychology): »On the Social Psychology of the Psychological Experiment: With Particular Reference to Demand Characteristics and their Implications«, in: American Psychologist 17 (1962) 776–783 M. T. Orne, Ch. H. Holland (Validity): »On the Ecological Validity of Laboratory Deceptions«, in: International Journal of Psychiatry 4 (1968) 282–293; zit. nach dem Wiederabdr. in: A. G. Miller (Hg.), The Social Psychology of Psychological Research, New York 1972, 122–137 B. Pascal (Pensées): Pensées, Paris 1938; zit. nach der dt. Übertragung Über die Religion, Heidelberg 1963 D. Pears (Paradoxes): »The Paradoxes of Self-Deception«, in: ders., Questions in the Philosophy of Mind, London 1975, 80–96 D. Pears (Irrationality): Motivated Irrationality, Oxford 1984 T. Penelhum (Pleasure): »Pleasure and Falsity«, in American Philosophical Quarterly 1 (1964), 81–91 Platon (Hippias Minor): »Hippias Minor«, in Platonis Opera, hrsg. von I. Burnet, Bd. III, Oxford 1900; zit. nach der dt. Übertragung in ders., Sämtliche Werke, Bd. I, Hamburg 1957 Platon (Euthydemos): »Euthydemos«, in Platonis Opera, hrsg. von I. Burnet, Bd. III, Oxford 1903; zit. nach der dt. Übertragung in ders., Sämtliche Werke, Bd. II, Hamburg 1957 Platon (Kratylos): »Kratylos«, in Platonis Opera, hrsg. von I. Burnet, Bd. I, Oxford 1900; zit. nach der dt. Übertragung in ders., Sämtliche Werke, Bd. IV, Hamburg 1958 Platon (Theaitet): »Theaitet«, in Platonis Opera, hrsg. von I. Burnet, Bd. I, Oxford 1900; zit. nach der dt. Übertragung in ders., Sämtliche Werke, Bd. IV, Hamburg 1958 L. J. Pongratz (Lehrbuch): Lehrbuch der klinischen Psychologie, 2. durchgesehene Aufl., Göttingen 1975 K. R. Popper (Logik): Logik der Forschung, Wien 1935; zit. nach der 4., verbesserten Auflage Tübingen 1971 K. R. Popper (Elend): The Poverty of Historicism, London 1944; zit. nach der 3. verbesserten dt. Ausgabe: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1971 K. R. Popper (Gesellschaft): The Open Society and its Enemies, London 1945, zit. nach der dt.Ausgabe:Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bern 1958 K. R. Popper (Conjectures): Conjectures and Refutations, The Growth of Scientific Knowledge, zit. nach der 5. überarbeiteten Ausgabe, London 1972 K. R. Popper (Replies): »Replies to my Critics«, in: P. A. Schilpp (Hg.), The Philosophy of Karl Popper, La Salle 1974, 961–1197 D. Rapaport (Struktur): The Structure of Psychoanalytical Theory: A Systematizing Attempt, New York 1960; zit. nach der dt. Ausgabe: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie: Versuch einer Systematik, Stuttgart 1970 P. Ricoeur (Question): »The Question of Proof in Freud’s Psychoanalytic Writings«, in: ders., Hermeneutics and the Human Sciences, NY 1981, 247–274 P. Ricoeur (Zeit): Temps et récit, Bd. I, Paris 1983; zit. nach der dt. Übers.: Zeit und Erzählung, Bd. I, Zeit und historische Erzählung, München 1988 K. Röttgers (Text): Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten, Freiburg/München 1982

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Bibliographie K. Röttgers (Geschichtserzählung): »Geschichtserzählung als kommunikativer Text«, in: S. Quandt, H. Süssmuth (Hgg.), Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, Göttingen 1982 R. Rosenthal (Experimenter Effects): Experimenter Effects in Behavioural Research, New York 1966 R. Rosenthal, L. Jacobson (Pygmalion): Pygmalion in the Classroom. Teacher Expectation and Pupils’ Intellectual Development, NY 1968; zit. nach der erw. Ausg. NY 1992 L. Ross (Intuitive Psychologist): »The Intuitive Psychologist and his Shortcomings: Distortions in the Attribution Process«, in: Advances in Experimental Social Psychology 10 (1977) 173–220 W. D. Ross (Aristotle): Aristotle, London 2 1930 G. Ryle (Begriff): The Concept of Mind, London 1949; zit. nach der deutschen Ausgabe Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969 G. Santas (Aristotle): »Aristotle on Practical Inference, the Explanation of Action, and Akrasia«, in: Phronesis 14 (1969) 162–189 J. P. Sartre (Sein): L’être et le néant, Paris 1943; zit. nach der dt. Übertragung: Das Sein und das Nichts, hrsg. von T. König und H. Schöneberg, Hamburg 1993 M. Schlick (Erkenntnislehre): Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 2 1925 N. D. Schmidt (Philosophie): Philosophie und Psychologie, Hamburg 1995 A. Schopenhauer (Grundprobleme): Die beiden Grundprobleme der Ethik, zit. nach: Schopenhauers sämtliche Werke, Bd. V, hrsg. von M. Frischeisen-Köhler, Berlin o. J. R. Schottländer (Lüge): »Die Lüge in der Ethik der Griechisch-Römischen Philosophie«, in: O. Lipmann, P. Plaut (Hgg.), Die Lüge, Leipzig 1927 K. Schüttauf (Sprechfehler-Experiment): Ein Sprechfehler-Experiment zur Fehlleistungstheorie und Neurosenlehre der Psychoanalyse, Bonn 1995, unveröffentlicht K. Schüttauf u. a. (»Freudsche Versprecher«): »Induzierte ›Freudsche Versprecher‹ und zwangsneurotischer Konflikt«, in: Sprache und Kognition 16 (1997) 3–13 M. Scriven (Unpredictability): »An Essential Unpredictability in Human Behaviour«, in: B. B. Wolman (Hg.), Scientific Psychology, Principles and Approaches, New York 1965, 411–425 R. K. Shope (Freud): »Freud on Conscious and Unconscious Intentions«, in: Inquiry 13 (1970) 149–159 D. G. Shulman (Investigation): »The Investigation of Psychoanalytic Theory by Means of the Experimental Method«, in: International Journal of Psychoanalysis 71 (1990) 487–498 F. A. Siegler (Self-Deception): »Self-Deception«, in: Australasien Journal of Philosophy 41 (1963) 29–43 F. A. Siegler (Intentions): »Unconscious Intentions«, in: Inquiry 10 (1967) 251–267 W. Stegmüller (Hauptströmungen I): Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4. erw. Auflage, Stuttgart 1969 W. Stegmüller (Hauptströmungen II): Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. II, 6. erw. Auflage, Stuttgart 1979 W. Stegmüller (Probleme I): Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. I: Erklärung, Begründung, Kausalität, 2. verbess. und erw. Auflage Berlin/Heidelberg/New York 1983 N. A. Stillings (Science): Cognitive Science, An Introduction, Cambridge MA 1987 J. Strachey (Grundlagen). »Die Grundlagen der therapeutischen Wirkung der Psychoanalyse«, in: Imago (1935)

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Personenverzeichnis

Alain, E. 73 Anm. 17, 76 Anm. 21 Anscombe, G. E. M. 28 Anm. 3, 29, 30, 32 Anm. 5, 33, 34, 35, 40, 41 Anm. 12, 44 Anm. 15, 48, 58, 66 Anm. 10 Apel, K. O. 101 Anm. Aristoteles 26, 27, 28, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 40, 65, 67 Audi, R. 91 Anm. 30 Augustinus 62, 63, 64, 65, 66, 68, 69 Baker, G. P. 93 Anm. Barker, E. 144, 145, 146, 155 Anm. 44, 157 Bennett, D. 44 Anm. 15 Berlin, I. 152 Anm. 41 Bernheim, H. 195, 232 Bigelow, J. 137 Anm. 33 Bochenski, J. M. 65 Anm. 9 Bouveresse, J. 204 Anm. 13 Bredenkamp, J. 173 Anm. 8 Breuer, J. 210 Anm. 17, 232 Bruder, K. J. 161 Anm. 1 Buck, R. 244 Anm. 2, 246 Anm. 3 Canfield, J. V. 71 Anm. Carnap, R. 13, 14, 15, 16, 17, 121 Anm. 22 Cartwright, D. 134 Anm. 30 Chihara, Ch. S. 51, 52, 55, 56 Churchland, P. M. 21, 45, 46 Anm. 16, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58 Collingwood, R. 22, 100, 101 Anm. u. Anm. 7, 102, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114 Anm., 115, 116 Anm. 19, 118, 119, 120, 124, 131 Anm. 26, 136 Anm. 32, 143, 146, 242 Croce, B. 99, 101

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Danto, A. C. 71 Anm., 101, 109, 130 Anm. 25, 137 Anm. 34, 146, 147, 148, 149, 150, 152, 153, 155, 159 Darwin, Ch. 215 Davidson, D. 22, 41, 42, 43, 44, 45, 47, 48 Anm. 17, 62, 70 Anm. 15, 80, 81, 82, 83, 84, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92 Anm. 31, 97, 98, 207 Anm. 14, 215, 218, 222 Anm. 24, 223 Anm. Demos, R. 71 Anm. Descartes 95 Anm. 32 Dick, F. 178, 179, 180 Dihle, A. 66 Anm. 10, 67 Anm. Dilman, I. 202, 203, 205, 206, 214, 239 Dilthey, W. 13, 99, 100, 161 Anm. 1, 199 Anm., 216 Diogenes Laertius 65 Anm. 9 Donogan, A. 105 Anm. 13, 109 Anm. 15 Dray, W. 100, 101, 102, 107, 109, 113, 114, 115, 117, 118, 119, 120, 127, 131 Anm. 26, 143, 144 Anm., 146, 157, 200 Anm. 9, 249 Anm. 7 Ducasse, C. J. 34 Anm. 7 Dummett, M. 12 Eagle, M. 209 Anm. 16, 216 Anm. 22 Ebbinghaus, H. 161 Anm. 1, 199 Anm. Eckhardt von, B. 228 Anm. 28 Einstein, A. 111 Erwin, E. 207 Anm. 14 Eubulides 65 Anm. 9 Evans, F. J. 177 Fairbairn, W. R. D. 228 Falkenberg, G. 65 Anm. 8 Feigl, H. 261, 262 Anm. 12 Fingarette, H. 70 Anm. 15, 71 Anm., 207 Anm. 14

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Thomas Keutner

https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

Personenverzeichnis Fisher, S. 229 Anm. 30 Flax, J. 228 Flew, A. 140 Anm. 37, 188, 193 Anm. 5, 196, 197, 198, 200, 204 Anm. 12, 209 Anm. 15 Fließ, W. 187 Anm. 1, 193 Anm. 3 Fodor, J. A. 51, 52, 55, 56 Fonagay, P. 229 Anm. 30 Frank, Ph. 99 Anm. 3 Frege, G. 92 Anm. 31 Freud, A. 228 Freud, S. 74 Anm. 19, 75 Anm. 20, 80, 83, 186, 187, 188, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198 Anm. 8, 200 Anm. 9, 202 Anm., 207, 208, 210, 211, 212, 213, 216, 217 Anm., 221, 222, 223, 224, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233 Anm. 31, 235, 236, 238, 240, 265 Galilei, G. 35, 36 Anm. 9 Gardiner, P. 102, 107, 116, 117, 118, 119, 120, 125, 126, 128, 129, 131, 200 Anm. 9 Gergen, K. 75 Anm. 20 Gewirth, A. 245, 247 Anm. 5 Gibbon, E. 152 Anm. 42 Gordon, R. 56 Greenberg, K. P. 229 Anm. 30 Grosskurth, Ph. 235 Anm. 33 Grünbaum, A. 25, 75 Anm. 20, 186, 187, 190, 191, 198 Anm. 8, 200 Anm. 9, 210 Anm., 212 Anm., 216 Anm. 22, 217 Anm., 219, 220, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 247, 248, 249 Anm. 7, 250, 251, 252, 254, 255, 257, 260, 263 Gustafson, D. F. 71 Anm. Habermas, J. 25, 189, 190, 191, 207 Anm. 14, 210 Anm., 216, 217, 218, 219, 220, 224 Anm. 26, 231, 248, 251 Anm. 8 Hacker, P. M. S. 93 Anm. Hahn, H. 13, 17 Hamlyn, D. 207 Anm. 14 Hampshire, S. 201 Hartmann, H. 199 Anm., 200 Anm., 228

Hegel, G. W. F. 137 Anm. 34, 150, 153, 217 Hempel, C. G. 14, 15 Anm. 1, 16, 22, 32 Anm. 5, 60, 99, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 111, 113, 114, 115, 116, 117, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 132, 133, 134, 142, 157, 200 Anm. Herbart, J. F. 161 Anm. 1, 207 Anm., 208, 209 Herrmann, Th. 248 Anm. 6 Hofling, Ch. K. 178 Anm. 10 Holland, Ch. H. 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178 Holt, R. R. 224 Anm. 25 Honolka, H. 244 Anm. Hora, E. 152 Anm. 41 Horowitz, I. A. 181 Hume, D. 35, 129 Anm. 24, 131, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 148 Jacobsen, L. 244 Anm. Janet, P. 195 Anm. 6 Jaspers, K. 198 Anm. 8, 199 Anm. Johnston, M. 74 Anm. 19 Kächele, H. 187 Anm. 1 Kant, I. 11, 13, 61, 62, 63, 111, 112, 161 Anm. 1 Kelman, H. 180, 181 Keseling, P. 65 Anm. 8 Kim, J. 43 Anm. 14 Kippenberg, H. G. 18 Anm. 3 Klein, M. 228, 235 Anm. 33 Kline, P. 228 Anm. 29, 229 Anm. 30 Kopernikus, N. 51 Loretan, J. 244 Anm. Löw-Beer, M. 69 Anm. 13, 70 Anm., 78 Anm. 22 Luchesi, B. 18 Anm. 3 Malcolm, N. 140 Anm. 37 Mandelbaum, M. 100 Anm. 5, 101 Anm. 8, 102, 131 Anm. 26, 143 Anm. 38 Mann, Th. 203 Martin, M. W. 70 Anm. 14 Marx, K. 132 Anm. 27, 150, 153

A

Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

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Personenverzeichnis Masling, J. 228 Anm. 29, 229 Anm. 30 Meeus, W. 178 Mele, A. R. 62 Anm. 1, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90 Menges, R. J. 162 Anm. Merton, R. K. 19, 25, 184, 210 Anm., 243, 244, 245, 246, 247, 250, 251, 252, 254, 259, 260, 263 Milgram, S. 22, 23, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 183 Anm., 233, 234 Miller, A. C. 181, 182 Mink, L. O. 109 Anm. 15 Mischel, Th. 161 Anm. 1, 207 Anm. 14, 208, 209 Mises von, R. 16 Anm. 2, 99 Anm. 2 Morgenstern, O. 18 Anm. 3, 243 Anm. 1, 244 Anm. Motley, M. T. 229, 230, 231 Nagel, E. 15 Anm. 1, 245, 247, 248, 250, 251, 260 Neurath, O. 13, 16 Anm. 2, 17, 20, 156 Anm. 45 Newton, I. 13, 111, 186 Oksenberg-Rorty, A. 83 Anm. 24 Oppenheim, P. 16 Orne, M. T. 161, 162, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 180, 181, 183 Pascal, B. 86, 88 Pears, D. 70 Anm. 14, 74 Anm. 19 Penelhum, T. 71 Anm. Piaget, J. 77 Platon 66 Pongratz, L. J. 266 Anm. 15 Popper, K. R. 100 Anm. 4, 102, 103, 114 Anm. 18, 134, 186, 187, 191, 244 Anm. Prescott, W. H. 144, 145, 154 Ptolemäus 51 Raaijmakers, Q. 178 Rapaport, D. 224 Anm. 25 Rickert, H. 13, 99, 101 Anm. Ricoeur, P. 134 Anm. 29, 198 Anm. 8 Rosenblueth, A. 137 Anm. 33 Rosenthal, R. 161, 244 Anm.

280

Ross, L. 166 Anm. 4, 167 Anm. u. Anm. 5, 168 Anm. 6 Ross, W. D. 66 Anm. 10 Rothschild, B. H. 181 Röttgers, K. 158 Anm. 46 Ryle, G. 32 Anm. 5, 118, 119, 120, 121 Santas, G. 28 Anm. 2 Sartre, J. P. 62, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 84, 91, 92, 97, 188, 207 Anm. 14, 208, 216 Schafer, R. 207 Anm. 14 Schleiermacher, F. 66 Schlick, M. 13, 14 Schmidt, N. D. 161 Anm. 1, 199 Anm. Schopenhauer, A. 254 Anm. 9 Schottländer, R. 65, 67 Anm. Schüttauf, K. 230, 231, 234, 235 Scriven, M. 255 Anm. 10 Sellars, W. 56 Seneca 66 Anm. 10 Shope, R. K. 202 Anm. Shulman, D. G. 229 Anm. 30 Siegler, F. A. 71 Anm., 201 Anm. 11, 202 Anm. Stegmüller. W. 15, 34 Anm. 7, 38 Anm. 10, 40, 41, 105 Anm. 13, 132 Anm. 28, 135 Anm. 31 Stekel, W. 208 Stillings, N. A. 261 Anm. 11 Stoner, J. A. F. 134 Stoutland, F. 130 Anm. 25 Strachey, J. 235, 236 Strenger, C. 228 Stricker, L. J. 161 Anm. 2 Stuwe, W. 168 Anm. 6, 171 Anm. 7 Tarski, A. 92 Anm. 31 Taylor, A. J. P. 127 Thomä, H. 187 Anm. 1 Thomas von Aquin 64 Anm. 6 u. 7, 68 Timaeus, E. 168 Anm. 6, 171 Anm. 7, 266 Anm. 14 Timpanaro, S. 212 Anm. Toulmin, S. 188, 196, 198, 200 Tuomela, R. 19 Anm. 4, 46 Anm. 16, 47 Anm.

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Thomas Keutner

https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

Personenverzeichnis Venn, J. 243 Anm. 1 Vico, G. 150, 151, 152, 153 von Mises, R. 16 von Wright, G. H. 19 Anm. 4, 30 Anm. 4, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 46 Anm. 16, 47 Anm., 48, 102, 129, 130 Anm. 25, 131, 132, 133, 134, 135 Anm. 31, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 158

Waismann, F. 140 Anm. 37 Weber, M. 132 Anm. 27, 199 Anm. White, H. 101, 152 Anm. 42 Wiener, N. 137 Anm. 33 Winch, P. 18 Anm. 3 Windelband, W. 13, 99 Wittgenstein, L. 12, 51, 52 Anm., 93 Anm., 204 Wood, A. 73 Anm. 18 Zilsel, E. 102 Anm. 9, 156 Anm. 45, 157

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Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

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Sachverzeichnis

Abgrenzungsthese 244, 245, 250, 259, 260, 262 Akrasie 48, 57 Alltagspsychologie 52–58, 97 Anm., 166 Anm. 4, 238 Alltagsverstand 51, 53, 54 Autorität 22, 164, 167 Anm. u. Anm. 5, 168–172, 179 Bestätigungsmodell der Selbsttäuschung 84, 90, 91 Bewußtmachung des Unbewußten 191, 231, 233, 236, 240 Bewußtsein als Störvariable 178–180 Bewußtsein, präreflexives 77, 79, 80 Chronik, ideale 146, 147, 149 Deutung, mutative 235, 236 Dualismus der Erfahrungswissenschaften 11 Dualismus der Handlungswissenschaften 27, 59 Ducasse-Satz 34 Anm. 7 Einheit 11, 14–16, 20, 74, 80, 91, 92, 99, 103, 108, 111 –, der Gesetze 15 –, der Methode 16, 20 –, des Seienden 14 –, der Sprache 14, 15, 20 Einheitsthese/These von der Einheit d. Wissenschaft 11, 13–17, 100 Anm. 5, 106, 107, 113, 116, 158 Anm. 46, 259, 263 Erfahrungswissenschaften 11, 13, 16, 17 Erkenntnis 11, 13–15, 19, 21, 26, 30, 33, 55–57, 73 Anm. 17, 77, 108, 155

282

Anm. 44, 182, 210 Anm., 216, 217, 219, 222, 226, 239 –, praktische 21, 26, 30, 33 –, theoretische 21 Erklärung 16–20, 23–26, 32–36, 39–45, 47 Anm., 49, 51, 54–56, 58, 59, 61, 62, 66, 72, 75 Anm. 20, 78, 79, 81–84, 89, 98, 100–107, 109, 111, 114–142, 144– 146, 152–154, 156–160, 161 Anm. 1, 174, 183, 185–191, 193–199, 200 Anm. 9, 205–207, 209, 210 Anm., 211– 218, 221–225, 232, 233, 238, 241, 242, 250, 255–260, 262–264 –, dispositionale 32, 117, 120, 121 –, Handlungs- 17–19, 21, 22, 24–26, 32 Anm. 5, 34, 35, 36 Anm. 9, 41, 43–45, 47–49, 51, 53, 57–61, 98, 101, 105–107, 109, 113–121, 123–129, 132, 138, 140– 143, 144 Anm., 145, 146, 148, 149, 153–158, 160, 185, 186, 188, 189, 198 Anm. 8, 218, 241, 242, 256–260, 262, 263 –, intentionalistische 102, 190, 140 –, Kausal- 12, 16–31, 32 Anm. 5, 34, 36, 40–45, 58–61, 98, 99, 100 Anm. 6, 101, 103, 106, 111, 113, 116–120, 124–129, 131, 132, 135, 138, 140–143, 146, 148, 153–160, 182, 183, 185, 186, 188–190, 194, 196–198, 215, 216, 218, 220–225, 233, 241–243, 245, 257–260, 262, 263 –, –, deduktiv-nomologische 30, 34, 40, 45, 58, 59, 99, 106, 113, 119, 125 –, –, nomologische 101, 116 –, –, singuläre 41–43, 222–224 –, motivationale 32 Anm. 5, 116, 118 –, rationale 100, 114, 119, 144 Anm., 145 –, statistische 104 –, quasi-kausale 129, 137

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Thomas Keutner

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Sachverzeichnis –, quasi-teleologische 129 –, Erzählen 99, 100, 146, 148, 153, 158 Anm. 46 erzählende Sätze 146, 147, 152, 153 Erzählung 22, 101, 142–144, 146–150, 152, 153, 155, 158, 192, 196 Falsifizierbarkeit der Psychoanalyse 186, 187 Anm. 1 Feldexperiment 160, 173 Anm. 8, 180, 181 Forschungshypothese 21, 23, 24, 162 Anm., 183 Anm., 184, 231, 234 Fremdpsychisches 15, 55–57, 121 Anm. 22, 237 Freudsche Versprecher 198 Anm. 8, 212, 229, 230 Gehorsam 22, 67 Anm., 168, 170, 175– 178, 180, 183 Anm. Gehorsamsbereitschaft 163, 165, 167, 171–174, 176, 182, 183 Geschichtsphilosophie, substantialistische 153, 155–157 Gesetze 15, 16, 21, 26, 27, 43–45, 47, 49– 51, 53, 54, 55 Anm. 19, 57–60, 67 Anm., 99, 100, 102 Anm. 9, 103–106, 114, 116, 120, 121, 124, 133, 134, 145, 151 Anm. 40, 157, 222, 223 Anm., 225, 245, 247 Anm. 5, 248 Anm. 6 –, historische 102 Anm. 9, 105 Anm. 14 –, psychologische 47, 105, 106 –, psychophysische 43 –, soziologische 15, 26, 60, 106, 157 Handlung 12, 20, 21, 26, 27 Anm., 29, 30 Anm. 4, 31–37, 38 Anm. 10, 39–50, 53, 58, 61, 62, 67 Anm. 11, 70 Anm., 77, 81, 83, 88 Anm. 29, 100, 104, 107–114, 116–120, 122–124, 130, 131, 133, 136, 138 Anm. 35, 140 Anm. 36, 141–145, 155 Anm. 44, 183 Anm., 189, 192 Anm. 2, 194–196, 198 Anm. 8, 202, 203, 206, 208, 209, 215, 233 Anm. 31, 234 Anm. 32, 254 Anm. 9, 261–263, 265 Handlungswissenschaften 18–20, 22, 24–27, 59–61, 158 Anm. 46, 159, 185,

231, 245, 249 Anm. 7, 259, 260, 263, 264 Holismus der Bewertung wissenschaftlicher Theorien 52 Hypnose 187 Anm. 1, 203, 232, 233, 265 Ignoranz 18–25, 61, 103, 135, 142, 143, 152, 153 Anm. 43, 154–160, 173, 183, 185, 190, 191, 218, 220, 221, 229, 231– 234, 236, 240–243 Ignoranz, Prinzip der 18, 19, 20, 22–25, 61, 143, 154, 156, 157, 159, 183, 191, 220, 221, 229, 231, 233, 234, 236, 240, 243 »Innen-Außen-Theorie« des menschlichen Handelns 118 Intentionalismus 188, 189, 196, 197 Anm. 7, 199–203, 205–207, 209, 212– 215, 218, 221, 237 –, elaborierter psychoanalytischer 207 –, simpler psychoanalytischer 199, 206 Irrationalität 62, 80–82, 86, 88 Irrtum 22, 62, 64, 65, 67–70, 71 Anm., 83 Anm. 25, 85, 90, 91, 98, 215 Kausalität 22, 35, 43, 59, 101 Anm. 7, 102, 106–108, 111, 112, 114–116, 124, 125, 129 Anm. 24, 130 Anm. 25, 131– 133, 136, 137, 140, 148, 189, 190, 191, 197, 200 Anm. 9, 217–220, 227, 233, 248, 266 »Kausalität des Schicksals« 217, 219, 248 Kausalketten, abwegige (wayward causation) 44 Anm. 15, 59, 89 Anm. Kenntnisnahme 24, 183, 232, 233, 235, 236, 244, 245, 247, 249, 252–254, 256– 258, 263, 264 Anm. 13, 266, 267 klinische Theorie, psychoanalytische 223–225 Kompartmentalisierung des Bewußtseins 71, 82 Kompatibilität 124, 126–128, 132 Anm. 28, 143 Kompatibilitätsthese 102, 126, 129, 131, 140 Komplementaritätsthese 102, 143, 158

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Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

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Sachverzeichnis Logische-Verknüpfungs- Argument (LVA) 36 Lüge 22, 61–64, 66–71, 74, 75, 77, 79, 84, 87, 89, 90–92, 178 Lügenmodell der Selbsttäuschung 62, 79, 83, 84, 90, 91 Metapsychologie, psychoanalytische 223–225, 227 Milgramsche(s) Experiment(e) 22, 23, 166, 171, 173, 183 Neukantianismus 11, 13, 16 Anm. 2, 99, 100, 106 neurotisches Verhalten 192 Anm. 2, 193 Anm. 5, 197, 198 Anm. 8, 209, 213 –, als Ausführung einer Absicht 198 Anm. 8 –, als Produkt einer Selbsttäuschung 213 Notwendigkeit ex post actu 38 Anm. 10, 40 Paradoxon 65, 66, 69–71, 78, 79, 246 Anm. 4 –, der Intentionalität 70 –, des Lügners 65 –, der Selbsttäuschung 69 Anm. 13, 70 Anm. –, epistemisches 69–71, 79 Pascalsches Programm der Selbsttäuschung 86, 88 praktischer Syllogismus 28, 31, 32, 33 Anm. 6, 34, 37, 138 Anm. 35 Primärgrund 42 Anm. 13, 43, 81 Problem der Invalidierung von Hypothesen oder Gesetzen 245, 248–250, 252 Problem der nichtigen Bestätigung 252 Problem der unsicheren Vorhersage 254– 256, 259 Problem der Verkehrung des Wahrheitswertes der Konsequenz 250, 252–254, 259 Problem des kategorialen Wechsels der Erklärung 259 Probleme, philosophische 11, 12, 17, 52 Anm., 57, 112 Projektverben 149

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Prophezeiungen 25, 180, 184, 185, 243, 247, 260, 263 –, sich selbst erfüllende 25, 180, 185, 203 –, sich selbst vernichtende 184, 243 psychoanalytischer received view, 188, 191, 206–208, 209 Anm. 16, 216, 217, 235, 239 Rationalität 12, 47 Anm., 62, 81, 122, 124 Reduktion 15, 17, 27, 62 Anm. 2, 64, 70, 124, 189, 225 Reduktion des Praktischen auf das Theoretische 27 Reduktionismus 102, 224, 242 Reinszenierung der Vergangenheit (re-enactment) 108 Rekonstruierbarkeit, physikalische 257 Relation von Handlungs- und Kausalerklärung 25, 143 Rollenspiel 181, 182 Schematismus der reflexiven Vorhersage 253–257, 262–264 Schluß –, deontischer 30, 31 –, praktischer 19, 26–29, 31, 33–41, 46 Anm. 16, 47 Anm., 48 Anm. 17, 57, 59, 124, 133, 138 Anm. 35, 139, 140, 141, 202 Anm., 213, 215, 223 –, theoretischer 29, 30, 31, 47 Anm. Selbsttäuschung 20–24, 61–63, 68 Anm. 12, 69, 70, 71 Anm., 72, 74 Anm. 19, 75, 77, 79–98, 185, 188–191, 194, 206, 207, 209–216, 219, 220, 231, 233, 237, 239, 242, 264 Anm. 13 Simulation 23, 56 »Spektatorismus« 119, 120, 146 Standardexperiment, Milgrams 164, 166, 167, 178 »szientistisches Selbstmißverständnis der Psychoanalyse« 161, 224 Täuschung 21–24, 62 Anm. 2, 63, 70 Anm., 71 Anm., 83, 85–91, 98, 158, 160–163, 165, 173–178, 180–185, 189, 190, 215, 216, 218, 232–234 –, selbstinduzierte 86, 87, 89 Anm. theoretische Begriffe 53, 214

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Thomas Keutner

https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

Sachverzeichnis Theoretizität, Theorie der (theory-theory) 51, 56 Therapie, psychoanalytische 23, 226, 227 These von der Einheit der Wissenschaft s. Einheitsthese »These von der Notwendigen Bedingung (TNB)« 226 »Übereinstimmungsargument« 226 Unaufrichtigkeit (mauvaise foi) 69, 70– 72, 75–80, 208 unbewußte Wünsche, Absichten/unbewußter Wunsch, Absicht 21, 23, 24, 188–190, 193 Anm., 195, 198 Anm. 8, 201–207, 209, 211, 213–216, 218, 220, 221, 223, 225, 231, 234 Anm. 32, 236– 240 Unbewußtes 92, 189, 195 Anm. 6, 206– 208, 210, 211, 213, 214, 218, 219, 221, 224, 231, 235–237, 239 Ursache, geistige 266 »Ursache«, Bedeutung (sense I–III) von 110 Validierung 210 Anm., 224, 225, 251 Validität des Täuschungsexperiments 163 Verstehen 16, 18 Anm. 3, 20, 30 Anm. 4, 35, 40 Anm. 11, 55, 99, 100 Anm. 6, 104, 114, 138–140, 198 Anm. 8, 199 Anm., 217 Versuchsperson, gute 183

Verträglichkeit s. Kompatibilität Vicos Prinzip 151 Vorbewußtes 75 Anm. 20, 210, 211, 213, 224 Vorhersage 19, 25, 33, 56, 58, 119, 184, 242–264 –, reflexive 184, 244, 245, 253 –, sich selbst erfüllende 243 Anm. 1, 244, 251–253 –, sich selbst vernichtende 19, 243–249, 250, 252, 253 Wahrheit 13, 24, 27, 29, 31, 36, 39, 47 Anm., 59, 63–65, 69, 71 Anm., 72, 79 Anm. 23, 98, 99 Anm. 1, 118, 127, 133, 155, 156, 163, 186, 226, 243, 247, 253, 261 –, praktische 29, 59 Wahrheitstheorie der Bedeutung 92 Anm. 31, 93 Anm. Wiener Kreis 11–13, 16, 17, 20, 99 Anm. 2 Wissen 33, 44 Anm. 15, 54, 58, 68 Anm. 12, 69, 70 Anm., 72–74, 76, 77, 80, 91, 95, 108, 115, 149, 152 Anm. 42, 155 Anm. 44, 173, 182, 189, 201, 203, 207, 209, 215, 225, 264 –, was geschehen wird 33 –, was man tut 201 Zensur 72–74, 75 Anm. 20, 80, 91, 210, 211

A

Ignoranz, Täuschung, Selbsttäuschung https://doi.org/10.5771/9783495997574 .

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