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German Pages [305] Year 2019
Guido Meyer Marco Sorace Clara Vasseur Johannes Bündgens (Hg.)
Identitätsbildung Spiritualität der Wahrnehmung und die Krise der Moderne
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817742
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B
Guido Meyer Marco Sorace Clara Vasseur Johannes Bündgens (Hg.) Identitätsbildung
VERLAG KARL ALBER
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Guido Meyer Marco Sorace Clara Vasseur Johannes Bündgens (Hg.)
Identitätsbildung Spiritualität der Wahrnehmung und die Krise der Moderne
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Guido Meyer / Marco Sorace / Clara Vasseur / Johannes Bündgens (eds.) Identity Formation Spirituality of perception and the crisis of modernity Under the conditions of postmodernity, identity is no longer a firm whole. The vast number of opportunities in education, for example university courses, occupation, but also relationships and life forms lead to the insight that identity needs to be constantly reconstituted. In fact, identity is what constitutes me in my unique self physically and mentally – in other words: bodily. At the same time it eludes me and must always be re-constructed. This is especially true when earlier ideals collapse or the previously self-evident no longer holds. Identity and identity formation affect individuals as well as political or religious communities. In times when everything is in motion, identity is closely linked to the question of common values – what makes our life worth living and what we want to pass on to the next generation. Phenomenological approaches that take into account the physical, sensory and affective dimensions of life deserve particular attention in this context. In this way, experiences that establish and constitute our identity can be understood as moments of a broader »spirituality of perception.«
The Editors: Guido Meyer is Professor of Religious Education at RWTH Aachen. Marco Sorace is a lecturer at the Episcopal Academy of the Diocese of Aachen. Clara Vasseur lived as a Benedictine of the Abbey Mariendonk in the Diocese of Aachen until 2015. She co-authored the book »Spiritualität der Wahrnehmung« published by Alber in 2015 with Johannes Bündgens. Johannes Bündgens studied theology in Rome and did his doctorate there. Since 2006 he is Auxiliary Bishop in the Diocese of Aachen.
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Guido Meyer / Marco Sorace / Clara Vasseur / Johannes Bündgens (Hg.) Identitätsbildung Spiritualität der Wahrnehmung und die Krise der Moderne Identität ist unter den Bedingungen der Postmoderne kein festes Ganzes mehr. Die unüberschaubare Anzahl an Möglichkeiten in Ausbildung, Studium, Beruf, aber auch Partnerschaft und Lebensformen führen zu der Einsicht, dass Identität sich immer neu konstituieren muss. Tatsächlich ist Identität das, was mich als unverwechselbares Ich körperlich und geistig – und das heißt: leiblich – konstituiert. Zugleich entzieht sie sich mir und muss immer wieder neu errungen werden. Dies gilt gerade dann, wenn frühere Ideale zusammenbrechen oder das zuvor Selbstverständliche nicht mehr trägt. Identität und Identitätsbildung betreffen den Einzelnen ebenso wie politische oder religiöse Gemeinschaften. In Zeiten, in denen vieles in Bewegung ist, ist Identität eng verbunden mit der Frage nach den gemeinsamen Werten – das, wofür es sich zu leben lohnt und was wir an die nächste Generation weitergeben möchten. Besondere Beachtung verdienen in diesem Kontext phänomenologische Ansätze, die den leiblichen, sinnlichen und affektiven Dimensionen des Lebens Rechnung tragen. Auf diese Weise lassen sich Erfahrungen, die unsere Identität begründen und ausmachen, als Momente einer breiter angelegten »Spiritualität der Wahrnehmung« verstehen.
Die Herausgeber: Guido Meyer ist Professor für Religionspädagogik an der RWTH Aachen. Marco Sorace ist Dozent an der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen. Clara Vasseur lebte bis 2015 als Benediktinerin der Abtei Mariendonk im Bistum Aachen. Sie schrieb zusammen mit Johannes Bündgens das 2015 bei Alber erschienene Buch »Spiritualität der Wahrnehmung«. Johannes Bündgens hat in Rom Theologie studiert und dort promoviert. Seit 2006 ist er Weihbischof im Bistum Aachen.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagbild: © Gerhard Mevissen, Zeitheftungen – Buchorte XIII.2.4.1 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48828-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81774-2
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Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
I. Klassische Philosophie Holger Zaborowski Identität, Alterität, Nähe. Menschsein und das Ereignis der Barmherzigkeit . . . . . . . .
18
Bertin Rautenberg Philosophische Identitätssuche. Subjektivität und Gottesgedanke im Ausgang von Schellings Spätphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
II. Phänomenologie Jean-Bertrand Madragule Badi OP Der Anspruch des Gesichts des Anderen: »Du wirst nicht töten«. Zur Frage der Nicht-In-Differenz als ethischer Verantwortung bei Emmanuel Lévinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
Rolf Kühn* Leiblichkeit und Intensität als radikal phänomenologische Identitätsbestimmung. Beitrag für ein erneuertes Denken spirituell-kultureller Existenz heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
* Die mit »*« gekennzeichneten Beiträge sind Manuskripte der Vorträge bei der Akademietagung.
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Inhalt
Natalie Depraz* Das Herzensgebet und den liturgischen Chorgesang leiblich erleben. Am Kreuzungspunkt experientieller Phänomenologie und praktischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Antje Kapust* »Das Leben ist eine Kette von Wundern.« Der »spiritus« der Wahrnehmung und die Kultur der Diagonale
89
Stephan Grätzel* Das Mysterium der Wahrnehmung
. . . . . . . . . . . . . . 113
Guido Meyer* Die Krise der Identität und das Körperverständnis der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
Marco Antonio Sorace* Leiblichkeit und Performanz in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142
Clara Elisabeth Vasseur* Gottes Wort im Menschenleib – wie heute geistliche Identität stiften, bewahren und tradieren? Die Wiederentdeckung und Wiederbelebung der Oraltradition nach Marcel Jousse SJ (1886–1961) . . . . . . . . . . . . . .
148
III. Biblische Theologie Simone Paganini Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden im Kontext ihres zeitgenössischen Judentums: Dead Sea Scrolls und Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . .
164
Johannes Bündgens »Du bist der Messias.« Identität Christi und Identität des Christen – ein Versuch . . . .
181
8 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Inhalt
IV. Ethik Elmar Nass Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive. Phänomenologische Essentialisierung einer sozialethischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
220
V. Geschichte Caroline Horch »Individuum ineffabile est«. Individualität und Identität im Mittelalter . . . . . . . . . . . .
244
VI. Ordensspiritualität Michaela Puzicha OSB Die Formung zur Identität. Das Zeugnis der Benediktusregel
. . . . . . . . . . . . . . . 282
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
. . . . . . . . . . . 302
9 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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Vorwort Identitätsbildung in der Krise der Moderne
Ein inflationärer Gebrauch macht Wörter zu Modewörtern. Identität ist derzeit ein solches Wort. Modewörter verkommen zu hohlen Zeichen, die im Laufe der Zeit infolge vielfältiger Verwendung ihren tieferen Sinn einbüßen. Deshalb bietet es sich an, bei diesen Wörtern erneut innezuhalten und genauer nachzufragen, was damit gemeint ist. In Zeiten eines weit verbreiteten Hyperindividualismus betont ein jeder in allem, was er tut, sein Ich und seine Eigenanteile. Auf Schritt und Tritt begegnen wir ebenso in der Werbung und in der Kultur wie in der Freizeit oder bei der Arbeit Identitätsfragen. Schon die Häufigkeit der Fragen, Anregungen und Hilfestellungen zur Identitätssuche sollte uns zu denken geben. Warum diese Überbetonung? Eigentlich leben wir doch in einer pluralistischen Gesellschaft, und Freiheit, so hören wir allenthalben, ist unser höchstes Gut. Warum, wenn doch jeder vermeintlich tun darf, was er will, ist Identität heute so bedeutsam, dass manche Soziologen vom wichtigsten Besitztum in postmodernen Zeiten sprechen? Hinter der Häufigkeit und damit verbunden hinter der Eindringlichkeit des Suchens postmoderner Menschen nach Identität verbirgt sich, so die Annahme des vorliegenden Buches, eine Krisensituation. »Krisis« meint im Altgriechischen nicht nur einen Untergang oder eine Katastrophe; Krisis bezeichnet auch eine Entscheidung und einen Wendepunkt. Die in die Jahre geratene Moderne, die wir hier als Postmoderne bezeichnen, scheint ihre identitätsbildende Kraft verloren zu haben. Die großen Erzählungen, zu denen auch die Religionen gehören, die das Leben rahmten und dem Einzelnen seinen Platz im Leben zuwiesen, haben ihre Dynamik verloren. Leben wird fortan nicht mehr durch Stand, soziale Klasse oder Eltern und Beruf bestimmt. Identität fällt uns im Unterschied zu vergangenen Zeiten nicht mehr zu. Identität wird als eine höchst persönliche Aneignung verstanden. Auf sich allein gestellt, ist der Mensch nunmehr gezwungen, etwas aus seinem Leben zu machen. Gleichwohl, viele Menschen 11 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Vorwort
fühlen sich überfordert. Identität und Identitätsbildung sind in der Krise; sie fordern heraus, erfordern Entscheidungen und fragen nach den Grundlagen dieser Entscheidungen. Unter den Bedingungen der Postmoderne ist Identität kein festes Ganzes mehr. Alles verändert sich; die Referenzpunkte schwanken. Die unüberschaubare Anzahl an Möglichkeiten in Ausbildung, Studium, Beruf, aber auch in Partnerschaft und anderen Lebensformen und die damit verbundene Beschleunigungslogik führen zu der Einsicht, dass Identität sich immer neu konstituieren muss. Tatsächlich ist Identität das, was mich als unverwechselbares Ich körperlich und geistig konstituiert. Zugleich entzieht sie sich mir und muss immer wieder neu errungen werden. Dies gilt gerade dann, wenn frühere Ideale zusammenbrechen oder das zuvor Selbstverständliche nicht mehr trägt. Identität und Identitätsbildung betreffen den Einzelnen ebenso wie politische oder religiöse Gemeinschaften. In Zeiten, in denen vieles in Bewegung ist, ist Identität eng verbunden mit der Frage nach gemeinsamen Werten und dem »Wofür es sich lohnt zu leben« sowie mit dem, was wir an die nächste Generation weitergeben möchten. Vor diesem Hintergrund vermitteln uns phänomenologische Ansätze, die sich mit den leiblichen, sinnlichen und affektiven Dimensionen des Lebens befassen, wertvolle Anregungen. Denn sie nehmen die Erfahrungen, die unsere Identität begründen und ausmachen, ernst und verstehen sie als Momente einer umfassenden »Spiritualität der Wahrnehmung«. Der vorliegende Band stellt sich der Herausforderung, Identität und Identitätsbildung zusammen mit der Frage nach Werten zu denken und diese wiederum auf ihre Nachhaltigkeit hin zu überprüfen. Gleichwohl, jede Theorie, so gut sie auch sein mag, muss auf ihre praktische Umsetzung, nämlich die der Weitergabe von Werten im Dienst einer umfassenden Identitätsbildung von Individuum und Gemeinschaft, befragt werden. In diesem Zusammenhang hat sich der phänomenologische Ansatz, der zunächst nicht werten und bewerten möchte und der auch der sinnlichen und affektiven Dimension des Lebens Rechnung trägt, in besonderer Weise bewährt. Die Tagung an der Bischöflichen Akademie Aachen im Oktober 2015 war dem Thema »Identitätsbildung – Spiritualität der Wahrnehmung und Krise der Moderne« gewidmet. Den Ausgangspunkt der Tagung bildete die Buchveröffentlichung »Spiritualität der Wahrnehmung«. Ein Ziel der Veranstaltung war, über die Phänomenologie 12 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Vorwort
einen neuen Zugang zur Leiblichkeit als dem unverkennbaren geistlichen Prinzip des Menschen zu finden. Phänomenologie hat in Deutschland eine bewegte Geschichte, für die Namen wie Edmund Husserl, Edith Stein und Martin Heidegger stehen: nach einem verheißungsvollen Beginn ein schrecklicher Abbruch, der zunächst nach einem definitiven Ende aussah. Von französischen Denkern wurde die Phänomenologie weiterentwickelt, und über Frankreich hat sie ihren Rückweg nach Deutschland gefunden. Zentren des phänomenologischen Neuanfangs in Deutschland sind z. B. Freiburg und Münster. Aber auch Aachen ist ein möglicher guter Standort: wegen der Grenzlage und der traditionell engen Nachbarschaft zum frankophonen Raum – und weil mit Klaus Hemmerle zwei entscheidende Jahrzehnte lang ein phänomenologischer Denker, geprägt von Martin Heidegger und Bernhard Welte, einer der »originellsten Theologen seiner Generation« (Holger Zaborowski) auf dem Aachener Bischofsstuhl gesessen hat. Die ReferentInnen und TeilnehmerInnen der Tagung haben sich mit dem genannten Thema befasst. Aufgezeigt wurde dabei, wie die Postmoderne uns infolge des gegenwärtigen Hyperindividualismus auf die Unmittelbarkeit des Körpers verweist. Diesen meinen Körper kann und muss ich unter dem Druck der postmodernen Gesellschaft gestalten, stellte Guido Meyer zu Beginn der Veranstaltung fest. Die Modellierung des Körpers dank intensiver Fitness- und Diätprogramme sowie Tattoos und Piercings ist bei Männern und Frauen gleichermaßen verbreitet. Die Inszenierung des Körpers wird zunehmend zu einem Muss. Die Außenseite meines Körpers muss in eine bestimmte Gestalt gebracht werden, damit ich mich darin selbst erkennen kann. Der Körper verliert dabei seine Bedeutung als Basismedium der Weltbegegnung und damit der Begegnung mit Gott, wie das biblische Menschenbild es nahelegt. Der Immanenzdruck zerstört das Leibverständnis und damit die Grundlagen der Transzendenz. Der Ort, an dem das unaussprechliche Du sich offenbart, ist das Herz des Menschen, ein Herz aus Fleisch und Blut. Dass mit dem Begriff Fleisch nicht bloß Körperliches wie etwa Sehnen und Muskeln gemeint ist, zeigte Rolf Kühn in seiner Hinführung zur radikalen Lebensphänomenologie von Michel Henry auf. Die radikale Trennung von Objekt und Subjekt wird hier überwunden: Der Leib entpuppt sich als die »Protorelationalität, die allen anderen Relationen vorausgeht«. In diesem »Sich-Spüren« (s’éprouver) des Lebens durch sich selbst stoßen Menschen auf zwei Grundaffekte: Freude und 13 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Vorwort
Schmerz. Das Leben als Exzess ist offen für ein Mehr, für Gott. Gott kann immer nur sich selbst geben. Schon vor Henry wies Maurice Merleau-Ponty in der Husserl’schen Tradition darauf hin, dass unser Leib kein sichtbarer, erfahrbarer, tastbarer Gegenstand ist, den wir allgemein als »Körper« bezeichnen. Der Leib ist der Ort der Erfahrung zwischen Welt und mir, zwischen Innen und Außen, Spüren und Denken. Wahrnehmung ist ein Mysterium, weil sie sich nicht nur auf Objekte richtet, sondern das Subjekt sich darin selbst erkennt. Sprache und Leibhaftigkeit sind dafür die ausschlaggebenden Faktoren. Diesem »Mysterium der Wahrnehmung« spürte Stephan Grätzel nach und führt den Leser aus unserer technisch dominierten Welt in dessen Tiefenschichten ein. Anhand des Kunstwerkes »Treppe« schilderte Antje Kapust eindrücklich, dass auch die banalsten Erfahrungen wie das Auf- und Absteigen einer Treppe dauerhaft Menschen prägen und verwandeln können, wenn diese so verinnerlicht werden, dass sie einen identitätsbildenden Charakter haben. Letztendlich geht es bei der Identitätsbildung um den Versuch einer »Versöhnung mit dem Leben«. Die Gewissheit um die Präsenz eines ganz Anderen, den wir Gott nennen, ist die Bedingung dafür, dass so etwas wie ein Gebet zustande kommt. In dieses verborgene, innere Geschehen des Gebetes führte Natalie Depraz ein, indem sie mittels einer feinfühligen Deskription ihre persönliche Erfahrung mit dem Herzensgebet im Kreis der Familie und dem liturgischen Gesang in der Gemeinde beschrieb. Die innere Erfahrung des Gebetes stützt sich auf die leibliche Erfahrung von Atem und Herzrhythmus. Das Unaussprechliche kleidet sich hier in die wenigen Worte eines wiederholten Satzes, einer Anrufung, die Ich und Du, Gott und Mensch verbindet. Auch in der Performance-Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts steht der Leib, wie Marco Sorace an praktischen Beispielen darstellte, an zentraler Stelle. Und auch die Wiederbelebung eines ganzheitlichen Umgangs mit dem Wort der Heiligen Schrift in den Spuren der Oraltradition im Anschluss an die maßgeblichen Arbeiten von Marcel Jousse SJ, die in Deutschland bisher nur von wenigen Kennern rezipiert wurden, kommt ohne den Leib nicht aus. Die Arbeiten von Jousse belegen, welche zentrale Rolle das »Leibgedächtnis« für das Bewahren und Weitergeben von Kulturgütern wie beispielsweise heiligen Texten spielt. Grundlage einer im Leib verankerten Identität ist
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Vorwort
die Erinnerung, die wiederum ein gut funktionierendes Gedächtnis voraussetzt, betonte Clara Vasseur. Ausgehend von der Tagung und ihren Themen konnten die Herausgeber weitere Autoren gewinnen, die den Faden der Überlegungen aufnehmen und zunächst vor allem aus der allgemeinphilosophischen Warte, wie Holger Zaborowski und Bertin Rautenberg, die Identitätsproblematik vertiefen. Und auch die phänomenologische Perspektive konnte mit Jean-Bertrand Madragule Badi und seinem Blick auf Emmanuel Lévinas erweitert werden. Theologische Fragestellungen aus den Bereichen der Exegese und der Sozialethik kommen mit Simone Paganini, Johannes Bündgens und Elmar Nass in den Blick. Neben dem historischen Exkurs von Caroline Horch zur Identität auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit und dem Beitrag zur Ordensspiritualität von Michaela Puzicha ergänzen sie auf anschauliche Weise, wie fachübergreifend über die Frage Identität und Identitätsbildung nachgedacht wird. So bietet das vorliegende Buch einen bunten Strauß an anregenden Überlegungen und Erfahrungen rund um die in die Krise geratene Identitätsfrage. Die Herausgeber laden herzlich dazu ein, den Faden aufzugreifen und weiterzuspinnen. Unser Dank gilt den ReferentInnen und AutorInnen für ihre Beiträge sowie Christine Berberich und Lukas Trabert im Alber-Verlag für das Lektorat. Guido Meyer, Marco Sorace, Clara Vasseur, Johannes Bündgens
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I. Klassische Philosophie
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Identität, Alterität, Nähe Menschsein und das Ereignis der Barmherzigkeit Holger Zaborowski
1.
Wer und was? Die Frage nach der Identität der Menschen
Die Frage nach der Identität des Menschen gehört zu den Grundfragen der Philosophie. Bereits in der Antike – so etwa bei Platon und Aristoteles oder in der Sophistik – gab es eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Frage, die bereits früh von Spannungen durchzogen war. Darauf hat Theodor W. Adorno mit Nachdruck aufmerksam gemacht: »Wenn alle Psychologie seit der des Protagoras den Menschen erhöhte durch den Gedanken, er sei das Maß aller Dinge, so hat sie damit von Anbeginn zugleich ihn zum Objekt gemacht, zum Material der Analyse, und ihn selber, einmal unter die Dinge eingereiht, deren Nichtigkeit überantwortet.« 1 Insbesondere die Subjekt-orientierte Philosophie der Moderne und – daran sowohl positiv anschließend als auch sich davon distanzierend – das anthropologisch, ethisch oder logisch akzentuierte Denken der Gegenwart weisen der Frage nach der menschlichen Identität eine zentrale Bedeutung zu. Man kann diese Frage, wie Paul Ricoeur betont hat, sehr unterschiedlich verstehen. 2 Sie kann zunächst als Frage nach der numerischen Identität des Menschen verstanden werden. Dann thematisiert sie, worin die »Selbigkeit« eines sich körperlich und seelisch wandelnden Individuums im Verlauf der Zeit begründet ist. Sie kann aber Adorno, Theodor W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (= Gesammelte Schriften 4), Darmstadt 1997, 70. 2 Vgl. hierzu insbesondere Ricoeur, Paul, Das Selbst als ein Anderer, aus dem Französischen von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff, München 1996. Ricoeur geht allerdings von zwei verschiedenen Verwendungen des Identitätsbegriffes aus: Er spricht von der idem-Identität (»Selbigkeit«) und der ipseIdentität (»Selbstheit«) und deutet die numerische und die qualitative Identität als zwei Komponenten der idem-Identität. Damit rückt die anthropologisch-metaphysische Dimension der Frage nach der Identität der Person in den Hintergrund. 1
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Identität, Alterität, Nähe
auch als Frage nach der Natur oder dem Wesen des Menschen verstanden werden. Wird sie so gestellt, betrifft sie als qualitative »WasFrage« allgemeine Eigenschaften des Menschen. Wenn der Mensch in einer klassischen Antwort auf diese Frage als animal rationale definiert wird, dann gerade als rational, als vernunftbegabt in Differenz zu allen anderen Tieren und als Tier im Unterschied zu Gott oder anderen Geist- oder Vernunftwesen. Man kann diese Frage aber auch als existenzielle Frage nach dem konkreten Existenzvollzug eines Menschen stellen. In diesem Fall kann man von einer Frage nach der »Selbstheit« oder nach dem »Wer« des Menschen sprechen. Denn der Mensch zeigt sich nicht nur als ein über den Verlauf der Zeit hinweg identifizierbares Individuum, das über bestimmte Eigenschaften verfügt, die er mit allen anderen Wesen seiner eigenen Gattung teilt, sondern auch als ein je konkretes »Selbst«, als »Selbstsein« oder – wie sich auch sagen lässt – als Person. Als ein Selbst fängt der Mensch, um an Martin Heideggers Sein und Zeit anzuknüpfen, 3 etwas mit sich selbst an. Er zeitigt sich in Freiheit (d. h. er lebt nicht einfach in der Zeit als einem ihm übergeordneten »Rahmen«) und verhält sich in diesem Vollzug seiner Existenz immer auch zu sich selbst. Auf diese Möglichkeiten, die Frage nach der Identität des Menschen zu stellen, hat das Denken der Neuzeit und der Gegenwart verschiedene, kontrovers diskutierte Antworten gegeben, ohne bislang zu einer abschließenden Klärung gekommen zu sein. Es ist im Gegenteil zu beobachten, dass – nicht zuletzt durch neue Erkenntnisse in den Natur-, Human- und Sozialwissenschaften – die Identität des Menschen immer fraglicher geworden ist. So stellt sich nicht nur die klassische Frage, worin eigentlich die »Natur« des Menschen bestehe, oder die noch grundsätzlichere Frage, ob es eine solche im metaphysischen Sinne überhaupt gebe. Es wird auch diskutiert, wie über die Differenz zwischen Mensch und Tier zu denken sei oder ob es tatsächlich sinnvoll sei, von einer zeitübergreifenden numerischen Identität des Menschen zu sprechen. Denn worin könnte diese überhaupt begründet sein? Löst sich, wenn man – wie John Locke und die an ihn anknüpfende Tradition bis hin zu Derek Parfit und seinen Rezipienten 4 – die Identität des Menschen als Person im Selbstbewusstsein Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit (GA 2), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1977. 4 Zu Lockes Verständnis personaler Identität vgl. Locke, John, An Essay Concerning 3
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Holger Zaborowski
und Erinnerungsvermögen verankert, diese nicht letztlich auf? Wäre es angesichts der individuellen Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins, aber auch angesichts von Phänomenen wie Schlaf, Bewusstlosigkeit oder Demenzerkrankungen nicht angemessener, von verschiedenen und stetig wechselnden Graden der Identität eines Menschen zu sprechen? Aber auch die Vorstellung eines »Selbst« erscheint zutiefst fraglich: Was ist mit der »Selbstheit« des Menschen überhaupt gemeint? Welche Ontologie erfordert die Rede vom »Selbstsein«? Kann man an der Idee der Freiheit noch festhalten, die jeder Zugang zum Selbst – als einem freien Selbstverhältnis – zu erfordern scheint? Und ist die Frage nach dem Selbst überhaupt noch eine philosophische oder eine philosophisch beantwortbare Frage? Können Psychologie, Biologie, Neurologie, Soziologie oder andere Disziplinen nicht besser verstehen und erklären, was mit dem »Selbst« des Menschen eigentlich gemeint ist? An die Stelle der »Gigantomachie« über das Sein, 5 welche die Philosophie von der Antike bis hin zur Ontologie des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet hat, ist eine »Gigantomachie« über den Menschen und seine Identität getreten. 6 Der klassische Humanismus ist – so hat u. a. wirkmächtig Heidegger in seinem »Brief über den ›Humanismus‹« 7 festgestellt – in einer fundamentalen Krise. Die Bestimmung des Menschen entzieht sich nicht nur festlegenden Begrifflichkeiten. Jede Annäherung erweist sich – kritisch betrachtet – immer auch als Entfernung, und jeder Versuch, etwas über den oder vom Menschen zu sagen, geschieht auf Kosten dessen, was unsagbar bleibt – und teils auch unsagbar bleiben muss. Manche Denker fordern in dieser Situation, über den Menschen und seine Natur – darüber, wie er sich bislang verstanden hat und wie er sich bislang zeigte – hinauszugehen. Menschsein erscheint dann als radikal frei und die Natur nur als eine Grenze, die es zu überwinHuman Understanding, ed. with a foreword by Peter H. Nidditch, Oxford 1979, 340 f.; zu Parfit vgl. sein Reasons and Persons, Oxford 1984; für die Diskussion seines Denkens vgl. Dance, Jonathan, Reading Parfit, Oxford 1997. 5 Vgl. Platon, Sophistes, 246a. 6 Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere auch die wichtigen Überlegungen von Tischner, Józef, Der Streit um die Existenz des Menschen, aus dem Polnischen und mit einer Einführung von Steffen Huber, Frankfurt a. M. 2010. 7 Vgl. Heidegger, Martin, Brief über den »Humanismus«, in: Ders., Wegmarken (GA 9), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 32004, 313–364.
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Identität, Alterität, Nähe
den oder zu manipulieren gilt. Neben der Idee einer genetisch optimierten Menschheit stehen die Phantasien von Hybridwesen, in denen Mensch und Maschine miteinander vereint sind. Diese Denker können mit ihren trans-humanistischen Ideen an Nietzsche anknüpfen, nämlich an seine Idee vom Übermenschen – wie auch jene anderen Interpreten der conditio humana, die im engen Anschluss an seine Rede vom Tode Gottes umgekehrt dem Anti-Humanismus das Wort reden und den Tod des Menschen verkünden. Denn wie sollte, so fragen u. a. der Strukturalismus und Poststrukturalismus, wenn Gott tot ist, der Mensch – die Idee des Menschen, seiner Freiheit und seiner Würde – weiterhin Bedeutung beanspruchen können? Jenes neuzeitliche Denken von Vernunft und Freiheit, das mit dem cartesianischen »Cogito« so wirkmächtig anhob und den Menschen als denkendes Subjekt oder auch als handelnde und fühlend-empfindsame Person in seine Mitte – und damit auch in das Zentrum der Welt – stellte, stößt daher heute auf starke Kritik. Die besondere Stellung des Menschen – wie auch immer diese begründet wurde: aufgrund seiner Geschöpflichkeit, Personalität, Subjektivität, Freiheit, Selbstzwecklichkeit oder Relationalität – müsse, so wird argumentiert, mangels ausreichender Begründungs- und Verstehensmöglichkeiten aufgegeben werden. Während es also manchen Denkern so scheint, als könne der Mensch sich selbst eine unendliche Bedeutung zusprechen und so seine Identität finden, wirkt dies auf andere wie Baron Münchhausens Versuch, sich mitsamt seinem Pferd am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Die bloßen Fakten, so versuchen sie nachzuweisen, sprechen gegen eine besondere Bedeutung oder Stellung des Menschen nicht allein im Kosmos, sondern allein schon auf der Welt. Dies – die Verlegenheit darüber, wer und was der Mensch eigentlich ist – mag erklären, warum die Diskussion über die Identität des Menschen heute oft auf die formal-logische Frage nach der numerischen Identität reduziert wird und der, so Ricoeur, »gewichtige Unterschied« zwischen »Selbigkeit« und »Selbstheit« »verkannt« wird. 8 Denn mit den Fragen nach der Natur und nach dem Selbst des Menschen stellt sich die – im Folgenden im Vordergrund stehende – Aufgabe einer weit tiefer reichenden Auseinandersetzung mit dem, was Menschsein eigentlich ausmacht. Es scheint so, als habe die Krise des klassischen Humanismus dazu geführt, dass die beiden Momente 8
Vgl. hierzu Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, 144 ff.
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Holger Zaborowski
der klassischen Bestimmung des Menschen als animal rationale nun selbständig geworden und in ein nicht mehr allein spannungsvolles, sondern widersprüchliches Verhältnis zueinander getreten sind. Das Denken vom Menschen neigt sich nun mal dem einen und mal dem anderen Moment zu und versteht den Menschen dann entweder als bloßes Natur- oder als reines Vernunft- bzw. Freiheitswesen. 9 Doch so verführerisch diese vereinfachenden Zugänge zum Menschen erscheinen mögen, so unbefriedigend ist der Preis des Reduktionismus, der ihnen eingeschrieben ist. Denn mit der menschlichen Selbsterfahrung lassen sich diese reduktionistischen Tendenzen schwer vereinbaren. Der Mensch erfährt sich nämlich zum einen nicht als ein reines Vernunft- oder Freiheitswesen, sondern immer auch als natürlich und als Teil der Natur. Und umgekehrt erscheint ihm andererseits seine »Natürlichkeit« immer auch eingebettet in den Raum, der durch Vernunft und Freiheit eröffnet wird. Er ist nicht einfach, wie Robert Spaemann pointiert formuliert hat, wie ein Tier seine Natur; er hat als Selbst seine Natur in Freiheit. 10 Leben bedeutet also für den Menschen, sich frei zu sich selbst zu verhalten. Dem Menschen kann daher seine eigene Natur, aber auch die Natur aller anderen Wesen und sogar die Natur an sich, zum Gegenstand des Staunens und des Be- und Hinterfragens werden. Es ist ohne Zweifel gerade auch die Fähigkeit des Menschen, sich selbst und alles, was ihm begegnet, radikal in Frage zu stellen, die auf seine unter allem endlichen Seienden herausragende Stellung verweist. 11 Doch wie ist dies genauer zu verstehen? Worin könnte demnach die Identität des Menschen bestehen? Allein in der Fraglichkeit und Fragilität seiner Identität?
Robert Spaemann hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass die Moderne durch eine Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus gekennzeichnet sei. Vgl. Spaemann, Robert, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, 209. 10 Vgl. hierzu Spaemann, Robert, Personen. Versuch über den Unterschied von »etwas« und »jemand«, Stuttgart 1996. 11 Für eine wichtige Diskussion dieser Fraglichkeit vgl. Zwierlein, Eduard, Magna Quaestio. Der Mensch als große Frage. Essay zur Grundlegung der Philosophie, Berlin 2013. 9
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Identität, Alterität, Nähe
2.
Selbstgegebenheit und Selbstentzogenheit. Die Fraglichkeit und Fragilität der Identität des Menschen
Sobald in der Reflexion die Selbstverständlichkeit eines unmittelbaren Selbst-, Menschen- und Weltverhältnisses zerbrochen ist, stellt der Mensch nicht nur die Frage nach seiner Mit- und Umwelt. Er wird sich auch selbst zur Frage und kann sich in der Innenperspektive als fragendes Subjekt und in der Außenperspektive als befragtes Objekt verstehen. Doch bleibt er sich in dieser doppelten Selbstgegebenheit – als »Ich« und als »mich« – immer auch entzogen. Sowohl seine »Subjektivität« als auch seine »Objektivität« zeigen sich nämlich als unerschöpflich. Jede Identität erweist sich immer auch als NichtIdentität. Der Mensch kann nämlich immer nur partiell den »Raum« seiner Innerlichkeit »durchschreiten«. Es mag Aspekte seiner Person geben, die ihm nur spät im Leben oder gar nicht bewusst werden. Mit Befremden kann er bestimmte Willensregungen oder Gefühle wahrnehmen oder sogar sich selbst gänzlich fremd werden. Er kann angesichts des konstanten Wandels, den er erfährt, sich fragen, ob er noch derselbe ist, der er vor einem Jahrzehnt oder bei seiner Geburt gewesen ist, und dabei die Frage nach seiner eigenen numerischen Identität stellen. Ihm kann auch fraglich werden, ob er, sollte er dement werden, dann noch derselbe sein wird, der er nun, da er diese Frage stellt, ist. Viele Momente seines Charakters können sich bei näherem Nachdenken nicht als Ergebnisse freier Wahl, sondern als Prägungen seiner Umwelt erweisen, als Konsequenzen einer kulturellen Bindung und Bildung. Anderes scheint einfach auf seine Natur zurückzugehen. Er scheint, wenn er sich selbst betrachtet und befragt, lediglich Momente dessen, was er ist, zur Kenntnis nehmen zu können. Kann er je in angemessener Weise diese Momente verstehen? Um seine eigene Natur – wie bruchstückhaft auch immer sie ihm erscheinen mag – zu verstehen, müsste er auch über die Natur des Menschen an sich nachdenken und sich dabei in bestimmtem Maße verobjektivieren. Doch zeigt gerade die spannungsvolle Vielfalt der Anthropologien den kontroversen Charakter aller Versuche, die Natur des Menschen zu bestimmen. Auch bleibt dem Menschen das Ganze seines Lebens – ob er dies eher aus der Innen- oder Außenperspektive zu erfassen sucht – entzogen. Zwar kann er sich zu seinem Selbst noch einmal eigens verhalten und ein beschreibendes, kritisches oder affirmatives Verhältnis 23 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Holger Zaborowski
zu sich einnehmen, doch kann der Mensch sich nie zu seinem eigenen Leben als einem Ganzen verhalten. Vieles von dem, was er erlebt, vergisst er wieder. Die Zukunft kann er nicht vorwegnehmen. Und außerdem ist, solange er lebt, sein Leben noch nicht zu einem Ganzen geworden. Wenn es aber mit dem Tod zu einem Ganzen geworden ist, lebt der Mensch nicht mehr. Das Leben als ganzes und somit einen zentralen Bezugspunkt für die Frage nach seiner Identität kann sich der Mensch daher nicht vergegenwärtigen. Außerdem ist so, wie der Tod dem Menschen und der Frage nach seiner Identität eine immer schon vorgegebene, von ihm nicht zu überwindende Grenze setzt, auch mit der Geburt eine radikale Grenzerfahrung verbunden. Denn auch die Tatsache, dass man überhaupt ist, ist dem Denken und Handeln des Menschen vorgegeben. Kein Mensch tritt aus eigenem Antrieb ins Leben. Dass gerade die je eigene Person geboren wurde – und nicht ein anderer Mensch, der auf eine andere Konstellation von Vater und Mutter oder eine andere Kombination von Ei- und Samenzelle zurückgeht –, lässt sich, solange man keine religiöse, den konkreten Menschen als von Gott gewolltes Geschöpf deutende Perspektive einnimmt, nur als Resultat des Zufalls deuten. Doch kann man im bloßen Zufall der eigenen Existenz Identität finden oder entzieht dieser Zufall dem Selbst nicht vielmehr einen möglichen Grund der Identität, so dass jeder Versuch, im Anfang der Geburt Identität zu finden, willkürlich erscheinen muss? Die unbestreitbare Gegebenheit des eigenen Selbst erweist sich gerade auch von seinem Anfang her als abgründig und bleibt einer verstehenden Aneignung letztlich entzogen. Auch in seiner leiblichen Existenz erfährt der Mensch sich selbst als sich zugleich gegeben und entzogen. Man kann sich sinnlich wahrnehmen, doch nie so, wie andere Menschen einen wahrnehmen könnten. Sich mit eigenen Augen zu sehen ist etwas grundsätzlich anderes, als einen anderen Menschen zu sehen. Und dies gilt für alle Sinne, die, da sie im Leib verankert sind, den Leib von außen, wenn überhaupt, nur durch bestimmte Hilfsmittel – wie etwa ein Foto oder eine Tonaufnahme – wahrnehmen können. Zugleich ist dem Menschen eine Wahrnehmung von innen heraus möglich, die sich dem Zugang von außen entzieht. In der Perspektive, in der man sich selbst sieht, kann man nur sich selbst sehen. Dies gilt für alle Sinne. Ihre Möglichkeiten sind in Bezug auf einen selbst, wenn man sie mit der sinnlichen Wahrnehmung der eigenen Person durch andere Menschen vergleicht, zugleich beschränkt und erweitert. Und auch die 24 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Identität, Alterität, Nähe
Leiblichkeit selbst bleibt gerade insofern, als sie immer schon gegeben ist, entzogen. Jósef Tischner spricht in diesem Zusammenhang von der »Unmöglichkeit zu fliehen«. Denn den Leib als »Ort der Triebe« kann kein Mensch hinter sich zurücklassen, ohne zugleich seine Existenz zu beenden. Menschliche Existenz ist wesenhaft leibliche und d. h. auch, so befremdlich dies dem Menschen als Vernunftwesen auch sein kann, triebhafte Existenz: »Versuche ich vor den Trieben zu fliehen, trage ich sie mit mir.« 12 In jeder Selbstgegebenheit bleibt der Mensch sich immer auch entzogen. Er ist sich sogar gerade in seiner Selbstentzogenheit in besonderer Weise gegeben. Diese Dialektik von Selbstgabe und Selbstentzug zeigt sich deutlich auch in den beiden alltäglichen, vor-philosophischen Weisen, in denen Menschen von sich sprechen und ihre Identität zum Ausdruck bringen. Wenn man jemand fragt, wer er sei, wird er zunächst mit seinem Namen antworten. Man kann zum Beispiel antworten, man heiße Peter. Doch hat der Eigenname als solcher keine Bedeutung über die Referenz auf die Person hinaus, auf die mit seiner Hilfe verwiesen wird oder – präziser formuliert – die sich, obwohl ihr der Name zumeist von anderen Menschen gegeben wurde, mittels seiner in ihrem Selbstsein identifiziert: »Ich bin Peter.« Man heißt oder ist ja nicht Peter aufgrund bestimmter Eigenschaften, die in der Bedeutung des Namens angezeigt wären und die jeder Peter mit anderen Menschen desselben Namens teilte (wie z. B. der Stuhl aufgrund bestimmter Eigenschaften durch das klar definierte Wort »Stuhl« der Gruppe aller Stühle zu- und eingeordnet wird). Streng genommen beantwortet der Name daher nicht die Frage, was oder wer jemand wirklich sei, sondern verweist in seinem rein hinweisenden und nicht beschreibenden Charakter auf die Entzogenheit der Identität des Menschen in jeder gerade durch den Namen angezeigten Gegebenheit. Menschen identifizieren sich aber nicht allein durch ihren Eigennamen. Wenn Menschen sich neu kennenlernen – sei es zufällig im Zug, auf einer Feier oder in einem beruflichen Kontext –, erzählen sie in der ersten Person Geschichten von sich. Auch wenn sie, wie in der Regel im »small talk«, wenig über sich und ihr Leben sagen, sagen sie doch durch die Inhalte und die Art und Weise, wie sie mit einem anderen Menschen sprechen, sehr viel über sich aus. Sie zeigen sich als jemand, der sich in einer bestimmten Weise – mit Entrüstung über 12
Tischner, Der Streit um die Existenz des Menschen, 99.
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das eine oder mit Freude über etwas anderes – mit Politik beschäftigt oder dem Sport – das erfolgreiche Spiel einer bestimmten Mannschaft – ein Anliegen ist. Mittels Geschichten, die beispielhaft zeigen, was sie in ihrem Leben erlebt haben und wie sie denken, fühlen oder handeln, nähern sich Menschen ihrer Identität an und bringen sich zur Erscheinung. Und umgekehrt dienen Geschichten, ob man diese selbst erzählt oder ob sie einem erzählt werden, dazu, eine eigene Identität zu entwickeln, und zwar nicht allein auf der individuellen, sondern auch auf der kollektiven Ebene. Der Mensch verfügt über einen »Erzählinstinkt«. 13 Er ist, wie der Titel eines berühmten Buches von Wilhelm Schapp lautet, »in Geschichten verstrickt« 14 und zeigt, so hat Ricoeur überzeugend dargelegt, eine »narrative Identität«. 15 Aber auch die Charakterisierung des Menschen als »Erzählwesen« löst die genannten Aporien der Identität nicht. Denn es gibt weder eine einzige Geschichte, die zu erzählen wäre, noch eine beschränkte Zahl von Geschichten, die einander ergänzten und als Teile ein darstellbares Ganzes bildeten, sondern eine unerschöpfliche Vielfalt von unterschiedlichen, aus verschiedenen Perspektiven und zu verschiedenen Zeiten erzählten Geschichten, in denen man sich der eigenen Identität oder auch der Identität anderer Menschen annähert. Die »narrative« Identität des Menschen ist daher keine festgelegte, sondern eine offene und sich ereignishaft im je neuen Erzählen zeigende Identität. Sie ist immer auch eine hermeneutische, in der Spannung von Verstehen und Nicht-Verstehen und von Neu- und Anders-Verstehen stehende Identität. In der Neuzeit ist die »narrative Identität« des Menschen immer stärker auch zu einer fraglichen und in Frage gestellten Identität geworden. Denn die »großen Erzählungen«, die lange die Identität des Menschen prägten, haben an Bedeutung verloren. Es ist schwerer geworden, das eigene Leben und seine Identität im Kontext vorgegebener gemeinschaftlicher »Großerzählungen« und der in ihnen begründeten kulturellen, religiösen oder nationalen Traditionen zu deuten. Nun ist es stärker als je zuvor notwendig, eigene Erzählungen zu entwickeln und darin Identität zu finden. Das moderne Selbst erfährt Vgl. hierzu auch Siefer, Werner, Der Erzählinstinkt. Warum das Gehirn in Geschichten denkt, München 2015. 14 Vgl. Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. 15 Vgl. hierzu neben Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, 173 ff. u. a. auch sein Zeit und Erzählung I–III (München 1988 ff.). 13
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Identität, Alterität, Nähe
sich angesichts dieser Aufgabe oft nicht nur radikal herausgefordert, sondern regelrecht überfordert. Verstärkt wird diese Erfahrung der Heraus- und Überforderung dadurch, dass sich die Sehnsucht des Menschen nach Identität nicht stillen lässt. Jeder Mensch möchte »jemand« – und nicht einfach »etwas« oder eine Aneinanderreihung von punktuellen Ich-Erlebnissen – sein und sogar wissen, wer er eigentlich ist. Da er auf sich selbst gestellt keine ausreichenden, sein Leben tragenden Antworten finden kann, sucht er allzu oft seine Identität, indem er sich etwa mit anderen Menschen oder einer Sache – einer Idee oder Ideologie – identifiziert. Doch führt diese Identifikation mit etwas anderem oft dazu, dass sein eigenes Selbst in den Hintergrund tritt. Der Mensch findet dann nicht eine aus eigenem Ursprung kommende Identität, sondern nimmt auf Kosten seiner eigenen Freiheit eine ihm letztlich äußerlich bleibende Identität an. Das moderne Selbst erfährt sich daher in einer konstanten Krise. Es erfährt mit einer Radikalität wie nie zuvor in der Geschichte die Dialektik von Selbstgegebenheit und Selbstentzogenheit und zugleich eine immer stärker sich artikulierende Sehnsucht nach Identität. Und zugleich erfährt es jeden Versuch einer Antwort als fraglich. Es weiß, dass es sich seine Identität nicht selbst geben kann. Wäre es, so könnte man fragen, mangels möglicher Begründungen nicht redlicher, die Idee einer Identität des Menschen aufzugeben? Lässt sich nur noch von einer »schwachen«, situativ erfahrbaren und je unterschiedlich deutbaren Identität des Selbst sprechen? Oder gibt es eine ganz andere Möglichkeit, sich der Identität des Menschen anzunähern? Ein zentraler Text des Neuen Testaments mag eine Spur legen, sich der Frage nach der Identität anders als bislang, nämlich nicht im Fokus allein auf ein individuelles und isoliertes Selbst, sondern auf das Geschehen zwischen dem Selbst und einem anderen Selbst, anzunähern: das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37).
3.
Barmherzigkeit und Verantwortung. Die Identität in der Nähe des Anderen
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört zu den immer wieder neu erschlossenen Grundtexten des Christentums. In ihm zeigt sich der radikale Anspruch des christlichen Glaubens: Jeder 27 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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Mensch kann einem zum Nächsten werden, so dass sich im Angesicht eines jeden Menschen das Gebot der Nächsten- und Gottesliebe konkretisieren kann. Die Botschaft dieses Gleichnisses erklärt nicht allein die Faszination, die das Christentum von der Antike bis heute ausgeübt hat. Sie hat auch das Gesicht der Welt verändert. Weit über das Christentum hinaus hat dieser Text das Selbstverständnis und das Handeln des Menschen geprägt. Wenn heute in säkularen Kontexten nicht nur Nächstenliebe oder Solidarität mit fern stehenden Menschen gefordert wird, sondern auch die Universalität der Menschenrechte und die Bedeutung der Menschenwürde in Erinnerung gerufen werden, geschieht dies im Schatten dieses Gleichnisses. Vieles, was heute als gerecht verstanden wird, war einmal eine Tat der Barmherzigkeit und konnte nur auf dem Wege des Gebotes der Barmherzigkeit zu einer Forderung der Gerechtigkeit werden. Verschiedene Religionen stimmen darin überein, dass sie der Barmherzigkeit eine zentrale Rolle zusprechen. Es gibt daher – bei allen Unterschieden – eine interreligiöse Ökumene der Barmherzigkeit. Doch kann man das Gebot der Barmherzigkeit auch philosophisch – d. h. aus der Perspektive der Vernunft, nicht des Glaubens – verstehen: Menschen stehen zueinander allein schon aufgrund ihres geteilten Menschseins in einem Beziehungs- und Verantwortungsverhältnis, das über das formale Prinzip der Gerechtigkeit hinausgeht. Sie leben mit-, von- und füreinander und sind als immer auch bedürftige und leidende endliche Wesen auf die liebende Zuwendung des anderen Menschen angewiesen. 16 Die Möglichkeit dieser – a-, nicht antireligiösen – Lektüre mag erklären, warum auch in einer säkularen Gesellschaft das Handeln des Samariters als vorbildlich wahrgenommen wird. Der revolutionäre Charakter dieses Gleichnisses zeigt sich in besonderer Weise in einem Satz, der oft übersehen wird und dessen Inhalt nicht ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen ist. Nach einer verbreiteten Lesart geht man davon aus, dass der Samariter im Zentrum steht und das Opfer ihm zum Nächsten geworden ist. Denn dieser praktiziert Liebe zu einem Nächsten. Doch untergräbt das Gleichnis diese Logik und sieht das Verhältnis genau umgekehrt. Jesus stellt nämlich abschließend die Frage: »Wer von diesen dreien Vgl. hierzu auch Zaborowski, Holger, Barmherzigkeit. Philosophische Annäherungen, in: Augustin, George (Hg.), Barmherzigkeit leben. Eine Neuentdeckung der christlichen Berufung, Freiburg/Basel/Wien 2016, 103–119.
16
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Identität, Alterität, Nähe
(scil., der Priester oder der Levit, die beide an dem Überfallenen vorbeiliefen, oder der Samariter, H. Z.), meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?« (Lk 10,36) Der Perspektivenwechsel, der in dieser Frage vorgenommen wird, könnte kaum radikaler sein. Denn der Bezugspunkt des Gleichnisses ist nicht der Samariter, dem das Opfer zum Nächsten wird, sondern das Opfer. Ihm wird in seiner konkreten Notsituation der Samariter zum Nächsten. Das Gleichnis zeigt somit, dass barmherziges Handeln von einer doppelten Asymmetrie gekennzeichnet ist. Es gibt die Asymmetrie zwischen jenem, der helfen kann, und jenem anderen Menschen, der der Hilfe bedarf. Und es gibt eine andere, wesentlich grundlegendere Asymmetrie zwischen jenem leidenden Menschen, der den Samariter in seinem Leid zur Verantwortung ruft, und dem Samariter, der, indem er auf diesen Ruf antwortet und handelt, ihm zum Nächsten wird. Die Aktivität des barmherzigen Handelns setzt also die Passivität des Ergriffenseins durch den anderen Menschen voraus. In diesem Ergriffensein erfährt der Samariter vom Anderen her, in der Erfahrung der Alterität, seine Identität als Nächster. Auch diese ist eine fragile Identität, die immer mit einer Differenz verbunden ist: der Differenzerfahrung angesichts des Anderen, dessen Anderssein in keine Gleichheit aufgehoben werden kann, aber auch angesichts des eigenen Ungenügens, dem Ruf des Anderen wirklich zu genügen. Man kann den Ruf des leidenden Anderen auch gänzlich überhören. Dass dies möglich ist, verdeutlicht das Gleichnis nachdrücklich. Doch darf man diesen Ruf nicht überhören. Denn die Erfahrung der Identität in der Verantwortung für den Anderen ist mit einem Sollen verbunden, das aller Freiheit zuvor liegt und in dem der Mensch sich als verantwortlich für den anderen Menschen erfährt. Erst vom Anderen her, in der Nähe oder »Proximität« zu ihm, erfährt der Samariter also, wer er wirklich und letztlich sein soll: ein Nächster, ein Mensch, der einem Anderen nahe kommt und für ihn da ist. Diese Identität im Dasein für den Anderen und vom Anderen her kann andere Formen, Identität zu bestimmen, insbesondere jene, die die Freiheit des Menschen in ihre Mitte stellen, radikal in Frage stellen. Das Gleichnis zeigt deutlich, dass Nächstenliebe alle Grenzen, die sonst zwischen Menschen bestehen, transzendiert – und transzendieren soll. Über die Identität des Verwundeten erfahren die Leser nichts, und der Samariter gehörte als Mitglied einer von den Juden zur Zeit Jesu gering geschätzten Gemeinschaft nicht zu jenen, auf die 29 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Holger Zaborowski
das Gebot der Nächstenliebe zumeist bezogen wurde. Im barmherzigen Handeln des Samariters zeigt sich daher die Identität gemeinsamen Menschseins als Identität der Verantwortung füreinander. So fraglich, fragil und in ihrer Tiefe entzogen diese immer auch bleibt, so wenig darf sie in ihrem Sollensanspruch hinterfragt werden. Wo es alleine auf sich gestellt verzweifeln kann, gewinnt das Selbst angesichts des Anderen die Sicherheit des Ergriffen- und Gerufenseins dazu, dem Anderen ein Nächster zu werden. Erst wo es sich gibt, kann das Selbst sich wirklich finden. Dies ist nicht allein eine Wahrheit des Glaubens, auch wenn das biblische Gleichnis in der Nächstenliebe auch die Konkretion der Liebe zu Gott sieht. Das Gleichnis kann auch als Hinweis auf eine Wahrheit für den Menschen, eine Wahrheit der Menschlichkeit gelesen werden: Identität findet der Mensch vom anderen Menschen her, in der Antwort auf seinen Ruf und im Dasein für ihn. Emmanuel Lévinas spricht von einer »Erwählung« des Menschen zur Verantwortung und findet genau darin eine Möglichkeit, neu von einer nicht begründbaren, nicht erklärbaren und weder im Selbstbewusstsein noch in der Freiheit wurzelnden Identität des Menschen in aller Erfahrung von Nicht-Identität und Differenz zu sprechen: »Vor-ursprüngliche, anarchische Identität, älter als jeder Anfang; nicht Selbstbewußtsein, das sich in der Gegenwart erreicht, vielmehr äußerste Ausgesetztheit, ausgesetzt der Vorladung durch die Anderen, die sich hinter dem Bewußtsein und der Freiheit schon vollzogen hat, Vorladung, die in mich eingedrungen ist wie ein Einbrecher […].« 17
Lévinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, aus dem Französischen übersetzt von Thomas Wiemer, Freiburg/München 1992, 318 f. Vgl. hierzu auch Casper, Bernhard, Die Identität in der Nichtidentität der Erwählung zur Verantwortung für den Anderen, in: Laarmann, Matthias / Trappe, Tobias (Hg.), Erfahrung – Geschichte – Identität. Zum Schnittpunkt von Philosophie und Theologie (= Festschrift für Richard Schaeffler), Freiburg 1997, 363–373.
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Philosophische Identitätssuche Subjektivität und Gottesgedanke im Ausgang von Schellings Spätphilosophie Bertin Rautenberg
Für die hier zu verhandelnde Identitätsfrage im Kontext einer Spiritualität der Wahrnehmung ist schon viel gewonnen, wenn wir das Gespräch mit den Denkern der klassischen deutschen Philosophie nicht ganz abbrechen lassen. Das dort erreichte Reflexionsniveau hinsichtlich der Fragen zur Subjektivität und des dazugehörigen Weltverhältnisses wird heute leider zu selten wahrgenommen. 1 Bedeutende Vertreter der Phänomenologie in Frankreich sind ausgezeichnete Kenner Fichtes, Schellings und Hegels, einschließlich Kants kritischer Philosophie. Gleichwohl profilieren sie sich mitunter in dezidierter Abgrenzung zum metaphysischen und transzendentalphilosophischen Denken deutscher Provenienz. Die sichtbare Negation verdeckt dabei nicht selten eine tiefer gelegene dialektische Abhängigkeit. So kann die demonstrative Verabschiedung von Subjektphilosophie und idealistischer Spekulation durchaus als eine verborgene oder verdeckte Fortführung der Sache der Metaphysik oder der philosophischen Theologie gesehen werden. 2 Wie dem auch sei. Der späte Schelling selbst hat, im Ausgang von Kants kritischer Philosophie und in Abwehr von Hegels absoluter Philosophie, keinen letzten Gegensatz zwischen Metaphysik als philosophischer Grundlegungswissenschaft und der Phänomenologie als expliziter Erfahrungs- bzw. Wirklichkeitswissenschaft konstruiert.
Frank, Manfred, Hegel wohnt hier nicht mehr, in: FAZ vom 24. 09. 2015, argumentiert mit kritischem Blick auf die aktuelle Situation an deutschen Hochschulen für die Unentbehrlichkeit der deutschen idealistischen Philosophie für heutiges Denken. 2 Vgl. etwa Janicaud, Dominique, Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien 2014, (Original: Le tournant théologique de la phénoménologie française, Combas, l’Éclat 1991). Einen guten Überblick zur Vielfalt der phänomenologischen Ansätze in Frankreich bieten Gondek, Hans-Dieter / Tengelyi, Lászlo, Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011 und Waldenfels, Bernhard, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a. M. 1987. 1
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Bertin Rautenberg
Im Gegenteil sieht Schelling beides in einer differenzierten Einheit als Aufgabe der Philosophie vereint. Für ein Denken, das auf »die Sache selbst« 3 (!) zurückgeht, ist beides gefordert: »eine Wissenschaft, die das Wesen der Dinge begreift, den Inhalt allen Seins, und eine Wissenschaft, welche die wirkliche Existenz der Dinge erklärt« 4. Philosophie hat es, wo sie sich selbst ernst nimmt, stets mit der Welt im Ganzen und damit mit einer Wirklichkeit zu tun, so dass sich sowohl der Rückzug auf eine fraglos angenommene Lebenswelt verbietet als auch das akademische Glasperlenspiel reiner Ideen und abstrakter Möglichkeiten. Auf diesem Hintergrund befürworten die hier vorgelegten Überlegungen eine Auseinandersetzung in der Sache zwischen der philosophischen Grundlegungsproblematik und der phänomenologischen Analyse originärer Lebensvollzüge. Unsere Überlegungen gliedern sich in vier Schritte. In einem ersten Schritt soll im Rückgriff auf Schellings Spätphilosophie allgemein die Relevanz und Tragweite der Identitätsfrage für das Selbstverständnis des Menschen in Blick genommen werden. Das geschieht in Rückgriff auf die metaphysische Warumfrage des Menschen. In einem zweiten Schritt ist zu skizzieren, was eine systematische Philosophie, also die negative Philosophie bei Schelling, für die Identitätsproblematik des Menschen austrägt und was nicht (Skizze I). Drittens soll die Identitätsfrage im Übergang in die so genannte positive Philosophie Schellings verfolgt werden. Hier, im realen Spannungsfeld gesellschaftlicher und religiöser Praxis, also im Raum von Staat und Gesellschaft einerseits und konkreter Religion andererseits, hat nach Schelling der wahrheitssuchende Mensch sein individuelles Personsein und damit seine Identität zu verwirklichen. Dass dies hier ebenfalls nur in Form einer Skizze geschieht, versteht sich von selbst (Skizze II). In einem vierten Schritt wird der Beitrag des späten Schelling zur Identitätsfrage punktuell zugespitzt und thesenartig zusammengefasst.
Schelling, SW XIII 178, zitiert nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. v. Manfred Schröter, 1.–6. Hauptband, München 1958/1959, 1.–6. Ergänzungsband, München 1959–1960, Nachlassband, München 1979 4 XIII/95. 3
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Philosophische Identitätssuche
Die Warumfrage und die Eröffnung der Identitätsproblematik Die Identitätsproblematik stellt sich bei Schelling, wie nicht anders zu erwarten, äußerst vielschichtig dar. Sie kennzeichnet sein frühes Denken im Ausgang von Fichtes Ich-Philosophie, so etwa im Ich als Prinzip der Philosophie, dann in den Ideen zur einer Philosophie der Natur, setzt sich fort in den Schriften der sogenannten Identitätsphilosophie, findet ihren besonderen Niederschlag in der Freiheits- und Weltalterphilosophie und vollendet sich fragmentarisch in den Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und der Offenbarung. Für uns ist von leitendem Interesse, dass Schelling die Identitätsproblematik in seiner Spätphilosophie auf die Frage nach der Identität des wirklichen Menschen zuspitzt, also die Identitätsproblematik als Frage des Menschen nach sich selbst und der Wirklichkeit im Ganzen versteht. Programmatisch wird diese Zuspitzung in der Ersten Vorlesung zur Philosophie der Offenbarung. Ohne große Umschweife nimmt Schelling hier den Menschen in den Blick, sowohl in der Einheit seines Wesens als auch in der echten und wahren Vielfalt seiner Vollzüge. Und genau das, Einheit und Vielfalt, ist das formale Spannungsfeld der Identitätsproblematik, in welches der Mensch für Schelling notwendig hineingestellt ist. 5 Transzendentalphilosophische und erkenntnistheoretische Begrifflichkeiten, wie das Ich, das transzendentale Subjekt oder Bewusstsein oder die Thematisierung der Reflexion des Denkens auf sich selbst, also das Problem der Vermittlung, treten hier dagegen ganz zurück. 6 Sie haben an anderer Stelle ihr relatives Recht und Bedeutung, etwa in der Darstellung der reinrationalen Philosophie 7. Dort arbeitet sich Schelling mit Silbenstecherei an ihnen ab und zeigt, dass er die Kla-
Baumgartner, Hans Michael / Korten, Harald, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, München 1996, 9 ff., sehen im Begriffspaar Einheit und Vielheit eines der Grundprobleme Schellings. 6 In der Sache nach wie vor einschlägig Henrich, Dieter, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a. M. 1967 oder ders., Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a. M. 2007. 7 Die Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI/253–572, gilt als das systematische Rückgrat der Spätphilosophie. Vgl. Schulz, Walter, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 21975 (1. Aufl. Stuttgart/Köln 1955), bes. 21–94. 5
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viatur erkenntnistheoretischer und transzendentalphilosophischer Probleme bis ins anstrengungsvolle Detail beherrscht. Doch hier geht es um mehr. Am Anfang der Philosophie der Offenbarung geht es Schelling um die Notwendigkeit einer anthropologischen Grundaussage. Diese Grundaussage richtet sich, so die literarische Fiktion, an den philosophischen Anfänger und ist doch zugleich eine Aussage über die Aufgabe und das Wesen der Philosophie. Und in der Tat, wer in die Philosophie eingeführt werden will, erwartet zunächst eine Antwort auf die Frage »Was ist Philosophie?«. Offenbar, so führt Schelling hier weiter aus, sollen in der Philosophie »die Fragen beantwortet werden, auf welche es in allen anderen Wissenschaften keine Antwort gibt und die jeden aufrichtigen Geist, früher oder später, aber unausweichlich, beunruhigen«. Mittels der Philosophie »soll der Schleier hinweggezogen werden«, der bislang den Blick auf das Wesentliche und Ganze verhindert hat. Denn dieser Schleier hat »nicht einzelne Gegenstände, sondern dieses Ganze selbst verhüllt«, so dass der Anfänger und der nach umfassendem Sinn Suchende umso verwirrter an das Einzelne verwiesen war, dieses aber ohne einen sinnstiftenden Zusammenhang »nur um so unbegreiflicher geworden ist«. Aber nicht nur die theoretische Neugierde bleibt unbefriedigt, auch die praktische Weltorientierung ist ohne festen Zielpunkt nicht möglich. Allein der Blick auf das Ganze ermöglicht es nach Schelling, dass »jene großen, das menschliche Bewusstsein aufrecht erhaltenden Überzeugungen gewonnen werden, ohne die das Leben keinen Zweck hat, und darum aller Würde und Selbständigkeit entbehren würde« 8. Hinsichtlich dieser Fragen sind alle anderen Wissenschaften gleichsam sprachlos, d. h. sie geben keine Antwort auf die drängende Frage, was es mit dem Ganzen der Wirklichkeit auf sich hat. Hier ist allein die Philosophie gefragt, sofern sie sich nicht selbst einer heillosen Fragmentierung und Spezialisierung unterworfen hat. Die Besinnung auf Wesen und Aufgabe der Philosophie ist für Schelling selbst ein philosophischer Akt. Diese Besinnung erfasst im Ausgriff auf das Ganze der Wirklichkeit radikal das Selbstverständnis und die Identität des Menschen. Der Mensch, der angesichts der unerschöpflichen Wirklichkeit, dieser All-Einheit, die Frage nach dem Grund und der Einheit dieser Wirklichkeit stellt, ist bereits der philosophierende Mensch. 8
SW XIII 3.
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Philosophische Identitätssuche
Steht es aber so, dann gehört es notwendig zum Wesen des Menschen, seinem Selbstverständnis als Mensch nachzugehen, also in einem eminenten Sinn zu fragen, wer er selbst und was seine eigentliche Bestimmung im Ganzen der Wirklichkeit ist. Als freier Akt des Menschen ist eine solche radikale philosophische Besinnung ein Wagnis mit offenem Ausgang. Dabei kann es geschehen, dass auf einmal alles ins Wanken gerät, letzte Gewissheiten verlieren ihre Bedeutung, und was gestern noch galt, ist heute bereits verworfen. Am Ende wird der Mensch, der allen anderen Weltdingen auf der von ihm entworfenen Landkarte des Wissens einen festen Platz geben sollte, sich »selbst das Unbegreiflichste« 9. Diesen Moment des Umschlags von sicherer Gewissheit in die existentiale Nichtidentität und metaphysische Unbehaustheit fasst Schelling in die bekannten Worte: »Gerade Er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?« 10 Und doch wäre Schelling hier vollkommen missverstanden, wenn diese verzweiflungsvolle Frage als Endpunkt einer letzten Resignation genommen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Im Grunde genommen ist sie Krisis, Wendepunkt des Denkens, Einkehr zur wahren Einheit, eröffnet doch die metaphysische Warumfrage den Eingang in die Philosophie. 11 Was ist damit gemeint? Schelling begreift den Menschen hier im Horizont von Sein und Nichts, d. h. als weltseiendes Wesen, als fragendes Subjekt, das sich notwendig dem Problem der Welt und Wirklichkeit stellt. Die philosophische Frage des Warum wird nicht von einem abstrakten Ich gestellt, sondern von dem fragenden und leibgebundenen Menschen. So führt das verzweifelte Fragen auf ein wirkliches »ich bin« im Gegenüber zur Welt. Dass etwas ist und nicht vielmehr Nichts ist, ist dann die erstaunliche Einsicht des philosophierenden Menschen. Ein voraussetzungsloses Denken und Philosophieren, ein unbedingter Anfang, wie ihn die idealistischen Systemanfänge Fichtes und Hegels propagierten und auch Schelling selbst zeitweise für möglich hielt, ist mit dieser grundlegenden Einsicht in
SW XIII 7. Ebd. 11 Vgl. zur philosophischen Warumfrage auch Heidegger, Martin, Einführung in die Metaphysik, 5. durchgesehene Aufl., Tübingen 1987; ferner Schrader, Wiebke, Die Auflösung der Warumfrage, Amsterdam 21975. 9
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Bertin Rautenberg
den immer schon gegebenen Zusammenhang naturhafter und geschichtlicher Gegebenheiten nicht vereinbar. Schellings Rekurs auf den fragenden Menschen zeigt ferner, dass Subjektivität nicht als ein reines Faktum genommen werden kann. Als fragendes und reflektierendes Subjekt bin ich vielmehr aufgefordert, nach der Wahrheit meines Subjektseins und meines Weltverhältnisses zu suchen. Identität ist damit für Schelling wesentlich Aufgabe, ist Entwerfen auf ein Ziel hin, Antizipation der Zukunft und im wörtlichen Sinne an die Metapher des Weges gebunden. Der denkende und fragende Mensch ist nach Schelling unterwegs, er ist und bleibt, wie später bei Bergson, comprehensor und viator. Auf seiner Odyssee der Wahrheits- und Sinnsuche erkennt der fragende Mensch, dass sein Denken zwar das Wesen der Dinge begreift und dabei immer ein reflexives Wissen meiner selbst vorausgesetzt wird, sonst wäre es nicht mein Wissen, zugleich gilt aber auch, dass der Mensch darin nicht unbedingtes Prinzip ist. Weder bringt das endliche Denken die Dinge ins Dasein, noch ist der Mensch sein eigener Schöpfer. Der Mensch entfaltet seine eigene Prinzipiennatur nur als endliche, d. h. als überantwortetes, geschenktes und also gleichsam verdanktes Wahrheits- und Freiheitswesen, das in der Differenz seiner Wesensbestimmung und deren konkreter Verwirklichung im Wissen und in der Freiheit um seine Identität ringt.
Skizze I: Identitätsproblematik in der negativen Philosophie Die anthropologische Grundaussage Schellings ist noch nicht zu Ende geführt. Wie steht es mit dem konstitutiven Bezug des Menschen zu Gott, wie Schelling einen solchen philosophisch in Anspruch nimmt? 12 Das muss erläutert werden. Wir haben gesehen, der Verdacht, die Welt könnte auch nicht sein, entlässt die Frage aus sich, warum sie denn überhaupt ist. Damit wird aber die Suche nach einem tragfähigen Grund der Wirklichkeit bzw. nach dem wahren Prinzip der Wirklichkeit zum vorrangigen Problem. Philosophie, die sich als Anthropologie zugleich dem Weltproblem und der Wirklichkeit im Ganzen stellt, wird bei Schelling konsequenterweise als Metaphysik Vgl. Jantzen, Jörg / Oesterreich, Peter L. (Hg.), Schellings philosophische Anthropologie, Stuttgart / Bad Camberg 2002.
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Philosophische Identitätssuche
oder Erste Philosophie bzw. »(E)rste Wissenschaft (πρώτη ἐπιστήμη)« 13 verstanden. Diese sucht aber das Prinzip schlechthin, die Ursache aller Ursachen, den Anfang aller Bewegung. Nur dann kann sie erwarten, die Wirklichkeit und sich selbst zu verstehen. 14 Philosophie in diesem Sinne ist ontologische Prinzipienwissenschaft, sofern es um die Prinzipien allen Seins und Denkens geht. Sie beansprucht, transzendentalphilosophische Reflexion kritisch zu überholen. Im zu Ende Denken der Warumfrage und der daraus entspringenden Prinzipiensuche stößt der philosophisch Suchende also von sich aus auf ein letztes Prinzip, das dann als Gott bezeichnet werden kann. Ob zu Recht und in welchem Sinne, wäre dann auch wieder eigens zu klären. 15 Für unsere Überlegungen reicht es, wenn wir konstatieren, dass Schelling das gefundene absolute Prinzip der Philosophie und den Gott der Religion miteinander in Verbindung bringt. Die Rede von zwei letzten Prinzipien ist in sich widersprüchlich. Wenn es ein letztes Prinzip gibt, dann ist es eines, so wie die Einheit in Wirklichkeit notwendig nur von einem Prinzip garantiert werden kann. Eine letzte Aufspaltung der Frage nach dem Gott der Philosophen und dem Gott der Religion bzw. des Glaubens verbietet sich somit für Schelling. Für ihn steht bei allen notwendigen Differenzierungen fest, dass der im philosophischen Denken gesuchte Grund nicht verschieden sein kann von dem Gott der Religion und der christlichen Offenbarung. Steht es so, dann muss die Anthropologie um ihre religiöse Dimension erweitert werden. Und tatsächlich zeigt Schelling diese Konsequenz. In seinen Fragen nach einem letzten Prinzip, in seiner Bewegung über die Dimension des Faktischen hinaus, in der Transzendenz der Welt der tausend Dinge, ist der philosophierende Mensch von seinem Wesen her religiös, ob er dies faktisch realisiert oder nicht. Hinsichtlich des absoluten, d. h. hier göttlichen Ursprungs aller Wirklichkeit hebt Schelling hervor: Der Mensch »hat dieses Bewußtsein nicht, er ist es.« 16 Die philosophische Anthropologie gelangt hier an ihre Sinnspitze, und zwar aus der innersten Bewegung ihres Denkens selbst: Der Mensch XIII 151. An die Unentbehrlichkeit der Metaphysik für die Theologie hat wiederholt Pannenberg erinnert. Vgl. Wenz, Gunther (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Pannenberg Studien 2, Göttingen 2016. 15 XII 113. 16 XI, 187. 13 14
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ist von Natur aus religiös. Die Gottesbestimmung gehört von Anfang an zum Wesen des Menschen und mit ihr entscheidet sich die Frage menschlicher Identität. Aufgabe der negativen Philosophie ist es nun, vereinfacht gesagt, diese Einheit von Mensch und Gott, von endlicher Vernunft und unendlicher Vernunft, von endlicher Freiheit und absoluter Freiheit zu problematisieren. Man wird fragen, ist das möglich? Und tatsächlich mutet Schelling, der hier »bis an die Grenze allen Denkens« 17 gehen will, sich selbst und uns vermeintlich aufgeklärten Lesern einiges zu. Allerdings können vorab Missverständnisse vermieden werden, wenn Folgendes beachtet wird. Zunächst müssen wir uns klar machen, was Schelling in der negativen Philosophie eigentlich erreichen will. In der negativen Philosophie geht es nicht um einen wie auch immer verstandenen Gottesbeweis, sei dieser anthropologisch, kosmologisch oder ontologisch angelegt. Gerade hinsichtlich des gesuchten ersten Prinzips der Wirklichkeit gilt es vielmehr, das Bewusstsein der Negativität des Wissens über dieses Prinzip zu schärfen. Im Grunde genommen ist Schelling hier sehr modern und vieles, was als negative Theologie und postmoderner Ansatz heute aktuell ist, hat in Schellings Spätphilosophie bereits seine Präfiguration gefunden. Diese Negativität des Wissens gilt es in der negativen Philosophie zu entwickeln. Das ist die kritische Seite seiner Metaphysik, die in ihrer Schärfe des philosophischen Nichtwissens über Kants transzendentale Grenzziehungen reiner Vernunft hinausgeht. Aber was meint hier Negativität? Zunächst eine kritische, d. h. unterscheidende Einsicht in den zuvor postulierten Zusammenhang von philosophischer und religiöser Gottrede. Obwohl philosophisches Prinzip und der Gott der Religion nicht im Letzten getrennt werden dürfen, entfaltet Schelling in der negativen Philosophie auf akribische Weise, dass mit dem notwendigen Gedanken Gottes, den die Philosophie thematisiert, der wirkliche und lebendige Gott gerade noch nicht erreicht ist. Dieser bleibt nach Schellings eigener Bestimmung »der unvordenkliche Gott«, der Gott, von »dem man keinen Anfang weiß« 18 und der immer der eine und derselbe Gott ist.
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Philosophische Identitätssuche
Wie Schelling mit dieser Grundaporie von Identität und Differenz philosophischer und religiöser Gottrede umgeht, wie er über sie hinauszugelangen versucht, kann hier nicht untersucht werden. 19 Weder liegt hier auf Seiten Schellings eine Identifizierung eines notwendigen Prinzips mit dem freien Gott der Religion vor noch eine ebenso ruinöse Trennung und Abspaltung von philosophischer und theologischer Reflexion. Das Absolute, das in der negativen Philosophie in negativer Weise aufgedeckt und in nicht begreifender Weise thematisiert wird, ist nicht der Gott der Religion. Was Philosophie aber erreicht und thematisieren kann, ist der notwendige Gedanke eines ersten Prinzips und damit auch die Notwendigkeit des Gottesgedankens für das Selbstverständnis der endlichen Vernunft, also für den Menschen. Dass Gott kein beliebiger Gedanke ist, sondern eben ein notwendiger Gedanke, das beansprucht Schelling durch die negative Philosophie zu explizieren. Das ist nicht wenig, das ist sehr viel. Hier trifft er sich allerdings mit Kants kritischer Philosophie, die ebenfalls die Notwendigkeit des Gottesgedankens für die menschliche Vernunft aufgewiesen hat. Vom Standpunkt der negativen Philosophie aus sind frühere, möglicherweise missverständliche Aussagen besser zu verstehen. Auch das im Zusammenhang der Identitätsphilosophie propagierte »höchste Ziel aller Vernunftwesen«, also die immer wieder genannte »Identität mit Gott« und die Schwierigkeit, eine solche Einheit überhaupt philosophisch zu thematisieren, werden vom späten Schelling relativiert und im neu zu vermessenden Gelände reiner Vernunft eingeordnet. 20 Schelling leugnet nicht die angezeigte Sache, hier die intellektuelle Anschauung, aber er räumt ein, dass hier nur eine leere Identität thematisiert wurde, in der das eigentliche Problem mehr verdeckt als erhellt wird. Im Bewusstsein der Differenz von negativer und positiver Philosophie ist die Identitätsphilosophie nun letztendlich ein Unternehmen reiner Vernunft. 21 Sie ist ganz und gar negativ, sofern hier jeder Wirklichkeitsbezug ausgeschlossen ist. Alles, was Vgl. Franz, Albert, Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F. W. J. Schellings, Amsterdam/Atlanta 1992. 20 VI 562. 21 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, Frankfurt a. M., 22, hat gegen seinen alten Freund Schelling wegen dieser Unklarheit polemisiert: »Dies eine Wissen, daß im Absoluten alles gleich ist, der unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fordernden Erkenntnis entgegenzusetzen oder sein Absolutes für die 19
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hier thematisiert wurde, das Absolute, das endliche Wissen vom Absoluten und die Verhältnisbestimmung beider, war »eigentlich nur eine Bewegung des Denkens« und konnte von sich aus keinen Anspruch auf ein reales Geschehen erheben. Mit Schellings Worten: »sie musste sich als Wissenschaft bekennen, in der von Existenz, von dem was wirklich existirt, und also von Erkenntnis in diesem Sinn gar nicht die Rede ist« 22.
Skizze II: Identitätsproblematik in der positiven Philosophie Wie bereitet sich nun der Übergang von der negativen Philosophie in die positive Philosophie vor? Das ist nicht leicht zu bestimmen, und zwar deshalb, weil die Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie zwar methodisch hilfreich ist, um wichtige Fragestellungen zunächst getrennt zu behandeln, aber dem Selbstverständnis Schellings nach nicht dazu führen soll, die eine Philosophie in nunmehr zwei separate Philosophien zu zerlegen. Unter dieser Rücksicht ist es berechtigt, unsere Identitätsfrage, also die Gottesbestimmung des Menschen am Ende der negativen Philosophie noch einmal aufzunehmen, und zwar dort, wo sich der Übergang in die positive Philosophie unmittelbar vorbereitet und der Ausblick auf Staat und Religion thematisiert wird. 23 Dieser Übergang wird von Schelling vornehmlich in der letzten, der 24. Vorlesung der Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie skizziert. Auf welche Weise kann Gott in der Philosophie, hier in der negativen Philosophie, überhaupt thematisch werden? Der Mensch gelangt nicht zu Gott, insofern er auf die Macht reiner Vernunft setzt, gar denkt, sich des Absoluten oder des schlechthinnigen Prinzips einfach bemächtigen zu können. Gerade so gelangt man nach Schelling nicht zum wirklichen und lebendigen Gott, nicht einmal zum Gott des Denkens. Diese Form der Selbstermächtigung reiner Vernunft wäre im Gegenteil eine Verkennung der eigenen Endlichkeit und sogar eine Verkehrung des Gott-Mensch-Verhältnisses. Gefordert ist anderes, gefordert ist für die Philosophie vielmehr gleichsam ein exisNacht auszugeben, worin wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist die Naivität der Leere an Erkenntnis.« 22 XI 125. 23 XI 553–572.
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Philosophische Identitätssuche
tentieller Akt des Nichtwissens. Philosophie ist eine »freie Geistesthat; ihr erster Schritt ist nicht ein Wissen, sondern vielmehr ausdrücklich ein Nichtwissen, ein Aufgeben allen Wissens für den Menschen.« 24 Hinsichtlich des letzten Prinzips aller Wirklichkeit, also Gottes, zeigt sich innerhalb der negativen Philosophie damit folgende sachliche und methodische Konsequenz: Diese »negative Philosophie« hat zwar die Aufgabe, das »Princip […] im reinen Denken« 25 zu finden, nicht aber dessen Wirklichkeit zu erweisen. »Negativ« ist diese Philosophie, »weil es ihr nur um die Möglichkeit (das Was) zu thun ist, weil sie alles erkennt, wie es unabhängig von aller Existenz in reinen Gedanken ist.« 26 In Bezug auf das Prinzip schlechthin, »auf das allein Wissenswerthe und das aus ihm Abzuleitende«, gilt für die negative Philosophie, dass sie »nichts weiß; denn sie setzt das Princip nur durch Ausscheidung, also negativ, sie hat es zwar als das allein Wirkliche, aber nur im Begriff, als bloße Idee.« 27 Das Resultat der negativen Philosophie ist, dass der letzte Punkt aller Realität, von dem her sich das Ganze des Seins herleitet und auch das Denken seine Prinzipien erhält, niemals vom endlichen Denken erfasst werden kann. Ließe sich das wirkliche Prinzip des Denkens im Denken vergegenständlichen, würde es in die Sphäre des Endlichen gezogen. Die docta ignorantia der negativen Philosophie besteht gleichsam in einem demütigen Bewusstsein des Nicht-Begreifenkönnens und Nicht-Begreifenwollens des letzten Prinzips allen Seins und Denkens. Sie ist darin eine existentiale Vorbereitung für das Wiederfinden Gottes im Denken. Gleichwohl ist der Übergang von der negativen Philosophie in die positive Philosophie nur als Krisis der Vernunft zu verstehen. Tatsächlich ist es nach Schelling eine »letzte Verzweiflung« 28, welche über die Vernunft hinaus die Frage nach dem Sein Gottes stellen lässt. Denn in der negativen Philosophie kann zwar »die Erkenntnis Gottes wieder geschmeckt« werden, zugleich wird an diesem höchsten Punkte theoretischer Erkenntnis aber auch klar, dass die Frage nach der Existenz dieses Absoluten innerhalb der rein rationalen Philosophie
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IX 228. XI 562. XI 563. XI 562. XI 566.
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nicht positiv beantwortet werden kann. Vielmehr versinkt das von sich selbst noch nicht wirklich befreite, also noch immer sich-selbstbehauptende Ich hier in tiefe Resignation. »Denn nun erkennt es erst die Kluft welche zwischen ihm und Gott« besteht, erkennt »das außer-Gott-Seyn,« also die Nichtidentität und Entfremdung von Gott. So dass nach Schelling das auf sich selbst zurückgeworfene Ich »keine Ruhe und keinen Frieden« findet, »ehe dieser Bruch versöhnt ist, und ihm mit keiner Seligkeit geholfen« ist, »als mit der, welche ihn zugleich erlöst«. 29 Die existentiellen Abgründe, die das philosophische Fragen bereits freigelegt hatte, werden auf dieser Ebene also nochmals vertieft. Hier wäre der Punkt, die reale Nichtidentität im Verhältnis des Menschen zu Gott phänomenologisch darzulegen. Eine Phänomenologie der Sünde und der Schuld bietet Schelling nicht, obwohl sie von der Sache gefordert wäre. Er skizziert aber immerhin die Möglichkeit realer Entfremdung und Nichtidentität für den Einzelnen im Hinblick auf die Gewalt des Staates und eines auf reine Moral reduzierten Christentums, und er hat dabei Kant im Blick. Im Raum von Freiheitsentscheidungen und konkretem Handeln zählt für das Individuum das reale Gottesverhältnis, nicht die Orientierung an einer abstrakten Idee oder die Unterordnung unter allgemeine Gesetze. Das Verhältnis zum Göttlichen kann im Bereich der Erfahrung nur ein persönliches sein. »Denn Person sucht Person« 30. Entsprechend herrscht hier ein rein freies Verhältnis. Alle Formen und Techniken religiöser oder spiritueller Vergewisserung, die versprechen, den Menschen Gott näher zu bringen, verkennen nach Schelling die Souveränität des wahren Gottes. Sie bleiben letztendlich Formen der Selbstoptimierung eines sich missverstehenden philosophischen und religiösen Bewusstseins und stehen unter dem Zwang des äußeren Erfolges. 31 Dem gegenüber gilt nach Schelling: Weder philosophische »Contemplation« 32 oder mystische Versenkung noch die ästhetische Anschauung bezeichnen hier reale MögXI 566. XI 567. 31 Vgl. unter dieser Rücksicht die ansonsten interessanten Arbeiten von Cusinato, Guido, Person und Selbsttranszendenz. Ekstase und Epoché des Ego als Individuationsprozesse bei Schelling und Scheler, Würzburg 2012 und Shibuya, Rie, Individualität und Selbstheit. Schellings Weg zur Selbstbildung der Persönlichkeit (1801–1809, Paderborn u. a. 2005. 32 XI 566. 29 30
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lichkeiten, sich des absolut freien Gottes zu vergewissern. Die philosophische Kontemplation kann allenfalls »nur den Gott« berühren, »der in der Idee, der in der Vernunft eingeschlossen« ist, »in welcher er sich nicht bewegen kann, nicht aber den, der außer und über der Vernunft ist, dem also möglich, was der Vernunft unmöglich, der dem Gesetz gleich, d. h. von ihm frei machen kann«. 33 Um diesen befreienden Gott, so ist Schellings Überzeugung, muss es aber dem wahrheits- und freiheitssuchenden Menschen letztendlich gehen. Damit ist klar, dass die menschliche Identitätsfrage nicht ausschließlich ein Problem der Ethik ist, obwohl sittliche und moralische Verhältnisse in der Relation von Mensch und Gott notwendig thematisiert werden. Schelling zielt mit dem individuellen Verlangen nach dem wirklichen Gott vielmehr auf jene Voraussetzung, unter der allererst ein Freiheitsdenken und -handeln überhaupt möglich werden. Der »Wille, der mit innerer Nothwendigkeit verlangt, dass Gott nicht bloße Idee sey« 34, ist mehr und anderes als ein rein praktisches Interesse. Er steht hier für das »lautwerdende Bedürfnis der Religion« 35 und zugleich für ein metaphysisches Verlangen. Denn das »Streben nach einer wahrhaft zentralen, alles vom Mittelpunkt aus übersehenden Erkenntnis« 36, das hebt Schelling hier ausdrücklich hervor, »gehört zu unserem Wesen« 37, ist also eine unaufhebbare anthropologische Grundkonstante. Am Ende scheint das Streben nach Ganzheit für Schelling offenbar doch ambivalent, sofern hier so etwas wie der Wille, »zu sein wie Gott«, mitschwingt. Denn nach Schelling ist der Mensch einerseits aufgerufen, diese Ganzheit in seinem Leben zu verwirklichen, und doch liegt hierin genau die Versuchung. Dass er dies alleine zu können glaubt, ohne Gott oder gegen Gott, ist der vergebliche und monströse Versuch, sich selbst zu erschaffen. Es verhält sich aber genau umgekehrt. Dass der Mensch in der Sehnsucht nach Identität und Ganzheit dabei auf Gott angewiesen ist, so würde Schelling sagen, ist seine Seligkeit. Hier zählt dann nicht mehr die Logik reiner Vernunft, hier meldet sich das menschliche Herz, eben die menschliche Sehnsucht. In der Gottesbegegnung wird der Mensch Person. Hier ist
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der Mensch als Ganzer herausgefordert, in seinen affektiven Leidenschaften, in seiner Freiheits- und Tatkraft wie in seiner Kreativität und Geistigkeit. Nicht die allgemeine Vernunft stellt diesbezüglich Ansprüche, sondern es ist das Verlangen des weltlich-leibhaftigen Ich als freiem und selbstbestimmtem Wesen, das den wirklichen Gott sucht. In diesem Sinne kann Schelling sagen: »Diesen will es nun; zwar kann das Ich sich nicht selbst den Beruf zuschreiben ihn zu gewinnen, Gott muß mit seiner Hilfe entgegenkommen, aber es kann ihn wollen, und hoffen, durch ihn seiner Seligkeit teilhaftig zu werden.« 38 Nichts erwarten, aber alles erhoffen, sagt ein oft zitiertes jüdisches Sprichwort und trifft das von Schelling hier Dargelegte, sofern damit kein Quietismus verbunden wird. Wir sahen: In der Identitätsproblematik, im Gott-Mensch-Verhältnis sind Schellings Folgerungen radikal. »Die Vernunft führt nicht zur Religion, wie denn auch Kants theoretisches Resultat ist, dass es keine Vernunftreligion gibt. Dass man von Gott nichts wisse, ist das Resultat des ächten, jedes sich selbst verstehenden Rationalismus.« 39 Allein in der realen Begegnung mit dem lebendigen Gott der Religion kann der Mensch seine Bestimmung vollenden. Von der Sache der Philosophie her reklamiert Schelling ein nicht reduktionistisches Menschenbild, das nicht ideologischen Vorgaben unterworfen ist. Die Gottesfrage muss dem Menschen nicht von außen indoktriniert werden, sie gehört zum Innersten des Menschen und ermöglicht seine Identität. Für viele seiner Zeitgenossen war Schelling ein aufregender Denker, weil er zutiefst religiös inspiriert war und auch im Gegenwind des Zeitgeistes daran festhielt, dass Gott eine Frage des Denkens ist. Sein eigener Denkweg ging nicht ins Schweigen oder in das Ungefähre einer ästhetischen Schwebe zwischen menschlichem Dasein, dem Sein und dem unbekannten Gott. Schellings Denken zielt auf die Wahrheit und Einheit der Wirklichkeit als philosophischem Grundinteresse des fragenden Menschen. Dabei kann die Gottesfrage nicht außen vor bleiben. Das macht sein Denken für uns heute fragwürdig, im besten Sinne des Wortes.
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Philosophische Identitätssuche
Ausgewählte Thesen zur Identitätsproblematik des späten Schelling •
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Das Wesen des Menschen kann nur im Zusammenhang mit der Gottesproblematik entfaltet werden. Subjektivität und Gottesgedanke sind die Folie, auf der die Identitätsproblematik sich abbildet. Schellings metaphysische Anthropologie stellt sich als Alternative zum Scheitern der transzendentalen Reflexion dar, wonach die Einheit von Ich und Selbstbewusstsein als Handlung des Ich gedeutet wird. Der Mensch ist in gleicher Weise ein Wahrheits- und ein Freiheitswesen. Deshalb sucht Schelling in der Spätphilosophie eine neue Synthese vom begründetem Denken und originärer Erfahrung. Das Verhältnis von negativer Philosophie und positiver Philosophie kann nicht analog dem Verhältnis von Philosophie und Theologie gedacht werden, schon gar nicht als ein reines Frageund Antwortverhältnis verstanden werden. Das philosophische Nichtwissen, die docta ignorantia der negativen Philosophie, behält auch in der positiven Philosophie ihr relatives Recht. Alles andere führt zur religiösen Schwärmerei und esoterischem Spiritualismus. Die Identitätssuche kann ihr Ziel verfehlen. Der Mensch kann sein Leben gewinnen, aber auch verlieren. Das Nachdenken über Identität muss sich auch radikal der Nichtidentität stellen.
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II. Phänomenologie
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Der Anspruch des Gesichts des Anderen: »Du wirst nicht töten« Zur Frage der Nicht-In-Differenz als ethischer Verantwortung bei Emmanuel Lévinas Jean-Bertrand Madragule Badi OP
Mit seinem Anspruch »Du wirst nicht töten« stellt das Gesicht einerseits das Ich infrage, nämlich dass ich durch meine Gleichgültigkeit den Anderen in seiner Andersheit nicht allein sterben lassen müsse, und es richtet anderseits an das Subjekt einen unhintergehbaren Appell, indem das Ich schon vor jeder Entscheidung erwählt ist und die ethische Verantwortung für den Anderen trägt. 1 Welchen Sinn hat der schweigende Logos des Gesichts des Anderen für die Philosophie und für die menschliche Beziehung? Wie ist eine Ethik der Verantwortung denkbar? Der jüdisch-französische Philosoph Emmanuel Lévinas beruft sich auf den Begriff der Nicht-In-Differenz (Non-indifférence), um den Logos der abendländischen Philosophie in Frage zu stellen. In dieser Philosophie kritisiert er die ontologische Reduktion des Anderen auf das Selbe, der Vielfalt auf die Totalität und der Heteronomie auf die Autonomie. Er bezeichnet die abendländische Philosophie als griechische, da sie auf die Totalität, auf einheitliches Sein bzw. einheitliche Vernunft zielt. Indem sie den biblischen Gott im Bereich des Seins ansetze, zerstöre sie seine Transzendenz. Hingegen entfaltet Lévinas eine Philosophie, die im Ethischen und nicht in einer epistemologischen Erkenntnis gipfelt. Die Philosophie Emmanuel Lévinas’, die von der jüdisch-rabbinischen Tradition geprägt ist, ist auch durch die Erinnerung an die Schoa gezeichnet. Ohne diese Ereignisse ist seine Philosophie überhaupt nicht denkbar. Das französische Wort visage wurde in den deutschen Übersetzungen von Lévinas’ Werken mehrmals als »Antlitz« wiedergegeben. »Gesicht« scheint aber die bessere Übersetzung zu sein, da es nicht nur seiner Semantik nach, sondern bereits auf der morphologischen Ebene unmittelbar auf das Sichtbare verweist. Zu anderen Argumenten vgl. Lévinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, aus dem Französischen von Tomas Wiemer, Freiburg i. Br./München 1998, 43, Anm. 1 des Übersetzers; Plüss, David, Das Messianische – Judentum und Philosophie im Werk Emmanuel Lévinas’. Stuttgart/Berlin/Köln 2001, 257, Anm. 91.
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Der Anspruch des Gesichts des Anderen: »Du wirst nicht töten«
Im Zentrum dieses Denkens steht die Beziehung zum Gesicht des Anderen. Das Gesicht drückt nicht nur die Andersheit des Anderen aus, sondern es spricht mich an. In den folgenden Überlegungen wird zuerst die Frage nach dem philosophischen Sinn des Anspruchs des Anderen und dessen Konsequenzen erläutert, die zur ethischen Verantwortung für den Anderen führen. Im zweiten Abschnitt möchte ich auf das Problem der Gebundenheit der Offenbarung Gottes an das Gesicht des Anderen als denjenigen Ort näher eingehen, an dem Lévinas nach der sichtbaren Nähe Gottes sucht. Zum Schluss wird noch gezeigt, dass der Anspruch des Anderen die ethische Dimension der Mitmenschlichkeit eröffnet und das Gott-Mensch-Verhältnis eine neue ethische Dimension gewinnt.
1.
Der Anspruch des Gesichts des Anderen: »Du wirst nicht töten«
Emmanuel Lévinas vertritt die These, dass die abendländische Philosophie, die auf dem Denken des Seins aufgebaut ist, gescheitert sei. Sie habe die Menschen an den Rand der Selbstvernichtung geführt. Während Edmund Husserl und Martin Heidegger bei aller Differenz in ihrer Phänomenologie und Ontologie im Subjekt verankert sind, schlägt Lévinas eine Philosophie vor, die das Ethische in den Vordergrund stellt und den unbedingten Vorrang dem Anderen gibt. Die Beziehung zum Anderen geschieht von Angesicht zu Angesicht, sie ist aber asymmetrisch, da das Ethische nur von mir verlangt wird. Dabei liegt der Schwerpunkt in dieser Beziehung nicht auf der Identität – um jede Totalität zu vermeiden –, sondern auf der Differenz. Hier ist die wichtige Frage zu stellen: Wie konzipiert Lévinas das Thema der Identität des Ich oder des Subjekts in der Beziehung »Ich – Anderer«? Lévinas unterscheidet die Beziehung, die wir zum Anderen unterhalten, von der zu den Dingen der Welt. Die Dinge der Welt sind Wesen ohne Gesicht, sie sind austauschbar und können einen Preis haben. In diesem Sinne sind die Objekte der Welt Phänomene, die man wahrnehmen und in deren Genuss man kommen kann. 2 Der Andere hingegen, der nicht in den phänomenalen Bereich gehört, hat ein Gesicht, denn der Andere ist das einzige Wesen, das sich seiner Vgl. Lévinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br./München 31993, 199.
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eigenen Darstellung bewusst ist. Das Gesicht ist »die Epiphanie dessen, was sich so direkt und eben dadurch von außen kommend einem Ich darstellen kann«. 3 Auf diesen Gedanken kommt Lévinas in »Totalität und Unendlichkeit« noch einmal zu sprechen: »Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz. Diese Weise besteht nicht darin, vor meinem Blick als Thema aufzutreten, sich als Ganzes von Qualitäten, in denen sich ein Bild gestaltet, auszubreiten. In jedem Augenblick zerstört und überflutet das Antlitz des Anderen das plastische Bild, das er mir hinterläßt, überschreitet er die Idee, die nach meinem Maß und nach dem Maß ihres ideatum ist – die adäquate Idee. Das Antlitz manifestiert sich nicht in diesen Qualitäten, sondern καθ’ αυτό. Das Antlitz drückt sich aus.« 4 Der Andere ist nach Lévinas sichtbar in seinem Gesicht: Das Gesicht ist die Manifestation des Anderen. Der Andere offenbart sich und drückt sich in seinem Gesicht aus. Der Andere lässt sich nicht darstellen, er ist eine lebende Anwesenheit, die »in gewisser Weise seine eigene plastische Wesensform durchbricht, wie ein Seiendes, das das Fenster öffnet, in dem sich seine Gestalt doch schon abzeichnete. Die Gegenwart des Anderen besteht darin, sich der Form zu entkleiden, von der er doch schon zum Vorschein gebracht wurde. Seine Manifestation ist ein Mehr über die unvermeidliche Lähmung der Manifestation hinaus.« 5 Diese Manifestation »καθ’ αυτό« (d. h. »von sich selbst aus«) ist nicht eine Präsentation, eine Präsentation des eigenen Ich, sondern eine Manifestation des Gesichts. Es handelt sich hier um das Gesicht des Anderen, wie es sich selbst – καθ’ αυτό – uns zeigt, wie es von sich selbst aus uns anspricht, wie es sich offenbart. In »Totalität und Unendlichkeit« erklärt Lévinas: »Für das Sein besteht die Manifestation καθ’ αυτό darin, sich uns zu sagen, sich auszudrücken, und zwar unabhängig von jeder Stellung, die wir ihm gegenüber haben. […]. Die absolute Erfahrung ist nicht Entdeckung, sondern Offenbarung.« 6 Des Weiteren bemerkt Lévinas, dass die Offenbarung des AndeLévinas, Emmanuel, Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, in: Ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br./München 1983, 199. 4 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 63. 5 Lévinas, Emmanuel, Die Bedeutung und der Sinn, in: Ders., Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 40 f. 6 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 87. 3
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Der Anspruch des Gesichts des Anderen: »Du wirst nicht töten«
ren durch das Sprechen zustande kommt. Das Gesicht spricht. Schon die Manifestation des Gesichts ist eine Rede. Das Gesicht des Anderen ist schon Sprache, und zwar die Sprache Gottes, die sich in der göttlichen Anordnung »Du wirst nicht töten« oder »Du wirst keinen Mord begehen« ausdrückt. 7 Der schweigende Logos des Gesichts »stellt meine Freiheit in Frage, die sich als mörderisch und usurpatorisch enthüllt«. 8 Dieser ethische Anspruch eröffnet den Weg zur Verantwortung für den Anderen, die älter als das Subjekt ist. Josef Wohlmuth hat zu dieser sprachphänomenologischen Dimension des Gesichts Folgendes festgestellt: »Das Gesicht ist also gar nicht primär das empirisch ›Gesehene‹, sondern es ist das gehörte Gesicht, das mir mit einem unüberhörbaren Appell gegenübertritt. […] Dieser Appell ist kein gesprochener Satz und richtet sich doch an mich. Er ist kein gesprochenes Wort und betrifft doch meine ganze Existenz, indem die Frage aufgeworfen wird: Du oder ich? Was das Gesicht schweigend sagt, ist ein Vor-Wort, ein Gebot.« 9 Das bedeutet, dass das Gesicht Anfang und Grund der Sprache ist und mich damit zu einer ethischen Beziehung auffordert, die kein gemeinsames Maß mit einem Vermögen hat, das ausgeübt wird, sei dieses Vermögen nun Genuss oder Erkenntnis. 10 Die Epiphanie des Gesichts reißt mich also aus meinem eigenen Ich heraus, indem sie die Gegenwart des Anderen markiert. Sie fordert mich zu einem ethischen Verhalten, d. h. zur Verantwortung für den Anderen. 11 Wenn die vorhergehende Analyse sich darauf bezog, das Konzept des Gesichts als Manifestation des Ich durch sich selbst zu erklären, so handelt es sich nun im Weiteren darum, die Struktur der ethischen Beziehung darzulegen, die sich ausgehend von der Epiphanie des Gesichts des Anderen abzeichnet. Welche Struktur hat diese Beziehung zu dem Anderen? Verweist das Gesicht auf jemanden oder auf etwas anderes? Von vornherein kann man sagen, dass der Zugang Vgl. Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br./München 21987, 198; Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 285. 8 Lévinas, Emmanuel, Signature, in: Ders., Difficile liberté. Essais sur le judaïsme, Paris 1995, 410; (dt. Lévinas, Emmanuel, Unterschrift, in: Ders., Eigennamen. Meditation über Sprache und Literatur, München/Wien 1988, 113). 9 Wohlmuth, Josef, Die Tora spricht die Sprache der Menschen. Theologische Aufsätze und Meditationen zur Beziehung von Judentum und Christentum, Paderborn 2002, 30. 10 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 283. 11 Vgl. ebd., 308. 7
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zum Gesicht bei Lévinas eine ethische Struktur hat. In einem ethischen Verhältnis beziehen sich das Subjekt und der Andere aufeinander und bleiben doch absolut verschieden. Bereits in seinem ersten Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit weist Lévinas darauf hin, dass die abendländische Philosophie eine Ontologie gewesen ist, die den Anderen auf das Selbe reduziert hat und somit den Anderen als solchen verkannt hat: »Dieser Primat des Selben war die Lektion des Sokrates.« 12 Der jüdische Denker bemerkt, dass die Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen immer als eine Art Korrelation, also ein Verhältnis, das auf Identität bzw. auf Assimilation hinzielt, gedacht worden ist. Emmanuel Lévinas greift auf die Frage nach der Subjektivität und der Intersubjektivität in der fünften cartesianischen Meditation von Husserl zurück, um sich desto mehr von deren Gedanken abzusetzen. Für Lévinas ist der Andere nicht mehr ein alter ego, ein anderes Selbst – so bei Husserl –, sondern ein absolut Anderer für mich. Der Rückgriff auf Husserls Denken hat es Lévinas ermöglicht, das Problem der Subjektivität unter einem neuen Gesichtspunkt zu sehen: »Von daher ergibt sich auf der Ebene dessen, was man die ›philosophische Beweisführung‹ nennen könnte, eine neue Art, von einer Idee zur anderen fortzugehen. Von daher ergibt sich eine Veränderung im Begriff der Philosophie selbst; sie war identisch mit der Integration von jedem ›Anderen‹ in das ›Selbe‹ oder mit der Deduktion alles ›Anderen‹ aus dem ›Selben‹ (d. h., sie war identisch mit dem Idealismus im radikalen Sinne des Wortes); in ihr wird künftig der philosophische Eros nicht durch eine Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen verkehrt. Schließlich bedeutet sie überhaupt einen neuen Stil in der Philosophie.« 13 Wird der Idealismus verlassen, folgt daraus konsequenterweise die Differenzierung der Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen, »die weder den Denkenden unerträglich einschränkt noch dieses Andere als Inhalt einfach im Ich aufgehen läßt. Wo alle Sinngebung das Werk eines allmächtigen Ich war, konnte das Andere in der Tat nur in einer Vorstellung aufgehen. In einer Phänomenologie indes, in der die Tätigkeit der totalisierenden und totalitären Vorstellung schon in ihrer eigenen Intention überschritten ist; in der die Vorstellung Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 51. Lévinas, Emmanuel, Der Untergang der Vorstellung, in: Ders., Die Spur des Anderen, 125.
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Der Anspruch des Gesichts des Anderen: »Du wirst nicht töten«
sich bereits inmitten von Horizonten findet, die sie zwar gewissermaßen nicht intendiert hat, auf die sie aber nicht verzichtet, dort wird eine ethische, d. h. wesentlich den Anderen berücksichtigende Sinngebung möglich. Im Rahmen der Konstitution der Intersubjektivität, die von objektivierenden Akten ausgeht, erwachen bei Husserl selbst plötzlich soziale Beziehungen, irreduzibel auf eine objektivierende Konstitution, deren Verlauf doch ihre Geburtsstätte sein sollte.« 14 Die sozialen Beziehungen bei Husserl gründen sich auf eine objektivierende Kenntnis des Anderen, ausgehend von seinem Körper, der erscheint. Nun ist es bei Lévinas nicht der Körper, der erscheint, sondern das Gesicht des Anderen, das sich darstellt. Die Beziehung zu dem Anderen ist nur als eine Beziehung von Angesicht zu Angesicht möglich. Der Andere ist dabei keine Ergänzung zu mir, er ist einzigartig, er ist der absolut Andere. Leben, Leiden, Tod, Vergebung, Trost usw. bedeuten etwas ganz anderes für mich als für den Anderen und nur auf den Anderen bezogen sagen sie mir etwas über Gott. Die Beziehung zwischen mir und dem Anderen kann aus einer intersubjektiven Sicht nur indirekt und vermittelt begriffen werden. Sie impliziert die Vermittlung sowohl der äußeren Wahrnehmung des Anderen als auch des inneren Erlebens der uns beiden eigenen Subjektivität. Erst aus der Sicht der dialogischen Philosophie kann eine direkte und unvermittelte Beziehung zum Anderen möglich sein, d. h. erst dann, wenn man den Anderen nicht als alter ego, sondern als Gesprächspartner und Gegenüber versteht, kann man ihm direkt begegnen. Für Lévinas ist allerdings das Gegenüber immer ein Subjekt und die einzigartige Beziehung zum Anderen immer eine intersubjektive. Mit Marcel Poorthuis kann man daher festhalten, dass Lévinas einerseits mit Hilfe der Subjektphilosophie Husserls die dialogische Philosophie Bubers modifiziert, andererseits das egologische Denken Husserls mit Hilfe der dialogischen Philosophie kritisiert. 15 Die ethische Zuspitzung der Intersubjektivität findet bei Lévinas ihren Ausdruck in der Forderung nach der asymmetrischen Verantwortung für den Anderen. Die Beziehung von Angesicht zu Ange-
Ebd. 138 f. Vgl. Poorthuis, Marcel, Asymmetrie, Messianismus, Inkarnation. Die Bedeutung von Emmanuel Lévinas für die Christologie. In: Wohlmuth, Josef (Hg.), Emmanuel Lévinas. Eine Herausforderung für die christliche Theologie. Paderborn/Wien/Zürich 1998, 202 f.
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sicht ist nämlich eine asymmetrische Beziehung. Nur ich bin zum ethischen Handeln herausgefordert; die ganze Verantwortung liegt auf der Seite des Ich. Mit der Forderung der asymmetrischen Verantwortung möchte Lévinas Rechenschaft geben »von der unmöglichen Indifferenz gegenüber dem Menschlichen, die selbst – und gerade – in der unentwegten Rede vom Tod Gottes, vom Ende des Menschen und vom Zerfall der Welt sich nicht verborgen halten kann«. 16 Emmanuel Lévinas betont einerseits den Unterschied zwischen Ich und dem Anderen und andererseits die Unmöglichkeit der Indifferenz in Bezug auf das Menschliche. In Totalität und Unendlichkeit zitiert Lévinas die Phänomenologie des Geistes von Hegel, wo es um die Selbst-Differenzierung und die Selbst-Identifikation des Ich geht. Und er kommt zu dem Schluss: »Der Unterschied ist kein Unterschied, das Ich wie das andere ist nicht ein ›Anderer‹ […] Die Negation des Ich durch das Sich ist nichts als einer der Modi der Identifikation des Ich.« 17 Gemäß der Logik der Totalität fügt der synthetische Gedanke die Identität der Individuen zusammen. Die Indifferenz bedeutet also bei Hegel die Identität-in-der-Differenz. Für Lévinas geht es nun darum, nach einer anderen Art von Differenz zu suchen, wo die Alterität des Anderen respektiert wird und wo es eine konkrete Beziehung in der Differenz oder in »Nicht-In-Differenz« gibt. In Zwischen uns erklärt Lévinas, wie er den Begriff der »Nicht-In-Differenz« versteht: »Was ich die Nicht-In-Differenz [non-in-différence] des Sagens nenne, ist in seiner doppelten Negation die Differenz, hinter der nichts Gemeinsames mehr als Einheit auftaucht.« 18 Emmanuel Lévinas definiert hier den doppelten Sinn des von ihm häufig verwendeten Wortspiels »Nicht-In-Differenz«. Der Hauptbegriff des Wortspiels, Differenz, steht für Unterschied, Unterschiedenheit, Differenz. Der erste Sinn besteht darin, die Indifferenz (indifférence) – die Gleichgültigkeit – als das Vereinigende der Differenz zu charakterisieren. Das ist der Logos der abendländischen Philosophie, die die Andersheit des Anderen gleichgültig macht. Der zweite Sinn der Nicht-In-Differenz besteht darin, das Vereinigende der »In-Differenz«, der »Gleichgültigkeit« zu bekräftigen. Die
Lévinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br. 1998, 141. 17 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 41. 18 Lévinas, Emmanuel, Eine neue Rationalität – über Gabriel Marcel, in: Ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München/Wien 1995, 85. 16 2
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»Nicht-In-Differenz ist nicht gleichgültig, sondern ethisch und führt zu einer Beziehung mit dem Anderen, dessen Andersheit nicht gleichgültig ist. Lévinas setzt den Akzent auf die Differenz, auf den Unterschied. Nachdem Lévinas den Unterschied zwischen dem Logos der abendländischen Philosophie und seinem Denken festgestellt hat, fügt er hinzu: Die Nicht-In-Differenz ist »somit sowohl Beziehung wie Bruch, und somit Wachzustand: Wachrufen des Ich durch den Nächsten, des Ich durch den Fremden, des Ich durch den Heimatlosen, das heißt durch den Nächsten, der nur Nächster ist. Wachzustand, der weder Selbstreflexion noch Universalisierung ist, Wachzustand, der eine Verantwortung für den Nächsten bedeutet, für ihn, der zu ernähren und zu bekleiden ist, mein Einspringen für den Anderen, meine Sühne für das Leiden und zweifellos auch für die Verfehlung des Anderen. Sühne, mir auferlegt, ohne die Möglichkeit, mich ihr zu entziehen, und durch die sich meine Einzigkeit zur Unersetzlichkeit verschärft. Doch in diesem Bruch und in diesem Wachzustand und in dieser Sühne und dieser Verschärfung spielt sich die Göttliche Komödie einer Transzendenz über Ontologie hinaus ab.« 19 Wenn Lévinas den Unterschied zwischen dem Ich und dem Anderen stark hervorgehoben hat, so einerseits deshalb, weil diese These es ermöglicht, die intersubjektive Beziehung als asymmetrisch zu definieren, und andererseits, weil dies eine tiefgreifende Konsequenz auch für das Denken über Gott und Mensch hat. 20 In Totalität und Unendlichkeit schreibt Lévinas: »Im Antlitz drückt der Andere seine Hoheit aus, die Dimension der Erhabenheit und Göttlichkeit, aus der er herabsteigt.« 21 Genau hier zeigt sich das Paradoxe dieser Nähe des Anderen. Das Gesicht, das von einer Dimension der Höhe herkommt, ist gleichzeitig dasjenige, das aufgrund seines Elends und seiner Entblößung meine Hilfe erbittet. In seiner Nacktheit und seiner Entblößung hat sich das Gesicht mir zugewandt und dabei meine Hilfe erbeten: »Die Nähe des Anderen, die Nähe des Nächsten, ist im Sein ein unerläßliches Moment der Offenbarung, Moment einer absoluten (d. h. aus jeder Beziehung losgelösten) Gegenwart, die sich ausdrückt. Die eigentliche Epiphanie des Anderen besteht darin, uns durch sein
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Lévinas, Eine neue Rationalität, 85–86. Vgl. Poorthuis, Asymmetrie, Messianismus, Inkarnation, 203. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 383.
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Elend im Antlitz des Fremden, der Witwe und des Waisen zu fordern.« 22 Wir befinden uns hier vor den fundamentalen »Kategorien« des Lévinas’schen Denkens. In Jenseits des Seins schreibt der jüdische Denker: »In der Nähe habe ich den absolut Anderen, den Fremden, den ›ich weder gezeugt noch zur Welt gebracht habe‹, schon auf dem Arm und trage ihn, wie es in der Bibel heißt, ›an meinem Busen, wie die Amme den Säugling trägt‹ (Numeri 11,12). Er hat keinen anderen Ort, der Nicht-Eingeborene, Entwurzelte, Heimatlose, Nichtseßhafte, der Kälte und der Hitze der Jahreszeiten Ausgesetzte. Gezwungen sein, bei mir Zuflucht zu suchen, genau das ist die Heimatlosigkeit oder die Fremdheit des Nächsten. Ich habe für sie aufzukommen.« 23 Die unaufhebbare Differenz zwischen mir und dem Anderen wird von Lévinas als ethische Verantwortung verstanden. In dieser Verantwortung besteht die Einzigkeit des Subjekts. Die Verantwortung für den Anderen ist zugleich eine kosmische. Ich sein bedeutet Verantwortung für das Ganze tragen, bedeutet Messias sein, denn nur das Ich ist imstande, das Ganze der Welt auf sich zu nehmen. 24 Lévinas argumentiert hier ganz im Sinne der talmudischen Ethik: Eine einzige böse Tat kann die ganze Welt zerstören; eine einzige gute Tat kann die ganze Welt erretten.
2.
Ethische Verantwortung für den Anderen und die Spur Gottes
Emmanuel Lévinas’ Auseinandersetzung mit der abendländischen Philosophie als Ontologie verschärft sich durch die Kritik ihres philosophischen Diskurses über Gott. 25 Einer der wichtigsten Beiträge von Lévinas zur Gottesfrage findet sich in dem Vortrag »Gott und die Philosophie«, der im Sammelband Gott nennen. Phänomenologische Zugänge veröffentlicht wurde. 26 Dort versucht Lévinas aufEbd., 107. Lévinas, Jenseits des Seins, 204 f. 24 Vgl. Lévinas, Menschwerdung Gottes?, 81. 25 Vgl. Madragule Badi OP, Jean-Bertrand, Dieu au-delà de l’être. Le sens éthique de Dieu dans la pensée d’Emmanuel Lévinas. Préface du Professeur Dr. Jean-Paul Resweber, Frankfurt a. M. u. a. 2013. 26 Lévinas, Emmanuel, Gott und die Philosophie, in: Casper, Bernhard (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg/München 1981, 81–123. Die origi22 23
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zuzeigen, dass der biblische Gott ins Denken kommt und einen Platz in der Philosophie hat. Dieser Platz wurde in der Geschichte der abendländischen Philosophie seit Parmenides durch die Logik des Seins bestimmt. Die Auseinandersetzung der philosophischen Rede des Abendlandes mit dem biblischen Gott hat zur Folge, dass der biblische Gott im Bereich des Seins angelegt wurde und somit seine Transzendenz zerstört wurde, denn in der Logik des Seins gibt es keinen Platz mehr für die Bedeutung jenseits des Seins. Daher ist Lévinas bemüht zu zeigen, wie der biblische Gott seine Stimme in der Philosophie hören lässt und wie er ins Bewusstsein kommt, ohne dadurch seine Transzendenz zu verlieren. Der Lévinas’sche Diskurs über Gott steht vor aller theologischen Rede und bleibt immer eine philosophische. Die Gottesfrage wird hier zugleich jenseits der philosophischen Rede des Abendlandes und jenseits ihrer Interpretation der Rationalität angesetzt. Damit kritisiert Lévinas auch die »rationale Theologie«, die ihre Abhängigkeit von der Philosophie akzeptiert und sich vor der Philosophie zu rechtfertigen hat. 27 Die Lévinas’sche Kritik an der rationalen Theologie ist aber nicht nur eine Erinnerung an Heideggers Kritik der Onto-theologie. Lévinas fragt sich, ob Gott nicht in einer vernünftigen Rede, die weder Ontologie noch Glaube wäre, ausgesagt werden kann. Er will sich vor allem von einer theologischen Sprache distanzieren, die die Situation der Transzendenz zerstört, wie es in der ontologisch-rationalen Theologie der Fall ist. So schreibt er: »Wenn das denkende Ernale französische Fassung wurde als Vorlesung in Frankreich, Israel, Belgien und in der Schweiz vorgetragen. Zuerst wurde der Text der Vorlesung unter dem Titel Dieu et la Philosophie in Le Nouveau Commerce 30/31 (1975), 99–128, abgedruckt; wieder veröffentlicht in: Lévinas, Emmanuel, De Dieu qui vient à l’idée. Paris 21992, 93–127. Dieser Beitrag, der die Geschichte der in die Krise geratenen abendländischen Philosophie behandelt, ist eine Radikalisierung und zugleich eine Zurücknahme der Thematik von Totalität und Unendlichkeit: »Das im Jahre 1961 erschienene Buch ›Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité‹ eröffnet einen philosophischen Diskurs, den 1974 ›Autrement qu’être ou au-delà de l’essence‹ und 1982 ›De Dieu qui vient à l’idée‹ fortsetzen.« – Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 7. 27 Dieser Einwand gegen die philosophische Rationalität erinnert an Heideggers Kritik an der Onto-theologie. Die ausschlaggebende Frage lautet hier: »Wie kommt der Gott eigentlich in die Philosophie?« Heidegger antwortet auf diese Frage: »Der Gott kann nur insofern in die Philosophie gelangen, als diese von sich aus, ihrem Wesen nach, verlangt und bestimmt, daß und wie der Gott in sie komme.« Lévinas meint hierzu, es sei möglich, »daß das Wort ›Gott‹ aus einer religiösen Rede in die Philosophie gekommen ist«. – Dazu: Heidegger, Martin, Identität und Differenz, Stuttgart 1999, 46–47; Lévinas, Gott und die Philosophie, 94.
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fassen des biblischen Gottes – die Theologie – das Niveau des philosophischen Denkens nicht erreicht, dann nicht, weil sie Gott als Seiendes denkt, ohne im vorhinein das ›Sein dieses Seienden‹ zu klären, sondern weil sie Gott, wenn sie ihn zum Thema macht, in den Lauf des Seins mithineinnimmt, während der Gott der Bibel auf unwahrscheinliche Weise […] das Jenseits des Seins, die Transzendenz bedeutet.« 28 Während die rationale Theologie sich bemüht, die Transzendenz Gottes im Bereich der Ontologie zu rechtfertigen, indem sie diese durch Prädikate des Verbs sein wiedergibt: »Gott existierte in hervorragender Weise oder schlechthin« 29, läuft sie Gefahr, Gott als ein Seiendes zu betrachten. Lévinas weigert sich, den Bezug zur Transzendenz in ontologischen Begriffen zu fassen. Der Versuch, Gott und die Welt in Verbindung zueinander zu bringen, darf seiner Meinung nach nicht in der innerweltlichen Ontologisierung der absoluten Transzendenz münden. Gott und Welt gehören nicht in denselben ontologischen Zusammenhang. Gottes Transzendenz ist nur jenseits des Ontologischen, d. h. jenseits des Seins, zu denken. Die Andersheit Gottes veranlasst Lévinas dazu, nach Gottes eigentlicher Manifestationsart in der Welt zu suchen. Er bleibt nicht bei einer negativen Rede über Gott stehen, die von ihm nur das auszusagen weiß, was er nicht ist. Er sucht nach seinen Spuren im menschlichen Subjekt, das seiner absoluten Transzendenz ausgeliefert ist, und kommt zu dem Schluss, dass die Andersheit meines Nächsten die Spur der Gegenwart Gottes in seiner Abwesenheit ist. Gott lasse sich nicht finden, wenn sich das Ich auf seine eigene Transzendentalität besinne, sondern wenn das Subjekt in die leibhaftige Nähe des Anderen gerät. Von daher vertritt Lévinas die These: »Die Dimension des Göttlichen öffnet sich vom menschlichen Antlitz aus.« 30 Es handelt sich hierbei nicht um die Frage, ob Gott existiert oder nicht, sondern es soll vielmehr geklärt werden, was die ethischen Umstände dafür sind, dass Gott in den Sinn kommt. Im Vorwort zu »Wenn Gott ins Denken einfällt« legt Lévinas das Ziel und die Methode seiner Studie in dieser Frage dar. Sie besteht darin, die Möglichkeit einer phänomenologiLévinas, Gott und die Philosophie, 83; vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 269, Anm. 25. 29 Lévinas, Gott und die Philosophie, 83 f. 30 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit,106 f. 28
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schen Konkretheit zu finden, in der man das Wort Gott als ein bedeutungsvolles Wort verstehen kann: »Diese Untersuchung wird unabhängig vom Problem der Existenz oder der Nicht-Existenz Gottes durchgeführt, unabhängig von der Entscheidung, die angesichts dieser Alternative getroffen werden könnte, und auch unabhängig von der Entscheidung über den Sinn oder Unsinn dieser Alternative selbst. Was hier gesucht wird, ist die phänomenologische Konkretheit, in der eine solche Bedeutung bedeuten könnte oder bedeutet, selbst wenn sie sich von aller Phänomenalität abhebt. Denn dieses Sich–Abheben kann nicht auf rein negative Weise und als eine apophantische Negation zur Sprache gebracht werden. Es geht darum, ihre phänomenologischen ›Umstände‹ zu beschreiben sowie ihre positive Konstellation und eine Art konkreter ›Inszenierung‹ dessen, was sich anstelle von Abstraktem sagen läßt.« 31 Die Bedeutung des Gottesbegriffs ist als bedeutendes Wort nur in der Konkretheit der Nähe gegeben, nämlich da, wo ich für den Anderen verantwortlich bin. Alle religiösen Begriffe können nach Lévinas erst in der Beziehung zwischen mir und dem Anderen konkret verstanden werden. Insbesondere die Leiblichkeit des Gesichts des Anderen ist in ihrer Konkretheit ein unüberhörbarer Ruf, Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, und es handelt sich dabei um eine unendliche Verantwortung. Ihre Unendlichkeit überschreitet jede Anthropologie und Ontologie, so dass sie an die Erfahrung der göttlichen Transzendenz grenzt. Gott kommt in den Sinn durch jene Intrige, die die Immanenz oder das cogito durch die Idee des Unendlichen in mir aufbrechen lässt. Emmanuel Lévinas findet diese Intrige, die das cogito aufbrechen lässt, bei Descartes in dessen Meditationen über die Idee Gottes. Lévinas ist nicht an Descartes’ Beweis der Existenz Gottes interessiert, sondern am Rhythmus dieses Gedankens, der aufgrund der Idee des Unendlichen bis zum Zerbrechen des Bewusstseins geht. Das heißt, dass Gott dann in den Sinn kommt, wenn das cogito zerbricht. Für Lévinas denkt Descartes noch in einer ontologischen Sprache, wenn er die Idee Gottes und die Idee des Seins einander annähert. Bei dieser Annäherung wäre Gott das eminente Sein oder ein eminent Seiender. So gesagt, »hält Descartes hier an einer substantialistischen Sprache fest und interpretiert die Maßlosigkeit Gottes als Lévinas, Emmanuel, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, München 1999, 13.
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einen Superlativ des Existierens«. 32 Aber die Idee Gottes als cogitatum – als gedachte Idee – übersteigt die cogitatio – das Denken. »Als cogitatum einer cogitatio, in der das cogitatum die cogitatio von allem Anfang an enthält, übersteigt aber die Idee Gottes als der Nicht-Inhalt schlechthin jede Fassungskraft. Ist das nicht die Absolution selbst des Absoluten? Die ›objektive Realität‹ des cogitatum läßt die ›formale Realität‹ der cogitatio platzen. Dies stellt vielleicht – vor allem buchstäblichen Erfassen – die universale Geltung und den ursprünglichen Charakter der Intentionalität auf den Kopf. Wir möchten sagen: Die Gottesidee zerbricht das Denken, welches – als Einschließung, Synopsie und Synthese – nur in eine Gegenwart einschließt, ver-gegenwärtigt, auf die Gegenwart zurückführt oder sein läßt.« 33 Deshalb versteht Lévinas die Idee des Unendlichen, des Unendlichen in mir, als eine Passivität des Bewusstseins. Diese Passivität des Bewusstseins schließt sich nicht nahtlos an die cartesianische Rezeptivität der Idee des Unendlichen an. Die Rezeptivität ist das Wiederergreifen einer Aufnahme, eines Bewusstseins, das auf dem Objekt ruht, während die passivere Passivität bei Lévinas ein Zerbrechen bedeutet. Worin besteht dieses Zerbrechen? Reiner Wiehl erklärt es mit folgenden Worten: »Dieses Unendliche – das Perfekte – als Idee eines Zerbrechens führt einen Schnitt in das geschlossene System des subjektiven Bewusstseins von mir selbst ein. Lévinas verbindet mit dieser cartesianischen Idee von der Transzendenz seine Spekulation über eine metaphysische Ethik, einer ›Ethik als Optik‹. Das Unendliche kann eine Bresche in den geschlossenen Raum der Totalität der Egoismen schlagen. Es ist vielmehr eher das Sein des Anderen. Der Andere ist es, der mir in meinem ureigenen Egoismus begegnet, in jenem Abgrund des Atheismus, der in mir ist.« 34 Dies bedeutet, dass die Idee Gottes jenseits der Ontologie steht. Die Ontologie befasst sich mit dem Übergang von der Idee zum Sein. Im Lévinas’schen Horizont geschieht der Übergang vom unmöglichen Umfassen hin zum moralischen Bewusstsein, zur ethischen Intrige. 35 So als ob das »Sich-nicht-umfassen-Lassen« die UnmöglichLévinas, Gott und die Philosophie, 95. Ebd. 95 f. 34 Wiehl, Reiner, Éloge d’Emmanuel Lévinas, in: Archive de Philosophie 48 (1985), 358. 35 Das Wort Intrige bezieht Lévinas auf den Intrigenbegriff, so wie er in der griechischen Komödie vorliegt. Von der Intrige an wird eine Handlung ausgelöst, eine Beziehung eingegangen oder ein Charakter verwandelt. 32 33
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keit der Beziehung zum Subjekt bedeuten könnte, wie eine NichtIndifferenz des Unendlichen in Bezug auf das Subjekt. Gottes Kommen ins Denken weckt das moralische Bewusstsein des Subjekts für die Präsenz des Anderen und weist ihm von vornherein seine Verantwortung für den Anderen zu. Dazu schreibt Lévinas: »Wir meinen, daß die Idee-des-Unendlichen-in-mir – oder meine Beziehung zu Gott – mir in der Konkretheit meiner Beziehung zum anderen Menschen zukommt, in der Sozialität, die meine Verantwortung für den Nächsten ist: Verantwortung, die ich in keiner ›Erfahrung‹ vertraglich eingegangen bin, aber zu der das Antlitz des Anderen, aufgrund seiner Anderheit, aufgrund eben seiner Fremdheit, das Gebot spricht, von dem man nicht weiß, woher es gekommen ist.« 36 Dieses Gebot ist das erste Wort des Gesichts, das darin besteht, zu sagen: »Du sollst nicht töten«, »Du sollst keinen Mord begehen«. Dieses Verbot ist der Umstand, bei dem das Wort Gott ins Denken kommt und Sinn annimmt. Anders gesagt, die Dimension des Göttlichen öffnet sich ausgehend vom menschlichen Gesicht und »erschließt sich nur, wenn ich so sagen darf, auf den Kreuzungen der menschlichen Wege und dort, wo dieselben Wege es anstreben oder verkünden«. 37 Damit ist auch gesagt, dass es keine direkte Erkenntnis Gottes am Anderen vorbei gibt, denn diese erweist sich als unmöglich. Lévinas argumentiert so, als ob es erst die Epiphanie des Gesichts des Anderen geben müsste, damit sich Gott offenbart. Das Kommen Gottes in der Epiphanie des Gesichts des Anderen geschieht nicht direkt, sondern lässt nur Gottes Spur erahnen und befiehlt die Verantwortung für den Anderen. Wenn das Thema der Spur die Andersartigkeit von außen her beschreibt, indem es die Nicht-Erfassbarkeit aufgrund der zeitweisen, konstitutiven Veränderung des Bewusstseins unterstreicht, so verweist das Thema des Gesichts auf die gleiche Veränderung durch Hervorheben der Annäherung und der Subjektivität. 38 Diese Unterscheidung zwischen dem Konzept des Gesichts und der Metapher der Spur ermöglicht es, den Sinn, den Lévinas der Spurmetapher gibt, besser zu verstehen.
Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, 18 f. Vgl. Lévinas, Emmanuel, Die Versuchung der Versuchung, in: Ders., Vier TalmudLesungen, Frankfurt a. M. 1993, 62. 38 Vgl. Libertson, Joseph, La récurrence chez Lévinas, in: Revue Philosophique de Louvain 79 (1981), 235. 36 37
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Zunächst muss angemerkt werden, dass das Jenseits des Seins, wo das Gesichtsthema seinen Höhepunkt erreicht, eine dritte Person oder eine dritte Richtung einführt, in der sich das Profil der Illeität, der Transzendenz, abzeichnet. Dieses Profil der Illeität, das sich abzeichnet und im Gesicht verschwindet, ist das, was Lévinas die Spur Gottes nennt. In diesem Sinne kann »nur ein die Welt transzendierendes Wesen eine Spur hinterlassen. Die Spur ist die Präsenz von etwas, das, genau genommen, niemals da war, das immer vergangen ist.« Die Spur ist durch die Tatsache gekennzeichnet, dass sie sich jenseits der Ordnung der Offenbarung, aber auch jenseits des Sich-Verbergens situiert, was den eigentlichen Kern des Seins ausmacht und gleichzeitig die Transzendenz in der Immanenz umfasst. Weiterhin muss festgestellt werden, dass die Spur Gottes, die von einer absoluten und unwiderruflichen Vergangenheit zeugt, gegenüber anderen Zeichen etwas Außergewöhnliches hat: Sie hat Bedeutung außerhalb jeder Intention, etwas zu bedeuten, und sie transzendiert die Gegenwart. 39 Die Spur Gottes hat auch etwas Außergewöhnliches in Bezug auf andere Zeichen »aus dem einfachen Grund, daß das Zeichen und seine Beziehung zum Bezeichneten schon thematisiert sind«. 40 Nun ist aber der unsichtbare Gott des Monotheismus im Denken nicht thematisierbar und für das Denken nicht-indifferent. Positiv ausgedrückt: Wenn ich in Gegenwart eines Anderen »Hier bin ich« sage, das heißt, wenn ich ihm Hilfe anbiete, mache ich diese Spur des abwesenden Gottes sichtbar. »Das Unendliche befiehlt mir den ›Nächsten‹ als Gesicht, ohne sich mir auszusetzen, und dies umso nachdrücklicher, je größer die Nähe wird. Dabei ist der Befehl niemals der Grund für meine Antwort gewesen und nicht einmal eine Frage, die ihr in einem Dialog vorausgegangen wäre. Den Befehl finde ich gerade in meiner Antwort, die mich als Zeichen an den Nächsten, als ›hier, sieh mich‹ aus der Unsichtbarkeit herausholt, aus dem Schatten, in dem meine Verantwortung sich hätte vermeiden lassen. Solches Sagen gehört aber genau zu der Herrlichkeit, für die es Zeugnis ablegt. Dieses ›Irgendwoherkommen‹ des Befehls, ohne daß man wüßte woher, dieses Kommen, das nicht ein In-Erinnerung-Kommen, nicht die Rückkehr einer zu Vergangenheit
Vgl. Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen, in: Ders., Die Spur des Anderen, 230 f. 40 Lévinas, Emmanuel, Sprache und Nähe, in: Ders., Die Spur des Anderen, 291. 39
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modifizierten – oder veralteten – Gegenwart ist, diese Nicht-Phänomenalität des Befehls, der mich jenseits der Vorstellung trifft, unbemerkt, ›sich in mich einschleicht wie ein Dieb‹ [(Ijob 4,12)] – haben wir als Illeität bezeichnet […]: Ankunft des Befehls, dem ich unterworfen bin, bevor ich ihn vernehme, oder den ich in meinem eigenen Sagen vernehme.« 41 Diese Ordnung, von der ich nichts weiß, befiehlt mir eine Verantwortung für den Anderen, das heißt, befiehlt mir, eine Bewegung hin zum Nächsten zu machen. Es handelt sich um eine »Bewegung ohne Umkehr« wie bei Abraham. Lévinas stellt hier »den Mythos von Odysseus« der »Geschichte Abrahams« gegenüber. 42 Nachdem Odysseus viele Abenteuer bestanden hat, kehrt er in seine Heimat, Ithaka, zurück, während Abraham seine Heimat verlässt, um in ein neues, noch unbekanntes Land zu ziehen. An einer anderen Stelle zögert Lévinas nicht, von der Konkretheit Gottes ausgehend, von den Menschenrechten zu sprechen. Und er zieht daraus die Schlussfolgerung, dass »dies sicherlich die Spur Gottes im Menschen sei oder, noch genauer, derjenige Punkt, wo die Idee Gottes allein zum Menschen kommt«. 43 In seiner Gottesvorstellung stellt Lévinas die jüdische Denkweise der christlichen gegenüber. Die jüdische hält an der Transzendenz Gottes fest, welche das cogito zerbricht, und fordert das Subjekt zu einer ethischen Verantwortung für den Anderen. Dabei versteht Lévinas die Transzendenz Gottes nicht als seine Anwesenheit, sondern als unendliche Abwesenheit. Der Zugang zum abwesenden Gott ist nur dann möglich, wenn man sich dem Dienst an den Anderen weiht, welcher sich in der Spur Gottes befindet. Zum Schluss zitiere ich einen Text mit einer biblischen Referenz aus dem Buch Exodus, der für die hier behandelte Problemkonstellation im Denken von Lévinas sehr zentral ist: »Der Gott, der vorbeigegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden. Der geoffenbarte Gott unserer jü-
Lévinas, Jenseits des Seins, 328 f. Vgl. Lévinas, Die Spur des Anderen, 215 f. 43 Lévinas, Emmanuel, Les droits de l’homme et les droits d’autrui, in: Indivisibilité des droits de l’homme. Actes du IIè Colloque Interuniversitaire Fribourg 1983, Fribourg 1985, 37. 41 42
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disch-christlichen Spiritualität bewahrt die Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen Ordnung selbst ist. Er zeigt sich nur in seiner Spur, wie in Kapitel 33 des Exodus. Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die Andern zugehen, die sich in der Spur halten.« 44 * * * Blicken wir auf die Fragestellung des Anfangs zurück, so ist abschließend zu zeigen, welche Impulse der Anspruch des Gesichts des Anderen »Du wirst nicht töten«, wie er von Emmanuel Lévinas entworfen wurde, für die Geschwisterlichkeit in der Gegenwart Gottes impliziert. Lévinas hat die Ontologie, die Reduktion des Anderen auf das Selbe, durch die Ethik abgelöst. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für das Verständnis der Ethik der Verantwortung. Emmanuel Lévinas’ Philosophie, die aus der Katastrophe der Mitte des 20. Jahrhunderts heraus entwickelt wurde, ist ein Appell an unsere ethische Verantwortung angesichts der heutigen Flüchtlingsdramen. Die Spur Gottes im Gesicht des Anderen ist weder eine vermittelbare Nähe noch Anwesenheit Gottes, sondern sie ist Heimsuchung und Transzendenz. Diese Spur führt zur unvordenklichen Vergangenheit. 45 Wenn Emmanuel Lévinas nach der bleibenden Zuwendung Gottes zum Menschen fragt, tut er dies mit einem anthropologischen Vorbehalt. Er bekräftigt an mehreren Stellen, dass »der Andere der eigentliche Ort der metaphysischen Wahrheit und für meine Beziehung zu Gott unerläßlich ist. Er spielt keineswegs die Rolle des Vermittlers. Der Andere ist nicht die Inkarnation Gottes; vielmehr ist er gerade durch sein Antlitz, wo er körperlos ist, die Manifestation der Höhe, in der sich Gott offenbart.« 46 In dem Lévinas’schen Gottesbegriff entzieht sich Gott jeglicher Inkarnation, denn ein inkarnierter Gott müsste in eine so intime Beziehung zum Menschen treten, dass sie den Anderen nicht mehr bräuchte. Wenn Lévinas trotzdem über die Inkarnation zu sprechen beginnt, macht er damit nicht eine Aus-
Lévinas, Die Spur des Anderen, 235. Lévinas findet die Implikation der unerreichbaren Vergangenheit im Begriff der Schöpfung. Die Schöpfung bedeutet ein Gutes jenseits des Seins. 46 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 108. 44 45
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sage über Gott, sondern über die Beziehung zwischen Gott und Mensch, aus welcher der Andere nicht ausgeschlossen werden darf, »nicht einmal im Gebet, nicht einmal in der unmittelbaren Verantwortung Gott gegenüber, nicht einmal in der Vergebung«. 47
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Leiblichkeit und Intensität als radikal phänomenologische Identitätsbestimmung Beitrag für ein erneuertes Denken spirituell-kultureller Existenz heute Rolf Kühn
Es ist in grundsätzlicher Hinsicht für die Tatsache einer originären Leib- und Kulturanalyse heute festzustellen, dass der subjektive Leib als ontologische »Gewohnheit« im Sinne einer konkret-transzendentalen Möglichkeit sich nicht nur im radikalphänomenologischen Bereich der reinen Immanenz verwirklicht, sondern in vor-ontologischer Hinsicht eine Umkehr klassischen Leibdenkens überhaupt darstellt, insofern keinerlei rationale Frage hinsichtlich einer Trennung von Subjekt/Objekt ihn mehr betreffen kann. Bezeichnen wir diese innere phänomenologische Absolutheit des subjektiven Leibes als Instanz einer transzendentalen Proto-Bezüglichkeit, 1 welche in aller Narrativität der leiblichen Affekte und Impressionen spricht, dann heißt dies zugleich, dass dieser Ur-Leib des »Ich kann« ein absolutes Situiertsein als meine Identität im rein phänomenologischen Leben impliziert, auf die jede weitere mundane wie existentielle Situation in ihrer Gegebenheit angewiesen ist. Denn der objektive oder sichtbare Leib kann nur dann als stets identisch mit sich selbst situiert sein, wenn er zuerst durch eine transzendentale oder absolute Position im Leben situiert ist, welche die Öffnung auf alles Weltsein schlechthin bedeutet. Es ist daher unmöglich, dass unsere Leiblichkeit – existentiell wie kulturell – jemals auf einen bloß empirischen Körper reduziert werden kann, was epistemologisch nach Michel Henry (1922–2000) einschließt, dass wir hinsichtlich unseres subjektiven oder immanenten Leibes nicht irgendeine beliebige wahrnehmungsmäßige oder ontologische Perspektive einnehmen können, sondern einen gegen-reduktiven Weg einzuschlagen haben. 2
Vgl. Kanabus, Benoît, Généalogie du concept henryen d’Archi-Fils. La hantise de l’Origine, Hildesheim/Zürich/New York 2010, 134 ff. 2 Zu dieser Frage der Gegen-Reduktion besonders im Zusammenhang mit der Leib1
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1.
Leiblichkeit als praktisch-transzendentale Selbstapperzeption
Damit ist in jedem Vollzug auch die Problematik der Freiheit gleichzeitig berührt, die besagt, dass letztere im Bereich der inner-subjektiven Selbstgegebenheit sowohl begrenzt wie nicht-kontingent ist, nämlich nicht selbstgesetzt und dennoch identisch mit unendlichen Potenzialitäten des Lebens, welche durch die Gegenwart jedes Lebendigen zur Welt hin natürlich bestimmte Perspektiven und Haltungen einnehmen müssen, aber davon letztlich nicht verändert werden. Denn das »Fleisch« (chair) ist im radikal lebensphänomenologischen Sinne nicht allein ein kinästhetisches Organ für Bewegung und Wahrnehmung wie bei Husserl, sondern als absolute Leiblichkeit die inner-narrative Historialität der Lebensankünftigkeit als solcher, weshalb unser Leibsein nicht allein durch eine endliche Begrenzung durch das Weltsein bestimmbar ist. Wenn die Subjektivität in diesem Sinne mithin die Fundierungsmöglichkeit jeder ontologischen Situation ist, dann ist damit auch die cartesische Denkachse Ego/Gott, wodurch in der rationalen Metaphysik die Ipseität verstanden werden sollte, als teleologische Unendlichkeit grundsätzlich verlassen und der absolute Leib initiiert so ein umfassend erneuertes Denken für heute, für welches das ursprüngliche Sein unseres Leibes als Leben den Ursprung einer internen transzendentalen Erfahrung bildet, welche die inner-narrativen Effekte dieses umfassend leiblichen Lebens in allen Erfahrungen bestimmt. Dies gilt ebenfalls für jeden Begründungsversuch einer »Spiritualität«, insofern die ursprüngliche Einheit von Leib/Leben jeder besonderen Intentionalität eines spezifisch spirituellen Sinns in Wahrnehmung und geistig-religiösem Leben vorausliegt, wie es die Untersuchung von Johannes Bündgens und Clara Vasseur 3 zu diesem Thema zu entfalten versucht. Dabei ist die Spannung zwischen Idealismus und Empirismus noch innerhalb der klassischen Phänomenologie nicht unbewusst übergangen, weil die Übereinstimmung der immanenten Struktur des Lebens mit der weltlichen wie spirituellen Praxis der Individuen über eine Phänomenalisierung verläuft, wo der eigene Leib als »Ich analyse als »Umsturz der Phänomenologie« vgl. Henry, Michel, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München 2002, 43 ff. 3 Vgl. Bündgens, Johannes / Vasseur, Clara, Spiritualität der Wahrnehmung. Einführung und Einübung, Freiburg/München 2015.
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kann« von vornherein ein lebendiger Leib ist, dessen radikal phänomenologische Materialität jegliche Widerständigkeit im Berühren als Gegenüber im Sinne der transzendenten Gegenständlichkeit relational ermöglicht. Herrscht nämlich eine Unmittelbarkeit zwischen innerem Wollen und Bewegen als Einheit des Sich-Selbst-Bewegens der Subjektivität vor, dann fallen auch bereits Apperzeption und Erfahrung in jeder Hinsicht zusammen, da jede Ego-Intentionalität mit der Entfaltung des absoluten Leibes als radikale Immanenz im Sinne einer Transparenz identisch ist, die nicht mehr vom vorstellenden Blick abhängt, sondern allein vom Vollzug des ausgeübten Könnens als subjektiver Praxis. Solche Apperzeption ist daher nicht länger von der Re-flexion her zu beurteilen, sondern jeder selbstidentische Vollzug ist eine lebendige Reflexionsform im Sinne einer leiblichen Einheit, die jeder Trennung von praktischer Apperzeption und theoretischer Reflexivität vorausliegt. 4 Anders gesagt ist alles Konstituierte im absoluten Leib gegeben, ohne darin als eine fertige oder statische Substanz zu ruhen, da die unsichtbare Affektivität dieses Leibes Immanenz und Transzendenz immer schon dergestalt miteinander vereint hat, dass jede Relation die Manifestation eines Ur-Pathos darstellt, welches sich von der Immanenz bis hin zur höchsten Wahrnehmung oder abstraktesten Sprache erstreckt. Ein bloß empirisch gesehener Raum, in dem sich die Dinge real oder horizonthaft ausdehnten, wie es die klassische Philosophie in ihrem prinzipiellen Gegenüber von Denken und Welt setzt, ist rein lebensphänomenologisch überholt von der Koinzidenz zwischen ursprünglicher Leiboder Affekterfahrung und Welthaftigkeit in all ihren Formen. 5 Das ständig affizierende »Wort« dieser Koinzidenz ist jene Narrativität, welche sich durch alle Erfahrung als notwendigerweise identisches Sich-Erfahren zieht. 6
Vgl. zum Begriff des »Ich kann« nach Maine de Biran hier Kühn, Rolf, Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie, Hildesheim/Zürich/New York 2006. 5 Für die hierbei implizit gegebenen Auseinandersetzungen mit dem Denken Heideggers vgl. Grätzel, Stephan / Seyler, Frédéric (Hg.), Sein, Existenz, Leben: Michel Henry und Martin Heidegger, Freiburg/München 2013. 6 Zur Leiblichkeit als inner-affektiver Selbst-Narrativität vgl. im Einzelnen Kühn, Rolf, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie. Neuere Studien zu Michel Henry, Chams (CH) 2015, 351–360; Anhang: M. Henry, Potenzialität (franz. Original Henry, Michel, Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris 1985, 387–398). 4
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Nach dem cartesischen Dualismus der Substanzen ist hierbei vor allem auch die mechanistisch-kausale Sichtweise der transzendentalen Analyse Kants überwunden, der dem Reflexionsurteil auch die Hauptrolle in Anthropologie und Kunst zusprach und in einem ebenfalls teleologischen Rahmen zwischen Endlich/Unendlich sowie Sinnlich/Übersinnlich differenzierte. Natürlich geht es uns nicht darum, das analytische Urteil für seinen Bereich in Frage zu stellen, sondern sich entschiedener der Seinsphänomenalisierung als solcher in ihrer affektiven Grundgegebenheit zuzuwenden als der äußeren Zuordnung von Idealität und empirischer Kausalität mit Hilfe der Anschauung. Das pathische Gewebe der reinen Phänomenalität als ursprüngliche Materialität allen Erscheinens bezeichnet nämlich eine prinzipiell nicht-begriffliche Seinswerdung, sofern sie die absolut immanente Sphäre des Lebens als apriorische Bedingung des Seins betrifft. Dies lässt von einer vor-ontologischen wie vor-organischen Intensität sprechen, welche die immanente Narrativität als einen unmittelbaren Bezug zum rein phänomenologischen Leben versteht, woraus sich auch wichtige Impulse etwa für eine erneuerte Psychoanalyse einschließlich ihres heutigen kulturellen Kontextes überhaupt ergäben. Denn auch die Psychoanalyse basiert auf einem metaphysischen Dualismus des Denkens, welcher das Leben in einer Bipolarität fixiert, die zwar das »Unbewusste« kennt, es aber einem »Bild« des Körpers im Sinne einer gedachten Spannung oder Störung zuordnet, die der vorstellenden Deutung harrt, wie maßgeblich etwa auch immer der Ödipus-Komplex im Einzelnen gesehen wird. Für einen solchen biologisch-psychologischen Bereich kann daher korrigierend festgehalten werden, dass natürlich nicht die Organunterteilung des Körpers bis in die chemisch-physikalische Struktur hinein als solche anzuzweifeln ist, sondern der Organismus als ausschließlicher Raum der Entfaltung des Leiblichen mit angeblich letztlich wissenschaftlich bestimmbaren Formen und hierarchischen Funktionen. Eine Angstkrise ist noch keine schizophrene Pathologie, sondern sollte zunächst als unmittelbare Offenbarung des radikal individuierten Lebens selbst verstanden werden. 7 Analoge Beobachtungen ließen
Vgl. Lee, E. J., Pour une critique phénoménologique de la psychanalyse: Henry, Freud, Lacan, philos. Diss. Universität Straßburg 2009, 341; außerdem zuletzt Kühn, Rolf, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – Zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München 2015.
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sich für die Frage der »Spiritualität« erheben, denn wenn diese den Versuch darstellen sollte, ein tieferes oder transzendenteres Sein (Gott) zu erreichen, dann muss rein phänomenologisch beachtet werden, dass weder das »Unbewusste« noch das »Spirituelle« ein anderes Leben als jenes begründen können, welches schon immer – als mit sich selbst identisch – im Sinne immanenter Selbstgebung allen Versuchen irgendeiner intentionalen Einwirkung auf dieses Leben vorausliegt. Auch wenn die oben angesprochene Frage des Zusammenhangs von Idealismus/Empirismus – und damit eines nachfolgenden kritischen Dekonstruktivismus 8 – grundsätzlich phänomenologisch revolutioniert werden kann, so bleibt oft die post-moderne Skepsis hinsichtlich des individuellen bzw. »personalen« Charakters einer absoluten Existenz des Ego als Leiblichkeit bestehen. Damit wird meist auch der Bezug zu einem göttlichen Leben bzw. die scheinbare Abhängigkeit von einer christlichen Tradition negativ beurteilt, da angeblich die Einbettung des aktiven »Ich kann« in eine passibel vorausgehende Subjektivität als Ipseität ein solches Ego derart überborde, dass der Exzess dieser Ursprünglichkeit als »Ur-Fleisch« eben keine »Selbst-Konstitution« mehr zulasse. Im Rahmen einer Radikalisierung gegenwärtiger Phänomenologie 9 kann dann noch zugestanden werden, dass Lebendigsein und intensive Materialität des Lebens unauflösbar seien und eine formale Koinzidenz zwischen solcher Selbstaffektion und der intentionalen Selbstkonstitution bestehe, es also weder Ego noch Subjekt außerhalb des Leibes gebe, aber die Individuierung eines solchen lebendigen Leibes verlagere dann die Problematik des »Subjekts« bloß auf die »Individuierung des Lebendigen im Anonymat der Leiblichkeit« hin. 10 Individuierung und Anonymat schließen sich jedoch grundsätzlich aus, so dass wir die leiblich-pathische Narrativität nicht nur als die lebendige Mächtigkeit der Bewegung der Subjektivität in ihrer immanenten Affektivität sowie auch in ihrer intentionalen Weltentfaltung verstehen, sondern auch als die selbstidentische Ur-Individuierung im absoluten Leben als solVgl. Derrida, Jacques, Le toucher – Jean-Luc Nancy, Paris 2000 (dt. Berühren. JeanLuc Nancy, Berlin 2007). 9 Vgl. Novotný, Karel, Neue Konzepte der Phänomenalität. Essais zur Subjektivität und Leiblichkeit des Erscheinens, Würzburg 2012, zu Henry 38 ff. 10 Vgl. für diesen häufigeren Einwand Arsenic-Zamfir, R., Le corps dans la philosophie française contemporaine: Michel Henry et Gilles Deleuze, philos. Diss. Université de Bourgogne (Dijon) 2006, 134 f. 8
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chem. Ein theoretisch verbleibender Blick auf eine anonyme Vorgängigkeit des transzendental fundierenden Lebens schlechthin scheint uns einer der letzten mentalen Vorbehalte jenes reflexiven Rationalismus als Erbe der Husserlschen Noese/Noematik-Korrelation und ihrer historischen Vorläufer zu sein, der sich nicht eingestehen will, dass etwas »Anonymes« nur vor dem wissen-wollenden Blick erscheinen kann, nicht aber in einem praktischen Vollzug, der stets ein ich-bestimmter ist, auch wenn dieses »Ich« genauer als passibles »Mich« zu fassen ist. 11 Soll das Anonyme nicht länger als Variante der Problematik des (vital) Irrationalen gesehen werden, mit der jede strenge Lebensanalytik kritisiert wird, 12 dann bleibt eben nicht nur auf das Eingebettetsein aller Bezüge von Welt und Anderen in die Duplizität des Erscheinens von Welt/Leben hinzuweisen. Vielmehr geht dieser Duplizität eine Einheit als Identität voraus, welche das sich-selbstermächtigende Prinzip des Lebens als »Selbstgeburt« durch das Ankünftigwerden seiner selbst in sich und für sich ist. Wird dieses Prinzip von Michel Henry »Gott« oder »Wort des Lebens« genannt, 13 dann ist damit vor allem angedeutet, dass eine hermeneutische Verständigung mit früheren ontologisch-metaphysischen Fragestellungen nicht ausgeschlossen ist, aber diese Konzeptualisierung des Lebens als »göttliches« bedeutet keine Aufgabe der Radikalität der leiblichen Originarität im Sinne einer Unterordnung unter ihr fremde Kategorien, seien sie abstrakt oder theologisch. Die Individuierung des einzelnen Lebens betrifft dessen identischen »Anfang« selbst, weshalb für eine Ur-Ipseität als immanentes Werdensprinzip des absoluten Lebens selbst zu plädieren bleibt, weil sonst die Anonymität der subjektiven Lebensbestimmung innerhalb der leiblichen Affektivität höchstens zu einer »Ethik« als wesenhafter Struktur im Bereich und Verlauf der Erfahrung der Leiblichkeit hinführt, das heißt als verantwortete Erkenntnis der eigenen Impressionen, Affekte und Leidenschaften einschließlich der Gemeinschaftlichkeit mit Anderen. Diese Ethik wäre dann eine Verfeinerung der transzendental-empiriVgl. Gondek, Hans-Dieter / Tengelyi, László, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a. M. 2011, 114 ff. 12 Vgl. hierzu die kontroverse Analyse bei Jean, Grégori, Force et Temps. Essai sur le »vitalisme phénoménologique« de Michel Henry, Paris 2015. 13 Vgl. Henry, Michel, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München 1997; Ders., Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/München 2010. 11
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schen Sichtweise meiner Gegenwärtigkeit zur Welt hin, ohne jedoch letztlich darauf antworten zu können, warum diese unendliche Kontingenz eine radikal phänomenologische Unsichtbarkeit jeder individuierten Leiblichkeit und ihrer Narrativität impliziert. 14 Aussagen wie »Dies ist mein Leib« oder »Ich bin das Leben« aus der neutestamentlichen bzw. christlich-spirituellen Tradition, wie aber auch die Aussagen über eine primordiale »Leere« als Grund allen Erscheinens im Buddhismus etc., 15 stellen daher für eine radikale Phänomenologie ein Motiv dar, ihre eigenen Ergebnisse mit solchen letzten (Nicht-) Identitätsaussagen zu konfrontieren, ohne neue Abhängigkeiten von metaphysischen Vorgaben einzugehen – ohne aber auch die oft noch impliziten metaphysischen Annahmen innerhalb der gegenwärtigen »Metaphysikkritik« selbst zu übernehmen. So ist offensichtlich, dass Jean-Luc Nancy wie Derrida und ihre Nachfolger, die in »Gott, Tod, Leib (chair)« jene »drei unmöglichen Namen« sehen, worin sich jede Bedeutung aufhebt, in ihrer Kritik an der intuitionistischen Tradition des Unmittelbaren – trotz der Prämissen von Kluft, Fraktur und Zerteilung – von der Theo-Teleologie des Lebendigen als Konstitution absoluter Leiblichkeit getragen bleiben. Dies ist sicher auch eine Antwort auf die Exzesse der gegenwärtigen Öko-Technik, um ihnen affektiv wie intellektuell etwas in der Verzweiflung solcher Entwicklung entgegenstellen zu können. 16
2.
Affektive Intensität als Immanenz jeglicher Erfahrung
In jeder Hinsicht kann daher behauptet werden, dass die lebensphänomenologischen Analysen hinsichtlich der inner-narrativen Leiblichkeit eine radikale Erneuerung der klassischen wie gegenwärtigen Problematik von Identität darstellen. Die rein phänomenologische Vgl. auch Garcia-Baró, Miguel, »Le commencement perdu«, in: Brohm, Jean-Marie / Leclercq, Jean (Hg.), Michel Henry (Les Dossiers H), Lausanne 2009, 419–425; Audi, Paul, »Forme et excédence«, in: Alter. Revue de phénoménologie 15 (2007), 285–207. 15 Vgl. Kühn, Rolf, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätszugang, Dresden 2013, bes. Kap. II,6. 16 Vgl. Nancy, Jean-Luc, Corpus, Paris 1992, 64 f.; Ders., La Déclosion (Déconstruction du christianisme, 1), Paris, 2005 (dt. Dekonstruktion des Christentums, Berlin 2008); Ders., L’Adoration (Déconstruction du christianisme, 2), Paris 2010 (dt. Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Berlin 2012). 14
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Substantialität ist in ihrer prinzipiellen Unsichtbarkeit für die Wahrnehmung wie für die philosophische Intelligibilität so unsichtbar, dass letztere »als Denken der Welt in der Tat niemals daran denken« kann. 17 Wenn das »originäre Wie« die zentrale Frage der Phänomenalität in ihrer Phänomenalisierung bildet, nämlich das Ungesehene in empirischer wie intelligibler Hinsicht, ohne dem inner-affektiven Sagen des Lebens jemals entzogen zu sein, dann widerspricht diese Unsichtbarkeit nicht einem ursprünglichen Vernehmen, welches die Lebensaffektion als solche im Sinne unserer Ur-Leiblichkeit und ihrer inner-subjektiven Praxis ist. Wenn bei Husserl die Intentionalität die Rationalität überbot, indem die sinngebenden Akte des Bewusstseins in allen Schichten der leistenden Subjektivität gesucht werden, ohne deren Intervention die Empfindungskomplexe sich in einem affektiven Chaos verlieren würden, so wird diese Problematik nicht verkannt, wenn Henry auf die Passibilität der originären Empfindung zurückgreift, insofern das »ursprüngliche Wie« jeder Gegebenheit nicht die Ekstase als Sinngebung ohne Ende ist, sondern die Impressionabilität schlechthin: das Sicherfreuen und Sicherleiden in jedem Punkt (Modus) des Lebens. Die Form (eidos, Idee) seit Platon und Aristoteles ist dergestalt nicht länger der grundlegende Begriff der Ontologie, sondern diese Ontologie bis in die intentionalen Noesen hinein wird durch eine Materialität als Wesen der Phänomenalität ersetzt, um das Sein als Leben im Sinne der Selbstgebung effektiv zu bilden. Hierbei ist das »Sein« nicht vorgegeben, um die Existenz des Lebens begrifflich fassen zu können, vielmehr wird jedes Sein erst im Leben, sofern das Leben vor dem Sein in sich kommt, mit anderen Worten sich selbst ohne Vorbedingung oder Außenheit selbst gründet bzw. zeugt. Erst unter diesem Gesichtspunkt werden Aussagen wie »Ich bin mein Leib« oder »Ich bin das Leben (der Welt)« letztlich erst verständlich, indem sich eine Identität zwischen Leiblichkeit und immanenter Intensität herausbildet, welche in jeder Bewegung als Kraft, Trieb, Energie, Relation oder Begegnung wiederzufinden ist. Die Transparenz des subjektiven Leibes wird auf diese Weise der Opazität des »Habens« aus der Sicht der Seele oder des Geistes entzogen, um in eine ontologische Unvergleichbarkeit einzutreten, die sowohl für die Räumlichkeit wie für die Geistigkeit oder Spiritualität gilt, insofern jedes »Berühren« nicht nur eine unendliche Hermeneutik des Sub17
Vgl. Henry, Michel, Phénoménologie matérielle, Paris 1990, 6 f.
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jekts initiiert, sondern im geringsten Kontakt bereits ein Exzess erprobt wird, der gleichzeitig auf uns selbst und das absolute Leben in uns verweist, das sich darin inkarniert. Insofern könnte man mit Emmanuel Levinas und Jean-Louis Chrétien 18 auch sagen, dass jeder Augenblick der inner-affektiven Narrativität eine hyperbolische »Liebkosung« (caresse) bildet, welche bei Michel Henry als »Selbstumschlingung des Lebens« auftritt. 19 Die wirkliche philosophische Fragestellung betrifft somit nicht mehr irgendeinen Gegenstand der Erfahrung, sondern die Erfahrung als solche, insofern sie eine ständige selbstidentische Erprobung des leiblichen Lebens darstellt, ohne sich dabei von der Absolutheit des rein phänomenologischen Lebens zu trennen, was auch geschähe, wenn man sich solches Leben als kausalen, transzendenten oder teleologischen »Gott« vorstellen würde. An das absolute oder »göttliche« Leben kann letztlich nicht »geglaubt« werden, da es in all seinen Modi und Phasen praktisch-transzendental zu vollziehen ist, das heißt einem Affekt unterliegt, der stärker und älter ist als alles, was wir thematisch jemals wissen und doxisch glauben können. Es geht also um mehr als um ein lebensphilosophisches Lob auf das »Ganze des Lebens«, über das schon Maine de Biran, Schopenhauer, Nietzsche und Marx hinausgeführt haben, ohne von Meister Eckhart zu sprechen, denn alle Oberflächenphänomene des Lebens als kosmetische oder marktkonforme Verhaltensweisen müssen mit dem radikal phänomenologischen Sachverhalt konfrontiert bleiben, dass »der Akt des Sich-Gebens in der Einheit seines ihm eigenen Gehaltes die Wirklichkeit und folglich die Gesamtheit derselben« darstellt. 20 Dies erscheint als ein metaphysischer Monismus, aber es bleibt hierbei vor-metaphysisch zu verstehen, dass dieser »Monismus« nicht nur eine Duplizität des Erscheinens bildet, 21 sondern vor allem das »Eine« nur als »Relation« kennt, nämlich als ständiges Geborenwerden im Chrétien, Jean-Louis, L’Appel et la réponse, Paris 1992, 119, sowie seine Stellungnahme zu M. Henry in »La vie sauve«, in: Les Études philosophiques 1 (1988), 37–49. 19 Diese bildet auch bei ihm zugleich das Fundament für eine kulturell-spirituelle Neubestimmung unserer Epoche; vgl. etwa Henry, Michel, Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001, Freiburg/München 2015, Teil IV: »Ethik und Intersubjektivität«, hier besonders der Beitrag von 1986: »Ethik und Religion in einer Phänomenologie des Lebens« (285–297). 20 Henry, Michel, L’essence de la manifestation, Paris 1963, 405. 21 Vgl. Kühn, Rolf, »Ungeteiltheit« – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung. Ein radikal phänomenologisches Gespräch mit Meister Eckhart, Leiden/Boston 2012, 291 ff. 18
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absoluten Leben, welches nicht nur den Gegensatz zwischen Denken und Leib aufhebt. Vielmehr wird auch die gedachte Unterschiedlichkeit von Einheit/Vielfalt aufgehoben, um in allen Selbst- und Welterscheinungen jene ab-gründige Bezüglichkeit zu leben, die wir als passible Individuierung sind, sofern nicht das statische »In-dividuum« im Mittelpunkt steht, sondern das Pathische des Werdens, welches im Historialen des Lebens inner-narrativ nie abgeschlossen ist. Mit anderen Worten »wird« jedes »Individuum« in der innerleiblichen Erprobung seiner Bewegungen, welche zugleich Bezüge zur Welt und zu Anderen darstellen, und solches selbstidentische Werden lässt sich nur über die Intensität der Kraft oder des Triebes verstehen, welche als Erleiden wie Handeln die Leiblichkeit selbst sind. Das Pathische als Kraft oder Affekt im Sinne je ständiger Individuierung zu verstehen, macht aus diesem Pathos mehr als nur die Verbindung zwischen den Trieben und dem Individuum; es eint vielmehr Leben, Immanenz, Intensität und Individuum als vor-ethische Subjektivität, welche als Identität mit sich stets erprobt, dass sie in allen Vollzügen in eine lebendige Relationalität eingebettet ist, welche nicht erst durch ethische oder spirituelle Normen bzw. Ziele hergestellt wird. Lebensimmanenz ist unmittelbare »Lebensführung« ohne Kluft und Vermittlung in sich selbst, 22 so dass im Äußeren sich alles verändern und verwandeln kann, ohne diese innere Einheit aufgeben zu müssen – und nichts anderes sagt die Selbst-Narrativität als ständiges Sprechen des Lebens als Identität in uns. Mit anderen Worten wirkt in jeder Weltkonstitution eine ältere Zeugung durch die Immanenz des Lebens, welche allem, was sich ereignet, über die Affektivität und transzendentale Sinnlichkeit eine eigene Konsistenz verleiht. Daher muss die innere Narrativität zugleich immer Intensität des Pathos sein, denn es ist nicht möglich, dass sich irgendein Handeln oder Erleiden nicht als affektive Aktualisierung vollzöge. Die Analyse der Affekte wird auf diesem Hintergrund zur Aufklärung der innermodalen Verwandlungen der Immanenz, welche sich als Affektivität verleiblicht, um dergestalt die Weisen des Exzesses des Passiven und Aktiven in der individuierten Einheit unseres lebenZum Konzept der »Lebensführung« vgl. Rendtorff, Trutz, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Tübingen, 3. durchges. Aufl. 2011, der daraus die Basis seines ethischen Entwurfs macht. Dazu auch Charoy, Francine, »Lebensführung und Lebensethos – zur Frage ethischer Vermittlung bei Trutz Rendtorff und Michel Henry«, in: Enders, Markus (Hg.), Immanenz und Einheit. Festschrift für Rolf Kühn zum 70. Geburtstag, Leiden/Boston 2015, 127–149.
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digen Wesens zu leben und zu verstehen, wobei das Imaginäre der Einbildungskraft hier notwendigerweise hinzutritt, insofern das Verstehen nicht alles einholen kann, was das Leiblich-Affektive empfindet. Dieses Imaginäre ist daher nicht nur eine Virtualität des WeiterErfahren-Könnens über das Erreichte hinaus, sondern die Immanenz als Kreativität, um für die Gegenwärtigkeit eines unsichtbar Unendlichen als »Abwesendes« (Leere, Nichts) im Kontext der iterativen Verwirklichung der Immanenz zu plädieren. 23 Die Befürchtung der Moderne, »Gott« interveniere hierbei vor allem als moralische Begrenzung des virtuell affektiv Möglichen seitens einer immanenten Vorgängigkeit, die nur durch ihre innere Gesetzmäßigkeit von Sicherfreuen und Sicherleiden strukturiert ist, verliert dann ihre Berechtigung, wenn gesehen wird, dass jeder idealistische, spirituelle oder moralische Dogmatismus durch die prinzipielle Identität von immanenter Affektion oder pathischer Bewegung mit der Selbstoffenbarung des absoluten Lebens selbst aufgehoben ist. Denn es spricht jeweils nur die reine Intensität individuierten Lebens als Exzess, der auch über das eigene Wollen hinausreicht und insofern nicht von diesem her eingeschränkt werden darf. 24 Wo immer sich das moderne Denken selbst als Maßstab etabliert, und sei es in seinem Erfahrenwollen des Exzesses selbst als letztem Maßstab, darf es nicht verkennen, dass es sich damit bereits wieder von einer Regel abhängig gemacht hat, die nahe der Empirizität des Erfahrens als letztem Kriterium liegt. Die unmittelbar ethische Struktur der Erfahrung der Leiblichkeit kann nur dann für ein wahres Ethos in Anspruch genommen werden, wenn sie nicht nur ein Aufbegehren gegen die »Mikro-Physik« eines gewissen Funktionalismus der Macht ist, um nur ein Beispiel wie bei Michel Foucault 25 zu erwähnen, sondern sich in jeder Hinsicht dem Leben zur Disposition stellt, ihm »sein Fleisch leiht« – ohne weitere Bedingung im Sinne Henrys: »Wahr ist folglich in erster Linie nicht, wovor man sich auszulöschen hat, um es so sein zu lassen, wie es an sich ist, sondern dem man Beistand zu leisten hat: sein eigenes Fleisch hinzugeben hat. Denn jede wesenhafte Wahrheit wird nur als dieses Fleisch des Indi-
Vgl. auch Gély, Raphaël, Imaginaire, perception, incarnation. Exercise phénoménologique à partir de Merleau-Ponty, Henry et Sartre, Brüssel 2012. 24 Vgl. Kühn, Lebensreligion, Kap. I,1. 25 Foucault, Michel, »La vérité et les formes juridiques«, in: Ders., Dire et Écrits, III, Paris 1994. 23
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viduums und als dessen eigenes Leben ankünftig.« 26 Dies wäre lebensphänomenologisch die Basis für jede gelebte Spiritualität, falls man diesen Begriff beibehalten will. Die Umkehrung der klassischen Metaphysik beruht daher vor allem darauf, dass die pathische Intensität im Sinne originärer Passibilität als die Selbstoffenbarung des Absoluten schlechthin verstanden wird. Die übliche Vorstellung vom Individuum, welches an die Ereignisse und Geschicke in der Welt gebunden zu sein scheint, wird aufgehoben, um dem Erscheinen der rein immanenten Affektivität den Vorzug zu geben, das heißt einer ursprünglichen Phänomenalisierung, ohne Selbst- und Weltverhältnisse zu ignorieren, denn es wird ihnen im Gegenteil durch alle noematischen Gefühle, Vorstellungen und Erkenntnisse hindurch das eidetische Grundwissen der letzten praktischen Fundierung zurückgegeben – nämlich die substantielle (innere) Gegenseitigkeit von Leben und Leib als stets konkrete Transzendentalität in der je sich vollziehenden Umkehrung von Sicherleiden und Sicherfreuen. Deren historiale Gleichzeitigkeit in allem Erleiden und Tun bewirkt einen unmittelbaren Übergang zwischen all unseren Affekten, das heißt ein grundsätzliches Geltenlassen aller immanenten Triebäußerungen als einer Originarität des Begehrens, welches im Sinne ständiger inner-affektiver Narrativität als der Vollzug und die Erfüllung unserer transzendentalen Bestimmung verstanden werden kann, nämlich als je ununterbrochene Beziehung zwischen unserem Fleisch und unserem Leben als dem Selben. Der Affekt ist dann keine anonyme Entität mehr, die nur in einem sekundären Sinne zur Bildung unseres lebendigen Körpers beitrüge, sondern als Immanenz bildet der Affekt eine grundlegende und lebensoffenbarende ontologische Praxis innerhalb der Intensität der Subjektivität, welche zugleich mit der phänomenologischen Wirklichkeit identisch ist. Man kann den Affekt deshalb auch nicht »apersonal« nennen, weil er eine unaufteilbare Qualität unseres stets individuierten Lebens ist, denn sofern er nicht anonym ist, ist er auch nicht in Abhängigkeit vom empirischen Individuum segmentiert, sondern das transzendentale Individuum selbst in allen affektiven wie perzeptiven Vollzugsweisen. Für seine Selbstoffenbarung nicht auf die Welthaftigkeit angewiesen, ist der Affekt vielmehr die Einheit
Henry, Michel, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/ München 1994, 217.
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oder Identität des Pathos des Erscheinens in dessen lebendiger Erzeugung selbst. Indem der Leib aufhört, nur eine raum-zeitliche Verlagerung zu sein, da »Sich-Bewegen-Können« und wirkliches Bewegen im radikal phänomenologischen Sinne zusammenfallen, bedeutet diese Erneuerung der klassischen Metaphysik des Leibes auch zugleich eine Neubestimmung der Affektivität. Denn wenn unser Leib zugleich Handeln und Erleiden ist, dann muss auch die Einheit von immanenter Affektivität und praktischem Weltbezug einschließlich Wahrnehmung als eine solche Intensität verstanden werden, durch die sich die innere Kraft des Lebens nicht nur mit dem Vermögen zu handeln identifiziert, sondern zugleich sich selbst erprobt, um so eine erste selbstnarrative »Teleologie« zu bilden, welche an die vis activa bei Leibniz und den »Willen zur Macht« bei Nietzsche zurückdenken lässt. Solche philosophiegeschichtlichen Rückblicke umschließen jedoch zugleich eine notwendige Klarsicht für die Erneuerungen seitens einer radikalen Gegen-Reduktion, um nochmals zu unterstreichen, dass die Unabhängigkeit von jeder Außenheit nicht spekulativ gesetzt oder psychologisch bzw. spirituell eingefordert wird, sondern die erste Phänomenalisierung eines jeden Lebendigen die absolute Selbstgründung im stets mit sich selbst identischen Leben als gegebene Immanenz impliziert. Mit anderen Worten wird das Verhältnis von immanenter Affektivität und reiner Selbstgegebenheit eines motorischen Ego der Bewegung oder des permanenten Könnens unhintergehbar, was wiederum bedeutet, dass es zunächst keiner ethisch-normativen Beurteilung unterliegt, sondern grundsätzlich die ontologische Positivität oder Würde eines jeden Individuums begründet, insofern die umfassende Ermöglichung zu handeln im transzendentalen Sinne die phänomenologische Gewissheit der pathischen Konsistenz des Selbsterlebens impliziert, sich in strenger Übereinstimmung mit dem immanenten Leben auch in der Welt perzeptiv wie aktiv und spirituell erproben zu können. Entgegen der Philosophie des Rationalismus, der Aufklärung und der Moderne kann hierbei nicht die formale Freiheit jenen Boden des Handelns abgeben, der von einer nicht phänomenologisch erhellten Moral vorausgesetzt wird, denn wenn jeder Affekt und jedes Gefühl wie auch Eindruck sich selbst gegenüber in der ursprünglichen Ohnmacht gegeben wird, nicht anders sein zu können, als sie in ihrem Hervorgebrachtsein sind, dann bedeutet die Affektivität in diesem fundierenden Sinne eine radikale Nicht-Frei78 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Leiblichkeit und Intensität als radikal phänomenologische Identitätsbestimmung
heit. Passibilität als inner-affektive Narrativität bezeichnet dieses unauflösbare Band zwischen Sich-Erleiden und Handeln in der Immanenz des Lebens, worin die Leiblichkeit als Intensität ohne Ausnahme die Möglichkeit wie Notwendigkeit ihres Erscheinens schöpft. Das natürliche Bewusstsein oder die Alltagswahrnehmung begreift dieses Verhältnis des lebendigen Leibes zu seinem rein phänomenologischen Grund als eine Passivität »in der dritten Person«, das heißt als Nicht-Koinzidenz mit der Lebensimmanenz, während eine Erneuerung allen Leib- und Weltdenkens auf die Homogenität von Passibilität und Aktivität hinzielen muss, insofern auch jedes Handeln nur eine Modalität des passiblen Lebens mit seinem uranfänglich gegebenen Vermögen darstellt. Für die Lebensphänomenologie in der Nachfolge Henrys 27 ist die angemessene Theorie des Leibes folglich unabdingbar »in der ersten Person« zu schreiben, 28 und zwar für alle Leibvollzüge, sofern sie sich aus ein und demselben wesenhaften Können des subjektiven Lebens als identischem Grund für die Intensität leiblicher Existenz ergeben. Ohne notwendige Hegelsche Dialektik von Ausdehnung und materiellen Bewegungen 29 bewirkt mithin der lebendige Leib im ausgeführten Sinne die Wirklichkeit in ihrem Erscheinen als Außenheit selbst, woraus wir auf das unauflösbare Ineinander von Welt- und Lebensnarrativität als Einheit schlossen. Es ist also beides für die heutige Erneuerung des Denkens festzuhalten, dass einerseits der Zusammenhang von Pathos (Sich-Erleiden) und Handeln (Intentionalität) nicht der Welt bedarf, um zu sein, und andererseits diese innere Entfaltung affektiver Kräfte in ihrem Selbstverstehen jene Orte der Berührung als Distanz und Nähe bildet, in denen die Welt selber zum Ereignis des rein immanenten Lebens wird. Aufgrund dieses Zusammenhangs widerspricht die immanente Intensität der Affektivität der Freiheit nicht, denn das innere Ethos des leiblichen Zur-Welt-Seins impliziert dann die notwendige Freiheit, die mit dem je disponiblen Können der iterativen Leibvollzüge gewährt ist, 30 um auch als mögliche »Spiritualität« in allen Ereignissen gelebt zu werden, falls ein solcher Weg als subjektive »LebensVgl. Henry, Inkarnation, 216 ff. Vgl. Depraz, Natalie, (Hg.), Première, deuxième, troisième personne, Bukarest 2014, hier besonders 118 ff. 29 Vgl. Cahiers critiques de philosophie 14 (2015): Hegel en France depuis 1945, darin S. 107–124 über die Hegellektüre Henrys. 30 Vgl. auch Seyler, Frédéric, Eine Ethik der Affektivität: Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg/München 2010. 27 28
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führung« bzw. besondere »Lebensform« religiös wie kulturell beschritten sein will. Die schon lange in der abendländischen Denkgeschichte gegebene Trennung von ratio und passio, wie etwa in der Stoa, ließ das Empfinden zu einer Art bloßem Empfänger für jegliche Art von Information ohne Unterscheidung werden, während für eine radikale Leibphänomenologie das ontologisch identische Band zwischen Pathos und Handeln die Unzertrennbarkeit von Affektivität und cogitatio wahrt, um sowohl einen dogmatischen Dualismus wie eine schizoide Trennung der lebendigen Existenz abzuwehren. Außerdem drängt sich mit der klassischen Unterordnung der Passivität unter das Handeln der Eindruck auf, die Wirklichkeit wäre nur dann in Wahrheit gegeben, wenn sie sich von der sie hervorbringenden Bewegung abgelöst hat, was allem Denken von »Objektivierung« zugrunde liegt, wie es sich besonders systematisch bei Hegel beobachten lässt. Damit wäre aber auch das Individuum von seinem Leib getrennt, indem dieser sich von jenen inner-aktiven Bewegungen trennen würde, welche seine identische Ur-Leiblichkeit bilden. Im Gegensatz hierzu bleibt deutlich zu unterstreichen, dass die ursprüngliche phänomenologische Gewissheit eine immanente wie intensive oder pathische Praxis ist, deren Weltbezüge zu dieser Praxis als solcher gehören und nicht davon isoliert werden können. Die Nicht-Begrifflichkeit dieser Vollzüge ließe sich daher auch eine vor-ontologische Praxis nennen, sofern damit abschließend gesagt sein soll, dass das mit sich identische Begehren in seinem lebendigen Sich-Selbst-Begehren stets ursprünglicher und fundamentaler als die Vernunft ist und in sich selbst ein »Lebenswissen« auch als Axiologie bereits birgt, auf die selbst die Wissenschaften noch bei all ihren Reduktionismen aufbauen. In diesem Sinne kann der vorliegende Beitrag eines lebensphänomenologisch erneuerten Denkens zugleich eine Perspektive ebenfalls für eine kulturelle bzw. spirituelle Neubestimmung der Zukunft darstellen, 31 in der Vielfalt und gegenseitige Anerkennung der Individuen dank eines radikal phänomenologischen Leibverständnisses als jeweiliger Intensität wie Identität zusammenfielen.
Vgl. für weitere diesbezügliche Analysen Kühn, Rolf, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München 2008, bes. Ausblick 415–454: Zukunft als subjektiv-gemeinschaftliche Potentialisierung.
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Das Herzensgebet und den liturgischen Chorgesang leiblich erleben Am Kreuzungspunkt experientieller Phänomenologie und praktischer Theologie Natalie Depraz Zur Einführung Zuerst möchte ich mich bei Ihnen für Ihre Einladung zu dieser Tagung anlässlich der Herausgabe des Buches Spiritualität der Wahrnehmung von Clara Vasseur und Johannes Bündgens herzlich bedanken. Ein Grund, warum ich der Einladung nach Aachen folgte, betrifft die Herausforderung des Buches Spiritualität der Wahrnehmung selbst und seine tiefe Resonanz mit meinem eigenen Interesse im Spannungsfeld einer experientiellen Phänomenologie und praktischen Theologie. Mich interessiert insbesondere die Art und Weise, wie Gebet, Meditation und Liturgie im Allgemeinen keineswegs exklusiv geistige Zustände oder technische Ausstattungen/Fähigkeiten/ Fertigkeiten/Begabungen sind, sondern sich als konkrete innerliche Aktivitäten leiblich darstellen und ausdrücken, und wie sie infolgedessen Anlass zu sorgfältigen phänomenologisch inspirierten Deskriptionen entsprechender Erlebnisse geben.
Zum Thema Heute möchte ich Ihnen also eine leiblich-praktisch orientierte Deskription einiger geistiger/geistlicher Gesten und geistiger/geistlicher Akte anbieten. Das Wort ›Geste‹ übernehme ich hauptsächlich aus Marcel Jousses Anthropologie und aus Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung. Meiner Ansicht nach setzt sich die Geste aus vier Hauptzügen zusammen, die ich im ersten Teil meines 2014 erschienenen Buches Attention et vigilance, betitelt »Gestes de l’attention : la vigilance en ébauche«, schon erwähnt habe: Als eine wesentliche Dimension des handelnden Leibes ist die Geste weder ein psychischer Zustand noch ein innerer Akt. Sie zeigt eine räum81 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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liche und zeit-dauernde bewegliche Orientierung des Leibes, die nicht notwendig zielorientiert ist. Überdies trägt die Geste eine vorsprachliche Ausdrücklichkeit und eine pragmatisch-relational-intersubjektive Komponente mit sich. 1 Aus Zeitgründen und angesichts meines eigenen begrenzten experientiellen Zugangs werde ich mich zunächst auf zwei dieser strukturell bezeichneten Gesten beschränken: auf das Gebet in der spezifischen, sogenannten ›östlichen‹ Form des Herzensoder Jesusgebets einerseits, 2 auf den liturgischen Chorgesang im Rahmen meiner Praxis der altgallikanischen Liturgie nach dem heiligen Bischof Germanus von Paris andererseits, 3 an dem ich seit einigen Jahren regelmäßig teilnehme. Ebenfalls aus Zeitgründen und angesichts meiner noch beschränkten Erfahrung in diesem Bereich religiöser Praxis werde ich deshalb nur wenige Aspekte dieser geistigreligiösen Praktiken beschreiben können.
Zur Methode Um diese Beschreibung religiöser Praktiken durchzuführen, werde ich mich auf zwei sich gegenseitig ergänzende deskriptive Ebenen stützen. Die erste entspricht der Husserl’schen sogenannten ›reinen‹ Deskription der kinästhetischen und affektiven leiblichen Bewegungen und attentionalen Wandlungen des Subjekts, bzw. hier des herzbetenden und liturgisch singenden Subjekts. Obwohl Husserl solche einzelnen Erlebnisse beim Beten und beim liturgischen Gesang nicht Depraz, Natalie, Attention et vigilance. A la croisée de la phénoménologie et des sciences cognitives, Paris 2014, 101: »Le terme ›geste‹ nomme cette dimension du corps agissant: ni état, ni acte, orienté mais non-finalisé, situé à la croisée de l’expérience corporelle et du langage expressif.« 2 Touraille, Jacques, Philocalie des Pères neptiques, 11 Bände, 1979, 2 Bände von Desclée de Brouwer und J. C. Lattès, 1995, Éditions de Bellefontaine, Bégrolles en Mauges 2004; The Philokalia: the complete text compiled by St Nikodimos of the holy mountain and St Makarios of Corinth, translated from the Greek and edited by G. E. H. Palmer, Philip Sherrard and Kallistos Ware, vol. 1, London 1979; Depraz, Natalie, Le corps glorieux. Phénoménologie pratique de la Philocalie des Pères du désert et des Pères de l’Eglise, Louvain 2008. 3 Gamber, Klaus, Ordo antiquus Gallicanus. Der gallikanische Meßritus des 6. Jahrhunderts (= Textus patristici et liturgici, Fasc. 3,), Regensburg 1965, 63; Ders., Der altgallikanische Meßritus als Abbild himmlischer Liturgie (= Studia Patristica et liturgica 14, liturgisches Institut Regensburg), Regensburg 1984, stützt sich auf den vorgenannten Text. 1
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Das Herzensgebet und den liturgischen Chorgesang leiblich erleben
selbst beschrieben hat, hat er doch höchst raffinierte Deskriptionen des sich selbst bewegenden und sich zuwendenden Leibsubjektes angeboten, die sich – dies hoffe ich zumindest – für die Beschreibung der beim Beten und Singen erlebten Gesten in diesem liturgischen Zusammenhang als fruchtbar erweisen. Die andere korrelative deskriptive Ebene, die ich nutzen werde, bezieht sich auf eine psychologisch-introspektive Methode, welche einen Zugang zu einem einzelnen Ich-Erlebnis verschafft. Diese Methode, »entretien d’explicitation« genannt, wurde von dem französischen Psychologen Pierre Vermersch in den neunziger Jahren begründet. Meiner Ansicht nach stellt sie – soweit mir bekannt – das feinste und strengste Werkzeug zur Selbstbeobachtung und minutiösen Deskription dar. Als mikro-phänomenologische, empirisch orientierte Beschreibung ergänzt sie sehr nützlich und vorteilhaft die Husserl’sche rein phänomenologische Deskription, die sich mit der Ausweisung transzendental-invarianter Strukturen und Dynamiken der entsprechenden Erlebnisse beschäftigt. Dank dieses mikro-phänomenologischen Zugangs in der Ich-Form zu meiner einzeln-subjektiven Erfahrung gelingt es mir, hic et nunc situierte Erlebnisse zu sammeln, die ich dann intersubjektiv oder intrasubjektiv an verschiedenen anderen Momenten meiner Erfahrung objektiv prüfen und bestätigen kann, bis ich letztendlich die leiblich-subjektive Invariante dieser Erfahrung herauszuholen vermag.
Zu Husserl Bevor ich mit der Deskription einiger Aspekte der Erlebnisse beim Herzensgebet und beim Chorgesang beginne, werde ich drei Sätze aus Husserls noch nicht veröffentlichten Manuskripten Studien zur Struktur des Bewusstseins zitieren, welche von Ulrich Melle, dem gegenwärtigen Leiter des Husserl-Archivs in Löwen und verantwortlich für die Herausgabe dieser Manuskripte, als die »Psychologie« Husserls bezeichnet werden. Vereinfacht gesagt findet man in diesen frühen Texten (1896–1912) höchst raffinierte Deskriptionen vielfältiger affektiver Erlebnisse des Subjekts: der Freude, der Trauer, aber auch des Wunsches, der Begierde oder aber des Trübsinns, der Verzweiflung, bzw. der Begeisterung. Ganz einzigartig werden diese affektiven Erlebnisse in Verflechtung mit ihren kinästhetisch-leiblichen und ihren attentional-zuwendenden Komponenten beschrie83 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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ben, und dies am Leitfaden einer Gemütsintentionalität orientiert, die nicht als Objekt-Intentionalität fungiert. Ich fand, dass die folgenden kurzen Zitate aus diesen Manuskripten gut zu meinem Thema passen würden, weil sie sowohl eine heiter-offene als auch eine gewaltig-affektive leiblich-geistige Stimmung hervorrufen. Erstes Zitat: »Aber erhellt die Freude nicht, lässt sie das Erfreuliche nicht als solches, nämlich in rosigem Licht erscheinen? Und verdunkelt die Trauer nicht, erscheint das Traurige nicht [132b] als solches, nämlich in dunklem, trübem Licht? Trägt der Heilige nicht seinen Heiligenschein, die Geliebte ihre Aureole etc.? Also, da hilft nichts, wir müssen sagen, auch die Freude hat ihre ›Intentionalität‹.«
Zweites Zitat: »hHierheri gehört auch der große Strom der sinnlichen Gefühle, der Gemeingefühle, wobei auch zu sagen ist, dass von jeder lebhaften Freude Ströme sinnlicher Gefühle ausgehen und die Freudenerregung erweitern und verbreitern, ja dass, wie es scheint, jede Erregung von Freude ihre sinnlichen Komponenten hat, einen breiten Gehalt sinnlicher Lust, der aber durch die Erregungsbeziehung zu dem eventuell sehr geistigen Ursprung, durch den Ursprung aus ästhetischen, wissenschaftlichen, religiösen Sphären, eine geistige Seite hat und eventuell eine Hinwendung zum Geistigen.«
Drittes Zitat: »[A VI 12 II/131 ›53‹] die Unterschiede hzwischeni der ›still beseligten‹, der ›stürmischen‹, leidenschaftlichen Freude, der Freudenüberwältigung und -überraschung – das Herz steht still und eine große Woge der Seligkeit strömt in das weit geöffnete Herz hinein, dann Aufregung oder Freudenschmerz, hdasi Herz droht zu zerspringen vor Freude – hundi der ausgeglichenen sonstigen Liebe ohne Leidenschaft usw. hliegeni [p. 113].«
Statt jetzt diese Zitate zu kommentieren, schlage ich vor, Sie lassen diese Sätze in sich nachklingen. Ich vermute, dass Sie dann im Laufe der folgenden Analysen hierzu eine Resonanz bemerken werden.
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Das Herzensgebet und den liturgischen Chorgesang leiblich erleben
Zum Herzensgebet: einige Merkmale Seit ungefähr zwölf Jahren ist das Herzensgebet in unserer Familie ein alltäglicher Ritus. Als unsere Kinder noch klein waren, wurde dieses Gebet nach dem Abendessen vor der Ikonostase am Ende der Komplet laut gesprochen: Jedes Familienmitglied sprach also fünfmal »Seigneur Jésus-Christ, prends pitié de moi, pêcheur!« In den letzten Jahren wurde es schwieriger, diese Familienpraxis fortzuführen, da die Kinder mittlerweile nicht mehr Kinder, sondern Teenager sind. Dieses alltägliche Moment ist mir dennoch sehr präsent. Ich kann umso leichter darüber berichten, da ich es selbst für mich in der Ich-Form ausgesprochen habe. Zuerst muss gesagt werden, dass dieses Erlebnis, obwohl es manchmal gemeinschaftlich erlebt wurde (hier in der Familie, oft in Klöstern), eine wesentlich innig individuelle Erfahrung bleibt. Was erlebt wird, wird als Individuum erlebt und privat erlebt. Im Gebetsbuch der Philokalia findet man mannigfaltige Zeugnisse griechischer Mönche, die es lange praktiziert haben, und der Reichtum ihrer Beschreibungen wird uns helfen, meiner in vielem ärmeren Erfahrung weitere Aspekte hinzuzufügen. Doch werde ich hier mit meiner noch anfänglichen Erfahrung und ihrer Schilderung in der Ich-Form beginnen, um sie offensichtlich erstens dank Husserls analytischen Kategorien zu erhellen. In einem zweiten Moment werde ich auf die Zeugnisse der Hesychasten (Mönche, die das Jesusgebet in der Stille im Rhythmus von Atmung und Herzschlag rezitiert haben) zurückgreifen. Mit meiner persönlichen Erfahrung zu beginnen heißt, einerseits mein sonst begrifflich-philosophisches Referat subjektiv einzufärben, andererseits mich mit der Armut meines Ausdrucks auseinanderzusetzen, also mit der äußerst großen Schwierigkeit, von sich selbst und aus sich selbst persönlich in der Ich-Form Zeugnis abzulegen, anstatt bequem im Allgemeinen, vom Standpunkt des Nirgendwo zu reden. Wenn ich die Worte des Herzensgebets spreche, sitze ich still, unbeweglich auf dem Boden. Ich schaue auf die Ikonen, ohne sie genauer anzusehen. Ich spreche die Worte gleichmäßig, weder schnell noch langsam. Ich lasse die Worte herausfließen, ich hebe sie nicht besonders hervor, ich spreche weiter, ich höre nicht zwischen den fünf Wiederholungen auf, als ob ich in einem kontinuierlichen Fluss stünde. Ich werde allmählich auf meinen Atem aufmerksam. Ich stelle fest, dass ich die Worte nicht in einem Atemzug aussprechen kann. 85 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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Ich muss zwischen den Sätzen atmen. Zuerst richte ich meine Aufmerksamkeit auf die ersten Worte: »Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner, ich armer Sünder«. »Seigneur Jésus-Christ«, »prends pitié de moi«, »pauvre pécheur«, dann auf die drei Phasen und auf den dreigliedrigen atmenden Rhythmus, der sich allmählich einstellt. Indem ich mich auf die Worte konzentriere, empfinde ich zuerst eine Störung. Es ist schwierig, nach innen gerichtet zu bleiben, das heißt mich nicht von den Kindern zerstreuen zu lassen: Sie bewegen sich, sie schauen irgendwohin, sie lächeln. Dann lasse ich mich allmählich auf den regelmäßigen Rhythmus ein und fange an, meines eigenen Rhythmus gewahr zu werden. Was diese sehr kurze Deskription meines Erlebnisses eines sehr flüchtigen betenden Moments zeigt, ist (neben der leiblich-kinästhetischen Einstellung und der negativen Emotion der Störung) die Bedeutung der attentionalen Wandlungen: Zuwendung zu den Worten, zum Rhythmus, zum Atem, Abwendung von den Kindern, Rückwendung zum inneren Rhythmus. Interessanterweise beschreibt Husserl diese unaufhörlichen Variationen unserer Aufmerksamkeit als ihren eigenen Rhythmus. Anders gesagt: Nur abstrakt sind Konzentration und Zerstreuung entgegengesetzt, in Wirklichkeit gehören sie zu derselben Modulation als Dynamik der Aufmerksamkeit selbst. Ich zitiere zum Beispiel aus dem berühmten § 92 [190–191] der Ideen I (1913): »Die Änderung bestehe, so sagen wir, parallele noematische Bestände heraushebend und vergleichend, bloß darin, dass im Vergleichsfalle dieses, im anderen jenes gegenständliche Moment ›bevorzugt‹ sei, oder dass ein und dasselbe einmal ›primär aufgemerktes‹, das andere Mal nur sekundär, oder nur ›noch eben mitbemerktes‹ sei, wo nicht gar ›völlig unbemerktes‹, obschon immer noch erscheinendes. Es gibt eben verschiedene speziell zur Aufmerksamkeit als solcher gehörige Modi.« In diesem Abschnitt werden die mannigfaltig erlebten Modi der Aufmerksamkeit prägnant und systematisch unterschieden. In anderen Textteilen beschreibt auch Husserl korrelativ die Variationen der subjektiven Wendungen der Aufmerksamkeit. Bemerkenswert ist es, wenn wir in der Philokalia Anmerkungen lesen, wo ähnliche innere Bewegungen der Aufmerksamkeit betont werden. Hesychius de Batos zum Beispiel beschreibt genauer die Art und Weise, wie »o nous« (der Geist) zuerst von feindlichen Gedanken
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Das Herzensgebet und den liturgischen Chorgesang leiblich erleben
heimgesucht wird, dann in sich selbst zurückkehrt und letztendlich den inneren Raum des Herzens in sich entdeckt. Natürlich sind diese drei deskriptiven Ebenen in der Ich-Form (einzeln subjektiv), in der dritten Person (analytisch-strukturell) und in der zweiten Person (als Zeugnis anderer Personen, hier Mönche) sehr heterogen. Doch es ist meine Hoffnung, dass sie sich gegenseitig ergänzen und bereichern. Ich habe mich hier auf die attentionalen Wandlungen beschränkt, vor allem weil sie aus meiner eigenen Erfahrung leicht und direkt zugänglich sind. Es wäre schwieriger geworden, mich mit den emotional-geistigen Wandlungen im Herzensgebet zu beschäftigen, weil meine eigene Erfahrung solcher Dimensionen weder einfach noch klar für mich ist. Obwohl sie oft in der Philokalia als Öffnung des Herzens oder als Abstieg des Geistes in das Herz beschrieben werden und obwohl Husserl etwas Ähnliches im dritten Zitat erwähnt, in dem er schreibt: »eine große Woge der Seligkeit strömt in das weit geöffnete Herz hinein, dann [gibt es eine] Aufregung oder Freudenschmerz, [und] hdasi Herz droht zu zerspringen vor Freude«, erscheinen sie mir als inspirierende Bilder, nicht als verleiblichte Ausdrücke, die ich in der Ich-Form selbst verkörpern kann, weil ich selbst nämlich keine solche Erfahrung habe.
Zum Chorgesang: einige einführende Merkmale Jetzt möchte ich meinen Vortrag mit einigen kurzen Anmerkungen über das Erlebnis des Chorgesangs schließen. Charakteristisch für das liturgische Chorsingen ist die mehrschichtige Aufmerksamkeit des Sängers, indem er oder sie leiblichkinästhetisch in Richtung des Chormeisters, der anderen Sänger, des Priesters, des Diakons am Altar und des Volkes in der Kirche orientiert ist. Diese simultane Vielorientierung ruht auf seiner oder ihrer Stimme als hauptsinnlichem Kanal der Zirkulation der göttlichen Worte. Die gesamte Zirkulation im kirchlichen Raum zwischen dem Altar, dem Chor und dem Volk durch das zusammenhängende und interaktive Antworten der Gesänge und die Aufmerksamkeit innerhalb des Chors als eine interaktive zirkuläre Gestimmtheit, die sowohl auf dem Hören auf die Anderen als auch auf Selbstsingen ruht, spiegeln 87 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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sich gegenseitig. Sie tragen beide zur Ausstrahlung des liturgischen Geschehens als Gleichnis der himmlischen Liturgie bei. Es fehlt mir die Zeit, um diese Deskription in der Ich-Form im Abgleich mit Husserls Analysen der vielschichtigen und intersubjektiven Aufmerksamkeit in den Analysen zur passiven Synthesis und in den Texten zur Intersubjektivität durchzuführen. Ebenso fehlt mir die Zeit, hier diese Beschreibungen im Verhältnis zu dem Bericht über das Geschehen bei der liturgischen Feier der heiligen Messe vorzustellen, das man exemplarisch in der Expositio Missae des Ordo antiquus gallicanus von Germanus von Paris in seinem ersten Brief findet, besonders in der Art und Weise, wie das Halleluja im ganzen liturgischen Geschehen durchläuft, nicht nur punktuell vor dem Evangelium, sondern von allen drei liturgischen Komponenten (den Priestern/Diakonen, dem Chor und dem Volk) nacheinander und gegenseitig angestimmt wird.
Zum Schluss Hoffentlich ist es mir durch diesen Vortrag gelungen, Ihnen einige Dimensionen meiner leiblichen Erlebnisse des Herzensgebets und des Chorgesangs mitzuteilen. Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass diese Deskriptionen sehr arm und vorläufig erscheinen und dass sie es vor allem nötig haben, besser miteinander verflochten zu werden. Wie dem auch sei, danke ich Ihnen sehr dafür, mir diese herrliche Gelegenheit angeboten zu haben, diesen ersten – vielleicht kühnen – Schritt getan zu haben.
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»Das Leben ist eine Kette von Wundern« 1 Der »spiritus« der Wahrnehmung und die Kultur der Diagonale Antje Kapust
Es wäre zweifellos möglich, Sätze wie »Steh auf […] und geh« (Joh 5,8) nach allen Regeln der Kunst einer Analyse zu unterziehen und der Frage nachzugehen, welche Formen von Prädikation hier vorliegen: gemäß der Semiotik (jemand äußert einen Satz in einem verobjektivierten linguistischen System), gemäß der Anthropologie (jemand fordert in Sprache einen Adressaten zu einem anthropologisch verbürgten Tun auf), gemäß der Hermeneutik (jemand spricht im Zusammenhang bestimmter Kontexte und Ebenen) und so weiter. Es ist aber ebenso möglich, diesen Satz im Sinne eines Ereignisses aufzufassen, das ein unerklärbares »Mehr« zum Ausdruck bringt, zum Beispiel das Wunder einer Genesung. In diesem Sinne interessiert weniger die Verifikation einer Prädikation, sondern ein Sinn, den man lautlichen Elementen entnimmt, und zwar auch ganz persönlich für sich. Diese Auffassungsform könnte als eine »spirituelle Wahrnehmung« betrachtet werden, die sich auf einen transzendenten Horizont offen hält und auch gegenüber dem Anruf einer Ansprache nicht verschlossen ist. Zu einer »spirituellen Identität« gehören unzweifelhaft Erfahrungen wie Wunder, Gnade, Erweckung oder auch Berufung. Dabei ist ebenso unstrittig, dass die in der gegenwärtigen Philosophie zu beobachtenden Unterscheidungen von »säkularen« und »metaphysischen« Theorien von Personalität zunächst einmal irrelevant sind. Auch Personen, die sich ihrem Selbstverständnis nach einer »säkularen Identität« zuordnen würden, können Ereignisse ihres Lebens im Sinne einer »spirituellen Erfahrung« beschreiben. Dieser Sachverhalt lässt sich exemplarisch an Organtransplantatio-
1 Radisch, Iris, Die letzten Dinge. Lebensendgespräche, Reinbek 32015, hier im Interview mit dem russischen Schriftsteller Andrej Bitow: »Jedes Leben kann erzählt werden als eine Kette von Wundern«, 61 ff.; Wenisch, Bernhard, Geschichten oder Geschichte? Theologie des Wunders, Salzburg 1981; Latourelle, Réné, Miracles de Jésus et théologie du miracle, Paris 1986.
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nen beobachten. Der Erfolg einer solch schwerwiegenden medizinischen Intervention könnte einerseits ganz herkömmlich im Sinne eines mechanisch-kausalen Weltbildes (nach Hume, Hobbes u. a.) als eine bloße »Reparatur« mit Hilfe eines Mittels beschrieben werden. Notwendig für den Erfolg einer solchen Operation wäre nur das passende »Plastikteil« als Ersatzorgan gewesen. Dasselbe Ereignis ließe sich aber ebenso berechtigt auch als »Geschenk einer Neugeburt« beschreiben, für deren wunderbare Gabe man tiefe Dankbarkeit empfindet. 2 Die Neugeburt, die man sich nicht selbst geben und konstruieren kann, gleicht auf diese Weise einem Wunder, das man empfängt. Ein Wunder, das neues Leben gibt, neue Sichtweisen eröffnet, am Ende einer Kette gar zu einem anderen Selbst führen kann. So wie das Aufstehen und Gehen aber zum Spektrum leiblicher Vollzüge gehört, ist auch das »sogenannte spirituelle Wahrnehmen« ein leibliches Vermögen und ein leiblicher Einsatz. Doch was heißt dies? Wie kann eine solche Form der Wahrnehmung erklärt werden? Wohin führt sie? Um dieser Frage nachzugehen, erfolgt die Untersuchung am Leitfaden von zehn Denkmotiven.
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Emmanuel Levinas: Spiritualität als Transzendenz aus der Höhe
Das Anliegen, äußerste Transzendenz und irdische Realität (ohne Totalisierung) zusammenzubringen, bekundet der französische Denker Emmanuel Levinas bereits seit dem Frühwerk, präsentiert aber eine prägnant durchgearbeitete Fassung dazu in seinem ersten großen Hauptwerk. Hier werden die beiden Dimensionen bereits im Titel angesprochen, »Totalität und Unendlichkeit«. Seine grundlegenden Fragestellungen sind dabei folgende: Welche Figuren des abendländischen Denkens konnten eine Totalität der Ontologie durchbrechen, weil ein unaufhebbarer Überschuss in ihnen angedeutet wurde? 3 Wie
Wiebel-Fanderl, Olivia, Herztransplantation als erzählte Erfahrung. Münster 2003. Lévinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg/München 1987. Hintergrund ist die Rückfrage in das Versagen von Vernunft und Philosophie in der Erfahrung der Shoa, siehe hierzu meine Analyse »Die Auslöschung hat bereits begonnen. Auschwitz und die Frage der Gerechtigkeit«, in: Hirsch, Alfred / Delhom, Pascal (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Levinas und das Denken des Politischen, Berlin 2005, 151–173.
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»Das Leben ist eine Kette von Wundern«
können diese Figuren auf eine »verkörperte Leiblichkeit« umgewendet und ethisch zum Tragen gebracht werden? Figuren des »Außerordentlichen« erblickt Levinas in vier unterschiedlichen Motiven, und zwar a) in der platonischen Idee des ›epekeina tes ousias‹, b) in der cartesianischen Idee des Unendlichen, c) in der Lehre der ›via eminentiae‹ des Pseudo-Dionysius, in welcher das Göttliche das Sein übertrifft, und d) in Augustinus’ Unterscheidung zwischen der ›veritas redarguens‹, die mich herausfordert und in Frage stellt, und der ontologischen ›veritas lucens‹. 4 Er bleibt jedoch nicht bei einer Analyse der formalen Figuren stehen. Ihren Sinn entfalten sie im Rahmen einer »Ethik als Erste Philosophie« vielmehr erst dann, wenn sie leiblich »materialisiert« werden, um das »Einstehen für den anderen« zu erbringen. Dazu erörtert Levinas, wie das »Überschüssige« dieser Figuren in den leiblichen »Formen« von Verletzlichkeit und Gebrechlichkeit des Leibes, Eminenz des Antlitzes, Bleibe, Arbeit, Mühsal usw. »inkarniert« wird. Relevant ist nun für unsere Fragestellung nach einer spirituellen Identität ein doppelter Sachverhalt. Erstens wird diese »Inkarnation« nicht nach dem Muster klassischer Verknüpfungsformen von Körper und Geist gedacht. Theorien der Kausalität, des Parallelismus und des Okkasionalismus hatten beide »Substanzen« zwar in unterschiedlicher Form in Beziehung gesetzt, aber an der Dualität beider festgehalten. Vielmehr ist, in Anlehnung an Jer 31,33, das Unendliche in das Endliche eingeprägt, sozusagen als Gesetz in das Herz eingraviert. Zweitens eröffnet sich von diesem Gedanken der »Einrollung beider Karten« von spiritus und corpus her auch eine abweichende Interpretationslinie, die sich sein Zeitgenosse Maurice Merleau-Ponty zunutze machen kann, um nachfolgend eine »andere« Ontologie des »Sichtbaren und des Unsichtbaren« auszuarbeiten. Die darin entwickelten Theoreme von »hyperbolischer Wahrnehmung«, des Fleisches, des Elementaren, der Tiefe usw. können auf diese Weise für Fragen einer spirituellen Identität sinnvoll ausgearbeitet werden. Aber greifen wir nicht zu weit vor und skizzieren zunächst, wie Levinas beide Sphären miteinander in einen »Dialog« bringt. Paradigmatisch wird dies einsichtig in der kartesischen Idee des Unendlichen. Die Pointe dieser Idee besteht darin, dass sie ein »Mehr« zu denken versucht, das der endliche Mensch nicht selbst Kearney, Richard, Dialogues with contemporary continental thinkers, Manchester 1984, 61.
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hervorbringen kann, sondern das er als »eminenten Überschuss« von Gott selbst empfängt. Descartes beschreibt mit der Idee des Unendlichen eine Situation, die eine logische und ontologische Ganzheit sprengt, denn das »ideatum« (das Gedachte) übertrifft die »idea« (das Denken): Das »ideatum« als das Transzendente ist unendlich weit entfernt, es bildet keine Ganzheit mit dem Endlichen und widersteht einer Synchronisierung. Das unendlich abgesonderte Unendliche widerspricht damit selbst den Gesetzen des Bewusstseinslebens und der Reflexionsphilosophie, denn phänomenologisch gesprochen entspricht das Gemeinte nicht dem Meinen, das »cogitatum« geht in kein Korrelationsverhältnis ein und ist nicht Resultat einer »cogitatio«. Selbst die Alterität des Unendlichen wird durch das Denken nicht aufgehoben, sondern bricht ein, zerbricht durch sein Übermaß das Denken und die Vermögen des Selben. 5 In diesem Zerbrechen ereignet sich für Levinas die ethische Wende, die in der Verwandlung eines formalen Momentes der Trennung zu einem Überschuss der Erweckung und Öffnung zum Unendlichen bzw. zur Sakralität des Antlitzes des Anderen besteht: »Du wirst mich nicht töten.« In diesem Kernstück des »ethischen Widerstandes« gegen die Usurpationen der Macht legt Levinas bereits die Umwendung einer formalen Figur in leibliche Bedeutungen frei. Der Selbe wird in dieser Umwendung zu einem gefährdeten Selbst, das Levinas in vielen Bezügen bespricht, so mit Blick auf Arbeit und Besitz, Wohnen und Bleibe, das Weibliche und die Intimität, das Zerbrechliche von Genießen und Sinnlichkeit, Antlitz und Not, Gabe und Gastlichkeit. Dass in einfachsten Zügen Erde und Himmel, Irdisches und Transzendentes, Weltliches und Höhe, mithin konkrete bedürftige leibliche Alltäglichkeit und das Außerordentliche eines Wunders miteinander verknüpft werden und beinahe im Sinne einer spirituellen Erfahrung völlig neue Bedeutungen jenseits bloßer Profanität eröffnen, zeigen beispielhaft seine Ausführungen zum »Wohnen«: »Abraham machte auf seinem Zug zum gelobten Land Kanaan Rast an jenem Ort, den er als Beth-El (hebräisch für Haus Gottes) bezeichnet (Gen 12,8). Dort errichtet er einen Altar. Jakob unterbricht an diesem Ort seine Flucht vor Esau und hat im Schlaf den Traum von der Himmelsleiter. Auch er beschreibt diesen Ort als ›Bethel‹, was Daher lautet ein anderer Titel von Emanuel Levinas auch treffend und sinnfällig: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz (übers. von Th. Wiemer, Freiburg/München 1985).
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seine Öffnung für den Empfang des ganz Anderen bezeugt (Gen 28,16–19). Auf der Flucht nach Ägypten finden die Fliehenden Zuflucht in einem Stall. […] In der Bleibe der Arche Noah (von lateinisch ›arca‹ für Kasten) wurden Noah und seine Familie sowie die Tiere vor dem Untergang durch die große Flut gerettet (Gen 6–9). Das jüdische Laubhüttenfest (in dem begrifflich der Ausdruck Hütte eingewebt ist) wird im Buch Exodus als Fest des ›Einsammelns‹ bezeichnet, wobei das ›einsammeln‹ auch im griechischen Logos-Begriff einen Bestandteil bildete. Die Hütte wird im Sinne eines ›Erntedank‹ errichtet und dient dem Zusammenkommen, Speisen der Fremden, Witwen und Waisen und gilt der Erinnerung an den Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten.« 6
2.
Maurice Merleau-Ponty: Transzendenz aus der Tiefe
Merleau-Ponty kannte aufgrund seines frühen Todes das erste Hauptwerk von Emmanuel Levinas mit dieser Gedankenfigur zwar nicht, aber die Motive waren bereits zuvor erkennbar. Auch Merleau-Ponty arbeitet schon im Frühstadium nach dem Zweiten Weltkrieg mit exemplarischen Figuren des »Außerordentlichen«, möchte diese aber nicht von den konkreten Wahrnehmungsontologien abtrennen, sondern offensichtlich darin »einlegen«. Bereits in dem frühen Vortrag vor der Societé française de philosophie scheint er mit den hyperbolischen Figuren eine »Metaphysik für das Leben« anzukündigen, in der er eine ähnliche »Inkarnierung« des Außerordentlichen zur Sprache bringt: »Was Platon hinsichtlich des Selben und des Anderen sagt, ist zweifelsohne auf das Verhältnis zwischen ›mir‹ (moi) und dem Nächsten anwendbar, was Descartes bezüglich Gott äußert, betrifft in gewisser Weise den Menschen, und was Kant über das Gewissen sagt, betrifft uns in einem weitaus höheren Maße«, wobei das formulierte »cela nous concerne« offen lässt, ob der Autor im Singular spricht oder (beispielsweise im Kantischen Sinne) eine Menschheit überhaupt meint. Siehe hierzu meine Ausführungen in: »Wohnen – Weiblichkeit – Besitz. Das Haus im Licht einer Ethik der Gabe«, in: Liebsch, Burkhard (Hg.), Der Andere in der Geschichte – Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges, Freiburg/München 2016, 201– 218, hier 201 f. Siehe zum »Körper des Wortes« und »Körper der Wohnung« auch Peters, Tiemo Rainer, Mehr als das Ganze. Nachdenken über Gott an den Grenzen der Moderne, Ostfildern 2008, 94 ff., 98 f.
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Er moniert jedoch gleichzeitig die entscheidenden Grenzen dieser Entwürfe, denn letztendlich spricht Platon nur vom Selben und vom Anderen (und nicht vom »anderen Menschen« oder gar vom »Humanismus des anderen Menschen«), Descartes endet bei Gott (und ebenfalls nicht beim anderen Menschen) und Kant begnügt sich mit dem Gewissen. Alle drei Denker sprechen, so der zentrale Einwand, eben nicht »de cet autre qui existe en face de moi ni de ce moi que je suis« 7. Dazu hätte es offensichtlich einer ähnlichen Blickverschiebung wie im Fall der besagten Umwendung formaler Figuren zu konkret-leiblichen Vollzügen bedurft. Merleau-Ponty holt dies mit umfassenden Studien zu Ontologie, Natur- und Lebensphilosophie sowie einer ausgesprochen gewissenhaften Untersuchung zahlreicher Naturwissenschaften nach. Zentral ist dabei sein Ausgang von einer Wahrnehmungswelt, deren vielfältige Überschüsse er unermüdlich aufzeigt. Genau an diesem Punkt ergibt sich der Anknüpfungspunkt für ein anderes Modell spiritueller Erfahrung, welche das Mehr nicht aus einer Höhe aufzeigt, sondern aus tiefen Falten. Seitens der Ontologie ist dabei bedeutsam, dass das Sichtbare mit dem Unsichtbaren, der Transzendenz verknüpft wird. 8 Hinsichtlich der lebendigen Wahrnehmung und der Leiblichkeit besagt dies, dass die Reduktion der Wahrnehmung auf »optische Ansichten«, auf »perspektivische Festlegungen« und auf »identitäre Festlegungen« widerrufen wird. Die Basis für derartige Reduktionen war bereits in der Antike gelegt worden, und zwar in Platons berühmtem Gleichnis vom Taubenschlag. 9 Das Aufbrechen dieser »Feststellungen« zugunsten mehrwertiger Überschüsse belegt Merleau-Ponty in vielen Ausführungen. Er veranschaulicht die Überschüsse von Leiblichkeit und Sein durch die Verwandlung in Kunst in einer paradigmatischen Episode. Dabei bezieht er sich auf die Ausführungen des Schriftstellers und Kunsthistorikers André Malraux, der Renoir beim Malen mehrerer Frauen an einem Bach zusah. »›Das Blau des Meeres war zum Blau des Baches der Wäscherinnen geworden […]. Sein Blick war weniger eine bestimmte Art, das Meer zu betrachten, sondern eher die verborgene Elaboration einer Welt, der gerade dieses tiefe Blau angehörte, das er bis ins Unermeßliche steiMerleau-Ponty, Maurice, Sinn und Nicht-Sinn. München 2000, 49. Die Figur der Falte wird reflektiert in Meuffels, Otmar, Gott erfahren, Tübingen 2006. 9 Platon, Theaitetos, 198 d. 7 8
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gerte.‹ Aber warum gehörte gerade das Blau des Meeres in die Welt von Renoirs Malerei? Wie konnte ihn dieses Blau etwas über den Bach der Wäscherinnen lehren? Deshalb, weil jedes Fragment der Welt – und besonders das Meer, das bald von Wirbeln, Schaumkronen und Falten überzogen ist, bald massiv, dicht oder in sich selbst ruhend da liegt –, eine unbegrenzte Anzahl von Gestalten des Seins entfaltet und seine eigentümliche Art hat, dem Zugriff des Blickes zu begegnen und unter ihm zu erzittern, so daß Varianten aller Art hervorgerufen werden, und weil schließlich jedes eine allgemeine Sprechweise lehrt, die über es selbst hinausgeht. Man kann nackte Frauen und einen Süßwasserbach malen angesichts des Meeres bei Cassis, weil man dem Meer nur abverlangt, es möge zeigen, wie es die flüssige Substanz interpretiert, wie es sie sichtbar macht, wie es diese mit sich selbst verbindet, um sie dieses oder jenes sagen zu lassen, kurz wegen einer Typik der Erscheinungsweisen des Wassers.« 10 »Meereswasser« und »Bach« werden nicht »als Wasser« synchronisiert, sondern in Form einer Zwiesprache, eines Chiasmus und einer Verschränkung zwischen einem abverlangenden Anspruch und einer Einlösung in Bewahrheitung dargeboten: Es kann dieses oder jenes sagen – ohne Festlegung in einem Gesagten, ohne Vereinheitlichung, sondern in Offenheit gegenüber anderen Wegen, die alle gesagten Wege überschreiten.
3.
Michel Henry: Transzendenz aus den Inkarnationen des Selbstaffektiven
Bekannt für seinen Ansatz der radikalen Lebensphilosophie ist der französische Philosoph Michel Henry, der diesen erstmals 1963 in seiner Habilitationsschrift »L’essence de la manifestation« präsentierte. 11 Die »Lebensphilosophie« darf dabei nicht im vitalistischen oder biologistischen Sinne missverstanden werden. »Leben« gilt vielmehr als die Wurzel dessen, was »ist« und was »erscheint«. Dieser Ausgang wird auch hier in Abweichung gegenüber dem cartesiaMerleau-Ponty, Maurice, Die Prosa der Welt, übers. von R. Giuliani, München 1984, 83 f. 11 Henry, Michel, L’essence de la manifestation, Paris 42011. Vgl. auch Grätzel, Stephan / Seyler, Frédéric (Hg.), Sein, Existenz, Leben. Michel Henry und Martin Heidegger, Freiburg 2013; Kühn, Rolf, Leiblichkeit als Lebendigkeit: Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, Freiburg 1992. 10
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nischen »cogito« gewonnen. Michel Henrys eigene Erfahrungen von Not, Angst, Schrecken und Entbehrung aus dem Zweiten Weltkrieg führten ähnlich wie bei Levinas zu einem radikalen Umsturz der klassischen Philosophie, aber mit anderem Vorzeichen. An die Stelle eines Denkens der Exteriorität trat das Nachsinnen über »Selbstaffektivität«. Die leiblich-affektiven Erfahrungen führten zum Umsturz des Cartesianismus, denn wenn es eine »Wahrheit« gäbe (Descartes’ »cogito, ergo sum«), so wäre diese bei Henry trotz aller extremen Erfahrungen die »Wahrheit« des Glücks, zu leben. Im Kontrast zu gewohnten Phänomenologien befragt Henry jedoch weniger die zugehörigen phänomenologischen Modalitäten der Erscheinung (Intentionalität, Reduktion, Noema und Noese), sondern vielmehr das Wesen der Manifestation. Ein Phänomen erscheint dem Bewusstsein klassischerweise in einem Abstand. Dem Bewusstsein enthüllt es sich nur unter der Bedingung einer Ekstase (z. B. in der Re-präsentation, der Stellvertretung usw.). Henry modifiziert diese Perspektive mit dem Aufweis, dass eine Manifestation nicht möglich sei, wenn das Bewusstsein sich nicht schon zuvor als unmittelbar affiziert erführe, d. h. sich darböte und (aufnahme-)bereit hielte, bevor es durch Fremdes affiziert wird. Die Ekstasis des Bewusstseins setzt folglich eine Manifestation als Selbstaffektion des Bewusstseins voraus. Mit dieser Figur knüpft Michel Henry an Immanuel Kant an, denkt die kantische Sinnlichkeit jedoch viel archaischer und passiver. Jean-Luc Marion beschreibt dieses »Leben« als »Bewusstseinsidentität ohne Ekstase in und durch Selbstaffektion«: Das ›Wesen der Manifestation‹ bestehe dabei nicht in der Bewusstseinsaffektion durch ein Phänomen, sondern in der ›Selbstaffektion‹ des Bewusstseins, das auf identische Weise dynamis für sich und energeia an sich sei. Zur Ausarbeitung dieses Gedankens durchkämmt Henry die gesamte Metaphysikgeschichte mit ihren zentralen Gestalten wie Meister Eckhart, Descartes, Malebranche, Kant, Fichte, Hegel, Kierkegaard, Schopenhauer, Schelling u. a., aber auch grundlegende Phänomenologen wie Husserl, Heidegger, Scheler, Sartre und Merleau-Ponty. Michel Henry berücksichtigt das Sein des »ego« in Kierkegaards Perspektivierung der paradox-dialektischen Spannung von Körper und Geist für die vielfältigen Dimensionen des Lebens: Das Tragische oder das Komische, Angst oder Scham, Affektivitäten und Habitualitäten können nur im Rekurs auf das zentrale Phänomen der »Inkarnation« des Menschen in seinem Leben geklärt werden. Die Sphäre der Subjektivität überblendet sich mit der Sphäre der Existenz, die 96 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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Michel Henry auf die grundlegende Frage nach dem Sein der Körperlichkeit zurückführt und im Anschluss an Maine de Birans Philosophie des »effort« untersucht. Dabei wird die Philosophie der »Anstrengung« in eine Philosophie der »Passivität« überführt und schließlich zu einer radikalen Lebensphänomenologie ausgestaltet. 12 Diese Vorstöße spiegeln sich auch in einer Osmose von Kunst und Leben: »Nach Henry sei es Kandinsky durch eine bestimmte Form seiner ungegenständlichen Malerei gelungen, den Betrachter seiner Bilder zu einer gesteigerten Gewissheit seines Lebens zu führen. Man kann sagen, dass der Rezipient, dessen Blick über die abstrakten Bildzeichen in Kandinskys Bildern wandert […], sich im Leben – wie Henry sagt – selbst ›erprobt‹ (éprouve).« 13 Es sind auch hier die beiden charakteristischen Bögen zu erkennen, die für die Suche nach einer spirituellen Wahrnehmung in den Blick genommen wurden. Auf der einen Seite wird eine »Steigerung« wesentlich, auf der anderen Seite eine »Vertiefung« in eine »Erprobung« und Prüfung des Lebens. Gehalten wird diese Polarität von einer Anstrengung, die ihre körperlich-leiblichen Momente nicht zu ignorieren vermag. Inwiefern diese Formen konkret belegt werden können, wird an einem bemerkenswerten Beispiel von Leiblichkeit des Lichtkünstlers Mischa Kuball deutlich, der die Potentiale von Licht folgendermaßen ausdrückt: »Die besondere Kraft des Lichts erklärt sich – zwar nicht hinreichend, aber vielleicht ansatzweise – durch den neurophysiologischen Einfluss des Lichts. Licht dringt durch unsere Augen und durch die Haut, dabei werden im Körper gewisse Amalgame und Prozesse aktiviert. Der Sympathikus wird angeregt, sendet Impulse, Stoffe werden ausgeschüttet. Bevor ich also überhaupt ein Bewusstsein oder ein Bild davon habe, was ich konkret sehe, hat mich das Licht schon erreicht und das System stimuliert. Das ist seine unglaubliche Kraft!« 14
Henry, Michel, Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie biranienne, Paris 1965. 13 Henry, Michel, Voir l’invisible: Sur Kandinsky, Paris 1994; Sorace, Marco A., Avantgarde nach ihrem Ende: Von der Transformation der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur theologischen Kunstkritik, Freiburg 2007, 43. 14 So der Lichtkünstler Mischa Kuball in »der ort ist handlung. über die performative kraft des lichts«, Düsseldorf 8. Mai 2013, veröffentlicht als: Der Ort ist Handlung. Mischa Kuball über Mensch, Kunst, Welt und – Licht, in: Agora/Arena. Programmheft Ruhrtriennale 2013. 12
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4.
Transzendenz und Wahrnehmung
Es scheint zunächst, als könnte die Differenz der drei Denker nicht markanter ausfallen. Bei genauerem Hinsehen ließen sich aber durchaus auch Affinitäten entdecken. Während Levinas und Merleau-Ponty als Denker der Exteriorität gelten, gilt Michel Henry als Verfechter der Selbst- oder Autoaffektivität. Alle drei brauchen jedoch auch quasi-räumliche Kategorien, aber im Sinne eines »negativen Sprechens«. Bedeutsam sind für Levinas die Nähe zum Anderen und der Empfang des Anderen aus der Höhe, weshalb Jean Wahl hier nicht ohne Grund von einer »Trans-Aszendenz« gesprochen hat. 15 Dieser »Aufstieg« modifiziert das herkömmliche Ascensus-Motiv. 16 Merleau-Ponty hingegen beschreibt den Gang zum Anderen/Unsichtbaren als »Überstieg in die Tiefe« und als »Transdeszendenz«. 17 Diese Tiefe führt zu einer anderen Ontologie (zu einer Me-ontologie) jenseits des klassischen »esse«. 18 Gleichzeitig sprechen beide Philosophen aber auch in umgekehrter Richtung. Levinas betont, dass die Transzendenz auch ein »In-derWelt-sein« ist und dazu »Blinkzeichen« jenseits einer cartesianischen Gewissheit benötigt. 19 Er stößt sogar bis zu einer Frage vor, die eher an Merleau-Ponty erinnert: »Beziehen sich etwa der Ausdruck und die Nähe zurück auf eine Dimension der Tiefe?« 20 Umgekehrt komplettiert Merleau-Ponty den Abstieg in die Tiefe durch das zentrale Paradox eines »Aufstiegs auf der Stelle«. 21 Die religiös-spirituelle Überdeterminierung im Sinne einer »Himmelfahrt« ist dabei nicht unbeabsichtigt. Diese vielfachen Inversionen lassen aus der Ferne Michel Henry anklingen. Die »Erprobung« des Lebens kann als »Abstieg Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1976, 143 f. Imbach, Ruedi, Was bringt das Klettern? Der Aufstieg (ascensus) als Bild philosophischen Bemühens, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie / Revue de philosophie et de théologie de Fribourg (FZPhTh) 61/1 (2014), 5–18. 17 Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. von R. Giuliani und B. Waldenfels, München 1986, 326; Siehe Kapust, Antje, Berührung ohne Berührung. Ethik und Ontologie bei Emmanuel Levinas und Maurice Merleau-Ponty, München 1995, 233 f. 18 Merleau-Ponty, Maurice, Sens et non-sens, Paris 1966, 164 f. 19 Levinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von Th. Wiemer, Freiburg/München 1992, 334. 20 Levinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers. von W. N. Krewani, Freiburg/München 31992, 243. 21 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 326. 15 16
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in die Tiefe« angesehen werden, welchem andererseits ein »Aufstieg« in die Welt entspricht. Das hierfür notwendige Zerbrechen der »transzendentalen Apperzeption« fordert ebenfalls Levinas. 22 Dieses »Zerbrechen« steht jedoch auch bei Merleau-Ponty im Fokus, und zwar in Abgrenzung gegenüber Levinas gerade hinsichtlich der Wahrnehmungs- und Leibvollzüge. Das Sichtbare verweist in seiner Vielgestaltigkeit als »Zeiger in (die) Transzendenz« schon immer auf mehr und anderes, und zwar jenseits einer »Synchronisierung« in Form einer Zwiesprache bzw. eines Chiasmus zwischen einem abverlangenden Anspruch und einer Einlösung in Bewahrheitung: Es kann dieses oder jenes sagen – ohne Festlegung in einem Gesagten, ohne Vereinheitlichung, sondern in Offenheit gegenüber anderen Wegen, die alle gesagten Wege überschreiten. Dies ist möglich, weil die platonisch grundgelegte Einstrahligkeit der Wahrnehmung mit einem Festhalten an der Manifestation, welche ein Vernunft- und Sinnverständnis spiegelt, das in der Assoziierung von Auge und Hand die Gewalt des Zugreifens legitimiert, widerrufen wird. 23 Bereits Heidegger hatte angemahnt, dass wir das »Nächstliegende« als das vor Augen Liegende, das wie ein Zeiger auf Unsichtbares hindeutet, »ständig schon übergangen« haben und in diesem »Übergehen vollziehen wir ständig, ohne dessen zu achten, jenes Töten am Sein des Seienden«. Wir vergessen die »Lebendigkeit seines Wesens« und fixieren sie in Setzung und Logik, und zwar durch Vorstellungs-Sicherung. 24 Diese Neigung zu einer Verselbigung setzt bereits mit der Ausbildung des eleatischen Monismus ein, indem Parmenides »das vor Augen Liegende« in die Setzung von Sein und Denken gezwungen hatte und zu diesem Zweck eine am Denkmodus konzipierte Schau entfaltete, die das »Entfernte« heranholen und zum Bestand sichern konnte. Hegel vollendet im »vidi« als »gewußt haben« das Seiende in seinem Vorstellungscharakter und sichert die Lebendigkeit der vor Augen liegenden Wirklichkeit mitsamt ihrem Überschuss des Unendlichen in einem Negationsverhältnis, dessen Spannung in einer Synthese aufgehoben wird. 25 Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 334. Zum Untergang der Vorstellung vgl. auch meine Überlegungen im erwähnten Text zum »Wohnen«, 212– 218. 23 Siehe dazu die Kritik von Levinas in Wenn Gott ins Denken einfällt, 71 f. 24 Heidegger, Martin, Holzwege, Frankfurt a. M., 61980, 262, 258. 25 Heidegger zeigt, wie Hegel das Wissen aus dem Sehen ableitet und dabei Platons Dialektik umgestaltet, denn es bedeutet »Vidi, ich habe gesehen, ich habe die Ansicht 22
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5.
Leiblichkeit und Spiritualität
Bereits die Tradition hatte gegen die Dominanz geltender Diskurse »leibliche Hintergründe« zu denken versucht. Schon der jüdische Philosoph Avicebron (um 1021–1057) hatte eine leibliche Dimension der Würde aufzuzeigen versucht. Albertus Magnus und auch Thomas von Aquin hatten diesen Gedanken aufgegriffen und auch die corpuscaput-Metapher tangierte diese Impulse. 26 Die Thematiken Leiblichkeit und leibliches Selbst überschreiten nicht nur die klassischen Dichotomien von Körper und Geist, sondern modifizieren auch herkömmliche Trägerbegriffe wie Subjekt, Person, Individuum und Mensch. Überlieferte Deutungsmodelle wie Wechselwirkungstheorien (Descartes), Parallelismustheorien (Leibniz) oder Identitätstheorien (Spinoza) reduzierten den Menschen entweder auf einseitige Festlegungen (z. B. rationales Wesen unter »Opferung« der Natur) oder konnten nicht erklären, wie ein leibliches Selbst auf mannigfache Bezüge wie Eigen-, Fremd- und Weltbezüge hin geöffnet sein kann. 27 Bereits in der Neuzeit hatten Autoren wie Pierre Gassendi mit seinem ambulo ergo sum oder François-Pierre-Gonthier Maine de Biran mit seinen Überlegungen zu Phänomenen wie der Müdigkeit Vorstöße gegen den etablierten Dualismus von res extensa und res cogitans gewagt. Der Existenzbegriff des 19. Jahrhunderts (Kierkegaard, Feuerbach) legte den Grundstein für Revisionen. Sigmund Freuds Theorie des Traumas machte deutlich, dass der Mensch nur künstlich auf die beiden Sphären von ausgedehnter Materie und denkender Substanz reduziert werden kann. Das Konzept der Leiblichkeit versteht sich daher als vinculum, um genau diese Umschlagstelle zwischen Natur und Kultur, Selbstbezug und Fremdbezug erfassen zu können. 28
von etwas, die Einsicht in etwas gewonnen. Das Perfekt des Gesehenhabens ist das Präsens des Wissens, in welcher Präsenz das Gesehene präsent ist.« (Holzwege, s. o., 140 f.) Der Chiasmus bewirkt in der Konkretion des ›Fleisches‹ als dem Band zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen, das zu einem anderen Verhältnis von Sehen und Wissen führt, die implizite Umgestaltung der Hegelschen Dialektik. 26 Schaede, Stephan, Würde, in: Bahr, Petra / Heinig, Hans M. (Hg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, Tübingen 2006, 7–69. 27 Waldenfels, Bernhard, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt a. M. 2000, 24 ff. 28 Waldenfels, Das leibliche Selbst, 18, 247 ff., 265 ff.
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Der Dualismus wird in einer spezifischen Doppelseitigkeit des Leibes unterlaufen, die zu seiner eigentümlichen Reflexivität führt. Als leibliches Selbst ist der Leib ein »Ding besonderer Art«, weil er zugleich als (äußeres) Körperding sichtbar und als gelebtes Selbst sehend ist: Ich sehe, nicht meine Augen. Damit ist er Helmuth Plessner zufolge als fungierender Leib (ich bin mein Leib) an der Konstitution der Welt beteiligt, während er als »Körperding« (ich habe einen Körper) zur Welt daseiender Entitäten gehört, an der u. a. auch Fremdbehandlungen vorgenommen werden können. Naturalisierung und Spiritualisierung treten als eine Selbstspaltung auf, wenn eine der beiden Seiten verabsolutiert wird. Der Leib kommt nicht einfach als bloßer Körper wie ein Flugkörper in einem »Raumbehälter« vor, dessen Raumstelle vektoriell in einem Koordinatensystem berechnet werden könnte. Als konstituierendes Selbst bildet er vielmehr den »Nullpunkt der Orientierung« (Husserl), von dem her sich alle Felder des Zur-Welt-Seins erst eröffnen. Darin liegt ein Paradox der Selbstbezüglichkeit, denn auf der einen Seite ist er als »der eigene Leib« da, aber auch sichtbar als Körper und sehend als Eigenleib. In dieser Doppelung sind »beide Karten« nicht deckungsgleich. Dies trifft aber auch für die beiden Karten von Geist/spiritus und Körper/soma zu. Auch hier wurde das Verhältnis im Laufe der Jahrhunderte durchaus nicht einheitlich konzipiert und gerade diese Tatsache können wir uns in einer Analogie zunutze machen, um die leiblichen Dimensionen im Blick auf spirituelles Wahrnehmen zu akzentuieren. 29
6.
Rehabilitierung einer leiblich orientierten Spiritualität: Das materialisierte Pneuma
Die abendländische Ideengeschichte lässt sich im Sinne eines Aufstiegs zum Logos als Prozess der Entkörperung beschreiben. Über den späteren Cartesianismus ist zusätzlich nicht nur die Spaltung von Körper und Geist, sondern auch die Diskreditierung des Körperlichen wirkmächtig geworden. Diese »Leibverachtung« spiegelt sich in der Rolle der Sprache, da auch die Sprache die Nobilitierung eines Die französische Phänomenologin Clara Vasseur betont die vier Grundbegriffe spiritueller Elemente (Berührung, Wahrnehmung, Erfahrung und Begegnung) in: Vasseur, Clara / Bündgens, Johannes, Spiritualität der Wahrnehmung, Freiburg 2015, 41 ff.
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geistigen Gehaltes befördert. Die Tradition belegt einerseits diesen Prozess, belegt aber gleichzeitig auch die Bewegungen, welche die materialen Komponenten betonen und festhalten. Einen wesentlichen Beitrag zur Dynamik einer Entwertung leistet die Abspaltung der griechischen Geschichte der Metaphysik vom jüdisch-hebräischen Denken der Stimme wie auch die aristotelische Interpretation von Stimme und Sprache. Die Stimme wird durch eine teleologische Einspannung in die Sprache auf doppelte Weise entwertet. Sie wird zunächst entkörperlicht, indem ihr die Hilfsrolle einer Vokalisierung der mentalen Signifikate zugewiesen wird. Wo diese Signifikate nicht an eine Semantik rückgekoppelt werden, wird der Stimme lediglich die Funktion zugestanden, einen extraverbalen Bereich bedeutungsloser Äußerungen anzuzeigen, die zwar körperlicher Natur sind, die aber eher der animalischen Sphäre zugerechnet werden und die daher nicht als Ausdruck einer »personalen« Identität gelten. Ursprünglich war diese Entwertung jedoch nicht in dieser Weise angelegt, da der Stimme zunächst ein eminentes Maß an Körperlichkeit und Materialität zugestanden wurde. Das hebräische Denken hatte die Schöpfung und Selbstoffenbarung Gottes nicht aus seiner Sprache, sondern aus der Mächtigkeit seines stimmlichen Atems heraus gedeutet. Dieser stimmliche Atemeinsatz liegt den Verlautbarungen von Bedeutungsgehalten voraus. Das »fiat lux« ist zunächst ein »körperliches verbales« Ereignis, bevor es ein semantisches Ereignis ist, denn betont ist im hebräischen Verb »amar« für »sagen« zunächst die körperlich ausgesprochene Dimension und weniger die Übermittlung eines Inhaltes als Sprechakt. 30 Gottes Gewalt manifestiert sich in diesem »fiat lux« in zwei Dimensionen, und zwar im Atem (ruah) und in der Stimme (qol). Ruah wird im Griechischen als Pneuma, im Lateinischen als Spiritus übersetzt. Qol, das von der Septuaginta als »phone« übersetzt wird, bewahrt die akustische Qualität in Analogie zu Naturgewalten. Pneuma/spiritus und phone/Stimme sind hier noch eng verbunden. Aufgrund dieser Materialität betont Walter Benjamin, dass Gott mit seinem Atem, den er in Adams Nase bläst, seinem Geschöpf auf Moshe Idel beschreibt das stimmliche Tun als linguistische Fähigkeit des Menschen, sich mit Gott zu verbinden (Idel, Moshe, AEIOU. Die laut gelesene Tora. Stimmengemeinschaft in der jüdischen Mystik, in: Kittler, Friedrich / Macho, Thomas / Weigel, Siegried (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002, 19–53, hier 30); ebenfalls zu dieser Thematik Dolar, Mladen, Das Objekt Stimme, in: ebd., 233–256.
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diese Weise Leben, Bewusstsein und Sprache einbläst. 31 In den späteren neuzeitlichen Konzeptionen von Sprache wird diese hingegen in Formen der Kommunikation als Mittel zum Zweck betrachtet, auf Funktionen wie Designation und Übermittlung eines Inhaltes reduziert und als strategischer Akt instrumentalisiert. Die Geschichte einer Entvokalisierung als Entkörperlichung des Logos setzt im griechischen Denken ein. Die metaphysische Tradition verbindet den Logos als Diskurs (Sprechen) mit dem Logos als Vernunft (Denken) und verschiebt den Akzent eindeutig auf die Vermögen des Denkens. 32 Aristoteles zufolge ist der Logos als phone semantike eine bedeutungsgebende Stimme, insofern nur der Mensch über eine bedeutungsgebende Sprache verfügt und sich damit vom Tier mit seiner anzeigenden Funktion der Stimme unterscheidet. 33 In dieser Differenzierung ist die grundlegende Aufspaltung in semantische Kompetenzen und Performanzen einerseits und Kundgabe von Zuständen der Lust oder Unlust andererseits angelegt, womit die Abkoppelung der Stimme vom Logos intensiviert wird. Die Phone verliert ihren körperlichen Raum für leibliche Schwingungen und ihre Sinnbestimmung als originäre Kommunikation. Durch die »Vergeistigung« verliert also das Denken seine vielfältigen Bezüge eines »leiblichen Selbst«. Aber wie im obigen Beispiel deutlich wurde, handelt es sich beim tiefen Gefühl der Dankbarkeit und seiner immensen Freude über das »Wunder der Neugeburt« nicht um den kognitiven Gedanken einer körperlosen Person, die als Geist ebenso wie das »Gehirn im Tank« an eine Denkmaschine angeschlossen werden könnte. Möglich sind solche spirituellen Einstellungen nur über ein »leibliches Selbst«. Wie dies über die Wahrnehmung vollzogen werden kann, veranschaulicht eindrucksvoll ein Beispiel aus der Kunst.
7.
Auf- und absteigen: Von der Alltagstreppe zur Himmelstreppe
Menschen werden im wahrsten Sinne des Wortes mit einem reichhaltigeren Leben beschenkt, wenn sie fähig sind, die Oberfläche idenBenjamin, Walter, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/1, Frankfurt a. M. 1991, 140–157. 32 Derrida, Jacques, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt a. M. 1979. 33 Poetik, 1457a5–30; Politik, 1253a9–19. 31
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tifizierender Wahrnehmungen zu durchbrechen und zu einer anderen Ebene vorzustoßen. Dieses »In-der-Welt-Sein« und dieses »Leben mit den Dingen« bedeuten gleichzeitig auch die Verwandlung der Dinge selbst. Ganz offensichtlich tritt das in sakralen Räumen zutage. Der Kasten aus Holz ist keine einfache Krippe, sondern die Wiege eines Gottessohnes, die Verheißung, die Aufforderung und der Anruf. Die Hände Jesu in den vielfältigen Handlungen vollziehen nicht einfach Gesten notwendiger Praktiken oder Repräsentationen von Botschaften, sondern ein »Ins-Werk-Setzen« und leibhaftiges Bezeugen. Dieses Mehr im Weniger ist das Geheimnis einer Tiefe des Unsichtbaren. Was dieses Mehr gibt, kann am Beispiel der Lichtinstallation »Agora Arena« des Künstlers Mischa Kuball veranschaulicht werden, die in umgekehrter Ausrichtung während des internationalen Kunstfestivals der Ruhrtriennale 2013 präpositional vor der Glasfront der Bochumer Jahrhunderthalle aufgebaut worden war. 34 In der Dunkelheit schwebten in ruhigen Bewegungen Lichtkreise die Treppe auf und ab. In Anlehnung an die bisherigen Ausführungen müsste man sich fast fragen, ob diese pazifizierenden Bewegungen beinahe eine Kraft ins Werk setzten, wie sie den Händen des Menschensohnes zugesprochen wird: Geborgenheit, Befriedung, inneren Frieden, Ausgleich usw. Nun kann eine Treppe nicht ohne leiblichen Vollzug verwendet werden. Die grundlegendste Form bestand wirklich wie in der Himmelstreppe im Auf- und Absteigen. Zudem war aber durch die umgekehrte Anordnung der Treppe die Form nach oben hin offen. Zur Vermeidung eines Sturzes von der oberen Empore war zwar ein Schutzgitter angebracht, aber die Treppe musste man sich imaginär als verlängerte Achse in den Himmel hinein denken. Sie brach einfach oben ab. Insbesondere auf Fotografien bei nebligem Wetter verschwanden diese Höhen in den Wolken, eben im Himmel. 35 Nun war symptomatisch, dass die Zuschauer zwar die Treppe auf vielfältige Weise in Beschlag nahmen, aber insgesamt doch recht verhalten reagierten und nicht so recht einzuordnen wussten, was daran besonders oder sogar Kunst sein sollte. Gerade diese Tendenzen zur Verflachung Das Konzept wird erörtert in: Müller, Vanessa Joan (Hg.), public preposition. Mischa Kuball 2009–2015, Berlin 2015, 80–83. 35 Ich habe die vielfältigen Entdeckungen besprochen in: Die Treppe als Prinzip der Diagonale. Kulturtechniken, Medialität und Leiblichkeit der Treppe im Anschluss an Mischa Kuballs Agora/Arena, in: Sternagel, Jörg / Goppelsröder, Fabian (Hg.), Medialität und Leiblichkeit in der Kunst (Akten der Berliner Tagung zur »Leiblichkeit in den Künsten« Herbst 2014), Weilerswist 2016, 163–184. 34
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und Nivellierung beruhten auf den Wahrnehmungsstrukturen der Identifizierung, die sich mit der Festsetzung des Gesehenen zufrieden geben und damit das unsichtbare Geheimnis abkappen. 36 Sobald ein sichtbares Objekt als dieser spezifische Gegenstand identifiziert und in die Klasse der jeweiligen Objekte rubrifiziert wurde, hört auch jedes weitere Fragen und »Sich-Wundern« auf. Diese Verarmung bringt der Videokünstler Bill Viola in einem bemerkenswerten Interview mit Friedhelm Mennekes auf den Punkt: »Später begann ich dann für mich zu begreifen, daß die Bilder, wie sie sich nachher bilden, nicht wirklich sichtbar waren. In jüngeren Jahren verbrachte ich die meiste Zeit damit, die Welt um mich herum zu photographieren. So erhielt ich ein Bild von einem Baum. Ich liebe Bäume. So ging ich hinaus und nahm einen Baum auf. Später sah ich ihn dann auf einer Video-Leinwand: wunderbar! Ich war zufrieden. Doch dann war ich zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zufrieden. Ich fragte mich: Was ist eigentlich unter dem Baum? Wie sieht sein Innenleben aus? Warum steht der Baum da? Ich begriff, daß der Baum, wie alles andere auch, eine vorübergehende Struktur der Zeit ist. […] Also begann ich, mich mit solchen Fragen zu befassen, und ging danach in meiner Arbeit tiefer unter die Oberfläche.« 37
8.
Aufstieg und »Ascensus« als leibliche Anstrengung
Im 19. Jahrhundert wurde im Schatten dominanter Ansätze des Physikalismus, eines materialistisch regulierten Mechanizismus, eines Idealismus oder auch des Evolutionismus der Versuch einer Rehabilitierung des Überschusses des lebendigen Lebens unternommen. 38 Dieses wurde gegen die starken Philosophien des Idealismus durch Siehe dazu auch Kapust, Antje, Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Zur Erkenntniskraft der Kunst bei Maurice Merleau-Ponty, in: Reusch, Sigfried / der blaue Reiter (Zeitschrift für Philosophie und Kunst) (Hg.), Verborgene Wirklichkeiten. Warum wir Geheimnisse brauchen, 2014, 18–24. 37 Viola, Bill, Die Wunde ist der Ort, in dem das Licht in Dich eindringt. Friedhelm Mennekes SJ im Gespräch mit Bill Viola, in: Stimmen der Zeit (StdZ) 8/2012, 529– 540, hier 538. 38 Siehe Kapust, Antje, Das Leben und seine geheime Mehrdimensionalisierung. Obligation und Anforderung im Zeichen des Unsichtbaren, in: Elm, Ralf / Köchy, Kristian / Meyer, Manfred (Hg.), Hermeneutik des Lebens, Freiburg 1999, 214–243; Dies., Der sogenannte »barbarische Rest« der Natur und sein heimlicher Logos. Zum Projekt einer Psychoanalyse der Natur, in: Giuliani, Regula (Hg.), Merleau-Ponty. Bei36
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Schelling und Hegel mit dem Moment der Anstrengung und dem Motiv des Aufstiegs zum Unsichtbaren verknüpft. Positivismus und Metaphysik sollen in ein neuartiges Gleichgewicht gebracht werden. Hinter der logischen und rationalen Ordnung, die den Kritizismus Kants mit dem Phänomenalismus Humes zu verbinden versucht, steht eine tiefere transrationale Ordnung, die im Aufstieg zu Gott ein christologisch geprägtes ethisches Telos findet. Im Vorfeld hatte bereits Maine de Biran in anticartesianischer Geste die Christologie als Überwindung eines reduktiven Platonismus durch die Bindung an eine Erfahrungskomponente in eine »konkrete Metaphysik des Lebens« zu verwandeln versucht. In den Mittelpunkt stellt Maine de Biran dabei nicht die cartesianische dualistische Substanzenlehre, sondern ein Element, das später bei Levinas im Frühwerk auftaucht und das die konstitutive Einheit des personalen Lebens bewirkt – die Anstrengung. Doch gibt es jenseits der Anstrengung eine lebendige Wirklichkeit, der ein universaler und absoluter Charakter zukommt? Maine de Biran lehnt einen ontologischen Aufstieg zum Absoluten bzw. Unsichtbaren ab und wählt als einen Ausgangspunkt das Gefühl der Anstrengung als direkten Ausdruck von Lebensvollzügen. Der Zugang erfolgt also nicht über die spekulativen Vermögen der Vernunft, sondern über die leibliche Verwurzelung in verschiedenen Lebenskreisen. Anstrengung im Aufstieg zum Unsichtbaren ist dabei Bindung und Verpflichtung gleichzeitig. Damit wird die metaphysische Frage auch eine moralische Frage im Sinne des moralischen Lebens und Gott-Nachwandelns. 39 Die Anstrengung konfrontiert den Menschen mit einer neuartigen Aporie: Das menschlich-persönliche Leben kann die Ansprüche der Seele nach einem Absoluten nicht zufriedenstellen, deren Kehrseite auch die Enttäuschungen, Mühseligkeiten und Bitternisse des alltäglichen Lebens sind. Die Psychologie eines nicht-sensualistischen Gefühls wird durch eine Anthropologie vertieft, deren Akzent mit der Betonung der Anstrengung auf einem Willensmoment liegt, das auf der Gegenseite bei der Suche nach Stabilität und einem Fundament des
träge zu seinem Denken, München 1999, 241–262; Waldenfels, Bernhard, Hyperphänomene. Modi phänomenologischer Erfahrung, Berlin 2012. 39 Le Roy, S. Georges, L’Experience de l’effort et de la Grace chez Maine de Biran, Paris 1937, 327; Gouhier, Henri, Les conversions de Maine des Biran, Paris 1977; 322 ff., 360 ff.
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Daseins durch Geduld und Resignation ausgehöhlt wird. Genau in dieser spannungsvollen Konstellation interveniert das Motiv des Unsichtbaren im Motiv spiritueller Gnade. Maine de Biran rekurriert hier nicht auf die platonische Idee, sondern orientiert sich beim Wechselruf zwischen Verlangen der Seele, Affizierung durch Gnade und Antwort in Demut am augustinischen Vorbild des ›inneren Lichtes‹ : »Noli foras ire; in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas.« 40 Diese Illumination interpretiert Maine de Biran als Frieden der Seele im Fleisch gewordenen Wort. Der Zugang zum Unsichtbaren erfolgt also nicht auf der Ebene der traditionellen Philosophie, aber auch nicht innerhalb der klassischen Theologie, sondern in einer Erfahrung des Leiblichen, in der die Zeichen von Transzendenz erkannt werden. Das ›epekeina tes ousias‹ oder das spirituelle Unsichtbare sind nicht in einem ›nirgendwo‹ seienden Außen fixiert, sondern konkret in der Tiefe des Menschen, in der Gott eingraviert ist, eminent als Unsichtbares eingezeichnet. Ravaisson versucht, dieser Idee ein spezifisches Gepräge zu geben: In der Tiefe seines Lebens west Gott als Form im Stoff »Mensch« an, er belebt und prägt dessen Geist und Leben gegen einen Mechanizismus, der alles auf einen allgemeinen Physikalismus reduziert, aber auch gegen einen Idealismus, der das Leben zu einem logischen Verstehen verflachen lässt. 41 Hier knüpfen verschiedene Varianten einer Ausdeutung von Leiblichkeit und Spiritualität an. Ein erster Ansatz ist ein weiteres Mal Merleau-Pontys Wunder einer erfinderischen Mehrleistung des Leibes in seiner Lebendigkeit. Es gilt, dies »Wunder« auf Anhieb und auf einen Schlag zu vollbringen, jenseits von bewusster Freiheit und Entscheidung. Es gilt, dieses »Wunder« in Lebendigkeit zur Auferstehung zu bringen, jenseits einer Spontaneität des Willens. Es gilt, diese Realisierung im Wunder einer »Mehrüberbietung« einzulösen. Merleau-Ponty erhellt dieses Wunder in der Analogie zum Leib, der gegenüber der cartesianischen Substanzenlehre das Wunder eines Wirkens jenseits anderer Bezüge bewerkstelligt. Dies erlaubt die reversible Umwendung des vorliegenden Sachverhaltes auf das Pro-
Augustinus, De vera religione, Cap. XXXIX. So diskutiert Ravaisson eine Vielzahl von Philosophen gerade unter dieser Perspektive und zeigt dabei die Potentiale des Lebens gegen Mechanizismus und Positivismus auf. Siehe Ravaisson, Félix, La Philosophie en France au XIXe siècle, Paris 1895, bes. 178 ff.
40 41
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blem eines Lebens in Koexistenz: »Von einem Leben zum anderen sind die Übergänge nicht im voraus abgesteckt. Durch das kulturelle Handeln installiere ich mich in Lebensformen, die nicht die meinen sind, vergleiche ich sie, mache ich eine mit der anderen verträglich, mache ich mich für alle verantwortlich, entfache ich ein universales Leben – auf gleiche Weise, wie ich mich durch die lebendige und dichte Gegenwart meines Leibes schlagartig im Raum installiere.« 42 Schon der Leib ist nicht das simple Ausführungsorgan einer Möglichkeit, denn das Geheimnis des Leibes und sein Wunder im täglichen Leben bestehen gerade darin, auf einen Schlag inkompossible Bezüge zu vollbringen, und zwar in einer Simultaneität, die in keiner Modallogik einen Platz findet. 43 Aber auch Levinas ist dieser Hintergrund nicht unvertraut, findet sich doch bereits in seinem Frühwerk neben Motiven wie der Müdigkeit oder der Langeweile das Moment des ›effort‹. Levinas kritisiert, dass die abendländische Philosophie die condition humaine immer nur im negativen Sinne als Begrenzung des Seins interpretiert hat, so dass Transzendenz nur als Überschreiten dieser endlichen Grenzen gedacht werden konnte. Vor diesem Hintergrund hat z. B. der Vitalismus dem belastenden Gewicht im Sein einen Elan entgegengesetzt, der »dieses Gefängnis« durch Kraft und Anstrengung zu durchbrechen versucht. Unsichtbare Transzendenz kann hingegen nicht als Figur einer Selbstüberschreitung gedacht werden. 44 Eine konträr zu Levinas stehende Wendung gibt Michel Henry dem Moment des ›effort‹. Die Frage nach dem Sein des ›ego‹ und die anschließend von Kierkegaard formulierte paradox-dialektische Spannung von Körper und Geist hatten Konsequenzen für die vielfältigen Dimensionen des Lebens ergeben: Das Tragische oder das Komische, Angst oder Scham, Affektivitäten und Habitualitäten können nur im Rekurs auf das zentrale Phänomen der »Inkarnation« des Menschen
Merleau-Ponty, Maurice, Die Prosa der Welt, München 1984. Merleau-Ponty anvisiert dies nicht in einer bloßen Umkehrfigur und begnügt sich nicht mit dem Aufweis eines phänomenalen Lebens, sondern realisiert dieses Anliegen durch den Nachweis der Spur des Metaphysischen (Gott als Träger der rationalen Ordnung) im Leben selbst, das konkret als Leben in der Tiefe verstanden wird, womit Descartes im Kontrast zu Levinas nicht ›von außen‹ durch einen gesonderten Begriff des Unendlichen angefochten wird, sondern von innen durch einen Mehrwert des Lebendigen konvertiert wird. 44 Levinas, Emmanuel, De L’évasion, Paris 1982, 69–72. 42 43
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in seinem Leben geklärt werden. Die Sphäre der Subjektivität überblendet sich mit der Sphäre der Existenz, die Michel Henry zufolge auf die grundlegende Frage nach dem Sein der Körperlichkeit verweise. Dabei wird die Philosophie der Anstrengung durch eine Philosophie der Passivität kritisiert, die in die eigene Philosophie der radikalen Lebensphänomenologie aus Selbstaffektion führt. 45 Aufschlussreich ist ebenfalls die Studie von Janicaud zur Genealogie und Relevanz des Habitusbegriffs, der dem Leben ein unsichtbares Träger- und Vollzugsgerüst gibt. Die Ursprünge verortet Janicaud ebenfalls bei Maine de Biran, dessen Anschluss an Ravaisson jedoch durch eine eigene, aristotelisch inspirierte Interpretation modifiziert wird, so dass die spirituelle Metaphysik des 17. Jahrhunderts (Pascal, Bossuet, Fénélon) über die Vermittlung Ravaissons und dessen Verwandlung von Maine de Biran in die »Spiritualität der schöpferischen Evolution« von Bergson im 20. Jahrhundert mündet. 46
9.
Spirituelle Dynamik des ›homo viator‹
Von diesem Punkt aus enthüllt sich eine einfache Handlung wie das Treppensteigen jedoch als höchster Einsatz. Alltäglichkeit wird Transzendenz, und zwar durch spirituelle Aufmerksamkeit. Wir können diese Aspekte eines »leiblichen Einsatzes« durch Anstrengung, Hingebung und Hervorbringung durch einen weiteren Gedanken vertiefen. So scheint Martin Buber den »effort« in leiblicher Sinndeutung zum Einsatz bringen zu wollen, indem das Alte Testament philosophisch vertieft wird: Die Idee der Gottebenbildlichkeit wird auf diese Weise nicht primär als ein »religiöses Offenbarungswissen« gesehen, sondern mit den Anfängen der griechischen Philosophie verknüpft, und zwar mit den Ansprüchen der platonischen »Ethik«: »In Platons ›Theaitetos‹ erklärt Sokrates, das Übel könne nie aus unserer Welt schwinden.« Unser Ausweg könne daher nur die Abkehr vom Übel sein, also durch »Wissen gerecht und fromm zu werden«. Dieses bedeute jedoch, die höchstmögliche Ähnlichkeit mit Gott anzustreben.
S. Henry, Michel, Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie biranienne, Paris 1965. 46 Siehe Janicaud, Dominique, Une généalogie du spiritualisme français. Aux sources du bergsonisme: Ravaisson et la métaphysique, Den Haag 1969. 45
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Die ursprünglich pythagoreische Lehre des »Folge dem Gott nach« habe Platon übernommen und im Phaidros untermauert, indem er zeigt, dass »die Seele allein, die am besten dem Gott nachwandle und sich ihm angleiche, […] das wahre Sein« schaue. 47 Buber zufolge wird dieses an das leibliche »ambulo, ergo sum« anklingende »Nachwandeln« bei Paulus mit dem Liebesgebot verknüpft, das später bei Franz von Assisi von einem »Nachfolgen« zum geradezu »mystischen Angeglichenwerden der signaculum similitudinis vitae Christi« umgearbeitet wird. Der Christ ahmt jedoch im Kontrast zum Griechen kein Bild nach, sondern eine Lebensgeschichte, die überdies in »Christus als Schmerzensmann« auch eine Leidens- und Leibesgeschichte der Erniedrigungen ist. Der Repräsentationscharakter des Bildes wird zu einem Tun umgedeutet, genauer gesagt zu einem »Wohltun«, das Gott dem Geschöpf als Aufgabe aufgegeben hat, aber ihm selbst auch aus Gnade angedeihen ließ. An diesem Punkt besteht für die unterschiedlichen Denker die Möglichkeit, das Gottebenbildliche umzudeuten, womit ein neuartiger Weg für spirituelle Identität eröffnet werden kann, eben als Einsatz. Dieser Einsatz wird mit dem ideengeschichtlichen Topos des Menschen als »homo viator« verknüpft. 48 Diese Dynamisierung kann Buber durch Rekurs auf Aristoteles’ Konnex von Dynamis, Energeia und Entelecheia stützen. 49 Buber kann diese Symptomatik sogar sprachtheoretisch untermauern, und zwar durch einen Rekurs auf die Sprachtheorie Humboldts, der zwar den Begriff »energeia« nur einmal verwendet, aber das Charakteristikum der Sprache gerade in der »Thätigkeit«, dem aktiven Prozess einer Wirklichkeitskonstitution erkennt, nicht im Ergon, dem Werk. 50
Buber, Martin, Nachahmung Gottes, in: Werke. 2. Band, Schriften zur Bibel, München 1964, 1053–1065, hier 1055 [meine Hervorhebung, A. K.]. Doch das Judentum zielt nicht auf die »Nachahmung« Jesu, sondern auf die Nachahmung eines »wirklichen Gottes«. 48 Marcel, Gabriel, Homo viator. Philosophie der Hoffnung, Düsseldorf 1949; Montiglio, Silvia, Wandering in Ancient Greek Culture, Chicago 2005. 49 Aristoteles, Metaphysik IX; Wundt, Max, Untersuchungen zur Metaphysik des Aristoteles, Stuttgart 1953, 79–102. 50 Siehe dazu auch Welbers, Ulrich, Verwandlung der Welt in Sprache. Aristotelische Ontologie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, Paderborn 2001, 459 ff. Buber bezieht sich auf Humboldt, um seine Sprachphilosophie gegen die »Monologisierung« in Platons Dialogen abzugrenzen (in: Buber, Martin, Sprachphilosophische Schriften, Werkausgabe 6, Gütersloh 2003, 129 f.). 47
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10. Der »spiritus« der Wahrnehmung und die Kultur der Diagonale Nun ist bei einer Treppe ein diagonaler Aufstieg notwendig. Dieser erfordert gesamte Konzentration und uneingeschränkten leiblichen Einsatz. Ganze Philosophien waren gegen einen »körperlosen Geist« und eine »seelenlose Körpermaterie« in der Tradition des Zwei-Welten-Dualismus von René Descartes mit diesem Novum angetreten, so Pierre Gassendi, Nicolas Malebranche, François-Pierre-Gonthier Maine de Biran, Henri Gouhier, aber auch andere. Der französische Philosoph Louis Lavelle hatte in seinem Entwurf einer sinnlichen Ontologie der Elemente und des Welt-Fleisches sogar neben den klassischen äußeren Sinnen wie z. B. der Wahrnehmung auch innere Sinne angeführt, darunter einen Bewegungssinn und einen für »Anstrengung«, die bis in die Überlegungen von Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty hineinreichen. 51 Die Anstrengung einer Ersteigung auf der Diagonalen ist von höchster Mühseligkeit geprägt, was in allen Schlüsselszenen der Ideengeschichte betont wird. Der Aufstieg aus der Höhle erfolgt in Platons Grundlegung unter Schmerzen. 52 Mose nimmt nach der kräftezehrenden und ungewissen Flucht aus Ägypten auf dem Berg Sinai die Gesetzestafeln entgegen (Ex 34). Abraham steigt in Sorge und Bekümmernis den Berg Morijah hinauf (Gen 22,1–19). Jesus ist in seinem Gebet am Ölberg im Garten Gethsemane »zu Tode betrübt« und voller Angst: »Sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen.« (Lk 22,44). In Dichtung und Wissenschaften finden sich ähnliche Betonungen der Diagonalen. In der Divina Commedia schildert Dante Alighieri den Aufstieg zum Berg als Aufstieg zum Paradies. Die Besteigung des Mont Ventoux durch Francesco Petrarca legte nicht nur den Grundstein für die Entwicklung des Alpinismus, sondern besiegelte vor allem die Bestimmung des Menschen als eines aufrechten Wesens, das in der Renaissance den Ausgriff in Höheres euphorisch feiert und sich in zahlreichen Sinnbildern (Rousseau, Kant, Nietzsche) fortsetzt. Selbst in den schwierigsten und gefährLavelle, Louis, La dialectique du monde sensible, Straßburg 1921, XVII, XXII, XIX; vgl. Kapust, Antje, Berührung ohne Berührung, 249–276, bes. 255–261. 52 Bernhard Waldenfels spricht nicht von der Diagonale, wohl aber vom Schmerz: »Platons Blickwanderungen«, in: Beitin, Andreas / Emmerling, Leonhard / French, Blair (Hg.), Mischa Kuball. Platons Spiegel und die Aktualität des Höhlengleichnisses. Angeregt durch Projektionen von Mischa Kuball. Köln 2012, 301–322. 51
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Antje Kapust
lichsten Kontexten von Verfolgung und Unterdrückung fungiert ein »Ort auf dem Berg« nicht nur als Zeichen der Hoffnung, sondern als fiktiver Garant einer Utopie, die zu schaffen ist. Ausdruck dieser Mühseligkeit ist immer die Diagonale. Sie nimmt Entfernung in Zeit und Raum in Angriff und beansprucht Konzentration, Hingebung und Einsatz. Kontrastreicher zum göttlichen fiat lux kann dieser Weg nicht ausfallen. Die Treppe als Prinzip einer Diagonale verknüpft über leiblich-personalen Einsatz die zentralen Achsen von Erde und Himmel, Existenz und Transzendenz. Vor diesem Hintergrund ist ersichtlich, dass ein einfacher Satz wie »Steh auf und geh« nicht nur als zu verifizierende Prädikation gelesen werden kann, sondern als Sinn, der auf einem anderen Blatt steht, dessen Geheimnis sich in Höhe und Tiefe entzieht, aber da ist.
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Das Mysterium der Wahrnehmung Stephan Grätzel
Vorbemerkung Die Technik erweitert nicht nur unsere Erkenntnismöglichkeiten, sie hat auch das Verständnis von Erkenntnis und Wahrnehmung verändert. So werden heute kognitive und intelligente Vorgänge weitgehend technisch interpretiert. Wahrnehmung wird zu einer Funktion von Apparaten. Dabei muss nicht einmal an die Robotik gedacht werden, schon einfache Sensoren z. B. an Maschinen und Autos nehmen äußere Vorgänge wahr und können teilweise auch darauf reagieren. Der Unterschied zwischen maschineller und biologischer, insbesondere menschlicher Wahrnehmung verschwindet, je mehr auch Organismen und Menschen aus technischer Perspektive gesehen werden. Gleichwohl bleibt die künstliche Wahrnehmung oder künstliche Intelligenz dem Original gegenüber völlig unvergleichbar. Der Grund ist darin zu sehen, dass im Unterschied zu künstlichen Formen die natürliche Wahrnehmung und Intelligenz dialogisch angelegt sind. Menschen kommunizieren untereinander, mit Objekten und auch mit sich selbst. In vieler Hinsicht gilt das auch für Tiere und Pflanzen. Dem Menschen ist es darüber hinaus möglich, diese Kommunikationen auch von außen zu betrachten und ihrerseits zu verstehen. Außerdem hat er ein Verständnis von Subjekten. Diese speziellen Fähigkeiten sind nur mit einer Sprache möglich, die über eine technische Kommunikation weit hinausgeht. Sprache hängt der Wahrnehmung keine Schilder um oder klebt Etiketten an, sie ist das Mysterium der Erzeugung und Erweckung von Selbstheiten und Identitäten.
Identität als Narrativ und Denotat Die Wahrnehmung und das Verständnis von Subjekten gehören zu den großen Geheimnissen. Ein Subjekt ist ja nicht nur Träger oder 113 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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Substanz, es ist auch und vor allem ein Selbst, eine Ipseität. Als Träger und Substanz ist das Subjekt auch objektiv. Die eigentliche Subjektseite des Subjekts ist zunächst nicht erkennbar oder wahrnehmbar. Gleichwohl tritt sie in Erscheinung und wird auch immer wieder zum Objekt, zur Substanz und damit gewissermaßen zum Widerspruch ihrer selbst. Die logisch nicht zu lösende Differenz zwischen Substanz und Subjekt war für Hegel ein zentrales Thema seiner Philosophie und hat letztlich zur Entwicklung der Dialektischen Logik geführt. Schon in der Phänomenologie des Geistes war es Hegels Anliegen, »das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken« 1. Hegel stellte dabei zunächst die grundsätzliche Differenz zwischen Substanz und Subjekt heraus, um dann zu zeigen, dass beide in einer geschichtlichen Entwicklung auf eine Einheit zulaufen. Die Identität entwickelt sich also innerhalb oder als Geschichte, wobei das Resultat, die Einheit, dialektisch schon vorgebildet ist. Dialektisch verstanden ist Identität damit seit Hegel sowohl die Entwicklung einer Selbstheit als auch das fertige Ergebnis als Objekt. Diese Unterscheidung hat auch bei der Entdeckung der Narrativen Identität eine grundlegende Rolle gespielt. So hat Paul Ricœur in verschiedenen Texten eine Spezifizierung von Identität geliefert, bei der er diesen grundsätzlichen Unterschied als Differenz zwischen idem für eine sachliche und ipse für die persönliche Identität herausstellte. 2 Diese Unterscheidung hat die persönliche Identität von der sachlichen abgesetzt und zu einer Erfassung der Identität insbesondere einer Person als geschichtlichem und damit narrativem Ergebnis geführt. Dem Ausspruch von Hannah Arendt folgend, dass die Frage nach dem Wer einer Person nur mit ihrer Geschichte beantwortet werden kann, 3 stellt Ricœur erstmals umfassend die Grundzüge der Narrativität aus philosophischer Sicht heraus. Die Identität als ipse hat das Ziel einer narrativen Identifizierung, die Identität als idem stellt nur die sachliche Identität her. Die Bedeutung dieser Forschungen liegt zweifellos darin, der Erzählung und der Sprache überhaupt eine zentrale Rolle zuzuweisen. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, in: Hauptwerke in sechs Bänden, Bd. 2, Hamburg 2015, 18. 2 Zuletzt: Ricœur, Paul, Narrative Identität, in: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999). Übersetzt und hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, 209 ff. 3 Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2003, 231 f. 1
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Das Mysterium der Wahrnehmung
Allerdings muss bedacht werden, dass auch eine sachliche Identität zuvörderst ein sprachliches Erzeugnis ist, das, wenngleich kein Narrativ, so doch zumindest eine Benennung und Taufe benötigt, um das zu sein, was es ist. So kann idem zwar ein einfaches Faktum sein, dieses Faktum ist aber, wie die Perfekt-Form schon zu erkennen gibt, ein Prozess, der zwar nicht erzählt werden muss, aber dennoch seine Denotation als Geschichte in sich fasst. Beim Nachvollzug der Denotation ergibt sich eine ähnliche Komplikation, wie sie in den Untersuchungen Arendts und Ricœurs bezüglich des Narrativs schon zu finden ist. Das Narrativ zeigt die Identität ipse zwar als Held ihrer eigenen Geschichte, einen vergleichbaren Prozess finden wir aber auch bei der Feststellung der Identität als idem, die letztlich zu einem Wesen, zu einem hypokeimenon und damit zu einem Subjekt führt, indem bei einer Aussage oder Bezeichnung, wie schon Aristoteles sagte, »etwas als Etwas bezeichnet wird« 4. Weiterhin findet diese Bezeichnung nicht von selbst statt, wie man nach Aristoteles allerdings glauben könnte, sondern sie wird dialogisch vollzogen. Das griechische Wort kategorein, das Aristoteles hier verwendet, bedeutet ja damals wie heute anklagen. Aussagen und Anklagen sind Vorgänge zwischen Subjekten. Dabei bezeichnet ein Subjekt etwas für ein anderes Subjekt oder für sich selbst. Indem etwas als Etwas ausgesagt wird, wird es immer auch zu oder für jemanden ausgesagt. Das Denotat ist also nicht nur an sich, sondern auch für jemanden. In dem Für findet der dialogische Prozess statt. Darüber hinaus ist aber auch das Als keine einfache Bestimmung, sie ist auch das Ergebnis einer Auslegung, wie vor allem Martin Heidegger herausstellen konnte. In Sein und Zeit unterscheidet er zwischen einem apophantischen und einem hermeneutischen Als, 5 wobei das hermeneutische, auslegende Als die Grundlage für das apophantische, bestimmende Als darstellt. Die Logik gründet für ihn in der existentialen Analytik 6, weil die Auslegung immer eine Interpretation des Daseins aus der Sorge heraus zu erkennen gibt. Eine reine oder abstrakte Bestimmung kann es demzufolge nicht geben. Hinter jeder Bestimmung steckt eine Auslegung. Heidegger hat diesen Gedanken zwar von Fichte übernommen, der in seiner Anweisung zum seligen Leben mehrere Differenzierun4 5 6
Aristoteles, Kategorien, Lehre vom Satz, hg. v. Eugen Rolfes, Hamburg 1974, 44 f. Heidegger, Martin, Sein und Zeit [1927], Pfullingen 1967, 156–160. Ebd., 160.
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gen von »Seyn als Seyn« vornimmt, 7 er hat diesen Ansatz aber in einer revolutionär zu nennenden Weise weitergeführt, indem er in der Auslegung des Seins ein Thema, die Sorge des Daseins um sich selbst, gefunden hat. Die Sorge fließt in die Denotation unmittelbar ein und bestimmt sie mit. Eine von der (zweiwertigen) Logik befreite Grammatik, wie Heidegger sie in Sein und Zeit fordert, 8 könnte diesen Zusammenhang offenlegen. Heidegger hat diese neue Grammatik nur gefordert, aber nicht geliefert. Dies ist erst mit Eugen Rosenstock-Huessys Leibhaftiger Grammatik geschehen. 9 Heidegger führt zwar die Sprache auf die existentiale Situation des Daseins zurück, er berücksichtigt dabei aber nicht die dialogische Veranlagung von Sprache, Auslegung und Interpretation. So zeigt er, dass ein bestimmendes Als (etwas als Etwas) nur vom verstehenden Als aus der Bewandtnis hervorgehen kann; er zeigt aber nicht, dass das Verstehen nicht absolut, sondern für jemanden stattfindet. Das Als der Auslegung muss demnach mit dem Für des Dialogs zusammengebracht werden. Erst dann zeigt sich, dass sich das Für entscheidend auf die Auslegung und Bestimmung auswirkt. Es spielt eine wichtige Rolle, für wen die Auslegung bestimmt ist. Deshalb ist auch eine Denotation kein physikalischer Vorgang im leeren Weltraum, sondern eine Bestimmung von Etwas als Etwas für jemanden. Das Für gibt dabei den Ausschlag für das Verstehen und für die Bestimmung.
Das Für in der Benennung Wenn etwas als Etwas bezeichnet wird, dann ist diese Bezeichnung eine Benennung oder Taufe, bei der das Etwas mit einem Namen versehen wird. Wir wollen uns nun diesen Vorgang aus dialogischer Sicht näher ansehen. Die Taufe stellt die Benennung in einem Ritus dar und gibt damit die Sprachhandlung der Benennung gewissermaßen im Kern als Dialog wieder. Schon die Inszenierung einer Taufe lässt das erkennen. Wir haben hier das Subjekt (Träger), das benannt werden soll, sowie die Autorität, die die Taufe vollzieht, und die Ge-
Fichte, Johann Gottlieb, Die Anweisung zum seligen Leben, in: Fichtes Werke. Bd. 5, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, 452–458. 8 Heidegger, Sein und Zeit, 165. 9 Rosenstock-Huessy, Eugen, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, Heidelberg 1963. 7
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meinschaft, vor der die Taufe stattfindet und in die der Täufling aufgenommen wird. Die Inszenierung gibt also schon die verschiedenen Formen des Für-einander zu erkennen, das für eine Benennung maßgeblich ist. Sie gilt für den Täufling und für die Gemeinschaft. Eine Benennung ist damit nicht nur ein semiotischer Vorgang, sie ist zunächst und vor allem ein sozialer Vorgang, bei dem es darum geht, einen Menschen in die Gemeinschaft aufzunehmen. Die Gemeinschaft wacht zunächst einmal darüber, ob die Benennung angemessen und akzeptabel ist, damit der/die Benannte in die Gemeinschaft aufgenommen werden kann und nicht etwa durch seinen/ihren Namen stigmatisiert wird. Die Prüfung dieser Voraussetzung wird heute vom Standesamt erledigt, wobei große Unterschiede zwischen den Ländern zu beobachten sind. Ein Name, der in einem Land akzeptabel ist, ist in einem anderen Land tabu. Gerade dieser Umstand weist darauf hin, dass eine Benennung eine Integration in eine lebendige Gemeinschaft bedeutet. Ein ›falscher‹ Name wirkt hier als Fremdkörper. Neben dem sozialen Aspekt der Benennung ist aber auch der semiotische Akt von dialogischer Art, wie eben der Hinweis auf die Bezeichnung als Anklage schon deutlich macht. Die Benennung ist eine Mischform oder Zwischenform zwischen der Geschichte von jemand als Jemand (ipse) und der Bezeichnung von etwas als Etwas (idem). Sie ist die Bezeichnung von etwas als Jemandem. Durch den Namen wird der junge Mensch nicht nur in die Gemeinschaft aufgenommen, er wird auch und vor allem von einem natürlichen Lebewesen, von einem Stück Natur zu einer Person verwandelt. Die Benennung ist der Beginn seiner Geschichte, sie ist die Verwandlung von Etwas in Jemand. Das lässt sich auch bei Umbenennungen durch Spitznamen, Kosenamen oder Künstlernamen feststellen. Hier findet gleichsam eine Steigerung statt, weil der bisherige Name der Situation oder der Gemeinschaft nicht mehr angemessen ist. Auch hier wird etwas Natürliches oder Gewohntes in etwas Übernatürliches oder Besonderes verwandelt. Der neue Name führt zu einer stärkeren Individualisierung innerhalb einer Gemeinschaft und wiederholt damit die Bedeutung und Funktion des ersten Namens, wenn dieser nicht mehr passt, sich verbraucht hat, in Verruf geraten ist und vieles mehr. Der rituelle Akt der Taufe bietet damit das Modell einer Benennung und Bezeichnung überhaupt, weil er auch dialogisch inszeniert ist. Jede Bezeichnung ist eine Benennung nach Art einer Taufe. Wenn das Kind die Sprache lernt, wird es in gleicher Weise vorgehen. Es 117 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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entdeckt ein Phänomen und fragt: »Wie heißt das?« Als Antwort bekommt es einen Namen oder Begriff genannt, der fortan zum Träger des Phänomens wird. Das wird dann auch künftig so bleiben: Ein Name oder ein Begriff ist immer eine Antwort auf ein Phänomen. Die Erfahrung ist und bleibt dialogisch. In dem Für-einander dieses Vorganges wird neben dem Phänomen die Sprachgemeinschaft erkennbar, in die ein Lernender einer Sprache eintritt.
Leiblichkeit der Wahrnehmung Die Wahrnehmung ist eine leibliche Begegnung mit dem Phänomen. Das Phänomen wird dabei nicht nur gesehen oder gerochen, es wird ganzheitlich leiblich wahrgenommen. Die Wahrnehmung wird sodann sprachlich begleitet, um etwas Spezifisches, etwa einen blühenden Apfelbaum, um ein häufiges Beispiel von Husserl zu wählen, zu erkennen. Dabei findet die Wahrnehmung aber nicht nur optisch statt, sondern auf allen sinnlichen »Kanälen« – Auge (optisch, auch visuell), Ohr (akustisch, auch auditiv), Nase (olfaktorisch), Mund (gustatorisch), Haut (haptisch, auch taktil) – auch wenn diese nicht direkt beansprucht werden. Jeder dieser Kanäle wird leiblich präsentiert und mit der Benennung sprachlich repräsentiert. Deshalb kann es zu gegenseitigen Vertretungen kommen, dass beispielsweise ein optischer Eindruck durch einen akustischen ausgedrückt wird, etwa wenn ein Rot schreiend ist. In den Fällen, in denen die sinnliche Wahrnehmung eingeschränkt ist, werden die fehlenden Sinne ergänzt oder ersetzt, wobei die Sprache ebenfalls eine entscheidende Rolle bei dieser Vertretung spielt. So sehen auch Blinde, wenngleich nicht mit den Augen. Hier werden mithilfe der Sprache die nicht aktiven Wahrnehmungen durch aktive Wahrnehmungen vergegenwärtigt und vertreten. Das ist auch grundsätzlich der Fall. Klänge können Farben haben, Farben können haptisch (kalt, warm) sein, Berührungen sind tief oder oberflächlich (optisch, haptisch), und der Geschmack etwa eines Weines kann auch spitz (haptisch) oder rund (optisch) sein. Die Vertretung ist aber nur durch die Sprache oder die sprachliche Repräsentation möglich. Tatsächlich können Blinde nicht sehen und sind Farben nicht warm usw. Dies ist nur durch die Sprache möglich. Die sprachliche Vertretung ist ein grundsätzliches Merkmal der sinnlichen Wahrnehmung.
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Jede Wahrnehmung ist ganzheitlich, auch wenn bei einem optischen Erlebnis ein haptisches oder gustatorisches nicht aktiviert oder bewusst ist. Jede Wahrnehmung ist eine leibliche Berührung des ganzen Leibes. Sie wird dabei in der Ganzheit ihrer synästhetischen Wahrnehmung repräsentiert. Deshalb können einzelne Sinneseindrücke durch andere vertreten werden. Es kann aber auch ein sinnlicher Eindruck von seinen Synästhesien abgesondert und sogar von seinem Träger getrennt gedacht werden. So kann abstrakt von der Farbe Rot oder von Rottönen gesprochen werden, ohne dass die dazu gehörigen Träger, ein Tuch, ein Holz, ein Papier, ein Dach usw., genannt werden. Diese Absonderung oder Abstraktion verleitet zu der Meinung, es gäbe eine Farbe oder ein Geräusch an sich. Wie schon Husserl 10 und dann in vertiefter Form auch Heidegger festgestellt haben, ist es fragwürdig, ein »reines Geräusch« hören zu können. 11 Genau genommen gibt es kein reines Rot und kein reines Geräusch, es ist immer – und sei es in nachfragender Art (»was für ein Ton, was für ein Geräusch?«) – mit einem Gegenstand oder einer Situation verbunden und konnotiert. Die Möglichkeit für eine solche Abstraktion ist in der Benennung oder Taufe des Wahrgenommenen zu sehen. Durch die Benennung bindet die Sprache die Wahrnehmung an einen Träger, der damit gewissermaßen selbständig wird. Der leibliche Anteil an der Wahrnehmung gerät dabei in den Hintergrund. Bei einer haptischen oder gustatorischen Wahrnehmung scheint der leibliche Anteil noch erkennbar zu sein, bei einer optischen, oralen, akustischen oder olfaktorischen Wahrnehmung nicht mehr. Hierdurch wird das Wahrgenommene als vom Leib getrennt eingeschätzt. Der Leib scheint, außer beim Haptischen, nicht mit dem Gegenstand in Berührung zu kommen. In der Praxis ist diese Täuschung notwendig, um die Wahrnehmungen differenzieren zu können. Der Leib bleibt hier, wie in anderer Hinsicht auch, im Hintergrund. Die Absonderung und Trennung des Trägers ist durch die Namensgebung und die damit verbundene Autorisierung (das Rote, das Geräusch) möglich. Dermaßen abstrahiert ist sie aber nicht mehr
Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Husserliana Bd. XIX, hg. v. Ursula Panzer, Den Haag 1984, 387. 11 Heidegger, Sein und Zeit, 163 f. 10
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mitteilbar. Wenn ›das Rote‹ vermittelt werden soll, braucht es immer einen Träger (ziegelrot, blutrot, karmesinrot, purpurrot usw.). Ein gutes Beispiel hierfür bieten die Sprache der Weinfachleute und Sommeliers und ihre Versuche, einen Wein zu beschreiben. Hier werden – neben Vergleichen zu anderen Früchten und ihrem Geschmack – Synästhesien bemüht. Eine Semiologie der Sprache des Weins könnte herausstellen, wie die Beschreibung, die ja letztlich der Bewerbung des Produkts dient, dann in besonderer Weise gelingt, wenn sie auf eine umfassende Synästhesie zurückgreift. Auf diese Weise wird nicht nur ein Eindruck vermittelt, der die Wahrnehmung selbst übertreffen könnte, es wird auch der Geschmack geschult. Die sprachliche Begleitung und Vermittlung des Sinnlichen greift auf die Gesamtwahrnehmung zurück, also auch auf solche Wahrnehmungen, die im Sinneseindruck selbst nicht relevant und bewusst sind. Eine Berührung wird gewöhnlich als ein haptischer Vorgang verstanden, allerdings hat schon die alltägliche Verwendung von ›Berührung‹ eine übertragene Bedeutung, etwa wenn ein Musikstück oder irgendein Ereignis als ›berührend‹ bezeichnet wird. Berührung ist also schon umgangssprachlich weit mehr als die bloße haptische Berührung. Gerade in den sogenannten übertragenen Bedeutungen von Berührung wird aber der leibliche Anteil der Wahrnehmung herausgestellt. Jede Wahrnehmung ist, weil sie ganzheitlich ist und eine Berührung darstellt, synästhetisch. Die Sprache verbindet die sinnlichen Wahrnehmungen zu einer einheitlichen Wahrnehmung, um einen Eindruck, wie etwa ein zu stark wirkendes Rot, entsprechend kommunizieren zu können.
Berührung als Verinnerlichung Während in der Phänomenologie die Leiblichkeit als eigene Instanz gegenüber einer bloß naturalistisch verstandenen Körperlichkeit weiterentwickelt wurde, blieb die Frage offen, ob und wieweit die Sprache hierbei involviert ist. Das ändert sich erst mit den phänomenologischen Studien von Michel Henry, insbesondere seinen späten Schriften. 12 Da der Leib auch inkarnierte Sprache ist, stellt sich die Frage, ob Henry, Michel, Inkarnation, übers. und hg. v. Rolf Kühn, Freiburg 2002; Henry, Michel, Christi Worte, übers. und hg. v. Rolf Kühn, Freiburg 2010.
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und wie die leibhaftige Wahrnehmung auch immer eine leiblichsprachliche ist. Michel Henry beantwortet diese Frage mit seiner Auslegung des Johannesprologs in dem Werk: Am Anfang war das Wort. Er stellt hier die Selbstberührung des Wortes als einen Zeugungsprozess heraus. In der Zeugung wird die Ipseität des Lebens mit der Ipseität des Wortes und der Sprache zusammengebracht. 13 Die Ipseität des Lebens hatte Henry schon in seinen früheren Schriften immer wieder nachgewiesen. Danach kann das Leben nicht von außen gestiftet, erschaffen oder geschöpft sein, es kann nur aus einem ursprünglichen Sich entstanden sein. 14 Dieses In-sich-kommen des Lebens nennt er die Selbstbewährung (épreuve de soi). Sie ist intelligent, also verstehend: »In der Ur-Intelligibilität des Lebens wird das Leben selbst intelligibel – der Prozeß seiner Selbstzeugung als Zeugung des lebendigen Ersten Sich in ihm, worin sich das Leben selbsterprobt und sich damit an sich offenbart« 15. Damit sind alle Erfahrungen intelligibel, also verstehende Selbsterfahrungen des Lebens. Sie gehen auf das ursprüngliche Sich – auf die Ur-Intelligibilität – zurück. Dieses ursprüngliche Sich kann nur von innen kommen, es ist das erste, das zeugende Wort. Henry hat mit diesen Ausführungen eine andere und neue Form der Identität aufgezeigt, die den bei Hegel und Ricœur gefundenen Unterschied zwischen ipse und idem wieder aufhebt, ohne ihn auf eine der beiden Identitätsformen zu verlagern. Die Ipseität des Lebens geht aus der Ipseität des Wortes – der Ur-Intelligibilität – hervor und bleibt mit ihr verbunden. Diese Innerlichkeit der Identität kann nur in einer Offenbarung deutlich werden, sie ist sonst unsichtbar. Beziehen wir sie gleichwohl noch einmal auf die Differenz von idem und ipse zurück, dann ließe sich das so ausdrücken, dass im idem das ipse und im ipse das idem verborgen bleibt. Die Einheit von idem und ipse, wie Henry sie aufzeigen will, ist aber nur in der Wechselseitigkeit dieser Offenbarungen möglich. Vielleicht macht das die Schwierigkeit seiner Texte aus. Gleichwohl hat Henry die Identitäts-Problematik damit auf ein neues Niveau gebracht. Er konnte verdeutlichen, dass es nicht nur die Alternative zwischen idem und ipse gibt, sondern ein Drittes, das Sich des Lebens, das sich sowohl als idem wie auch als ipse zeigt. 13 14 15
Henry, Christi Worte, 104. Henry, Inkarnation, 137 f. Ebd., 140.
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Verteilen wir die idem- und ipse-Identitäten auf die Formen des Miteinander, so ist idem der Welt als Umwelt und ipse der Welt als Mitwelt zuzuordnen. Henrys idem-ipse der Ipseität zeigt sich dagegen in der Selbstwelt des Lebens, an der wir partizipieren, indem wir Fleisch sind. Fleisch ist auch der Begriff Henrys für die Selbsterfahrung, Selbsterprobung und Selbstumschlingung des Lebens. Fleisch ist damit etwas anderes als Leib oder Körper, es zeigt nicht nur die Innerlichkeit der leiblichen Erfahrung an, sondern ihre Reflexivität, die sich in der Sprache ausdrückt. Für Henry ist damit die Sprache in die Wahrnehmung involviert, sie macht die Ipseität in Erlebnis und Erkenntnis möglich und bringt sie zum Ausdruck.
Wahrnehmung und Sprache Kommen wir auf das oben behandelte Verhältnis von Sprache und Wahrnehmung zurück und gehen dabei noch einmal auf den naturalistischen Standpunkt, auf die sogenannte Erfahrung ›von außen‹ zurück. Vom naturalistischen Standpunkt aus betrachtet, werden die einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen auf Entitäten bezogen. So kann ein Rot nur rot sein, es hat keine haptischen, olfaktorischen, akustischen oder gustatorischen Anteile. Eine Betrachtung von außen lässt nur die Prädikate zu ihrem Subjekt zuordnen. Auch Husserls Apfelbaum wird in erster Linie gesehen. Er könnte aber auch gerochen oder betastet werden, und das Rauschen seiner Blätter wäre zu hören. Unter bestimmten Umständen wäre es auch möglich, das Holz zu schmecken, wie etwa das Eichenholz im Wein. Für die Wiedererkennung eines Baums ist das zunächst nicht erheblich. Hier reicht es, das Bild eines Baumes vor Augen zu haben. Obwohl Wahrnehmung und Erfahrung nicht auf das Sehen reduziert sind, sind sie immer synästhetisch, weil sie leibliche Berührungen sind. In den Begriff Baum gehen deshalb alle Eindrücke und Wahrnehmungen des Erlebnisses hBaumi ein, auch wenn das Optische zumeist primär und aus diesem Grund dominant an der Begriffsbildung mitwirkt oder mitzuwirken scheint. So sind es oft die weniger dominanten Wahrnehmungen wie Geruch oder Geschmack, die eine tragende Bedeutung bekommen, weil sie gerade im alltäglichen Wiederholen des Begriffs nicht direkt aktiv sind oder in Vergessenheit
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geraten, wie das berühmte Madelaine-Erlebnis in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Jede Wahrnehmung ist eine Berührung, an der alle Sinne beteiligt sind. Diese Berührungen finden im Innenraum des Lebens und der Sprache statt, sie werden also von Sprache begleitet, durchdrungen und gestimmt. Durch diese sprachliche Begleitung, Durchdringung und Stimmung kommt es nicht nur zur Wahrnehmung des Baumes als solchem, sondern auch zur Wahrnehmung der Atmosphäre, die den Baum umgibt. Gerade dieses Phänomen, das ausführlich von Hermann Schmitz innerhalb seines System der Philosophie bearbeitet wurde und dort das Kernstück bildet, 16 ist in seiner Objektivität immer bestritten worden, selbst von nahestehenden Schülern wie Gernot Böhme 17. Der Wert dieser Untersuchungen liegt aber gerade darin, dass sie den Atmosphären einen objektiven Status geben. Schmitz hatte aber nicht die Sprache mit einbezogen, obwohl er immer wieder Anleihen bei der Literatur macht. 18 Er betrachtet Atmosphären rein phänomenologisch, kommt aber dabei schon zu erstaunlichen Ergebnissen: »Das Subjekt und seine Objekte kommen gemeinsam unter in dem Gefühl, das sie als Atmosphäre – etwa wie das Wetter – umgreift und einbettet. […] Der spürbare Leib ist in die einbettende, überpersönliche Atmosphäre eingeschmolzen.« 19 Schmitz gelingt es hier, die Atmosphäre als das gemeinsame Medium von Leiblichkeit und Objektivität auszuweisen. Das ist ein wichtiger Schritt hin zum dialogischen Verständnis von Wahrnehmung und Erfahrung. Er versucht dabei allerdings, von der Sprache geradezu abzusehen. Da aber alle sinnlichen Erfahrungen dialogisch sind, steht der Wahrnehmende in einer sprachlichen Kommunikation mit dem Wahrgenommenen. Es wird sowohl sinnlich als auch sprachlich berührt. Das Wahrgenommene ›antwortet‹ also in Form eines Eindrucks oder des Ereignisses, das die Berührung und Benennung hinterlassen hat. 20 Deshalb kann jede Wahrnehmung, zum Beispiel die optische, von einer anderen sinnlichen Quelle her benannt werden. Wir haben Schmitz, Hermann, Der Gefühlsraum. System der Philosophie. Bd. 3. Teil 2, Bonn 2005, XIV. 17 Böhme, Gernot, Atmosphäre, Frankfurt 1995, 30 f. 18 Schmitz, Der Gefühlsraum, 409 ff. 19 Ebd., 100 f. 20 Schaeffler, Richard, Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit. Eine Untersuchung zur Logik der Erfahrung, Freiburg 1995, 298 f. 16
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schon oben über solche Metaphern gesprochen, sie sind häufig in der Alltagssprache gebräuchlich. Neben dem schon erwähnten ›schreienden Rot‹ als einem haptischen Superlativ für einen optischen Eindruck sprechen wir ganz gewöhnlich von ›warmen‹ oder ›kalten‹ Farben. Auch die häufig verwendete optische Bezeichnung von Tönen als helle oder dunkle Töne zeugt von der synästhetischen Wahrnehmung und ihrer sprachlichen Realisierung durch Entlehnung und Metapher. Diese Metaphern sind Teil der normalen Wahrnehmung. Die sprachliche Benennung ermöglicht also Übertragungen und Metaphorisierungen. Es werden Sinneserfahrungen übertragen oder vertauscht: Geschmäcker werden gesehen, gehört oder gefühlt, Gefühle werden geschmeckt oder gehört usw. Die Sprache der Lyrik lebt geradezu von solchen Übertragungen. Sie sollen irritieren, sie dienen aber auch der Öffnung der Wahrnehmung hin auf eine ganzheitliche Erfahrung, wie das berühmt gewordene Gedicht Todesfuge von Paul Celan belegt: »Schwarze Milch der Frühe, wir trinken sie abends«. Metaphern und Übertragungen dieser Art sind nur möglich, weil die Innerlichkeit des Lebens zugleich die Innerlichkeit der Sprache ist. Sie sind ein Beleg für die These Michel Henrys, dass alle Erfahrung und Wahrnehmung auf die Ur-Intelligibilität von Wort und Leben zurückgehen.
Non-verbale Leib-Sprachen Sprache ist deshalb keineswegs auf eine lautliche Äußerung beschränkt, wie ja auch schon die Verschriftlichung zeigt. Über das Hören, Sprechen, Singen und Schreiben hinaus wird Sprache körperlich ausgedrückt und ist in den Körperbewegungen, also in der Geste, Mimik, Körpersprache und im Tanz zu erkennen. Zunächst wird jede zwischenmenschliche Kommunikation, soweit sie auch sichtbar ist, durch diese körperliche Komponente ergänzt. Sprechen und vor allem Miteinander-Sprechen findet immer auch durch Körpersprache statt. Darüber hinaus kann die Körpersprache auch die gesprochene Sprache ersetzen, wie die Taubstummensprache zeigt. Nicht zuletzt wird durch die Körpersprachen etwas zum Ausdruck gebracht, was durch die gesprochene und geschriebene Sprache nicht oder nur unzureichend vermittelt werden kann und soll. Sie können versteckte oder unbewusste Botschaften, die durch die verbalen Aussagen nicht geäußert werden, zum Vorschein bringen. Körpersprachen sind also 124 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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eigene und eigenständige Sprachen. Dies hat auch der große französische Sprachwissenschaftler Marcel Jousse zum Ausdruck bringen wollen, als er meinte, dass menschliche Gesten nicht metaphorisch seien. 21 Der Begriff der Metapher wird hier in einem engeren Sinn als unselbständiges Abbild verstanden. Tatsächlich sind Metaphern aber selbständige Ausdrücke der Leib-Sprache und zeugen von der synästhetischen Vielfalt des Ausdrucks. Der Leib als inkarnierte Sprache ist damit ein Medium, das nicht nur codierte oder versteckte Botschaften offenbart, sondern in allen Bewegungen bedeutsam ist. So hat jede menschliche Bewegung eine Bedeutung oder sogar eine Aussage. Deshalb können auch unwillkürliche oder unbewusste Bewegungen gedeutet und auf einen Sinnzusammenhang zurückgeführt werden, auch wenn sie keine bewussten Absichten oder Ziele umsetzen und intendieren. Non-verbale Sprache handelt zumeist im Bereich des Sichtbaren. Sie begleitet das verbal Gesagte, sie kann es unterstützen, ihm widersprechen und es ersetzen. Non-verbale Sprache ist nicht nur Ergänzung der verbalen Sprache, sie ist als Körpersprache, Geste oder Mimik eine eigene Sprache mit eigener Grammatik, die der verbalen gleichgestellt werden kann. Hier wie dort, verbal wie non-verbal, ist Grammatik eine leibhafte Grammatik 22 und das Wort ein leibhaftiges Wort. Wegen der Verschmelzung von Sprache und Leib kann Sprache sowohl von der leiblichen Bewegung wie von dem sprachlichen Ausdruck her gelesen werden. Sprache ist immer beides, sie ist verbal und non-verbal. Wenn die non-verbale Aussage die verbale nicht unterstützt, sondern ihr zu widersprechen scheint, dann wird zumeist die non-verbale Aussage für die wahre Aussage gehalten. Während die verbale Sprache lügen kann, ist das der non-verbalen nur mit ausgiebigem Training oder gar nicht möglich. Professionelle Gesprächsführer werden daraufhin ausgebildet, solche Unstimmigkeiten wahrzunehmen und ihnen nachzuspüren. 23 Sogar bei der Verschriftlichung spielt die Bewegung des Körpers bei der Handschrift eine Rolle. Eine Handschrift kann – wie jede andere Körperbewegung auch – einen Ausdruck und darüber hinaus in Jousse, Marcel, L’Anthropologie du Geste, Paris 1978, 50. Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. 23 Schulz von Thun, Friedemann, Miteinander reden 1. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Reinbek 1981, 39–47. 21 22
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gewissen Grenzen sogar den Charakter eines Menschen widerspiegeln. Bei der Handschrift liegt die Besonderheit aber – über normale Körperbewegungen hinaus – in der direkten Umsetzung von Sprache in die Bewegung der Hand. Die Hand muss die Bedeutung der Wörter und der Sprache in eine dafür vorgegebene Form umsetzen. Sie hat also nicht die Freiheiten der Geste und Pantomime, wenngleich auch hier ein gewisser Spielraum besteht, für den die Lesbarkeit des Geschriebenen ausschlaggebend ist. Die Handschrift ist wie jeder andere Ausdruck eine Körperbewegung und damit eine non-verbale Aussage, die eine verbale begleitet, kommentiert oder ihr widerspricht. Die Besonderheit, dass sie nicht das Gesagte, sondern das Geschriebene begleitet usw., macht es aus, dass wir hier eine Körperbewegung, also eine Handlung, getrennt von der Person und dem Körper und damit als solche wahrnehmen können. Die Bewegung ist in der Schrift aufgezeichnet. Damit ist sie ein eigenständiges Zeugnis des Charakters. Als Unterschrift steht sie sogar stellvertretend für die Person und kann sie in bestimmten Situationen juristisch vertreten, wie neben Unterschriften auch andere handschriftliche Dokumente zeigen. Für die Graphologie ist dieser Umstand die Grundlage für die Erforschung des Zusammenhangs von Handschrift und Charakter. Insbesondere sind hier die Arbeiten von Ludwig Klages und sein immer noch maßgebliches Buch zu erwähnen. 24 Die Handschrift ist das Ergebnis einer Handlung, die als non-verbale Sprachhandlung ein Bild, einen Ausdruck und eine Mitteilung vermittelt, wie auch ein zeitgenössisches Lehrbuch aufzeigt. 25 Eine Körperbewegung ist deshalb eine non-verbale Sprachhandlung und kann wie eine Handschrift als Ausdruck der Person gelesen und verstanden werden. Wie jede andere Sprachhandlung macht sie Aussagen in der Art von Befehlen, Kommentaren oder Erklärungen und setzt sie um. Selbst dort, wo direkt und kommentarlos gehandelt wird, handelt es sich um eine Sprachhandlung, weil der Körper insgesamt ein Sprachorgan ist und alle Bewegungen sprachliche Ausdrucksformen sind. Daher lassen sich auch non-verbale Ausdrücke Klages, Ludwig, Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriss der graphologischen Technik [1917]. Bearbeitet und ergänzt von Bernhard Wittlich, Bonn 302008. 25 Müller, Wilhelm Helmuth / Enskat, Alice, Graphologische Diagnostik. Ihre Grundlagen und Möglichkeiten. Mit einem Anhang von Oskar Lockowandt, Bern 3 1987. 24
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in verbale übersetzen. Natürlich gibt es hier – wie bei jeder Übersetzung – Probleme und Fehler. Das Missverstehen einer Geste oder einer Pantomime ist ein Problem der Übersetzung, die wiederum eine Besonderheit des Verstehens ist, insofern sie zwei Sprachen zusammenführt.
Fazit Wahrnehmung ist ein Mysterium, weil nicht nur Objekte, sondern auch das Subjekt als solches erkannt wird. Dies ist nur möglich, weil Wahrnehmung nicht nur mit Sprache verbunden ist, sondern als leibhaftiges Geschehen an der leiblichen Verinnerlichung der Sprache teilhat. Wahrnehmung führt so nicht nur zum Objekt, sondern auch zum Subjekt, der Ipseität des Lebens. Die notwendige Unterscheidung zwischen Substanz und Subjekt, zwischen idem und ipse sollte nicht dazu führen, sie als Gegensätze zu verstehen, sie sind unterschiedliche Formen eines Inkarnations-Geschehens, der Leibwerdung von Sprache. Während ipse hierbei die Person in der Gesamtheit ihrer biographischen Entwicklung erfasst, wird im idem die leibliche Identifizierung deutlich. Dazu gehört in erster Linie die Identifizierung des eigenen Leibes; auf gleicher Linie ist aber auch die Identifizierung von Körpern überhaupt zu sehen. In der Wahrnehmung kommuniziert der eigene Leib über die Sinne und sinnlichen ›Kanäle‹ mit externen Körpern. Die Wahrnehmung wird dann benannt und damit zu idem gemacht. Die Benennung ist ein dialogischer Vorgang zwischen Subjekten und für Subjekte. Für die Wahrnehmung von etwas ist sie nicht maßgeblich, wohl aber für die Identifizierung und Wiedererkennung als Etwas. Im Als der Identifizierung von etwas als Etwas kommen also nicht nur die Denotation und Interpretation zum Ausdruck, es ist zuerst eine Namensgebung, die nach dem Modell der persönlichen Benennung stattfindet und die eine Antwort auf die Erscheinung und Wahrnehmung des Phänomens durch die Sinne ist. Diese leibliche Beteiligung an der Wahrnehmung wird nie ganz ausgeschaltet, auch wenn sie nach der Benennung einer Wahrnehmung nicht mehr thematisiert wird und keine Rolle mehr zu spielen scheint. Dieser Verkennung hat Michel Henry massiv widersprochen, indem er das Erlebnis der Wahrnehmung ins Zentrum seiner Überlegungen stellte und gegenüber dem Denotat und Narrativ hervor127 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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hob. Wahrnehmung findet in der Selbstberührung, Selbstumschlingung und Selbstbewährung (épreuve de soi) des Lebens statt. In den späteren Schriften erkannte er in dieser Ipseität eine Intelligenz, die auf das Wort und die Sprache zurückzuführen ist. Die Intelligibilität des Lebens findet sich also in der Intelligibilität des Wortes und der Sprache wieder. Die Sprache ist der lebendige Beweis dafür, dass auch schon das Leben Verstehen ist. Michel Henry hat damit auch ein neues Verständnis für Sprache entwickelt, das nicht nur Synästhesien, sondern auch solche Phänomene wie Atmosphären besser verständlich machen kann. Atmosphären sind überpersönliche, objektive Räume, die gleichwohl als leibliche Innenräume wahrgenommen werden. Diese Verbindung von innen und außen lässt die Wahrnehmung zu einem Mysterium werden, das wir, obwohl wir es in einer Einheit von Erleben und Verstehen erfahren, nicht bis ins Letzte hinein durchdringen können.
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Die Krise der Identität und das Körperverständnis der Postmoderne Guido Meyer
Der nachfolgende Aufsatz betrachtet seinen Titel als Programm. Dementsprechend handelt er zunächst von der Krise der Identität in postmodernen Gesellschaften und befasst sich in einem zweiten Teil vor dem Hintergrund der skizzierten gesellschaftlichen Merkmale mit deren Körperverständnis. Den Abschluss bildet eine Beschreibung der symbolischen Dimensionen des Körpers und dessen Bedeutung für die Identitätsbildung in der postmodernen Gesellschaft. Vor allem der dritte Teil nimmt deutlichen Bezug auf einige zentrale Thesen des französischen Philosophen und Erziehungswissenschaftlers Dany-Robert Dufour, der unter deutschsprachigen Philosophen bislang kaum rezipiert wurde. 1 Teile dieses Aufsatzes wurden als Vortrag im Rahmen der Tagung »Identitätsbildung – Spiritualität der Wahrnehmung« im Oktober 2015 auf Einladung der Bischöflichen Akademie Aachen gehalten. Als Einleitungsvortrag zur Tagung möchte er den gesellschaftlichen Rahmen, vor dessen Hintergrund das Köperverständnis der Postmoderne sich entfaltet, skizzieren, um auf diese Weise die nachfolgenden phänomenologischen Erkundungen gesellschaftlich zu rahmen. Aufgrund der zur Verfügung stehenden Zeit wurden einige Gedanken sehr pointiert vorgetragen. 2
1.
Die Krise der Identität in der postmodernen Gesellschaft
Eines der Schlagworte, die den Kern postmodernen Denkens treffen und das in den zahlreichen Veröffentlichungen immer wieder anVgl. Dufour, Dany-Robert, On achève bien les hommes. De quelques conséquences actuelles et futures de la mort de Dieu, Paris 2005. 2 Vgl. Meyer, Guido, Die »Dritte Dimension« und ihre Bedeutung für die religiöse Bildung. Annäherungen an Dany-Robert Dufour, in: Keryks (2012), 307–326. 1
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zutreffen ist, ist der Begriff der Ambivalenz. Denn die extremsten Neigungen, Haltungen und Überzeugungen finden im unüberschaubaren Kontext nachmoderner Mediengesellschaften nicht nur Adepten und entsprechende Foren, sondern sie treffen auch auf gegenteilige und umgekehrte Begründungen, Argumentationen und Praktiken. Dieser Sachverhalt trifft in besonderer Weise auch auf den Umgang mit dem Körper und seinen Inszenierungen zu. Zunächst ist deshalb wie allgemein bekannt hervorzuheben, dass der Körper in postmodernen Bilderwelten und Inszenierungen eine herausragende Rolle spielt. In Zeiten, in denen »das Design das Sein bestimmt«, kommt auch dem Körper als der sichtbaren Seite des Menschen eine kaum zu überbietende Bedeutung zu. Sich wohl fühlen im eigenen Körper und nach außen hin ein makelloses Bild seiner selbst vermitteln, das suggeriert, hier ist es jemandem erfolgreich gelungen, sich in seinem Leben einzurichten. In postmodernen Zeiten zeigt der Körper an, dass die Person es geschafft hat, sich dem Identitätsdruck, dem jeder auf seine Weise ausgesetzt ist, entgegenzustellen, und dass sie ihn positiv für sich genutzt hat. Zahllose Ratgeber in allen Medien geben Hilfestellung, um angesichts eines unüberschaubaren Angebots, das der Markt für das individuelle Wohlbefinden bereithält, den Überblick zu behalten. Sie sorgen dafür, dass die innere und äußere Dimension des Körpers nicht auseinanderfallen und das Selbstbild und gesellschaftliche Maßgaben nicht zusammenkommen. Neben den Ratgebern befassen sich weitere gesellschaftliche Segmente mit der Bearbeitung der entdeckten Defizite. Von der Schönheitschirurgie über den Bereich der Pflegeund Kosmetikindustrie widmen sie sich allesamt natürlichen Unzulänglichkeiten, die wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit so korrigiert werden können, dass sie den hohen gesellschaftlichen Idealen zu entsprechen vermögen. Der hier entstehende Gesundheits- und Schönheitswahn setzt viele Menschen in westlichen Ländern unter einen immensen Handlungsdruck. Er entsteht vor allem dann, wenn einzelne Menschen den Eindruck haben, sie würden den gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen nicht entsprechen. Auf der anderen Seite der gesellschaftlichen Entwicklungen entsteht im Zuge der zunehmenden Digitalisierung der Lebenswelten eine im wahrsten Sinne des Wortes neue Welt, aus der der Körper gleichsam als an Wahrnehmung umfassend Beteiligter weitestgehend verbannt ist. Glaubt man namhaften Cyberphilosophen, so treten wir mittels neuer Computertechnologie in ein neues Zeitalter mit einem 130 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Die Krise der Identität und das Körperverständnis der Postmoderne
radikal veränderten Wirklichkeitsverständnis ein, in dem die Menschen befreit von ihrem Körper und der damit verbundenen Kontingenz sich als rein geistige Wesen in den neuen virtuellen Welten beheimaten können. Endlich befreit von der Last des Körpers, der sie an Ort und Zeit bindet, können sie sich nunmehr engelsgleich entfalten und all ihre Fantasien und Potentialitäten ausleben. Erneut stehen wir vor einer postmodernen Ambivalenz, die sich – wie beschrieben – in einem verbreiteten Körperfetischismus einerseits und einer radikalen Körperverneinung anderseits zeigt. Wie in anderen Zusammenhängen zu beobachten, zeigt sich auch hier, dass extreme Positionen sich gegenseitig befeuern.
2.
Das Körperverständnis der Postmoderne
Wie immer es sei, vor dem Hintergrund postmoderner Ambivalenzen müssen Menschen auch heute zu einem tragbaren Selbstbild kommen. Eine Aufgabe, an der, wie sich an vielen Beispielen demonstrieren ließe, immer mehr Menschen scheitern. Denn evident erscheint: Die alten Sozialisationsmuster und -instanzen funktionieren nicht mehr. Traditionsbedingte Vermittlungsrahmen und -medien vermögen die Komplexität postmoderner Lebens- und Denkwelten nicht mehr wiederzugeben und entsprechend zu begleiten. Mit Jean-François Lyotard ist darauf hinzuweisen, dass die Metaerzählungen 3 nicht mehr greifen und somit ihre rahmenspendende Funktion mit Blick auf die Sozialisationsbedingungen verloren haben. Die Erzählung von der Dialektik des Geistes, die sich Hegel zufolge in Form von These und Antithese immer weiterentwickelt und die sich in einem sich ausbreitenden Weltgeist spiegelt, hat sich bis zum heutigen Tag nicht zuletzt mit einem Blick auf die Fortschrittsgeschichte als Illusion erwiesen. Denn vieles von dem, was zunächst als Fortschritt gesehen wurde, erwies sich im Nachhinein als zumindest ambivalent. Und auch eine Hermeneutik des Seins, der zufolge es hinter allen Erscheinungen einen tieferen Sinn gibt, den der Mensch nur zu entdecken braucht, erscheint vielen Zeitgenossen aufgrund der unterschiedlichsten kulturellen und individuellen Perspektiven als unmöglich. Auch die dritte große Metaerzählung, die von der Emanzipation Vgl. Lyotard, Jean-François, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 2002.
3
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eines vernünftigen Subjekts ausgeht, das letzten Endes dem Menschen zu seiner Emanzipation verhilft, hat sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der großen tragischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts als Trugschluss erwiesen. Angesichts dieses Zusammenbruchs haben die großen Narrative, zu denen auch die religiösen gehören, ihre bindende Kraft verloren. Was bleibt, ist das, was wir heute vielfach als Hyperindividualismus bezeichnen, und damit verbunden das Misstrauen in alle sozial verbindenden Narrative. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass der einzelne Mensch sich selbst und sein eigenes Narrativ zum letzten und entscheidenden Kriterium seiner Selbstkonstruktionen macht. Etwas aus seinem Leben zu machen, ist deshalb zum entscheidenden Dogma der heutigen Zeit geworden. Damit geht allerdings eine Überforderung vieler Menschen einher, wie sich an vielen Stellen beobachten lässt. Der Soziologe Anthony Giddens 4 spricht in diesem Zusammenhang von einem »disembedding«, einer »Ausbettung« der Menschen, die sich nach der Auflösung der Sozialisationsmuster vergangener Zeiten neu in dieser oftmals schwierigen Lebenswelt einbetten müssen. Menschen müssen sich erneut »einbetten« in einer Welt, in der es keine allgemein verbindlichen Muster und leitenden Wahrheiten mehr gibt. Wahrheit gibt es bestenfalls nur noch im Plural und in dieser neuen vieldimensionalen Unübersichtlichkeit müssen auch das neue Körperverständnis und die entsprechende Körperidentität neu beheimatet werden. War es einst das Denken, das die Daseinsvergewisserung des Menschen bestimmte, und konnten wir mit dem philosophischen Begründer der Neuzeit, René Descartes, noch von einem »ich denke also bin ich« sprechen, so ist im Zuge der Postmoderne das Fühlen an die Stelle des Denkens getreten, sodass wir mit dem englischen Popsänger Robbie Williams und seinem Song »Feel« sagen können: »I wanna contact the living«. Denken kann täuschen und es steht oftmals im Dienst zahlreicher falscher Ideologien. Fühlen dagegen ist nach heutiger Deutung unmittelbarer, individueller und authentischer. Damit kommt dem Körper als dem eigentlichen Hintergrund allen Fühlens die eingangs genannte herausragende Rolle in postmodernen Gesellschaften zu. Unter den hier nur angedeuteten Bedingungen ist die Identitätsfrage zu einer zentralen Herausforderung postmoderner Gesellschaf4
Vgl. Giddens, Anthony, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 2010.
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Die Krise der Identität und das Körperverständnis der Postmoderne
ten geworden, 5 sodass durchaus von einer Krise der Identität zu sprechen ist. Gleichwohl, Krise meint in diesem Zusammenhang nicht, dass es heutzutage nicht mehr zu identitätsfähigen Antworten kommt, sondern Krise meint, dass die Identitätsfrage sich mit erhöhtem Druck nicht nur jedem Einzelnen stellt, sondern darüber hinaus in vielen Bereichen der heutigen Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Vom Haarschnitt bis zur Schönheitsoperation, vom Fitnessstudio bis zum Meditationsurlaub, vom Essen über das Hobby bis hin zur Berufswahl und nicht zuletzt den sozialen Medien, in allen gesellschaftlichen Segmenten sind Identitätsfragen omnipräsent. War die Identitätsfrage in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch wesentlich durch den gesellschaftlichen Status von außen bestimmt und galt Identität vor allem als das äußere Gehäuse, das vor allem von Stand und sozialen Ordnungen bestimmt war, so entwickelte sich in den siebziger und achtziger Jahren eine zunehmend deutliche Innenorientierung. Nunmehr galt es weniger das innere Selbst eines Menschen an die jeweiligen gesellschaftlichen Ordnungen anzupassen, als sich vor allem von den genannten gesellschaftlichen Formaten zu emanzipieren. Die Identitätsaufgabe bestand vor allem darin, aus den miteinander konkurrierenden Weltbildern das für sich richtige zu entdecken, sich von den anderen abzugrenzen und danach zu leben. Mit dem neuen Jahrtausend hat sich auch in Bezug auf die Identitätsfrage ein beträchtlicher Wandel vollzogen. Weder Außen- noch Innenorientierung bestimmen fortan die Identität, sondern beide gehören zum Selbst. Identität erfordert nunmehr eine neue Vermittlung zwischen Selbst und sozialer Umwelt. Das weitestgehend auf sich gestellte neue Selbst steht bewusst oder unbewusst vor der Frage der Selbstbegründung. Ihm eigen ist eine verstärkte Suche nach Authentizität und damit verbunden die Frage: Was entspricht mir, was entspricht meinem tieferen Ich und wie kann ich mich ihm im Wirrwarr einer Multioptionsgesellschaft annähern. Unter den Bedingungen der Postmoderne besitzt Identität weder einen festen Platz, noch folgt sie einem festgelegten Programm. Identität versteht sich als Prozess. Als ein Patchwork, das sich aus unterschiedlichsten der Kontingenz des Lebensvollzugs geschuldeten Ele-
Vgl. Keupp, Heiner, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. [Reinbek 1999] Reinbek 52013.
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menten entwickelt. Fragmente dieses Patchworks spiegeln sich tausendfach in allen Bereichen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. In komprimierter Form tritt die Krise der Identität, wie Heiner Keupp 6, der sich zeitlebens mit der Identitätsfrage beschäftigte, darlegt, auf der Ebene der Teilidentitäten der Menschen auf. Etwa bei Fragen über die geschlechtliche Identität nimmt die Intensität der Fragestellung heutzutage deutlich zu. Teilidentitäten begegnen wir auch rund um Fragen nach Arbeit und Beruf. Nach wie vor identifizieren sich die Menschen mit dem, was sie beruflich tun. Teilidentitäten und damit Kreuzungspunkte von Identität begegnen uns auch in der Freizeitgestaltung, im Verhältnis zu Politik sowie in den (Lebens-)Projekten und schließlich und endlich in allem, was den Körper betrifft. Keupp zufolge muss der Körper als Ausdrucksmittel und Aktant von Identität somit im Verbund mit anderen verstanden werden. Gerade in seiner Doppelrolle muss er als ein zentrales Element zur Entstehung und Bildung von Teilidentitäten betrachtet werden. Aus diesem Grund steht die Krise der Identität in einem engen Zusammenhang mit dem Körperverständnis. Dass Körper und Identität eng aufeinander bezogen sind, war zu allen Zeiten der Fall. Alle Kulturen und Gesellschaften haben beide in ein festgelegtes Verhältnis gestellt. Der Körper, der in allen Kulturen und zu allen Zeiten als Ausdruck des jeweiligen Denkens und Fühlens galt, musste dementsprechend diszipliniert werden, um ihn auf diese Weise einem größeren Ganzen unterstellen zu können. Die Moderne, die sich von ihrem Selbstverständnis her in Absetzungen und als Gegensatz zur der Tradition verhafteten Vormoderne verstand, musste sich in einem Prozess der Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber den Unterdrückungsmechanismen der Masse entfalten. Von ihrem inneren Kern her ist sie zielorientiert und fortschrittsoptimistisch; sie stellt den Einzelnen zunehmend ins Zentrum seiner Identitätsbildung und unterstellt diesen Prozess weitestgehend seinem Willen. Identität entsteht dort, wo du es willst. Zu diesem Prozess gehört naturgemäß auch der Körper, der sich gleichwohl nach wie vor als »eingebettet« in die genannte Zielorientierung versteht. Er ist Teil dieses großen Emanzipationsprozesses, der voraussetzt, dass der Köper funktioniert und dass mithin Gesundheit und möglichst langes und intensives Erleben möglich sind.
6
Vgl. ebd.
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Die Krise der Identität und das Körperverständnis der Postmoderne
Mit dem Begriff Postmoderne ist angezeigt, dass die Moderne längst noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Sie hat im wahrsten Sinne des Wortes ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Die Postmoderne entlarvt jedoch die Mythen und Denkweisen der Moderne als Utopien und erkennt in ihnen immer wiederkehrende Muster. In den Gegensätzen, die sich in den extremen Haltungen und Positionierungen in der Moderne entfalten, erkennt sie Ziele und neue interessante Verbindungen und überlässt die letzte Überwindung der Gegensätze der Kontingenz des Lebens. Übrig bleibt ein Denken und Fühlen im Fragment. Der Körper ist nun nicht mehr »eingebettet«. Bedeutung erhält er nicht aufgrund seiner Sozialität; unter den Bedingungen der Postmoderne begründet er sich aus sich selbst. Er zählt um seiner selbst willen; er wird wesentlich bestimmt durch seine Außendarstellung, die wesentliche Fragmente eines Menschen zur Darstellung bringt. Der Körper ist hier weniger ein Beziehungsmedium, mit dem ich in Kommunikation und Austausch mit den Mitmenschen trete, als eine von mir bewusst gestaltete Außenfläche, mittels derer ich meine Selbstdarstellung realisiere. Als Körperkult bezeichnen zahlreiche Sozialwissenschaftler die neue Hochschätzung des Körpers, der wir unter unterschiedlichsten Facetten begegnen. Schöne und gestylte Körper werden verehrt, erfahren Wertschätzung, werden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und zur Nachahmung dargeboten. Viele der Heroen des Körperkults betrachten ihren Körper als eine modellierbare Masse, mittels derer jeder sich den jeweiligen Idealen annähern kann. Wie jeder Kult verlangen auch der postmoderne Körperkult und seine Heroen nicht nur Verehrung; er verlangt auch Opfer. Opfer in vielfacher Hinsicht müssen dem postmodernen Körper dargebracht werden, ob in Form von Geld, von Askese, Diät oder im schlechtesten Fall durch die Inkaufnahme von Krankheiten. Die Opfer, die der neue Körperkult verlangt, sind erheblich und zeigen auf, welch zerstörerisches Potenzial die nicht eingebetteten Körper in sich tragen. Von einer Krise der Identitäten im postmodernen Kontext zu sprechen, scheint uns am Beispiel des Körperverständnisses deshalb in besonderer Weise gerechtfertigt. Um die Ambivalenzen und die damit verbundenen Potenziale besser zu verstehen, lohnt ein Blick auf die psychoanalytische Theoriebildung, so wie sie der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan vorgelegt hat. Seines Erachtens lebt der Mensch in drei verschie135 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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denen Ordnungen. Diese Ordnungen sind zunächst getrennt voneinander zu verstehen, sie verbinden sich jedoch in ihren jeweiligen Teilmengen. Auch unser Körper ist in den unterschiedlichen Ordnungen präsent. Auf der Ebene des Imaginären, das wesentlich aus unseren Selbstbildern bestimmt wird, sind wir Bildern ausgesetzt, die uns oftmals täuschen, denn sie liefern uns einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Die imaginäre Ordnung entsteht in unserer frühen Kindheit, während des Spiegelstadiums, zwischen dem 9. und 18. Monat. Hier entdeckt das Kind sich im Spiegel und begleitet von Glücksgefühlen und Allmachtsfantasien erlebt es sich das erste Mal in seiner körperlichen Ganzheit, die mehr verspricht, als sie in Wahrheit kann. Trotz dieser Täuschung, die den ersten Bildern von uns selbst innewohnt, brauchen Menschen Bilder – auch von sich – als Grundlage ihrer Identitätsentwürfe. Mit unseren Selbstbildern – und dazu gehört in besonderer Weise auch unser Körper-Bild – treten wir in Beziehung zu anderen Menschen, die ihrerseits ein Selbstbild mit sich tragen und sich angesichts dessen ein Bild von uns machen. Bilder treffen auf Bilder. Lacan zufolge trifft hier ein »Verkennen« auf ein weiteres »Verkennen«. Immer wieder müssen wir uns deshalb von alten Bildern und entsprechenden imaginären Festlegungen trennen und neue entstehen lassen. Ohne das Bild, das wir uns von uns und unseren Körpern gemacht haben und das uns anhand zahlreicher gesellschaftlicher Spiegelungen entgegentritt, ist keine Identitätsbildung möglich. Auf der Ebene der zweiten Ordnung, der symbolischen Ebene, der Ebene unserer Sprache, wird der Körper in Beziehung zur Sprache gesetzt. Lacan 7 bezeichnet den Menschen als »parlêtre« und beschreibt ihn damit als ein »Sprachwesen«, als eine Verkörperung von Sprache. Sprache als das Symbolsystem, in das der Körper im wahrsten Sinne des Wortes eingetaucht wird. Sprache ist jedoch immer mehr als nur die gesprochene Sprache: Das »Sprachwesen« kommuniziert und symbolisiert auch mit seiner Körpersprache, mit deren symbolischer Bedeutung wir uns angesichts einer überflutenden Bilderwelt und ihrer imaginären Übermacht in postmodernen Kontexten äußerst schwertun. Körpersprache wird kaum noch verstanden und entsprechend aufgenommen. Körperkult überwuchert die Körpersprache. Vgl. Lacan, Jacques, Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, hg. v. Jacques-Alain Miller, Paris 2014.
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Die Krise der Identität und das Körperverständnis der Postmoderne
In der dritten Ordnung, der Ordnung des Realen, besitzt der Körper eine unaussagbare Dimension. Jenseits der Sprache und jenseits der Bilder tritt uns durch unseren Körper eine unvermittelte Wirklichkeit entgegen, die die Lebensphänomenologische Philosophie zu Recht als ein allem vorausgehendes Affiziertsein 8 bezeichnet hat. Über die nicht symbolisierbare Physis, die uns unter anderem in starken Schmerzen oder in traumatischen Momenten begegnet, sind wir mit der Welt an sich und mit dem, was Lacan als das Reale bezeichnet, verbunden. Hier sind wir gleichsam unvermittelt mit der physischen Innenseite unserer Existenz verbunden. Diesem Realen, das eng mit unseren Ängsten verbunden ist, schenkt die Postmoderne in medial bestimmten Bilderwelten immer mehr Aufmerksamkeit. Die vom Ursprung her nicht symbolisierbare Innenseite des Menschen weckt seit jeher Neugierde. In zahlreichen Gewaltexzessen und pornographischen Inszenierungen, die große Teile des Internets bestimmen, wird das Reale des menschlichen Körpers inszeniert. Beziehen wir die Lacan’schen Ordnungen nochmals auf das Körperverständnis der Postmoderne, so zeigt sich, dass in den letzten Jahrzehnten der Körper vor allem auf der imaginären Ebene in unseren Gesellschaften zum Ausdruck gebracht wurde. Der Körper als das Basismedium unserer Weltbegegnung ist vor allem ein Bild. Seit einigen Jahren, vor allem im Zuge der Entwicklung des Internets, gewinnt die Ebene des Realen in Bezug auf den Körper an Bedeutung. Durch die genannten Entwicklungen fällt der Körper auf der symbolischen Ebene unter der Dominanz der beiden anderen genannten Ebenen eher zurück. Aus diesem Grund fällt es zunehmend schwer, den Körper zu symbolisieren und ihm eine eigene Sprache zu geben. Dies wiederum hat auch damit zu tun, dass den Symbolisierungsversuchen im Kontext der Postmoderne die dritte Dimension, das, worauf sich das zu Symbolisierende in letzter Konsequenz bezieht, fehlt. Symbolisieren geschieht zwischen einem Ich und einem Du und es bezieht sich auf etwas Drittes. Durch den Wegfall der Metaerzählungen fällt das, was Lacan als den »Großen Anderen« und als »Schatztruhe der Signifikanten« bezeichnete, weitestgehend weg.
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Vgl. Henry, Michel, Phénoménologie de la vie, Vol. 5, Paris 2015.
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3.
Die symbolische Dimension des Körpers nach Dany-Robert Dufour
Auf die Probleme, die sich aufgrund einer angeschlagenen symbolischen Ebene im postmodernen Kontext ergeben, macht der französische Erziehungswissenschaftler und Philosoph Dany-Robert Dufour in zahlreichen Werken aufmerksam. Dabei stellt er heraus, dass der Große Andere, der als Garant des Symbolischen steht, weggefallen ist. Der Große Andere steht stellvertretend für die dritte Dimension: Er steht zwischen ich und du und damit für das, worauf sich alle Symbolisierungsversuche beziehen. Ein Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt, dass sich in vergangenen Kulturen alle symbolischen Ausdrucksformen und Handlungen in letzter Hinsicht auf einen Gott oder ein letztes großes Prinzip richteten. Wie sich am Beispiel der Physis bei den Griechen, der auch die Götter unterstellt waren, zeigen ließe, unterstehen alle Kulturleistungen einem höchsten Prinzip. Götter und Gottheiten, Kaiser und Könige haben dieses Prinzip repräsentiert. In den monotheistischen Religionen war Gott dieser letzte Verweis, dem alles kulturelle Schaffen untergeordnet wurde. In monarchischen Regierungsformen war es der König, der durch seine symbolische Präsenz überall in seinem Einflussbereich die symbolischen Haltungen stabilisierte und inspirierte. Später waren es das Volk, das Proletariat oder die Rasse, die als Vertreter des alles überragenden Großen Anderen fungierten. In heutigen Gesellschaften sind diese Formen eines Großen Anderen verschwunden. Sie haben ihre Faszination verloren und sind vielfach verblichen. Damit hat der Mensch als homo symbolicus jedoch den Rahmen seiner Symbolisierungen aufgehoben. Als anatomischer Sonderfall der Natur, als Geistwesen, das anders in Raum und Zeit lebt, wie Dany-Robert Dufour nachdrücklich darlegt, lebt der Mensch wesensbedingt in einer zweiten Natur, die sich deutlich von der ersten Natur, die ihn an seine Instinktwelt bindet, unterscheidet. Die zweite Natur des Menschen besteht aus Fiktionen, aus Narrationen und einer Sprache, die ihrerseits wiederum den Menschen einer Grammatik unterstellt. Ohne diese zweite Natur kann das Geistwesen Mensch nicht leben. Er ist auf Gedeih und Verderb auf sie verwiesen. In das geistige Vakuum, das die fehlende dritte Dimension in postmodernen Gesellschaften hinterlassen hat, hat sich eine Reihe 138 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Die Krise der Identität und das Körperverständnis der Postmoderne
von neuen Ideologien eingenistet, die gleichsam als geheime Antreiber den Umgang mit dem Körper nachhaltig prägen. Diese neuen Antreiber sind in der Regel marktkonform und unterstützen das, was einige französische Soziologen als »pensée unique« bezeichnen. Dabei handelt es sich zwar um ein gesellschaftlich weitverbreitetes Denkmuster, um ein Einheitsdenken, das allerdings nicht wie die einstigen Inszenierungen und Verbildlichungen des Großen Anderen eine sichtbare bzw. repräsentierte Form hat. Der Große Andere des Marktes ist unsichtbar. Die »pensée unique«, das allumfassende Denken, die Markt-Ideologie, die – wie Adam Smith dies bereits darstellte – nach den Prinzipien der »unsichtbaren Hand« funktioniert und in geradezu magischer Weise alle Elemente der unterschiedlichsten Interessen zusammenführt, hat kein sichtbares Zentralsymbol. Aber die Markt-Ideologie hat wirkmächtige Antreiber. Leistungsfähigkeit ist unter den genannten Bedingungen dieses »Einheitsdenkens« einer der mächtigsten Antreiber. Nach dem Vorbild des Sports müssen die Körper der Alltagsmenschen in allen Bereichen ihres Lebens und zu jeder Zeit die von ihnen geforderte Leistung erbringen. Fitnessstudios sowie Meditations- und Konzentrationsübungen steigern diese Leistungsfähigkeit und ein immenses Warenangebot mit entsprechenden Produkten, die zur Einnahme und Unterstützung bereitstehen, dienen der Steigerung der Leistungsfähigkeit. Krankheit und Schwäche in all ihren Dimensionen werden möglichst ausgeklammert und wenn möglich bereits im Keim erstickt. Dieser neue Leistungswahn, der alle Bereiche postmoderner Gesellschaften zunehmend durchzieht, findet seinen Ausdruck, wie empirische Studien immer wieder nachweisen, in besonderer Weise im Umgang mit dem Körper. Folgt man der Werbung, so ist der Körper im Kern nichts anderes als eine zu optimierende Konsumware. Eng verbunden mit diesem Antreiber gibt es einen weiteren: Effizient muss der Umgang mit dem Körper sein und er muss direkt durch seine Wirkungen überzeugen. Effizienz geht hier einher mit der neuen alles umfassenden Beschleunigungslogik, die auch dem Umgang mit dem Körper wenig Muße und Augenblicke der Konzentration auf sich selbst erlaubt. Effizienz geht einher mit Kontrolle. Wie noch zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte haben die Menschen sich mit Kontrollmechanismen umstellt, die die Effizienz unter anderem der Arbeit und darüber hinaus bis hin zum Freizeitverhalten kontrollieren, begleiten, erforschen und im vermeintlichen Dienst der Effizienz erhöhen. 139 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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Damit ist bereits der dritte Antreiber, die Perfektion, zumindest andeutungsweise erwähnt. Körper müssen, wie in zahllosen Zeitschriften und Internetforen dargestellt, perfekt sein. Sie müssen damit einer Norm entsprechen, von der keiner weiß, wer sie in die Welt gesetzt hat. Menschen müssen ihr zufolge groß und schlank und immer jung sein, wie programmierte Geräte. Sie sollten möglichst berechenbar sein und immerzu funktionieren. Für Makel sowie für viele kleine und größere Fehler bleibt in diesem Kontext kein Platz. Für die kleinen Fehler gibt es das genannte Repertoire an Produkten und Schönheitsoperationen, die die gewünschte Makellosigkeit herstellen. Die große psychische Kraft, die diese Antreiber entwickeln, besteht darin, dass sie nicht wie ehemals von irgendeiner identifizierbaren Instanz ausgehen, der man sich kritisch verweigern kann, sondern von unsichtbaren Sendern, die die vermeintliche »Gesellschaft an sich« repräsentieren. Diese unsichtbaren Sender setzen sich im Über-Ich der Menschen fest, so dass sie gleichsam unbemerkt verinnerlicht werden und fälschlicherweise als eigene Antreiber verstanden werden. Durch diese unbewusste Verinnerlichung fällt es dem Einzelnen schwer, die notwendige kritische Distanz zu den Antreibern zu entwickeln. Diese Über-Ich-Identifikationen haben vielfach verheerende Auswirkungen, denen sich der Einzelne kaum zur Wehr setzen kann. In postmodernen und digitalisierten Zeiten wird der menschliche Körper weiterhin zunehmend zu einem Inszenierungsobjekt, das seine Bedeutung als Basismedium der Weltbegegnung verliert. Als Referenzpunkt der Identitätsbildung wird er – wie erwähnt – durch die zahlreichen wirkmächtigen Antreiber überfordert, da er den vielfältigen Ansprüchen, die an ihn gestellt werden, nicht gerecht werden kann. Depressionen, Desillusionierung und eine versteckte pessimistische Grundhaltung charakterisieren deshalb, wie Michel Maffesoli 9 dargestellt hat, die Grundhaltung zahlreicher postmoderner Mitmenschen. Identität und der damit verbundene Körper werden ohne eine dritte Dimension zur Herkulesaufgabe, an der viele Menschen scheitern. Zahlreiche psychische und psychosomatische Krankheiten sowie eine Vielzahl unterschiedlichster Suchtkrankheiten belegen diesen Zusammenhang. Vgl. Maffesoli, Michel, L’instant éternel. Le retour du tragique dans les sociétés postmodernes, Paris 22003.
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Die Krise der Identität und das Körperverständnis der Postmoderne
Nichtsdestotrotz schaffen es zahlreiche Menschen auch in postmodernen Zeiten, den Fängen der genannten Antreiber zu entgehen und trotz oftmals widriger gesellschaftlicher Umstände ein ausgeglichenes Verhältnis zu ihrem Körper zu entwickeln. Das allerdings setzt zunehmend bestimmte Formen von Lebenskunst voraus. Lebenskunst und die Arbeit an der eigenen Identität werden auf diesem Weg zu den mächtigsten Aufgaben, denen sich Menschen stellen müssen. Klar ist auch, dass es kein Zurück zu dem einen Großen Anderen gibt, der einst Gesellschaften und Kulturen zusammenhielt und die entsprechenden Identitätsaufgaben rahmte. Mit den Identitätsfragmenten, die postmoderne Gesellschaften den Menschen bieten, umzugehen, ist deshalb das Gebot der Stunde. Und genau in diesem Zusammenhang könnte uns die Bibel, die mit Blick auf die postmodernen Identitäts- und Körpervorstellungen einen fast entgegengesetzten Weg aufzeigt, von großer Hilfe sein. Sie erlaubt es nicht nur, auf Distanz zu den gesellschaftlichen Antreibern und Dogmen zu gehen, sondern sie zeigt uns auch einen Menschen, der seine Identität im Wesentlichen nicht aus sich selbst heraus entwickeln muss, sondern dem diese geschenkt wird. Sie beschreibt den Menschen als verkörpertes Leben. Durch den Hauch Gottes, ruach, erhält er gleichsam von anderswo sein Lebenselixier. In den geschenkten Körper fährt der göttliche Lebensatem und entfaltet seine eigentliche Dynamik. Biblisch gesprochen ist der Mensch eine verkörperte näfäsch, inkorporierter Geist Gottes. Diese durchdringende Lebensenergie verweist den Menschen auf seine Mitmenschen. Der Körper wird so fundamental zu einem Beziehungsobjekt. Er ist nicht statisch und auf sich gestellt. Von seinem inneren Wesen her ist er auf den anderen, den Mitmenschen ausgerichtet, weil er von einer anderen Dynamik her bestimmt wird. Gerade durch seine fundamentale Unterschiedlichkeit könnte das biblische Körperverständnis gegenüber dem skizzierten postmodernen Körperverständnis neue interessante und emanzipative Perspektiven aufzeigen.
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Leiblichkeit und Performanz in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts Marco A. Sorace
Wer über »Leiblichkeit und Performanz« in der Gegenwartskunst im Kontext einer christlich inspirierten »Spiritualität der Wahrnehmung« spricht, könnte der Auffassung sein, man dichte hier einer bestimmten Entwicklung in der Bildenden Kunst eine Spiritualität und Erlösungsfunktion an, welche sie ursprünglich nicht hat und in wesentlicher Unterscheidung vom christlich-religiösen Gottesglauben auch gar nicht haben kann. 1 Der nachfolgende Beitrag versucht dagegen zu zeigen, aus welchen wahrnehmungsbezogenen und gleichzeitig wahrnehmungskritischen Fragestellungen des Christentums die abendländische Kunstauf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit überhaupt erst entstand 2 und warum eine solche Kunst – auch hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, erlösend zu wirken – nicht trennscharf von ihren religiösen Ursprüngen unterschieden werden kann. Die in der heutigen Kunst vor allem in der Performance nochmals verstärkte Betonung der Leiblichkeit kann – ohne jede Abgrenzung aus Angst vor einem vermeintlichen »Beliebigkeitsmystizismus« 3 – als die große Herausforderung zur spätmodernen Wiederentdeckung der leiblichen Identität des Menschen aufgefasst werden. In dieser Hinsicht wäre Kunst auch offen für einen Glauben an einen inkarnierten, leibgewordenen Gott.
Vgl. Vasseur Clara / Bündgens, Johannes, Spiritualität der Wahrnehmung. Einführung und Einübung, Freiburg/München 2015, 229. 2 Vgl. dazu auch Sorace, Marco A., Bild des Unsichtbaren. Eine kleine Geschichte der christlichen Bildkritik, in: Blanz, Stefan u. a. (Hg.), Beuroner Forum. Edition 2010, Münster 2010, 108–120. 3 Vgl. dagegen Rauterberg, Hanno, Aura der Ruinen, in: Die Zeit Nr. 29, 20. 9. 2009, 53; zit. nach Vasseur/Bündgens, Spiritualität der Wahrnehmung. 1
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Leiblichkeit und Performanz in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts
Bild- und kunstgeschichtliche Hinführung Was in der Kürze hier auch nicht ansatzweise eingeholt werden kann, ist die Darstellung einer Geschichte des Bildverständnisses im Christentum »vor dem Zeitalter der Kunst« 4. Es seien aber zumindest einige Perspektiven angezeigt, die sich aus Forschungsbeiträgen ergeben, welche anderswo bereits in ausführlicher Form vorliegen. 5 Dass sich das Christentum gegenüber einem spätantik-römischen Ästhetizismus in seinen Anfängen und zum Teil noch weit in das erste Jahrtausend hinein vor allem bildkritisch zu Wort gemeldet hat, ist nicht zu übersehen. Der eigentlich ikonoklastische Impuls gründet dabei jedoch in der Absicht, jenem spätantik-römischen, als dekadent empfundenen Umgang mit dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung eine andere Haltung entgegenzusetzen. 6 Diese ließe sich umschreiben als eine »Phänomenologie«, die gegen eine einseitige Reduktion auf ein sichtbar-objektives Erscheinen in der Welt die Erscheinung eines gottgegebenen, als solchem unsichtbaren Lebens als ursprünglich annimmt. Folglich hat der Bilderstreit in der christlichen Spätantike und im Mittelalter letztlich nicht zu einem grundsätzlichen Verbot von Bildern geführt, sondern lediglich zu einer kritischen Einstellung zur »Idolatrie«, das heißt zu einer ablehnenden Kritik (der Verehrung) solcher Bilder, welche die undarstellbare Größe des schöpferischen Lebens auf Darstellungen eines äußerlich sichtbaren Ausschnitts (auf Idole) seiner Offenbarung reduzieren wollen. Dies ist – in aller Kürze und zugespitzt – die Kritik des traditionellen christlichen Ikonoklasmus. Was die Kunst der Neuzeit betrifft, kann man vor diesem Hintergrund sagen, dass diese in der Regel dem Prinzip eines »internen Ikonoklasmus« 7 folgt. Das bedeutet, dass neuzeitliche Künstler die ikonoklastische Kritik insofern internalisieren, als sie sich diese als Ich übernehme diese Formulierung und die damit einhergehende saubere Unterscheidung von Bild- und Kunstgeschichte von Belting, Hans, Bild und Kult. Über eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1991. 5 Vgl. etwa angeführte Sekundärliteratur in: Sorace, Marco A., Avantgarde nach ihrem Ende. Von der Transformation der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur theologischen Kunstkritik, Freiburg/München 2007, 94–117 (2. Das christliche Bild). 6 Vgl. ebd., 101. 7 Diesen treffenden Ausdruck entnehme ich aus: Boehm, Gottfried, Ikonoklastik und Transzendenz, in: Schmied, Wieland (Hg.), Gegenwart/Ewigkeit. Spuren der Transzendenz in der Kunst unserer Zeit, Stuttgart 1990, 27–34, hier 27. 4
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Marco A. Sorace
ein festes Gestaltungsprinzip ihrer eigenen Werke aneignen. Oder anders gesagt: Jedes große Kunstwerk erhält von nun an in seiner Gestalt mehr oder weniger hervorstechende Merkmale, welche auf seine unsichtbare Dimension verweisen. Als Beispiel dafür sei hier der Bildhauer Giovanni Lorenzo Bernini (1598–1680) gewählt. In den Augen vieler könnten gerade seine Skulpturen als Exzesse visueller Sinnlichkeit wiederum in der Gefahr stehen, eine neue Idolatrie zu begründen. Betrachtet man aber eingehend solche Werke wie etwa die »Ekstase der heiligen Teresa von Ávila« in der römischen Kirche Santa Maria della Vittoria oder das »Sterben der seligen Ludovica degli Albertoni« in der ebenfalls römischen Kirche San Francesco a Ripa, wird man unschwer erkennen können, dass das zuvorderst in den Blick fallende übertriebene Faltenspiel an der Oberfläche der Gewänder korrespondiert mit einem für das Auge unsichtbaren Ursprung all dieser Bewegungen. 8 Die vom Betrachter aktuell vollzogene leiblich-sinnliche Wahrnehmung wird im Bild in eine Spannung gebracht zu ihrem nicht sichtbaren Lebendigkeitsgrund – in den beiden Beispielen Berninis bemerkenswerterweise im Kontext einer mystisch-erotischen Erfahrung 9. Genau diese Spannung ist für die Kunst spätestens seit der Neuzeit sozusagen eine conditio sine qua non geworden. Man könnte sie – wozu hier aber nicht der Ort ist – in einem Durchgang bedeutender Werke bis zum Ende der Moderne ohne weiteres aufweisen.
Zur Frage der Identitätsbildung Die Kunst in der Zeit der Spät- oder Postmoderne scheint auf den ersten Blick die aktuelle Identitätsproblematik der Menschen, ihre Schwierigkeit, das, was ihre Identität ausmacht, gegenwärtig auszubilden, lediglich zu spiegeln. Ob angesichts der scheinbar zusamVgl. die in diesem Punkt überaus treffende Beschreibung in: Deleuze, Gilles, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a. M. 2000 (frz. 1988), bes. 198 (mit Bezug auf Berninis Teresa-Skulptur). 9 Der erotische Bezug bei Bernini ist jedoch leicht missverständlich, wenn damit lediglich das Begehren gemeint ist, welches angesichts der Sichtbarkeit eines fremden Körpers aufkommt. Gerade darum geht es Bernini nicht. Vgl. zur Klärung: Henry, Michel, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München 2002 (frz. 2000), 329 ff. (zum »erotischen Verhältnis« in Bezug auf Lebens- und Welterscheinen). 8
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Leiblichkeit und Performanz in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts
menhanglos collagierten Bildthemen in der »Neuen Leipziger Schule« oder der rasend schnellen Bildschnitte, wie wir sie in der gegenwärtigen Videokunst oft erleben: überall ist der Betrachter regelrecht überfordert, das Gesehene noch zum Gegenstand einer identischen Erfahrung werden zu lassen. Tatsächlich bestimmt aber die identitätsstiftende Erfahrung einer (selbst-)affektiven Lebendigkeit als »Kreativität« das Grundverständnis künstlerischen Schaffens auch dort noch, wo Künstler etwa die heutige hyperdifferenzielle Medienwelt selbst zum Thema machen. Man wird also sehr genau hinsehen müssen, mit welcher Absicht die Künstler die angezeigten Phänomene ins Bild bringen oder auch nur, mit welcher Wirkung sie es tun, wenn sie diese in der Tradition der Kunst zur Sprache bringen. 10 Wichtig ist dabei – im Gespräch mit der Religion –, dass gerade die Kunst als kreative Praxis nicht nur eine Identität mit dem Eigenleib bildet, sondern immer auch eine Identität des »absoluten Lebens« mit dem »Ursprungsleib«. 11 Das heißt, in der Kunsterfahrung machen wir uns auch stets mit allen Lebendigen gemein, welche im selben Leben offenbar geworden sind. Wenn wir das Undarstellbare dieses Grundes künstlerischer Erfahrung mit dem paulinischen Begriff des »Mystischen Leibes (Christi)« bezeichnen, nimmt das einen Wesenszug der Kunst selbst ernst und ist keineswegs ein »Beliebigkeitsmystizismus«. In der Modernen Kunst hat das insbesondere die sogenannte Avantgarde zeigen können, indem diese programmatisch versuchte, das sichtbare Kunstwerk auf das absolute Leben hin zu weiten. 12 Am überzeugendsten geschah dies vielleicht sogar noch in der Aktionskunst des 20. Jahrhunderts.
Zu dieser Spannung von Postmoderne und (moderner) Kunst vgl. auch Kühn, Rolf, Ästhetische Existenz heute. Zum Verhältnis von Leben und Kunst, Freiburg/München 2007, sowie Sorace, Marco A., Das Minimum im Maximum. Rolf Kühns »Elementarästhetik« im Kontext gegenwärtiger Kunsttheorie, in: Kattelmann, Sophia / Knöpker, Sebastian (Hg.), Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn. Freiburg/München 2012, 168–181. 11 Vgl. dazu insbes. auch Kühn, Rolf, Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, Freiburg/München 1992, 272 f. 12 Vgl. hier auch den Gesamtentwurf in: Sorace, Avantgarde nach ihrem Ende. 10
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Marco A. Sorace
Der Leib in der Aktionskunst Die bild- und kunstgeschichtliche Hinführung sollte zeigen, dass im 20. und 21. Jahrhundert das Beachten des bewegten Leibes, die leibliche Wahrnehmung einschließlich der Frage nach dem Offenbarungsgrund dieser Leiblichkeit, keineswegs einen völlig neuartigen Aspekt in der Kunst darstellte und darstellt. Vielmehr ist es so, dass der lebendige und bewegte Leib von Anfang an im Fokus dessen war, was wir auch heute noch Kunst nennen. Man könnte nun sicher auch in dieser Hinsicht mit einigem Gewinn angefangen von den frühen avantgardistischen Aktionen, wie sie etwa in dadaistischen Kreisen ab 1916 stattfanden, über die Fluxusund Happening-Bewegung der 1960er Jahre bis hin zur gegenwärtigen Aktionskunst einen sehr spannenden Überblick der performativen Bildenden Kunst liefern. Dagegen soll allerdings im Folgenden angesichts nur einer einzigen Aktion von Joseph Beuys (1921–1986) aus dem Jahr 1966, »Manresa«, deutlich gemacht werden, welchen phänomenologischen Fragestellungen die Aktionskunst – auch und gerade noch aktuell zu Beginn des 21. Jahrhunderts – in aller Regel folgt. 13 Die sehr komplexe Beuys’sche Aktion nahm einerseits Bezug – wie der Titel nahelegt – auf jene Lebenskrise des Ignatius von Loyola, die sich 1522 in der nordspanischen Stadt Manresa ereignete (jedoch ohne hier einfach geschichtliche Momente abzubilden). 14 Andererseits verarbeitete Beuys am 15. Dezember 1966 in der Düsseldorfer Galerie Schmela nochmals künstlerisch auch eine eigene, zu diesem Zeitpunkt etwa zwölf Jahre zurückliegende tiefe Lebenskrise, die in ihm – so sein Biograph Heiner Stachelhaus – bis an die Grenze von Suizidabsichten einen Zweifel an all seinen schöpferisch-lebendigen Vermögen aufkommen ließ. 15 Dieser Zustand wird in der Aktion durch ein »Element 1« symbolisiert, ein an der Wand angebrachtes halbiertes Filzkreuz, das überlebensgroß einen fragmentierten MenDiese Fragestellungen wurden im Ansatz bereits ausgeführt in: Sorace, Marco A., »Leibschöpferische Kräfte« – Joseph Beuys’ Weitung des Kunstbegriffs als Beitrag zu einer Lebensethik heute, in: psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 4 (2009), 222–233. 14 Dieser Zusammenhang ist hervorragend beschrieben in: Mennekes, Friedhelm, Joseph Beuys – Manresa. Eine Aktion als geistliche Übung zu Ignatius von Loyola, Frankfurt a. M. 1992, 25–35. 15 Vgl. Stachelhaus, Heiner, Joseph Beuys, München 31991, 63–70. 13
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Leiblichkeit und Performanz in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts
schen repräsentiert. 16 Seine fehlende Hälfte wird vom Künstler mit einer Kreidelinie an der Wand ebenfalls markiert und mit einem »n« als etwas noch zu suchendes markiert. Mit unterschiedlichen Gegenständen einer als »Element 2« beschriebenen Werkzeugkiste – von energiespendenden Geräten bis zu einer auf einem Teller befestigten Christusfigur mit beiliegendem Keks – beginnt Beuys, die fehlende Kreuzhälfte zu aktivieren. Dabei ruft er in Abständen durch ein Megaphon die Frage aus: »Wo ist Element 3?« Daneben gab es zwei weitere Handlungsstränge. Zunächst einen akustischen, der von dem damals ebenfalls durchaus bekannten dänischen Aktionskünstler und Komponisten Henning Christiansen gestaltet wurde. Darin ruft dieser unter anderem immer wieder aus »(ich) kann nicht – kann kann nicht, kann kann kann nicht« in einer derartigen Steigerung, bis auf dem Höhepunkt die Verbalform ›kann‹ zu einem einfachen »(ich) kann« umschlägt. Dies bildet gewissermaßen den Hintergrund für einen dritten Handlungsstrang, in dem ein weiterer dänischer Aktionskünstler, der damals erst 19 Jahre alte Bjørn Nøgaard, mit seinen Füßen mehr oder minder angestrengt in einer Metallwanne mit unterschiedlich widerständigem Material (Laugenwasser, Gips, Lehm, feine Glasscherben) stampft. Dieser in der Raumanordnung in der Galerie Schmela sicher eher unspektakuläre Handlungsstrang ist bei den meisten bisherigen Beschreibungen und Deutungen der gesamten Aktion größtenteils vernachlässigt worden. Völlig zu Unrecht – denn hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis der gesamten Aktion 17 und meines Erachtens auch zum Thema der Performanz in der Kunst insgesamt. Was hier nämlich in bewusster Parallelität zu den in ihrer kulturgeschichtlichen Symbolik sehr aufgeladenen Handlungen von Beuys betont wird, ist die ganz einfache Vergewisserung eines ursprünglichen Vermögens 18, Vgl. hierzu und zu den folgenden Beschreibungen die ausführliche Darstellung in: Schneede, Uwe M., Joseph Beuys. Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Ostfildern-Ruit 1994, 151–153. 17 Dafür spricht auch, dass Beuys den Part von Nøgaard, den er in ähnlicher Form wenige Monate zuvor in einer Kopenhagener Aktion gesehen hatte, mit besonderem Engagement vorbereitet hat. Vgl. dazu Schneede, Joseph Beuys. Die Aktionen. 18 Wir berühren hier einen Punkt, den Michel Henry und im Anschluss daran Rolf Kühn unter dem Neologismus »Passibilität« in hervorragender Weise ausgeführt haben. Es geht also um ein Vermögen (eine »Possibilität«), das sich aber zunächst als Gabe empfängt (eine »Passion«). In Bezug auf die Aktion »Manresa« vgl. nochmals Sorace, »Leibschöpferische Kräfte«, 224 ff. Weiterführend zu den hier insbes. an16
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ohne welches jede komplexere Kunst – nehmen wir hier ruhig nochmals als Beispiel die erhaben schönen Skulpturen Berninis – unverständlich bleibt. Darin liegt offenkundig die Bedeutung der Leiblichkeit und Performanz in der Kunst – aber nicht nur dort, sondern etwa auch in Bezug auf scheinbar nicht einfach zu erschließende große literarische Texte –, dass sie das mit leibschöpferischer Kraft begabte Wahrnehmungssubjekt immer wieder an jenen Punkt zurückbinden, an welchem dieses staunend-dankbar erfährt: »Ich kann« – ich kann dieses Bild, diesen Text schaffen, verstehen, fortschreiben und so weiter.
Herausforderung und Ausblick Das Ausgeführte sollte zeigen, dass die Abgrenzung von Leibarbeit in der Kunst einerseits und Leibarbeit in der christlichen Glaubensvermittlung andererseits – auch dort, wo diese aus gewissen geschichtlichen Konstellationen durchaus noch nachvollziehbar ist 19 – wenig fruchtbar wirkt. Es sollte – vor allem auch die Vertreter des im vorliegenden Tagungsband diskutierten Ansatzes im Anschluss an Marcel Jousse – ermutigen und herausfordern, diese Traditionen wieder stärker im Zusammenhang zu sehen. Denn wenn wir – was zu hoffen ist – uns die Offenbarung des »Fleischgewordenen Wortes« (Joh 1,14) zukünftig wieder »fleischlich«, das heißt über unseren lebendigen Leib erschließen, dann geschieht das in einer Tradition, die im Abendland vor allem in der Kunst lebendig gehalten und entwickelt wurde. Vielleicht wäre gerade eine künstlerisch-ästhetisch fundierte Religiosität nicht nur in der Lage, unsere eigene religiöse Identität gegenwärtig zu bestärken, sondern auch ein Tor zur Verständigung unter den Religionen und Kulturen zu eröffnen. 20
stehenden Fragen der Subjektivität und Leiblichkeit ist v. a.: Kühn, Rolf, Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie, Hildesheim u. a. 2006. 19 Vgl. dazu auch Stock, Alex, Zwischen Tempel und Museum. Theologische Kunstkritik – Positionen der Moderne. Paderborn u. a. 1991, bes. 21–45 (Die Gefahren der Moderne – Ein Jahrhundert jesuitischer Kunstkritik). – Das Kapitel bespricht zwar den Horizont der deutschen Jesuiten, kann aber in dieser Beziehung annähernd auch für die französischen Jesuiten gelten. 20 Man beachte diesbezüglich v. a. auch, wie derzeit Navid Kermani das Ästhetische in das interreligiöse Gespräch praktisch einbringt, z. B. in: Ders., Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015.
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Gottes Wort im Menschenleib – wie heute geistliche Identität stiften, bewahren und tradieren? Die Wiederentdeckung und Wiederbelebung der Oraltradition nach Marcel Jousse SJ (1886–1961) Clara Elisabeth Vasseur Marcel Jousse, Anthropologe, Ethnologe und Ordensmann, ist ein Autor, den Karl Barck als »anthropologischen und linguistischen Geheimtipp« bezeichnet, 1 weil sein Werk im deutschsprachigen Raum so gut wie unbekannt geblieben ist. Jousse befasste sich sein Leben lang mit der Weitergabe von Tradition, in oralen Kulturen, d. h. in Kulturen, für die Schrift keine oder eine untergeordnete Rolle spielt. Jousse steht auch für die Wiederbelebung einer solchen »Methode« der Weitergabe von Texten. In Frankreich musste Jousse die Erfahrung machen, dass die direkte Konfrontation mit der Ganzheitlichkeit seiner Methode zunächst befremdlich wirkt, als er 1928 die ersten Vorführungen der »récitatifs d’évangile« im Théâtre des Champs Elysées in Paris veranstaltete. Die Zuschauer bezeichneten das, was sie gehört und gesehen hatten, als körperliche Darstellung (»expression corporelle«). Daraufhin war Jousse so entrüstet, dass er solche Vorführungen aufgab. Erst 1970 nahm seine Sekretärin und Schülerin Gabrielle Baron solche Veranstaltungen wieder auf. Für Jousse war die Wiederbelebung des Memorierens des Wortes Gottes – unter aktiver Beteiligung des Leibes – keine Performance, kein künstlerisches Ereignis und keine Darbietung, sondern eine Verinnerlichung und Verleiblichung des Wortes Gottes. Mit Hilfe besonders wirksamer »Körpertechniken« 2 wie Wiegeschritt und Gestik, aber auch dank einprägsamer Melodien
Barck, Karlheinz, Liquidation der Magie und mimetisches Vermögen, in: Garber, Klaus / Rehm, Ludger (Hg.), Global Benjamin. Internationaler Walter-BenjaminKongress 1992, München 1999, 247. 2 Der Begriff »Körpertechniken« wurde von M. Mauss geprägt. Vgl. Schüttpelz, Erhard, Körpertechniken, in: Zeitschrift für Medien und Kulturforschung (ZMK), Frankfurt 1/2010, 2. 1
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Clara Elisabeth Vasseur
zeigte Jousse, dass es so viel leichter fällt, längere Texte auswendig zu lernen und getreu wiederzugeben. Diese Ergebnisse trug er 1929 beim ersten Kongress für angewandte Psychologie vor und fand damit Beachtung. Der Titel seines Vortrags war: »Die Psychologie des Gedächtnisses und die Psychologie der Sprache«. Ein kurzer, aber eindrucksvoller Bericht über diesen Vortrag erschien in deutscher Sprache in »Nord und Süd«, der Monatsschrift für internationale Zusammenarbeit, ebenfalls 1929, d. h. genau zwischen den beiden Kriegen, die unsere beiden Länder zerrissen haben. Die Autorin des Berichtes, Prof. Anina KlebeBrandt, schrieb, wie einleuchtend die Theorie von Jousse erscheint, wenn man diese Vorträge von kurzen und längeren Bibeltexten live erlebt hat. Es geht also auch um eine »Erfahrung«, über die man sich nicht hinwegsetzen darf. Sie berichtet, »wie unverhältnismäßig stärker der Eindruck des rhythmisch betonten Vortrags« der Perikope vom Mann, der sein Haus auf Sand gebaut hat, im Vergleich zur gewöhnlichen Art war. Und sie fügt hinzu: »Und da ja das gute Gedächtnis meist auf der Stärke des ersten Eindrucks und der Konzentration darauf beruht, so leuchtet damit die Wahrheit seiner Theorie ein.« 3 Die Konfrontation mit der Ganzheitlichkeit des Bibelrezitativs kann aber auch sehr ansprechend wirken. Im deutschsprachigen Raum stellt eine solche »Performance« des Wortes Gottes eine ungewöhnliche Form der Verkündigung dar. 4 In Frankreich ist sie mittlerweile in Katechese und Liturgie besser bekannt und erprobt. Eine neue Praxis bedarf einer behutsamen Einführung. Sie verlangt nach einer Metareflexion und ist auf Entwicklung angelegt. Das Wort »Performance« taucht im Zusammenhang mit biblischen Texten heute noch in einem anderen Kontext auf. In den USA wird mit »performance criticism« eine Forschungsrichtung bezeichnet, die stark den mündlichen Charakter und die von Oralkultur geprägte Herkunft der Texte aus dem Neuen Testament berücksichtigt. Vertreter des »performance criticism« legen Wert darauf, in der Praxis die Texte nicht nur vorzulesen, sondern sie auch zu »performen«, mit einer Dramatik, die manchmal übertrieben wirken kann. Nord und Süd, Zeitschrift für internationale Zusammenarbeit, hg. v. Prof. Dr. Ludwig Stein, Berlin, Heft 7 (Juli 1929), 642–643. 4 Die Bezeichnung als »performance« kann nur provisorisch sein. Ein Bibelrezitativ ist weniger eine Darbietung als ein betendes Tun, das Leib und Seele bewegt. 3
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Als Hauptvertreter dieser Richtung ist David Rhoads, Professor für Neues Testament an einer lutherischen Universität in Chicago, zu nennen. Rhoads ist der Meinung, dass die Performance im Leben der frühen Kirche eine viel größere Rolle spielte als bisher angenommen. Dies hängt damit zusammen, dass eine Kultur, in der Kompositionen grundsätzlich mündlich weitergegeben werden (auch wenn sie dann später verschriftlicht werden), zu einem stärkeren Identitätsbewusstsein gelangt, als dies der Fall ist, wenn Schriftlichkeit für Denken und Handeln prägend ist. Was dadurch verloren gegangen ist, können wir kaum ermessen. Denn heute leben wir ohne Zweifel in einer Schriftkultur. Für Erhard Schüttpelz, Professor für Medienwissenschaft und Autor, der wohl die Bedeutung des Werkes von Jousse für unsere Zeit einzuschätzen weiß, stellt die Dichotomie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (orality und literacy) ein Produkt der Medienwissenschaft dar. Dabei ist deutlich, dass die wechselseitige Beziehung und Beeinflussung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, aber auch zwischen Lesen und Schreiben ein äußerst komplexes Thema darstellt, das hier nicht behandelt werden kann. 5 Dieser Trennung folgte eine höhere Bewertung der Schriftkultur im Vergleich zur Oralkultur, die dann nicht selten als »primitiv« bezeichnet wird. 6 Dabei gerät die außerordentliche Leistung des Erzählers und die Eigenart einer Komposition im Oralstil außer Acht. Indem er den Begriff »Oralstil« prägte und erläuterte, hat Marcel Jousse als erster auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht. 7 Die Arbeiten seines Schülers Milmann Parry über den Oralcharakter der Werke Homers sind heute eher rezipiert als die Arbeiten von Jousse selbst. 8 Hin und wieder trifft man vereinzelt auf Arbeiten von »Kennern«, die auf das Werk des verkannten Jesuiten hinweisen.
Vgl. z. B. Schüttpelz, Erhard, Mündlichkeit/Schriftlichkeit, in: Binczek, Natalie / Dembeck, Till / Schäfer, Jörgen (Hg.), Handbuch Medien der Literatur, Berlin/Boston 2013. 6 Ebd., 27. 7 Jousse, Marcel, Études de Psychologie linguistique : Le Style oral, rythmique et mnémotechnique chez les Verbo-moteurs ; Travaux du laboratoire de Rythmo-pédagogie de Paris, in: Archives de philosophie, vol. II, cahier 4, 1924 (Sonderausgabe: Paris 1925). 8 Parry, Milmann, L’Epithète traditionnelle dans Homère, Paris 1925. Siehe auch: Ders., The Making of Homeric Verse, in: The Collected Papers of Milmann Parry, hg. v. Adam Parry, Oxford 1971. 5
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Werner Kelber schreibt z. B.: »Die Vorstellungen etwa, wie sie vom französischen Sprachwissenschaftler Marcel Jousse erarbeitet worden waren, dass nämlich Oralität niemals in rein verbalen Kontexten existiert, sondern immer auch eine somatische Komponente in sich trägt und dass Sprache und mündliche Performanz in der Bilateralität des Körpers konstituiert sind, sind der gegenwärtigen Mündlichkeitsforschung zwar durchaus bekannt, aber dieses Grundwissen um mündlichen Stil und Diktion hat in der Literaturgeschichtsschreibung kaum Eingang gefunden«. 9 Parallel zu seinen Forschungen über mündliche Kulturen interessierte sich Jousse für die Entwicklung des Kindes. Es fiel ihm auf, dass Kinder in unserer Kulturwelt immer frühzeitiger zum Schreiben und Lesen angeleitet werden. Das Auswendig-Lernen und Rezitieren wird dagegen vernachlässigt. Die rasante Entwicklung der externen Speichermedien oder Datenträger vom alten Codex über alle Arten von Büchern bis zur modernen Dropbox kommt hinzu. Diese Entwicklung geht auf Kosten der Gedächtnisleistung. Das Gedächtnis wird nicht mehr um seiner selbst willen kultiviert und verkümmert. Und doch ist gerade unser Gedächtnis im Allgemeinen und unser Leibgedächtnis im Besonderen das »Organ« der Identitätsbildung, wie Thomas Fuchs es von Neuem gezeigt hat. 10 Die Tatsache, dass »die traditionellen und vor allem religiösen Kulturen wesentlich auf dem Memorieren von Texten der Weisheit beruhen«, 11 macht uns darauf aufmerksam, dass wir hier einen wertvollen Zugang wieder entdecken könnten. Besteht nicht ein ZusamKelber, Werner H., Geschichte als Kommunikationsgeschichte: Überlegungen zur Medienwissenschaft, in: Schröter, Jens / Eddelbüttel, Antje (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit: Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, Berlin / New York 2004, 159. In diesem Zusammenhang sind das Buch von Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, München 2010, und die Neuauflage von Ong, Walter, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Wiesbaden 2016 zu erwähnen. 10 Fuchs, Thomas, Leib, Raum, Person: Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000. Ders., Leiblichkeit und personale Identität, in: Römer, Inga / Wunsch, Matthias (Hg.), Person. Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven, Münster 2013, 171–188. Vgl. auch Gugutzer, Robert, Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen Identität, Wiesbaden 2002, 265. 11 Beaupérin, Yves, Rabbi Iéshoua de Nazareth. Une pédagogie globale, Méolans-Revel 2000, 8. 9
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menhang zwischen dem Fehlen der Memorierung von heiligen Texten und dem Identitätsverlust im religiösen Bereich? Wenn ja, und wenn ich dem entgegenwirken, d. h. wieder identitätsbildend arbeiten will, wird es darauf ankommen, dem Gedächtnis und dem Memorieren solcher zentraler Texte unseres Glaubens wieder einen Raum zu eröffnen. In dieser in Deutschland bisher unbekannten Art und Weise, mit dem biblischen Wort umzugehen, liegt m. E. ein wirksames Element und noch nicht entdecktes Potential, um der zunehmenden Erosion der christlichen Identität bei fortschreitender Säkularisierung entgegenzuwirken. Die Rückbesinnung auf die leibliche Dimension des geistlichen Lebens erscheint mir in einer Zeit, in der Technik und Medien unser Leben beherrschen, eine Notwendigkeit. 12 Denn »Leiblichkeit ist das Medium aller Formen von Spiritualität, die sich nicht nur von geoffenbarten heiligen Texten oder aus metaphysischen Spekulationen ableitet«, schreibt Rudolf zur Lippe. 13 Nur das, was mir wirklich in Fleisch und Blut übergegangen ist, trägt zur Konstitution meiner persönlichen Identität, aber auch der kollektiven Identität der einen Kirche Jesu Christi bei. Jede Generation steht nämlich vor der Herausforderung, den geerbten und anvertrauten Glauben weiterzugeben. Gerade in sich rasch verändernden Zeiten muss in der Vermittlung von Glaubensinhalten das »Wissen über« notwendig von einem »Gespür für« begleitet werden, denn nur so werden die Inhalte einer Religion eine existentielle Relevanz erlangen. Nur das Gespür für die Wirklichkeit, die sich in unserem Denken und Reden auftut, wenn wir über Gott nachdenken und reden, schützt uns vor einem allzu verkopften Wissen, in dem Gott zum bloßen Objekt unseres Denkens oder zum Thema eines Redens »über« gemacht wird. Jedes Gespür setzt aber einen Leib voraus. Im Leib, der ich bin, den Ausgangspunkt und die Möglichkeit des Denkens selbst zu sehen, ist den Ansätzen der Phänomenologie Husserls und MerleauPontys und dem von Marcel Jousse gemeinsam. 14 Eine fruchtbare Begegnung zwischen der Anthropologie von Jousse und der radikalen
Ebd., 23–34. Zur Lippe, Rudolf, Das Denken zum Tanzen bringen, Philosophie des Wandels und der Bewegung, Freiburg/München 2011, 301. 14 Monvallier, Henri de, Le corps chez Jousse et Merleau-Ponty, conférence donnée dans le cadre du colloque annuel de l’Association Marcel Jousse, 15. 11. 2008. 12 13
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Lebensphänomenologie von Michel Henry steht noch aus. Noch mehr als in der Phänomenologie Merleau-Pontys kann man im Denken von Henry aufgrund der einzigartigen Stellung der Fleischwerdung des Logos eine weiterführende Verbindung zu Jousse entdecken. Dies gilt vor allem dann, wenn es darum geht, eine Erfahrung, die im Leib bzw. im Fleisch geschieht, zu reflektieren. Die Werke von Henry und Jousse sind im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert. Hier gibt es Nachholbedarf. 15
Gottes Wort im Menschenleib Michel Henry hat die Wahrheit des Christentums zunächst nicht mit der Wahrheit eines überlieferten heiligen Textes in Beziehung gesetzt, sondern mit der Wahrheit eines Lebens, das sich selbst offenbart. Diese Selbstoffenbarung Gottes geschieht im Fleisch, im pulsierenden Leben und nicht im abgeleiteten Denken, das nur sekundär sein kann. »Gott ist nichts, zu dem unser Denken uns Zugang geben könnte«, schreibt Henry. 16 Gott ist Liebe, Gott ist erfahrene, erlebte, liebende, geliebte Wirklichkeit. Gott ist auch Logos, Person, Sinn, aber was wäre eine Person oder ein Wort, mit der oder mit dem ich nicht in Berührung kommen könnte? Gott ist Leben und Leben ist »Selbstoffenbarung.« 17 Zu dieser Selbstoffenbarung des Lebens gehört notwendig eine sinnliche Dimension, die nicht ausgeblendet werden darf. Die Gefahr ist groß, entweder die Sinnlichkeit auszuschalten und uns in eine vermeintliche Objektivität zu verirren oder die Sinnlichkeit so sehr zu betonen, dass wir uns darin selbst verlieren. Die Reflexion von Henry in »Ich bin die Wahrheit. Für eine Philosophie des Christentums« 18 über die Wissenschaft, die das wahre Leben außer Acht lässt, gilt m. E. nicht nur für die Biologie, die als Wissenschaft des Lebendigen doch nicht in den Blick bekommt, was das Lebendige ausmacht, nämlich dass es zum Er-Leben fähig ist, sondern auch für die Theologie. Auch sie Vasseur, Clara / Bündgens, Johannes, Spiritualität der Wahrnehmung. Einführung und Einübung, Freiburg/München 2015, 164–165. 16 Henry, Michel, Ich bin die Wahrheit. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München 2012, 80. 17 Ebd., 81; 59. 18 Ebd., 60. 15
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kann gelegentlich zur Feindin des Lebens werden, wenn sie diese Dimension der Selbstoffenbarung des Lebens im Fleisch in all ihren Modalitäten des Empfindens außer Acht lässt. 19 Denn auch jede Rede »über Gott« bleibt leer, wenn sie nicht mit einer gefühlten Anschauung einhergeht. Das Aufheben der Dualität in der einen Perspektive einer Phänomenologie des Fleisches als ein Zu-Sich-Kommen des wahren, ja göttlichen Lebens im Menschen verteidigt das Christentum gegen die gnostischen Irrlehren und deren Leibfeindlichkeit. Henry knüpft an das Denken des Irenäus von Lyon an und weist zusätzlich auf den Unterschied in der Fragestellung hin. 20 Das Fleisch ist grundsätzlich gut, weil es das Leben, das Gott dem Menschen gibt, empfangen kann und tatsächlich empfängt. Es ist dazu bestimmt, es zu empfangen. Dies nennt Henry: »das cogito des Fleisches bzw. das christliche cogito.« 21 »Und siehe, das Fleisch ist fähig, Gottes Kraft aufzunehmen und festzuhalten.« 22 Diese lapidare Aussage des Irenäus gilt sowohl für die Einmaligkeit der Menschwerdung im Sinne des Irenäus, der gegen die Gnosis die Auserwählung des Fleisches verteidigt, als aber auch im Sinne von Henry für die Erfahrung der Berührung Gottes in unserem Fleisch. 23 In »Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung« bezieht Henry dann eine radikale Position, indem er die geoffenbarten Worte als die Worte Christi selbst nimmt, sie als »authentische Dokumente« betrachtet und damit eine große Nähe zu Marcel Jousse aufweist, im Gegensatz zu manchen Strömungen der modernen Exegese. 24 Jousse vermochte es, im Wort der Evangelien das Wort des »Rabbi Ieshoua von Nazareth« wahrzunehmen. In den Schriften von Henry und Jousse ist die existentielle Bedeutung dieser Begegnung deutlich spürbar. So komme ich zum zentralen Punkt meiner Ausführungen, nämlich zur:
Ebd., 59. Henry, Michel, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München 2011, 211. 21 Ebd., 214. 22 Ebd., 212. Irenäus, Adv. Haer. V,3.3; III, 22.1. 23 Henry, Inkarnation, 197. 24 Baron, Gabrielle, Mémoire vivante, Paris 1981, 187. 19 20
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Wiederentdeckung und Wiederbelebung der Oraltradition nach Marcel Jousse SJ Jousse bleibt bei seiner Suche nach der lebendigen Gestalt nicht beim geschriebenen Wort, auch nicht beim laut vorgelesenen Wort stehen. Für ihn bleibt »die mündliche Verkündigung oder Besoretâ – aramäisch Evangelium –, was sie zu Beginn auf den Lippen Jesu und seiner Jünger (appreneurs) war: eine mündliche, melodiöse Verkündigung, die sich den Jüngern einprägte, um so noch tiefer aufgenommen und verstanden zu werden von jedem Menschen, der in diese Welt kommt«. 25 Wenn wir die Eigenart von Texten, die aus einer Oralkultur stammen oder zum kantillierten Vortrag bestimmt waren, berücksichtigen, uns diesem Stil in der Zielsprache angleichen und sie auf einfachen und einprägsamen Melodien, begleitet von Gesten und dem typischen Wiegeschritt vortragen, dann erleben wir, dass diese Texte sehr viel leichter verinnerlicht werden können und auch den Hörer und Empfänger des verkündeten Wortes ganz anders ansprechen. Die Frage ist dabei nicht, ob Jousse und seine Nachfolger mit dieser Methode den Ursprung haargenau getroffen haben. Die Originalmelodien sind ja nicht überliefert; er selbst benützt für seine Kompositionen die Melodien, die Gustaf Dalman in Palästina Ende des 19. Jahrhunderts gesammelt hat. 26 Die Frage ist vielmehr, ob es sich lohnt, diese Weise des Vortrags von biblischen Texten wieder zu entdecken und zu beleben. Die Rückkehr zur Mündlichkeit ist beim Bibelrezitativ radikal. Denn dabei verzichtet man auf alle Instrumente, die sonst zum Vortragen des Wortes in der Liturgie nötig sind, wie Lektionar oder Evangeliar und Ambo. Der gedruckte Text weicht vor der kantillierten Fassung, der Ambo vor der leichten Schaukelbewegung des Körpers, das Buch lässt der Geste den Vortritt. Nichts steht sozusagen zwischen dem Wort und dem Leib. Das, was ich mir einverleibt habe, gehört mir für immer und bleibt Teil meiner selbst. Gedichte, die in frühen Jahren gelernt worden sind, liegen bei uns allen in den Kammern des Gedächtnisses verborgen, und wie alte Bekannte, die man lange nicht gesehen hat und
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Ebd., 80. Jousse, Marcel, Anthropologie du geste, Paris 2008, 192.
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mit denen mich meine Erinnerung aus früheren Zeiten verbindet, kommen sie bei passender Gelegenheit in alter Frische wieder hoch. Auf diese Art und Weise könnten grundlegende Texte der Heiligen Schrift wieder der nächsten Generation tradiert werden, so wie der kleine Marcel Jousse die Sonntagsevangelien von seiner Mutter in ihrem Dialekt, dem Sarthois, vorgetragen bekam. Die Erfahrung zeigt, dass das, was auf diese Art und Weise gelernt wird, nicht mehr vergessen werden kann. Wir müssen erst die Rolle des Körpers, der Gestik, des von einem bestimmten Rhythmus getragenen Wortes richtig einschätzen, damit wir eine Idee davon bekommen, wie eine Oralkultur funktioniert, d. h. eine Kultur, in der sämtliche Kulturgüter, die Familie, Recht, Tradition und Religion betreffen, mündlich weitertradiert werden. Oralkultur 27 und Schriftkultur sind zwei Welten, die ihren je eigenen Gesetzen gehorchen. In einer von Mündlichkeit geprägten Kultur spielt die Geste, die Gebärde, das Sprechen mit dem ganzen Leib, eine größere Rolle als in einer Kultur, in der die Schrift dominiert. Mit der Geste gibt der Mensch wieder, und das Kind in ganz besonderer Weise, was er vom Universum mit seinem ganzen Körper aufgenommen hat. Alles, was den Menschen umgibt, kann durch eine typische Bewegung ausgedrückt werden. Diese Bewegung ist wie das Echo des Eindrucks in der Natur im Menschen. Deshalb kann die Sprache nicht auf ein System von Lauten und semiotischen Zeichen reduziert werden. Der Ton ist sogar sekundär und folgt der Geste und nicht umgekehrt. Diese These war Walter Benjamin bekannt, wenn er auch Jousse nur durch eine sekundäre Quelle kannte 28, denn er zitiert ihn in seinem Aufsatz »Probleme der Sprachsoziologie« von 1935, in dem er sich mit verschiedenen Theorien über den Ursprung und die Entwicklung von Sprache auseinandersetzt. 29 Die Geste ist die Wurzel der Der Begriff »Oralstil« wurde von Jousse geprägt. Vgl. Ders., Études de Psychologie linguistique : Le Style oral, rythmique et mnémotechnique chez les Verbo-moteurs. Travaux du laboratoire de Rythmo-pédagogie de Paris, in: Archives de philosophie, vol. II, cahier 4, Paris 1924. 28 Boissière, Anne, La part gestuelle du sonore : expression parlée, expression dansée. Main et narration chez Walter Benjamin, in: Revue DEMéter, Juin 2004, université de Lille-3, 3 (www.univ-lille3/fr/revues/demeter/boissiere.pdf). 29 Lefèvre, Frederic, Marcel Jousse, une nouvelle Psychologie du langage, in: Les cahiers d’Occident, I, 10 (1935), 77. 27
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Sprache, und die Hand spricht vor dem Kehlkopf. Die Geste spielt eine unterstützende Rolle für das Gedächtnis. In einer von Oralität geprägten Kultur spielt das im Körper verankerte Wissen eine zentrale Rolle für das Bewahren der Tradition und damit der Identität der Gruppe. Das Rezitieren ist für Jousse das, was das Erzählen für Benjamin ist: ein Ort des Bewahrens. 30 Die Grundlagen eines mündlichen Vortrags stimmen in den verschiedensten Kulturen überein, Jousse spricht deshalb von anthropologischen Gesetzen. Sie betreffen nicht eine bestimmte Kultur, sondern treffen auf den Menschen im Allgemeinen zu. Es sind die drei Grundgesetze des Parallelismus, des Formulismus und des Rhythmus. Wer aber als Philologe oder Exeget den parallelismus membrorum hebräischer und altorientalischer Poesie nur aus schriftlichen Quellen kennt, tut sich etwas schwer damit, auf den lebendigen Menschen und auf seine Bilateralität zu schauen. Der Gedankengang von Jousse lässt sich dennoch leicht nachvollziehen, nämlich dass »der Mensch zweiseitig angelegt ist und seine Gebärden ausbalanciert.« 31 Ohne die geringste Anstrengung strebt »der Mensch« danach, sich in identischen oder analogen Formen dem Vorbild anzugleichen, weil es seiner bilateralen Struktur entspricht. Diese tritt in Redensarten, Sprüchen, Sentenzen oder Liedern auf. Sie sind Ausdruck der Bilateralität, die im Menschen verankert ist. Es geht um die drei Kategorienpaare: oben/unten – rechts/links – vorne/hinten. »Jede improvisierte Proposition tendiert im phonetischen System des Sprechers eigenartigerweise tatsächlich dahin, zwei oder drei weitere parallel gebaute auszulösen, im analogen oder antithetischen Sinn, begründet in den Gesetzen des Geschöpfes Mensch aus Fleisch und Geist«, schreibt M. Jousse. 32 Auch die deutsche Sprache liebt »Zwillingsformeln«, die Kombination zweier Worte: »auf Schritt und Tritt« – »mit Mann und Maus« – »mit Kind und Kegel« – »mit Ach und Krach«. Nun haben wir einen großen hermeneutischen Sprung »vom Text zur Person«, um mit P. Ricoeur zu sprechen, vom geschriebenen Text Boissière, La part gestuelle du sonore, 4. Baron, Mémoire vivante 200. 32 Jousse, Marcel, Les lois psycho-physiologiques du style oral vivant et leur utilisation philologique, Paris 1931, 3 (eigene Übersetzung). 30 31
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zum lebendigen Menschen vollzogen. Zu diesem Schritt lädt uns das gesamte Werk von Jousse ein, der eine neue Wissenschaft, die Anthropolingusitik begründete. »Die Anthropologie du geste von Marcel Jousse ist ein umfangreiches Plädoyer für die Wiederentdeckung der Ganzheitlichkeit des Menschen in der Totalität seiner Ausdrucksund Kommunikationsarten.« 33 Ein weiterer Schritt könnte darin bestehen, in einer Kultur der Schrift, die unsere nun einmal ist – und heute zunehmend auch eine digitale und durch und durch mediatisierte Kultur – dieses Potential, das in unserer Leiblichkeit steckt, neu zu entdecken und zu aktivieren, nicht aus Nostalgie, sondern weil es zu einer entscheidenden Hilfe für die Bildung und Bewahrung der christlichen Identität werden kann.
Wie heute geistliche Identität stiften, bewahren und tradieren? Es ist unbestreitbar, dass die Heilige Schrift eine konstitutive Rolle für die Gemeinschaft der Gläubigen spielt, für das Bewahren und Tradieren ihrer geistlichen Identität. Wer von Heiliger Schrift spricht, spricht von kanonischen Texten. »Kanon stiftet einen Nexus zwischen Ich-Identität und kollektiver Identität«, formuliert Jan Assmann, und fügt hinzu: »›Kanon‹ ist das Prinzip einer neuen Form kultureller Kohärenz.« 34 Wenn wir uns bewusstmachen, dass etwas sehr Kostbares fehlen wird, wenn wir die lebendige Beziehung zu jenen kanonischen Texten, die unsere Heilige Schrift bilden, verlieren, dann wird uns das hellhörig machen. Wir werden aufbrechen müssen. Der von Marcel Jousse und seinen Schülern entwickelte innovative und ganzheitliche Zugang zu den überlieferten Texten birgt ein enormes Potential für eine Neuevangelisierung und eine »neue Anthropologie der Überlieferung«, wie Anne Perrier es formuliert hat. 35 Denn Marcel Jousse ist bei seinen anthropologischen Arbeiten nicht bei der theoretischen Erschließung von Texten und der Formu-
Beaupérin, Rabbi Iéshoua de Nazareth, 21. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis – Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 127. 35 Perrier, Anne, Nouvelle évangélisation. Anthropologie de la transmission. Vortrag, Mai 2007. 33 34
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Clara Elisabeth Vasseur
lierung von allgemeinen Gesetzen stehen geblieben, sondern hat, um die Kraft dieser Gesetze deutlich zu machen, in Zusammenarbeit mit der Musikerin Gabrielle Desgrées du Loû jene Rezitative komponiert, die heute noch ununterbrochen mündlich weitergegeben werden. »Wir sollten die Sprache der Geste wieder entdecken, die uns bereits als Kind vertraut war. Wir sollen die Heilige Botschaft leben und spüren, sie memorisieren, das Wort für den ganzen Körper erfahrbar machen. Bewegung entspricht einem urmenschlichen Bedürfnis«, sagte mir einmal eindringlich eine Teilnehmerin einer Bibelrezitativgruppe. Damit komme ich zu dem Schluss, dass wir uns von der »Auslagerung« der Texte, die unter allen menschlichen Worten den Rang von Offenbarung haben und deshalb Gottes Wort – Heilige Schrift – genannt werden, außerhalb des Körpers und damit des Gedächtnisses abwenden und wieder eine »Einlagerung« in das Leibgedächtnis anstreben sollten. Darin sehe ich eine große Chance, einen lebendigen und belebenden Kontakt mit dem Wort Gottes zu ermöglichen und zugleich identitätsstiftend zu arbeiten. Eine Verankerung des Wortes Gottes im eigenen Leib bringt einen entscheidend neuen Zugang zur alten Botschaft der Bibel. Jeder kann mit dem alten Buch eine neue Erfahrung machen und sie wieder neu entdecken, wie Buber es sagt: »als kennte er sie noch nicht; als hätte er sie nicht in der Schule und seither im Schein ›religiöser‹ und ›wissenschaftlicher‹ Sicherheiten vorgesetzt bekommen; als hätte er nicht zeitlebens allerlei auf sie sich berufende Scheinbegriffe und Scheinsätze erfahren; neu muss er sich dem neugewordenen Buch stellen.« 36 Ich füge hinzu, so wird neu das Wort zum Fleisch, zu meinem Fleisch und Blut. Es entsteht ein Buch aus Muskeln und Sehnen, Atem und Melodie, ein Wort des Lebens im Fleisch des Menschen selbst. Dies ist nur durch geduldige, unermüdliche Wiederholung, die zu einer Vertiefung führt, zu erreichen. Antoine Redier schrieb in der Revue Française vom 27. Mai 1929 unter dem Titel »Rückkehr zu alten Rhythmen«: »Mit Hilfe der rhythmischen Gebärde und der Melodie behalten junge Mädchen, ja sogar Kinder, fehlerlos die Texte, Buber, Martin, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift. Beilage zu: Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von M. Buber in Gemeinschaft mit F. Rosenzweig, Köln 1954, 4 f.
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Gottes Wort im Menschenleib
die man ihrem Gedächtnis anvertraut hat. […] In dieser ganzheitlichoralen Methode kommt die Wahrheit der religiösen Texte so machtvoll zum Ausdruck, wie wir sie bei der schlichten Lektüre mit den Augen nicht erfassen können […]. Der Gesang muss gespielt werden, rhythmisiert, balanciert, begleitet von Gebärden. Dann gewinnt er Leben, dann ergreift er das ganze Wesen, sein Herz, seine Glieder und sein gesamtes Leben.« Wie die Praxis zeigt, bedeutet dies Arbeit, Anstrengung, aber auch Freude, weil der ganze Mensch angesprochen wird. Das, was sich mir einverleibt hat, was in Fleisch und Blut übergegangen ist, das ist dann auch wirklich meins. Als einverleibtes Wort lebt der Text in mir und formt mich. So wird der Leib des Menschen zum lebendigen Schrein des Wortes, zum Thora-Schrank. Stunden frei zu halten, in denen man sich das Wort Gottes wieder einzuverleiben vermag, Orte zu schaffen, an denen dies geschehen kann, erscheint mir erstrebenswerter als nur die Vermehrung von kirchlichen Online-Angeboten. Was im Leibgedächtnis des Menschen gespeichert ist, bleibt für die Ewigkeit aufbewahrt. Externe Datenträger werden nicht dauerhaft halten. Sie sind nicht resistenter als der Granit und der Stein, die die Weisheit Ägyptens und Babylons getragen haben. In leidenschaftlichen Tönen verteidigt Lazarus Goldschmidt in seiner Einleitung zum Talmud die »mündlich überlieferte Lehre« des israelitischen Volkes, »die der Vergänglichkeit die Stirn bietet«. So könnten wir die Leiblichkeit des Wortes Gottes wiedergewinnen, meint Marcel Jousse: »Lassen Sie die großartige pädagogische Balance, die Ieshua (Jesus) uns in seinem Gleichnis von den Vögeln des Himmels und den Lilien des Feldes schenkt, in sich Fleisch werden, solange bis Sie spüren, wie sie in Ihrer Kehle und in Ihrer ganzen Muskulatur zu ›spielen‹ beginnt«. 37
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Baron, Mémoire vivante, 94.
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III. Biblische Theologie
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Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden im Kontext ihres zeitgenössischen Judentums: Dead Sea Scrolls und Evangelien Simone Paganini Was macht »Identität« aus? Diese Frage wurde und wird auf unterschiedlichsten Ebenen vielfach diskutiert. Sowohl die Interdisziplinarität der Zugänge und Ansätze als auch das Fehlen von ähnlich breiten Leitgedanken trägt dazu bei, dass Identitätskonzepte trotz aller kritischen Stimmen noch lange Objekt der wissenschaftlichen Diskussion, sei es theologischer, geistes- oder sozialwissenschaftlicher Natur, bleiben werden. Im Zusammenhang mit der bibeltheologischen Forschung wurde in den vergangenen Jahren die Frage, was Identität ausmacht, immer brisanter. 1 Wenn man die Debatte der letzten Jahre mitverfolgt hat, merkt man relativ deutlich, dass das Thema »Identität« gerade deswegen sehr beliebt ist, weil eine gewisse »Unterbestimmtheit« bzw. »unkritische Positionierung« im Zusammenhang mit dem Gebrauch des Begriffes besteht und er daher relativ leicht mehrere Phänomene erklären kann. Dieser Aufsatz stellt den Versuch dar, einerseits Identität im Leben der ersten jesuanischen Gemeinden, wie diese in den Evangelien beschrieben werden, zu präsentieren und andererseits Identität im Kontext des zeitgenössischen Judentums darzustellen. Es geht also weder darum, die Diskussion innerhalb der Forschung mit ihren facettenreichen Positionen wiederzugeben, noch sich mit dem formallogischen bzw. ontologischen Gebrauch des Begriffs auseinanderzusetzen. Es geht auch nicht darum, Identität als Prozess 2 oder gar Neben der Tagung, die dem vorliegenden Sammelband zugrunde liegt, sind zumindest die fünf Tagungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie zwischen 2012 und 2016 zu nennen, die Identität aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet haben. Von den fünf geplanten Tagungsbänden sind bis heute drei erschienen. 2 So z. B. Mead, George Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt 1993, aber auch früher Erikson, Erik H., Identität und Lebenszyklus, Frankfurt 1973. 1
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Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden
als »einzigartige Eigenschaft Jesu« 3 a priori zu definieren, wie es oft der Fall ist. Stattdessen ist das Ziel dieses Aufsatzes viel bescheidener, aber trotzdem extrem wichtig, wenn man Identität an etwas Konkretem festmachen will und sie nicht als Produkt einer a-historischen Reflexion definiert. Identität und insbesondere kollektive Identität kann man nämlich nur schwierig anhand von Identitätskonstruktionen beschreiben. 4 Außerdem hatte das Judentum des ersten Jahrhunderts nach Christus keine theoretischen Konzepte im Sinne moderner Identitätsdiskussionen entwickelt, die man systematisch analysieren könnte. Daher sollen anhand von zentralen Elementen, die für die religiöse – und im Fall des Judentums auch ethnische – Identität konstitutiv waren, die Veränderungen bzw. die Aspekte der Kontinuität, die in den Evangelien mit der Figur Jesu in Verbindung gebracht werden, kurz skizziert und analysiert werden. Es geht vor allem um die beiden Hauptelemente des religiösen Lebens der Juden in der nachexilischen Zeit: Tempel und Torah. Die zunächst rein jüdisch-jesuanische Gemeinde musste sich notwendigerweise mit diesen zwei identitätsstiftenden und identitätsbestimmenden Aspekten ihres Lebens auseinandersetzen, um ihre aus der Predigt und aus den Handlungen Jesu neu definierte Identität zu bestimmen. Das Judentum zur Zeit Jesu war dennoch keine monolithische Religionsgemeinschaft mit klaren und einheitlichen Regelungen. Tempel und Torah waren keineswegs absolute Größen, die eindeutig definiert waren. Außerdem bieten sowohl die Evangelien als auch die frühchristlichen Schriften nur ein unzureichendes Bild der jüdischen Gesellschaft. Sie stammen nämlich insgesamt aus einer Zeit, in der der Trennungsprozess zwischen Kirche und Synagoge bereits im Gang war. Daher sind sie zwar für die Definition der frühchristlichen Identität von Bedeutung, aber nur bedingt für die Bestimmung der jüdischen Identität, die als Basis des Frühchristentums ausgemacht werden kann. Mit der Erforschung der Handschriften aus der judäischen Wüste 5 erlangt die internatioZuletzt – allerdings ohne den Begriff »Identität« näher zu definieren« – Gaventa, Beverly Roberts / Hays, Richard B. (Hg.), Seeking the Identity of Jesus. A Pilgrimage, Grand Rapids 2008. 4 Dazu richtungsweisend Baker, Coleman A., Early Christian Identity Formation: From ethnicity and theology to Socio-Narrative Criticism, in: Currents in Biblical Interpretation 9 (2011), 228–237. 5 Diese Bezeichnung ist gegenüber der Bezeichnung »Qumran-Handschriften« vorzuziehen. In der Siedlung von Qumran wurden nämlich keine Schriften gefunden. Ob 3
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Simone Paganini
nale Forschungsgemeinschaft immer mehr Elemente für die Beschreibung und Analyse der jüdischen Umwelt Jesu, 6 mit denen identitätsstiftende Aspekte näher bestimmt werden können. Anhand dieser Schriften wird versucht, konkrete Identitätsmerkmale zu bestimmen, die dann auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht werden, um daraus identitätsstiftende Elemente innerhalb der ersten jesuanischen Gemeinde zu definieren. Identität ist in der altorientalischen und jüdischen Umwelt Jesu nie ein abstraktes Konzept, sondern immer der Versuch, anhand von realen Gegebenheiten das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe auszumachen. So soll im Folgenden am Beispiel von konkreten Zusammenhängen »Identität« nicht definiert und beschrieben werden, sondern die Elemente, die auf unterschiedliche Weise »Identität« ausmachen, in knappen Zügen präsentiert und analysiert werden. Im ersten Kapitel wird zunächst auf die konkrete Stellung von Tempel und Torah zur Zeit Jesu eingegangen. In einem zweiten Schritt werden dann einige Aspekte analysiert, die wesentliche Weichenstellungen in der Bildung von Identität der jesuanischen Gemeinden darstellen. 7 Dabei spielt der Vergleich zwischen den Evangelien und den Dead Sea Scrolls eine wichtige Rolle. Im letzten Kapitel werden einige zusammenfassende Gedanken zur Zusammensetzung von identitätsstiftenden Elementen für die jesuanische Gemeinschaft als Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Thematik »Identität« dargestellt. eine Beziehung zwischen Höhlen und Siedlung besteht, ist gegenwärtig immer noch Objekt heftiger Diskussionen. Alternativ kann man natürlich die englische Bezeichnung »Dead Sea Scrolls« gebrauchen. Dazu ausführlich in Paganini, Simone, Qumran. Zwischen Verschwörung und Archäologie, Innsbruck 2010. 6 Es ist im Kontext der aktuellen Qumran-Forschung davon auszugehen, dass die Sammlung der Handschriften nicht auf eine einzige Gruppe innerhalb der jüdischen Gesellschaft zurückzuführen ist, sondern dass diese aus einer oder mehreren Bibliotheken stammen und nur durch »Zufall« in den 11 qumranischen Höhlen gelagert wurden. Manche Schriften weisen einen gemeinsamen Ursprung auf – die sogenannten »sectarian texts« –, viele andere hingegen bezeugen in ihrer Vielfalt den theologischen Reichtum der jüdischen Gesellschaft der spätnachexilischen Zeit. Die Analyse der Inhalte weist nicht allein auf eine Gruppe hin, sondern gibt ein umfassendes Bild vom Glauben und von den religiösen Vorstellungen der jüdischen Gesellschaft. Dazu Paganini, Qumran, 137–139. 7 Diese Aspekte werden natürlich mit der literarischen Gestalt Jesu in Verbindung gebracht: dazu Snodgrass, Klyne R., Jesus and a hermeneutics of identity, in: Bibliotheca Sacra 168,670 (2011), 131–145.
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Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden
1.
Tempel und Torah als identitätsbestimmende Größen im Judentum des 1. Jahrhunderts n. Chr.
Jene zwei Elemente, die das religiöse Leben der Bewohner von Judäa in der Zeit des Zweiten Tempels 8 maßgeblich geprägt haben, waren zum einen der Tempel, als religiöser Ort und als Institution, und zum anderen die Torah, als identitätsstiftende Sammlung von Schriften, aber auch als maßgebliche Richtlinie für die Gestaltung des normalen – religiösen und sozialen – Lebens. Anhand ihrer Haltung gegenüber diesen zwei Elementen ist es möglich, die Identität und die Merkmale unterschiedlicher religiöser Strömungen innerhalb der jüdischen Gesellschaft zu identifizieren und zu charakterisieren. Jerusalem, die Heilige Stadt, hatte sich – nicht zuletzt durch die Politik Herodes des Großen und schon vor ihm durch die von den Hasmonäern eingeführten Veränderungen – zum geistigen und religiösen Zentrum des Judentums entwickelt. 9 Der Tempel war das Zentrum des religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens. Denn gemäß den Vorschriften aus dem Buch Deuteronomium, die in dieser Zeit nicht nur als religiöses, sondern auch als nationales Gesetz galten, 10 durfte ein Israelit Gott nur an einem einzigen Ort ein Opfer darbringen und ihn anbeten. Der Jerusalemer Tempel wurde der Tradition nach von Salomo erbaut, von den Babyloniern zerstört und schließlich, nach dem Ende des babylonischen Exils, wiederaufgebaut. Herodes hatte ihn dann mit einer aufwendigen Renovierungstätigkeit zum Zentrum des religiösen und politischen Lebens Judäas gemacht. Natürlich war der Tempel in erster Linie ein Heiligtum. 11 Da es in Judäa nach dem Exil (zumindest bis zur Zeit der Hasmonäer) aber keinen Monarchen mehr gab, war der Tempel mit seiner priesterlichen Obrigkeit zugleich auch die StelUnd somit auch zu der Zeit, als die ersten nachösterlichen jesuanischen Gemeinden sich im Prozess ihrer Identitätsfindung befanden. 9 Galor, Katharina, Zur Ehre Gottes und des Königs – Jerusalem und sein Tempel zur Zeit des Herodes, in: Zangenberg, Jürgen K. (Hg.), Herodes. König von Judäa, Darmstadt 2016, 61–69. 10 Paganini, Simone, Deuteronomio. Nuova versione, introduzione e commento (I libri biblici. Primo Testamento 5), Milano 2011. 11 Fraade, Steven D., The temple as a marker of Jewish identity before and after 70 C. E.: The role of the holy vessels in Rabbinic memory and imagination, in: Legal fictions. Studies of law and narrative in the discursive worlds of ancient Jewish sectarians and sages (Supplements to the Journal for the study of Judaism 147), Leiden 2011, 523–554. 8
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Simone Paganini
le, an der Steuern eingetrieben und Geldopfer und Geschenke eingesammelt wurden. Der Tempel war auch ein wichtiger Tauschmarkt für die regelmäßig und in großer Zahl anreisenden Pilger. Am Tempel wurden Gott durch die Priester Opfer dargebracht, es fanden reinigende Riten statt und es amtierte ein religiöses wie ziviles Tribunal. 12 Die Gesetze der Torah wurden ausgelegt und in ihrer Geltung gewahrt. Der Kult am und um den Tempel war folglich nicht nur für die Mitglieder der traditionellen 24 Priesterfamilien – die zweimal jährlich eine Woche lang am Tempel amtieren durften – lebensnotwendig, sondern auch für eine ganze Reihe von Händlern, Dienern, Wirtsleuten, Tischlern, Schmieden, Metzgern und Steinmetzen, aber auch für Prostituierte, Bettler, Arme und Kranke, die hier ihren Unterhalt verdienten. Um die Verwaltung der Steuern und des Tempelsystems sowie den reibungslosen Ablauf der kultischen Handlungen kümmerte sich ein relativ einflussreicher und dennoch stets im Hintergrund agierender Beamtenapparat. Wie dieser Kult konkret ausgesehen hat, ist im Detail leider nicht überliefert und wird sich trotz anhaltender intensiver Forschungen wohl nicht mehr rekonstruieren lassen. 13 Gemeinhin geht man aber davon aus, dass am Jerusalemer Tempel, verteilt über den Jahreskreis, unterschiedliche Feste gefeiert wurden, deren Ordnung durch den liturgischen Jahreskalender geregelt wurde. Das Neujahrsfest zelebrierte wahrscheinlich das Königtum JHWHs und war direkt mit dem »jom kippur«-Fest, dem großen Versöhnungstag, verknüpft. Nur an diesem Tag durfte der Hohepriester das Allerheiligste des Tempels betreten. Am sechsten Tag nach dem jom kippur wurde das Laubhüttenfest gefeiert. Es war ursprünglich ein Erntedankfest (Weinernte), das später mit der Erinnerung an die Zeit der Wüstenwanderung und an die Landnahme verknüpft wurde. Das Tempelweihfest war relativ jung und erinnerte an die Wiedereinweihung des Tempels unter Judas Makkabäus nach der Seleukidenherrschaft. Das Paschafest war schließlich das große Wallfahrtsfest, an dem der Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft gedacht wurde. Zu jedem dieser Feste gehörte eine spezielle Opferhandlung im Tempel. Die Opfer waren aber nicht nur auf die Festtage beschränkt, Cocco, Francesco, Il processo di centralizzazione delle istituzioni religiose e cultuali, in: Rivista Storico Biblica 21,1 (2009), 25–36. 13 Paganini, Simone / Sterck-Degueldre, Jean-Pierre, Wir – Juden und Christen. Von den Wurzeln her verbunden, Aachen 2015. 12
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Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden
täglich wurden Opfer dargebracht: Schlachtopfer, Rauchopfer oder – weniger blutig – Gelübde. Vermutlich herrschte in diesen kultischen Riten nur wenig Einigkeit. Es gab widersprüchliche Kultauffassungen, um die innerhalb der Priesterfamilien oft heftig diskutiert und gestritten wurde. Ob diese rivalisierenden Gruppen zugleich einen Anspruch auf die Verwendung der Tempelstruktur gestellt haben oder ob je nach Herrschaft am Tempel unterschiedliche Regeln gegolten haben, ist nicht bekannt. Während Reinheit und Heiligkeit für alle Parteien von entscheidender Bedeutung waren, variierten die Auffassungen über die Verwirklichung dieser beiden Ideale massiv. Es herrschte weder Einigkeit über den richtigen Zeitpunkt noch über die Art und Weise, wie die Rituale korrekt ausgeführt werden, geschweige denn welche Rituale die geeignetsten sind, um Reinheit und Heiligkeit zu erreichen. Dies führte dazu, dass sie so unterschiedlich angesetzt wurden, dass das, was für die einen rein war, für die anderen als unrein gelten musste. 14 Ein weiteres Indiz für eine vielschichtige religiöse Gesellschaftsstruktur ist der Umstand, dass in mehreren Schriften dieser Zeit – so wie auch im NT – eine zunehmende Entfremdung vom offiziellen Tempel spürbar wird. So wird auf der einen Seite an einem eschatologischen Tempel festgehalten, wohingegen auf der anderen Seite der Tempel vermehrt als vergeistigte Vision dargestellt wird. Diese Ansätze sind zu konträr, als dass sie ein und derselben Gruppierung entstammen könnten. Die wachsende Distanz ganzer Priesterfamilien bzw. einzelner Mitglieder gegenüber dem offiziellen Tempel und seinem Kult dürfte der Ursprung von Priestergemeinschaften in Städten und Dörfern abseits von Jerusalem gewesen sein. Jericho z. B. war zur Zeit Jesu eine richtige Priesterstadt, in der Priestergemeinschaften mit ihren Familien lebten und arbeiteten und dennoch ständig nach Jerusalem gingen. Diese Gegebenheit spiegelt sich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter wider, in dem ein von Briganten halbtot geschlagener Mensch auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho zwei Mitgliedern der Priesterklasse begegnet. Andere abtrünnige oder ausgeschlossene Priester lebten hingegen fernab vom Tempel als Einsiedler. Die Gestalt von Johannes dem Täufer dürfte – abgesehen von der Frage ihrer Paganini, Simone / Repschinski, Boris, Kontinuität und Diskontinuität in der Reinheitsthematik vom Judentum des Zweiten Tempels zum Neuen Testament, in: Zeitschrift für katholische Theologie 134,4 (2012), 449–470.
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Historizität – einen solchen gesellschaftlichen Ursprung haben. Sein Vater Zacharias war nämlich, so entnimmt man zumindest dem Lukasevangelium, Priester und übte seinen Beruf auch aus. Der Geburt nach war Johannes daher ebenfalls Priester, zog dem Priesterdienst am Tempel aber ein Leben in der Wüste vor. 15 Während in Jerusalem der Tempel der Ort des Kultes schlechthin war, versammelten sich außerhalb Jerusalems die Menschen in den Synagogen, insbesondere am Sabbat, um den wöchentlichen Ruhetag zu begehen. Die in den Synagogen auftretenden Prediger übten dabei einen tiefgreifenden Einfluss auf das Bewusstsein und die Mentalität des Volkes aus, vor allem in Gegenden, wo Menschen lebten, die nur selten oder sogar nie nach Jerusalem pilgern konnten. Das zweite Element, welches das religiöse und soziale Leben des Volkes bestimmte, war die Haltung zum jüdischen Gesetz, der Torah. 16 Die Bezeichnung Torah meint zunächst die ersten fünf Bücher der hebräischen Bibel, in denen die Grundlagen der jüdischen Lebensführung und der jüdischen Gesellschaft festgelegt sind. In diesen fünf Büchern sind Erzählungen, Stammbäume, Lieder, aber auch Gesetze, Vorschriften, Gebote und Verbote enthalten, die jedoch kaum systematisiert sind und vor allem nicht alle Aspekte des menschlichen Lebens abdecken. Aus diesen Gründen konnte die Torah nur dort effektiv und für das reale Leben der Menschen maßgeblich angewendet werden, wo eine autoritative Interpretation erfolgte, die den biblischen Text aktualisierte und an die konkrete Situation anpasste. In der Tat war nicht die Torah die Basis der jüdischen Identität, sondern vielmehr ihre autoritative Interpretation. Das Verhältnis zur Torah war entscheidend, um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu bestimmen. Es gab demnach nicht nur eine einzige »richtige« Lebensform, sondern eine ganze Fülle an Lebensformen, die alle in Natürlich kann man über die Historizität der Gestalt Johannes nichts sagen. Seine Schilderung in den Evangelien wirkt aber zumindest historisch glaubwürdig. Dazu populärwissenschaftlich, dennoch treffend: Navon, Moshe, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth im Licht der jüdischen Quellen, in: Freiburger Rundbrief 19,1 (2012), 13–23. 16 Dazu siehe z. B. Paganini, Simone, Ist die Tora für immer verbindlich? Oder: Warum werden Mose gegensätzliche Gesetze zugeschrieben? Am Beispiel der Sklavengesetze im Pentateuch, in: Panhofer, Johannes / Wandinger, Nikolaus (Hg.), Kirche zwischen Reformstau und Revolution. Vorträge der 13. Innsbrucker Theologischen Sommertage 2012 (theologische Trends 22), Innsbruck 2013, 89–106 und ders., Das biblische Gesetz und seine Interpretation am Beispiel der qumranischen Tempelrolle, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 131,3 (2009), 256–279. 15
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Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden
Zusammenhang mit einer korrekten Interpretation der Torah standen. 17 Für eine solche auslegende Tätigkeit werden in der Torah die Ältesten und die Priester als geeignete Autoritäten vorgeschlagen. In der Zeit des Zweiten Tempels fand diese offizielle Interpretation vermehrt am Jerusalemer Tempel statt, der zugleich als Gericht fungieren konnte. Darüber hinaus fand diese Interpretation aber auch – vor allem in Zusammenhang mit dem Familienrecht – in den Dörfern beim Dorfrat statt, der sich aus eben den genannten Ältesten zusammensetzte. Im Prinzip durfte jeder Mensch sich als Torah-Ausleger versuchen und wenn sich andere Menschen von dieser Interpretation angesprochen fühlten, war diese Auslegung für sie gültig. Dabei kam es nicht nur bei unterschiedlichen Fragestellungen, sondern auch bei sehr ähnlichen Fällen zu stark abweichenden Ansichten, abhängig davon, welche Gruppierung im Hintergrund stand, was für einem Einfluss die Ältesten ausgesetzt waren und welcher interpretatorischen Schule sie angehörten. Je konträrer die beschriebenen Einstellungen waren, desto einfacher ist es im Nachhinein, sie verschiedenen Gruppierungen zuzuordnen, wie etwa bei der JesusBewegung, die ihren Meister als moralisch-spirituelle Autorität wie auch in Fragen der Gesetzesauslegung bedingungslos anerkannte. Das Neue Testament selbst beweist – unabhängig von Jesus – die Existenz noch anderer, vergleichbarer Wanderprediger, die als Lehrmeister tätig waren und mit ihren Ideen eine mehr oder weniger große Gruppe von Menschen um sich versammelten. 18 Natürlich hatten nicht nur diese charismatischen Prediger jeweils ihre eigenen Vorstellungen von der korrekten Interpretation des Gesetzes. Gleichzeitig traten auch Priestergruppen auf, von denen manche eine strengere Lehre vertraten, andere hingegen ihren Anhängern mehr Freiräume zugestanden. Die Gruppe, die in den Schriftrollen vom Toten Meer als »Jachad« 19 (Einigung) bezeichnet wird, belegt nicht nur, dass es Neubert, Luke, Tora und Identität im rabbinischen Judentum: Ein Beitrag zur Identitätsbildung anhand des Toraverständnisses, in: Bons, Eberhard (Hg.), Identität und Gesetz. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (Biblisch-theologische Studien 151), Neukirchen-Vluyn 2014, 103–138. 18 Zetterholm, Magnus, The Messiah in early Judaism and Christianity, Minneapolis 2007. 19 Mit dem Terminus Jachad identifiziert die Qumran-Forschung die jüdische Gruppierung, die im Hintergrund der sogenannten »sectarian writings« steht. In der Forschung wird diese Gruppe manchmal mit den Bewohnern der Siedlung von Qumran (und damit indirekt mit den Essenern) identifiziert. Weder für die eine Hypothese 17
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Simone Paganini
solche Gruppierungen gab, sondern auch, dass sie sich zum Teil heftige Auseinandersetzungen lieferten. Die auch aus den Evangelien bekannten Gruppen der Schriftgelehrten oder der Pharisäer waren ebenso mit ihrer eigenen Auslegung vertreten. Durch ihre Haltung zum Gesetz und zum Tempel definierte jede Vereinigung und Strömung innerhalb des Judentums ihre eigene Identität. Das Judentum war also zur Zeit um Christi Geburt keine große homogene Gemeinschaft mit allgemein anerkannten Regeln und klar benennbaren Großparteien, sondern eher ein bunter Zusammenhalt kleiner und mittelgroßer Gruppierungen.
2.
Tempel und Torah in den Dead Sea Scrolls und im Neuen Testament
Aus den Handschriften vom Toten Meer und den Berichten von Josefus Flavius geht hervor, dass die Tätigkeit eines Wanderpredigers, der für sich die Autorität beanspruchte, das Gesetz und die Propheten, d. h. die heiligen Schriften seiner Zeit, auszulegen, keine Besonderheit im Kontext des Judentums des 1. Jh. n. Chr. war. 20 Ein wesentlicher Aspekt der Predigt dieser »Rabbis« war zweifelsohne ihr Verständnis, aber auch ihre Auslegung und Aktualisierung der Torah. Sie reihten sich nicht einfach in die Hauptströmungen des Judentums ihrer Zeit ein – angenommen Pharisäismus und Sadduzäismus waren einmal so etwas wie Hauptströmungen 21 –, sondern versuchten die Identität ihrer Gruppe aktiv zu gestalten, indem sie Stellung zu den noch für die andere gibt es plausible Argumente. Die Mitglieder des Jachads waren Juden. Wo sie lebten und wer sie waren, wissen wir schlicht und einfach nicht. 20 In dieser Zeit waren vor allem in den peripheren und wirtschaftlich wenig entwickelten Regionen Wanderprediger, die soziale Gerechtigkeit verkündeten, keine Seltenheit. In Mk 9,38 beklagen die Jünger Jesu, dass ein anderer Mensch Dämonenaustreibungen verübe, in Apg 5,34–37 nennt ein Pharisäer namens Gamaliel zwei weitere Prediger mit messianischen Ansprüchen und in Apg 8 wird der Magier Simon als Wundertäter und Prediger getadelt. Sehr wahrscheinlich war auch Johannes der Täufer ein Wanderprediger, der zumindest in der ersten Zeit eine größere Autorität als Jesus besaß, der sich von ihm taufen ließ. Dazu Schenke, Ludger, Jesus und Johannes der Täufer, in: Ders. (Hg.), Jesus von Nazareth – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 84–105. 21 Auch in der internationalen Forschungsgemeinschaft ist die Meinung von Josephus Flavius immer noch von vielen vertreten, obwohl klar ist, dass seine Berichte in den »Jüdischen Altertümern« alles andere als historisch objektiv sind.
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Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden
Hauptfragen der Lebensgestaltung, die durch das Gesetz bestimmt wurde, bezogen. Diese Einstellung kennzeichnet auch die Position Jesu, der für sich die Autorität beanspruchte, das Gesetz und die Propheten auszulegen. Damit wird auch indirekt die Position der Gemeinde gekennzeichnet, da sie als Sammlerin seiner Worte und am Ende als Autorin des jeweiligen Evangeliums steht. Jesus stellte sich nicht gegen das Gesetz, er wollte es nicht abschaffen. Die Torah war auch für ihn unmissverständlich die Offenbarung Gottes, allerdings muss sie erklärt, aktualisiert und ausgelegt werden. Seine Interpretation gründete ausschließlich auf seiner Autorität bzw. auf der von seinen Jüngern ihm zugesprochenen Autorität. Eine ähnliche Position kann man auch in mehreren Handschriften vom Toten Meer wiederfinden. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die jesuanische Auslegung durchgängig keinen systematischen Aufbau hat, während die Dead Sea Scrolls häufig detaillierter sind. Das Ergebnis ist aber sehr ähnlich. Um die Identität ihrer Gruppe zu bestimmen, weisen sowohl Jesus als auch die Schriftgelehrten des Jachads einen grundsätzlichen Radikalismus auf, der manchmal zu ähnlichen Schlussfolgerungen führte (so wie im Fall der Scheidungsvorschriften 22), manchmal allerdings auch ganz unterschiedliche Ausgänge haben konnte (so wie im Fall des Sabbatgebots 23). Auch im Fall der Sexualvorschriften kann man eine relative DifferenDie jesuanische Position bzgl. der Scheidung steht im perfekten Einklang mit der Meinung, die in der Tempelrolle präsentiert wird. Beide Positionen vertreten stark die Monogamie, in der Scheidung nicht erlaubt ist, im Gegensatz zur Torah, wo die Scheidung (zumindest für den Mann) kein großes Problem darstellt. 23 In den Dead Sea Scrolls ist die Haltung zum Sabbat eindeutig und das Halten des Gebotes ist eine Art oberes Gebot, das den Bund zwischen Gott und seinem Volk unmissverständlich bestimmt. Nicht nur Gesetzestexte (Damaskus-Dokument, Gemeinderegel, Tempelrolle, Kriegsregel), sondern auch poetische Kompositionen (Sabbatopferlieder, Hodajot) beschäftigen sich mit der Thematik. Für Jesus ist die Vorschrift hingegen nicht wesentlich. Das Halten des Sabbats ist nicht etwas Absolutes, sondern immer dem Wohle des Menschen unterzuordnen. Die jesuanische Position ist allerdings – wenn man sich manche Talmud-Texte anschaut – nicht einzigartig, sondern vielmehr im Kontext einer breiteren Diskussion innerhalb unterschiedlicher jüdischer Auslegungsschulen zu verstehen, nach denen die verbotenen bzw. erlaubten Praktiken am Sabbat nicht endgültig definiert waren. Siehe dazu Tiwald, Markus, Wie streng hielt man den Sabbat im Frühjudentum? Praktische Überlegungen zu einem theologischen Thema, in: Söding, Thomas / Wick, Peter (Hg.), Würde und Last der Arbeit. Beiträge zur neutestamentlichen Sozialethik (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 209), Stuttgart 2017, 73–84. 22
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zierung feststellen. In den Dead Sea Scrolls erkennt man häufig Positionen, die in Kontrast mit der Torah stehen. Weil beim Jachad die rituelle Reinheit eine deutlich höhere Stellung einnahm, werden die Vorschriften verschärft. In seiner Predigt hingegen sprach Jesus sehr selten davon. Nicht weil er kein Interesse daran hatte, sondern wahrscheinlich, weil er mit den mosaischen Vorschriften einverstanden war. Jesus systematisierte seine Auslegung des Gesetzes nicht. Manchmal redete er direkt darüber, viel öfter interpretierte er es mit symbolischen Handlungen. Die Identität seiner Jünger wird somit nicht nur durch seine Predigt beeinflusst, sondern auch durch ganz konkrete Handlungen, die auf eine unmittelbare Nachahmung abzielen. Bedenkt man, dass ab der Exilszeit die Auslegungstätigkeit fast ausschließlich den Priestern vorbehalten war, wird deutlich, inwiefern dieser Dimension des Lebens Jesu eine entscheidende Bedeutung zukommt. Jesus stammte – im Unterschied zu Johannes dem Täufer – mit Sicherheit nicht aus einer priesterlichen Familie, übernahm jedoch priesterliche Tätigkeiten und konstruierte damit Identitätsvorstellungen für seine Jünger, die gleichzeitig diejenigen waren, die seine Autorität rechtfertigten. So gesehen ist seine Rolle sehr ähnlich der der Schriftgelehrten und Führer des Jachads. Die Auslegung des Gesetzes diente ganz klar dazu, Identität durch konkrete Handlungsanweisungen für die Gemeindemitglieder zu definieren. 24 Neben zahlreichen anderen charismatischen Gestalten des Judentums 25 um die Zeitenwende setzt sich Jesus mit dem Anspruch auseinander – so zumindest nach den Evangelienberichten –, nicht ein beliebiger Prophet, sondern der im Deuteronomiumsbuch angeIn diesem Sinne kann man in 4QMMT, einem Brief zu einigen Auslegungsmöglichkeiten von Torahvorschriften, die gleiche Terminologie erkennen, die auch Jesus verwendet: »ihr habt gehört, dass geschrieben steht, ich aber sage euch …«; und wenn Jesus einen direkten Kontakt zu Gott Vater für sich beansprucht, ist er auf der gleichen Linie der Autoren der Tempelrolle, die problemlos ihr Werk als direkte Rede Gottes in der ersten Person gestalten. Dazu Paganini, Simone, Gesprochen, gehört, verschriftet. Zum Legitimationsprozess pentateuchischer Gesetzestexte zur Zeit des zweiten Tempels, in: Achenbach, Reinhard / Arneth, Martin (Hg.), »Gerechtigkeit und Recht zu üben« (Gen 18,19). Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie (FS R. Otto) (Beihefte Zeitschrift Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 13), Wiesbaden 2009, 266–280. 25 So z. B. der sog. »Lehrer der Gerechtigkeit« innerhalb der Qumran-Gemeinde oder der Autor von 4QMMT. 24
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Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden
kündigte »Prophet wie Mose« zu sein, also ein Prophet mit der Fähigkeit und der direkt aus Gott stammenden Autorität, Gesetze zu interpretieren und neu zu formulieren. 26 Die jüdische Tradition, die schließlich in der Verschriftlichung der Mischna mündete, betrachtet diesen Propheten immer als denjenigen, der als einziger Gesetze ändern kann, also selten in einer messianischen, eschatologischen Dimension, sondern vielmehr im Hinblick auf das praktische Handeln im Alltag. Die Autoren des Matthäusevangeliums lassen Jesus selbst in der Bergpredigt sagen, dass er gekommen sei, das Gesetz und die Propheten zu erfüllen (Mt 5,17–18). Dies ist genau der Autoritätsanspruch, der dem »Propheten wie Mose« im Buch Deuteronomium innerhalb des Prophetengesetzes zugesprochen wird (Dtn 18,15–18). Unmittelbar abgeleitet davon sind die prophetischen Neuformulierungen mancher Gebote des Dekalogs in der Bergpredigt: die sogenannten Antithesen. In Mt 5,21–48 bietet Jesus sechs Interpretationen des Gesetzes, die grundsätzlich alle eine ähnliche Struktur aufweisen: Nach der Nennung des Verbotes (These) wird nicht seine Aufhebung, sondern dessen Verschärfung (Antithese) präsentiert. Die Formulierungen lassen klar erkennen, dass das Matthäusevangelium die jesuanische Interpretation nicht nur als bessere oder privilegiertere Fassung, sondern als das eigentliche, einzig richtige Verständnis des alttestamentlichen Gebotes ansieht. Die Autorität, die hier beansprucht wird, ist dieselbe wie die des Mose, der im Deuteronomium das Bundesbuch für das Volk auslegt. Seine Autorität gründet in seiner eigenen Stellung gegenüber der Hörerschaft, die ihn als legitimen Interpreten akzeptiert. 27 Nicht die Torah garantiert Identität, sondern ihre Auslegung. Jesus verbrachte nach dem Zeugnis der Synoptiker sein gesamtes Leben in Galiläa, rein physisch gesehen weit entfernt vom Jerusalemer Tempel und von den theologischen Disputen der Jerusalemer Schriftgelehrten. Wiederum nach der Erzählung der Synoptiker wurde er kurz nach seinem ersten Besuch des Tempelgebäudes als Erwachsener getötet. Die Gruppe seiner Jünger bestand aus relativ armen Leuten, die meistens keine wirkliche Ausbildung hatten und
Jackson, Bernard S., Essays on Halakhah in the New Testament (JCP 16), Leiden 2008, 13–25. 27 Broer, Ingo, Jesus und das Gesetz – Anmerkungen zur Geschichte des Problems und zur Frage der Sündenvergebung durch den historischen Jesus, in: Ders. (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Berlin 1992, 97–100. 26
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Simone Paganini
weder der Priesterklasse noch irgendeiner anderen uns bekannten Gruppierung innerhalb der jüdischen Gesellschaft angehörten. Sehr wahrscheinlich war Jesus gerade deswegen sehr frei in seiner Gesetzesauslegung. Er war nicht abhängig von den starren Positionen der Priesterschaft oder auch mancher Handschriften vom Toten Meer. Auch Sünder konnten z. B. zu seiner Gemeinde gehören, da die Reinheit, die für ihn wesentlich war, allein die innere Reinheit war, während äußerliche Reinheitsrituale völlig belanglos waren. Um konkrete Identitätsmerkmale der ersten jesuanischen Gemeinden auszumachen, 28 ist auch die jesuanische Position zum Tempel entscheidend. Die Struktur und die Organisation des Tempels waren allerdings im 1. Jh. n. Chr. weder einheitlich noch gänzlich definiert. Sie führten viel öfter zu Konflikten, Kämpfen und Trennungen, als dass sie Einheit schufen. Die Priesterklasse, die Opfer und Gottesdienste regelte und organisierte, war sehr stark der römischen Obrigkeit verpflichtet und sah in dieser die notwendige Voraussetzung, die eigenen Privilegien zu sichern. 29 Die jüdischen Gruppierungen, die in den Handschriften vom Toten Meer zum Vorschein kommen, sind allesamt deutlich gegen eine derartige Positionierung. Ihre grundsätzliche Ablehnung des Tempels rührt weniger daher, dass der Tempel an sich und als privilegierter Ort der Anwesenheit Gottes nicht mehr akzeptiert wurde, sondern dass die amtierende Priesterklasse abgelehnt wurde. Nach der in den Dead Sea Scrolls vielfach vertretenen Meinung wurden religiöse Feste, Tempelrituale und Gottesdienste vor allem aus zwei Gründen nicht akzeptiert: Erstens wurde die Legitimität des hasmonäischen Hohenpriesters nicht anerkannt, da er kein direkter Nachfolger Zadoks, des Priesters Davids, war; und zweitens wurde der am Tempel befolgte Mondkalender als ungültig betrachtet. Der Jachad verwendete nämlich einen Sonnenkalender, woraus folgte, dass die Festtage des Tempels nicht mit den Festtagen des Jachad übereinstimmten. Damit fanden die Gottesdienste am Jerusalemer Tempel zur falschen Zeit statt, wodurch die ganze Liturgie ungültig wurde, die Gesetze ohne Geltung und die Wardle, Timothy, The Jerusalem temple and early christian identity (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe 291), Tübingen 2010. 29 Cirafesi, Wally V., The temple attitudes of John and Qumran in the light of Hellenistic Judaism, in: Porter, Stanley E. / Pitts, Andrew W. (Hg.), Early Christianity in its Hellenistic context. Volume 2: Christian origins and Hellenistic Judaism. Social and literary contexts for the New Testament (Texts and editions for New Testament study 10). Leiden 2013, 315–339. 28
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Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden
gesamte Priesterklasse unrein waren. Nur die Änderung des Kalenders und die Einsetzung eines rechtmäßigen Hohenpriesters hätte die Situation ändern können. Der Tempel war jedenfalls innerhalb der jüdischen Gesellschaft keineswegs unhinterfragt akzeptiert. Die Einstellung Jesu zum Tempel war hingegen sehr komplex. Daraus resultieren zweifelsohne die vielschichtigen Positionen der unterschiedlichen jesuanischen Gemeinden, die hinter der Abfassung der Evangelien stehen. Sowohl das Johannesevangelium als auch die Synoptiker stimmen überein, dass Jesus während seiner Besuche in Jerusalem – nach dem Johannesevangelium mindestens einmal pro Jahr in seinen letzten fünf Lebensjahren – im Tempel betete und lehrte. Nach den Berichten der Synoptiker hatte Jesus sogar das letzte Abendmahl nach der Liturgie des Jerusalemer Tempels gehalten. Jesus erkannte auch die Autorität der Priester an, wenn es um Fragen der kultischen Reinheit ging (Lk 17), und akzeptierte den Brauch des Opfers und der Gelübde (Mk 1,44; Lk 17,14; Mt 5,23–24). Außerdem meinte er, dass es richtig sei, dem Tempel den Zehnten zu entrichten (Mt 23,23; Lk 11,42). Der Tempel war für ihn – wie für alle Juden seiner Zeit – der Ort, an dem die Gottheit wohnt (Mt 23,16–21) und an dem man beten soll (Lk 18,9–14). Während seines Prozesses konnte er vor dem Priestertribunal problemlos aussagen, dass er oft in Synagogen und im Tempel anwesend war (Mk 14,49; Lk 22,53; Joh 18,20). Natürlich sind nicht alle diese Berichte historisch authentisch, dennoch steht es außer Frage, dass Jesus den Tempel akzeptierte und zumindest Teile seiner kultischen Struktur anerkannte. Im Unterschied zu den Mitgliedern des Jachads und auch zu Johannes dem Täufer besuchte Jesus den Tempel und verwendete seine Struktur, um mit seiner Predigt das größtmögliche Publikum zu erreichen. Er akzeptierte den Tempel als Teil der religiösen Ordnung, der er sich zugehörig fühlte. Auch die – historisch fragwürdige – symbolische Episode der Tempelreinigung stellte nicht die Institution des Tempels in Frage – er bleibt »das Haus des Vaters« –, sondern seine unberechtigte Verwendung. Ein zusätzliches kritisches Element lässt sich leicht in den Evangelientexten erkennen, die sich mit dem Ende der Zeit und der Zerstörung des Tempels beschäftigen. Natürlich handelt es sich um vaticinia ex eventu – Beschreibungen, die nach dem Jahr 70 n. Chr. verfasst worden sind –, aber gerade deswegen sind sie für unsere Fragestellung ganz entscheidend: Der Prozess der Trennung zwischen Kirche und Synagoge, der sich in den Beschreibungen wider177 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Simone Paganini
spiegelt, hat entscheidend zu der Entwicklung und zur Festigung einer frühchristlichen Identität 30 beigetragen. Diese Position ist nicht sehr weit weg von der Position des Jachads: Der gegenwärtige Tempel und der eschatologische Tempel sind unterschiedliche Realitäten. 31 Nichtsdestotrotz akzeptierte(n) Jesus – und die jesuanischen Gemeinden – den Tempel, was der Jachad nicht tat. Während Jesus ihn reinigen wollte und zum Tempel hinaufging, um dort zu lehren und zu predigen, wollte der Jachad ihn ersetzen und entfernte sich vom Tempel. Die frühchristliche Identität konnte sich nur in einem Prozess der Abgrenzung und der Kontinuität gegenüber dem Tempel als zentralem Element des traditionellen Judentums entwickeln. Innerhalb des Judentums zur Zeit Jesu gab es Gruppierungen – so wie der Jachad –, die dem Tempel gegenüber eine viel härtere Position vertreten haben als die frühchristliche Gemeinde.
3.
Was macht Identität aus?
Identität ist in Judäa zur Zeit des Zweiten Tempels kein theoretisches Konstrukt. Der im 2. Kapitel angedeutete Diskurs ist nur fragmentarisch und kann am besten anhand der Positionierung zum Bund verstanden werden. Der Bund zwischen Gott und seinem Volk steht außer Frage. Aber Vertreter des Sinai-Bundes (der sich im Gesetz mit Segen und Flüchen entfaltet) oder Vertreter eines Bundes, wie ihn das Jeremiabuch vorschlägt (das Gesetz soll im Herzen geschrieben sein), oder Vertreter von Menschen, die sich in den Ausführungen des Damaskus-Dokuments (es gilt ein Damaskus- und nicht ein Sinai-Bund) wiedererkennen, oder gar Judenchristen, die dem neuen, von Jesus verkündeten Bund angehören wollen, tragen zu diesem »Bund« mit ganz unterschiedlichen Inhalten bei. Sie alle haben aber eines gemeinsam: Sie versuchen ihr Leben im Zusammenhang mit den beiden zentralen Elementen der jüdischen Religion – Tempel und Torah Arcari, Luca, Autodefinizione sacerdotale e polemica contro i detentori del culto templare nel giudaismo del Secondo Tempio (enochismo e Qumran) e nel protocristianesimo (Ap), in: Rivista Storico Biblica 21,2 (2009), 83–125. 31 Sulzbach, Carla, Of temples on earth, in heaven, and in-between, in: Henderson, Ian H. / Oegema, Gerbern S. (Hg.), The changing face of Judaism, Christianity and other Greco-Roman religions in antiquity (Studien zu den Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 2), Gütersloh 2006, 166–185. 30
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Torah, Tempel und die Identität der ersten jesuanischen Gemeinden
– zu gestalten. Trotz der wenig zufriedenstellenden Quellenlage wurden einige Aspekte des Judentums zur Zeit Jesu, wie sie sich in den Dead Sea Scrolls präsentieren, mit den wenigen Informationen aus den Evangelien, die aus der Praxis der nachösterlichen Gemeinde stammen, verglichen. Im Hinblick auf die Frage nach Identität kann man dennoch einige kurze Beobachtungen anführen. In einer Wechselbeziehung zwischen Abgrenzung, Anpassung, öffentlichem Gegensatz, aber auch Übernahme und Fortführung von Traditionen und Ritualen entwickelte und formte sich im Kontext ihres jüdischen Umfelds die Identität der neuen (zunächst rein) jüdisch-christlichen Gruppierung, die nach dem Tod ihres Meisters an seine Auferstehung zu glauben begann. Dank der Entdeckung und Auswertung der Schriftrollen vom Toten Meer gewinnen wir eine klarere Vorstellung von diesen Prozessen. Dank dieser Schriften, die ein vielfältiges Judentum bezeugen, wo unterschiedlichste, manchmal völlig gegensätzliche Tendenzen nebeneinander bestanden, wird die Suche nach den Mustern, die dazu beigetragen haben, die Identität des Frühchristentums zu schaffen, glaubwürdiger und zielgerichteter. Die jesuanische Bewegung ist nicht eine Grenzerscheinung oder gar eine Korrektur des kanonischen Judentums, sondern die Expression einer dynamischen Gesellschaft, in der unerwartete Ähnlichkeiten und frappante Differenzen nebeneinander bestanden und als solche ausgewertet werden müssen. Tempel und Torah sind die Elemente, mit denen sich diese kleine Gruppe von Anfang an messen musste. Die geglaubte Auferstehung des Menschen, den sie für den Messias Israels hielten, beförderte sie vom Rand (Galiläa) ins Zentrum des Landes (Jerusalem). In dieser Weltstadt, wo religiöse, soziale und kulturelle Unterschiede gewaltig waren, musste diese kleine Gruppe nicht nur ums physische Überleben kämpfen, sondern auch um ihre ideologische Differenzierung bangen. Identität manifestiert sich zunächst in einem Prozess der Anpassung und erst viel später auch in einem Prozess der Abgrenzung. Dabei erscheinen manche Vorgänge nicht völlig verschieden von denen, die man aus anderen Gruppierungen kennt, wie zum Beispiel aus den sektiererischen Schriften aus den Qumran-Höhlen. Identität hat zunächst mit Kontinuität zu tun. Das Neue Testament beschreibt die frühchristliche Gruppe nirgends als einzigartig oder besonders, völlig abgespalten von ihrem kulturellen, sozialen und religiösen Kontext. Die jesuanische Botschaft und die Praxis der ersten Gemeinden sind 179 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Simone Paganini
zur Gänze im Einklang mit der Tradition der hebräischen Bibel, die erst viel später das »Alte Testament« wurde. Aber gerade diese Elemente der Kontinuität sind auch entscheidend, um die historische Glaubwürdigkeit der Bewegung wahrnehmen zu können. Das einzige und im Endeffekt wesentliche Element der Diskontinuität zwischen dem Frühchristentum und den anderen jüdischen Strömungen ist gleichzeitig die zentrale Botschaft der ersten jüdischchristlichen Gemeinden: Jesus, der Messias Israels, ist auferstanden. Obwohl messianische Vorstellungen ganz zentral für einige jüdische Gruppierungen waren, wird in keinem anderen jüdischen Text aus dem 1. Jh. n. Chr. die Auferstehung als entscheidendes Merkmal des Messias oder einer anderen Retterfigur angeführt. Was zum zentralen Inhalt der (früh)christlichen Identität wird, ist für alle anderen völlig belanglos.
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»Du bist der Messias.« Identität Christi und Identität des Christen – ein Versuch Johannes Bündgens
Vorbemerkung Dass Jesus der Messias ist, ist der Kern des christlichen Credos. Dass die Identität des Sohnes Marias, des Rabbis aus Nazareth, mit Bezeichnungen wie Christus (Messias, Gesalbter) und Sohn Gottes richtig ausgesagt wird, behält dauerhafte Geltung, auch wenn solche Aussagen das Geheimnis seiner Identität nie ganz erschöpfen. Von diesem Bekenntnis kommend bildet die christliche Botschaft ein Narrativ, das die Identität von Menschen vollgültig darstellen kann, auch heute und erst recht heute. Das Evangelium gehört zu der Art von Geschichten, die, indem sie erzählt werden, Identität erzeugen. Das geschieht im Raum der Kirche als der Erzählgemeinschaft, in der die Erfahrungen der Glaubenden ins Wort gebracht und öffentlich gemacht werden. Diesem Zusammenhang möchten die folgenden Seiten auf dem Hintergrund der Aachener Akademietagung »Identität und Identitätsbildung« vom Oktober 2015 nachgehen.
I)
Annäherungen an »Identität«
a)
Identität als Schlagwort der aktuellen gesellschaftlichen Debatte
»Identitär« – diese Wortschöpfung kommt in jüngster Zeit in Mode als Bezeichnung für bestimmte gesellschaftliche und politische Gruppierungen, mittlerweile sogar als Selbstbezeichnung. Das Leben in der pluralistischen globalisierten Welt verunsichert Menschen in ihrer Identität. Die zahlreichen Migranten fragen sich und die Gesellschaften, die sie aufnehmen, nach ihrer kulturellen, ethnischen und religiösen Identität. Populisten sind immer schnell bei der Hand mit simplen Antworten auf die komplizierte Frage nach dem Eigenen und 181 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Johannes Bündgens
dem Fremden und mit einem angeblichen Narrativ für europäische Identität. Im französischen Sprachraum ist die entsprechende Ausdrucksweise wohl schon länger im Gebrauch. In Michel Houellebecqs prophetischem Erfolgsroman Soumission (2015) z. B. wird »identitaire« durchgängig pejorativ verwendet, und zwar als Eigenschaft von kleinen gesellschaftlichen Gruppen speziell von Christen, die sich über die Betonung ihrer religiösen oder konfessionellen Identität definieren, dabei aber zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben werden: hier die postmoderne, laizistische Gesellschaft, die sich viel auf Toleranz und Offenheit zugutehält und diese »identitätsorientierten« Gruppen im Namen der Trennung von Kirche und Staat und der weltanschaulichen Neutralität des letzteren misstrauisch beäugt, belächelt oder verachtet, und dort die massive Präsenz des Islam, dessen Identität scheinbar so stark ausgeprägt ist, dass sie nicht hinterfragt wird und dass sie zuletzt kein wirkliches Gegengewicht mehr hat. »Christliche Identität« bleibt, zumindest in dieser fiktiven Sicht, ein bedeutungsloses Rand- oder Nischenphänomen. Man kann den Roman, dessen Autor sich als Atheist bezeichnet, auch als stillen Appell an Christen lesen, ihre Identität selbstbewusster zu leben und offensiver in die Dialektik der gesellschaftlichen Kräfte einzubringen. »Identität« ist zu wichtig und das damit bezeichnete Anliegen zu ernst, als dass man sie denen überlassen dürfte, die immer schon genau zu wissen meinen, was Identität, z. B. europäische oder christliche Identität, ist. Gegen solche Verkürzungen und Vereinnahmungen wird es nötig sein, Begriff und Wirklichkeit von Identität gut zu reflektieren und ihre Bedeutung für eine gelingende Integration herauszustellen. Heute ist ein engagierter Diskurs über Identität nötig, weil Identitätsfragen viel zu häufig zu Machtfragen stilisiert und dann sogar mit Gewalt ausgetragen werden. Die Rechtsregeln eines Verfassungsstaates allein sind nicht stark genug, um Identitäten zu bilden. Die Macht der kulturellen und weltanschaulichen Muster ist kaum zu überschätzen. Auch wenn die westliche Gesellschaft aus sich selbst wenig Neigung zeigt, die Identitätsfrage neu zu stellen: Die Entwicklungen im globalen Süden tragen sie immer wieder neu in ihre Mitte. Fragen wir also nach Identität – außerhalb aller tagespolitischen Bezüge und ohne Polemik!
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»Du bist der Messias.«
b)
Wer bin ich? – Identität existentiell
Wer bin ich wirklich? Diese Frage treibt uns Menschen um. Wir sind ein Leben lang auf der Suche nach der Wahrheit über uns selbst, »Pilger auf dem Lebensweg zur eigenen Identität« (Josef Pieper) 1. Die Fähigkeit, »ich« sagen zu können, unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen. Formen von Bewusstsein gibt es zwar auch bei Tieren; aber nur der Mensch hat Selbstbewusstsein. Im Wandel der Zeiten und in den Veränderungen des eigenen Lebens erfährt er sich als mit sich selbst identisch 2, aber diese Identität zu benennen fällt ihm schwer. In der Unübersichtlichkeit der globalisierten Gesellschaft gehen Identitäten verloren oder werden zerrieben und zerfetzt. Viele Wege, auf denen sich Menschen früherer Generationen ihre Identität gebildet haben, scheinen heute nicht mehr gangbar. Aus psychotherapeutischer Sicht hat E. H. Erikson die Identitätsgenese in einem 8-Phasen-Modell beschrieben. Darin ist der Eckstein, auf dem die Ich-Werdung einer gesunden Persönlichkeit aufbaut, das Urvertrauen, für dessen Entwicklung die allerersten Phasen des Lebens entscheidend sind, das aber das ganze Leben hindurch seine identitätsbestimmende Wirkung behält. Eine klare und starke Identität ist für das Gelingen des menschlichen Lebens ein entscheidender Faktor. Man muss den Terminus Identität nicht immer und sofort in seiner ganzen philosophischen und sprachlogischen Dichte verwenden. Vorwissenschaftlich kann man mit der Hypothese arbeiten: Identität ist die Antwort auf die Frage: Wer bin ich? In diesem eleVgl. Vogt, Markus, Christliches Menschenbild und abendländische Kultur. Acht Thesen aus theologisch-ethischer Sicht, in: Salzkörner 2016/4, 4: (4. These) »Lebenslang sind wir unterwegs zu uns selbst, zu unserer Identität. Das Gebot der Bergpredigt ›Seid vollkommen‹ (Mt 5,48) kann man präziser übersetzen mit: ›Seid ganz, nicht innerlich gespalten‹. Es meint nicht fehlerlose Perfektheit, sondern Authentizität. […] Die Einheit des Individuums mit sich selbst ist eine fragile Größe. Biographien sind häufig von tiefen Brüchen geprägt. […] Christliche Anthropologie geht auf Distanz gegenüber einem auf Leistung und verallgemeinerbare Standards bezogenen Perfektionismus. Individualität zeigt sich gerade auch im nicht Perfekten.« 2 Die wirksamste Ausdrucksform dieser Identität ist in der platonisch-abendländischen Tradition sicher die Vorstellung einer unsterblichen Seele geworden; aber sie ist keineswegs die einzig mögliche, zumal auch ihre problematischen Seiten sattsam bekannt sind. Darum wird hier die Frage der Seelenvorstellungen nicht explizit verfolgt, ohne dass damit ihre bleibende Bedeutung für die Identität des Menschen geleugnet wäre. 1
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Johannes Bündgens
mentaren Sinn ist jedem Menschen unabhängig von seinem weltanschaulichen Reflexionsniveau die Suche nach Identität aufgegeben. Es geht also um mehr als Begriffsklaubereien oder intellektuelle Glasperlenspiele unterschiedlicher philosophischer Denkrichtungen; sondern die Frage nach der Identität hat für jeden Menschen existentielle Dringlichkeit. Wenn die vertrauten Antworten auf die Frage: Wer bin ich? plötzlich nicht mehr tragen und eine neue gültige Antwort nicht in den Blick kommt, ist das ein persönliches Drama. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass viele, gerade nachdenkliche Menschen in den Widersprüchen und Zerrissenheiten unserer Zeit heftige Identitätskrisen durchleben. Und man kann vermuten, dass es weniger auf diese oder jene provisorische Antwort ankommt als vielmehr auf eine gute, verantwortliche Art, mit der Frage umzugehen, Identitätskrisen zu gestalten und eine positive Kultur der lebenslangen Identitätssuche zu pflegen. Therapeuten und Seelsorger verstehen ihre Arbeit als Dienst an den Menschen, die einen Identitätsverlust erleben und die auf der existentiellen oder spirituellen Suche nach ihrer wahren Identität sind. Wer bin ich? Mögliche Antworten bleiben vorläufig und stellen dieselbe Frage in neuer Form. Oft bleibe ich mir selbst ein Rätsel. Oft gebe ich mich mit vordergründigen Antworten zufrieden, so als ob man die eigene Identität ablesen könnte am Bankkonto oder an der Automarke, an der sozialen oder akademischen Rangstellung, an beruflichen, wissenschaftlichen oder sportlichen Leistungen. Die »Selfie«-Manie kann man als zeitgenössischen Ausdruck der Krise von Identität deuten. Die vielen Selbstbilder sollen mir angeblich helfen zu verstehen, wer ich wirklich bin und was an mir dauerhaft bleibt in den vielen wandelbaren Gestalten, und sind doch nur ein hilfloser Ausdruck der Vergeblichkeit aller Bemühungen, der eigenen Identität wirklich näherzukommen. In sozialen Netzwerken schaffen sich Menschen virtuelle Identitäten, vermutlich als Ausweg aus einer als unauthentisch, trist und vorhersehbar empfundenen Existenz in den Zwängen der Konsumund Leistungsgesellschaft. Lifestyle-Spiele im Internet suggerieren die Möglichkeit, beliebige Identitäten (»Avatar«) annehmen und gestalten zu können; und für viele Spieler verwischen sich hier die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Man kann auch die Diskussion um die Gender-Theorie als Symptom heutiger Identitätskrisen verstehen. Die Werte und Überzeugungen, die in der traditionellen patriarchalischen Ordnung der 184 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
»Du bist der Messias.«
Gesellschaft den Rahmen bildeten, innerhalb dessen der Mensch seine Identität entwickelte, sind nicht mehr in Geltung. Die Pluralität der Lebensstile in einer urbanisierten, von Migration und Transformation geprägten Lebenswelt macht die Suche nach Identität in ihrer männlichen oder weiblichen Ausprägung komplizierter. Ein Phänomen, das man in diesen Zusammenhang stellen kann, ist die Tendenz zu anonymen Bestattungen. Immer häufiger sehen sich Hinterbliebene und Bestatter mit dem nicht nur aus praktischen Motiven begründeten Wunsch konfrontiert, dass die sterblichen Überreste eines Verstorbenen ohne jeden Hinweis auf Namen und Biographie unauffindbar versteckt werden sollen. Seelsorger und Therapeuten berichten auch von dem untröstlichen Schmerz von Angehörigen, die dann keinen Ort haben, an den sie die Trauer um ihren lieben Toten hintragen und wo sie sie bearbeiten könnten. Mit dem Tod scheint so die Identität eines Menschen definitiv ausgelöscht. Mitten in einer Gesellschaft, wo das spektakuläre Event und die medienwirksame Selbstinszenierung zu zählen scheinen, zeigt sich paradoxerweise die Versuchung, sich ganz zu verbergen, jedes Indiz von Identität zu verleugnen und ins Nichts zu verschwinden. 3 Hinter der bedrängenden Suche nach Identität steckt die Erfahrung der Verwundbarkeit und der Vergänglichkeit. Der Mensch möchte sie am liebsten vor sich und vor anderen verbergen. Das Ich ist sterblich; damit muss jeder Mensch fertig werden. Aber die Idee, die seine Identität begründet und ihm Zugehörigkeit zur Welt verspricht, scheint ihm unsterblich. Wenn diese Idee in Frage gestellt wird oder sich doch als vergänglich erweist, wird der Mensch verunsichert.
c)
Identität christlich
Die drei Kant’schen Grundfragen »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« münden in die vierte Frage: »Was ist der Mensch?« 4 Oder vielmehr sind sie Ausfaltungen dieser einen Grundfrage, die, existentiell gewendet, heißt: »Wer bin ich?« ErkenntnisVgl. dazu jüngere Buchtitel wie Le Breton, David, Disparaître de soi, Paris 2015 und Zaoui, Pierre, La discrétion ou l’art de disparaître, Paris 2013. 4 Vgl. Martens, Ekkehard, Ich denke, also bin ich – Grundtexte der Philosophie, München 2000, 10 mit Verweis auf Kant, Immanuel, Logik, A 25/26. 3
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Johannes Bündgens
theorie, Ethik und Theologie haben ihren Fokus in der Anthropologie, d. h. für das konkrete Leben des Menschen in der Frage nach seiner Identität. Diese Frage »Wer bin ich?« hat nach dem christlichen Glauben und seinem Menschenbild mit Gott zu tun, nach dessen Bild und Gleichnis jeder Mensch geschaffen ist. Indem ein Mensch sich seiner selbst bewusst wird, erkennt er sich in dem Wort, durch das der Schöpfer ihn ins Leben gerufen hat. Sein Bewusstsein ist davon geprägt und getragen, dass er Sohn oder Tochter Gottes ist. Wir finden nicht zu uns selbst und zu den anderen, wenn wir es nicht »in Gott« tun. Dieses Bewusstsein der Gotteskindschaft prägt auch das Selbstbewusstsein Jesu, und das in einzigartiger Weise. Es ist der irdische Ausdruck für sein Bewusstsein, von Ewigkeit her der Sohn Gottes zu sein. Indem sich in Jesus das menschliche Selbstbewusstsein entfaltet, wird er sich bewusst, Gott der Sohn in seiner konstitutiven Beziehung zum Vater zu sein. 5 Er findet zu sich selbst und zu den anderen »in Gott«, ja noch mehr »als Gott«. Nach dem christlichen Glauben hat Gott selbst der menschlichen Existenz eine paradigmatische Deutung gegeben: in der Inkarnation seines Sohnes. Darin sind alle Identitätsmerkmale relativiert, auf die wir Menschen sonst so großen Wert legen. »Jetzt gibt es nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ›einer‹ in Christus Jesus.« (Galaterbrief 3,28) Christliche Identität besteht darin, in der Nachfolge Jesu Verwundbarkeit und Sterblichkeit anzunehmen und sie zum Ausgangspunkt einer universalen Solidarität mit allen Geschundenen und Benachteiligten zu machen. Christliche Identität relativiert alle anderen Arten von Identität. Christen waren in der Alten Welt die ersten, die sich nicht mehr durch nationale, kulturelle oder soziale Zugehörigkeit definierten. Und auch die sexuelle Identität, von der Gender-Theorie in Frage gestellt, eignet sich nicht als Schlachtfeld für gesellschaftliche Kontroversen. Sie drückt nicht die ganze Identität des Menschen aus, auch wenn sie ein Wesensbestandteil davon ist. Umfassender ist die liebende Solidarität nach dem Beispiel Jesu. Die Eckpfeiler der christlichen Anthropologie behalten ihren Wert; aber damit ist längst nicht alles gesagt. Abstrakte Antworten »Jesus ist Gott der Sohn« ist der Titel von Karl-Heinz Menkes christologischem Hauptwerk.
5
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»Du bist der Messias.«
auf die Frage nach der menschlichen Identität gibt es keine. Menschenwürde, Freiheitsrechte, Gottesebenbildlichkeit, Personalität, Autonomie – alle noch so wichtigen Attribute erschöpfen nicht von fern die Identität eines Menschen. Jeder Mensch ist wesentlich einzigartig. Kein Mensch ist einem anderen gleich. Vom Schöpfungsglauben her gründet die Vielfalt menschlicher Identitäten in Gott und findet in ihm ihre Vollendung. Die Fülle der Identitätsmöglichkeiten »ist eingefaltet bereits in Gott. […] Jeder Mensch trägt das Maß seiner Vollkommenheit in sich und muss seinen eigenen Lebensweg finden. […] Alle Menschen sind in ihrer Verschiedenheit auf Gott als Zentrum des Universums hin geordnet. […] Ihre unterschiedlichen Perspektiven konvergieren in Gott.« 6 Gott der Schöpfer ruft jeden Menschen ins Leben mit der Potentialität, eine unverwechselbare einzigartige Identität zu entfalten. Für christliche Philosophen ist Gott der tragende »Innengrund« menschlicher Identität. 7
d)
Die Bedeutung Jesu Christi für die Identitätssuche der Menschen
Die Vielfalt menschlicher Identitäten ist also kein unübersichtliches Chaos, sondern Reichtum. Für Christen gibt es über die Gottesebenbildlichkeit der biblischen Schöpfungstheologie hinaus und eng mit ihr verbunden einen konkreten Konvergenzpunkt: Jesus von Nazareth trägt nach dem Glauben der Kirche in seiner Person alle Menschen in sich: 8 »Jesus in sich ist nicht nur eine Person, sondern indem er Mensch wird, greift er nach dir und mir und nach jedem und trägt ihn in seinem einen Schicksal mit. Es gibt ein einziges Schicksal Jesu; es ist das Schicksal aller Menschen. Es gibt eine einzige Menschheit
Kather, Regine, Person, Darmstadt 2007, 33 f. mit Bezug auf Nikolaus von Kues. Vgl. Müller, Klaus, Gottes Dasein denken. Eine philosophische Gotteslehre für heute, Regensburg 2001, 177. – »So gewiss ich weiß, dass ich mich meine, wenn ich ›ich‹ sage, so gewiss weiß ich auch, dass ich das Aufkommen dieses Wissens nicht in meiner Hand habe. [… Es ist vielmehr] auf einen ihm selbst nicht verfüglichen Grund verwiesen, […] Gott als ›Innengrund‹.« Zitiert bei Halík, Tomás, Ich will, dass du bist, Freiburg 2015, 79. 8 Cyprian, Vaterunserkommentar, nennt das als Begründung dafür, dass Jesus uns lehrt, Gott mit »unser Vater« (und nicht mit »mein Vater«) anzureden. 6 7
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Jesu und darinnen macht er sich zum Bruder aller und lebt aller Schuld und Last mit und gibt alles dies dem Vater anheim.« 9 Weil der Sohn Gottes durch seine Menschwerdung gewissermaßen der Bruder aller Menschen wird, hat die Frage nach der Identität in seinem Fall besondere Brisanz. An der einzigartigen Stellung und Sendung, d. h. an der Identität Jesu Christi hängt der ganze christliche Glaube. Wenn Jesus nach dem Glauben der Kirche der universale Erlöser ist, dann hat seine Identität transzendentale Bedeutung für alle Menschen. Darum kreisen alle Glaubensformeln um die Identität Christi. Dass der vorösterliche Jesus der Geschichte mit dem nachösterlichen Christus des Glaubens identisch ist, begründet das Credo der Kirche, das gegen alle Relativierungen immer neu zu verteidigen ist. Die messianische Identität Jesu ist prinzipiell schon vor Ostern erkennbar (auch wenn das vielfach bestritten wird); denn diese Identität besteht wesentlich in der Beziehung Jesu zum Vater, die sich als Kontinuum durch die unterschiedlichen Phasen des Heilswerks durchhält. 10 Als Jesus nach der Auferstehung den Jüngern erscheint, fällt es diesen zunächst schwer, ihn wiederzuerkennen: Ist er es oder ist er es nicht? Es dauert einige Zeit, bis bei den ersten Zeugen Einwände und Zweifel überwunden sind und sich die Erkenntnis durchsetzt: »Es ist der Herr.« (Johannes 21,7) Die Ostererzählungen drücken die bleibende Identität Jesu Christi vor und nach Ostern durch das Motiv aus, dass der Auferstandene die Wundmale der Kreuzigung trägt und von den Jüngern daran erkannt wird. Sie können diese Wunden sehen und sogar berühren und sich so der Identität ihres Meisters sinnenhaft vergewissern. Eine ähnliche Funktion erfüllen die gemeinsamen Mahlzeiten: So wie Jesus während seiner Wirksamkeit in Palästina mit seinen Jüngern häufig gegessen und getrunken und diese Mahlerfahrungen bei jenem Festmahl am letzten Abend seines ErdenHemmerle, Klaus, Erste Überlegungen zu möglichen Themen für den Dresdener Katholikentag, in: Weggeschichte mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Bonn 1994, 39. 10 Darstellung der Kontroverse, ob Jesus schon vor Ostern als Messias erkennbar war und ob die Jünger auch beim Kreuzestod ihres Meisters an diesem Glauben festhalten konnten, und moderne Begründung der entsprechenden kirchlichen Lehre bei Menke, Karl-Heinz, Jesus ist Gott der Sohn, Regensburg 2008, 43–47 mit Berufung auf die Positionen von Rudolf Pesch und Hansjürgen Verweyen, die sich mit den Argumenten der Bestreiter ausführlich kritisch auseinandersetzen. 9
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lebens unvergesslich zusammengefasst hat, so finden nach Ostern Mahlzeiten der Jünger mit dem Auferstandenen statt: Am Brechen des Brotes erkennen sie seine Identität. Die Umstände sind radikal anders; aber ihr Tischgenosse ist derselbe, der mit ihnen vor Ostern Mahl gehalten hat. Der Auferstehungsleib ist »ganz anders« als der Leib Jesu von der Geburt in Betlehem bis zum Tod am Karfreitag. Man erkennt ihn zunächst nicht wieder. Man ist »wie mit Blindheit geschlagen« (Lukas 24,16); aber wenn einem dann die Augen aufgehen, erkennt man ihn in seiner Identität und man erinnert sich daran, dass einem in dieser Begegnung das Herz brannte (24,31 f.). Hier wird auch deutlich, dass die Identität Jesu nicht einfach mit der Tatsache der Menschwerdung gegeben ist, dass sie ohne die Erfahrung seines Lebens und Leidens, seines Sterbens und Auferstehens nicht vollständig wäre. Es ist eine zugleich inkarnatorische und österliche Identität. Die Verflechtung der Suche nach der eigenen Identität mit derjenigen nach der Identität Christi erkennt man schon bei Paulus. Er war in seiner pharisäischen Identität durch die Begegnung vor Damaskus zutiefst verunsichert worden. Das war für ihn wie ein Tod. »Ich bin dem Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.« (Galaterbrief 2,19 f.) Seine neue christliche Identität kann er nur durch einen engen Austausch mit Christus beschreiben. Es ist eine mystische Identität »im Glauben« und »mit Christus«.
e)
Ich – Sein und Bewusstsein
Über die Identität Christi macht also das Bekenntnis der Kirche, angefangen von den Schriften des Neuen Testaments, starke Aussagen. Ist es nun legitim zu fragen, ob und wie sich Jesus selbst dieser Identität bewusst war? In einer bestimmten Phase haben Theologen jedenfalls diese Frage gestellt, ausgehend von allgemeinen Vorüberlegungen: Das Ich, das individuelle Subjekt, ist das ontologische und gnoseologische Fundament des Bewusstseins. 11 Das Bewusstsein nimmt das Ich wahr als etwas von sich selbst Verschiedenes, ihm Vo11
Edith Stein, Endliches und ewiges Sein: Das Ich lebt, und sein Leben ist sein Sein.
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rausliegendes. Das Bewusstsein ist ein Zweites, reflexiv und psychologisch, gegenüber einem Ersten, dem »Ich«. Persönliche Identität bildet sich nicht ontologisch, sondern psychologisch, d. h. mittels des Bewusstseins. Es bleibt die Frage, wie die von der Psychologie erforschten Gegebenheiten der inneren seelischen Dynamik und die Ergebnisse der phänomenologischen Analyse der Subjektivität im metaphysischen Grund des Seins verankert sind. Während die scholastische Philosophie das Fundament für die Identität einer Person im Sein selbst sieht, sucht das neuzeitliche Denken diesen Grund im Bewusstsein. Es ist das Phänomen, das in der Moderne insgesamt ins Zentrum der Philosophie rückt; und es ist folgerichtig, dass dann auch die zeitgenössische Christologie versuchsweise das Bewusstsein Jesu in den Mittelpunkt stellt, oft in der zugespitzten Form der Frage, auf welche Weise denn der Mensch Jesus von Nazareth sich dessen bewusst sein konnte, dass er der Sohn Gottes war. Eine Reihe Theologen des 20. Jahrhunderts suchten Antworten auf dem Hintergrund von bewusstseinsphilosophischen und dann auch psychologischen Ansätzen und verstrickten sich darüber in unlösbare Kontroversen. Aus phänomenologischer Sicht konnte eine solche Fragestellung nur in eine Sackgasse münden. Die Identität Jesu ist für einen aufmerksamen Leser der Evangelien, für einen aufrichtig interessierten Hörer der kirchlichen Verkündigung und für jemand, der das Zeugnis der Gläubigen über Jesus und ihre Beziehung zu ihm zu lesen versteht, eine unmittelbare Gegebenheit »an sich« und eine untrennbare originäre Einheit: eine starke Persönlichkeit von unverwechselbarer Originalität, eine ausgeprägte Menschlichkeit einschließlich der Fähigkeit, Leid und Schmerz zu ertragen, Niederlagen und Rückschläge einzustecken, aus Erfahrungen zu lernen und sich weiterzuentwickeln, die eigenen Grenzen anzunehmen und zu erweitern, eine hoch entwickelte Beziehungsfähigkeit, angefangen von der sohnschaftlichen Beziehung zu Gott bis zur freundschaftlichen Verbundenheit mit seinen Jüngern und zur empathischen Solidarität mit den Armen und Leidenden. Das Bewusstsein Jesu entfaltet sich im Verhältnis zu Gott wie das Bewusstsein jedes Menschen in geschöpflicher Freiheit, Gehorsam, Gebet. Dieses Bewusstsein hat seine Geschichte, es durchlebt seine Erfahrungen, es ist durch Identitätskrisen Mit anderen Worten: Die Existenz des Ich hat einen metaphysischen Vorrang; es ist das Seiende in einem herausragenden Sinn.
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bedroht. In der Tiefe dieses Bewusstseins liegt unreflexiv eine einzigartige und unerschütterliche Nähe zu Gott.
f)
Die Identität Christi in der Geschichte
Immer schon übten die Person Jesu Christi und ihre »paradoxe Originalität« 12 eine starke Faszination aus. Sein Charisma strahlt ungebrochen und provokativ über die Generationen hinweg. Intuitiv oder systematisch, theologisch, philosophisch, literarisch, künstlerisch, spirituell, mystisch setzen sich Menschen seit zwei Jahrtausenden mit ihm auseinander. Alle Kulturen entwickeln in dieser Auseinandersetzung ihre ureigene Auffassung von seiner messianischen Identität. Die alte Kirche hat ihre Auffassung von der einzigartigen Identität Jesu auf den großen christologischen Konzilien festgelegt oder mindestens verbindliche Sprachregelungen dazu getroffen. Mit Konzilsbeschlüssen wie denen von Nizäa, Ephesus und Chalkedon war aber das Ringen darum längst nicht zu Ende; es setzt sich durch die Generationen fort bis in die Gegenwart. In unserem »säkularen Zeitalter«, wie es Charles Taylor nennt, hätte man damit rechnen können, dass parallel zum gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Kirche das Interesse an der Identität Jesu abnimmt. Erstaunlicherweise ist genau das Gegenteil der Fall. 13 Wie keine andere Generation hat die unsere eine ungeheure Anreicherung ihres Christusverständnisses erlebt. Die Art, wie Christus uns heute lebendig, detailliert und anschaulich vor Augen steht, wäre unseren Vorfahren bis weit ins 20. Jahrhundert unvorstellbar gewesen. Das Christusbild vieler Zeiten des etablierten Christentums kommt uns in der Rückschau ärmlich und blass vor. Wache Zeitzeugen sahen tatsächlich schon lange einen großen christologischen Nachholbedarf. 14 Wenn man nach den Gründen fragt: Innertheologisch wirkte sich die Aufsplitterung der Beschäftigung mit der Person Christi in unterschiedliche Traktate (Menschwerdung – Erlösung – AufersteSesboüé, Bernard, Les »trente glorieuses« de la christologie (1968–2000), Brüssel 2012, 92. 13 Einen guten Überblick über die ausufernde und sensationslüsterne zeitgenössische Jesus-Literatur bei Kollmann, Bernd, Die Jesus-Mythen, Freiburg 2009. 14 Pierre Teilhard de Chardin stellte in seinem Todesjahr 1955 (Essay »Le Christique«) bedauernd fest, die Christologie habe seit Jahrhunderten keine Fortschritte mehr gemacht. 12
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hung / Dogmatik – Soteriologie – Apologetik) negativ aus. Die Fragestellung unter dem Titel »Identität Jesu« ist eine Hilfe zur Vereinheitlichung. Das II. Vatikanische Konzil selbst stellt zwar die Christologie nicht ausdrücklich ins Zentrum seiner Beratungen; aber danach brach eine Epoche der Blüte für die Christologie an. Ein genauer Beobachter der Szene nennt sie die »dreißig glorreichen Jahre der Christologie« 15. Eine große Anzahl bedeutender Theologen hat dem Thema ihre ganze Aufmerksamkeit gewidmet. Auch nicht-christliche Autoren beteiligen sich engagiert an der christologischen Debatte. Das Bild Christi im Bewusstsein der Kirche und der Gesellschaft ist am Ende dieser Jahrzehnte ein ganz anderes als am Anfang. Die herkömmliche »Christologie von oben« wurde nach den reichhaltigen Erkenntnissen der historischen (exegetischen, patristischen, liturgiewissenschaftlichen, archäologischen) Forschungen durch eine »Christologie von unten« ergänzt. Die Frage nach der Identität stellt sich (in Bultmann’scher Terminologie) in der Formulierung, ob und wie der Jesus der Geschichte identisch ist mit dem Christus des Glaubens, oder (in Balthasar’scher Terminologie), ob und wie das Sich-Hingeben Christi identisch ist mit seinem Verherrlicht-Werden. Kann man das »ist« in Aussagen wie »Jesus ist Gott« oder »Ein und derselbe ist Gott und Mensch« heute im Sinn einer logischen und metaphysischen Gleichsetzung »A gleich B« verstehen? Zwischen der menschlichen Natur Jesu und der göttlichen Person des Logos herrscht ein Verhältnis von Identität und zugleich Nicht-Identität. Konkret ist Jesus eine einzige Wirklichkeit, aber seine Identität ist komplex. Als theologische Chiffre dafür hat sich in der Kirche der Ausdruck »hypostatische Union« durchgesetzt. Die menschliche Natur Jesu verhält sich zur göttlichen Person des Logos in einem Verhältnis der existentiellen Identität in bleibender Unterschiedenheit. Das Paradox der Inkarnation umfängt die Identität von Identität und Nicht-Identität. Die Frage nach der Identität unterstreicht stark die Einheit der Gestalt Jesu Christi; aber diese Einheit kann nicht ganz ohne Analogie und Zweipoligkeit gedacht werden: Gott und Mensch, Niedrigkeit und Herrlichkeit, Zeit und Ewigkeit, Sterblichkeit und Unvergänglichkeit. Zum Menschsein, auch zum Menschsein Christi, gehört das geschichtliche Werden: Gott wird Mensch, ein Mensch verwirklicht und verinnerlicht seine göttliche Identität. 15
Buchtitel von Bernard Sesboüé, Les »trente glorieuses« de la christologie.
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Die Frage nach der Identität Jesu behält also ihre Faszination, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Allerdings ist diese Zeitansage nicht so ungetrübt positiv, wie sie klingen könnte, und zwar aus zwei Gründen: Erstens kann man natürlich alles, was Sesboüé als Zeugnis für die Blüte der Christologie anführt, auch anders deuten: als Symptom der Krise. 16 Die Vielzahl der Veröffentlichungen und die Unterschiedlichkeit der Richtungen, in die sie weisen, sind Indiz dafür, dass die Selbstverständlichkeit abhandengekommen ist, mit der frühere Generationen an Jesus als den Sohn Gottes und den Erlöser der Menschheit geglaubt haben. Mit der anderweitig (auf ekklesiologischem und ökumenischem Gebiet) umstrittenen Instruktion »Dominus Iesus« der Glaubenskongregation aus dem Jahr 2000 hat das Lehramt zum ersten Mal seit über anderthalb Jahrtausenden wieder das Sohn-Gottes-Sein Jesu und seine universale Heilsbedeutung herausstellen müssen. Für die gängige christliche Katechese ist das Thema der Identität Christi ein blinder Fleck. Und zweitens ist natürlich der Einwand nicht zu widerlegen, dass die Identität Jesu aufs Ganze gesehen die allermeisten Menschen der säkularen Epoche heute völlig kalt lässt und vielleicht irgendwann ihre gesellschaftliche Relevanz ganz verliert. Diese Entwicklung muss gläubige Menschen deswegen beunruhigen, weil im Zentrum des Christentums ja keine weltanschaulichen oder ideologischen Positionen stehen, auch nicht zuerst ethische Normen und Werte, sondern die Person Jesu Christi und unsere Beziehung aus Jüngerschaft und Freundschaft zu ihr. Das Verhältnis zum Gründer ihrer Religion ist für Christen ein ganz anderes als für Juden oder Muslime. Schon Paulus spitzt die Kontroverse mit seinen Gegnern auf die Frage der Identität Christi zu. Es ist nicht hinzunehmen, wenn jemand »einen anderen Jesus verkündigt, als wir verkündigt haben« (2. Korintherbrief 11,4). Wenn Christus seine Faszinationskraft verliert, ist christliche Verkündigung und Mission gegenstandslos. Das spezifisch Christliche ist die Person Jesu Christi. Das Desinteresse unserer Zeit an der Gestalt Jesu ist für gläubige Menschen eine historische Ungerechtigkeit; denn die freiheitliche, demokratische westliche Welt verdankt ihre wichtigsten GrundvorAlbert Dondeyne spricht von der Malaise der heutigen Christologie. In: Ders. / Mouson, Jean / Vergote, Antoine / Renaud, Michel / Gesche, Adolphe, Jésus Christ, Fils de Dieu, Bruxelles 1981, Fundort: Sesboüé, Les »treinte glorieuses«, 422.
16
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stellungen dem hartnäckigen Fragen der frühen Christenheit nach der Identität Christi. Der Personbegriff der abendländischen Philosophie, der in die Vorstellung von der unantastbaren Würde des Menschen und von seinen unveräußerlichen Rechten mündet, hat christliche Wurzeln (auch wenn diese Evidenz natürlich von vielen hartnäckig bestritten wird). 17 Oder zumindest ist das Menschenbild der Bibel und des Evangeliums eine der Wurzeln dieses Personbegriffs; daneben wären griechische Philosophien wie der Neuplatonismus und das römische Recht zu erwähnen. Die christologische Diskussion des Altertums kreiste um die zwei Grundbegriffe Natur und Person (ousía/hypóstasis) und ihr Verhältnis zueinander. Die oft leidenschaftlich geführte Debatte um die Identität Jesu hat demzufolge zwei Fragen geschärft: erstens, was menschliche Natur ist, was wahres Menschsein, Humanität und Humanismus heißt, und zweitens, was Personsein ausmacht, Subjektivität, Selbstbewusstsein, Autonomie, Würde und Rechte. Sie hat ein begriffliches Instrumentarium dafür entwickelt und Hypothesen über die Zuordnung der beiden Größen formuliert. Es waren die christologischen und trinitarischen Kontroversen, die eine metaphysische Klärung des Begriffs »Person« vorangetrieben haben. Die großen Kirchenväter wie Origenes, Basilius, Gregor von Nazianz und Cyrill von Alexandrien im Osten, Tertullian, Augustinus und Boethius im Westen haben den Begriff der Person in Absetzung von dem der Natur profiliert. Mittelalterliche Theologen wie Bonaventura, Albert, Thomas und Scotus haben die Entwicklung weitergetrieben. Die Denkwege von diesen Ausgangspositionen zu den Grundtexten der freiheitlichen Gesellschaft lassen sich lückenlos nachzeichnen. Dabei lösen sie sich aus ihren theologischen Kontexten und werden säkulares Allgemeingut der Menschheit. Schon die Naturrechtslehre des 16. Jahrhunderts ist von Theologen so formuliert, dass sie ohne konfessionellen Glauben tragfähig ist. Das Risiko, dass freiheits- und friedensliebende Menschen dann dem christlichen Glauben komplett den Rücken zukehren und tatsächlich so leben, als ob es Gott nicht gäbe, hat dieses Denken wohl sehenden Auges in Kauf genommen. Der moderne Atheismus ist ein Ausfluss der christlichen Geistesgeschichte. Wer den »Tod Gottes« verkündet, tritt mit
Vgl. zuletzt Baschet, Jérôme, Corps et âmes. Une histoire de la personne au Moyen Âge, Paris 2016.
17
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dem Anspruch auf, damit den »christlichen Mythos vom Sterben des Sohnes Gottes« endlich richtig und radikal genug zu interpretieren. Aber die Identität Jesu steht nicht für den Tod Gottes, sondern für die Menschlichkeit Gottes. Wer sich mit der Identität Jesu auseinandersetzt, der ringt nicht nur um die Deutung einer bestimmten Person, sondern er wird durch sie existentiell herausgefordert. Schon der vorösterliche Jesus tritt mit einem hohen Autoritätsanspruch auf. In der Terminologie Bultmanns: Interpretation und Interpellation lassen sich im Fall Jesu nicht trennen. Bei aller Berechtigung eines transzendentaltheologischen, anthropologisch gewendeten Ansatzes (wie bei Karl Rahner): Die Identität Jesu ist einzigartig. Sie lässt sich nicht unter die allgemeinen Gesetze des Anthropologischen subsumieren. Es ist (nach Schelling) das Wesen der Freiheit, dass sie den Primat des Allgemeinen über das Besondere ablehnt. Jesus ist der Mensch der höchsten Freiheit. Dass sich die Idee der Würde des Menschen und seiner Freiheit nur in einer christlichen Gesellschaft entwickeln konnte, hängt eng mit seiner Person zusammen. Er hat geschichtlich gelebt als der ganz unabhängige, freie Mensch. Ein Theologe drückt es so aus: Seine innere Freiheit ist ansteckend; indem er unter uns Menschen lebte, vermischte er seine Energie mit unserer Geschichte und gab so dem Dasein jedes Menschen die Möglichkeit einer entsprechenden Ausrichtung vor. 18 Aus phänomenologischer Sicht ist das Zögern traditioneller Christologien, die sich schwer tun, von der »menschlichen Person« Jesu zu reden, nicht nachvollziehbar. Damit ist eine bedeutsame Entwicklung des Begriffs »Person« angedeutet: Zur Zeit der alten Konzilien meinte man damit einfach den Akt des Für-sich-Seins, das letzte Subjekt einer konkreten Individualität; heute umschließt Personsein vor allem menschliche Originalität, Beziehungsfähigkeit und konkrete Freiheit. In diesem Sinn ist es mit den Bestimmungen von Chalkedon vereinbar, von der »menschlichen Person« Christi zu sprechen. Er hat keine menschliche Person, die vom göttlichen Logos verschieden wäre; aber er ist eine menschliche Person; die göttliche Person ist ganz Mensch geworden. So menschlich zu sein, wie es Jesus von Nazareth war, das konnte nur Gott selbst. 19 Seine Menschlichkeit
Vgl. Duquoc, Christian, Christologie, T. 1 L’Homme Jésus, Paris 1968, 255. In Anlehnung an Boff, Leonardo, Jesus Christus der Befreier, Essay einer kritischen Christologie (1974), 160.
18 19
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ist so dicht, dass sie aus der allgemeinen »condition humaine« herausfällt. 20 Wer nach der Identität Jesu fragt, der trifft auf eine außergewöhnliche Persönlichkeit von geheimnisvoller Transparenz, die der Psychologie rätselhaft bleibt. Seine Gottesbeziehung wurzelt in mystischen Tiefen; und doch ist er den Menschen und ihrem Lebensalltag ganz realistisch nahe. Seine Spiritualität kommt ohne Visionen und Ekstasen aus. 21 Er ist der gerechte und barmherzige Mensch, der schuldlos leidet. Gegenüber Gott und seiner Heiligkeit zeigt er niemals ein schlechtes Gewissen oder ein Gefühl der Unwürdigkeit. Für die Psychologie gehört ein Mensch ohne Fehler und ohne Sünde ins Reich der Paranoia; aber Jesus hat keine paranoiden Züge. Vielmehr ist er ein Mensch, der vergibt und versöhnt. Die Identität Jesu ist ganz und gar theologischer Natur. Man kann ihn nur aus der Beziehung zum Vater verstehen. Er hat sich ganz mit der Sache Gottes und seines Reiches identifiziert; und Gott hat sich mit ihm identifiziert. Er hat keine egozentrische, sondern eine »allozentrische« Struktur: Alles in seinem Leben kreist um den anderen: um Gott, ist dem Vater zugewandt. Mit Christus ist das Absolute in die Geschichte eingedrungen. Er ist die Gestalt, in der sich die Offenbarung Gottes wie in einer Synthese zeigt. Die Weltreligionen kennen alle die aufsteigende Bewegung, mit der die Menschen nach Gott suchen; allein das Christentum ist die absteigende Bewegung, mit der Gott den Menschen sucht und ihm in Christus entgegenkommt. Maximum und Minimum, das Größte und das Kleinste, fallen in ihm in eins. 22 Die katholische analogia entis (Thomas) und die protestantische analogia fidei (Barth) werden überboten von der analogia Christi, der Konkretheit des Absoluten in der Geschichte. Wenn es »die dreißig glorreichen Jahre der Christologie« bis zur Jahrtausendwende denn wirklich gegeben haben sollte – heute ist diese Blütezeit vorbei. Forschungen und Veröffentlichungen beziehen Vergote, Antoine, Jesus von Nazareth in der Sicht der Religionspsychologie, in: Dondeyne u. a., Jésus Christ, Fils de Dieu, 116 ff. Fundort: Sesboüé, Les »treinte glorieuses«, 424. 21 Wenn man die Art, wie Jesus selbst das Geschehen bei der Taufe im Jordan durch Johannes erlebt (Markus 1,10: Er sah den Himmel offen), als Vision bezeichnen will, ließe sich das als Ausnahme des Anfangs begründen. 22 Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo, divinum est. (Grabinschrift des Ignatius, gedeutet von Hölderlin und Hugo Rahner). 20
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sich großenteils auf den genannten Zeitraum und verstehen sich als Aufarbeitung seiner großen Erkenntnisse. Die Feststellung einer gewissen Verlangsamung der christologischen Dynamik bedeutet aber nicht, dass die Frage nach der Identität Jesu nicht auch heute brennend aktuell wäre. Während sich die vorgebliche Blüte der Christologie stark im Kontext der abendländischen Geistesgeschichte und ihrer Themen wie Bewusstsein, Freiheit, Personsein verortete, weitet sich im Zeitalter der Globalisierung der Horizont. Es zeichnen sich aufregende Aufgaben für Christologien von morgen ab: Gesucht werden eine Christologie der Befreiung in Lateinamerika, eine der Inkulturation in Afrika, eine des Religionspluralismus in Asien. Für die säkularen Gesellschaften Europas und Nordamerikas braucht es eine Christologie des erwachsenen, aufgeklärten Glaubens. Den christologischen Erkenntnissen würden anschauliche Christus-Bilder entsprechen. Der Pluralismus der Ansätze darf die Einheit der Identität Jesu nicht zerreißen. Auch der interreligiöse und interkulturelle Dialog, von dessen Gelingen das Wohlergehen der Menschheit abhängt, erfordert als Pendant zu einer christlichen Theologie der Weltreligionen eine integrale, inklusive Christologie. Die Interpretationen der Identität Jesu bei den griechischen und lateinischen Autoren der orientalischen und der abendländischen Tradition haben sein Jude-Sein in den Hintergrund gedrängt. Der jüdische Kontext wird also stärkere Beachtung finden. Die christliche Theologie hat kein Monopol auf Christus; er gehört allen Menschen. Juden und Muslime haben ihr Jesus-Bild, oft mit überraschend positiven Zügen wie beim »Bruder Jesus« von Shalom Ben-Chorin. Nicht-christliche Denker geben ihm ihre Deutung: Kant hält die Vorstellung von Christus für die Idee der reinen praktischen Vernunft; Fichte sieht in Jesus die absolute Vernunft, die unmittelbares Selbstbewusstsein geworden ist; Karl Jaspers sieht ihn als den Menschen, an dem man das Maß des Menschseins ablesen kann, Ernst Bloch als den, der sich in einer Weise engagiert, die nur von Gott stammen kann; atheistische Denker wie die neuen Marxisten betonen die Komponente der sozialen Gerechtigkeit, Erich Fromm das Christus-Dogma. Christologie hat philosophische Implikationen: Wenn die Existenz Jesu wirklich ganz in Gott gründet, welche Konsequenzen hat das für das Selbstverständnis des Menschen? Christliche Philosophen wie Nikolaus von Kues, Erasmus, Pascal, Kierkegaard und Simone Weil kennen eine Christus-Philosophie. Spinoza sieht ihn als höchsten der Philosophen auf einer Ebene mit Sokrates. 197 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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II)
Identität in phänomenologischer Sicht
In einem phänomenologischen Kontext die Frage nach der Identität und dann auch die nach der Identität Jesu zu stellen, führt einen mitten in philosophisch kontroverses Gelände, jedenfalls wenn man die großen Linien der Philosophiegeschichte provisorisch einmal etwa so nachzeichnet: Klassische Ontologien im Gefolge von platonischer Ideenlehre und aristotelischer Metaphysik definieren Identität über das ideale Wesen im Unterschied zu den flüchtigen Erscheinungen, über die innere Substanz im Unterschied zu den äußeren Akzidentien. Diese Denktradition zieht sich durch Antike und Mittelalter bis zum Rationalismus der frühen Neuzeit, mindestens etwa bis Descartes, der das reine »Ich« als geistige Substanz definiert, das denkende »cogito«. Angesichts solcher Zuspitzungen fangen kritische Stimmen aus dem Empirismus seit Locke und Hume an, das Konzept der idealen, substantiellen Identität erstmals explizit zu hinterfragen. In der sich daraus entwickelnden positivistischen und analytischen Philosophie wird Identität auf nicht-personale Faktoren, etwa einen körperlichen oder mentalen Status, physikalische oder psychologische Kontinuität, reduziert. Letztlich werden Begriff und Wirklichkeit der Identität überflüssig und in der Postmoderne stillschweigend zu Grabe getragen. Ähnlich die Entwicklung in der Literatur: Zeitgenössische Romane wählen, sicher in kritischer Abhebung von der starren und fixen Identität der Heldenfiguren in alten Mythen, Legenden und Romanen, gerne das Thema, wie sich die Identität eines Romanhelden bis zur Unkenntlichkeit zersetzt, bis der »Mann ohne Eigenschaften« 23 am Ende ohne eigene Identität und ohne eigenen Namen dasteht. 24 Aber gerade in dieser negativen, destruktiven Version stellt sich dem gespannten Leser, der dem Weg seiner Romanfigur folgt, am Ende umso bedrängender die Frage: Wer bin ich wirklich? 25 Die Frage nach der Identität kommt also nicht zur Ruhe. Totgesagte leben länger. 26 Denn ohne Rücksicht auf die philosophische Der Titelheld von Robert Musils gleichnamigem Schlüsselroman. Beispiele der Literaturgeschichte aus Kipling, Hoffmann, Augustinus, Novalis, Jacobsen, Ibsen, Joyce, Kafka, Canetti, Cervantes, Rimbaud, Boine, Pirandello, Pessoa u. a. bei Magris, Claudio, Le frontiere dell’identità, in: La sapienza del cuore, omaggio a Enzo Bianchi, Torino 2013, 511 ff. 25 Vgl. Ricœur, Paul, Narrative Identity, in: Philosophy Today, Spring 1991, 78. 26 Dieses Apperçu mit Blick auf die zeitgenössische Identitätsdiskussion sowie weitere Anregungen im Text bei Straub, Jürgen, Personale Identität, in: Ders. / Renn, Joachim 23 24
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Debatte vollzieht sich rapide die gesellschaftliche Entwicklung: In traditionellen Gesellschaften ist Identität eine Folge sozialer Rollen und Systeme, unveränderlich festgelegt oder mindestens entscheidend vorgeprägt durch Geburt und Stand; in der Moderne dagegen ist Identität nichts Vorgegebenes, sondern sie wird gebildet und entwickelt. Menschen wählen und verändern ihre Identitäten. Die Freiheit dazu wird als Glück und Fluch zugleich erfahren. Positive Faktoren für die Entwicklung von Identität sind etwa gute Bildungschancen, Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten, Gleichberechtigung der Geschlechter, Toleranz und Respekt vor Minderheiten. Der wachsenden Freiheit der Individuen, ihre Identität zu konstruieren, entspricht ein Bedeutungsverlust herkömmlicher Institutionen wie Familie und Kirche. Heute erfüllt das Thema Identität also wieder den gesellschaftlichen Diskurs, nicht als Behauptung und These, sondern als Frage und Aufgabe. Nach so einem dynamischen Verständnis ist »Identität die Weise, wie der Mensch in der jeweiligen Situation zu sich selbst steht« (Peter Neher). Der Mensch kann nicht aufhören, sich die Frage zu stellen: Wer bin ich? Darum kann es nicht bei der Reduktion der Identität auf statische Gegebenheiten oder empirische Daten und damit ihrem Absinken in die Bedeutungslosigkeit bleiben. Das »Selbst« des Menschen gehört nicht in die Kategorie der Tatsachen und Ereignisse. Dieser Herausforderung hat sich die philosophische Anthropologie zu stellen. Wenn die Rückkehr zur alten scholastischen Ontologie versperrt bleibt, bietet der phänomenologische Ansatz eine Alternative. Er setzt die aristotelische Unterscheidung von Substanz und Akzidentien in Klammern und fasst Identität neu von dem her, was sich einer unvoreingenommenen Wahrnehmung zeigt, von den Phänomenen, in denen etwas erscheint. Im hier vorgegebenen Rahmen kann das Anliegen, Phänomenologie und Christologie miteinander ins Gespräch zu bringen, nur angezeigt, nicht ausgeführt werden. Aus den ersten Skizzen könnte aber deutlich werden, dass es für beide Seiten ein lohnendes und bereicherndes Gespräch ist. Vorab zu allen christologischen Unterscheidungskriterien (Natur, Person) erscheint Jesus Christus als eine Ein-
(Hg.), Transitorische Identität – Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt 2002, 70.
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heit, als ein originelles »An-Sich«, zu dem Menschen in Beziehung treten.
a)
Narrative Identität nach Paul Ricœur
Ein Ansatz, der in diesem Zusammenhang weiterführt und daher hier kurz vorgestellt werden soll, ist die »narrative Identität« nach dem französischen Philosophen Paul Ricœur († 2005). 27 Nur mit Hilfe der narrativen Identität, so Ricœurs Überzeugung, können die Krisen, die Menschen auf der Suche nach ihrer Identität durchmachen, bewältigt und die Aporien, die in der zeitgenössischen Diskussion über persönliche Identität aufbrechen, gelöst werden. Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass menschliches Leben verständlicher wird im Licht der Geschichten, die Menschen über sich erzählen. Sie tun dies gerne nach Modellen aus Literatur oder Geschichte. Ob die Erzählung fiktiv oder historisch ist, macht also für ihre identitätsstiftende Funktion keinen Unterschied. Ricœur spricht von einem Chiasmus zwischen Fiktion und Geschichte. 28 Fiktive Erzählungen können Identität oft noch luzider und komplexer abbilden als die Geschichten, die in den verwirrend kontingenten Verlauf des realen Lebens eingetaucht sind. Manche literarischen Gestalten behalten ihre unverlierbare Faszination. Immer wieder werden sich Leser mit Odysseus oder Achill, Hamlet oder Othello, Don Quijote oder Werther identifizieren, weil die Autoren sie in ihnen auf die Spur ihres eigenen »Wer bin ich?« führen. Menschen setzen also ihr Leben gleich mit der Geschichte oder den Geschichten, die sie von sich erzählen: »Lebensgeschichten«. Wir Paul Ricœur selbst stellt seinen Ansatz zusammenfassend vor im Artikel »L’identité narrative« der Zeitschrift Esprit, Nr. 7/8 (1988), 295–304, auf Englisch erschienen als »Narrative Identity«, in: Philosophy Today, Spring 1991, 73–80. – Maßgeblich Ricœur, Paul, Soi-même comme un autre, Paris 1990, Dt. Übersetzung von Jean Greisch, Das Selbst als ein Anderer, München 1996. It. Übersetzung von Daniella Iannotta, Sé come un altro, Mailand 1993. – Auch wenn Ricœur von seiner geistesgeschichtlichen Herkunft nicht der Phänomenologie, sondern der Hermeneutik zugerechnet wird, denkt und spricht er in dieser Thematik ganz phänomenologisch. Er hat z. B. Husserl und den frühen Heidegger präsent und spricht häufig von »phänomenologischer Hermeneutik«. – Durch den neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der 1999–2001 sein Assistent war, ist der Name Paul Ricœur zuletzt unverhofft wieder aktuell geworden. 28 Vgl. Ricœur, Sé come un altro, 202 n. 1. 27
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Menschen gestalten unser Leben und unsere Beziehung zur Welt, indem wir erzählen. Wir sind narrative Wesen: Wir träumen, erinnern, hoffen, glauben, zweifeln, planen, konstruieren, lieben und hassen narrativ. Eine Erzählung lädt ein Ereignis mit Sinn auf: ein Anfang, ein Höhepunkt, ein Tiefpunkt, ein Schlusspunkt. Die Betonung des Narrativen mit seinem gemächlichen Rhythmus steht in einem wohltuenden Kontrast zur überfallartigen Hektik der Kommunikation in unserem postmodernen Zeitalter. Selbst die elektronischen Medien gehen heute vom lange dominierenden Diktat der 140-Zeichen- oder 30/60/90-Sekunden-Beiträge wieder ab und entdecken die Lust am breiten Erzählfluss wieder. Leben erscheint oft chaotisch. Indem man es erzählt, findet es seine Einheit. Eine gute Erzählung entwickelt sich entlang dem roten Faden der Identität. Das Erzählen des Lebensfadens bildet in einem dynamischen Prozess den dauerhaften Charakter eines Individuums. In diesem »plot« liegt die gemeinsame Mitte zwischen Sich-Wandeln und Sich-gleich-Bleiben; und auf diesem Grund kann die »narrative Identität« in aller Veränderung fest stehen. Der Akt des Erzählens selbst hält uns im Zusammenhang des Lebens. Genauso läuft im Zuhörer oder Leser ein Identitätsbildungsprozess ab: je besser die Erzählung, desto existentieller dieser Prozess. Ricœur sieht eine Ähnlichkeit mit der von Aristoteles beschriebenen Katharsis der griechischen Tragödie. Narrative Identität wächst durch die reinigende Kraft der erzählten, gehörten oder gelesenen Geschichte. Diese Art von Identität meint für Ricœur: mit sich selbst identisch sein, sich selbst treu sein; sie ist in die Zukunft gerichtet und übernimmt ethische Verantwortung. Identität lässt sich nicht beweisen, sondern nur bezeugen: Hier, sieh mich an! Dafür stehe ich. Die finsteren Krisen, wenn Menschen an ihrer Identität irrewerden und die Frage: Wer bin ich? auf beklemmende Weise ohne Antwort bleibt, werden in Bekehrungsund Berufungserzählungen zu Geburtsnächten, in denen aus der totalen Verneinung des Alten Neues entsteht. Narrative Identität entsteht, wenn man die Frage: Wer bin ich? beantwortet, indem man eine Geschichte erzählt. So konstruiert der Mensch einen Sinn seines Lebens. Elemente davon und Vorschläge dafür findet er in den maßgeblichen Texten seiner Kultur schon vorformuliert. Weil aber die normativen Lebensskripte an Plausibilität und Selbstverständlichkeit auch verlieren können, wird es nötig, dass Menschen sich neue, eigene Erzählungen schaffen. Auch von ihnen ist Kohärenz und Konsistenz verlangt, damit sie bestehen können. 201 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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Idem-Identität und Ipse-Identität Die identitätsstiftende Kraft des Erzählens postuliert Ricœur nicht einfach, sondern er leitet sie in einer komplexen Analyse des Narrativen her. Dazu führt er zwei grundlegende Unterscheidungen ein, zunächst die zwischen Idem-Identität und Ipse-Identität. Identität, sagt er, wird in zweierlei Sinn gebraucht: Identität als Das-GleicheSein (Selbigkeit, lat. idem, frz. même, engl. same, dt. gleich oder dasselbe) und, jenseits der Etymologie, Identität als Selbst-Sein (Selbstheit, lat. ipse, frz. soi, engl. self, dt. selbst). Ipse-Identität ist mehr als Idem-Identität. Idem-Identität antwortet auf die Frage: Was bin ich? Ipse-Identität antwortet auf die Frage: Wer bin ich? Spontan würden wir die Frage nach unserer Identität zunächst mit Elementen des Idem beantworten; und Ricœur führt verschiedene Spielarten davon auf: 29 • numerische Identität (Zwei ansonsten gleiche Größen werden zahlenmäßig unterschieden, oder Identität als Einzigkeit, Identität vs. Pluralität); • Ununterscheidbarkeit (Größen, die sich total ähneln bis zur Verwechselbarkeit, scheinen qualitativ identisch, Identität vs. Differenz); • Kontinuität (ununterbrochene Identität eines sich wandelnden Wesens in allen äußerlich unähnlichen Phasen seines Daseins: Embryo, Neugeborenes, Kleinkind, junger Mensch, erwachsener, alter, sterbender Mensch, Identität vs. Diskontinuität); • Permanenz (Identität ist Zeit überdauernd, Identität vs. Diversität). Die wahre Identität des Ipse kommt in all diesen Formen noch nicht in den Blick. Das Selbst ist nicht das Selbe; so ist der Titel von Ricœurs Hauptwerk gemeint: »Das Selbst als ein Anderer«. Charakter und Versprechen Die zwischen »Charakter« und »Versprechen« ist die zweite Unterscheidung, die Ricœur hilft, die unersetzliche Bedeutung des Narrativen für die Identitätsfindung herauszuarbeiten, indem sie mit der von Idem- und Ipse-Identität kombiniert wird. Die Identität des Menschen lässt sich zwischen diesen beiden Polen einfangen: hier alles, was seinen Charakter dauerhaft und letztlich unveränderlich aus29
Vgl. Ricœur, Sé come un altro, 204 f.
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macht, und dort die Konstanz, die darin besteht, ein gegebenes Versprechen treu zu halten. Im Charakter scheinen das Idem und das Ipse in eins zu fallen, während das treue Halten eines gegebenen Versprechens eine ganz freie Tat des Ipse allein ist. 30 Eine Vermittlung zwischen beiden gelingt wieder durch die Erzählung; denn das Erzählen verflüssigt das Fixe und Starre eines Charakters in einer zeitlichen Abfolge. Die im unveränderlich gedachten Charakter sedimentierte Lebensgeschichte wird in temporale Phasen zerlegt und so das unter dem Idem verborgene Ipse freigelegt; es wird in eine narrative Bewegung eingebettet. Der entgegengesetzte Pol ist das treue Halten eines gegebenen Versprechens: Hier wird die Wechselhaftigkeit der Zeitläufte herausgefordert. Sogar wenn sich meine eigene Meinung, meine Neigung, mein Begehren ändert, werde ich mein Wort halten. Wer seinem Versprechen treu bleibt, tut einen wichtigen Dienst an der Verlässlichkeit der Sprache und schafft im Meer der Wandelbarkeit und Vergänglichkeit eine Felseninsel der Konstanz. Die Frage nach der Identität geht in ihrer Tiefe und Wahrheit auf das Ipse; aber die meisten Antworten, die wir zunächst versuchen, handeln vom Idem. Oft leihen sich die Wer-Antworten ihre Inhalte bei den Was-Antworten. Identität entsteht in der Dialektik von Idem und Ipse, Selbigkeit und Selbstheit. Letztlich ist das »Wer bin ich?« aber nicht auf das »Was bin ich?« reduzierbar. Im Erzählen wird diese Dialektik versprachlicht. Denn in allen Geschichten gibt es »konkordante« und »diskordante« Elemente, solche die für Regel und Norm, Ordnung und Zusammenhang stehen, und solche, die all das bedrohen und in Frage stellen. Erzählen ist die Vermittlung von beidem zu einer Synthese. Die jeder Erzählung eigene Dialektik von Konkordanz und Diskordanz wird in Entsprechung zur Dialektik von Selbigkeit und Selbstheit gesetzt: Im Charakter einer Erzählfigur fallen Idem und Ipse quasi in eins, während die kontingenten Erfahrungen und Handlungen ihres Lebens das Ipse vom Idem befreien. Im Zwischenbereich zwischen beiden Polen konstituiert sich die narrative Identität. Sie oszilliert zwischen zwei Grenzen: An der Untergrenze sind Idem und Ipse untrennbar vermischt, die Obergrenze ist dort erreicht, wo das Ipse sich seiner Identität ohne Rekurs auf das Idem vergewissert. Die Stärke des Ansatzes von Ricœur liegt wohl darin, dass er keine starre, abstrakte Identität des Selbst braucht und alle Verände30
Vgl. ebd., 207–14.
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rungen und Bewegungen im Zusammenhang eines Lebens mit einbegreifen kann. Die Treue zu sich selbst wird durch eine Veränderung der Ausdrucksformen nicht gefährdet. Ricœur selbst vertritt gut begründet die Überzeugung, dass so die existentiellen Krisen um die verlorene Identität bewältigt und die denkerischen Aporien um die Identität gelöst werden können.
b)
Narrative Identität Jesu im Evangelium
Wenn wir in der Logik dieses Ansatzes nach der »narrativen Identität« Jesu fragen, kommen zuerst die Evangelien als Geschichten seines Lebens in den Blick. Es gibt zwar keine Biographie, erst recht keine Autobiographie Jesu; aber die frühe Christengemeinde legt die Identität ihres Messias maßgeblich in den hier gesammelten Texten dar, also nicht in einem doktrinären, sondern in einem narrativen Diskurs. Im neuen literarischen Genus »Evangelium«, eigens erfunden zum Erzählen von Jesus, werden Kindheitsgeschichte, Heilungsund Wundererzählungen, Berufungen, Gleichnisse, Redeeinheiten, Leidensgeschichten und Ostererzählungen gesammelt und von den Autoren der Evangelien im Sinn einer »narrativen Strategie« (Ricœur) als verbindliche Erzählung von Jesus gestaltet. In den narrativen Anteilen seiner Gleichnisse, z. B. derjenigen vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,30–35) oder vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11–32), beschreibt Jesus verschlüsselt, wer er selbst ist. Die Kirche konstituiert sich als Erzählgemeinschaft und erkennt im Prozess der neutestamentlichen Kanonbildung vier Evangelien als verbindlich an. Alle anderen Quellen, etwa die Briefliteratur, die Reden der Apostelgeschichte, die Johannesoffenbarung oder liturgische Texte der frühen Christenheit, haben für die Erkenntnis der Identität Jesu nur sekundäre Bedeutung. 31 Dass es vier Evangelien sind, hat seinen guten Sinn. Die Kirchenväter waren überzeugt, dass es vier, genau vier und Diese Priorität der Evangelien ist nicht in chronologischem Sinn gemeint. Es ist gut möglich, dass die ältesten Zeugnisse der Auferstehung in kurzen Bekenntnisformeln (eingliedrig wie Römer 10,9: »Gott hat ihn von den Toten auferweckt« oder mehrgliedrig wie 1. Korinther 15,4: »Er ist am dritten Tag auferweckt worden und erschien dem Kephas«) vorliegen und die Ostererzählungen als Entfaltung davon entstehen. Das älteste Evangelium, Markus, hat noch keine Erzählung vom Ostertag (16,7). Einen Erzählzusammenhang zwischen dem leeren Grab in Jerusalem und Erscheinungen des Auferstandenen in Galiläa stellt wohl erstmals Matthäus her (28,16–20).
31
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nur diese vier geben musste. 32 Es gibt nicht die eine, allumfassende und allein maßgebliche Jesus-Erzählung; sondern die Identität Jesu spiegelt sich in den kirchlich anerkannten Zeugnissen seiner Verkündiger, die sich gegenseitig ergänzen, bereichern und relativieren. Schon im ältesten Evangelium, dem nach Markus, ist die Frage nach der Identität Jesu der literarische Leitfaden. 33 Die christologische Erneuerung der letzten Jahrzehnte hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Identität Christi nicht einfach mit der Tatsache der Inkarnation ein für alle Mal gegeben ist, sondern dass sie einen geschichtlichen Weg zurücklegt und dass sie erst im Licht der Auferstehung in voller Klarheit zu sich selbst kommt. J. B. Metz geht so weit zu fordern, dass man über Jesus in der Kirche nur narrativ sprechen dürfe. Diese Forderung schießt wohl übers Ziel hinaus: Dem narrativen Ansatz wird nichts genommen, wenn es auch eine regulative, normative, dogmatische Art des Sprechens über die Identität Jesu gibt. Wenn man die von den Evangelien literarisch konstruierte narrative Identität Jesu Christi in den von Ricœur erarbeiteten Kategorienpaaren ausdrücken wollte, könnte man versuchsweise formulieren: Seine Idem-Identität ließe sich z. B. entlang christologischer Titel wie Prophet, Messias, Erlöser, Retter benennen, während die IpseIdentität Jesu jenseits aller inhaltlichen Füllungen allein in seiner Beziehung zum Vatergott zu suchen ist. Der »Charakter« Jesu, dem »Idem« zugeordnet, trägt also Züge des Prophetischen und Messianischen, während das »Versprechen« des gegebenen und gehaltenen Wortes sein unbedingter Gehorsam gegenüber der Sendung des Vaters und seine unverbrüchliche Treue zu den ihm anvertrauten Menschen ist. Hierher gehören die Verheißungen seiner bleibenden Gegenwart und seines Wirkens im Heiligen Geist, deren beglückende Erfüllung gläubige Christen in ihrer geistlichen Existenz täglich erfahren. Konkordante und diskordante Elemente stehen im ganzen Leben Jesu in produktiver Spannung zueinander und provozieren so dauernd die Auseinandersetzung mit der Frage nach seiner Identität, indem sein Reden und Handeln immer die messianischen Erwartungen Israels wachruft, diese aber dann abwandelt und überbietet. 32 33
Z. B. Irenäus von Lyon, Adversus Haereses III,11,8. Das soll im dritten Teil dieses Beitrags (III.) entfaltet werden.
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c)
ipse enarravit
Unabhängig von ihrem literarischen Niederschlag in Evangelientexten kann man von »narrativer Identität« Jesu Christi noch in einem engeren Sinn sprechen. Am Ende des Johannes-Prologs heißt es vom Mensch gewordenen Logos: »Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.« (1,18) Im Original steht prononciert als Schlusswort, das den ganzen Prologhymnus zusammenfasst, die Verbform »exegésato«: Jesus ist der Exeget, der Ausleger, der Interpret des Vaters. 34 Der Ausdruck ist nicht leicht zu übersetzen. Die lateinische Bibel Vulgata wählt eine genial einfache Variante: »ipse enarravit«; er hat (uns Gott) erzählt. Die »narrative Identität« Jesu Christi ist das Wesen Gottes. Ohne seine Herkunft aus Gott und seine Zukunft in Gott kann man nicht verstehen, wer dieser Jesus ist. Nicht nur in seinen Worten und Taten, sondern in seiner ganzen Existenz ist Jesus der Offenbarer des Vaters. Wer etwas von Gott wissen will, muss der Erzählung folgen, die das Leben Jesu ist. In dem Maß, wie ich dem narrativen Lebensfaden Jesu folge, verstehe ich Gott. Im Vollsinn ist das der einzige Zugang zu Gott. Gottes Wesen und Wirken erkennt man nicht in Theorien und Lehren, sondern es legt sich uns dar im Geschick Jesu: in der Menschwerdung, der Reich-Gottes-Verkündigung, dem Leiden, Sterben und Auferstehen des neutestamentlichen Messias. Alles an Jesus erzählt uns, wer und wie Gott ist. Darin besteht seine ganze Identität: Ohne den Verweis auf Gott kann man nichts von Jesus verstehen, keine Tat und kein Wort von ihm, seine Verhaltensweisen, seine Haltungen, seinen Charakter. Das Geheimnis der Einzigkeit Jesu ist seine immer schon gegebene Unmittelbarkeit zu Gott dem Vater. 35 Das Bekenntnis des Glaubens an Jesus als den Messias und den Sohn Gottes bekommt eine neue Dimension, wenn seine Identität narrativ dekliniert wird. Wenn die Identität Jesu narrativ verstanden wird, können christologische Aussagen nicht einseitig an bestimmte einzelne Aspekte oder Ereignisse seiner Existenz gebunden werden. Weder die Präexis-
Marcel Jousse SJ († 1961), der in anderen Beiträgen dieses Bandes vorgestellt wird, verwendet dafür den aramäischen Ausdruck »metourgenâm«, der in seinem Denken zentral ist. 35 Vgl. Menke, Karl-Heinz, Jesus ist Gott der Sohn, Regensburg 2008, 351 mit Bezug auf die Christologie Karl Rahners. 34
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tenz des göttlichen Logos und seine Verbindung mit der menschlichen Natur in der Inkarnation allein noch Passion und Kreuzestod allein genügen als Perspektiven für die Darlegung des Geheimnisses Christi. Der ganze Lebensbogen Jesu von seiner Herkunft aus Gott bis zu Auferstehung und Verherrlichung des Menschensohnes macht die »narrative Identität« aus. Insofern entspricht der narrative Ansatz dem Desiderat moderner Christologien, die Zurückdrängung der Theologie der Auferstehung seit der Väterzeit aufzuarbeiten. 36 Bei narrativer Identität ist gewissermaßen das Ende offen; die Geschichte der Kirche, die der Leib Christi ist, und das Geschick der Glaubenden, die mit Jesus sakramental und mystisch vereint sind, schreiben die Erzählung fort und prägen die Identität Jesu bis in die eschatologische Zukunft mit. Dass Ricœur für die Erkenntnis von Identität die Grenzen zwischen fiktiver und historischer Erzählung fließend hält, könnte die unfruchtbare Diskussion um den geschichtlichen Gehalt der Ostererzählungen entlasten. Sie haben eine unersetzliche narrative Funktion zur vollen Erkenntnis der Identität Jesu, hinter der ihre Bedeutung als Aussagen über historische Geschehnisse am Ostertag und deren Einzelumstände verblasst. Manche Theologen nähern sich in ihrer Christologie einem solchen narrativen Ansatz. Hansjürgen Verweyen sagt: »Gott hat es vermocht, sein ganzes Wesen ›im Fleische‹ zu offenbaren, d. h. in jener ohnmächtigen Spanne menschlichen Lebens zwischen Empfängnis und Tod, die der Christus mit uns allen gemeinsam hat.« 37 KarlHeinz Menke deutet diese Position so, dass »die dreiunddreißig Jahre des Lebens Jesu das wahre Antlitz Gottes« 38 sind.
d)
Narrative
Der Ricœur’sche Entwurf einer »narrativen Identität« lässt sich schließlich mit der aktuellen Suche nach neuen »Narrativen« in Verbindung bringen. In den politischen Debatten und auch in den kirchVgl. Gesché, Adolphe, Die Auferstehung Jesu in der dogmatischen Theologie, in: Theologische Berichte II, Einsiedeln 1973, 275–324, hier 278 f., zitiert bei Menke, Jesus, 36 f. 37 Verweyen, Hansjürgen, Gottes letztes Wort, Regensburg 2000, 344, nach Menke, Jesus, 47. 38 Menke, Jesus ist Gott der Sohn, 47. 36
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lichen Diskursen taucht das früher unvertraute Wort »Narrativ« derzeit häufig auf. Es ist eine Art Modewort, bei dem zunächst keiner genau weiß, was gemeint ist, und das doch etwas Wichtiges ausdrückt. Man sagt: Wir brauchen ein neues Narrativ für Deutschland, ein neues Narrativ für Europa, ein neues Narrativ für die Kirche. Bei Narrativ denkt man an eine Erzählung, deren Form und Inhalt relativ stabil sind und die dann in den allerunterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet wird. Ihre Motive und Bilder kehren in unzähligen Variationen wieder. So ein Narrativ kann keiner einfach erfinden; es wird höchstens gefunden, weil es irgendwie in der Luft liegt. Es ist nicht beliebig, sondern fest etabliert und durch lange Tradition legitimiert. Aber dann kann jeder daran anknüpfen, daran weiter bauen, den Erzählfaden weiter spinnen, das Erzählnetz weiter knüpfen. Wer erzählt, muss zwangsläufig auswählen und sich kurz fassen. Es lässt sich nie alles erzählen. Das meiste bleibt ungesagt. Vieles lässt sich gar nicht in Worte fassen. Die Anschlussfähigkeit des Narrativs absorbiert passende Bilder und Motive und scheidet unpassende schnell wieder aus. Narrative haben einen langen Atem; sie denken in Generationen und Jahrhunderten. Narrative bewegen sich in einem gemeinsamen Vorstellungsraum, der Trennungen und Grenzen, Übergänge und Identitäten umfasst. Die Begeisterung für Narrative beruht auf der Ernüchterung, dass abstrakte Werte und systematische Diskurse gesellschaftlich wenig bewirken, so gut wie nichts. Wir haben heute keinen Mangel an genialen Wissenschaftlern und klugen Geistesmenschen; ihre Begriffe und Theorien sind vielleicht richtig und wahr, aber allesamt zu blass und zu schwach. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage ist weniger als die Strahlkraft einer Erzählung. Der Erfolg von staatsrechtlichen und volkswirtschaftlichen Theorien hängt weniger von ihrer wissenschaftlichen Stichhaltigkeit ab als vielmehr von der Vermittelbarkeit des zugrundeliegenden Narrativs. Anders gesagt: Wenn sie wirksam werden wollen, brauchen sie ein mächtiges Narrativ. Narrative sind nicht-wissenschaftliche Diskurse. Die Rhetorik, lange als hohle und pathetische Phrasendrescherei verachtet, ist heute wieder en vogue; und gute Reden kreisen immer um narrative Elemente. Redner reißen ihre Zuhörer nicht durch richtige Theorien mit, sondern durch packende Erzählungen. Die Gleichnisse Jesu gehören hierher. Narrative schaffen Kontinuität und Bewusstsein. Sie sind der »rote Faden« des Lebens und der Gesellschaft. Sie schaffen im narra208 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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tiven Selbst eine kollektive Identität. Narrative sind der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Weil die Erfahrungen und Erlebnisse der Menschen so vielfältig und komplex sind, braucht es einfache, bekannte Kategorien, damit man sie verstehen und ihnen einen Sinn unterlegen kann. Das Narrativ zeigt die Voraussetzungen der Logik, nach der eine Gesellschaft funktioniert, ihre kollektiven Werte, Normen und Vorstellungen. Das Narrativ ist dabei eine mittlere Ebene zwischen den fundamentalen Voraussetzungen des Zusammenlebens wie Menschenwürde und Menschenrechte und den handlungsleitenden Paradigmen wie Sozialstaat und Marktwirtschaft. Es ist anschaulicher und konkreter als die Prämissen und hat trotzdem den nötigen Abstand vom dauernd wechselnden politischen Tagesgeschehen. Wenn man nach Beispielen fragt: In Amerika gibt es in tausend Varianten das Narrativ vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird. Dieses Narrativ prägt die USA seit ihren Ursprüngen bis heute: Jeder kann es aus eigener Tüchtigkeit mit einem Quäntchen Glück aus der Gosse bis an die höchste Spitze schaffen. John F. Kennedy erfand das Narrativ von der Mondlandung: Es gelang ihm, die Kräfte der Nation in dem Ehrgeiz zu bündeln, einen Menschen auf den Mond zu bringen. Dabei sind Narrative an sich weder gut noch schlecht. Auch der IS und die Terroristen erzählen ihre Narrative: von der weltweiten Unterdrückung der Muslime, von der Dekadenz des Westens, von der Unaufhaltsamkeit der Islamisierung. In der Antike bündelten sich Narrative in den großen Heldenfiguren: Ilias ist das Narrativ vom zornigen Achill, Odyssee das vom listenreichen Odysseus, Aeneis das vom frommen Aeneas, die Nibelungen das vom heldenhaften Siegfried. Im kirchlichen Raum ist die Seefahrt so ein Narrativ. Die Kirche ist das Schiff Petri mit Ruder, Segel, Steuer, Kapitän, Mannschaft, Kompass; zur erzählerischen Bilderwelt gehören Leuchtturm, Hafen, Sterne, Ausguck, Sturm, Strand und Ufer, Wogen und Wellen, Klippen und Riffe. Der Ursprung des Narrativs ist in der Bibel bei den Fischerbooten am See Gennesareth. Bei der Ausbreitung des Christentums im Mittelmeerraum und später nach Amerika haben dann unzählige an diesem Narrativ weitererzählt: Paulus, Ambrosius, Augustinus, Chrysostomus, Gregor, Bonifatius. Das Evangelium als Ganzes ist das Narrativ vom Reich Gottes. Viele sagen: Wir brauchen neue Narrative; die alten genügen nicht mehr. Die Menschen lassen sich z. B. vom Narrativ der freiheitlichen, demokratischen, pazifistischen Wohlstandsgesellschaft nicht 209 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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mehr mitreißen; es hat seine Kraft verschlissen. Dagegen stellen könnte man die These: Die Suche nach immer neuen Narrativen ist kontraproduktiv. Es gibt nicht zu wenige, sondern zu viele Narrative. Das angeblich altbekannte und verbrauchte Narrativ des Evangeliums, Reich Gottes und Nachfolge Jesu, ist mehr als ausreichend auch für heute. Wir müssen nur neue Wege finden, es leidenschaftlich und glaubwürdig zu erzählen.
III) Wer bin ich? – Für wen haltet ihr mich? Meditation über Markus 8,27–30 Die vorstehenden grundsätzlichen Überlegungen sollen mit einer biblischen Betrachtung zum Messiasbekenntnis des Petrus 39 abgerundet werden. Es ist die Perikope des Evangeliums, wo es am direktesten um die Identität Jesu geht. Wie jeder andere Mensch stellt sich auch Jesus die Frage: Wer bin ich? Und diese Suche nach der eigenen Identität hat bei ihm eine besondere Aktualität und Faszination. Spannender kann eine Frage nicht sein, als wenn ein Mensch, der Gottes Sohn ist, die Frage stellt: Wer bin ich? Er stellt diese Frage sich selbst, aber auch anderen. Diese Frage lebt Jahrhunderte lang weiter und treibt jede Generation von Christen auf ihre Weise neu um. In jeder Epoche entstehen neue Christusbilder. Immer wieder werden Jesus-Bücher geschrieben, Biographien, Romane, Essays oder wissenschaftliche Monographien zur Christologie. Filme und Videos werden gedreht. Die bildende Kunst schafft laufend Darstellungen Christi. Es gibt das Christusbild der Theologen und das der Prediger, das der Heiligen und das der Mystiker, das der Maler und das der Bildhauer, das der Musiker und das der Schriftsteller, das der Philosophen und das der Atheisten. Es gibt sogar das Jesusbild des Judentums und das des Islam. Ist Christus der Pantokrator der byzantinischen Mosaiken, der Schmerzensmann der gotischen Altarbilder, der sanftmütige Handwerkersohn der Nazarenermaler? Ist er, mit einigen Buchtiteln der letzten Jahrzehnte gefragt, der »Bruder Jesus« des Juden Schalom Ben-Chorin, der »erste neue Mann, der integrierte Mensch« (Franz Alt), der »Gesalbte der Frauen« (Christa Mulack), der »kosmische Christus« (Matthew Fox)?
39
Parallelen zu Markus 8,27–30 bei Matthäus 16,13–16 und Lukas 9,18–21.
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»Ihr aber, für wen haltet ihr mich?« Es ist keine Fangfrage, die Jesus den Jüngern da stellt. Er setzt voraus, dass die Seinen ein tieferes Wissen um seine Identität haben als die Leute draußen. Ihre Meinung über ihn ist ihm wichtig. Er rechnet damit, dass ihm der Spiegel seiner Vertrauten und Freunde helfen wird, sich selbst besser zu verstehen. Er stellt ihnen mutig und frei die Vertrauensfrage. Er hat keine Angst vor unangenehmen Antworten: Wer bin ich für euch? Die Frage nach der Identität Jesu ist das Zentralthema der Kirche. Die Frage geht an sie: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Sie darf nie aufhören zu fragen, wer dieser Jesus wirklich ist. Wer mit Hermeneutik vertraut ist, wird keinen Anstoß an der Zirkelstruktur nehmen, dass das Vorverständnis des kirchlichen Glaubens immer schon Voraussetzung für das immer tiefere Verständnis der Identität Jesu ist, die dieser Glaube bekennt, ähnlich wie die »Gottesbeweise« wohl niemals Nicht-Glaubende von der Existenz Gottes überzeugen, wohl aber die Glaubenden in ihrem Glauben an Gott stärken werden. Die theologische Dimension der Identität Jesu kann nur im Glauben erkannt werden. Die Frage nach der Identität Jesu stellt sich konkret im Verhältnis zu seinen Jüngern. Alles fing damit an, dass sie ihm begegneten; und aus dieser Begegnung entstand wie von selbst die Frage, was dieser Jesus für sie bedeutete. Dabei zeigt sich zuerst ein breites Prisma von Weisen der Beziehung. Jüngerschaft und Freundschaft im Verhältnis zu Jesus werden so zur Grundstruktur der Kirche und zur eschatologischen Gestalt des Heils in der Geschichte. Nach der Identität zu fragen ist mit Scheu und Scham verbunden. Jesus stellt nicht dauernd die direkte Frage nach seiner Identität; er tut es eher ganz selten. Normalerweise geht es ohne sie; aber bei bestimmten Gelegenheiten braucht es ausnahmsweise einmal eine explizite Klärung: Wer bin ich für euch? Wie steht ihr zu mir? Jesus wählt für diese Frage einen bestimmten kritischen Moment, der für den ältesten Evangelisten Markus am Höhe- und Wendepunkt des öffentlichen Lebens Jesu steht. Er macht absichtlich einen Umweg und wählt eine imposante Naturkulisse, die gigantische Felswand über den Jordanquellen bei Caesarea Philippi, wo schon die Ortsnamen auf den römischen Gottkaiser und den jüdischen König verweisen. In der direkten optischen Konfrontation mit den heidnischen Göttern und Herrschern, deren Statuen in den Felsnischen standen, bekommt die Frage: Für wen haltet ihr mich? einen besonders herausfordernden Klang. 211 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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Wie ist die Stimmung im Land? Was denken die Leute? Wem werden sie bei der nächsten Wahl ihre Stimme geben? Welches Image hat ein Kandidat bei den Wählern oder welches Image hat ein Produkt bei den Kunden? Solche Fragen beschäftigen die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, und sie veranstalten Umfragen, um Antworten herauszubekommen. Demoskopen und Umfrageinstitute haben Dauerkonjunktur. Die Institute, die solche Umfragen durchführen, werden immer professioneller und ihre Instrumente immer präziser. Sie können den Ausgang von Wahlen immer genauer voraussagen. Heute könnte sich Jesus von Allensbach, Infratest oder Forsa helfen lassen, an seinem Prophetenimage zu feilen und den Mainstream in der Mitte der Gesellschaft auszutarieren. Solche demoskopischen Instrumente gab es zur Zeit Jesu noch nicht; und doch veranstaltet auch er eine Art Umfrage: Für wen halten die Leute den Menschensohn? Und die Jünger referieren die Ergebnisse: Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für sonst einen der Propheten. Allerdings verfolgt Jesus andere Absichten als die Auftraggeber moderner Umfragen. Er möchte nicht sein Image aufpolieren oder sein Produkt marktgerechter platzieren. Er nimmt das diffuse Ergebnis der Umfrage sehr gelassen entgegen, eher melancholisch als neugierig. Er wird sich nicht stromlinienförmig nach den Erwartungen der öffentlichen Meinung und den Gesetzen von Angebot und Nachfrage auf dem Markt der Weltanschauungen ausrichten oder sich von Imageberatern und Werbefachleuten ein neues Konzept vorschreiben lassen. Die Frage: Wie müsste ich aussehen, welche Inhalte müsste ich verkünden, um bei den Leuten besser anzukommen? interessiert ihn absolut nicht. Er lehnt auch die halbfertigen und unvollkommenen Antworten nicht ab. Wenn ihn einer für Johannes den Täufer oder für den Propheten Elija hält, gut, vielleicht hat er wenigstens das von Jesus verstanden, was ihn tatsächlich mit Johannes und was ihn mit Elija verbindet. Aber welche Absicht hat Jesus dann bei der Frage: Für wen halten mich die Leute? Das wird aus der direkten Fortsetzung deutlich: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Vom Umfrageergebnis aus führt er die Jünger in eine persönliche Konfrontation. Dabei geht Jesus ganz selbstverständlich davon aus, dass die Jünger ein anderes Bild von ihm haben als die Leute draußen. Er setzt voraus, dass sich das Jesusbild der Jünger deutlich hervorhebt. Er entlockt dem Petrus das Bekenntnis: Du bist der Messias. Mehr als Johannes der Täufer, mehr als 212 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
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Elija, mehr als irgendeiner der Propheten, der Messias, der Gesalbte Gottes selbst. Jesus erwartet von vornherein, dass sich die Antwort seiner Jünger auf die Frage nach seiner Identität von der Antwort der Leute draußen unterscheidet. Der Umgang mit Jesus hat die Jünger geprägt; und so ist diese Erwartung berechtigt. Wenn wir als Kirche vertrauten Umgang mit Jesus und seinem Wort haben, dann sollte das unsere Vorstellungen und Beziehungen, unser Fühlen, Denken und Reden prägen. Durch den Umgang mit Jesus verändert die Kirche die Welt. Jesus akzeptiert hier zum ersten Mal den Messias-Titel. In der ersten Hälfte des Markus-Evangeliums blieb er ihm gegenüber sehr reserviert; denn er enthält die Möglichkeit, ihn misszuverstehen im Sinne von irdischer Größe und politischen Ambitionen. Darum erlässt Jesus am Ende auch das Schweigegebot: »Er verbot ihnen, mit jemand darüber zu sprechen.« Der Christustitel hatte noch zu viele innerweltliche Implikationen. Er musste sozusagen erst getauft werden durch das Leiden und Sterben Jesu. Das Schweigegebot Jesu wird zur Frage an uns, ob wir nicht die Frage nach der Identität Jesu vorschnell mit ein paar christologischen Etiketten abtun und ob wir insgesamt die großen Worte des Glaubens zu leichtfertig im Munde führen. Aber natürlich hat die Antwort des Petrus für den Evangelisten eine hohe Bedeutung. Endlich, nach acht Kapiteln des Suchens und Irrens, wird die richtige Antwort auf die Grundfrage: Wer ist denn nun dieser Jesus? Welches ist die Identität des Mannes aus Nazaret? knapp und präzise formuliert: Du bist der Messias. Dann folgt die Belehrung über die Passion des Menschensohns. Während die messianische Identität Jesu geheim gehalten werden muss, spricht Jesus über sein Leiden, Sterben und Auferstehen ganz offen. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Er verbot ihnen, mit jemand über ihn zu sprechen. – Er redete ganz offen darüber. Das Bekenntnis des Petrus ist in der Markusversion ein ganz kurzer Satz: Du bist der Messias. Kaum ist er raus, muss er sofort wieder differenziert und verschwiegen werden. Dieser Satz ist anscheinend gefährlich und schwierig. Warum ist dieses Bekenntnis: ›Jesus ist der Messias, der Christus‹ so problematisch, wo uns doch die Verbindung der Worte ›Jesus Christus‹ so geläufig geworden ist? Wenn man es ausrechnet, steht der Satz genau in der Mitte des Markusevangeliums. Denn die Frage nach der Identität Jesu ist die Grundfrage dieses Evangeliums. Nur aus diesem einen Grund hat der Evangelist sein Werk verfasst, um herauszufinden: Wer ist dieser 213 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Johannes Bündgens
Jesus wirklich? Die vier zentralen Christus-Offenbarungen: eine am Anfang und eine am Ende, zwei im Zentrum, gliedern das Evangelium: Markus 1 – 8 – 9 – 15. (Titel/Taufe – Caesarea Philippi – Verklärung – Kreuz). 40 Aller Vermutung nach war diese Frage ausschlaggebend dafür, dass zum ersten Mal ein Evangelium geschrieben wurde: Die ersten Generationen von Christen kamen gut ohne ein geschriebenes Evangelium aus: Man hatte die mündliche Überlieferung der Worte Jesu; es gab schon anfängliche schriftliche Sammlungen von Gleichnissen und Logien; es gab schon die Briefe des Paulus, anderer Apostel und Apostelschüler; es gab das Leben der Jüngergemeinde, besonders die Liturgie, in der das Gedächtnis des Herrn begangen wurde, die sakramentalen Feiern, die Ämter und Dienste, die das Funktionieren der Gemeinde garantierten. Markus beobachtete, wie im Lauf der Zeit die konkreten Fragen des Gemeindelebens, z. B. der liturgischen Ordnung und der Ämterhierarchie, immer mehr an Bedeutung gewannen, während die Person Jesu hinter all dem allmählich verblasste und von all dem überdeckt wurde. Man rechnete zwar mit seiner baldigen Wiederkunft; aber die Parusie verzögerte sich anscheinend ins Ungewisse, und unmerklich verlagerte sich die Aufmerksamkeit auf andere Themen. Mit seinem Werk, dem ersten geschriebenen Evangelium, will er einen mächtigen Gegenakzent setzen: Das, worauf es in der Christengemeinde einzig und allein ankommt, ist die Person Christi: Wer ist der Mann aus Nazareth? Vom Anfang bis zum Ende macht er die Frage nach der geheimnishaften Identität Jesu zum Leitfaden seines Evangeliums. Um diese Frage wach zu halten und Antwortversuche zu formulieren, hat Markus ein neues literarisches Genus geschaffen, das er »Evangelium«, frohe Botschaft nennt. Dabei wandert die Bedeutung dieses Terminus vom Inhalt der Verkündigung Jesu (»Jesus verkündete das Evangelium Gottes«, 1,14) zur Verkündigung über Jesus als den Messias und den Sohn Gottes (»Anfang des Evangeliums von Jesus dem Messias, dem Sohn Gottes«, 1,1).
Vgl. Menke, Jesus, 59, Anm. 49: »Teile der jüngeren Exegese erkennen einen nicht nur kompositorischen, sondern auch theologischen Zusammenhang zwischen den drei Gottessohnprädikationen des Markusevangeliums in der Taufszene (Mk 1,11), in der Verklärungsszene (Mk 9,7) und durch den heidnischen Hauptmann unter dem Kreuz (Mk 15,39).« mit Literaturhinweisen. – Das Petrusbekenntnis »Du bist der Messias« (8,29) steht chronologisch und inhaltlich ganz in der Nähe des Gotteszeugnisses bei der Verklärung: »Das ist mein geliebter Sohn« (9,7).
40
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»Du bist der Messias.«
Die Erkenntnis und das Bekenntnis, dass Jesus der Christus ist, waren entscheidend für die Kanonbildung des Neuen Testaments. Sie strukturiert die Gesamtheit der neutestamentlichen Schriften. Wo Exegeten gerne das Besondere der einzelnen Autoren und Schriften hervorheben und die heterogene Vielfalt, ja Widersprüchlichkeit der Ansätze unterstreichen (Synoptiker versus Johannes, Paulus versus Jakobus), schafft das allen gemeinsame christologische Bekenntnis eine Einheit, die sich schon früh in der Entstehung des Kanons niederschlägt. Mit der Klarheit über die Identität Christi werden ekklesiologische, sakramenten- und amtstheologische, moraltheologische, eschatologische Themen bearbeitet. Die Identität Christi ist der Schlüssel zum Verständnis der Schriften. Markus ist der Evangelist des Christusgeheimnisses. Die Identität Jesu bleibt eingetaucht ins dunkle Mysterium. Die Formeln des Glaubens behalten zwar ihre Gültigkeit, aber letztlich kann keine menschliche Antwort das Geheimnis seiner Person einholen. Markus ist sehr zurückhaltend gegenüber den vielen Titeln, die in der frühen Christenheit über Jesus kursieren. All die Hoheitstitel, die man Jesus z. B. in der frühchristlichen Liturgie gab, lässt er weg; ihnen gegenüber erlässt er das Schweigegebot und schärft stattdessen den Ruf in die Kreuzesnachfolge ein. Markus will sich nicht mit wohlklingenden Hoheitstiteln vom irdischen Jesus und seiner anstößigen, provokanten Verkündigung entfernen, sondern er will uns einladen auf den mühsamen Weg der Nachfolge. Die lange Passionsgeschichte, angekündigt in den drei Leidensweissagungen, ist das beste Korrektiv für alle die Hoheitstitel, über die man am besten Schweigen bewahrt. Er reaktiviert den rätselhaften Titel »Menschensohn«, mit dem sich Jesus wohl selbst bezeichnet hat, der aber in der frühen Christenheit (bis auf die Ausnahme der Johannes-Offenbarung) völlig verdrängt wird, der etwa bei Paulus überhaupt keine Rolle spielt. Die Verkündigung vom erhöhten Christus ist gebunden an die Erzählungen vom irdischen Jesus. Markus hat eine narrative und pragmatische Christologie von unten. Der Titel »Messias« trifft zwar auf Jesus zu, aber isoliert genommen ist er immer noch missverständlich. Jesus selbst interpretiert den Christustitel durch die Selbstbezeichnung als Menschensohn. Er stellt die Hoheitsaussage des Petrus in den Zusammenhang des Leidens, das der Menschensohn erdulden muss. Das Schweigegebot will diesen Zusammenhang schützen.
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Johannes Bündgens
Jesus stellt die Frage nach seiner Identität »unterwegs«. Die Jünger lernen Jesus immer besser verstehen, indem sie mit ihm auf dem Weg sind. Die Erkenntnis, wer dieser Jesus ist, müssen sie immer weiter vertiefen; schließlich ist sie die Grundlage für die neue Ausrichtung ihres Lebens. Bis jetzt kam das Thema Kreuzesnachfolge noch nicht vor; und von nun an wird es häufig erscheinen. Der Weg des Leidens, der Auslieferung an die Heiden, der Emargination aus Israel beginnt. Die beiden Fragen: Für wen halten mich die Menschen? Ihr aber, für wen haltet ihr mich? gehören unbedingt zusammen im Sinne der Steigerung. Jesus will, dass die Jünger anders über ihn denken und reden als »die (anderen) Menschen«. Sie sollen das Stadium der Meinungsforschung und Umfrageergebnisse überwinden und eine ganz persönliche Erkenntnis über ihn gewinnen. Die unzureichenden oder falschen Antworten: Johannes, Elija, einer der Propheten, hatten alle drei eine prophetische Komponente. Sie erkannten zumindest eine prophetische Konnotation Jesu an. Die korrekte Antwort: ›Du bist der Messias‹ spezifiziert also das Prophetentum Jesu: Er ist der messianische Prophet der Endzeit, ein ganz anderer Prophet (Deuteronomium 18,15). Zwischen den drei falschen oder vorläufigen und der einen richtigen Antwort auf die Frage nach der Identität Jesu gibt es also einen Bruch, aber auch ein Stück Kontinuität. Die Antwort des Petrus ist vollkommen und unbezweifelbar. Sie gilt uneingeschränkt und wird durch das Folgende im Wesenskern nicht relativiert. Die Art, wie Petrus die Messianität Jesu versteht, muss allerdings weiter vertieft, geklärt und verbessert werden, indem das Geheimnis des Kreuzes darin integriert wird. Die absolute Antwort: ›Du bist der Messias!‹ ist im Judentum extrem selten, fast unvorstellbar. Sie ist zum Proprium des christlichen Bekenntnisses geworden. Im Judentum wurde der Messiastitel immer durch Ergänzungen erweitert: der Messias Israels, der Messias des Herrn usw. Petrus hat am Bekenntnis, dass Jesus der Messias ist, auch noch am Karfreitag festgehalten. Er blieb Anhänger Jesu und erkannte seine Messianität auch dann noch an, als er – irdisch gesehen – scheiterte. Der Satz des Petrus ist der Keim aller christlichen Glaubensbekenntnisse geworden: »… und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn.« Alle christlichen Credos sind Ausfaltungen und Anreicherungen dieser umwerfenden Urerkenntnis des Petrus: Dieser Mensch da ist der Messias. Die Nüchternheit, mit der Markus 216 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
»Du bist der Messias.«
dieses Bekenntnis formuliert, lässt uns erschaudern. Die anderen Evangelisten haben es schon variiert und erweitert: »Du bist der Messias Gottes« (Lukas 9,20); »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes« (Matthäus 16,16); »Du bist der Messias, der in die Welt kommen soll« (Johannes 11,27). Das kategorische Verbot Jesu, darüber zu sprechen, bestätigt die Richtigkeit des Gesagten. Jesus will keine Sensationen erzeugen, keine öffentliche Aufmerksamkeit erregen, keine politische Bewegung auslösen. Für den Evangelisten Markus ist die Kenntnis der messianischen Identität Jesu an sich kein Problem mehr. Aber er hält das Verbot Jesu aufrecht, weil man Jesus eben nicht allein durch die Hoheitstitel erkennt, sondern im Vollsinn nur auf dem Weg der Kreuzesnachfolge. Die Frage nach der Identität Jesu ist grundlegend für die Kirche. Sie definiert sich nicht soziologisch, sondern durch ihre Christusbeziehung. Insofern hat das Thema enorme ökumenische Bedeutung; denn eine Einheit zwischen den unterschiedlichen christlichen Konfessionen ist nur ausgehend vom gemeinsamen Bekenntnis des ChristusGlaubens her denkbar. Eine statische Antwort auf die Frage nach der Identität Jesu ist unmöglich. Die Dynamik seines Handelns mit Blick auf das Heil der Menschen muss immer mitgedacht und mit ausgesagt werden. Die neuere Forschung zu den christologischen Titeln erkennt, dass es auch in ihnen nicht um eine Definition des Wesens, sondern um die Beschreibung der Funktion und Sendung Jesu geht. Jesus identifiziert sich selbst mit seiner Sendung. 41 Andererseits kann man sein Wirken nicht ohne seine Person verstehen. Auch wenn wir in Pfingst- und Firmgottesdiensten häufig singen: »Die Sache Jesu braucht Begeisterte«, an Jesus glauben ist mehr als sich begeistert der »Sache Jesu« verschreiben. Die messianische Sendung ist die Sendung des Messias, und als messianisches Gottesvolk sind wir das Volk des Messias Jesus. Wenn man in seinem Sinn und zusammen mit ihm für Gerechtigkeit und Frieden wirken will, muss man ihn in seiner persönlichen Identität anerkennen. Man muss persönlich Stellung beziehen und seine Beziehung zu ihm klären. Jesus liebt eine dialogische Christologie in Frage und Antwort; und er selbst bringt den Dialog in Gang. Er vermeidet eine Selbstdefinition seiner Identität. Er möchte, dass die
Vgl. Galot, Jean, Chi sei tu, o Cristo?, Florenz o. J., 10; Verweis auf J. Guillet, Jésus devant sa vie et sa mort, Paris 1971, 125.
41
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Johannes Bündgens
Menschen nach seiner Identität suchen und sich nicht mit einer bequemen Formel zufriedengeben. Die Frage nach der Identität Christi ist kein theologisches Glasperlenspiel. Sie betrifft Christen heute direkt in ihrer Existenz und auf der Suche nach ihrer Identität. Der Austausch zwischen der Identität Christi und der Identität des Christen findet sakramental in der Eucharistie statt. Das entspricht dem modernen Menschenbild, in dem man die ganzheitliche und leibhaftige Dimension betont: Unsere Identität macht aus, dass wir Menschen aus Leib und Seele, aus Fleisch und Blut, mit Haut und Haaren sind. Welches die wahre Identität Jesu ist, bleibt Geheimnis. Er ist, was er ist. Er ist der, der er ist. Der grandiose Zugewinn an christologischer Erkenntnis der letzten Jahrzehnte beruht großenteils auf dem Fortschritt der Wissenschaften. Aber auch die historische Kritik unserer Zeit hat ihr eigenes Vorverständnis und ihre eigenen Vorurteile. Geschichtsforschung vergleicht und unterscheidet. Sie sucht Analogien und Unterschiede. Das Einzigartige und Analogielose kann sie schwer erfassen. Zu ihren Voraussetzungen gehört eine innerweltliche Rationalität, nach der es so etwas wie Wunder, Heilungen, Erscheinungen, Auferstehung nicht geben kann. Die Phänomenologie kann helfen, diesen begrenzten Horizont aufzubrechen. Geschichte spielt sich im Horizont des Daseins und der totalen Offenheit für alles, was sich zeigen will, ab. Im Fall Jesu geht es um nicht weniger als um Gott und seine Offenbarung. Er stellt mich vor die Entscheidung, zu glauben oder nicht zu glauben. Petrus spricht in der Mitte des Evangeliums ein Glaubensbekenntnis aus. Die Entscheidung, an Jesus zu glauben, hat theologischen Erkenntniswert. Wer Jesus wirklich ist, erfahre ich erst, wenn ich mich seinem Anspruch öffne und das Risiko der Begegnung mit ihm auf mich nehme. Die Frage Jesu »Ihr aber, für wen haltet ihr mich?« will genau diese Entscheidung provozieren. Jesus greift das Messiasbekenntnis des Petrus auf, indem er erklärt, was Jüngerschaft bedeutet. Wer sich im Glauben zum Messias Jesus bekennt, wird von ihm als Jünger auf den Weg der Nachfolge mitgenommen.
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IV. Ethik
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive Phänomenologische Essentialisierung einer sozialethischen Diskussion Elmar Nass Eine sozialethische und eine phänomenologische Frage 1.
Da-Seins-Gesichter des Genderphänomens
Die deutliche Ablehnung der Genderperspektive durch Papst Franziskus hat manche christliche Feministinnen irritiert. 1 Reichlich Emotionalität prägt die sozialethische Diskussion um den Platz dieser Genderperspektive in der Gesellschaft und auch in der Theologie, vor allem in der Sozialethik, doch ihre Provokation der Theologie reicht weiter bis zur Frage menschlicher Existenz in ihrer Relationalität zu Gott. In zahlreichen Phänomenen drückt sich das Seinsverständnis der Genderperspektive aus: Es hat sich eine eigene Kunstsprache mit wissenschaftlichem Anspruch entwickelt, die für Außenstehende kaum nachvollziehbare Semantiken artikuliert. Die Umgangssprache soll überall und umfassend »gegendert« werden, einschließlich der Übersetzung der Heiligen Schrift. 2 Es soll neben der Herren- und Damentoilette mindestens eine dritte Variante der Toilette in öffentlichen Einrichtungen geben für Menschen, die sich in ihrer biologischen Geschlechtlichkeit nicht durch die von der Gesellschaft daraus abgeleiteten sozialen Konsequenzen in ein einfaches Schema zwingen lassen wollen. Freiheit bedeutet dann, diese öffentlich sichtbare Zuordnung in Frau oder Mann zu ignorieren und selbstbestimmt zu bleiben jenseits der sozialen Zwänge. Es gebe nicht mehr zwei, sondern sechs oder gar acht Vgl. Papst Franziskus, Enzyklika Laudato Si, Rom 2015, Nr. 155. Vgl. Schüssler Fiorenza, Elisabeth, Gender, Sprache und Herr-schaft. Feministische Theologie als Kyriarchatsforschung, in: Jost, Renate / Raschzok, Klaus (Hg.), Gender Religion Kultur. Biblische, interreligiöse und ethische Aspekte, Stuttgart 2011, 17–35.
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
Geschlechter, so etwa die Transsexuellen, die Bisexuellen usw. Das biologisch gegebene Geschlecht wird entkoppelt von einer nunmehr selbstbestimmten Umsetzung im konkret Seienden menschlicher Existenz. Frank Plasbergs Gender-Talk in ›hart aber fair‹ wurde nach massiven Protesten und Diskriminierungsvorwürfen aufgebrachter Befürworter neu aufgelegt, weil in der ersten Ausgabe die Gender-Sicht zu schlecht wegkam. 3 Offenbar herrscht eine sehr einflussreiche Kultur politischer Korrektheit, die eine Kritik an der Gender-Perspektive abstraft oder gar zensieren möchte. Viel öffentliches Geld ist in Deutschland da für neu eingerichtete Lehrstühle mit Gender-Schwerpunkten in allen Bereichen der Sozialwissenschaften. Der Europäische Sozialfonds macht für große Forschungsprojekte eine Prüfung durch eine eigene Genderprüfstelle zur Voraussetzung. 4 Forschung und Lehre werden so paternalistisch an die Leine der Gender-Perspektive genommen, die das damit verbundene Menschenbild zum Maßstab legitimer Wissenschaft zu machen beansprucht. Ihr weltanschauliches Postulat ist zu einer umfassend kulturprägenden Kraft geworden, der sich auch theologisches Denken und das Verständnis einer christlich verstandenen humanen Identität nicht entziehen können. Offenbar ist also das Thema schon lange kein theoretisches Glasperlenspiel mehr. Vielmehr wirkt es ganz praktisch in unser alltägliches Leben hinein, sozialethisch in Gerechtigkeitsfragen, wie etwa bei der Verteilung knapper öffentlicher Gelder: Hier wirkt schon die normative Kraft des Faktischen. Die sozialethische Diskussion fragt nach der Anschlussfähigkeit der Genderperspektive an soziale Werte und Prinzipien der Katholischen Soziallehre. Grundlagentheologisch fordert ihr normatives Identitätsverständnis, das inzwischen viele sichtbare Gesichter im Da-Sein hat, ein christliches Menschen- und Gottesbild grundsätzlich heraus. Hier bricht sich ein neues Verständnis des Gut-Seins Bahn, das mithilfe einer christlich-phänomenologischen Sicht aufgedeckt werden kann.
Vgl.: Absurdes Ende einer öffentlich-rechtlichen Posse, in: Die Welt vom 8. 9. 2015, http://www.welt.de/vermischtes/article146110641/Absurdes-Ende-einer-oeffentlichrechtlichen-Posse.html (6. 11. 2015). 4 Vgl.: Agentur für Gleichstellung im ESF (Hg.), Gender Mainstreaming im Europäischen Sozialfonds. Ziele, Methoden, Perspektiven, Berlin 2014. 3
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Elmar Nass
2.
Sozialethische Fragen nach der normativen Natur
Die identifizierten Gesichter des Gender-Phänomens in der sozialen Realität unserer Gegenwart werden im Folgenden zunächst sozialethisch diskutiert, in ihrer inneren Stringenz, ihrem normativen Anspruch sowie ihrer grundsätzlichen Anschlussfähigkeit an eine christlich-ethische Systematik. Sozialethisch sind vor allem zwei Fragen zu beantworten: 1.) Sind unsere Leiblichkeit und Identität normative Natur oder normatives Konstrukt? Darüber streiten die Befürworter und Gegner von Gender-Theorien. Mit einer Antwort wird die wissenschaftstheoretische Wertebasis der Gender-Theorie offengelegt. Theologisch folgt unmittelbar die zweite Frage: 2.) Ist diese Idee vom Menschen und seinem Leib als Konstrukt oder als Natur dann vereinbar mit dem christlichen Glauben? Sind Gender-Theorien eine Bereicherung für die theologische Ethik oder sind sie mit dieser grundsätzlich unvereinbar? Mit einer Antwort wird nicht weniger als die Anschlussfähigkeit an die Theologie untersucht. »Eine gründliche Auseinandersetzung mit identifizierbaren Positionen findet aber kaum statt.« 5 Vor einer solchen Diskussion sind zunächst unsachliche Polemiken auf beiden Seiten zur Seite zu schieben. Befürworter wie Gegner einer Aufnahme der Gender-Theorie in die Katholische Sozialethik werfen der jeweils anderen Seite eine polemische Verkürzung der eigenen Position vor. Fundamentalismen auf beiden Seiten sind hier nicht Gegenstand meiner Auseinandersetzung. Wer vor Gewalt gegenüber den so genannten ›rechten‹ GenderGegnern nicht zurückschreckt, wie etwa in persönlichen Drohungen oder in dem zur Gewalt aufrufenden Berliner Theaterstück ›Fear‹ 6, disqualifiziert sich selbst. Das Gleiche gilt für diejenigen, die den ›linken‹ Gender-Befürwortern pauschal unterstellen, sie wollten eine Gesellschaft, in der sich jeder Mensch sein Geschlecht selbst auswählen könne. Dies trifft der Münsteraner Sozialethikerin M. HeimbachSteins zufolge nicht den Punkt ernstzunehmender Gender-Befürworter im Kontext der Sozialethik. 7 Wer das Ende des Abendlandes ausruft, muss ja auch erst einmal semantisch gehaltvoll bestimmen, was im Zuge einer fortschreitenden Entchristlichung dessen WerteHeimbach-Steins, Marianne, Die Gender-Debatte – Herausforderungen für Theologie und Kirche. Köln 2015, 12. 6 Vgl. http://citizengo.org/de (6. 11. 2015). 7 Vgl. Heimbach-Steins, Die Gender-Debatte, 7. 5
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
gemeinschaft überhaupt noch zusammenhält. Vertretern der Genderperspektive gehe es, Heimbach-Steins folgend, in erster Linie nicht um eine Gleichberechtigung des biologischen Geschlechts (sex), sondern des sozialen Geschlechts (gender), also der kulturellen Einbettung des Menschen in sozial vorgegebene Geschlechterrollen. Hier bestehe ein erhebliches Gerechtigkeitsdefizit, das enttabuisiert werden muss, um dem Menschen die Augen für sich und seine Identität zu öffnen, jenseits von Dogmatismus und Paternalismus. Die angenommene feminine Identitätskrise wird auf das soziale Geschlecht fokussiert und von der biologischen Leiblichkeit entkoppelt. Weibliche Identität wird danach unter den Gegebenheiten biologischer Differenz verstanden, während die soziale Geschlechtlichkeit sich emanzipieren soll von einem bloßen Anderssein oder gar einem Mangel gegenüber dem Männlichen. 8 Nicht soll also das biologische Geschlecht als eine bloß soziale Konstruktion in Frage gestellt werden. 9 Der Versuch einer sachlichen Auseinandersetzung aus theologisch sozialethischer Sicht sortiert die Polemiken aus und schaut dann erst auf das Phänomen und die Fragestellungen. Ich werde also zuerst die Wertebasis untersuchen und anschließend die Theologietauglichkeit. Hierzu werde ich nicht die Fülle verschiedenartiger Gender-Theorien diskutieren. Ich stütze mich stattdessen vor allem auf eine ebenso knappe wie klare Darstellung der Münsteraner Sozialethikerin M. Heimbach-Steins, die das Grundanliegen einer wissenschaftlichen Gendertheologie auf den Punkt bringt. 10 Nach einer Beantwortung der beiden Fragestellungen und einer Identifizierung ihres umfassenden normativen Anspruchs wird die Naturrechts-Perspektive rekonstruiert, die von der Genderperspektive dekonstruiert werden wollte.
Vgl. hierzu die Identitätsdiskussion im französischen Feminismus. Eine aufschlussreiche knappe Übersicht dazu ist nachzulesen bei Breger, Claudia, Identität, in: Braun, Christina von / Stephan, Inge (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gendertheorien, Köln 32013, 55–66 (hier: 62–65). 9 Damit grenzt sich eine solche feministische Gendertheologie ab von radikalen Dekonstruktionstheorien wie etwa von Butler, Judith, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990. Dort wird auch das biologische Geschlecht dekonstruiert und damit zugleich feministisches Argumentieren erschwert. 10 Vgl. Heimbach-Steins, Die Gender-Debatte. 8
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Elmar Nass
3.
Phänomenologische Seins- als Gottesfrage
Phänomenologisch stellt sich mit der Genderperspektive die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschlechtlichkeit und Leiblichkeit. Der Leib ist danach zunächst kein Gegenüber des Menschen. Denn der Mensch ist sein Leib. 11 Er ist sein Sein. Diese wesenhafte Symbiose erfährt eine ontologische Erweiterung im Seinsverständnis bei Martin Heidegger. Im Leib kommt danach das Sein aus dem ›Dort‹ ins ›Da‹. Der Mensch bleibt Leib, dieses Hier genügt aber nicht sich selbst, sondern bringt sein transzendentes Sein in die reale Existenz. 12 Eine christlich phänomenologische Sicht kann daran anschließend in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen diesen Bezug zwischen ›Dort‹ und ›Hier‹ auflösen, ohne die Identität des Leibes in Frage zu stellen. Sie bringt noch eine normative Perspektive mit sich. Die Natur des Menschen ist seine Identität. Im Sinne des Heiligen Thomas von Aquin ist zu unterscheiden zwischen einem ersten Wesen, welches die Individualität (Haarfarbe, Beinlänge etc.) ausmacht, und einem zweiten Wesen, das den Menschen als Menschen ausmacht und ihn mit seiner Spezies verbindet. In diesem zweiten Wesen liegt das sollende Sein menschlicher Identität begründet. Es ist die normative Natur, die dem Menschen von Gott wesenhaft mitgegeben ist. Diese Natur ist nun deshalb das Gute, weil Gott selbst das Gute ist und in dieser Natur als Heiliger Geist ins Da kommt. Menschlicher Auftrag ist nun die Entfaltung dieses Guten. Das ›Sein‹ des Guten in der Welt heute kommt somit – wie etwa auch bei Platon und Averroes – normativ im Menschen ins Da. Anders als dort aber ist seine hypostatische Inkarnation nunmehr nicht an die Vernunft allein gebunden, sondern an das Menschsein in seiner Leiblichkeit. Ist nun also die Geschlechtlichkeit eine wesenhafte wie normative Seite humaner Leiblichkeit, die wesenhaft meine Identität und mein Sollen bestimmt? Dann ist sie aus christlicher Sicht ontologisch ein sollendes Sein, das sich mit seinen normativen sozialen KonVgl. Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II. Husserliana VI, Den Haag 1952, 158 f.; Sartre, Jean Paul, L’etre et le néant, Paris 1943/1976. Dt.: Ders., Das Sein und das Nichts. Versuche einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 1993, 549 f., 570 ff., Merlaeu-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 169, 178. 12 Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1986, 107 sowie Zahavi, Dan, Phänomenologie für Einsteiger, Stuttgart 2007, 62 f. (Fußnote 10). 11
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
sequenzen (Rechten, Pflichten) nicht nivellieren oder austauschen lässt, ohne das sich darin ausdrückende Sein des Menschen (seine personale Identität) zu verraten. Eine solche Abkehr begründet dann phänomenologisch einen fundamentalen Widerspruch zwischen DaSein und Gut-Sein des Menschen und ist illegitim. Denn als Gottes Ebenbild soll der Mensch in seiner Leiblichkeit das Gute Gottes mit seiner real leiblichen Identität ins Da bringen. Ist die Geschlechtlichkeit als Ausdruck der Leiblichkeit dagegen allein ein im wahren Sinne unwesentliches Akzidens normativer menschlicher Identität, so wäre eine solche soziale Abkehr theologisch begründbar, ohne das Gut-Sein des Menschen vor Gott zu beeinträchtigen. Diese keineswegs triviale Grundsatzfrage zu beantworten, ist der phänomenologische Schlüssel zur Einordnung theologischer Legitimität einer Genderperspektive, die die normativen sozialen Folgen des menschlichen Geschlechts außerhalb der Seins-Frage verorten will. Ist also das menschliche Geschlecht Teil seines leiblichen DaSeins im Sinne normativer Identität des Gut-Seins oder nicht? Diese Frage ist dann nicht nur keine rein soziologische oder biologische, sondern vielmehr die theologische Kernfrage nach dem Wesen Gottes, das im leiblichen Menschen als Abbild seiend ins Da kommen will.
4.
Zwei Perspektiven auf ein Phänomen
Sozialethischer und phänomenologischer Blick sind zwei gleichberechtigte Perspektiven auf das Phänomen der Genderperspektive, die in einer Zusammenschau deren Wesen zwar nicht umfassend, aber doch transdisziplinär identifizieren kann. Der Schwerpunkt liegt hier nur vordergründig auf der sozialethischen Betrachtung. Sie dient einerseits dem Verstehen und einer grundsätzlichen sozialethischen Einordnung des Gender-Phänomens, bereitet damit aber zugleich den Weg für die Beantwortung der hier eingeführten phänomenologischen Seins-Frage. Sozialethische Erkenntnisse über die normativen, ontologischen Grundlagen des menschlichen Gut-Seins sind also die Voraussetzungen für die abschließende Beantwortung der phänomenologischen Seins-Frage.
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Elmar Nass
Sozialethische Diskussion 1. 1.1
Sozialethische Wertebasis der Genderperspektive Abkehr vom Naturrecht
Für die Wertebasis folgt die Katholische Soziallehre seit Thomas von Aquin einer naturrechtlichen Begründung, die gerade von Benedikt XVI. noch einmal stark betont wurde, so etwa in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag. 13 Eine solche Systematik wird von der Gendertheologie kategorisch abgelehnt. Dies betont Heimbach-Steins in ihrer Schrift ununterbrochen. Angenommen wird grundsätzlich, dass ein normativer Naturbegriff dogmatisierend den Menschen entmündigt hat und so verantwortlich sei für eine fortwährende Geschlechterungerechtigkeit. In einer normativen Natur begründete Rollenstereotype machten den Menschen blind für wesentliche Entfaltungspotentiale und für das Aufspüren der damit verbundenen Ungerechtigkeiten. Dazu wird auf Aristoteles hingewiesen, der mit seiner Naturrechtslehre die Sklavengesellschaft gerechtfertigt habe. Da zweifellos diese Philosophie für Thomas von Aquin und die Soziallehre der Kirche prägend wurde, wird daraus geschlossen, dass die in einer natürlichen Ordnung oder einer Natur des Menschen gründende Ethik und damit auch die Katholische Soziallehre eine vormoderne Ideologie sei, um bestehende (geschlechtsbezogene) Machtstrukturen zu zementieren. Dieser Vorwurf einer ideologischen Geschlechterungerechtigkeit und sozialer Exklusion richtet sich also vor allem gegen diejenigen, die sich auf das Naturrecht berufen. Die Gendertheologie folgt der Annahme, dass sich naturrechtliche Begründungen von (Geschlechter-)Ordnungen und Regeln im Laufe der Zeit als verfehlt erwiesen haben. Beispiele dafür sind mit Verweis auf die menschliche Natur legitimierte despotische Monarchien oder eben die sozialen Ungleichbehandlungen von Mann und Frau. Es wird angenommen, dass solche inzwischen offenbar überholten Auslegungen objektive normative Ansprüche falsifizieren, Menschenwürde als objektive Normativität in unbedingten Imperativen formulieren zu können. Denn sie beruhten schließlich auf einem naturalistischen Fehlschluss, wenn aus der Faktizität einer Monarchie oder aus der konkreten VorVgl.: Benedikt XVI., Rede im Deutschen Bundestag vom 22. 9. 2011, http://www. papst-in-deutschland.de/presse/reden/ (6. 11. 2015).
13
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
machtstellung eines Geschlechts auf die normative Legitimation solcher Gegebenheiten geschlossen wird. 1.2
Abkehr von der transzendentalen Ethik Immanuel Kants
Mit der angestrebten Dekonstruktion der naturrechtlichen Wertebasis ist das dadurch entstehende Vakuum zu füllen. Die Gendertheologie (also das theologische Fragen aus Sicht des sozialen Geschlechts) sieht sich eng verbunden mit Diskursethik und Konstruktivismus. Das postmoderne Diskursparadigma wird aber nicht einfach übernommen, sondern einer Neukonstruktion unterzogen. Gender sei, so Heimbach-Steins im Anschluss an G. Marschütz, »primär eine Konsequenz diskursiver Praxis und darum eine kulturelle Konstruktion«. 14 Die angenommen beschränkte Sicht des Naturrechts, die der Grund der Ungerechtigkeiten sei, soll geweitet werden durch einen Dialog mit der Vielfalt menschlicher Erfahrungswissenschaften. Die Anschlussfähigkeit theologischen Denkens an säkulare Ethnologie, Sozial- und Literaturwissenschaft etc. sei die angemessene Hermeneutik, mit der sich Theologie auch selbst neu verstehen kann, indem sie sich bereichern lässt durch ihr Anderes, ihr Gegenüber, um dann diese Differenz in einem Verschmelzungsprozess aufzuheben. 15 Diskursethischer Logik folgend bedeutet dies, dass die Gerechtigkeit der Geschlechterordnung immer wieder neu von allen Betroffenen im gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt werden muss. Das befreit von Dogmatismus. Deshalb wird diese Dekonstruktionskraft der Diskursethik zunächst weitgehend übernommen. Theologie muss in diesem Diskurs unter der Prämisse des methodologischen Atheismus, also der Annahme des ›etsi deus non daretur‹ 16, ihre Argumente rekonstruieren, um gehört zu werden. Daraus folgt: Anstelle von Natur und Transzendenz sind Diskurs und Weltbezug des Sozialen die Quellen der Ethik. Es ist diese Diskursethik, mit der ihr Vordenker Jürgen Habermas eine linke Gesellschaftsphilosophie zum Common Sense der deutschen Gesellschaft gemacht hat. Mit deren Hilfe soll nun Theologisches anschlussfähig gemacht werden für die Welt von
Heimbach-Steins, Die Gender-Debatte, 7 zitiert Marschütz, Gerhard, Trojanisches Pferd Gender? In: Schlögel-Fierl, Kerstin / Prüller-Jagenteufel, Gunter (Hg.), Aus Liebe zu Gott – im Dienst am Menschen, Münster 2014, 432. 15 Vgl. ebd., 13. 16 Übersetzt heißt dies: »Stellen wir uns vor, es gebe Gott nicht.« 14
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Elmar Nass
heute. Kein Platz ist hier für Naturgegebenes, Unaufgebbares oder ewig Gültiges, so ist bei Habermas nachzulesen. Vielmehr gilt das als legitim, was unter Einhaltung bestimmter Regeln im Diskurs beschlossen wurde. So kann der ›dogmatische Ballast‹ über Bord geworfen werden, der den Kirchen bisweilen den Vorwurf des Vormodernen eingebracht hat: Unter der Prämisse des methodologischen Atheismus können sich nun auch Säkulare und Andersgläubige die kirchlichen Gedanken zur sozialen Verantwortung für unsere Gesellschaft zu eigen machen. Das klingt attraktiv. Menschen sollen aus der Genderperspektive hinsichtlich ihres sozialen Geschlechts selbst zu den Autoren ihres Menschseins werden, das macht ihre Autonomie aus. Habermas nennt es so: »Menschenrechte mögen moralisch noch so gut begründet werden können. Sie dürfen aber einem Souverän nicht gleichsam paternalistisch übergestülpt werden. Die Idee der rechtlichen Autonomie der Bürger verlangt ja, dass sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren verstehen können.« 17 Heimbach-Steins nennt es so: »Im Kern geht es darum, die Autonomie der (auch) geschlechtlich bestimmten Subjekte als Akteure ihrer eigenen (Lebens-) Geschichte anzuerkennen.« 18 Autonomie ist hier nicht im Sinne Kants als die Befolgung des Sittengesetzes zu verstehen. Die Erkenntnis und Befolgung der normativen Denknotwendigkeiten der Vernunft setzt gerade eine interessefreie Vernunft voraus, die in der Pflichtbefolgung der objektiv vorgegebenen kategorischen Imperative kantische Autonomie konstituiert. Die Genderperspektive will aber den Menschen aus den ihm vorgegebenen Normativitäten befreien. Sie dekonstruiert damit nicht nur das Naturrecht als theologische Wertebasis, sondern versperrt mit ihrem Autonomiebegriff auch einer kantischen Ethik den Zugang. 1.3
Objektiver Wahrheitsanspruch 2.0
Der Inhalt normativer Würde als Autonomie und damit auch eine sozial gerechte Geschlechterordnung ist im Diskurs auszuhandeln. Die Menschenwürde (statt normative Natur) ist danach der Anker Habermas, Jürgen, Über den inneren Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996, 293–305, hier: 301. 18 Heimbach-Steins, Die Gender-Debatte, 13. 17
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
jeder Ethik. Sie darf niemals verletzt werden. Autonomie als kantische Pflichtbindung wie naturrechtliche Argumente sind im Diskurs nicht erwünscht. Die Genderperspektive ergänzt die Habermas’schen Kriterien des legitimen Diskurses nun um eine wesentliche Restriktion und verlässt durch eine solche Neukonstruktion damit dieses Paradigma: 19 Der Diskurs ist eine befreite Suche, mit der Genderperspektive die »Wahrheit« der Geschlechtergerechtigkeit zu bestimmen. 20 Damit wird eine vorgegebene Objektivität eingeführt. Die Genderperspektive ist damit nicht mehr selbst Gegenstand des Diskurses. Vielmehr wird sie systematisch vor die Klammer kreativer Normengebung gesetzt und so in den Kreis der bei Habermas als objektiv vorausgesetzten Verfahrensregeln erhoben. Das aber heißt: Die Genderperspektive wird zur objektiven, weil denknotwendigen (oder gar normativ naturgegebenen … ?) Bedingung aller legitimen sozialethischen Diskurse. Würde als Autonomie im Sinne tatsächlicher Gleichberechtigung der Geschlechter heißt, die persönliche Entfaltung des Menschen von vorgefundenen geschlechtlichen Rollenverständnissen zu purifizieren und in der Gesellschaft alle Residuen solcher Totalität auszumerzen (z. B. männliche Formulierungen, geschlechterspezifische Erziehung und deren Vertreter) sowie eine Pluralität der Geschlechter und sexueller Orientierung mit allen Rechten anzuerkennen (etwa in Bezug auf Ehe, Familie, Zulassung zum Priesteramt u. a.). Zweifellos ist diese Semantik selbst ein Konstrukt, das mit seinem objektiven Geltungsanspruch die normative Natur als eine nunmehr transzendental vorausliegende axiomatische Ewigkeitsentscheidung abzulösen beansprucht. Diese Perspektive will unbedingte normative Wertebasis sein, deren Konkretisierungen im Diskurs auszuhandeln sind. Der Diskurslogik folgend steht die Genderperspektive damit normativ sogar über den Menschenrechten. Ihre Durchsetzung erfordert deshalb eine fundamentale Justierung der normativen gesellschaftlichen Grundlage, die in zahlreichen Lebensbereichen unserer Gesellschaft bereits durchschlägt. Als konstruierte Objektivität schickt sie sich damit an, verbindendes Glied westlicher Wertegemeinschaft zu sein.
Breger, Identität, 73 nennt dies »die teilanaloge Abwendung von postmoderner Diskurstheorie«. 20 Vgl. Heimbach-Steins, Die Gender-Debatte, 14. 19
229 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Elmar Nass
2. 2.1
Theologischer Gehalt aus sozialethischer Perspektive Verortung der neuen Objektivität?
Die Genderperspektive als eine Herausforderung der Gesellschaft anzunehmen und sie dabei mit ihrem hohen Anspruch als eine neue Weltanschauung zu identifizieren, ist eines: Was sollte schon dagegen sprechen, neue normative Paradigmen und ihre Wirkung auf sich verändernde Wertefundamente von Gesellschaften zu analysieren und auch kritisch zu kommentieren. Zweifellos ist die Frage der Geschlechtergerechtigkeit als kritische Hinterfragung bestehender bzw. bröckelnder sozialer Identitäten ein Gegenstandsbereich der Soziologie und Sozialethik. Das ist ein Gebot der Stunde, steht doch nicht weniger als das gesellschaftliche Wertefundament zur Disposition. Zu fragen ist aber, ob die Genderperspektive sich von ihrem selbst formulierten Anspruch her überhaupt noch als ein Objekt (als Gegenstandsbereich der Wissenschaft) fassen lässt, oder ob sie sich bereits zum Subjekt (zur normativen Totalität der Wissenschaft) aufgeschwungen hat und damit die anderen Wissenschaften entsubjektiviert, also normativ »gendert«. Eine solche Perspektive nun mit ihrem hohen Anspruch auch noch als eine theologische Kategorie zu etablieren, ist ein anderes. Denn damit wird gefordert, eine Weltanschauung (die christliche) mit einer neuen objektiven Normativität zu verschmelzen. Die Frage ist, ob das gelingen kann, ohne das Theologische der Theologie zu ersetzen und diese Disziplin damit zu dekonstruieren. Das Christentum vertritt unaufgebbare normative Positionen über den Menschen und die gerechte Gesellschaft. Bleibt der religiöse Kern nur ein Anhängsel an die eigentlich dominierende Genderfrage, verdunstet er mehr und mehr, und eine christliche Sozialethik wird überflüssig. Theologische Orientierung sozialer Verantwortung und Gerechtigkeit muss ansetzen im ausdrücklich Christlichen und deshalb im Gottesbezug, von dem ausgehend der Weltbezug in Selbst- und Nächstenliebe wie Gerechtigkeitsfragen zu verstehen ist. Kann die Genderperspektive nun unter theologischen Bedingungen mit dem religiösen Kern verschmelzen? Das wäre akzeptabel. Verschmilzt das Theologische im Genderbewusstsein, ist es inakzeptabel. Dies zu untersuchen, meint die nun folgende Prüfung der Genderperspektive auf ihre Anschlussfähigkeit an christliche Theologie. Für einen sol-
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
chen Kompatibilitätstest wird zunächst versucht, den konstitutiven Nukleus theologischer Ethik zu identifizieren. 21 2.2
Anschlussfähigkeit an katholische Sozialethik?
An dem folgenden Rahmen muss sich die normative Genderperspektive messen lassen, wenn eine Verschmelzung unter theologischen Bedingungen gelingen soll. Nach christlicher Sicht erwartet Gott unsere Antwort auf Seinen liebenden Ruf zum Heil. Sozial gerecht ist dann etwa eine Regel bzw. eine Ordnung, die es jedem Menschen ermöglicht, seine von Gott gegebene Bestimmung zum Heil zu entfalten. Jeder Christ hat den Auftrag, nach seinen Möglichkeiten die gesellschaftlichen Regeln entsprechend zu gestalten und im Kontext dieser Regeln verantwortlich die heilbringenden Antworten zu geben. Wir tragen eine dreifache Verantwortung a) gegenüber Gott: Sie äußert sich darin, unser Leben im Lichte unseres Schöpfers zu verstehen, dankbar zu sein für das, was Er uns schenkt und als moralische Wesen in diesem Licht unsere Freiheit zu entfalten; b) gegenüber uns selbst: Sie äußert sich darin, uns selbst in unserer Leiblichkeit mit unserer unverfügbaren Gottesebenbildlichkeit als Personen mit unbedingter Würde anzunehmen und dabei gerade auch im Schwachen die ungeteilte Würde zu erkennen; c) gegenüber dem Nächsten: Sie äußert sich in Taten der konkreten Nächstenliebe einerseits und im Einsatz für das Zusammenleben aus einem Geist sozialer Liebe andererseits. Weil wir Christen der Heilsbotschaft Jesu verpflichtet sind, sollen wir dazu beitragen, dass eine Gesellschaft möglichst alle Menschen zu dieser Verantwortung befähigt. Die Grundlage dieser Befreiung vor Gott ist biblisch (vgl Tabelle auf S. 232). Das Christliche behält nur dann seine Relevanz, wenn es den Anschluss an Gott nicht verliert. Unter der Annahme, dass Gott existiert, richtet sich ein christlicher Blick deshalb zunächst auf die Gottesliebe. Gott schenkt jedem Menschen Würde und Freiheit, Er stiftet Gemeinschaft mit uns in Seinem Bund und der Kirche, Er vertraut uns die Schöpfung an, Er schenkt uns Gnade und Vergebung am Kreuz und nicht zuletzt an Ostern die Gewissheit auf das neue Leben. Vgl. Nass, Elmar, … weil das der Botschaft Jesu entspricht. Die missionarische Kraft christlich-sozialer Positionen, in: Anzeiger für die Seelsorge 11/2015.
21
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Elmar Nass Die Vorgaben Die heilbringenden Biblische Quellen Gottes im Bund mit Antworten des den Menschen Menschen Freiheit, Freundschaft moralische Verantund Gericht wortung für unser Leben / Überwindung von Zwang
Ich nenne euch nicht mehr Knechte. … Vielmehr habe ich euch Freunde genannt. (Joh 15,15). Also wird jeder von uns vor Gott Rechenschaft ablegen. (Röm 14,12)
seine Liebe
Eigen-, Nächstenund Gottesliebe
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, … und: deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. (Lk 10,26–27)
unsere Talente
kreative Entfaltung unserer Talente
Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat. (1 Petr 4,10)
knappe Güter der Erde
nachhaltige Nutzung Gott, der Herr, nahm also den und Wertschätzung Menschen und setzte ihn in den der Schöpfung Garten Eden, damit er ihn bebaue und hüte. (Gen 2,15)
Der Heilige Geist ist in uns und befähigt uns, unserer von Gott gegebenen Bestimmung entsprechend zu leben. Als moralische Menschen haben wir genau deshalb zuerst eine Verantwortung gegenüber Gott, vor dem wir alle einmal stehen werden. Aus diesem Bekenntnis leitet sich die Verantwortung gegenüber uns selbst und dem Nächsten ab. Beides ist nicht voneinander zu trennen, wollen wir Verantwortung christlich verstehen. Gesellschaftliche Regeln und Ordnungen müssen die Übernahme dieser Verantwortung ermöglichen. Weil die unantastbare Menschenwürde logisch nicht bewiesen werden kann, ist sie eine Glaubenssache. Christliche Begründung für diese Menschenwürde gerade auch der schwachen, der kranken, der behinderten und ungeborenen Menschen ist eine normative Anthropologie. Sie bekennt die Unantastbarkeit offen als Glaubenssache, begründet in der christlichen Idee von der Gottesebenbildlichkeit und von der Menschwerdung Gottes. Wer so den Menschen als Person versteht, für den ist auch der Auftrag, selbst seinen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, kein Zwang, sondern Menschenpflicht. Mit diesem Würde232 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
verständnis wird etwa – anders als etwa in manchen kantischen Auslegungen (J. Nida Rümelin) 22 – auch der Unterschied zwischen Menschen- und Tierrecht klar. Weniger klar ist die theologische Vereinbarkeit der Genderperspektive. Zweifellos liegt dieser Sicht ein radikales Konzept von Geschlechtergleichheit als Gerechtigkeit zugrunde. Entspricht diese Idee von Menschenwürde nun dem Heilsauftrag Gottes? HeimbachSteins sucht diese Anschlussfähigkeit biblisch zu begründen mit Verweisen auf Gal 3,26–28 und Mk 3,31–36. Der Zuruf des Apostels Paulus: »ihr alle seid … nicht Mann und Frau« wird als Genderperspektive gedeutet. Gleiches gilt für Jesu Hervorhebung persönlicher Entscheidung vor der Abstammung: »Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter«. Jesus selbst also – so die Interpretation – hebe das (soziale) Geschlecht auf und führe damit die Genderperspektive ein. Zudem sei sie im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Zeichen der Zeit, dem die Kirche ihre Türen öffnen müsse. 23 Stimmte eine solche Deutung, so wäre sie zweifellos als eine theologische legitimiert. Sicher ist eine solche Deutung nicht unzulässig. Sie dekontextualisiert aber die Aussagen von Jesus und Paulus von ihrer zentralen Heilsbotschaft. In deren Kontext steht der Weg des Menschen zum Heil im Mittelpunkt, und auf diesem Weg kommt es nicht auf das Geschlecht an und auch nicht auf die Abstammung. Primär geht es darum, sich gemeinsam zu Christus zu bekennen, das begründet die Gemeinde als eine neue Form der Familie. Diese Hervorhebung der Entschiedenheit für Christus als Weg zum Heil ist ein Fundament christlicher Ethik und steht deshalb vor der Klammer theologischer Gerechtigkeitsdialoge. Die feministische Spekulation blendet diese Kernaussage aus. Sie ist deshalb als Eisegese zu verstehen, die in ihrer Hermeneutik analog zur Befreiungstheologie die Bibel mit einer vorgängig festgelegten Perspektive und Absicht auslegt, Ungerechtigkeiten der Gegenwart aufzudecken und biblisch begründet zu bekämpfen. Eine solche politisch motivierte Herangehensweise an die Heilige Schrift unterscheidet sich wesentlich von der Exegese, die – statt Normativität in den Text hineinzulesen – die Botschaft des Textes herauszulesen versucht. So gesehen fallen die vermeintlichen biblischen BeVgl. Nida-Rümelin, Julian, Bio-Ethik. Wo die Menschenwürde beginnt, in: Der Tagesspiegel vom 3. 1. 2001. 23 Vgl. Heimbach-Steins, Die Gender-Debatte, 14 f. 22
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lege für eine Gendertheologie aus. Substantielle Argumente aus Lehramt und Tradition sind Fehlanzeige, so dass von einer theologischen Begründung der Genderperspektive nicht die Rede sein kann. Dennoch ist selbst nach einer solchen Säkularisierung ihrer Begründungsbasis weiter zu fragen, ob die nunmehr soziologische Genderperspektive mit dem Heilsplan Gottes vereinbar und deshalb als mit ihm verschmelzende Symbiose denkbar ist. Die nunmehr spekulative theologische Frage lautet: Entspricht es Gottes Heilsplan und Seinem Verständnis von Gleichheit, das soziale Geschlecht aufzuheben und normative Natur zu dekonstruieren? Die Gendertheologie bejaht dies selbstverständlich. Doch scheint eine solche Vermutung in die Irre zu führen. In der biologischen Leiblichkeit ist die moralische und damit normative Identität des Menschen verkörpert. Sie voneinander zu trennen, heißt den Menschen auseinanderzureißen. Der ganze Mensch ist zum Heil berufen, und das schließt seine biologische Leiblichkeit ein. Eine Sezierung des biologischen vom sozialen Geschlecht entspricht wohl einer konstruktivistischen Depersonalisierung des Menschen. Die Trennung in koevolutive Systeme ist leibfeindlich und konkurriert mit der Vorstellung menschlicher Einheit von biologischem Leib und der im Heilsplan Gottes normativ gedachten Personalität des Menschen. Das sollende Sein des Menschen und damit seine normative Natur ist ein Konstitutiv des christlichen Menschenbildes. Seine Dekonstruktion müsste den moralischen Auftrag Gottes an den Menschen leugnen. Diskussionswürdig bleibt hier zweifelsohne die semantische Bestimmung der Normativität, nicht aber ihr wesenhaft gegebenes Sein und ihre Bindung an die biologische Differenz des Leibes. Nun zur Semantik: Im Schöpfungsbericht lesen wir, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schuf. Diese Differenz an leiblicher Identität ist von anderer Qualität als etwa die Haarfarbe oder die Körpergröße. Solche Akzidenzien finden dort keine Erwähnung, denn sie sind zwar Teil der Individualität, aber nicht entscheidend für die heilsrelevante Antwort des Menschen auf Gottes geschenkte Liebe. Einfacher hätte es Gott sich doch machen können, den Menschen analog zu einer geschlechtslosen Blume zu erschaffen. Dann wäre die Genderperspektive von der Wurzel her gelöst. Die Differenz zwischen Mann und Frau wird im Schöpfungsbericht ausdrücklich herausgestellt und (abgesehen von den für Gott ehelos Bleibenden) mit dem normativen Auftrag verbunden, wenn möglich Nachkommen 234 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
das Leben zu schenken und unter Berücksichtigung der Gesetze des alten und neuen Bundes in der Familie in liebender Treue zueinander die Rolle als Mutter und Vater anzunehmen. Diese Rollen sind zweifellos Teil des sozialen Geschlechts, die immer wieder neu ausgelegt werden. Ihre Differenz ist aus Genderperspektive einzuebnen. Mündet eine Dekonstruktion der Vater- und Mutterrolle nicht in die normative Empfehlung der Kinderlosigkeit, weil so die Differenz der Rollen am radikalsten aufgehoben werden kann? Eine solche Konsequenz aber widerspräche eindeutig dem Heilsplan Gottes, der die Kinder liebt. In Lehramt und Tradition und nicht zuletzt im Sakramentsverständnis der Kirche finden sich nirgends Belege dafür, zur Einebnung des sozialen Geschlechts die Differenz von Vater und Mutter aufzuheben und die Offenheit für Kinder normativ zu sanktionieren. Das Gegenteil ist der Fall. Dass die normative Forderung, Mädchen und Jungen ohne jegliche geschlechtsspezifische Komponenten zu erziehen, zu einer Unterdrückung mit der biologischen Natur geschlechtsspezifisch gegebener Entfaltungs- und damit Freiheitspotentiale führt, kann ich an dieser Stelle nur vermuten und behaupten, da ich von einer solchen fundamentalen Differenz ausgehe. Eine normative Nivellierung dieser Differenz setzt an die Stelle dekonstruierter normativer Natur eine Gender-Totalität mit einem wiederum normativen Menschenbild. Ein solcher Freiheitsbegriff erinnert an die Forderung von F. Engels, die Menschen aus dem Reich der Notwendigkeit ins »Reich der Freiheit« zu führen. Freiheit, die mit Gottes Freiheit aber wenig zu tun hat. Die Genderperspektive kann nicht als Ingrediens des christlich verstandenen göttlichen Heilsplanens erwiesen werden. Es fehlen dafür nicht nur Argumente aus den theologischen Erkenntnisquellen Bibel, Lehramt und Tradition. Systematisch steht die Perspektive darüber hinaus im Spannungsverhältnis zur Normativität der Schöpfung. Sie kann deshalb nicht, wie sie es von ihrem Selbstverständnis her fordert, zur verbindlichen Perspektive theologischer Gerechtigkeitsreflexion werden. Eine solche Gendertheologie ist dann ein Widerspruch in sich.
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Elmar Nass
3.
Statt Dekonstruktion: Rekonstruktion normativer Natur
Die mächtige katholische Sozialethik »Jenseits Katholischer Soziallehre« 24 hat das Naturrecht unter dem Verdacht eines vormodernen Dogmatismus weitgehend aussortiert. So tut es auch die Gendertheologie. Dieser versuchten Dekonstruktion sei die Rekonstruktion normativer Natur als Grundlage katholischer Sozialethik entgegengestellt, um nach der Dekonstruktion der Gendertheologie eine sozialethische Neujustierung vornehmen zu können. Der normative Naturbegriff ist keineswegs ein Gegenkonzept zur unbedingten Menschenwürde, wie aus Genderperspektive behauptet wird, sondern vielmehr ihre überzeugendste Begründung. 25 Identität, Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit des Menschen gewinnen gerade ihre unantastbare Würde durch die normative Natur des Menschen. Deren Semantik wird hier in Erinnerung gerufen. Alles Sein ist von Gott geschaffen und hat in ihm seinen Grund und seine Begründung. Es liegt so in der Natur (im Wesen) des geschaffenen Seins, seinen tiefsten Grund im ungeschaffenen Sein Gottes zu haben. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass alle Kreatur in einen göttlichen Plan eingefügt ist und von diesem ewigen Naturgesetz her ihren Bedeutungszusammenhang erhält. 26 Das Sollen des Menschen wird nicht aus dem Sein deduziert. Es ist dem Sein bereits immanent. 27 Das Sein soll! Der Mensch trägt eine Zielbestimmung in sich: »Bonum enim et ens convertuntur«, so Thomas von Aquin. 28 Der Mensch ist danach von Natur aus seiner Heilsbestimmung gegenüber verpflichtet, so dass, wenn von der menschlichen Natur gesprochen wird, diese Normativität mit bedacht ist. Das Naturrecht ist die vernunftgemäße Begründung einer objektivierten Legitimität unbedingter Menschenwürde, die selbstverständlich Frau und Mann gleichermaßen zukommt. Vor allem über die katholische Tradition wurde sie zur christlichen Orientierung in GerechtigkeitsVgl. Hengsbach, Friedhelm / Emunds, Bernhard / Möhring-Hesse, Matthias, Jenseits Katholischer Soziallehre. Neue Entwürfe christlicher Gesellschaftsethik, Düsseldorf 1993. 25 Vgl. Heimbach-Steins, Die Gender-Debatte, 13. 26 Vgl. Müller, Christian, Christliche Sozialethik und das Wertproblem in den Wirtschaftswissenschaften, in: Ordo 55 (2004), 77–97. 27 Vgl. Messner, Johannes, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Berlin 1984, 144. 28 Thomas von Aquin, Summa Theologica, I–II, q. 18, a. 1. 24
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
fragen. Naturrechtliche Erkenntnis folgt in der Begründung einer von subjektiven Neigungen unabhängigen objektiven Menschenwürde einer Metaphysik, wie sie bei Plato und Aristoteles grundgelegt und über die islamische Philosophie des Averroes durch Thomas von Aquin in einen christlichen Kontext theonom integriert wurde. Sie unterstellt die Gegebenheit von Wahrheiten jenseits ihrer physikalischen Erklärbarkeit ebenso wie die Erkennbarkeit einer gegebenen Natur des Menschen, aus der sich normative Schlüsse für die Durchsetzung der Menschenwürde ziehen lassen. Dieser Erkenntnisweg setzt eine allen Menschen zukommende natürliche Bestimmung voraus, die es zu durchschauen gilt, um etwa eine legitime gesellschaftliche (Geschlechter-)Ordnung daraufhin abzustimmen. Der totalitäre Wahrheitsanspruch der Genderperspektive für sich ist damit unvereinbar. Menschenwürde als absoluter, objektiver Standard wird aus einem ontologisch normativen Menschenbild erschlossen. Es gilt als (göttlich) gegeben, so dass der Auftrag dieser objektiven Ethik darin besteht, die Normativität menschlicher Natur als Wahrheit zu erkennen, um rechtsobjektivistisch daran die Legitimität von Recht und Ethik und damit von Gerechtigkeit auszurichten. Der personale und transzendente Gott ist weltimmanent geworden durch Jesus Christus. Er ist weltimmanent geblieben durch den Heiligen Geist. Der Heilige Geist befähigt den Menschen, als Caritas in veritate die liebende Vernunft auf Gott und seine ewige Ordnung (die lex aeterna) auszurichten, sie analog zu erkennen und damit zeitlos gültige Aussagen über das Wesen des Menschen, seine in der Leiblichkeit zum Ausdruck kommende Identität als Würde, seine wesenhaften Rechte und Pflichten zu machen. Das meint die normative Natur des Menschen. Benedikt XVI. erinnerte in seiner Rede im Bundestag daran, dass gelebte Tradition Wahrheit vermittelt. Naturrecht ist kein monolithischer Block im Elfenbeinturm, es steht im Dialog mit der Welt. Der Blick der Menschen in seiner Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit soll sich »wieder in die Weite der Welt, den Himmel und die Erde« richten. Diese Perspektive versteht sich als dynamischer Dialog mit der Welt unter dem Diktum des »etsi deus daretur«. Die Erkenntnis von Wahrheit bleibt dabei ein dynamischer Prozess. Augustinus konnte ein anderes Zeugnis von Gerechtigkeit geben als die Widerstandskämpfer im Dritten Reich. Beide Zeugnisse aber öffnen uns mit gleichem Wert die Fenster zur Wahrheit, die auch für uns ein Maßstab ist. Die von Benedikt XVI. geäußerte soziale Kritik an der Wahrheits- als Humanitätsvergessenheit unserer Tage ist fundamentaler 237 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Elmar Nass
Art, wenn mit der eingeforderten »Ökologie des Menschen« ebenso die Möglichkeiten der menschlichen Selbstzerstörung wie auch die Hybris des Menschen, selbst den Schöpfer spielen zu wollen, als Folgen der Kulturlosigkeit angeführt sind. Die Genderperspektive mit dem Heilsplan Gottes verschmelzen zu wollen, ist vor diesem Hintergrund zumindest kein Akt der Demut. Verstößen gegen Gottes Heilsplan steht das Ziel gegenüber, dass sich die Menschen in ihrer Identität als Personen in Verantwortung vor sich, voreinander und vor Gott verstehen sollen. Auch dies meint die Orientierung an der normativen menschlichen Natur. Für die Erkenntnis der Wahrheit über das Sein des Menschen und damit die Begründung der Würde samt der daraus abgeleiteten Rechte und Pflichten ist der Mensch nicht allein auf die Bibel angewiesen. Denn Vernunft und Gewissen sind wahrheitsfähig: »Der Mensch erkennt Gut und Böse« (Gen 3,22). Zeitlos gültige Rechte und Pflichten können erkannt werden mithilfe der Vernunft. Der tätige Verstand (der νοῦς als Intellectus agens) kann durch seine Teilhabe am göttlichen Geist mithilfe der Abstraktion (als Wesensschau) die göttlich gegebene Bestimmung erkennen. Er bedient sich dazu des ihm innewohnenden Wegweisers der »rechten Vernunft« (als ὀρθός λόγος beziehungsweise als Ratio recta). 29 Gemeint ist damit diejenige Vernunft, die dem Gewissen folgend das erkennt, was dem Naturgesetz und damit der absoluten Menschenwürde entspricht. In dieser Wesensschau ist es der rechten Vernunft zwar möglich, die natürliche menschliche Bestimmung erkenntnismäßig zu berühren, nicht aber kann sie diese als Ganze erfassen. Denn auch die rechte Vernunft hat nur teil an der göttlichen Vernunft, sie ist nicht mit ihr identisch. So also sind die als wahr geltenden Erkenntnisse über die menschliche Würde und das Personsein und damit die Leiblichkeit nicht identisch mit der göttlichen Wahrheit, aber auch nicht ganz von ihr verschieden. Deshalb heißen sie analog. In diesem Sinne ist die Frage der Geschlechtergerechtigkeit theologisch relevant – gleiche Würde unter Wahrung von heilsrelevanter sozialer Differenz zu realisieren.
Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, I–II, q. 91,2. Zur Übersetzung vgl. Hirschberger, Johannes, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Freiburg 1980, 230.
29
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
4.
Sozialethisches Fazit
Die von der Genderperspektive aufgeworfene soziologische Gerechtigkeitsfrage ist von der Theologie als Herausforderung anzuerkennen und zu diskutieren. Aus christlicher Sicht ist es selbstverständlich, dass Mann und Frau die gleiche Würde haben, denn beide sind Gottes Ebenbild. Beide Geschlechter sind also aufgerufen und durch soziale Regeln wie Tugenden dazu zu befähigen, ihre Talente frei zu entfalten und eigen- wie sozialverantwortlich ihrem moralischen Anspruch gegenüber Gott gerecht zu werden. Es darf keine Bevorzugung oder Benachteiligung hinsichtlich einer solchen Heilsbefähigung geben. Diese Gleichheit gründet aber nicht in der Dekonstruktion jeder Differenz des so genannten sozialen Geschlechts und auch nicht in einer depersonalen Entleiblichung der normativen Perspektive. Vielmehr geht es in einer theologisch vertretbaren Geschlechtergerechtigkeit um die Entfaltung gleicher Würde unter Berücksichtigung von nicht allein biologischer, sondern auch derjenigen sozialen Differenz, die heilsrelevant ist. Diese im Dialog auf Augenhöhe mit Sozial- und Humanwissenschaften auszuloten und sie ggf. anzumahnen, kann eine lohnende Aufgabe christlicher Sozialethik sein. Dann ist diese Frage aber keine Totalität, sondern ein Gegenstandsbereich theologischen Fragens unter anderen. Geschlechtergerechtigkeit ist damit sozialethisch eine Frage der Theologie jenseits der Genderperspektive.
Phänomenologische Seins-Antwort Auf der Grundlage der sozialethischen Einordnungen kann nun die wesentliche phänomenologische Seinsfrage beantwortet werden. Die Genderperspektive entkoppelt die im Leib gegebene Geschlechtlichkeit vom normativen gegebenen Da-Sein menschlicher Existenz. Damit werden die sozialen Folgen der Geschlechtlichkeit für den Menschen verfügbar, ohne zunächst das Gut-Sein zu beeinträchtigen, also die Beziehung zu Gott zu stören und unseren Heilsauftrag zu verfremden. Eine solche Entkoppelung ist ein nicht empirisch beweisbares Postulat, und deshalb zunächst wissenschaftstheoretisch zulässig. Zu fragen bleibt aus einer phänomenologischen Perspektive dann nach der normativen Essentialität des Menschen, die nunmehr ins Da zu bringen ist. Es muss sich dabei dann um ein 239 https://doi.org/10.5771/9783495817742 .
Elmar Nass
objektives Gut handeln, für dessen Da-Sein in der menschlichen Existenz die sozialen Folgen der Geschlechtlichkeit irrelevant sind. Der Genderperspektive entsprechend ist die Geschlechtlichkeit also nicht Teil des normativen Da-Seins des Guten in der menschlichen Existenz. Wäre sie es, ließe sie sich nicht von den mit ihr gegebenen normativen (sozialen) Konsequenzen der Leiblichkeit ablösen. Da wir als Christen Gott nicht geschlechtlich im irdischen Sinne denken sollten, erscheint eine solche Perspektive zunächst plausibel. So wäre die soziale Normativität eines geschlechtsneutral verstandenen Da-Seins die Konsequenz des geschlechtsneutralen Gut-Seins und damit von Gottes Wesen. Doch folgende Einwände drängen sich auf: Es wird damit die kreative Kraft der aus sich herausgehenden Liebe Gottes (sein Eros) ignoriert, vor allem die Fleisch gewordene Liebe Gottes in Jesus Christus. 30 Wenn wir Gott als das schlechthinnige Gut-Sein verstehen und diesem kein menschliches Geschlecht zuordnen, so sehen wir doch zuallererst in Jesus Christus, dass dieses Gut-Sein sich ausdrücklich in einem geschlechtlichen Leib inkarniert. Wenn wir dies nun also akzeptieren, so ist aus phänomenologischer Sicht klar, dass dieser ganze Leib einschließlich seiner Geschlechtlichkeit das GutSein so ins Da bringt. Die Geschlechtlichkeit ist deshalb nicht etwa ein ›Dort‹, also ein Gegenüber des göttlichen Gut-Seins. In der ungetrennten und unvermischten Natur Jesu Christi kommt sie menschlich ins Da. Sie ist damit Ausfluss der Liebe Gottes und deshalb Ingrediens unserer Identität als sollendes Da-Sein, dessen Sollen dem Gut-Sein Gottes entspringt. Der Mensch ist nun nicht Gott, aber sein Ebenbild. Und das DaSein des Heiligen Geistes in unserer leiblichen und damit auch geschlechtlichen Existenz ist unser Auftrag zum Guten. Eine Ablösung der Geschlechtlichkeit aus der Leiblichkeit, um damit gewisse normative Folgen ihrer Objektivität zu entziehen, bleibt eine voluntaristische Sezierung der Personalität, denn sie hebt die seins-mäßige Einheit des Leibes und damit des Da-Seins auf. Ebenso ließe sich ja auch analog einfach die Vernunftbegabung aus der ganzheitlichen Leiblichkeit heraussezieren, um so deren normative soziale Folgen zu leugnen oder zur Disposition zu stellen. Dann ließe sich eine aus der höheren Vernunftbegabung höhere moralische Verantwortung für das Soziale ebenso leugnen wie die sich aus dem unterschiedlichen 30
Vgl. Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus Caritas est, Rom 2005, Nr. 10 f.
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Leibliche Identität christlichen Gut-Seins versus Genderperspektive
Geschlecht ergebende normative soziale Konsequenz. Diese Konsequenz ist offensichtlich theologisch nicht zu rechtfertigen. Gleiche Einsicht sollte über das Seinsverständnis der Genderperspektive herrschen. Erfahrungsmäßig bedeutet diese Einsicht den Auftrag, auch unsere Geschlechtlichkeit mit ihren sozialen Folgen anzunehmen. Wenn ich in meiner Geschlechtlichkeit auch das Da-Sein Gottes ausmachen kann, so folgt daraus eine Ethik der Geschlechtlichkeit. Sie gründet in einer grundsätzlich positiven Einstellung zu meinem Geschlecht, verbunden mit einer entsprechenden liebenden Verantwortung. Das besagt, dass die Geschlechtlichkeit in meinem Leben nicht nivelliert, versteckt oder verteufelt werden sollte. Ich darf und soll zu meinem Mann- oder Frau-Sein in aller Unterschiedlichkeit ausdrücklich stehen. Sie ist kein Objekt der Lust, sondern ein Ingrediens meiner liebenden Existenz, denn durch sie will das Gut-Sein ins Da kommen. Damit darf ich mich als Mensch an ihr freuen, muss ihre Verführbarkeit aber zugleich zügeln. Das unterscheidet sie aber nicht von anderen Tugendpflichten. Ja zur Geschlechtlichkeit bedeutet zugleich einen hohen Respekt vor der Geschlechtlichkeit meiner Mitmenschen. Dazu gehört nicht nur das Aushalten oder die Toleranz, sondern vielmehr die bereichernde und beglückende Freude an der Andersartigkeit. Gott schuf den Menschen als Mann und Frau, und beide Geschlechter sollen sich ergänzen, um so ganz phänomenologisch mit ihrem je eigenen Blick auf das Sein, das Da- und das Gut-Sein, die Leiblichkeit und die Identität komplementärer Wahrheit ans Licht zu bringen.
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V. Geschichte
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»Individuum ineffabile est« Individualität und Identität im Mittelalter Caroline Horch
1.
Einleitung
»Hab ich dir das Wort Individuum est ineffabile, woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?« fragte Johann Wolfgang von Goethe seinen damaligen Freund Johann Caspar Lavater am 20. September 1780. 1 Tatsächlich kann der Satz individuum ineffabile est neue Dimensionen eröffnen, noch heute und in doppelter Hinsicht: Hinsichtlich seiner Deutungsgeschichte und hinsichtlich unserer Wahrnehmung, in diesem Fall mittelalterlicher Gegebenheiten. Der wortgemäße Ursprung der Sentenz individuum ineffabile est ist nicht bekannt. Den Begriff ineffabilitas verwendet der Kirchenvater Augustinus im Sinne von Unaussprechlichkeit. 2 In der geläufigen Übersetzung das Individuum ist unfassbar wird der Aspekt der Unmöglichkeit einer verbalen Definition erweitert in die substanzielle Dimension. Als Provenienz des Satzes wird häufig, allerdings ohne Berechtigung, das Mittelalter in Anspruch genommen. Und mehr noch und auch folgenreicher wurde er auf die mittelalterliche Gesellschaft bezogen. »[…] das Wenige, was wir von unseren Ahnen aus dieser Periode wissen, reicht aus, um zu zeigen, daß ihnen […] das Verständnis für Individualität in hohem Grade abging.« 3 Dabei Mandelkow, Robert (Hg.), Goethes Briefe, Bd. 1, München 31986, 323–325, Brief Nr. 245, S. 325. Vgl. Kemper, Dirk, »ineffabile«. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne, München 2004, 19–26, der annimmt, dass der Satz »in Opposition zur vermeintlich durch die physiognomische Methode gesicherten Erkennbarkeit der Individualität formuliert« wurde (S. 20). Gleichwohl scheint für Goethe auch ein gewisser Selbstbezug vorhanden zu sein; vgl. ebd. 20 ff. 2 Siehe Augustinus, Aurelius, Epistolae, hg. v. Alois Goldbacher, T. 3, Wien/Leipzig 1904, 305. 3 Lamprecht, Karl, Ueber Individualität und das Verständnis für dieselbe im deutschen Mittelalter, in: Ders., Deutsche Geschichte, Bd. 12, Berlin 1909, 3–48, hier 5. Vgl. auch Fried, Johannes, Die Formierung Europas 840–1046, München 1991, 116 f., der in der Forschung bezüglich mittelalterlicher Individualität kaum überzeugende 1
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verschob sich der Sinngehalt des Adjektivs ineffabile von der Bedeutung unfassbar sukzessive zu der keineswegs zwingenden Schlussfolgerung nicht vorhanden. Der Prozess dieser sublimen und doch folgenreichen Sinnverschiebung soll im Folgenden untersucht und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Einschätzung des Individualismus im Mittelalter sollen aufgezeigt werden. Die Begriffe ›Individualismus‹ und ›Individuum‹ gehören zu der Kategorie sensibler Begriffe, deren Verwendung erhöhter Reflexion bedarf. Die inhaltliche Prägung der Begriffe erfolgte im 19. und stärker noch im 20. Jahrhundert und fokussierte infolgedessen andere gesellschaftliche Gegebenheiten und Voraussetzungen. Ein unkritischer Gebrauch der Begriffe zur Kennzeichnung mittelalterlicher Modalitäten kann fundamentale Missverständnisse zur Folge haben. Es ist daher ein kritisches Bewusstsein vonnöten für das, was gemeint ist und gemeint sein könnte, wenn von Individualismus im Mittelalter die Rede war und ist. Im Folgenden wird das Augenmerk zwar auf Individualismus, Individuen und individuellen Habitus gelegt, die primäre Intention gilt jedoch der These von einem allenfalls rudimentären individuellen Bewusstsein im Mittelalter. Trotz verschiedener Ansätze in den unterschiedlichen Disziplinen, Individualität im Mittelalter nachzuweisen, scheint es eine stillschweigende Übereinkunft zu geben, dass wahrhaft individuelles Bewusstsein erst seit der Renaissance möglich war. Der soeben angedeutete Bedeutungswandel des Satzes individuum ineffabile est lässt unter anderem vermuten, dass die Wahrnehmung von Individualität im Mittelalter weniger eine Frage detektivischen Spürsinns als vielmehr einer veränderten Perspektive ist. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, das Individualismus-Problem im Detail in seinen verschiedenen Stadien von der antiken Philosophie bis zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Theologie, von der Aufklärung bis zu Hegel und schließlich den modernen und postmodernen Theorien darzustellen. Unumgänglich sind jedoch 1. eine kritische epistemologische Reflexion und 2. eine historische Kontextualisierung von Begriff und Phänomen. 4 Darüber hinaus
Argumente findet. Zu beachten ist jedoch, dass diese Darstellung mittlerweile 25 Jahre zurückliegt. 4 Vgl. Dülmen, Richard van, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Entdeckung des Ich. Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/ Wien 2001, 1–7, hier 2.
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muss zugleich die historische Gewordenheit des Begriffs selbst beachtet und berücksichtigt werden, insbesondere dann, wenn zeitübergreifend mit ihm operiert wird. Dazu gehört auch ein Blick auf die geläufige Übersetzung: Das Individuum ist unfassbar. Diese Übersetzung ist nicht vollständig und übergeht damit Wesentliches. Das Substantiv, individuum, bleibt im Lateinischen. Besonders verwunderlich ist das nicht, denn dieser Begriff bedarf seit dem 19. Jahrhundert eigentlich keiner Übersetzung mehr. Das ist ein Hinweis auf den intuitiven Bedeutungstransfer von der einen Zeit in eine andere. Diese Dekontextualisierung und anachronistische Verwendung führte zu folgenschweren Missverständnissen. Der Begriff »Individuum« beinhaltet fast ausschließlich moderne Konnotationen. Entkleidet man ihn dieser, so schält sich darunter die antike Bedeutung vom individuum als einem untrennbaren Einzelwesen heraus. Aus der Anwendung neuzeitlicher Begriffe und damit selbstverständlich verbunden auch ihrer Inhalte ergibt sich die zwar naheliegende, aber nichtsdestotrotz unzutreffende Schlussfolgerung, dass dem Mittelalter bzw. den mittelalterlichen Menschen Individualität abgesprochen werden müsse. Es fehlt eine adäquate Terminologie für das Mittelalter. 5 Zeugnisse mittelalterlicher Individualität entsprechen nicht den neuzeitlichen Kriterien. Und andersherum vermögen Begriffe der Moderne die mittelalterlichen Phänomene nicht adäquat zu erfassen. Die Frage von Erhard Wiersing, was sich »im Mittelalter so sehr verändert [habe]«, dass dem modernen Menschen Texte von beispielsweise Cicero oder Augustinus leichter verständlich seien als mittelalterliche Heiligenviten oder Chansons des Gestes, 6 wäre eher mit einer Gegenfrage zu beantworten: Was hat sich in der nachmittelalterlichen Gegenwart geändert? Die von der Renaissance erstrebte Wiederbelebung der Antike unter anderen Vorzeichen machte das Mittelalter zu einer interimistisch geprägten Zeit, einer Zeit, die ein zu überwindendes Stadium darstellte. Die trinäre Epocheneinteilung geht zurück auf Christoph Das neuzeitliche Verständnis bestimmter Begriffe kann nicht ohne Weiteres auf andere Epochen übertragen werden; vgl. dazu die theoretischen Überlegungen von Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1979, XIII–XXVII, bes. XIV–XIX. 6 Vgl. Wiersing, Erhard, Überlegungen zum Problem mittelalterlicher Personalität, in: Röckelein, Hedwig (Hg.), Biographie als Geschichte, Tübingen 1993, 184–218, hier 191. 5
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Cellarius (1638–1707); 7 die Jahrhunderte, die die alte und die neue Zeit voneinander trennten, wurden mit einer Art Notnamen (aetas media) belegt. Und mehr noch: es kam ein Moment der Diskontinuität hinzu, mit dem die Forschung heute noch zu ringen hat. Die Renaissance rekurrierte auf die Antike und tat das Mittelalter als demgegenüber unwissend ab; noch heute gilt die Kennzeichnung als mittelalterlich mitunter synonymisch für rückständig. Die Auswirkungen dieses Prozesses auf die Wahrnehmung des individuum sollen im Folgenden untersucht werden.
2.
Begriffsgeschichte
Die vollständige Übersetzung des Satzes muss lauten: Das Unteilbare ist unbestimmbar. 8 Diese gleichsam axiomatische Bestimmung führt in die antike Diskussion. Ein kurzer Rekurs auf die antike Philosophie soll erläutern, was mit der Unbestimmbarkeit des Individuums gemeint ist. Der dem lateinischen individuum entsprechende griechische Begriff ist ἄτομον. Der Vorsokratiker Demokrit entwickelte im 5. Jahrhundert v. Chr. die Ansätze seines Lehrers Leukipp weiter; ihm zufolge sind Atome die physikalisch kleinsten und nicht mehr teilbaren Einheiten der Materie, ihre »Urbestandteile«. 9 Gleichwohl blieben die Unteilbarkeit, die Größe und die mathematische Berechenbarkeit der Atome umstritten. 10 Atomkomplexe hingegen sind veränderbar Cellarius, Christophorus, Historia universalis breviter ac perspicue exposita, in antiquam, et medii aevi ac novam divisa, cum notis perpetuis, Jena 1702. Vgl. Beck, Marcus, Artikel »Cellarius, Christophorus«, in: Kuhlmann, Peter / Schneider, Helmuth (Hg.), Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon, Supplemente 6, Darmstadt 2012, Sp. 210–212; Voss, Jürgen, Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs. Untersuchungen zur Geschichte des Mittelalterbegriffes und der Mittelalterbewertung von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München 1972, bes. 58–62. 8 Vgl. dazu Assenmacher, Johannes, Die Geschichte des Individuationsprinzips in der Scholastik, Leipzig 1926, 3 f. 9 Nikolaou, Sousanna-Maria, Die Atomlehre Demokrits und Platons Timaios. Eine vergleichende Untersuchung, Stuttgart/Leipzig 1998, 75. 10 Vgl. Bodnár, István, Artikel »Demokritos von Abdera«, in: Cancik, Hubert / Schneider, Helmuth (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 3: Altertum, Stuttgart/Weimar 1997, Sp. 455–458. Die Beschäftigung mit dem Atom fand in einem umfassenderen Kontext statt, in dem nach einer Erklärung des Seienden, der 7
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»und [können] sogar von den Umständen der Wahrnehmung abhängen.« 11 Was ein Atom sei, wie es zu bestimmen sei, was es für Eigenschaften habe und wie es sich verhalte, wurde von Anfang an kontrovers diskutiert. Im allgemeinen Verständnis würde man das Atom als kleinste physikalische Einheit heute weniger der Philosophie als vielmehr eher der Physik zuweisen und in der Tat wird Demokrit auch von der modernen Atomphysik beansprucht. 12 Werner Heisenberg beispielsweise wies darauf hin, dass Entdeckungen im Bereich der Naturwissenschaft durchaus philosophische Fragestellungen tangieren bzw. mit diesen verknüpft sein können, weil sie »die wissenschaftliche Methode schlechthin oder die Grundvoraussetzungen aller Naturwissenschaften zum Ziel haben.« 13 Für die Atomisten des 5. Jahrhunderts v. Chr. waren die Atome »Erkenntnis-Objekte«, die sowohl physikalisch als auch ontologisch begründet wurden. 14 Versteht man unter »physikalisch« die materielle, substanzielle Bedeutung, so taucht dieser zweifache Aspekt in der Diskussion immer wieder auf. Das Atom und seine mathematische Berechenbarkeit verblieben in der Physik, auch wenn die Physiker des 20. Jahrhunderts auf die antike Philosophie rekurrierten. Das individuum hingegen wurde, obschon aus der Diskussion über das Atom geboren, zu einem Objekt der Philosophie. Die Atome des Demokrit sind physikalisch geprägt, besitzen aber darüber hinaus einen gleichrangigen philosophischen Gehalt, der sie zu einem vorzüglichen Gegenstand der Ontologie macht. Dieser philosophische Zweig der Atomlehre ging in die Diskussion über das individuum ein und prägte sie maßgeblich. Trotz der prinzipiell begrifflichen Identität der Begriffe Atom und individuum (Unteilbares) trennte sich in der Folge ihre jeweilige Bedeutung. Im Unterschied zu Demokrit suchte Aristoteles (384–322 v. Chr.) das Atom bzw. individuum erkenntnistheoretisch mithilfe der phimit den Sinnen wahrnehmbaren Welt, gesucht wurde. Vgl. Löbl, Rudolf, Demokrits Atomphysik, Darmstadt 1987, 85 ff. 11 Bodnár, ebd., Sp. 457. 12 Zur Rezeption Demokrits siehe: Möllendorf, Peter von, Artikel »Demokrit«, in: Ders. / Simonis, Annette / Simonis, Linda (Hg.), Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik, Stuttgart/Weimar 2013, Sp. 337–350. 13 Heisenberg, Werner, Die Plancksche Entdeckung und die philosophischen Grundfragen der Atomlehre, 20. Vgl. auch die erhellenden Ausführungen zur »Ganzheit« von Fischer, Ernst Peter, Niels Bohr. Physiker und Philosoph des Atomzeitalters, München 2012, 212–215. 14 Vgl. Löbl, Demokrits Atomphysik, bes. 91 f.
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losophischen Logik zu bestimmen. Auch er definierte das individuum als unteilbares Einzelwesen, als erste Substanz, »die weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden ist.« 15 Prägnanter noch bringt dies die Formulierung »Individuen heißen die ersten Substanzen« zum Ausdruck. 16 Nur in seiner irreduziblen Gesamtheit bewahrt das Einzelwesen seinen (individuellen) Charakter. Wird jedoch dieses Ganze zerlegt in seine logischen Einheiten, hat man es nicht mehr mit dem individuum zu tun. Das aristotelische individuum besitzt durchaus ein mehrteiliges materielles Substrat, welches jedoch zum einen nicht teilbar ist und zum anderen terminologisch nicht restlos fassbar – im Sinne von eindeutig, umfassend und unzweifelhaft – ist: es ist eben ineffabile. »Dieses substanzielle Wesen des individuellen Seienden ist nach aristotelischer Lehre wegen der Kontingenz des sinnlich-materiellen Einzelseienden undefinierbar und unbeweisbar.« 17 Die Ganzheit (oder die Einheit) lässt sich begrifflich nicht fassen, man kann nur jeweils über eine Vielheit von Aspekten sprechen. 18 Obschon Aristoteles nicht der Urheber der titelgebenden Sentenz ist, geht das Prinzip der Unbestimmbarkeit des Individuums auf ihn zurück. 19 Über Demokrit hinausgehend bahnt sich bei ihm bereits Siehe Aristoteles, Kategorien, übers. u. erläutert v. Klaus Oehler, Berlin 1984, 10; vgl. dazu Oehler, Klaus, ebd., 101–105, 213. 16 Oeing-Hanhoff, Ludger, Artikel »Indidviduum, Individualität. II. Hoch- und Spätscholastik«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, 1976, Sp. 304–310, Sp. 304. Vgl. außerdem Aristoteles, Über das Werden und Vergehen / De generatione et corruptione, griech.–dt., hg. u. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg 2011, 8/9– 20/21: Kap. 2, bes. 12/13–16/17. 17 Kobusch, Theo, Artikel »Individuum, Individualität. I. Antike und Frühscholastik«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Sp. 300–304, Sp. 300. 18 Vgl. Pieper, Annemarie, Artikel »Individuum«, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, München 1973, 728–737, hier 729 f. 19 Vgl. Janke, Wolfgang, Artikel »Individuum/Individualismus. Philosophisch«, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 16, Berlin / New-York 1987, 117–124, hier 117. Das platonische Gedankengut, das zum Phänomen des Individuums etwas beizutragen hätte, kann und muss in diesem Kontext nicht im Einzelnen berücksichtigt werden. Vgl. dazu Janke, ebd. Siehe dazu Pieper, Artikel »Individuum«, 729: Platon konzediert nur den reinen Formen (Ideen) Erkennbarkeit, d. h. Bestimmbarkeit. Das Empirisch-Faktische bzw. Materielle kann nur dann erkannt werden, wenn es auf die Form zurückgeführt werden kann; das Seiende resultiert aus der Teilhabe an den Ideen. Auf Aristoteles hingegen geht die Bedeutung der Substanz für das Individuum zurück. Vgl. auch Assenmacher, Die Geschichte des Individuationsprinzips, 13 ff. Zur platonischen Vorstellung vgl. Frede, Dorothea, Der Mangel als principium individuationis bei Platon, in: Heilinger, Jan-Christoph / King, Colin G. / Wittwer, Héctor 15
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eine Personalisierung des individuum an. Auf Porphyrios († 304 n. Chr.) geht die fortan klassische Definition zurück: »Individuen […] heißen solche Wesen, weil jedes aus Eigentümlichkeiten besteht, deren Gesamtheit bei keinem anderen jemals dieselbe wird.« 20 Exakt diese Merkmale, Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit, die als Charakteristika eines Individuums schlechthin angesehen werden, machen es ineffabile. Die endgültige Verknüpfung von individuum und Person nahm Boethius († 524 n. Chr.) vor, der die antike Philosophie dem Mittelalter vermittelte, nicht nur die soeben zitierte Definition des Porphyrios, sondern vor allem die Schriften des Aristoteles, dessen Kommentator und Übersetzer er war: Eine Person ist, so Boethius, »einer verständigen Natur unteilbare Substanz«. 21 Noch deutlicher freilich wird diese implizite Differenzierung der heute geläufigen Identifikation von Person und Individuum in der älteren Überlieferung des Satzes: »Eine Person ist ein vernunftbegabtes unteilbares Wesen.« 22 Gegenüber der antiken Philosophie wird das individuum von nicht-personalen Gegenständen abgegrenzt, wenngleich beide in einer Beziehung zueinander bestehen bleiben. 23 Die Übersetzung von Berthold Wald: »Personen sind nur diejenigen Individuen zu nennen, die sich von nichtpersonalen Individuen durch ihre ratio(Hg.), Individualität und Selbstbestimmung, Berlin 2009, 37–54, bes. 42 ff. Vgl. auch Nikolaou, Die Atomlehre Demokrits, 128 ff. 20 »Indiuidua ergo dicuntur huiusmodo, quoniam ex proprietatibus consistit unum quoque eorum, quarum collectio numquam in alio eadem erit.« (Ancii Manlii Severini Boethii in Isagogen Porphyrii Commenta, hg. v. Georg Schepss, Wien 1906, 234. Übersetzung zitiert nach Kobusch, Artikel »Individuum und Individualität«, Sp. 301. Vgl. auch Hödl, Ludwig / Laarmann, Matthias, Artikel »Individuum, -ation, -alität«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München/Zürich 1991, Sp. 406–411, Sp. 406. 21 Boethius, Anicius Manlius Severinus, Tractatus Quintus: Contra Eutychen et Nestorium, in: Ders., Die theologischen Traktate, lat.–dt., hg. v. Michael Elsässer, Hamburg 1988, 64/65–114/115, hier 74: »Quocirca si persona in solis substantiis est atque in his rationabilibus omnis natura est nec in universalibus sed in individuis constat, reperta personae est definitio: ›naturae rationabilis individua substantia.‹« Auf die v. a. theologische Kritik an dieser aus der Logik entstandenen Definition des Boethius kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. dazu Elsässer, Michael, Anmerkungen des Herausgebers, in: Ebd., 128. Vgl. Marenbon, John, Boethius, Oxford 2003, 68– 76, bes. 72; zur Aristoteles-Vermittlung siehe ebd., 165 f. Vgl. auch Fried, Johannes, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, [2008] München 32009, bes. 11–16. 22 Vgl. Boethius, Anicius Manlius Severinus, Liber de persona et duabus naturis contra Eutychen et Nestorium, in: Migne PL 64, Sp. 1337–1357, Sp. 1343: »persona est naturae rationalis individua substantia.« Vgl. dazu Elsässer, Michael, Anmerkungen des Herausgebers, in: Boethius, Die theologischen Traktate, 129. 23 Vgl. Kobusch, Artikel »Individuum, Individualität«, Sp. 302 f.
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nale Natur unterscheiden« 24 geht noch weiter und verschiebt den Fokus von der Substanzialität auf eine geistige Fähigkeit, die Rationalität. Trotz der Differenzierung des Boethius blieb die Trennung von individuum und Person im Mittelalter bestehen. »Eigentümlich für das mittelalterliche Verständnis der Individualität ist, daß dieser Begriff nicht, wie in der Neuzeit, ausschließlich für Menschen reserviert ist.« 25 Eigenartigerweise wird das mittelalterliche Verständnis vom individuum deshalb als defizitär betrachtet und aus dieser Einschätzung resultiert die moderne Aberkennung eines mittelalterlichen Individuums. Auch die erkenntnistheoretische Differenzierung des Gilbert von Porrée († 1155) von singularitas (id quo est), der numerischen Einheit einer Person, und individualitas (id quod est), der Distinktion von anderen Personen, änderte das nicht grundsätzlich. Sie zielte zudem eher auf das Trinitätsproblem ab. Sein Verdienst besteht in der Unterscheidung von Akzidenz und Substanz des Individuums. 26 Die Frage nach dem individuum verschob sich nunmehr von der erkenntnistheoretischen auf die metaphysische Ebene. Auch die Definition des Thomas von Aquin († 1274): »Ein Individuum aber ist das, was in sich ununterschieden, von anderen aber unterschieden ist«, 27 bezieht sich auf ein personales und das heißt hier menschliches Individuum: Die substantia individua ist eine durch Vernunft (ratio) gekennzeichnete Person. 28 Die philosophische Zit. nach Wald, Berthold, »Rationalis naturae individua substantia«. Aristoteles, Boethius und der Begriff der Person im Mittelalter, in: Aertsen, Jan A. / Speer, Andreas (Hg.), Individuum und Individualität im Mittelalter, Berlin / New York 1996, 371–388, hier 374. Vgl. dazu auch Hödl/Laarmann, Artikel »Individuum«, Sp. 406– 411, Sp. 406. 25 Aertsen, Jan A., Einleitung: Die Entdeckung des Individuums, in: Ders. / Speer, Andreas (Hg.), Individuum und Individualität, IX–XVII, hier XV. 26 Gilberts Entwurf wurde auf der Synode von Reims (1148) verworfen. Vgl. auch Stinglhammer, Hermann, Artikel »Trinität. II. Mittelalter«, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Gerhard Müller, Bd. 34, Berlin – New York 2002, 100–105, bes. 101. Vgl. auch die Hinweise bei Hödl/Laarmann, Artikel »Individuum«, 1991, Sp. 406 f. 27 Thomas von Aquin, Summa Theologica, I q. 29. a. 4, 58: »Individuum autem est, quod est in se indistinctum, ab aliis vero distinctum.« (Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte dt.-lat. Ausgabe der Summa theologica, übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, Bd. 3, Salzburg/Leipzig 1939) 28 »Persona enim in communi significat substantiam individuam rationalis naturae, ut dictum est.« lautet der dem zuvor genannten Zitat vorausgehende Satz (I, q. 29. a. 4, S. 58). 24
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Bestimmbarkeit trat in der mittelalterlichen Diskussion schließlich in dem Maße zurück, in dem das Problem der divisio im Vordergrund stand. 29 Latent bestand die Fragestellung gleichwohl weiter, denn sobald eine Aussage über das individuum die Grenze des Substanziellen überschritt, wurde sie zu einer Verknüpfung von Begriffen, welche die Ganzheit nicht mehr erfassen konnte. Theologisch betrachtet führt gerade die Singularität des Einzelnen zu der besonderen Beziehung Gottes zu seinen Geschöpfen, wie sie zum Beispiel die Gleichnisse in Lk 15 zum Ausdruck bringen. 30 In der späten Scholastik und besonders bei Wilhelm von Ockham († 1349) schließlich erlangte die Frage nach dem Allgemeinen Priorität gegenüber einer Bestimmung des individuum. Ockham ging es um die Universalien respektive ihren Realitätsgehalt: nulla res extra animam […] est universalis. 31 Das ist klar und unmissverständlich Nominalismus in reinster Ausprägung: universalia post rem. Und weiter heißt es: »es ist ebenso unmöglich, daß ein extramentales Ding ein Universales sei, […] wie es unmöglich ist, daß ein Mensch dem Denken oder dem Sein nach ein Esel sei.« 32 Demgegenüber ist für Ockham das Individuelle unproblematisch: es ist, wie gehabt, all das, was existiert. Die mittelalterliche Theologie und Philosophie zum Thema individuum ist hochkomplex. Das intellektuelle Ringen um das indiviVgl. noch einmal Thomas von Aquin: »Est enim de ratione individui quod non possit in pluribus esse […]« (III q. 77. a. 2, S. 129 [Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte dt.-lat. Ausgabe der Summa theologica, übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, Bd. 30, Salzburg/Leipzig 1938]) 30 Vgl. Troeltsch, Ernst, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Teilbd. 1, [Leipzig 1912] Ndr. Tübingen 1994, 40 f.: »Wie der absolute Individualismus aus der religiösen Idee der herzensreinen Selbsthingabe an den die Seelen suchenden und zur Kindschaft berufenden Vaterwillen angeht, so wird aus der gleichen Grundidee heraus der absolute Individualismus zu einer ebenso absoluten Liebesgemeinschaft des in Gott Verbundenen […]« 31 Ockham, Wilhelm von, Scriptum in librum primum sententiarum ordinatio: distinctiones II–III, hg. von Stephan Brown, St. Bonaventure (New York) 1970, distinctio 2, quaestio 7, 248 f. Das vollständige Zitat lautet: »Ideo aliter dico ad quaestionem quod nulla res extra animam, nec per se nec per aliquid additum, reale vel rationis, nec qualitercumque consideretur vel intelligatur, est universalis; ita quod tanta est impossibilitas quod aliqua res extra animam sit quocumque modo universalis – nisi forte per institutionem voluntariam, quomodo ista vox ›homo‹, quae est vox singularis, est universalis – quanta impossibilitas est quod homo per quamcumque considerationem vel secundum quodcumque esse sit asinus«. 32 Übersetzung nach Aertsen, Jan A., Einleitung, XIII. 29
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duum ineffabile darf nicht unterschätzt werden, nur weil es anderen Intentionen diente als einer neuzeitlichen Kriterien entsprechenden Bestimmung. Aufgrund der historisch, philosophisch und theologisch bedingt unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Merkmale des individuum entwickelte sich ein Konzept, das dezidiert auf die Person gerichtet ist und das die Unverwechselbarkeit in den Vordergrund stellt sowie darüber hinaus partiell an der Unfassbarkeit respektive eingeschränkten Kommunizierbarkeit festhält. Darüber darf der unterschiedliche Bedeutungsgehalt der Übersetzungen nicht außer Acht gelassen werden: ineffabile als unfassbar bezieht sich auf das Objekt selbst, ineffabile als nicht mitteilbar bezieht sich auf ein anderes Subjekt. Die beiden adjektivischen Kennzeichnungen sind zudem negativ, sie bezeichnen ein Manko, während das Bestreben der antiken und mittelalterlichen Philosophie darauf gerichtet war, das individuum positiv, das heißt durch das Vorhandensein von etwas, durch seinen Gehalt zu bestimmen. Dieser reduzierte Versuch einer Kontextualisierung der Sentenz individuum ineffabile est sollte deutlich gemacht haben, dass die Thematik zwar ungebrochen virulent blieb, jedoch deutlich andere Schwerpunkte setzte, als es seit dem 19. Jahrhundert geschah. Die genannten Beispiele konnten aber auch die begriffliche Differenzierung belegen, die in späterer Zeit mitunter verloren ging. 33 An dieser Stelle muss ein zeitlicher Sprung gemacht werden. Die Philosophie der Aufklärung war zwar von überaus großer Bedeutung für die Individualitätsdebatte, kann aber hier nicht verfolgt werden. Am Beispiel von Johann Wolfgang Goethe lässt sich vielleicht der nachmittelalterliche Wandel skizzieren. Wie eingangs bereits angedeutet, war das Problem der Individualität für Goethe persönlich ein eminent wichtiges Thema. Individualität war für ihn, so Dirk Kemper, »der dem Individuum innewohnende Ausdruck seiner schicksalshaften Bestimmtheit, das ihm eigene individuelle Gesetz, das seinen Kontrovers dazu: Ertl, Thomas, Rezension zu: Melville, Gert / Schürer, Markus (Hg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 2002, in: H-Soz-u-Kult, 07. 06. 2003, http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/2003-2-139: »Gegenüber einer mittelalterlichen Begrifflichkeit, die sorglos durcheinander mischte, was neuzeitliche Forscher trennen wollen, ist die moderne Terminologie durch Differenziertheit, aber auch durch innere Widersprüchlichkeit gekennzeichnet.« Auf die Philosophen von der Aufklärung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts kann hier nicht näher eingegangen werden; ihre Bedeutung in der Diskussion ist gleichwohl eminent.
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Lebensweg festlegt.« 34 Damit ist eine Wende markiert. »Vor dem Hintergrund der […] erkenntnistheoretischen Situation der Moderne, in der das Ding an sich und damit die Ordnung des Seins aus dem transzendentalen Selbstbeschreibungsprozeß der Vernunft methodologisch ausgeblendet bleiben muß, steht der Begriff des Individuums im Zusammenhang mit dem fortwirkenden Bedürfnis, die Ordnung des Seins als Gewißheit verbürgende Instanz für den eigenen Ichund Weltentwurf im Gewande neuer Terminologien zwar vorsichtig tastend, aber eben doch wieder in moderne Weltbilder zu integrieren.« 35
3.
Das individuum bei den Historikern der Moderne
Ebenso wenig wie die antike und mittelalterliche kann an dieser Stelle die neuzeitliche Auffassung von Individualität und Individualismus umfassend erläutert werden. 36 Die Vorstellung vom individuum, wie sie sich nach der Aufklärung entwickelt hat, ist gekennzeichnet durch die Begriffe Subjektivität, Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung. Insbesondere mit Individualität wird eine Eigenschaft verknüpft, die prägend für das moderne individuum ist: Identität. Sie »bezeichnet […] die Fähigkeit, im Wechsel von Zeiten, Orten und Zuständen ›dasselbe‹ zu bleiben.« 37 Freilich versteht die moderne Sozialwissenschaft unter der Einheit einer Person, die Identität kennzeichne, etwas anderes als die antike und mittelalterliche Philosophie. Die Identität einer Person »bezeichnet die insbesondere durch die Kohärenz (moralischer, ästhetischer Maximensysteme) sowie die (narrativ konstruierte) Kontinuität gewährleistete Einheit einer Person.« 38 Im Unterschied zur Individualität ist »die Identität einer Person sozial konstituiert und vermittelt […], der einzelne [ist] also auch Kemper, »ineffabile«, 23. Ebd. 26. 36 Die Literatur dazu ist unüberschaubar, vgl. die zwar etwas ältere, aber dennoch substanzielle Publikation Frank, Manfred / Haverkamp, Anselm (Hg.), Individualität, München 1988. 37 Sonntag, Michael, »Das Verborgene des Herzens«. Zur Geschichte der Individualität, Hamburg 1999, 8. 38 Straub, Jürgen, Identitätstheorie, empirische Identitätsforschung und die ›postmoderne‹ armchair psychology, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungsund Sozialforschung 1 (2000), 167–194, hier 167; vgl. auch ebd. 170 ff. Vgl. auch Soeffner, Hans-Georg, »Typus und Individualität« oder »Typen oder Individualität«? 34 35
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im Hinblick auf seine Identitätsentwicklung kein solitäres, sondern ein soziales Wesen.« 39 Jürgen Straub schlägt deshalb zur kategorischen Unterscheidung eine strikte Trennung der »Identitätsfrage – ›wer bin ich (geworden) und wer möchte ich sein?‹ von der Individualitätsfrage – ›unterscheide ich mich von allen anderen und bin ich in diesem Sinne ein einzigartiges, unverwechselbares Individuum?‹« vor. 40 Das atomistische Verständnis der Antike wird abgelöst durch ein personal-subjektives. Die gesamte Individualismus-Debatte war und ist von modernen Deutungen durchzogen, die von den Voraussetzungen und Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts ausgehen, was sie für eine unreflektierte Übertragung auf vergangene Zeiten problematisch macht. Es war kein Zufall, dass in eben dem Zeitraum, in dem die Menschen sich ihrer selbst durch Identifikation einerseits und Abgrenzung andererseits zu vergewissern suchten, die im Entstehen begriffene Psychoanalyse mit der Erforschung von Identität begann. Der zunehmend beschleunigte Wandel sämtlicher Lebensbedingungen im 19. Jahrhundert, die daraus resultierende gesellschaftliche Instabilität sowie die damit einhergehende Auflösung von Traditionen, auch tiefgehende Glaubenszweifel und eben die Individualisierung weckten das Bestreben, Antworten auf die Frage nach der »Einheit der Person« zu finden. Hinzu kam eine mit dem Ende des Fortschrittsglaubens einhergehende massive und fundamentale Verunsicherung. Auf der Suche nach Selbstvergewisserung diente das Mittelalter als Kontrastfolie, sei es positiver oder negativer Art. 41 In Bezug auf die Frage respektive Suche nach dem individuum führte das zu einer Intensivierung der Bemühungen, seiner »habhaft« zu werden, es in dezidierter Distanzierung zum Mittelalter genauer zu bestimmen und zu verorten. Als vergleichsweise differenziert in seinen diesbezüglichen Bestrebungen darf Ferdinand Tönnies angesehen werden. Zwar konsta– Entdeckungsreisen in ein Land, in dem man zuhause ist, in: Wenzel, Horst (Hg.), Typus und Individualität im Mittelalter, München 1983, 11–44. 39 Straub, Identitätstheorie, 170. 40 Ebd. Vgl. auch Frank, Manfred, Subjekt, Person, Individuum, in: Manfred Fuhrmann / Anselm Haverkamp (Hg.), Individualität, München 1988, 3–20. 41 Vgl. auch Oexle, Otto Gerhard, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach, in: Ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zur Problemgeschichte der Moderne, Göttingen 1996, 137–162, hier 144 f.
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tierte er eine Entwicklung von der »Gemeinschaft« des Mittelalters zur »Gesellschaft« der Neuzeit, 42 betrachtete den Individualismus jedoch nicht als ein distinktives Element, sondern vielmehr als eine anthropologische Konstante: »Eine durchaus unrichtige Auffassung des die Neuzeit charakterisierenden Individualismus wäre es, zu sagen, er sei in der Gestalt, wie wir ihn kennen und wie wir im Gegensatz zu allen gemeinschaftlichen Wesenheiten ihn verstehen, in der Neuzeit überhaupt erst entstanden und emporgekommen. […] Der Mensch ist von Natur ein Individuum und kann nicht umhin, Erlebnisse wie seine Wünsche, seine Bedürfnisse, sein Streben auf das eigene Ich, auf das Wohl seines Leibes und seiner Seele […] zu beziehen.« 43 Auch die Bedeutung des sich im 19. Jahrhundert vehement entwickelnden Nationalismus sollte in diesem Kontext nicht geringgeschätzt werden; der Individualismus wurde damit auf eine politische Ebene gehoben. Karl Lamprecht konstatierte für das frühe Mittelalter: »Nur durch ungerechtfertigte Zurückdrängung der Nationalität in ihrem damaligen Bestande ließ sich eine solche Ausbildung des Individuums erreichen, wie wir sie an dem großen Karl und im Kreise seines Hofes finden […].« 44 Für Karl Lamprecht war Individualität überhaupt nur denkbar, wenn ein nationaler Rahmen gegeben war: »Mit dem Entstehen der Nationalität hatte der Deutsche die Schranke [!] gefunden, innerhalb deren die Entwicklung seiner Individualität während des Mittelalters verlaufen sollte.« 45 Die von Ferdinand Tönnies beschriebene Kontrastierung von Individuum und Gesellschaft gab es für Karl Lamprecht nicht. Sie wurde prägnant formuliert von Jacob Burckhardt, dessen folgendes Dictum als Geburtsstunde der historischen und kunsthistorischen Individualitätsforschung gilt: Vgl. Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen, Leipzig 1887; siehe auch Ders., Geist der Neuzeit, Leipzig 1935, 21: »Innerhalb dieser Entwicklung [von der Gemeinschaft zur Gesellschaft] liegt der ›Individualismus‹, d. h. daß der einzelne Mensch seiner Persönlichkeit, seines Wertes und seiner persönlichen Zwecke, also seiner Angelegenheiten oder seiner Interessen bewußter wird […]«. 43 Ders., Geist der Neuzeit, 24, freilich mit der durchaus chauvinistisch anmutenden Einschränkung: »Das Ich und sein Selbstbewusstsein entwickelt sich vom Kinde zum erwachsenen Menschen und zum Greise in größere Bedachtsamkeit, Ruhe und Umsicht; es ist in dieser Hinsicht […] stärker beim Manne als beim Weibe.« 44 Lamprecht, Karl, Ueber Individualität, 7. 45 Ebd., 9. 42
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»Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glaube, Kinderbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Race, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgend einer Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.« 46 Damit war zugleich suggeriert, was fortan die Sicht auf die mittelalterliche Gesellschaft prägen sollte: Ihre Mitglieder entbehrten jeder freien Selbstbestimmung, unvoreingenommenen Weltsicht und persönlicher Maßstäbe. Das neuzeitliche autonome Subjekt, selbstverantwortlich und selbstbestimmt, das in Freiheit seine Fähigkeiten entfalten kann, zu einem Bewusstsein seiner Einmaligkeit gelangt und Authentizität erstrebt, habe es demzufolge im Mittelalter nicht gegeben. Mit anderen Worten also: Das Mittelalter kannte das Individuum nicht. Dem Kulturhistoriker Jacob Burckhardt dienten das Mittelalter und der mittelalterliche Mensch nur als Negativfolie für die Renaissance; er instrumentalisierte die der von ihm beschriebenen Renaissance vorangegangene Zeit als Vorläufer. Das implizierte und legte zugleich a priori fest, dass der mittelalterliche über die für den Renaissance-Menschen proklamierten Eigenschaften und Fähigkeiten nicht verfügte. Aus heutiger Perspektive und nach modernen Maßstäben konnte der Vergleich gar nicht anders als zu Ungunsten des Mittelalters ausgehen. Es war dabei sozusagen noch ein Glücksfall, wenn dem mittelalterlichen Menschen nur Kinderbefangenheit attestiert wurde und nicht Barbarei. Die Wirkung dieser Sätze Jacob Burckhardts über das Mittelalter steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer Bedeutung im Kontext – und zu ihrer Wirkungsgeschichte. Im Fokus des Kulturhistorikers Jacob Burckhardt befanden sich nämlich die Menschen der Renaissance und das vorgebliche, postulierte und proponierte Erwachen eines so ganz anBurckhardt, Jacob, Die Kultur der Renaissance in Italien, hg. v. Horst Günther, [Basel 1860] Frankfurt a. M. 1989, 137.
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deren Bewusstseins in dieser Epoche. Einzig zur Kontrastierung hatte Jacob Burckhardt das Mittelalter angeführt und ebendeshalb war eine markante Grenze zwischen Mittelalter und Renaissance erforderlich. Gegen diese Epochenmarkierung wandte sich der niederländische Historiker Johan Huizinga in der 1920 erschienenen Publikation ›Das Problem der Renaissance‹, verfasst ein Jahr nach Erscheinen seines großen Buches ›Herbst des Mittelalters‹. 47 Auch Johan Huizinga benutzte das Bild eines Träumers – hier ist es jedoch derjenige, der nichtsahnend, deshalb träumend, die vorgeblichen Vorzüge der Renaissance preist. Der Träumer sagt: »Die Renaissance ist ganz und in allem positiv, und zweifellos ist sie in C-Dur gesetzt. […] Die Renaissance ist das Aufkommen des Individualismus, […] die Bewußtwerdung der Persönlichkeit […].« 48 Johan Huizinga machte so deutlich, dass den mittelalterlichen Träumern diejenigen der Renaissance an die Seite zu stellen sind. Keineswegs sei die Renaissance die Kulturwende gewesen, als die Jacob Burckhardt sie dargestellt habe, sie sei vielmehr eine Zeit des Übergangs gewesen, in Einigem dem Mittelalter ebenso verhaftet wie in Anderem dem modernen Menschen verwandt. 49 Es sei nicht zutreffend, den Individualismus zu dem charakterisierenden Grundzug der Renaissance schlechthin zu erklären, denn das führe zu einer Simplifizierung und in deren Gefolge auch zu einer nicht adäquaten Kontrastierung von Individualismus und Kollektivismus. Johan Huizinga forderte: »Solange Individualismus ebensosehr lange vor und lange nach der Renaissance sich als ein die Geschichte beherrschender Faktor erweist, tut man besser daran, ein Tabu darüber auszusprechen.« 50 An dieses Verbot hat sich natürlich niemand gehalten; die von Jacob Burckhardt gewählte Metapher der unter einem Schleier befindlichen mittelalterlichen Träumer war zu eingängig, ikonographisch reizvoll und bot zugleich eine hinreichende Vgl. zu Johan Huizinga: Krumm, Christian, Johan Huizinga, Deutschland und die Deutschen. Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Nachbarn, Münster u. a. 2011; Strupp, Christoph, Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte, Göttingen 2000; Fleckenstein, Josef, Johan Huizinga als Kulturhistoriker, in: Ders., Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1989, 490–507. 48 Huizinga, Johan, Das Problem der Renaissance [Haarlem 1920], in: Ders., Das Problem der Renaissance. Renaissance und Realismus, Berlin 1991, 17–67, hier 17. 49 Vgl. bes. Huizinga, Das Problem der Renaissance, 58 f. Vgl. auch Krumm, Johan Huizinga, bes. 243 f. 50 Huizinga, Das Problem der Renaissance, 58. 47
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Projektionsfläche. So gehört es zur ungebrochenen Aktualität des Forschungsthemas Individualität, dass jede Zeit aufs Neue versucht, des individuum habhaft zu werden. Nicht nur, aber auch aus neuzeitlicher Perspektive kommt es einer Diffamierung gleich, einem Zeitalter Individualität abzusprechen. Entwertung und Degradierung entfalten sich am besten im Vergleich und sind mitunter dann besonders erfolgreich, wenn die »Kontrahenten« inkommensurabel sind. Der farbenfreudigen, von Individuen bevölkerten Renaissance standen die gleichsam dumpfen, befangenen mittelalterlichen Menschen gegenüber. Es dauerte eine Weile, bis die Einsicht, dass es keine zeitlich und kulturell abrupte Trennung zwischen Mittelalter und Renaissance gab, ins Bewusstsein rückte. Der Kunsthistoriker Roberto Longhi hat mit einem amüsantironischen Szenarium vor einer Überschätzung der Epochengrenze gewarnt: »Tatsächlich scheint man allgemein davon überzeugt zu sein, daß sich an irgendeinem sonnigen Vormittag des Jahres 1425 oder 1426 die Florentiner Künstler versammelt und untereinander verabredet hätten: Jungs, jetzt reißen wir uns mal zusammen, ab heute machen wir nur noch Renaissance, und was früher war, interessiert uns nicht mehr.« 51 Nachdem erste Zweifel an der vorgeblich fundamentalen Diskontinuität von Mittelalter und Renaissance entstanden waren, hat es in der Forschung des vergangenen Jahrhunderts verschiedene Versuche gegeben, die zeitliche Grenze, jenseits derer sich Zeugnisse individueller Selbstwahrnehmung finden, zu verschieben. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Alfons Dopsch etwa benannte unterschiedliche Verhaltensweisen bzw. Kriterien, die er als Hinweise auf individuelles Verhalten im frühen Mittelalter deutete. 52 Seine zwar Longhi, Roberto, Masolino und Masaccio. Zwei Maler zwischen Spätgotik und Renaissance, aus dem Italienischen übers. v. Heinz-Georg Heldt, Berlin 1992, 117. Kontrovers paradox formuliert H. Bredekamp: »Vermutlich werden in der Frührenaissance nicht aus dem Grund unablässig Portraits gemalt, weil die Menschen ihr individuelles Selbst entdeckt haben, sondern weil ihnen aufging, daß es verloren oder zumindest bedroht war.« Siehe Bredekamp, Horst, Das Mittelalter als Epoche der Individualität, in: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 8, Berlin 2000, 191–240, hier 236. 52 Siehe Dopsch, Alfons, Wirtschaftsgeist und Individualismus im Frühmittelalter, in: Ders., Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Erna Patzelt, [Wien 1938] Ndr. Aalen 1968, 154–186. Vgl. zu Alfons Dopsch: Buchner, Thomas, Alfons Dopsch (1868–1953). Die »Mannigfaltigkeit der Verhältnisse«, in: Hruza, Karel (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, 51
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mit vielen (Quellen-)Belegen gesättigte Untersuchung entbehrt jedoch jeglicher methodisch belastbaren Grundlage. 53 Nimmt man sie allerdings als Zeugnis ihrer Zeit, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so ist in ihr durchaus das Bestreben zu erkennen, sich den Quellen hinsichtlich individuellen Verhaltens mit einem unvoreingenommenen Blick, »unbekümmert um Dogmen und Herkommen« [sc. der bisherigen Forschung] zuzuwenden. 54 Selbst wenn Alfons Dopsch am Ende seiner Ausführungen mit dem einschränkend gemeinten, doch eher paradox anmutenden Hinweis »Das frühe Mittelalter ist nicht das Mittelalter« vor einer Verallgemeinerung warnte, so ist das Bemühen um eine nicht vorurteilsbelastete Sichtweise gleichwohl zu würdigen. 55 Auch der englische Historiker Colin Morris wies in seiner Publikation ›The discovery of the individual‹ darauf hin, dass die Auswahl von Kriterien von entscheidender Bedeutung sei: »If we concentrate more on the development of self-awareness and self-expression, on the freedom of a man to declare himself without paying excessive attention to the demands of convention or the dictates of authority, then we may well find that the twelfth century was in this respect a peculiarly creative age.« 56 Jedoch projizierte auch Colin Morris die moderne Vorstellung von Individualität auf eine vergangene Zeit. 57 Selbsterkenntnis bzw. Selbstbewusstsein, Selbstdarstellung und (persönliche) Freiheit sind genau diejenigen Charakteristika, die der moderne Mensch für sich in Anspruch nimmt und dem Mittelalter abspricht. Die epistemologischen Positionen hinsichtlich des individuum ineffabile est in der historischen und kunsthistorischen Forschung sind kontrovers geblieben. Im Folgenden sollen einige von ihnen vorgestellt werden. Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien 2008, 155–190. 53 Vgl. Vollrath, Hanna, Alfons Dopsch, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 7, Göttingen 1980, 39–54, bes. 49 f. Vgl. einschränkend Buchner, Alfons Dopsch, 170 und 176 f. 54 Dopsch, Wirtschaftsgeist und Individualismus, 156. 55 Siehe ebd., 185. 56 Morris, Colin, The Discovery of the individual. 1050–1200, London / New York 1972, 7. 57 Vgl. dazu Aertsen, Einleitung, Xf. Vgl. dazu die provokante Äußerung von Sonntag, »Das Verborgene des Herzens«, 67: »Die ›Erfindung des Selbst‹ im 12. oder 13. Jahrhundert […] ist eine Erfindung der Historiker.«
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Für Aaron J. Gurjewitsch (›Das Individuum im europäischen Mittelalter‹) war das Individualitätsproblem »als Phänomen ein Produkt der geschichtlichen Einmaligkeit Westeuropas.« 58 Er spricht damit aus, was zuvor stets implizit vorausgesetzt wurde. Ein solcher Eurozentrismus verweist erneut auf die Übertragung spezifischer Begriffe in einen räumlich und zeitlich anderen Kontext. In Bezug auf das europäische Mittelalter bestätigt und untermauert Aaron J. Gurjewitsch bestehende Vorurteile: »Individualität wird [im Mittelalter] nicht geschätzt und nicht gutgeheißen, sie wird im Gegenteil gefürchtet, und das nicht nur an anderen Menschen, auch der Einzelmensch hütet sich davor, er selbst zu sein. Äußerungen von Originalität und Eigenständigkeit geraten in den Geruch von Ketzerei. Wenn ein mittelalterlicher Mensch nicht so ist wie alle anderen Leute, dann leidet er unter der Erkenntnis dieses Zustandes.« 59 Und schließlich: »Seine Individualität erkennt der Mensch nur in der Gesellschaft.« 60 Diese Erkenntnis führt jedoch in einen argumentativen circulus vitiosus, wenn zugleich gelten soll, dass die »Möglichkeiten für eine ›Rückkopplung‹ zwischen einer individuellen schöpferischen Leistung und ihrem Milieu […] damals grundsätzlich andere als heute [waren].« 61 Wo subjektiv empfundene Individualität, um eine in der modernen Begrifflichkeit angelegte Tautologie hier einmal zu benutzen, keine Option darstellt, kann sie auch nicht zur Alternative werden. Mit der Argumentation: wo »die Gedanken zu sehr auf Gott konzentriert« sind, bekommen wir »keine Antwort auf die uns interessierenden Fragen« 62 und es wird zudem das Verständnis für spirituell fundierte Einsichten verstellt. Walter Ullmann (›Individuum und Gesellschaft im Mittelalter‹) sah die mittelalterliche Gesellschaft im Wesentlichen gekennzeichnet durch das Verhältnis von Untertanen und Herrschenden. Walter UllGurjewitsch, Aaron J., Das Individuum im europäischen Mittelalter, München 1994, 14. 59 Ebd., 245. Diese Formulierung Gurjewitschs ist etwas problematisch, denn dem modernen Menschen ist unverständlich, wer man ist, wenn man nicht man »selbst« ist. Worum es geht, ist das Selbstverständnis von Außenseitern und um ihr Verhältnis zur Gesellschaft. Vgl. Ullmann, Walter, Individuum und Gesellschaft im Mittelalter, [Baltimore 1966] Göttingen 1974, 31: Ein Häretiker machte »sich des geistigen Hochmuts schuldig […], wenn er seine eigenen Ansichten den Meinungen derer vorzog, die zum Urteil über Fragen des Glaubens besonders befugt und befähigt waren.« 60 Gurjewitsch, Das Individuum im europäischen Mittelalter, 26. 61 Ebd., 17. 62 Ebd., 197. 58
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manns der Moderne entnommene Kriterien für ein Individuum waren Autonomie und Freiheit sowie angeborene Rechte und diese sah er im Mittelalter keineswegs gegeben: »Der Einzelne ging in der Korporation […] auf.« 63 Ausgangspunkt für Walter Ullmanns Rückblick auf das Mittelalter war der autonome Staatsbürger, der sich seine Rechte und seine Freiheit nicht erkämpfen musste, dem sie vielmehr angeboren waren. Dieser war hervorgegangen aus dem Untertan im Lehnswesen, in dem die »Idee der Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten« angelegt war. 64 Die Positionen der beiden letztgenannten Historiker stellen zugestandenermaßen nicht und nicht mehr die communis opinio dar, sie sind aus heutiger Perspektive extrem, eignen sich jedoch deshalb zur Verdeutlichung der Problematik des Individualismus-Begriffs und seiner Verwendung. Diesen alten Vorstellungen blieb zunächst auch der Historiker Richard van Dülmen verhaftet und datierte die Entdeckung des Individuums ins 16. Jahrhundert. 65 Zweifelsohne thematisierte Richard van Dülmen für die Epoche, die frühe Neuzeit genannt wird, Phänomene, die sie vom Mittelalter unterscheiden und die man unter dem Begriff Sozialdisziplinierung zusammenfassend charakterisieren könnte. Nicht zuletzt gehört auch die Reformation als bis dato undenkbare Spaltung der katholischen Kirche hierher, das heißt in eine post-mittelalterliche Zeit. »Mit der Renaissance hatte sich das Lebensgefühl der kulturellen Elite in Westeuropa grundlegend geändert […] Der zentrale Wandel war die bewußte Hinwendung zur Welt und zum Menschen, die für die Entdeckung des Individuums den Rahmen setzte« 66, schrieb Richard van Dülmen 1997. Dem wäre entschieden zu widersprechen. Aber bereits wenige Jahre später, 2001, nahm der Autor selbst einiges von dieser dezidierten Datierung des Individualisierungsprozesses in das 16. Jahrhundert zurück. In der großen Publikation ›Die Entdeckung des Ich‹, an der Forscher verschiedener Disziplinen mitarbeiteten, revidierte Richard van Dülmen gerade diese Vorstellung von der »Geburt des Individuums« in der Renaissance. 67 Ullmann, Das Individuum, 14. Ebd., 73. Einschränkend: Morris, The Discovery of the individual, 6. 65 Vgl. Dülmen, Richard van, Die Entdeckung des Individuums 1500–1800, Frankfurt a. M. 1997. 66 Ebd., 65. 67 Vgl. Dülmen, Die Entdeckung des Ich, 2. 63 64
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Im Unterschied zu den bisher skizzierten Forschungsansätzen versuchte Otto Gerhard Oexle nicht primär ein wie auch immer zu charakterisierendes mittelalterliches individuum zu bestimmen, sondern die Instrumentalisierung des Individuums bzw. des Konzeptes »Individualität« zu Zwecken der historischen Standortbestimmung nachzuweisen. 68 Es scheint unvermeidlich zu sein, dass Historiker, wenn sie über das Mittelalter sprechen, zugleich über das Verhältnis ihrer jeweiligen Zeit zum Mittelalter sprachen. Das kann zu Identifikationsangeboten einerseits führen oder auf der anderen Seite zu Diffamierungen. Letztlich aber, und das ist das Entscheidende, geht es dabei um die eigene Gegenwart. Mit dem Begriff »Epochenimagination« (des Mittelalters) kennzeichnet Otto Gerhard Oexle ein Denkschema, welches das Mittelalter gewissermaßen nur als wahlweise positiven oder negativen Kontrast für die Gegenwart benötigt. 69 Wenn er in diesem Zusammenhang konstatiert: »Die Äußerung über das Mittelalter dient zur Deutung der Moderne« 70, so lässt sich Analoges über den Individualismus bzw. das individuum sagen. 71 Selbstverständlich beschäftigt die Individualismus-Thematik die kunsthistorische Forschung ebenfalls, und zwar insbesondere deshalb, Vgl. etwa Oexle, Otto Gerhard, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995, hg. v. Peter Segl, Sigmaringen 1997, 307–364, hier 310; Ders., Konsens – Vertrag – Individuum. Über Formen des Vertragshandelns im Mittelalter, in: Bessmertny, Yuri L. / Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und in der russischen Kultur in Mittelalter und früher Neuzeit, Göttingen 2001, 15–37, hier 21; Ders., Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft. Lebensformen des Mittelalters und ihre historischen Wirkungen, in: Oexle, Otto Gerhard / Hülsen-Esch, Andrea von (Hg.), Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte, Göttingen 1998, 9–44; Ders., Memoria als Kultur, in: Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, 9–78, hier bes. 50. 69 Oexle, Konsens, 21. 70 Oexle, Otto Gerhard, Das entzweite Mittelalter, in: Althoff, Gerd (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992, 7–28, hier 12. 71 Das Verfahren, eine Epoche bzw. Kultur durch einen hypothetischen Grad an Individualisierung zu kennzeichnen, wurde im Übrigen nicht nur auf das Mittelalter angewendet: Die späte römische Republik stand in der Forschung bis vor nicht allzu langer Zeit in dem Ruf, am ungezügelten Individualismus zugrunde gegangen zu sein, weil dieser den Gemeinsinn zerstört habe; vgl. dazu Flaig, Egon, Wie der griechische Individualismus den römischen Gemeinsinn zerstörte. Über ein forschungsaxiomatisches Mythem, in: Bessmertny/Oexle (Hg.), Das Individuum und die Seinen, 3–15. 68
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weil Individualität häufig intuitiv mit einer anderen dem Mittelalter abgesprochenen Fähigkeit verknüpft wird: derjenigen nämlich, Porträtähnlichkeit bei den Bildwerken herzustellen. »In der mittelalterlichen Kunst geht es um das Typische des Menschenbildes. Porträttreue im Sinne einer Individualität setzt einen Selbstwert des Körpers voraus, der mittelalterlich-christlichem Denken widersprach.« 72 Es sei zunächst dahingestellt, ob es mittelalterlichen Künstlern tatsächlich um »das Typische des Menschenbildes« ging, und es sei ebenfalls davon abgesehen, zunächst einmal kritisch zu hinterfragen und anhand von Quellen zu überprüfen, ob mittelalterlichem Empfinden tatsächlich ein »Selbstwert des Körpers« abging. 73 Die beiden massiv neuzeitlich konnotierten und mit einer spezifischen Bedeutung versehenen Begriffe »Porträt« und »Individuum« kausal miteinander verbunden für Bildwerke einer nach anderen Maßstäben operierenden Zeit und Kunst zu verwenden, führt an einer erhellenden Untersuchung vorbei. Luca Giuliani hat am Beispiel der Bildniskunst der römischen Republik Kriterien entwickelt, die durchaus auch auf mittelalterliche Bildwerke anzuwenden sind. 74 Das Mimesis-Problem auszuklammern, das Werk in seinem historischen Kontext zu sehen und auf seine ursprüngliche Funktion zu rekurrieren führt auch im Hinblick auf die Wahrnehmung individueller Darstellungen zu neuen Ergebnissen. 75 So ist Bruno Reudenbach nur zuzustimmen, wenn er resümierend feststellt: »Porträtähnlichkeit steht […] nicht in einem direkten Zusammenhang mit der ›Entdeckung des Individuums‹«. 76 Bloch, Peter, Bildnis im Mittelalter. Herrscherbild – Grabbild – Stifterbild, in: Hüfler, Brigitte (Hg.), Bilder vom Menschen in der Kunst des Abendlandes. Kat. d. Ausst. in Berlin 1980, Berlin 1980, 105–141, hier 119; vgl. Ullmann, Das Individuum, 35 f. Vgl. Fried, Die Formierung Europas, 5: »Modernes Interesse an der Körperlichkeit dürfte dem früheren Mittelalter ganz fremd gewesen sein; es malt keine Portraits und beschreibt keine Personen.« 73 Vgl. Lamprecht, Über Individualität, 7, der mittelalterlichen Künstlern einen »Mangel jeglichen Sinns für die Erscheinung des natürlichen Körpers« unterstellt. 74 Giuliani, Luca, Bildnis und Botschaft. Hermeneutische Untersuchungen zur Bildniskunst der römischen Republik, Frankfurt 1986; vgl. hier insbes. die Einleitung, 11 ff. 75 Vgl. dazu auch Reudenbach, Bruno, Individuum ohne Bildnis? Zum Problem künstlerischer Ausdrucksformen von Individualität im Mittelalter, in: Aertsen/ Speer (Hg.), Individuum und Individualität, 807–818, hier 811 f.: »Solange die Einschätzung der mittelalterlichen Personendarstellung auf das Kriterium der veristischen Wiedergabe von Physiognomie und Gestalt fixiert bleibt, geraten andere Formen des Ausdrucks von Individualität gar nicht erst in den Blick.« 76 Reudenbach, Individuum ohne Bildnis?, 818. 72
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Die Zeitgebundenheit der Forscher, die sich mit dem Individuum im Mittelalter beschäftigten, kann nur angedeutet, jedoch nicht ausführlich behandelt werden. Oft war es ein bestimmtes, aus der jeweiligen Gegenwart resultierendes Interesse, das sie ihre Problemstellungen erforschen ließ, mehr noch: das diese konstituierte. 77 Das kann hier nicht im Einzelnen thematisiert werden und bedeutsamer ist in diesem Kontext die Erkenntnis, dass Vergangenheit und Gegenwart für die und in der Forschung nicht in einem eindeutigen, unveränderlichen, kausalen Verhältnis zueinander stehen, das es ein für alle Mal zu ergründen gilt. Vergangenheit und Gegenwart sind vielmehr in jeder Generation interdependent und das bedeutet, dass ihre Beziehung stets wieder neu konstituiert werden muss. Jede Vergangenheit stellt sich der jeweiligen Gegenwart neu dar. Beispielhaft für diesen Sachverhalt ist die Erforschung des mittelalterlichen Memorialwesens. 78 Die unterschiedlichen Memorialaufzeichnungen waren der Forschung von jeher bekannt, aber erst ihre systematische Auswertung seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte Schicht für Schicht aus den tausenden Namen Menschen – Individuen. So soll die Reihe einiger ausgewählter Beispiele mittelalterlicher Individualität mit der memoria begonnen werden.
Vgl. dazu Rüsen, Jörn, Die Uhr, der die Stunde schlägt. Geschichte als Prozeß der Kultur bei Jacob Burckhardt, in: Faber, Karl-Georg / Meier, Christian (Hg.), Historische Prozesse, München 1978, 186–217. 78 Literatur in Auswahl: Schmid, Karl / Wollasch, Joachim (Hg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, München 1984; Geuenich, Dieter / Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, Göttingen 1994; Oexle, Otto Gerhard, Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters, in: Heinzle, Joachim (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M. / Leipzig 1994, 297–323; Horch, Caroline, Der Memorialgedanke und das Spektrum seiner Funktionen in der Bildenden Kunst des Mittelalters, Königstein i. Ts. 2001; Lieven, Jens / Schlagheck, Michael / Welzel, Barbara (Hg.), Netzwerke der Memoria, Essen 2013; Geuenich, Dieter / Ludwig, Uwe (Hg.), Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2015. Auf die eminente Bedeutung der memoria für die Individualismusdebatte hat O. G. Oexle verschiedentlich hingewiesen, vgl. die oben genannte Literatur. 77
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4.
Beispiele
Das individualisierende Potenzial der memoria ist unübersehbar. Die Aufzeichnung und Rezitation von Namen einzelner Menschen oder bestimmter Gruppen und Gemeinschaften, war konstitutiver Bestandteil und gewissermaßen die materielle Grundlage des Gedenkens. Darüber hinaus wirkt die Erinnerung an Menschen per se individualisierend, es ist schließlich ein bestimmter Mensch, dessen gedacht wird. Libri vitae, Verbrüderungsbücher, Necrologien, Totenannalen, überhaupt Namenaufzeichnungen in den unterschiedlichsten Formen bringen zum Ausdruck, welch ein eminenter Wert auf die Bewahrung des Gedenkens gelegt wurde. Und zwar nicht an jemand Beliebigen, sondern an einen besonderen Menschen oder an eine spezielle Gruppe von Menschen, deren Anwesenheit zudem noch durch die Rezitation des Namens evoziert wurde. Das Individuum war also in der Gemeinschaft zugleich anwesend. Dies sind mittlerweile Gemeinplätze der Memoria-Forschung; im Kontext der Erforschung des individuum im Mittelalter erhalten sie jedoch eine besonders erhellende Bedeutung. In einem Memorialzeugnis, dem Necrolog des Klosters Michelsberg in Bamberg, befindet sich, und dies ist für dieses Medium ungewöhnlich, ein kleines Bild des Bischofs Otto von Bamberg († 1139). 79 Auf jeder Seite des Necrologs wurden in eine von drei Arkaden jeweils die Namen von Konventsmitgliedern, Angehörigen anderer Konvente sowie Laien, Konversen und Nonnen eingetragen. Unter dem Datum des 30. Juni findet sich in der Arkade für die Mitglieder des Michelsberger Konvents der Eintrag für Bischof Otto, ein 3,4 � 2,7 cm großes farbiges Brustbild des Bischofs mit einem kurzen Text sowie einer Marginalie am linken Bildrand. 80 (Abb. 1) Es ist freilich unklar und wird kontrovers diskutiert, zu welchem Zeitpunkt das Bild eingefügt wurde. Denn das Bild zeigt den Bischof mit einem Heiligenschein und heiliggesprochen wurde Otto erst im Jahr 1189. 81 Mit der Frage nach der Datierung dieses Memorialbildes befindet Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Lit. 144, fol.fol. 8gv;84v. Siehe Das Necrolog des Klosters Michelsberg in Bamberg, hg. v. Johannes Nospickel, Hannover 2004 (MGH. Libri memoriales et necrologia, N.S. 6); T. 7 zeigt eine Ausschnittsvergrößerung. 80 Siehe ebd., 244. 81 Die dem Bild selbst zugefügte Inschrift bezeichnet Otto als pius. Vgl. zur Datierung, jeweils mit weiterführender Literatur: Wollasch, Joachim, Totengedenken und Traditionsbildung im bischöflichen Eigenkloster Michelsberg zu Bamberg, in: Ebd., 3– 79
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Abb. 1: Necrolog aus dem Kloster Michelsberg in Bamberg: fol. 84v: Brustbild Bischof Ottos I. von Bamberg (1102–1139)
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man sich auch schon in der Debatte über seine Porträtähnlichkeit, denn beides wird argumentativ miteinander verknüpft: Wäre das Bild im Todesjahr des Bischofs entstanden, könnte es ein Porträt sein, denn der Miniaturist hätte Otto leibhaftig gesehen haben können. Wäre das Bild hingegen erst nach dem Tod des Bischofs entstanden, dann könne es sich nicht mehr um eine mimetische Darstellung handeln und, so die moderne Konklusion, mithin wäre dann nicht das individuum Otto gezeigt. 82 In Bezug auf seine Individualität ist jedoch ganz unerheblich, ob Otto »persönlich« konterfeit wurde, denn diese Ansicht wendet moderne Kriterien von Porträts an. Es war vielmehr dieser ganz bestimmte Bischof, der im Necrolog des Klosters Michelsberg mit einem Bild ausgezeichnet wurde. Er war kein Konventsangehöriger, gleichwohl wurde er in der für die Mönche des Klosters bestimmten Arkade eingetragen und daher zweifelsfrei in dieser Gemeinschaft kommemoriert. Hier wird ein ganz bestimmter Mensch gezeigt, der den Michelsberger Mönchen auszeichnenswert erschien. Auf den ersten Blick scheint auf dem folgenden Bild rein gar nichts von einem auch nur ansatzweise erkennbaren Bemühen um Individualität vorhanden zu sein, das man dem Bild Bischof Ottos immerhin noch konzedieren kann: Im Hortus deliciarum der Äbtissin Herrad von Hohenburg (1176–1195), entstanden im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts, vermutlich in Hohenburg selbst, befindet sich auf den letzten Seiten eine doppelseitige Illustration zur Geschichte des Klosters Hohenburg. 83 Auf der linken Seite wird die Gründung des Klosters gezeigt. (Abb. 2) Im oberen Bildteil steht Christus, flankiert von Maria und Johannes auf der einen, Petrus und der Klostergründerin Odilia auf der anderen Seite vor dem Klostergebäude. Darunter wird der eigentliche Gründungsakt dargestellt: Der Vater der 20, hier 7; Hochholzer, Elmar, Paläographische Beobachtungen, in: Ebd., 21–50, hier 37–39; Nospickel, Johannes, Das Michelsberger Necrolog, in: Ebd., 51–183, hier 98 f. 82 Vgl. Hofmeister, Adolf, Bildliche Darstellungen Ottos von Bamberg, in: Ders. (Hg.),Die Prüfeninger Vita des Bischofs Otto von Bamberg von einem Prüfeninger Mönch, Greifswald 1924, XXXXIII –LX, hier LIX. 83 Herrad of Hohenbourg, Hortus Deliciarum, 2 Bde., hg. v. Rosalie Green u. a., London/Leiden 1979, Bd. 1: Commentary, 226 f. und Bd. 2: Reconstruction: fol.fol. 3gv;322v und fol.fol. 3gv;323r, Nrr. 345 f., S. 504 f. Die Handschrift selbst verbrannte 1870 in Straßburg und konnte mit Hilfe älterer Kopien rekonstruiert werden. Zu Herrad siehe in diesem Kontext Feld, Helmut, Herrad von Hohenburg: Der Garten der feinen Genüsse, in: Ders., Frauen des Mittelalters. Zwanzig geistige Profile, Köln/ Weimar/Wien 2000, 127–133.
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hl. Odilia, Herzog Eticho († nach 683), übergibt seiner Tochter den Schlüssel. 84 Hinter dieser steht Herrad mit dem Konvent, symbolisiert durch eine Anzahl von Nonnen. Daneben, nach rechts gewandt zur folgenden Seite der Handschrift, befindet sich die Vorgängerin der Herrad, Relindis (ca. 1153–1176). Dort ist noch einmal die stehende Herrad zu sehen und mit ihr der gesamte Konvent. (Abb. 3) Die 60 in Brustbildern gezeigten Nonnen wenden sich nach links, zum Geschehen der Klostergründung. Als eine Gemeinschaft sind die Nonnen überdeutlich an ihrer Homogenität, um nicht zu sagen schematisierenden Darstellung, zu erkennen. Das hat dazu geführt, diese Darstellung als »Extremfall der Typisierung« zu bezeichnen und ihr jede Individualität abzusprechen. 85 Die Beurteilungen dieses Bildes im Hinblick auf eine etwaige Individualität klaffen jedoch denkbar weit auseinander. Im Gegensatz zu Aaron J. Gurjewitsch sah der Kunsthistoriker Bruno Reudenbach im Bild »eigenwertige Einzelpersonen«: »Auch jenseits der Porträtähnlichkeit ist aber hier von einer Individualisierung zu sprechen.« 86 Denn das entscheidende Kriterium ist in diesem Fall nicht die Gestaltung der einzelnen Frauen, sondern vielmehr die Kennzeichnung der Einzelnen durch die Hinzufügung ihres Namens, der sie einzigartig werden lässt. 87 Das Bild der jeglicher Differenzierung entbehrenden Gemeinschaft der Nonnen, die zunächst nur als Kollektiv sichtbar sind, einerseits und die individuelle Kennzeichnung durch die hinzugefügten Namen andererseits stellen zwei Pole dar, zwischen denen sich das Spektrum von Institutionalisierung und Kollektivierung einerseits und Individualität und Personalität andererseits in klösterlichen Gemeinschaften entfaltet. 88 Zudem ist dieses Bild »ein singuläres Denkmal der Liebe und Hochachtung für einen Frauenkonvent.« 89 Vgl. Hammer, Nicole, Die Klostergründungen der Etichonen im Elsass, Marburg 2003, 29–37. 85 Gurjewitsch, Das Individuum, 9. 86 Reudenbach, Individuum ohne Bildnis?, 817. 87 Vgl. Rückert, Peter, Die heilige Odilia und ihre Memoria jenseits des Elsass, in: Herbers, Klaus / Rückert, Peter, Pilgerheilige und ihre Memoria, Tübingen 2012, 11– 34, bes. 22, mit einer plausiblen Erklärung für die Tatsache, dass das erste und das letzte Bild der Schwestern ohne Namen geblieben ist, »was offensichtlich die früheren und späteren Mitglieder der Gemeinschaft […] stellvertretend mit einbeziehen sollte […]« 88 Vgl. Reudenbach, Individuum ohne Bildnis?, 816, der auf die Ambiguität hinweist: »Die Identität der Kleidung, der Haltung und der Physiognomien wird damit […] janusgesichtig: das kollektive Element tritt ebenso in Erscheinung wie die eigenwer84
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Abb. 2: Hortus deliciarum; fol. 322v: Gründung des Klosters
tigen Einzelpersonen.« Vgl. auch Feld, Helmut, Mittelalterliche Klosterfrauen im Spannungsfeld von Kommunität und religiöser Individualität, in: Melville, Gert / Schürer, Markus (Hg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 2002, 624–650, 622 f. 89 Feld, Herrad von Hohenburg, 129.
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Abb. 3: Hortus deliciarum; fol. 323r: Konvent der Nonnen
Lange galt es als ausgemacht, dass es Künstlersignaturen im Mittelalter nicht gab, oder doch allenfalls im ausgehenden Mittelalter. 90 Inzwischen ist hinlänglich bekannt, dass »Nennung und Darstellung von Künstlern […] im Mittelalter so häufig [sind], daß das Konzept 90
Vgl. Ullmann, Das Individuum, 28.
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des Namenverschweigens keinesfalls als umfassendes Epochensignet beansprucht werden kann.« 91 Als Beispiel sei hier das sogenannte Evangeliar des Valerianus angeführt, um 600 entstanden. 92 Es enthält eine Miniatur, ein Kreuz mit der Halbfigur Christi am oberen Ende. In die Mitte dieses Kreuzes, dort, wo beide Arme sich kreuzen, hat sich der Verfasser eingeschrieben: Ego Valerianus Scripsi. Dies ist eine der ersten mittelalterlichen Schreibersignaturen. 93 Bestimmten historischen Persönlichkeiten wird ihre Individualität als solche nicht bestritten, wohl aber ihren Beschreibungen. Ist in den zeitgenössischen Lebensbeschreibungen Karls des Großen, Ottos des Großen oder Friedrichs I. Barbarossa, um nur ein paar Prominente zu nennen, jenseits der Topoi etwas zu fassen, das sich als individuell charakterisieren ließe? Und zeichnen sie sich möglicherweise durch ein Bemühen um eine dem jeweiligen individuum gerecht werdende Darstellung aus? Einhard im 9. Jahrhundert oder Otto von Freising und Rahewin im 12. Jahrhundert schrieben keine Lebensbeschreibungen der Personen Karls des Großen oder Friedrichs I., die modernen Biographien etwa Konrad Adenauers oder Willy Brandts vergleichbar wären. Herbert Grundmann hat gezeigt, wie Rahewin beispielsweise seine Beschreibung Kaiser Friedrichs I. äußerst bedacht und kunstvoll kompilierte, um nicht zu sagen komponierte, zwar aus eigenem und aktuellem Wissen, wie er jedoch zugleich aus Einhards Vita Karoli oder den Epistolae des Sidonius Apollinaris und Jordanes’ Beschreibung des Hunnenkönigs Attila († 453) gleichsam Textbausteine entReudenbach, Individuum ohne Bildnis?, 808 f. Claussen, Peter Cornelius, Kathedralgotik und Anonymität 1130–1250, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 46/ 47 (1993/94), 141–160, hat darauf hingewiesen, dass die Namen von gotischen Architekten, die sich bereits als Künstler in einem neuzeitlichen Sinn verstanden, deshalb mitunter nur mangelhaft überliefert sind, weil die Namensnennung aufgrund von Eifersüchteleien verhindert wurde. Nicht Demut war der Grund für die Anonymität, sondern im Gegenteil Selbstbewusstsein; vgl. ebd. 154 ff. Vgl. auch Ders., Künstlerinschriften, in: Legner, Anton (Hg.), Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik. Kat. d. Ausst. in Köln 1985, Bd. 1, 263–276; Ders., Nachrichten von den Antipoden oder der mittelalterliche Künstler über sich selbst, in: Winner, Matthias (Hg.), Der Künstler über sich in seinem Werk, Weinheim 1992, 19–54. 92 Codex Valerianus, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 6224, fol.fol. 2gv;202v. 93 Siehe Klotz, Heinrich, Formen der Anonymität und des Individualismus in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance, in: Gesta 15 (1976), 303–312, hier 303 f.; Bredekamp, Das Mittelalter als Epoche der Individualität, 234 f. 91
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nahm, um damit »seinen« Kaiser doch adäquat zu beschreiben. 94 Das geschah nicht aus Einfallslosigkeit oder gar Faulheit, sondern um zu zeigen, dass der Kaiser, und zwar dieser spezielle Kaiser Friedrich I. Barbarossa, in besonderem Maße ein ausgezeichneter Herrscher war, weil er verschiedene Vorzüge einzelner Vorgänger in sich vereinigte. Im Vergleich und durch die Verwendung seiner Zitate sowie Anlehnungen an frühmittelalterliche und antike Vorgänger und Vorbilder einerseits und bestimmte Divergenzen andererseits dokumentierte Rahewin die individuelle Größe Friedrichs I. Mittelalterliche Bilder, seien sie ikonisch oder schriftlich, müssen in anderer Art und Weise als der an der modernen Wahrnehmung geschulten auf ihre Individualität hin befragt und dürfen nicht vorschnell als »Typen« oder »Topoi« abgetan werden. Es versteht sich von selbst, dass ein solches Vorgehen nicht nur für die »Großen« der Geschichte geboten ist. Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben stand nur einem verschwindend kleinen Prozentsatz der Menschen zu Gebote; viele der erhaltenen Überlieferungen bieten jedoch, recht betrachtet, ein zunächst nicht vermutetes Ausmaß an individuellem Denken und Handeln. Ganz allgemein soll auf die Casus Sancti Galli des Ekkehard von St. Gallen (um 1050) hingewiesen werden, die einen reichhaltigen Fundus an höchst lebendigen, anekdotischen Schilderungen beinhalten, in deren Mittelpunkt zumeist Menschen standen. 95 Einen für die Historiker besonders glücklichen Fall stellt Suger (um 1081–1151), Abt von St. Denis, dar, 96 der gleichsam in zwei Richtungen aufschlussreich ist. Suger entstammte dem Kleinadel und war als Oblate in das berühmte Kloster gekommen, das seit alters her die Grablege der französischen Könige war. 97 Im Jahr 1122 wurde Suger Grundmann, Herbert, Der Cappenberger Barbarossakopf und die Anfänge des Stiftes Cappenberg, Köln/Graz 1959, 50–60 und 104–108. 95 Ekkehardi IV. Casus Sancti Galli, hg. v. Hans F. Haefele (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 10), Darmstadt 1980. 96 Zu Suger siehe Annas, Gabriele, Abt Suger von Saint-Denis (um 1081–1151). Eine historisch-biographische Skizze, in: Speer, Andreas / Binding, Günther (Hg.), Abt Suger von Saint-Denis. Ausgewählte Schriften, Darmstadt 2000, 67–111; mit einem im Hinblick auf die Möglichkeit der Erfassung von Individualität eher skeptischen Urteil, vgl. ebd. 111. 97 Vgl. Krüger, Karl Heinrich, Königsgrabkirchen der Franken, Angelsachsen und Langobarden bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts. Ein historischer Katalog, München 1971, 171–189. 94
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Abt von St. Denis. Er wurde nicht nur zu einem wichtigen Ratgeber der französischen Könige Ludwig VI. und dessen Sohn Ludwig VII., sondern übernahm auch zeitweise Regierungsaufgaben, so etwa, als Ludwig VII. mit seiner Gemahlin Eleonore am zweiten Kreuzzug (1147–1149) teilnahm. Suger war jedoch nicht allein Kirchenmann und Politiker, er begann im Jahr 1137 den legendären Neubau der Klosterkirche, auch bezeichnet als ›Gründungsbau der Gotik‹. 98 Sein Selbstverständnis, das er in schriftlicher wie auch künstlerischer Form zum Ausdruck bringt, ist ein durchaus eigenständiges und höchst selbstbewusstes. Und auch für Suger bzw. seine Schriften gilt das soeben über mittelalterliche Biographen Gesagte: Die Verwendung von Topoi besagt nicht unbedingt etwas über Konformität, vielmehr ist es die Originalität des Umgangs mit Vorgegebenem, die Individualität zeigt. 99 Auch wenn die Quellen verhältnismäßig gut über diesen umtriebigen Abt und sein Wirken unterrichten, kann man nicht von einem in der Forschung fest etablierten Suger-Bild sprechen. Der Grund dafür liegt in unterschiedlichen Perspektiven. Im Jahr 1946 veröffentlichte der 1933 vor den Nationalsozialisten geflohene und in die Vereinigten Staaten emigrierte Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892–1968) eine Studie über ›Abt Suger von St. Denis‹. 100 Gewissermaßen auf dem Weg über diese Publikation vergewisserte sich der deutsch-jüdische Kunsthistoriker bestimmter (alteuropäischer) Traditionen und Werte. »Vor dem Hintergrund der erlebten Gefährdung dieser Tradition […] gerät sein Suger-Porträt zu einem dem abendländischen Humanismus verpflichteten Gegenentwurf zur BarVgl. aus der umfangreichen Literatur: Markschies, Christoph, Gibt es eine ›Theologie der gotischen Kathedrale‹ ? Nochmals: Suger von Saint-Denis und Sankt Dionys vom Areopag, Heidelberg 1995; Büchsel, Martin, Licht und Metaphysik in der Gotik. Noch einmal zu Suger von Saint-Denis, in: Badstübner, Ernst u. a. (Hg.), Licht und Farbe in der mittelalterlichen Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums, Berlin 2005, 24–37. 99 Vgl. Feld, Mittelalterliche Klosterfrauen, 630. 100 Abbot Suger on the Abbey Church of St-Denis and Its Art Treasures, edited, translated and annotated by Erwin Panofsky, [Princeton 1946], hg. v. Gerda Panofsky-Soergel, Princeton (N.J.) 21979. Abt Suger von St-Denis, in: Panofsky, E., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, 125–166. Vgl. Kidson, P., Panofsky, Suger and St. Denis, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 50, 1987, 1–17; Reudenbach, B., Panofsky und Suger von St. Denis, in: Bruno Reudenbach (Hg.), Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992, Hamburg 1994, 109–122. Vgl. auch Feld, Mittelalterliche Klosterfrauen, 626–631. 98
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barei des Nationalsozialismus.« 101 So ist Erwin Panofskys Studie über Suger heute ebenso historisch zu betrachten wie ihr Protagonist. Sie beschreibt nicht nur ein mittelalterliches individuum, sondern gibt interlinear auch Auskunft über die vom Schicksal geprägte wissenschaftliche Perspektive eines von den Nationalsozialisten vertriebenen Kunsthistorikers. Wissenschaftliche Forschung ist stets auch individuell bedingt. Unterschiedliche Formen sozialer Gruppen, in denen sich Menschen auf der Basis einer gewissen Freiwilligkeit zusammenfanden, müssen ebenso als potentiell individualisierend angesehen werden. Das können Gruppen sein, die sich vorübergehend, das heißt für einen bestimmten Zeitraum und Zweck konstituieren, wie Pilgerreisende. Es können Randgruppen wie Spielleute, Prostituierte, Bader sein. Und es können auch die verschiedenen Formen der Schwureinungen sein: »Gruppen, in denen das Individuum die ›Seinen‹ nicht vorfindet, sondern sich die ›Seinen‹ schafft. 102 An der Haltung gegenüber Reisenden, Pilgernden, »Fremden« beispielsweise lassen sich, wie Hans-Werner Goetz gezeigt hat, unterschiedliche Einstellungen erkennen. 103 Sie wurden differenziert wahrgenommen, das Spektrum reichte von pauschal »anders« über befremdlich, unvertraut, auswärtig, schlicht »nicht zugehörig« bis zu barbarisch und heidnisch. Die aktuelle Erforschung des Pilgerwesens fördert auch hier Verhaltensweisen zutage, die nicht in toto als konform oder uniform charakterisiert werden dürfen. Quellen zeugen von einem »zunehmenden Gewicht des Individualismus seit dem Hochmittelalter«, 104 was daran erkennbar ist, dass einzelne Namen genannt werden oder dass verschiedene Formen der Frömmigkeit zur Wahl standen und nicht oktroyiert wurden. Norbert Ohler spricht von »gesellschaftlich anerkannte[n] Bekundungen der Eigen-
101 Speer, Andreas, Abt Sugers Schriften zur fränkischen Königsabtei Saint-Denis, in: Speer/Binding (Hg.), Abt Suger von Saint-Denis, 13–66, hier 15. 102 Oexle, Konsens, 15. 103 Goetz, Hans-Werner, »Fremdheit« im frühen Mittelalter, in: Aufgebauer, Peter / Heuvel, Christine (Hg.), Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken, Hannover 2006, 245–265. Auf die Bedeutung des Phänomens »Fremdheit« für das Verständnis des Individualismus hatte bereits F. Tönnies verwiesen; vgl. Tönnies, Geist der Neuzeit, 31–35. 104 Ohler, Norbert, Pilgerstab und Jakobsmuschel. Wallfahren in Mittelalter und Neuzeit, Düsseldorf 2000, 242.
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willigkeit, Ausdruck eines in die Neuzeit weisenden Individualismus.« 105 Mittelalterliche Individualität lässt sich weiterhin fassen in anderen Erscheinungsformen. Vor einigen Jahren hat sich Jacques Le Goff mit dem kulturellen und sozialen Phänomen des Lachens beschäftigt, das auch Franz Neiske in das Kapitel über die ›Einstellung zum Ich‹ seiner Publikation in der Reihe ›Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte‹ aufgenommen hat. 106 Das Lachen, und hier ist eher eine Theorie des Lachens gemeint als das alltägliche Lachen als anthropologisch konstantes Verhalten, stellte mittelalterliche Theologen vor ein Dilemma: Es ist einerseits diese genuin menschliche Eigenschaft, die sich durch Spontaneität auszeichnet und kaum unterbunden werden kann. Andererseits wurde Christen gepredigt, dass sich in der Bibel keine Stelle finde, an der Christus gelacht habe, woraus abgeleitet wurde, dass diese Gefühlsregung nicht gutzuheißen sei. 107 Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch, dass es nicht um das Lachen als solches, sondern vielmehr um den drohenden Verlust von Selbstkontrolle ging. Wenn die Regula sancti Benedicti im 4. Kapitel dazu anhält »Eitle Worte oder solche, die zum Lachen reizen, nicht sprechen. Vieles und lautes Lachen nicht lieben«, dann geht es ihr hier um Demut und die rechte Form eines religiös-asketischen 105 Ebd., 243. C. Morris hat am Beispiel früher mittelalterlicher Biographien die Hypothese aufgestellt, dass sich solche Menschen, »who decided to make a break«, aufgrund ihrer Außenseiterposition eher als »individuals« wahrnahmen; vgl. Morris, The Discovery of the individual, 32. Zur individualisierenden Potenz von Außenseitertum vgl. beispielsweise Melville, Gert, Der Mönch als Rebell gegen gesatzte Ordnung und religiöse Tugend. Beobachtungen zu Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), De ordine vitae. Zu Normvorstellung, Organisationsformen und Schriftgebrauch im mittelalterlichen Ordenswesen, Münster 1996, 153–186. Und vgl. Danzer, Gerhard, Henrik Ibsen oder die Revolte des Individuums, in: Ders. (Hg.), Dichtung ist ein Akt der Revolte. Literaturpsychologische Essays über Heine, Ibsen, Shaw, Brecht und Camus, Würzburg 1996, 59–112, hier 61: »Die Position des Außenseiters […], die auch mit den Begriffen der ›Personalität‹ oder ›Individualität‹ umschrieben werden kann, stellt beinahe eine conditio sine qua non für kulturelle Produktivität und Innovationsfähigkeit dar.« 106 Le Goff, Jacques, Das Lachen im Mittelalter, [Paris 1999] Stuttgart 32008; Neiske, Franz, Europa im frühen Mittelalter 500–1050. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2007, 82 ff. Vgl. auch Schmitz, Gerhard, Ein Narr, der da lacht … Überlegungen zu einer mittelalterlichen Verhaltensnorm, in: Vogel, Thomas (Hg.), Vom Lachen. Einem Phänomen auf der Spur, Tübingen 1992, 129–153. 107 Vgl. jetzt Westerkamp, Dirk, Ikonische Prägnanz, Paderborn 2015, 119–146, bes. 120–123.
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Lebens. Man suchte und fand andere, eigene Wege des Umgangs mit dem Lachen. Von Ludwig IX. von Frankreich (1214–1270) ist überliefert, dass er freitags auf das Lachen verzichtete, es sonst aber durchaus für seine Pflicht erachtete, die Menschen seiner Umgebung froh zu stimmen. 108 Eine Untersuchung des Lachens, des Humors, des Spaßes würde zutage fördern, dass es trotz aller Topoi und trotz allen ritualisierten Verhaltens auch hier Unterschiede gibt, die man nicht anders denn als individuell beschreiben kann. So kommt ein doch sehr eigener Humor Kaiser Heinrichs II. († 1024) zum Ausdruck, der einen nackten Mann mit Honig bestreichen ließ, damit ein Tanzbär ihn abschlecken konnte. Der Herrscher, immerhin im Jahr 1046 heiliggesprochen, ergötzte sich an dem Schauspiel, indes der arme Mann voller Angst auf den Augenblick wartete, in dem der Honig allein dem Bären nicht mehr reichte. 109
5.
Resümee
Anhand der genannten Beispiele konnte gezeigt werden, dass es im Mittelalter durchaus Möglichkeiten und Kompetenzen gegeben hat, Individualität zum Ausdruck zu bringen – was im Grunde auch nicht verwunderlich ist. Es war oder ist vielmehr die von der Forschung eingenommene Perspektive, die den Blick auf mittelalterliche Ausdrucksformen individuellen Denkens und Handelns verstellte. Die Beschäftigung mit dem individuum im Mittelalter verlangt im Wesentlichen eine kritische epistemologische Hinterfragung moderner Deutungsmuster. Die Suche nach Individuen oder die Verschiebung epochaler Grenzen sind sekundäre Erfordernisse. Die eingangs konstatierte Wahrnehmungs- und Bedeutungsverschiebung des Satzes individuum ineffabile est von der Unsagbarkeit zur Nicht-Existenz führten unter anderem zu der Ansicht, dass der mittelalterliche Mensch sich nicht als Individuum erkennen könne. Es besteht jedoch ein gravierender Unterschied zwischen einer philosophisch-philologischen Problemstellung (individuum ineffabile
108 Vgl. mit Quellenangabe: Le Goff, Jacques, Ludwig der Heilige, [Paris 1996] Stuttgart 2000, 670. Vgl. auch ebd. 440–460, mit kritischen Überlegungen zum Individualismus im Mittelalter. 109 Vita Popponis abbatis Stabulensis auctore Everhelmo, ed. v. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 11, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1854, 291–316, hier 301.
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est) und der Proklamation seines Inhalts in Bezug auf vergangene Zeiten. Ebenso wenig ist eine kausale Ableitung im Sinne von ›weil ein Individuum nicht bestimmbar ist, kann es auch kein solches oder ein individuelles Bewusstsein gegeben haben‹ zulässig. Diese Metamorphose von der Unmöglichkeit, etwas zu verbalisieren, zur NichtExistenz von etwas, von dem man jedoch einen Begriff hat, vollzog sich zu einem konkreten, benennbaren Zeitpunkt: im 18. Jahrhundert, der Koselleck’schen »Sattelzeit« (1750–1800), in der bestimmte Begriffe ein Janusgesicht erhielten, rückwärtsgewandt bedurften sie der Erläuterung, vorwärtsgewandt nicht. 110 Die Auswirkungen von Rationalismus und Aufklärung auf das Verständnis von Individualität können beispielsweise unter Hinweis auf das cartesianische cogito ergo sum und die Säkularisierung des geschichtlichen Denkens hier nur angedeutet werden. 111 Radikales Denken und die so vollzogene »Selbstrealisation« 112 in der Welt seit dem 19. Jahrhundert führten fortan zu einer Auseinandersetzung mit Individualität, die sich mehr mit den Anforderungen an das individuum beschäftigte als mit seiner Definition. In außerordentlicher Prägnanz brachte Henrik Ibsen (1828–1906) die neue Sichtweise auf den Punkt: »Wen Gott vernichten will, den macht er / Zum Individuum, dann lacht er«. 113 Das bedeutete, der Anspruch, ein individuum zu sein, war eine existenzielle Herausforderung. Zu110 Vgl. Koselleck, Einleitung, XIII–XXVII, hier XV: »Begrifflichkeit und Begreifbarkeit fallen seitdem für uns zusammen.« 111 Sie sind gleichwohl von eminenter Bedeutung. Der Bedeutungswandel resp. die Sinnverschiebung der Begriffe seit dieser Zeit verlieh ihnen die Historizität, die ihre Verwendung in der Folge häufig zu einem terminologischen Drahtseilakt werden ließ. 112 Danzer, Henrik Ibsen, 80. 113 So zitiert nach Hartung, Wolfgang, Die Spielleute im Mittelalter. Gaukler, Dichter, Musikanten, Düsseldorf/Zürich 2003, 16. In der Übersetzung von Christian Morgenstern klingt das etwas weniger drastisch: »Wem Gott mißgönnt vom Freudenquell, / Den schafft er individuell.« (Ibsen, Henrik, Brand. Peer Gynt, übers. v. Christian Morgenstern, [Essen 1987], 161); ebenso: Ibsen, Henrik, Brand, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. v. Julius Elias / Paul Schlenther, Berlin 1921, 245–419, hier 382. Vgl. die erhellenden Bemerkungen von Danzer, Henrik Ibsen, 61 ff. und 80–101. Vgl. auch, aus psychologischer Sicht: Sonntag, »Das Verborgene des Herzens«, 19: »Das kuriose Motto, das in ›wachsender Individualität‹ eine Verbesserung des Menschen erkennt, macht aus der Individualitätskategorie ein Werturteil, das eine bestimmte Individualitätsform glorifiziert.«; und ebd., 20: »Die Untersuchung mittelalterlicher Individualitätsformen kann nicht darin bestehen nachzuschauen, wieviel vom Heutigen damals schon realisiert war […], sondern hat nach den damaligen Bedingungen der ›Produktion‹ von Individualität zu fragen.«
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gleich und parallel dazu wurde das individuum ineffabile zu einem (im Mittelalter) nicht existenten individuum. Denn die vordergründig logische Konsequenz aus dieser Neukonstituierung von Individualität unter postaufklärerischen Bedingungen war doch die Negierung für das Mittelalter. Seither schwingt diese Ambivalenz (nicht beschreibbar – nicht existent) mit, wenn der Begriff Individualismus in Bezug auf das Mittelalter verwendet wird. Jacob Burckhardt (be-)nutzte die Renaissance, um seiner Gegenwart in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel einer bestimmten Vergangenheit, der Renaissance, ein Aufbruchsverhalten vorzuführen. Der »Schaden«, den das Mittelalter nahm, das nur als Kontrastfolie diente, war also sozusagen ein Kollateralschaden. Unglücklicherweise prägte sich die eingängige Formel vom »Schleier … gewoben aus Glaube, Kinderbefangenheit und Wahn«, durch den sich der Mensch nur »in irgendeiner Form des Allgemeinen« wahrnahm, ein. Historiker und Kunsthistoriker sind nur zu vertraut mit den Worten Jacob Burckhardts und haben den nicht nur von ihm konstruierten Gegensatz zwischen Mittelalter und Renaissance, was das individuelle Bewusstsein betrifft, zunächst einmal verinnerlicht. Es hat freilich einen weiteren Grund, dass die Diskussion um das individuum seither offen geblieben ist. Bestimmte historische Begriffe und Phänomene scheinen sich einer wissenschaftlich unvoreingenommenen, um nicht zu sagen objektiven Beschäftigung mehr zu entziehen als andere. Das liegt an der Geschichte dieser Begriffe selbst. Ihre historische Gewordenheit lädt diese Begriffe mit einem Bedeutungsspektrum auf, das bei jeder Verwendung berücksichtigt werden muss. Ein unreflektierter Gebrauch schafft in wissenschaftlicher Hinsicht keine Klarheit; die komplexe Struktur miteinander verwobener Bedeutungen führt dann allenfalls zu größerer Konfusion. Das konnte am Beispiel des Begriffs individuum mit seinen aus der Antike überkommenen und zugleich aus der Moderne projizierten Bedeutungsinhalten gezeigt werden. 114 Individuen und Individualität gab es zu jeder Zeit, das habe ich hier versucht zu zeigen; was sich ändert, sind die Problemstellungen und Perspektiven der Wissenschaftler. Jede Zeit und – nota bene – 114 In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, 8 Bde., Stuttgart 1979–1997, findet sich kein eigener Artikel »Individuum«.
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jede Disziplin erschafft sich »ihr« individuum. Dieses zu erkennen, sich bewusst zu machen und produktiv aufzugreifen, würde bedeuten, die Problematik des Individualismus-Begriffs fruchtbar werden zu lassen, historisch wie transdisziplinär; nicht exklusiv also, sondern ergänzend und integrativ. Die wissenschaftshistorisch bedingte Veränderung der Fragestellungen, das heißt die selbst vom historischen Wandel betroffene Wissenschaft, fördert stets neue, andere Aspekte zutage und nimmt von den früheren abweichende Pointierungen vor. So gesehen wird auch das Individuum stets neu konstituiert. Bleibt es also dabei: individuum ineffabile est? Philosophisch und psychologisch betrachtet entzieht sich das individuum womöglich einer eindeutigen Determination. Aus dezidiert historischer Perspektive wäre die Frage jedoch zu verneinen. Individuen in der Geschichte sind mit wissenschaftlichem Instrumentarium benennbar, bestimmbar, sie sind konkret. Der französische Historiker Marc Bloch hat das in die unnachahmlichen Worte gefasst: »[…] hinter den trockensten Büchern und hinter scheinbar total verselbständigten Institutionen sucht die Geschichte stets die Menschen zu erfassen. Wem das nicht gelingt, ist bestenfalls ein Handlanger der Wissenschaft. Der gute Historiker gleicht dem Menschenfresser der Legende. Wo er menschliches Fleisch wittert, weiß er seine Beute nicht weit.« 115
115 Bloch, Marc, Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, [Paris 1949] Stuttgart 1974, 44 f.
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VI. Ordensspiritualität
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Die Formung zur Identität Das Zeugnis der Benediktusregel Michaela Puzicha OSB
Die Benediktusregel ist gekennzeichnet als Anleitung für ein Leben als Gemeinschaft in der Weiterführung des Ideals der Jerusalemer Urgemeinde und der koinobitischen Tradition des altkirchlichen Mönchtums. Als antiker Gebrauchstext ist sie alltagsorientiert, basiert jedoch ausdrücklich auf den anthropologischen Einschätzungen der patristischen Zeit und ihrer bibelgestützten Glaubensüberlieferung. Im Zusammenhang des vorgegebenen Themas kann das Anliegen des Verfassers dieser Mönchsregel als Identitätsbildung gesehen werden, als ein Wachstumsprozess, als augmentatio 1, die eine größtmögliche Annäherung des Mönchs an die christliche und monastische Identität bedeutet und sich im Kontext der Benediktusregel aus der Taufe und aus der Lebensweise als Mönch ergibt. Benedikt verbindet sie mit der Entwicklung der persönlichen Identität seiner Brüder. Eine genuine Zusammenfassung dieser existentiellen Perspektive formuliert Athanasius von Alexandrien, der das eschatologische Ziel des Mönchsvaters Antonius beschreibt: »Wie wenn er täglich die Askese aufs neue begänne, mühte er sich immer mehr um seine Vollendung, indem er beständig die Worte des Apostels Paulus wiederholte: ›Vergessend das, was da zurück liegt, strebend nach dem, was vorwärts liegt‹ (Phil 3,313); er gedachte auch des Ausspruches des Propheten Elias, der sagt: ›Es lebt der Herr, vor dem ich heute stehe‹. Denn Antonius beachtete, dass Elias, da er von ›heute‹ sprach, die abgelaufene Zeit nicht maß. Wie wenn er immer von neuem den An-
Vgl. Regula Benedicti 2,32. Textstellen aus der Regula Benedicti (RB) werden ausschließlich nach der üblichen Kapitel- und Verszählung angegeben; dabei ist die Edition von R. Hanslik (CSEL 75) zugrundegelegt: Benedicti Regula, rec. R. HANSLIK [CSEL 75], Wien 21977. Für die deutsche Übersetzung wurde verwendet: Die Benediktusregel. Hrsg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz. Neu überarb. u. gestalt. lat./dt. Ausg., Beuron 52011. – Zu augmentatio vgl. auch S. 3 f.
1
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fang machte, bemühte er sich, den aus sich zu machen, als der er vor Gott erscheinen sollte, reinen Herzens und bereit, seinem Willen zu gehorchen und keinem anderen.« 2
1.
Einleitung: Der Begriff der Bildung
Der Begriff »Bildung« findet sich explizit nicht in der Benediktusregel, die Tatsache stellt jedoch eine der Grundkonstanten der spätantiken Mönchsregel dar. Die patristische eruditio 3, in deren Kontext die Benediktusregel zu lesen ist, versteht Bildung nicht nur im Sinn intellektuellen Wissens, sondern als umfassende Formung, modern: formation, und als Hinführung des Mönchs zu dieser Bildung im ganzheitlichen Sinn. Es geht um das Wissen um die eigene Person, um die Lebenspraxis, die als Ziel die Identität des Mönchs mit den biblischen und monastischen Idealen hat. Ausdrücklich spricht Benedikt von einer solchen Formung durch das gute Beispiel: »… ut eius exemplo alii erudiantur« (RB 61,9). Dieses umfassende Verständnis bietet schon der 1. Clemensbrief, wenn er von der »Erziehung in Christus« im Kontext christlicher Lebensordnung spricht, die sich als ganzheitlicher bios christianikós bewähren muss: »Sie sollen lernen, was demütiger Sinn bei Gott vermag, wie mächtig reine Liebe bei Gott ist, wie Gottesfurcht gut und groß ist und wie sie alle rettet, die in ihr ein heiliges Leben führen in reiner Gesinnung.« 4 Für die Benediktusregel ist die Bildung als Formung ein zentraler Wert. Sie möchte die Hinwendung des Mönchs zu Christus ermöglichen, so dass er zur Höhe der Vollendung gelangt, »ad celsitudinem perfectionis« und »ad virtutum culmina«. 5 Auf dieser höchsten Stufe des Bildungsprozesses, die nach Benedikt nicht nur wenigen vorbehalten ist, gewinnt der Mönch die Ganzheitlichkeit seiner Existenz.
Athanasius v. Alexandrien, Vita Antonii 7, 11–12. Mayer, Cornelius Petrus, Art. eruditio, in: Augustinus-Lexikon, Band 2, 1098– 1114; P. Blomenkamp, Paul, Art. Erziehung, in: RAC 6, 502–559. 4 Vgl. 1. Clemensbrief 21,8. 5 RB 73,2.9. 2 3
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2.
Die Identität des Einzelnen
Die Wahrnehmung und Betonung der Identität des Einzelnen ist für Benedikt selbstverständlich und lässt sich durch seine genuine Wortwahl klar erkennen. Ein starker Ausdruck solcher Identität ist die Selbstbezeichnung bzw. die Selbstaussage des Mönchs als Antwort auf den Anruf Christi mit »Ich – Ego« 6. Eine solche Rede in der ersten Person ist die klare Ansage der eigenen Identität und bedeutet Entscheidung und Zustimmung als Ausdruck der persönlichen Freiheit. Eine singuläre Formulierung in RB 2,31–32 7 macht auf diese Einschätzung aufmerksam, die von den mores, der qualitas und intelligentia uniuscuiusque spricht, von dem Lebensstil, dem Sosein und der Einsichtskraft eines jeden Einzelnen. Als eine der prägnantesten Aussagen der Regel spricht der Text die Unverwechselbarkeit, die Individualität eines jeden Mönchs an. Damit ist wertfrei ausgesagt, dass jeder der Brüder seine Lebensweise 8 mitbringt, die durch Herkunft und Erziehung, Lebensführung und charakterliche Prägung seine Persönlichkeit ausmacht. Diese Identität entfaltet Benedikt mit der ungewöhnlichen Wortwahl von qualitas und intelligentia. Die qualitas ist kein Begriff des Vergleichens, sondern bestimmt die Unverwechselbarkeit des Bruders, das Sosein des Mönchs, das ihm allein zukommt. Die intelligentia meint die Einsichts- und Lernfähigkeit ebenso wie die Vorstellungskraft und den unterschiedlichen Umgang mit Herausforderungen und Anforderungen. Die Begabungen sind individuell wie auch die Qualifikationen. Die Eignungen für Ämter und Aufgaben, für Arbeiten und Aufträge kommen dem je Einzelnen zu. Mit der Hinzufügung von uniuscuiusque unterstreicht Benedikt noch einmal sein Anliegen, die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit jedes Einzelnen zu sichern. Die klare Unterschiedlichkeit der Mönche führt zu einer verstärkten Wahrnehmung der Individualität. Diese erfährt eine Wert-
RB Prol. 16. RB 2,31–32 »[…] multorum servire moribus […] secundum uniuscuiusque qualitatem vel intellegentiam.« 8 In diesem Sinn verwendet ihn Augustinus in seinem Praeceptum 3,4, wenn er von Brüdern spricht, die aus einer bestimmten Gesellschaftsschicht stammen: »… eis, qui venerunt ex moribus delicatioribus ad monasterium – Einige waren vor ihrem Klostereintritt einen luxuriösen Lebensstil gewohnt.« 6 7
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schätzung vor allem im Alltag des gemeinsamen Lebens durch angemessene Berücksichtigung und individuelle Rücksichtnahme. Die Mönchsregel Benedikts zeichnet sich durch das Wissen und die Einbeziehung von praktischen Fertigkeiten ebenso wie von grundlegenden menschlichen, sozialen und spirituellen Eignungen aus. Dieser Blick ist von besonderer Bedeutung, da solche Kompetenzen immer auch das Selbstbild und das Selbstverständnis des Menschen mitbestimmen. Er erfährt seine Identität auch in der Anerkennung und Inanspruchnahme seiner individuellen Begabungen, Kenntnisse und Fähigkeiten. Benedikt nimmt sie auf ganz unterschiedlichen Ebenen und in vielfältigen Bereichen in Anspruch und integriert die Kompetenzen seiner Mönche, ihr Wissen und Können sowie ihre überfachlichen Fähigkeiten.
3.
Monastische Identität als existentieller Prozess
Identität ist für Benedikt kein »Zustand«, vielmehr ist sie immer im Modus des Werdens. Es bleibt die Differenz zwischen dem, wie der Mensch ist, und dem, wohin er sich entwickeln soll und kann. So ist für Benedikt die menschliche, christliche und monastische Identitätsbildung das eigentliche Zentrum der Existenz. Damit versteht sich, dass die Mönchsregel auch das monastische Leben nie als selbstverständlich oder als erreicht und vollendet sieht, sondern stets als Prozess und Weg. Es geht um die lebenslange Angleichung der persönlichen Identität bzw. Individualität an die Ideale des monastischen Lebens. Diesen Prozess benennt Benedikt ausdrücklich und als Erster in der Tradition des Mönchtums als conversatio morum suorum, als Versprechen, das in der Profess gegeben wird. 9 Im Schlussabschnitt des Prologs seiner Regel, der als Einschub in die literarische Vorlage von Benedikt stammt, wird das ausdrücklich formuliert: »Processu conversations et fidei – im Prozess des Mönchslebens und des Glaubens läuft man mit weit gewordenem Herzen […] den Weg der Gebote Gottes«. 10 Benedikt erweitert das zugrundeliegende Psalmenzitat von Ps 119,32 durch das dynamische Element des Prozesses, der nicht als abgeschlossen beschrieben wird
9 10
Vgl. RB 58,17. RB Prol. 49.
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in dem Wissen, dass der Mönch immer hinter der vollkommenen Gestalt des Mönchseins und des Glaubens zurückbleibt. 11 Für diesen Prozess ermutigt Benedikt mit zwei Hinweisen, die er für die Gestaltung der Quadragesima ausspricht, die aber grundsätzlich das gesamte Leben betreffen. Mit »hinzufügen« und »entziehen« – augere und subtrahere 12 hält er die Möglichkeiten fest, die dem Einzelnen eine Annäherung an seine Identität ermöglichen, gleichsam als Prozess der askesis. Der Mönch wird aufgefordert, in der Quadragesima dem täglichen Pensum etwas hinzuzufügen oder durch Verzicht etwas wegzunehmen. Es scheint um ein »Mehr« und ein »Weniger« zu gehen. Bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass das »Mehr« und das »Weniger« sich nicht über Menge und Maß definieren. Das »Mehr« bezieht sich auf die Qualität der koinobitischen Lebensführung auf der Basis der Spiritualität, nicht auf die Quantität asketischer Übungen. Die Nennungen Benedikts sind keine Vorschriften, sie weisen auf die klassischen Modelle altkirchlicher Enthaltsamkeit, die sich bewährt haben. Mit augere wählt er ein Wort, das Wachsen und Werden bedeutet. Damit ist dem Mönch die Frage gestellt: Was muss ich in meinem Leben entfalten, was soll, was darf wachsen, was sich mehren und erstarken. Was gibt mir Kraft, was lässt mich gedeihen? Ebenso zielt subtrahere auf die Identitätsbildung. Es meint nicht einseitig den Verzicht, sondern stellt wiederum eine Frage: Was muss weniger werden? Was soll ich lassen, loslassen? Wo kann ich mich entziehen, mich zurückziehen? Was kann ich entbehren, was ist überflüssig? Wo muss ich lernen, Nein zu sagen? Als pastorales Ziel gibt Benedikt in seinem großen Einschub in das zweite Kapitel die augmentatio an: »[…] kann er (der Abt resp. der Hausvater Christus) sich am Wachsen einer guten Herde freuen – in augmentatione boni gregis gaudeat« 13. Als Hapax umschreibt das Reiber, Karin Eleonore, Organisationen im Spiegel der Regula Benedicti. Eine hermeneutische Interpretation der benediktinischen Regel im Kontext der Lernenden Organisation, Münster 2005, 186 f.: »[Die] Charakterisierung des Begriffs als ›Entwicklung eines subjektiven Potenzials zum selbständigen Handeln‹, ›Aneignung von Orientierungsmaßstäben‹ und ›Weiterentwicklung der Persönlichkeit‹ […] zielt […] auf eine Kongruenz von innerer Haltung mit der sichtbaren Handlung ab.« Ebd. 191: »Die Kompetenzerschließung insgesamt zeichnet sich als ein Weg von der Reglementierung zur Freiheit aus. Intendiert ist die engagierte und lebendige, eben auch individuelle Interpretation des Anforderungsprofils, die zunehmend mehr auf innerer Überzeugung beruht.« 12 Vgl. RB 49,5.7. 13 RB 2,32. 11
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Wort augmentatio das Wachsen, die ›Mehrung‹ der geistlichen Qualität und monastischen Glaubwürdigkeit und ist kein Begriff der Quantität, der die zunehmende Anzahl der Mönche und wachsende Größe einer Gemeinschaft betrifft. Er beinhaltet auch nicht das Maß des Ansehens des Klosters, des Prestiges oder der Aktivitäten einzelner Mönche, ist kein Vergleich mit anderen, sondern eine Mehrung an Redlichkeit und Intensität der Gottsuche. Die augmentatio verleiht dem Anliegen der Regel Nachdruck, einen Lebensraum zu schaffen, welcher der menschlichen und geistlichen Entfaltung dienlich ist, wie Benedikt mit der sehr persönlichen Formulierung ausdrückt: »[…] damit die Starken finden, wonach sie verlangen und die Schwachen nicht davonlaufen« 14. Im Hintergrund könnte Eph 4,16 stehen: »Durch ihn (Christus) wird der ganze Leib zusammengefügt und gefestigt in jedem einzelnen Gelenk. Jedes trägt mit der Kraft, die ihm zugemessen ist. So wächst der Leib – augmentum corporis facit – und wird in Liebe aufgebaut«.
4.
Identität als Versöhnung mit dem Leben
4.1. Das minus der menschlichen Natur Der Mönch ist gekennzeichnet durch seine Geschöpflichkeit. Für die Anthropologie Benedikts ist sie der Ausgangspunkt, und in Anerkennung dieser Wirklichkeit geht er davon als realer Lebenssituation aus. Ohne Werturteil ist Benedikt der Ansicht, dass die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Anspruch und Verwirklichung, zwischen Wollen und Können zum Leben auch des Mönchs gehört. Es bleibt ein existentielles Defizit, das er nicht mit Resignation betrachtet, sondern als Angewiesenheit auf den Herrn erkennt. Deutlich wird diese Position im Prolog ausgesprochen, dass der Mönch das Gute nicht aus sich selbst verwirklichen kann. 15 Noch grundsätzlicher heißt es wenige Verse weiter: »Für alles, was uns von Natur aus kaum möglich ist, sollen wir die Gnade und Hilfe des Herrn erbitten.« 16 Deutlicher als die Übersetzung spricht der lateinische Originaltext vom minus der Möglichkeiten der menschlichen 14 15 16
RB 64,19. Vgl. RB Prol. 29: ipsa in se bona non a se posse. RB Prol. 41: … quod minus habet in nos natura possibile.
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Natur. Allerdings geht es darum, die Distanz zwischen diesem minus und der Taufverpflichtung ebenso wie den monastischen Standards zu verringern.
4.2. Die Wunden – vulnera In großer Klarheit spricht Benedikt von den vulnera, den Wunden, die der Mönch mit sich trägt. 17 Es sind die Verwundungen und Verletzungen, die die eigene Lebensgeschichte belasten, die zugefügt sind, die man sich selber beigebracht hat. Für Benedikt gibt es niemand, der von diesen Wunden frei ist, was durch die Formulierung der je eigenen Wunden, der sua vulnera deutlich wird. Es gibt Zeiten der Gottesferne, die eigenen Verschuldungen, die Grenzen und Schwächen, seine Fehler und seine Schuld. Benedikt nimmt dies nicht einfach hin, sondern weist einen Weg der Versöhnung als Verringerung dieser Differenz. Die Wunden gilt es zu versorgen, vielleicht zu heilen, in jedem Fall zu erkennen. Das ist eines der großen existentiellen und pastoralen Anliegen der Benediktusregel, was ihr Verfasser in die prägnante Formulierung fasst: »[…] damit sie geheilt werden – ut sanentur« 18. Die Aussöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte, mit den eigenen Grenzen und Schwächen bringt er mit einer therapeutischen Terminologie vor, indem er von curare, salvare und sanare spricht. 19
4.3. Die Besserung – emendatio Es geht bei diesem therapeutischen Vokabular nicht um Psychotherapie, sondern um den Weg der Besserung, der emendatio bzw. emendare, ein Wort, das programmatische Bedeutung hat und 22-mal in der Benediktusregel vorkommt. 20 Der benediktinische Orientierungsrahmen solcher Besserung ist die ständige Annäherung des Mönchs an die Weisungen der Heiligen Schrift und durch ihre Hilfe,
RB 46,5–6. RB 30,3. 19 Vgl. RB 46,6; 41,5; 30,3. 20 emendare, mit dem Grundwort: mendum – Fehler; e-mendare (ex mendo): aus der Fehlhaltung herauskommen, d. h. selber etwas unternehmen. 17 18
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die sich in der Taufverpflichtung fokussieren, die Benedikt mit dem 4. Kapitel vorgibt. Es geht nicht um die Psyche des Mönchs in der modernen Bedeutung, sondern um seine anima, ein Begriff, der im Sprachgebrauch Benedikts bewusst und speziell theologisch verwendet wird, allerdings nicht die Jung’sche Vorstellung von anima meint, sondern tatsächlich die ›Seele‹ des Mönchs im Hinblick auf sein endgültiges ›Seelen‹-Heil. Besserung ist kein passives Verhalten, also gebessert werden, sondern wird von Benedikt immer verstanden als ›sich bessern‹, im Sinn der dauernden Aktivierung der Selbstverantwortung. Dabei geht es um die Einsicht in die eigene Wirklichkeit und um die Fähigkeit, darauf zu reagieren. Der Prolog der Benediktusregel formuliert die emendatio als einen lebenslangen Weg der Annäherung an die monastische, christliche und menschliche Identität. Ziel des monastischen Lebens ist: »Deshalb sind uns die Tage des Lebens als Handlungsspielraum gewährt, damit wir uns von unseren Fehlern bessern.« 21
4.4. Die bleibende Gebrechlichkeit – fragilitas Dazu muss der Mönch aufmerksam und wachsam sein mit dem Blick auf seine bleibende Gefährdung. Mit fragilitas 22 wählt Benedikt ein Wort, das die grundsätzliche und nicht aufzuhebende Gebrechlichkeit der menschlichen Natur markiert und für Schwäche, Grenzen, für eigene Fallen, für Versuchbarkeit und Verführbarkeit steht. Diese fragilitas ist ebenso bleibend wie das minus der menschlichen Natur. Deshalb fordert Benedikt refrainartig die Achtsamkeit. Er wählt mit custodia/custodire ein Wort, das für ihn Realitätsbezogenheit und Wahrheitstreue gewährleistet und vor Selbsttäuschung und Fehleinschätzung der eigenen Person bewahrt. Weisungen wie »auf sein Leben achten – über seine Seele wachen« oder »auf das eigene Tun und Lassen jederzeit achthaben« 23 machen den Mönch darauf aufmerksam, dass er sein Leben wegen der fragilitas, der bleibenden Bruchstellen, immer in seine Obhut nehmen muss, um sich nicht zu gefährden und um nicht tatsächlich zu zerbrechen.
21 22 23
RB Prol. 36. RB 64,13. Vgl. RB 49,2; 31,8; 4,48.
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5.
Geistliche Identität
5.1. Biblische Prägung Geistliche Identität kann in der Benediktusregel vor allem als biblische Identität verstanden werden: »Ist nicht jede Seite oder jedes von Gott beglaubigte Wort des Alten und Neuen Testamentes eine verlässliche Wegweisung für das menschliche Leben?« 24 Die Begegnung des Mönchs mit dem Wort der Schrift geschieht täglich und vielfältig. Die Allgegenwärtigkeit des Wortes Gottes wird überall deutlich. Nahezu alle Vollzüge des gemeinsamen Lebens und des klösterlichen Alltags sind bestimmt vom Lesen bzw. Vorlesen der Bibel. 25 Als Ort der Schriftpräsenz in der Benediktusregel ist an erster Stelle die Schriftlesung im Stundengebet zu nennen, dem die Einschätzung Benedikts mit dem Psalmvers gilt: »Heute wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht«. 26 Zudem hat die Lectio divina, die ›Göttliche‹ Lesung, einen hoch konnotierten Ort in der asketisch-monastischen Tradition. Benedikt spricht ausdrücklich davon, dass der Mönch intentus lectioni – ganz konzentriert bei der Lesung – sein muss. 27 Solche intentio bedeutet, sich voll auf das Wort einzulassen mit Wachheit und Achtsamkeit, innerer Zuwendung und Aneignung. Es geht nicht um geistliche Lektüre, sondern darum, identisch zu werden mit dem Wort Gottes. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei ein Satz, der prägnant zusammenfasst, was biblische Identität bedeutet: »[…] der Bruder spreche beständig in seinem Herzen – dicat semper in corde suo«. 28 Darauf folgt modellhaft, gleichsam als pars pro toto, das Psalmzitat Ps 18,24, das er immer erwägen soll in einem eingeübten und erprobten, allerdings langen Weg, bis der Mönch ganz »identisch« ist mit dem Schriftwort. Die Formulierung »in seinem Herzen« bedeutet weniger ein stilles, lautloses Sprechen der Schriftworte, es bringt vielmehr zum Ausdruck, dass es um den ganzen Menschen geht, der sich das Wort Gottes zu eigen macht. Das »Herz« ist im Sinn der Heiligen Schrift als Mitte der Person, als Zentrum des Wollens RB 73,3. Vgl. Puzicha, Michaela, Die Heilige Schrift in der Regel Benedikts (Weisungen der Väter 7), Beuron 2009, 73–80. 26 RB Prol. 10 mit Ps 95,7. 27 Vgl. RB 48,18. 28 RB 7,18; so auch RB 7,65: »dicens sibi in corde« 24 25
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und Fühlens, der Einsicht und Verwandlung zu verstehen. Die ganze Person ist in diesen Prozess einbezogen. Das Wort Gottes wird verinnerlicht und bewirkt von innen heraus Verwandlung. Mehr noch tritt der Mönch in einen inneren Dialog mit dem ein, der das WORT ist, mit Christus. Es geht nicht um das einfache Wissen und Bereithalten der Worte, sondern darum, gleichförmig zu werden mit dem Wort Gottes. Ziel ist die Veränderung des ganzen Menschen, der in das umgewandelt wird, was die Schrift sagt. Die Gedanken und Regungen des Mönchs werden allmählich »ersetzt« durch die Worte und Bilder der Schrift, wie Cassian es ausdrückt. 29 Dabei wird deutlich, wie sehr diese biblische Identität als lebenslange Formung des Mönchs zu verstehen ist, da seine ganze Existenz unter die »Führung durch das Evangelium – perducatum evangelii« 30 – gestellt ist.
5.2. Christusförmige Identität Das Evangelium ist jedoch nicht einfach ein Text, vielmehr ist es in der Bedeutung als Wort Gottes die ganze Heilige Schrift und im Verständnis der (Kirchen-)Väter immer zu lesen als DAS WORT im personalen Sinn des Prologs zum Johannesevangelium und auf Christus zu beziehen. 31 Damit ist eine christusförmige Identität ausgedrückt, die zur zentralen Spiritualität des altkirchlichen Mönchtums gehört: »Wer so mit der Schrift umgehen kann, ist Heiligtum des Wortes Gottes, lebt und wohnt im Wort Gottes, und Gottes Wort lebt und wohnt in ihm.« 32 Eine wichtige Basis findet diese Erfahrung bei Paulus: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.« 33 Für Benedikt ist die Gestalt Christi die Mitte und der Zielpunkt seiner monastischen Wirklichkeit. Der zentrale Bezug im Leben des Mönchs ist die Liebe Christi: »Nihil amori Christi praeponere – Nichts der Liebe Vgl. Cassian, Collationes 14,10: »Dann musst du auf jede Weise danach streben, dass du zuerst alles Sorgen und irdische Denken austreibst und du dich eifrig, ja vielmehr immerwährend der heiligen Lesung hingibst, bis die beständige Betrachtung deinen Geist durchdringt und ihn gleichsam nach sich umbildet.« 30 RB Prol. 21. 31 Joh 1,1: »Und das Wort war Gott.« 32 Frank, Karl Suso, Asketischer Evangelismus. Schriftauslegung bei Johannes Cassian, in: Schöllgen, Georg / Scholten, Clemens (Hg.), Stimuli (Festschrift f. E. Dassmann, JbAC Ergänzungsbd. 23), Münster 1996, 435–443, hier 441. 33 Gal 2,20. 29
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Christi vorziehen« 34 –, die er nicht zuerst als Liebe zu Christus, sondern als die Liebe Christi zum Menschen versteht. Die Aussage des ersten Johannesbriefs stärkt diese Sicht: »Er hat uns zuerst geliebt«. 35 Die Aussage Benedikts ist keine asketische Anweisung, sondern Ausdruck einer Beziehung, die die ganze Existenz prägt. Am Ende seiner Regel hält er abschließend fest: »Christus sollen sie überhaupt gar nichts vorziehen« 36. Der Satz darf gelesen werden als programmatische Zusammenfassung und Intensivierung und prägt dem Mönch die Ausschließlichkeit seiner persönlichen Bindung an Christus noch einmal ein. Benedikt erinnert indirekt an das christozentrische Leitmotiv des Ambrosius: »Alles ist Christus für uns – Omnia Christus est nobis« 37.
6.
Monastische Identitätsbildung
Mönch ist man nicht, man wird es. Die monastische Identität lässt sich ablesen an den Begriffen, mit denen Benedikt sie beschreibt und damit auch feste inhaltliche Positionen vorgibt.
6.1. Koinobiten Für den Mönch ergibt sich aus der gewählten Lebensform der conversatio, das heißt des bios monastikós als umfassendem Gestaltungsprinzip monastischer Existenz, die dauernde Annäherung an die Identität, die das Koinobitentum, das heißt die Form des koínos bios, des gemeinsamen Lebens, vorlegt. Diese Formung erfolgt in einem geprägten Milieu und in einem festen Koordinatensystem. Die Ausrichtung orientiert sich an der idealen Gestalt, wie die Urgemeinde in Jerusalem sie mit den Konstanten der Glaubens- und Gebetsgemeinschaft, der Gütergemeinschaft und der brüderlichen Einmütigkeit vorlegt, ebenso ihr Verständnis als Bekehrungsgemeinschaft. 38
34 35 36 37 38
RB 4,21. 1 Joh 4,19. RB 72,11: Christo omnino nihil praeponant. Ambrosius, De virginitate 16, 99. Vgl. RB 1,2; Apg, 2,44–45; 4,32–35.
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6.2. Schule des Herrendienstes Mit einem Basiswort monastischer Bildung bezeichnet die Benediktusregel die Mönchsgemeinschaft als eine »Schule des Herrendienstes – scola servitii dominici«. 39 Es ist der Dienst, den Christus exemplarisch in der Fußwaschung an seinen Jüngern vollzogen hat. Der entscheidende Impuls geschieht also durch Christus als den eigentlichen magister, den Lehrer. 40 Durch ihn lernen die Mönche, sich seinem Beispiel des Dienens immer mehr anzunähern. Der Mönch identifiziert sich mehr und mehr mit dem »Lernstoff« dieser Lebensschule. Ausdrücklicher Inhalt ist Dienst »unter Regel und Abt«. 41 Die Mönchsregel bildet als »Lehrmeisterin« 42 ein entscheidendes Element des lebenslangen Lernprozesses, dessen primärer Inhalt die regula scripturarum, die Heilige Schrift ist: 43 Zu diesem Lernprogramm gehören auch die unmittelbar monastischen Weisungen, die »monasterii disciplinas« 44. Diese werden bei Benedikt vor allem durch das mehrfache gemeinsame (Vor-)Lesen der Regel 45 im dialogischen Austausch mitgeteilt: »Während es zunächst um die […] aufbauende Regeltreue geht, zielt das Lernen auf Verinnerlichung ab und gipfelt in der […] Einhaltung der Regel aus Engagement und Überzeugung. […] Das Lernen vollzieht sich in verschiedenen Reifestufen und führt von der Paragraphentreue zur lebendigen Erfüllung der Regel in Freiheit.« 46
6.3. Das Kloster als »Leib« Nur einmal nennt Benedikt als weiteren Identitätsbegriff das corpus monasterii, den Leib des Klosters 47, eine Wendung, die an den in Kol 1,18 gebrauchten Ausdruck corpus ecclesiae für die Gemeinde erRB Prol. 45. RB Prol. 1: magister; Prol. 50: magisterium. 41 RB 1,2. 42 RB 3,7: magistra. 43 Pachomius, Instituta Prooemium: »Denn die, die ihren Dienst recht erfüllen, folgen der Richtschnur der Heiligen Schrift.« 44 Pachomius, Praecepta 49; 139. 45 RB 58,9.12.13. 46 Reiber, Organisationen, 125. 47 Vgl. RB 61,6. 39 40
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innert. Zum Verständnis scheint der fast gleichlautende moderne Begriff der »corporate identity« hilfreich zu sein, der als Leitbild, »die Gesamtheit der Charakteristika eines Unternehmens ausmacht. […] Die Identität einer Person ergibt sich für den Beobachter normalerweise aus der optischen Erscheinung sowie der Art und Weise zu sprechen und zu handeln […] So lässt sich seine Identität mit einer Strategie konsistenten Handelns, Kommunizierens und visuellen Auftretens vermitteln. Falls alles zueinander passt und die komplementären Teile ein einheitliches Ganzes ergeben, entsteht eine stabile Wahrnehmung eines Akteurs mit einem spezifischen Charakter.« 48 In diese Identität sucht der Mönch sich zu integrieren. Das paulinische Bild vom Leib und den Gliedern, die miteinander in Eintracht leben, motiviert ihn, im Laufe seines Lebens immer mehr zu einem membrum dieses corpus zu werden. 49
6.4. Haus Gottes – domus dei An drei Stellen seiner Regel bezeichnet Benedikt die Gemeinschaft als »Haus Gottes«: RB 31,19; 53,22; 64,5. Er nimmt damit einen Terminus auf, der jedoch in der biblischen und kirchlichen Tradition einen festen Platz hat. »Haus Gottes« gehört zu den Begriffen, mit denen die neutestamentliche Gemeinde ihr Selbstverständnis als Kirche ausdrückt: »Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen.« 50 Allerdings findet sich dieser Ausdruck in keiner der anderen Mönchsregeln und in keinem der vergleichbaren monastischen Texte als Selbstbezeichnung für die Gemeinschaft. Damit wird »Haus Gottes« in der Benediktusregel zum eigentlichen Identitätsbegriff und kennzeichnet die Gemeinschaft und jeden einzelnen Mönch als zugehörig zu diesem »Haus Gottes«. Die Bedeutung des »Hauses« umfasst die Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten und das Verhältnis der Menschen untereinander, es konstituiert Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit und Sinnstiftung. Der Genitiv der lateinischen Wendung domus Dei erlaubt zwei Ausrichtungen: als Genitivus subiectivus und als Genitivus objectivus: Es ist das »Haus«, das dem Herrn gehört und für das dieser sorgt; es ist ebenso 48 49 50
Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Corporate_Identity (16. Dezember 2015). Vgl. RB 34,5. 1 Petr 2,5; vgl. 1 Tim 3,15; 1 Petr 4,17.
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Die Formung zur Identität
das »Haus«, das für Gott da ist und ihm dient. Die Vorstellung vom Haus verbindet sich gleichzeitig mit einem langwierigen Prozess, in dem es ein sich ständig verschiebendes Miteinander unterschiedlichster Menschen und Situationen in ein und demselben Haus gibt. 51 Bereits im Neuen Testament findet sich das Selbstverständnis der ersten Christen ausgedrückt in der Transformation des realen Hauses zur »sich hausweise konstituierenden Kirche«. 52 »Haus« vermittelt Identität als Glaubens- und Gebetsgemeinschaft, als Bekehrungsgemeinschaft, Gütergemeinschaft und Herzensgemeinschaft, ein Raum, der geprägt ist durch die Suche nach Frieden und Einmütigkeit. 53 Der eigentliche Hausherr ist Christus: »Christus aber ist treu als Sohn, der über das Haus Gottes gesetzt ist; sein Haus aber sind wir.« 54
7.
Gelungene Identität
7.1. perfectio – Vollkommenheit Benedikt stellt eine Mönchsregel vor, die sich als intensive Formung lesen lässt. »Ziel des Entwicklungsganges ist die reife und starke Persönlichkeit, die unabhängig ist von äußerem Ansehen und Bestätigung und fähig zur Selbstbescheidung. […] Die ›religiös-ethische Vollendung der Persönlichkeit‹ kann man gleichsam als Ziel fassen, das in mehreren Schritten konzeptualisiert und stufenweise realisiert wird. Die volle Entfaltung der Persönlichkeit als Manifestation der Gottesebenbildlichkeit wird ergänzt durch die Entfaltung der natürlich-menschlichen Potenziale des Menschen. Diese allseitige Bildung äußert sich in Selbstständigkeit, Mündigkeit und Verantwortlichkeit.« 55 Benedikt lässt das Ziel solcher Bildung zur Identität nicht beliebig offen, sondern schließt seine Mönchsregel mit dem Wort perfectio. 56 Er spricht gleich zweimal vom Erreichen der perfectio, und Vgl. dazu Meyer, Ulrich, Soziales Handeln im Zeichen des »Hauses«. Zur Ökonomik in der Spätantike und im frühen Mittelalter, Göttingen 1998, 242–287. 52 Vgl. Apg 2,46; 5,42; Klauck, Hans-Josef, Gemeinde ohne Amt? Erfahrungen mit der Kirche in den johanneischen Schriften, in: Ders., Gemeinde – Amt – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 195–222, hier 203 53 Vgl. RB Prol. 16; Agp 4,35. 54 Hebr 3,6; vgl. Hebr 3,2. 55 Reiber, Organisationen, 125; 83 f. 56 RB 73,2. 51
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zwar als perfectio conversationis, der Vollkommenheit, besser der Vollendung monastischer Existenz, allerdings nicht vom Perfektionismus. Der Kern der Bergpredigt bei Matthäus verwendet dieselbe Terminologie: »Ihr sollt also vollkommen sein, wie auch euer himmlischer Vater vollkommen ist – Estote ergo perfecti« 57. Auch hier sind nicht Sündenfreiheit und Makellosigkeit gemeint. Vielmehr weist das griechische teleios darauf hin, reif, erwachsen, zum Ziel gekommen zu sein. »Der Mönch soll nicht vollkommen sein wie Gott, sondern weil Gott vollkommen ist, soll er sich ganz seinem Dienst weihen. […] Der Mönch bringt das zu Ende – per-facere, was er begonnen, was er durch-gemacht hat.« 58 Die angesprochene Vollkommenheit oder Vollendung ist daher nicht als asketischer oder moralischer Perfektionismus zu denken. Sie verbindet sich mit einer Palette von Vorstellungen, die die monastische Tradition insgesamt bestimmen.
7.2. maturus – reif Eher unauffällig nennt Benedikt ein Kriterium, das für ihn Indiz gelungener Identität ist. Für das Personenprofil bei wichtigen Aufgaben im Dienst der Gemeinschaft geht er von der Reife des Mönchs aus. Mit maturus – reif, ausgeglichen – beschreibt er ein vertrauenswürdiges Verhalten, das durch Glaubwürdigkeit erprobt ist und nicht von der Zahl der Lebensjahre abhängig sein muss. 59 Der Cellerar des Klosters soll sich durch maturis moribus, durch beispielhafte Lebensführung und Charakterfestigkeit auszeichnen, die den gesamten Bereich seiner Amtsverwaltung umfassen, durch Nicht-Verführbarkeit, Zuwendung und Loyalität in der vertrauenswürdigen Wahrnehmung der zugewiesenen Aufgaben. 60 Für den Pförtner beschreibt Benedikt dessen maturitas mit der Zuverlässigkeit, die in Zuvorkommenheit und bereitwilliger Präsenz – semper esse praesentem – jedem, der kommt, in Gottesfurcht Rede und Antwort steht. 61 Damit ist ein ChaMt 5,48; Lev 19,1–2. Puzicha, Michaela, Kommentar zur Benediktusregel. Im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz (2. verbesserte, überarbeitete und ergänzte Auflage) [1. Aufl. St. Ottilien 2002], St. Ottilien 2015, 767. 59 Origenes spricht im Zusammenhang mit Abraham von der »Reife des Herzens – cordis maturitas« (Homilien zum Buch Genesis 3,3). 60 Vgl. RB 31,1–3. 61 Vgl. RB 66,1. 57 58
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rakter beschrieben, der der Unzuverlässigkeit ebenso widersteht wie der Neugier und der Überbewertung von Kontakten. Die Reife beschränkt sich aber nicht auf diese beiden Ämter, sondern formuliert nur, was letztlich für jeden der Mönche gilt.
7.3. seniores – Älteste Unabhängig von Ämtern und Amts- oder Gruppenbezeichnungen nennt Benedikt daher die seniores – Mönche, die erprobt sind im asketischen Leben, geisterfüllt und bibelkundig. 62 Das Wort bedeutetet zwar »Ältere«, ist aber keine Altersangabe, sondern bezieht sich auf die biblische Vorgabe der presbyteroi, der »Ältesten«. 63 Inhaltlich steht der Begriff in großer Nähe zum Altvater der Wüstenspiritualität. Es handelt sich um erfahrene, bewährte, menschlich und monastisch gereifte Mönche. Sie sind Vorbild durch eine glaubwürdige Existenz, in der Leben und Lehre weitgehend übereinstimmen. Benedikt beschreibt damit die »geistliche Gestalt« des Mönches mit persönlicher Autorität, lebensgeschichtlicher Erfahrung und einem spirituellen Horizont. Eigens hervorgehoben sind die »spiritales seniores – die geistlichen Väter« 64, die für die pastorale Begleitung der Brüder da sind. Sie stehen für die monastischen Anliegen ein und sind in die Verantwortung für die Gemeinschaft vor Gott miteingebunden. Aber sie sind sich ihrer eigenen Grenzen und Schwächen, ihrer vulnera, der Brüche in ihrem Leben bewusst. Der Begriff steht für die geistliche Gestalt des Mönches, »wie er sein soll«.
7.4. esse – sein Solches »Sein« markiert Benedikt als Idealbild, das er nicht nur für den Abt und den Cellerar aufstellt und in der Überschrift der entsprechenden Kapitel formuliert: »Wie er sein muss« 65. Daraus entfaltet er RB 22,3; 22,7; 23,1; 23,2; 27,2–3; 46,5; 48,17; 56,3; 58,6; 63,16. Origenes, Homilien zum Buch Genesis 3,3: »Nachdem er (Abraham) jedoch von dort weggezogen war, war er würdig, Abraham und »Ältester« – presbyter genannt zu werden. Mit dieser Bezeichnung meint man nämlich bei Abraham nicht das körperliche Greisenalter, sondern die Reife des Herzens.« 64 RB 46,5. 65 RB 2 T: »Qualis debeat abbas esse.«; RB 31 T: »De cellerario monasterii qualis sit.« 62 63
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ein personales und spirituelles Profil, das umfassend die biblischen Vorgaben der Pastoralbriefe mit ihren Haustafeln aufnimmt, die unabhängig von den jeweiligen Funktionen letztlich für alle Getauften gelten. 66 Ebenso wichtig sind die Anklänge an den »treuen und klugen Knecht«, dem der Herr die Sorge für den Lebensunterhalt der Seinen anvertraut hat. 67 Vor allem die Gesinnung Christi, der sich als Dienender versteht und seinen Jüngern die Füße wäscht, bildet die biblische Tiefenschicht. 68 Die umfassende Dimension dieses »esse« bestimmt Benedikt im Zusammenhang mit dem Stundengebet. Er spricht von der göttlichen Gegenwart, der divinitas bzw. der divina praesentia, sagt aber nicht, wie der Mönch sich in dieser Gegenwart verhalten, was er vermeiden oder was er tun soll, sondern überraschend: »wie er sein – qualiter esse« – soll. 69 Es handelt sich nicht um Funktionen oder Qualifikationen wie Lesen und Singen, auch nicht einfach darum, »andächtig zu beten«, sondern mit qualiter wird die ganze Lebensführung des Mönches umfasst als jemand, der im Angesicht Christi steht.
7.5. ›Reinheit‹ des Herzens – puritas cordis Als Umschreibung gelungener Identität nimmt die puritas cordis, die ›Reinheit‹ des Herzens, für das geistliche Ziel des Mönchs eine wesentliche Stelle ein. Ihre Verwirklichung sieht Benedikt »wenn wir in Lauterkeit des Herzens […] beten«. 70 Sie ist bestimmt von völliger Absichtslosigkeit, die ohne Hintergedanken und Zwiespältigkeit auskommt. Die Klarheit der Lebensführung zeigt sich in der Eindeutigkeit und Entschiedenheit, entsprechend den Weisungen des Herrn zu handeln. Die Heilige Schrift formuliert sie mit der Seligpreisung der Menschen, »die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen« 71. Das »reine Herz«, eine Charakteristik, die sich häufig in der Psalmenfrömmigkeit findet, 72 wird eines der prägenden Elemente Vgl. 1 Thess 5, 14; 1 Tim 3,2.15; 2 Tim 2,25; 4,2; Tit 1,7–9; 2,1.7–10; 1 Petr 5,1–3. Vgl. Mt 24,45–51; Lk 12,42–46. 68 Vgl. Lk 12,37; 22,27; Joh 13,1–35; Gal 5,13. 69 RB 19,6: »Ergo consideremus qualiter oporteat in conspectu divinitatis et angelorum eius esse.« 70 RB 20,3. 71 Mt 5,8. 72 Z. B. Ps 24,3–4; 51,12; 73,1. 66 67
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frühmonastischer Spiritualität. »Herz« ist der zentrale biblische Begriff für den »Sitz« des menschlichen Wollens, Denkens und Fühlens, ebenso wie der Erkenntnis und Entscheidung. Die ›Reinheit‹ des Herzens verwirklicht sich in absichtsloser Hingabe und ist mit der Liebe identisch, 73 dem Gipfel der Vollkommenheit, die in einem Prozess des Glaubens und der Loslösung von sich selbst wächst. 74 Cassian verwendet dafür auch den Ausdruck der integritas cordis 75, der noch einmal eine Facette der puritas cordis verdeutlicht und ihre Bedeutung erläutern kann. Wie sehr diese Zielvorstellung einer gelungenen Identität die Benediktusregel prägt, zeigt sich in der fast gleichlautenden Wiederholung, die Benedikt für die Quadragesima mit der puritas vitae als »Lauterkeit« des ganzen Lebens ausspricht. 76 Dies meint nicht Sündenlosigkeit, Tadellosigkeit oder Makellosigkeit. Vielmehr kann man die Klarheit, Selbstverständlichkeit und Entschlossenheit, womit der Mönch sein Leben gestaltet, erkennen. Wie wenig dies ein erreichtes Ergebnis und bleibender Endzustand, sondern vielmehr dauerndes Bemühen ist, lässt sich daran ablesen, dass Benedikt sie »nur« für die Quadragesima erwartet, denn immer ein solches Leben zu führen: »Dazu aber haben nur wenige die Kraft.« 77
7.6. Weite des Herzens Ein weiteres Mal verwendet Benedikt den Begriff »Herz«, für den er eine ausgesprochene Vorliebe hat, 78 wenn er von dem Herzen spricht, das weit (gemacht) geworden ist – dilatato corde. 79 Mit der Umformulierung bzw. dem Gedächtniszitat von Ps 119,32 wird es für ihn zum charakteristischen Merkmal einer Existenz, die ganz mit sich übereinstimmt, weil sie ausgerichtet ist auf die Weisungen des Herrn: »[…] dem wird das Herz weit, und er läuft in unsagbarer Freude der
Vgl. Cassian, Institutiones 4,43,1; Collationes 10,7. Vgl. Cassian, Collationes 9,3. 75 Cassian, Institutiones 6,19. 76 RB 49,2: »omni puritate vitam suam custodire – in großer Lauterkeit auf unser Leben achten.« 77 RB 49,2. 78 Vgl. RB Prol. 28.40; 3,8; 4,50; 5,16.18; 7,18.51.62; 19,7; 20,3; 49,4; 52,4. 79 Vgl. RB Prol.49. 73 74
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Liebe den Weg der Gebote Gottes.« 80 Das weit gewordene Herz charakterisiert den Mönch, der geprägt ist von Frieden, Ruhe und Geduld und sich in einem Lebensstil bewährt, der ausgezeichnet ist durch die Verwirklichung der monastischen Anliegen, wie sie zusammenfassend in RB 72 niedergelegt sind. 81 Die Tiefe dieser Erfahrung wird deutlich, wenn man erkennt, dass Benedikt in das frei gestaltete Zitat von Ps 119,32 eine persönliche Meditation einfügt. Mit »inenarrabili dilectionis dulcedine – (wörtlich) in unaussprechlich süßer Zuneigung« gewährt er in sprachlicher Prägnanz einen emotionalen Einblick in seine Gottesbeziehung und Christuserfahrung. 82
7.7. Herzensruhe Die Spiritualität der Wüstenväter verwendet vergleichbar den Begriff der »Herzensruhe«. Benedikt kommt indirekt darauf zu sprechen, wenn er eine defizitäre Identität beschreibt: Er erwartet vom Abt, dass dieser »nicht stürmisch und nicht ängstlich, nicht maßlos und nicht engstirnig, nicht eifersüchtig und allzu argwöhnisch« ist. 83 Ein solches Verhalten ist das Gegenteil dessen, was einen reifen und ausgewogenen Charakter ausmacht. Vor allem für den Abt selber bedeutet dies, dass »er sonst nie zur Ruhe kommt – numquam requiescit«. 84 Gemeint ist mit requiescere die Hesychia, die Herzensruhe, die den vollendeten Mönch prägt, der aus seiner eigenen Mitte, aber nicht aus sich selbst heraus lebt, sondern aus Christus. Durch ein Leben in innerem Frieden und im Einklang mit Gott erreicht er seine wahre Ausgeglichenheit. Sie meint nicht eine äußere Ungestörtheit, sondern den Frieden des Menschen, der innerlich zur Ruhe gekommen ist; denn sein Herz ist frei von bösen Gedanken, 85 weil der Mönch sich ganz getragen weiß von der Barmherzigkeit Gottes. 86 Die Ruhe des Herzens bedeutet keine elitäre Spiritualität, die ausschließlich dem Mönchtum vorbehalten wäre. Jeder Getaufte, Ebd. Vgl. Komm. 2,81 82 RB Prol. 49: »dilatato corde – inenarrabili dilectionis dulcedine – curritur via mandatorum dei.« Vgl. dazu ausführlich: Puzicha, Kommentar, 82. 83 RB 64,16. 84 Ebd. 85 Vgl. Apophthegmata Patrum 100; 103. 86 Vgl. RB 4,74: »Niemals an der Barmherzigkeit Gottes verzweifeln«. 80 81
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jeder Mensch kann diesen Weg der Selbsterkenntnis gehen, der in der Verwandlung des Bewusstseins und des Herzens besteht. Er führt zum inneren Frieden, der den Menschen, versöhnt mit Gott und mit sich selbst, ganz da und gegenwärtig sein lässt, in sich selbst ruhend und offen für andere.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Bündgens, Johannes, Dr. theol., Weihbischof in Aachen Depraz, Natalie, Univ.-Prof. Dr., Universität Rouen, Équipe de Recherche Interdisciplinaire sur les Aires Culturelles, Absolventin der École Normale Supérieure Paris, Agrégée in Philosophie, Mitarbeiterin am Husserl-Archiv ENS/CNRS Paris Grätzel, Stephan, Univ.-Prof. Dr. phil., Leiter des Arbeitsbereiches Praktische Philosophie, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Horch, Caroline, Privatdozentin, Gastdozentin am Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle Kapust, Antje, Prof. Dr. phil., Ruhr-Universität Bochum, Institut für Philosophie, Heidelberg Kühn, Rolf, Privatdozent, Philosoph, Freiburg Madragule Badi OP, Jean-Bertrand, Dr. phil. Dr. theol., Ruhr-Universität Bochum Meyer, Guido, Prof. Dr. theol., RWTH Aachen, Lehr- und Forschungsgebiet Religionspädagogik Nass, Elmar, Prof. Dr. theol. Dr. soc., Professor für Wirtschafts- und Sozialethik, Department Ethik und Philosophie an der Wilhelm Löhe Hochschule Fürth Paganini, Simone, Prof. Dr. theol., RWTH Aachen, Lehr- und Forschungsgebiet Biblische Theologie Puzicha OSB, Michaela, Dr. theol., Abtei Varensell, Leiterin des Instituts für Benediktinische Studien Salzburg Rautenberg, Bertin, Dr. theol., Leiter Caritas-Schulzentrum Bautzen
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Sorace, Marco Antonio, Dr. theol., Dozent an der Bischöflichen Akademie, Aachen Vasseur, Clara Elisabeth, Mitarbeit am Lehrstuhl für Philosophie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Zaborowski, Holger, Prof., Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, Rektor der Hochschule
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Identität und Spiritualität in der Postmoderne
Clara Vasseur Johannes Bündgens Spiritualität der Wahr nehmung Einführung und Einübung 336 Seiten | Kartoniert ISBN 978-3-495-48662-7 Dieses Buch will im Kontext einer säkularisierten Gesellschaft einen Weg zeigen, wie Menschen Erfahrungen von Gott und mit Gott machen können. Dabei bezieht es sich auf die nur wenig bekannten Arbeiten des Phänomenologen Marcel Jousse SJ (1886 – 1961), der als Erster einen leiborientierten Ansatz vorgestellt hat. Ihm zufolge kommt dem Leib eine wesentliche Rolle in der Erkenntnis- und Wertebildung zu. Das Leibgedächtnis ist mehr noch als das kognitive Gedächtnis der Ort, an dem sich Identität bildet und bewahrt wird. Dieser Ansatz ermöglicht einen neuen Zusammenhang zwischen Phänomenologie, Anthropologie und praktischer Theologie.
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