Identitäten in Bewegung: Migration im Film [1. Aufl.] 9783839414729

»Festung Europa« - Wanderarbeit - Road Movie: Eine Reihe von Spielfilmen, Dokumentarfilmen und künstlerischen Videos hat

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German Pages 324 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Film und kulturelle Identität
MEDIALISIERUNGEN VON GRENZEN
Das Geschlecht der Grenze. Genderrepräsentationen von der Berliner Mauer bis zur EU-Außengrenze
Grenzen überschreiten. Die Figur des Selbstmordattentäters in Spielfilmen zum Nahostkonflikt
Die Unmöglichkeit der Übersetzung. Lisl Pongers Filme »Passagen« und »Déjà vu« im Spannungsfeld von Tourismus und Migration
MEDIALITÄT, RÄUMLICHKEIT UND GESCHLECHT
Ein toter Mann. Zum Zusammenhang von Migration, Geschlecht und Ethnie im Western »Hombre«
Permanente Migration.; Das Road Movie und die Suspendierung von Identität im Kino des New Hollywood
»Ein Mann ist ein Mann, und ein Loch ist ein Loch«. Männlichkeit, Homosexualität und Migration in Kutluğ Atamans »Lola und Bilidikid« (Deutschland 1998)
GRENZVERSCHIEBUNGEN
Iranisches Kino im Exil: auf der Suche nach Identität Eine Bestandsaufnahme
Eine andere Art der Migration. Der Paradigmenwechsel in der Repräsentation von Chinese Indonesians am Beispiel des Spielfilms »Blind Pig Who Wants to Fly«
Emotionale Archive und libanesische Migrationserfahrungen. Eine Analyse des Spielfilms »Zozo«
Autorinnen und Autoren
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Identitäten in Bewegung: Migration im Film [1. Aufl.]
 9783839414729

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Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung

Film

Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.)

Identitäten in Bewegung Migration im Film

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ben. / photocase.com (Detail) Lektorat: Elke Frietsch, Patric Schaerer, Christian Jerger Satz: Christian Jerger, ad litteras, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1472-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Bettina Dennerlein/Elke Frietsch | 7

Film und kulturelle Identität Rey Chow | 19

M EDIALISIERUNGEN VON G RENZEN Das Geschlecht der Grenze Genderrepräsentationen von der Berliner Mauer bis zur EU-Außengrenze Ramón Reichert | 35

Grenzen überschreiten Die Figur des Selbstmordattentäters in Spielfilmen zum Nahostkonflikt Elke Frietsch | 57

Die Unmöglichkeit der Übersetzung Lisl Pongers Filme »Passagen« und »Déjà vu« im Spannungsfeld von Tourismus und Migration Alexandra Karentzos | 95

M EDIALITÄT , R ÄUMLICHKEIT UND G ESCHLECHT Ein toter Mann Zum Zusammenhang von Migration, Geschlecht und Ethnie im Western »Hombre« Heike Endter | 125

Permanente Migration Das Road Movie und die Suspendierung von Identität im Kino des New Hollywood Hauke Lehmann | 155

»Ein Mann ist ein Mann, und ein Loch ist ein Loch« Männlichkeit, Homosexualität und Mi g ration in Kutlu ÷ Atamans »Lola und Bilidikid« (Deutschland 1998) Christopher Treiblmayr | 191

G RENZVERSCHIEBUNGEN Iranisches Kino im Exil: auf der Suche nach Identität Eine Bestandsaufnahme Hamid Hosravi | 229

Eine andere Art der Migration Der Paradigmenwechsel in der Repräsentation von Chinese Indonesians am Beispiel des Spielfilms »Blind Pig Who Wants to Fly« Laura Coppens | 263

Emotionale Archive und libanesische Migrationserfahrungen Eine Analyse des Spielfilms »Zozo« Sune Haugbolle | 295

Autorinnen und Autoren | 317

Einleitung Bettina Dennerlein/Elke Frietsch

Der vorliegende Sammelband präsentiert Forschungs- und Denkansätze zum Thema Migration im Film. Er geht auf einen interdisziplinären Workshop mit dem Titel »Identitäten in Bewegung. Migration im Film« zurück, der im Januar 2010 am Lehrstuhl Gender Studies und Islamwissenschaft der Universität Zürich stattgefunden hat. Die hier versammelten Aufsätze stellen eine Auswahl grundlegend überarbeiteter Workshop-Beiträge und nachträglich aufgenommener Texte dar. Im Vordergrund steht die Frage nach künstlerischen Formen der (De-)Konstruktion und Inszenierung von Identität und Geschlecht am Schnittpunkt verschiedener Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozesse. Das Medium Film mit seiner spezifischen narrativen und ästhetischen Qualität erweist sich als äußerst produktiver Zugang zu Phänomenen von Migration, Gender und Identität. Gerade durch seine technischen Mittel (Montage, Detail- und Nahaufnahmen, Schuss/Gegenschuss etc.) ist der Film besonders geeignet, Zeit- und Bewegungsabläufe sowie den prozesshaften Charakter von Identität und Geschlecht in seinen verschiedenen Spielarten von Zwang über Parodie bis zu Widerstand sichtbar zu machen. Das Medium Film erschließt so ein Untersuchungsfeld, das von der Spannung zwischen Fixierung und Öffnung, Schließung und Aufschiebung, Hybridisierung und (zum Teil bewusst verkehrter) Stereotypisierung geprägt ist und eine Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten an aktuelle theoretische Debatten zu Identität und Gender aufweist. In den letzten Jahren sind zahlreiche Spielfilme, Dokumentationen und künstlerische Videos entstanden, die sich dem Thema Migration widmen. Neben Unterdrückung und politischer Verfolgung im Herkunftsland werden auch neue, aus der Migration folgende Formen

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der Marginalisierung und Prekarität sowie Versuche des Neubeginns mit den in ihnen angelegten Konflikten thematisiert.1 Identität erscheint hier als vielfach gebrochen und häufig versehrt. Zugleich sind individuelle Lebensentwürfe und Handlungsperspektiven eingebunden in neu entstehende transkulturelle Räume mit ihren spezifischen Möglichkeiten und Ausdrucksformen. Die Darstellung von politischen und ideologischen Konflikten, Stereotypisierungen, gesellschaftlicher Marginalisierung oder familiären Problemen wie auch die Rekonstruktion von Subkulturen werden häufig auf ganz unterschiedlichen Ebenen durch die Thematisierung von Geschlecht geprägt. Viel besprochene Filme wie »Persepolis« von Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud (2007) oder »Gegen die Wand« von Fatih Akın (2004) beschäftigen sich zumindest auch mit geschlechtsspezifischen Formen der Marginalisierung, Diskriminierung, Gewalt und Kritik bzw. Widerstand. Besonders prägnant wird der Zusammenhang von Gender, Sexualität, Identität und Migration in dem Film »Fremde Haut« (2005) von Angelina Maccarone dargestellt. Der jungen Übersetzerin Fariba droht auf Grund ihrer lesbischen sexuellen Orientierung in Iran die Todesstrafe. Sie flüchtet nach Deutschland, doch auf dem Flughafen von Frankfurt am Main wird ihr Asylgesuch abgelehnt. Als sich ein iranischer Flüchtling das Leben nimmt, ergreift Fariba ihre Chance: Sie nimmt die Identität des Toten an und gelangt durch den Tausch des sozialen Geschlechts als Flüchtling in eine deutsche Provinzstadt. Doch als sie sich in eine Frau verliebt, wird ihr Frausein von einem männlichen Rivalen entdeckt. Gezwungen, das soziale Geschlecht zurückzuwechseln, muss sie fliehen. Der Film greift die Themen Geschlechterrollentausch, Sexualität und Gewalt, die auch in anderen Filmen wie »Boys don’t Cry« (1999) zentral sind, auf und verbindet sie mit der Erfahrung von politischer Verfolgung und Exil. Gender und Identität sind auch in filmischen Beiträgen zu Migration durch mehrdimensionale Ungleichheitsverhältnisse bestimmt und lassen sich so auf theoretische Diskussionen zu Intersektionalität beziehen.2 Eine besondere Rolle kommt dem Phänomen der Grenze in seinen verschiedenen, trennenden wie differentiell ein- oder auch verbindenden Dimensionen zu. Grenzen sind geschlechtsspezifisch aufgeladen. Sie können dazu dienen, männlich dominierte Räume zu schaffen und Frauen von politischen Rechten und Handlungsfähigkeit auszuschließen. Gleichzeitig sind Konstruktionen kollektiver Identität geschlechtlich und sexuell codiert.3 Weibliche Figuren werden in

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der visuellen Kultur häufig als Allegorien eingesetzt, wie dies in den Filmwissenschaften beispielsweise Teresa de Lauretis untersucht hat. De Lauretis unterscheidet zwischen »woman« und »women«, wobei sie mit »woman« den allegorischen Einsatz von Weiblichkeit bezeichnet, während mit »women« reale Frauen und ihre Lebenssituationen gemeint sind.4 Die Autorin zeigt, wie die Frau als vermeintlich unmarkiertes, »natürliches« Wesen in ihrer allegorischen Funktion zur Projektionsfläche für Repräsentationen sozialer Ordnungen wird und wie einmal naturalisierte Geschlechterbilder für die Deutung gesellschaftlicher Zustände herangezogen und damit zugleich befestigt werden. So kann etwa das weit verbreitete Bild von Frauen als Opfer dazu dienen, eine ganze Gesellschaft zu viktimisieren und als hilfbzw. wehrlos darzustellen. Umgekehrt wird das Bild des Mannes als Aggressor häufig für die Untermalung einer Bedrohung eingesetzt. Abweichungen von traditionellen Geschlechtercodes und als normal verstandenem Rollenverhalten können dazu dienen, deviantes Verhalten zu symbolisieren – und gegebenenfalls zu verurteilen. Auf diese Weise werden Geschlechterstereotype medial aufgegriffen, um bestimmte politische Inhalte zu transportieren oder plausibel zu machen. Aber auch hier ist das Medium Film geeignet, Brüche aufzuzeigen und Ansatzpunkte für dekonstruktivistische Lesarten zu liefern. Beispielsweise können die vermeintliche Abbildhaftigkeit und das Dokumentarische von Filmaufnahmen als Illusion offengelegt oder ironisiert werden, wodurch sich auch Identität und Geschlecht als instabile und vielfach kontingente Größen erweisen. Visualität ist eng mit politischer Macht verwoben. Hegemonien werden über Sichtbarkeit nicht nur reproduziert, sondern überhaupt erst mit erzeugt. Daher stellt sich die Frage, wie subalterne Gruppen und Positionen (re)präsentiert werden können, ohne erneut Ausschlüsse und Formen der Unterordnung zu produzieren. Innerhalb dieser »Ambivalenzen der Sichtbarkeit« (Schaffer) kann Film gezielt eingesetzt werden, um minorisierte Gruppen und Positionen sichtbar zu machen und dabei antirassistische und queer-feministische Perspektiven zu entwickeln, wobei die Gefahr der Schaffung neuer Hierarchisierungen bestehen bleibt.5 Das Buch ist in drei Kapitel unterteilt. Jedem der drei Kapitel sind jeweils drei Beiträge zugeordnet, die mit unterschiedlichen methodischen und disziplinären Herangehensweisen die spezifischen Möglichkeiten und Wirkungsweisen des Mediums Film in Bezug auf

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Fragen von Migration und Identität untersuchen. Vorausgeschickt wird den Aufsätzen eine deutsche Übersetzung des bislang nur auf Englisch vorliegenden Aufsatzes »Film und kulturelle Identität« der Kulturwissenschaftlerin und Theoretikerin des Postkolonialismus Rey Chow. In ihrem Text werden allgemeine theoretische Fragen zum Zusammenhang von Identität und Visualität im Film gestellt. Zugleich erscheint Film hier als Untersuchungsgegenstand, an dem die Krisenhaftigkeit von Kultur sichtbar wird: »Die ikonoklastischen, transportablen Kopien filmischer Bilder und das weltstädtische, in Bewegung begriffene Leben ihrer Betrachter führen dazu, dass Film ein vielseitiges Medium zur Erforschung einer kulturellen Krise ist – ein Medium, um die Kultur selbst als Krise zu untersuchen.« 6

Bereits in seinen Anfängen diente der Film, der die Illusion eines bis dahin vorbildlosen Realismus ermöglichte, nicht nur der medial hervorgebrachten Fixierung von Identität. Er war und ist zugleich immer auch Zeuge des Konstruktionscharakters bzw. der Künstlichkeit von Identität und damit auch von deren Relatitivität und Brüchigkeit. Chows Aufsatz zielt darauf ab, Annahmen über den zwingenden Charakter filmisch erzeugter Identifikationsprozesse aus transkultureller Perspektive in Frage zu stellen. Im ersten Kapitel geht es um die Rolle von Grenzen und deren Medialisierung. Politische Grenzen haben gerade im Zusammenhang mit Migration für verschiedene Personen und Personengruppen sehr unterschiedliche Bedeutungen. Globalisierung und die Zunahme von Mobilität haben Grenzen zum Teil verschoben, aber keinesfalls aufgelöst oder für alle durchlässiger gemacht. Es entstehen neue Formen der Klassifizierung und Regulierung von Mobilität. Ein sprechendes Beispiel dafür ist die EU-Außengrenze, deren mediale Inszenierung zugleich einen wichtigen Baustein der Rechtfertigung der »Festung Europa« bildet. Die Wahrnehmung von Grenzen hängt eng mit der Etablierung von Feindbildern zusammen, wobei sich das »Eigene« über ein »konstitutives ›Außen‹« (Butler) herausbildet.7 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Ost-West-Konflikts ist der Islam – zunehmend in Verbindung mit Terrorismus – zu einem zentralen neuen Feindbild des Westens geworden. Im Zeitalter von Globalisierung und Mobilitätssteigerung nehmen nicht nur staatlicherseits zugelassene, sondern auch andere, irreguläre Formen

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der Migration zu. So kreuzen sich an den Grenzen Europas die Wege von Tourist/inn/en, Arbeitsmigrant/inn/en, Asylsteller/innen und illegalen Flüchtlingen, woran sich einmal mehr die asymmetrische Verteilung von Zugangsrechten zu Mobilität zeigt.8 Das zweite Kapitel ist dem Zusammenhang von Räumlichkeit, Medialität und Geschlecht gewidmet. Bereits im Western, aber auch in dem sich aus diesem Genre Ende der 1960er Jahre im US-amerikanischen Kino entwickelnden Road Movie werden Bewegung und Mobilität mit Fragen von Identität verknüpft. Außenseiter und Vertreter gesellschaftlicher Randgruppen geraten in ihrer Ortlosigkeit ins Blickfeld, wobei die Frage nach Identität hier weniger an Herkunft oder Ziel gebunden ist als an die Art und Weise, in der sich ein Wandel der Figuren vollzieht. In zeitgenössischen Filmen, die sich mit Migration auseinandersetzen, erscheint Identität ebenfalls zunehmend als instabil und brüchig. Insofern lassen sich hier postkoloniale9 und diskursanalytische Theorien10 auf die Analyse von Filmen beziehen – und umgekehrt. Gleichzeitig verweisen aktuelle Filme zum Thema Migration aber auch auf die Sehnsucht nach identifikatorischer Sicherheit und stabilen Zugehörigkeiten. Unter dem Titel Grenzverschiebungen setzen sich die Beiträge des dritten Kapitels mit der Darstellung von Migration im engeren Sinn auseinander, wobei Fragen der (De-)Konstruktion von individueller Identität, Ethnizität und Geschlecht am Schnittpunkt zwischen Fremdzuschreibung und Selbstermächtigung im Zentrum stehen. Der Beitrag von Ramón Reichert fragt nach dem »Geschlecht der Grenze«, wobei er geschlechtlich codierte Repräsentationen der Berliner Mauer und der EU-Außengrenze vergleichend in den Blick nimmt. Die Berliner Mauer hat sich während des Kalten Krieges maßgeblich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt und spielte in den Identitätspolitiken beider deutscher Staaten eine zentrale Rolle. Zu jener Zeit entstandene Bilderpolitiken wirken bis heute fort. Reichert zeigt, dass die Berichterstattung über den Mauerbau in den Medien in Ost und West stark von geschlechtsspezifischen Metaphern geprägt war. Er verdeutlicht, dass die filmische Visualisierung des Mauerbaus in den Westwie auch den Ost-Medien mit der Darstellung männlicher Akteure und Kontrollorgane verbunden war, während die weiblichen Figuren eher als passiv Betroffene inszeniert wurden. Der Aufsatz analysiert, wie stark die mediale Prägung der deutsch-deutschen Grenze, die bis heute fortwirkt, in Geschlechterhierarchien und dominante Männ-

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lichkeitsperspektiven eingelassen war. Doch auch aktuelle Bilder der EU-Aussengrenze agieren über spezifische Geschlechterbilder. Hier wird die Grenze maskulinisiert, um den Einsatz von Gewalt als Autorität zu rechtfertigen und gegenüber einer anders vermeintlich nicht kontrollierbaren »Flut« von Flüchtlingen zu »verteidigen«. Reichert hebt besonders hervor, wie Grenzziehungsdiskurse der Vergangenheit und der Gegenwart durch mediale Techniken der Authentifizierung geprägt sind. Der Beitrag von Elke Frietsch beschäftigt sich am Beispiel von Selbstmordattentätern in Spielfilmen mit der Grenzproblematik im Nahostkonflikt. Die untersuchten Spielfilme reagieren auf und intervenieren zugleich in öffentliche Diskussionen über Islam und Gewalt. Während in der medialen Öffentlichkeit häufig der Islam als Grund für die Gewaltbereitschaft von Palästinensern betrachtet wird,11 fordern kritische wissenschaftliche Beiträge zum Thema, sich differenziert mit den Ursachen von Selbstmordattentaten zu beschäftigen.12 Spielfilme wie »Alles für meinen Vater« (Dror Zahavi, Israel 2009), »Paradise Now« (Hany Abu-Assad, Israel/Niederlande/Deutschland/Frankreich) und »The Bubble« (Eytan Fox, Israel 2006) sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Gemeinsam ist den drei Filmen, dass sie versuchen, verschiedene Motivationen palästinensischer Selbstmordattentäter aufzuzeigen. Klischeehafte Vorstellungen über Selbstmordattentäter sollen durchbrochen und Diskriminierungen sichtbar gemacht werden. Der Beitrag analysiert, wie vorherrschende Zuschreibungen in den Filmen hinterfragt, bisweilen aber auch auf eher plakative Weise bestätigt oder umgekehrt werden. Der Aufsatz von Alexandra Karentzos beschäftigt sich mit der Darstellung von Migration und Tourismus in Videoarbeiten der österreichischen Künstlerin Lisl Ponger. Es ist der Kontrast in der Wahrnehmung dieser beiden Formen grenzüberschreitender Bewegung, der Ausgangspunkt der künstlerischen Reflexion wird. Gilt Tourismus zumeist als eine legitime Form des Reisens, so haftet der Migration häufig die Unterstellung des Illegitimen, wenn nicht Illegalen an. Karentzos verdeutlicht, wie in Pongers Videoarbeiten touristisches Sehen vorgeführt und als im kolonialen Blick verhaftet gezeigt wird. Nicht nur Migration, sondern auch Tourismus, so wird zu verstehen gegeben, ist in der heutigen globalisierten Welt auf verschiedene Weise in Macht- und Gewaltverhältnisse eingelassen. Unter Bezug auf neuere Arbeiten aus der kulturwissenschaftlichen Reiseforschung

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verdeutlicht Karentzos, welche Rolle Bilder in touristischen Praktiken spielen. Sie zeigt die Ambivalenzen der Bilder des Reisens und deren Thematisierung im Medium Video auf. Darstellungen von Migration, wie sie im zeitgenössischen Film zu sehen sind, können gerade im Hinblick auf die Inszenierung von Ortlosigkeit oder die Motivik der Straße als dem Western und dem Road Movie verwandt gelten. Heike Endter untersucht anhand des Films »Hombre« (Martin Ritt, USA 1967) den Zusammenhang von Migration und Geschlecht im Western. Endter zeigt, dass das Westergenre von einem Paradox bestimmt wird: Es werden Heimatlosigkeit und Suche nach Heimat thematisiert, so dass der Western in den USA zu einem identitätsstiftenden Genre werden konnte. Endter verdeutlicht, dass im Western aber bereits durchaus auch identitätskritische Perspektiven enthalten sind, die im Licht postkolonialer Theorien analytisch in neuer Weise produktiv gemacht werden können. In Bezug auf den Western »Hombre« untersucht Endter aus einer kunstwissenschaftlichen Perspektive, wie im Vorspann zum eigentlichen Film historische Fotografien von Indianern eingesetzt werden. Während mit diesen Standbildern der Eindruck des unberührten Indianerlebens entworfen und Kritik weitgehend ausgeblendet wird, verdeutlicht die Handlung des Films »Hombre« den Zwang und die Machtverstrickungen von kollektiv wirksamen Konstruktionen des Eigenen und des Anderen. Hauke Lehmann beschäftigt sich im nachfolgenden Aufsatz mit der Suspendierung von Identität in dem Road Movie »Two-Lane Blacktop« von Monte Hellman aus dem Jahr 1971. Der Verfasser geht dabei nicht von einer soziologischen Definition des Begriffs Migration aus, sondern untersucht die Bedingungen der medialen Vermittlung von Bewegung im Raum. Ausgehend von einer wahrnehmungsästhetischen Perspektive auf Film definiert er Migration als eine Bewegung, in der die Verankerung in festen Subjektpositionen gelöst wird. Lehmanns These ist, dass der Film, in dessen bewegten Bildern Zeit verräumlicht und Raum dynamisiert wird, besonders geeignet ist zur Darstellung von Bewegung bzw. Migration als Aufschub von Identität. Christopher Treiblmayr befasst sich in seinem Beitrag mit dem Zusammenhang von Männlichkeit, Homosexualität und Migration. Aus einer historischen Perspektive heraus untersucht er, wie der Film »Lola und Bilidikid« (1998) von Kutluğ Ataman hegemoniale Männlichkeit mit Formen von untergeordneter, alternativer bzw. queerer Männlichkeit konfrontiert. Der Autor ordnet den Film in den Trend

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zur Pluralisierung von Männlichkeiten im ausgehenden 20. Jahrhundert ein. Er zeigt, dass die neue Sichtbarkeit homosexueller und queerer Lebensentwürfe im Film vor dem Hintergrund dieser Pluralisierung von Lebensweisen und der Krise hegemonialer Männlichkeit zu sehen ist. Dabei wird deutlich, auf welche Weise queere Filme binäre Gegensätze wie männlich/weiblich, deutsch/türkisch als konstruiert und machtförmig organisiert entlarven und damit auch auf deren Veränderbarkeit verweisen. Hamid Hosravi wertet zum ersten Mal umfassend die Themenvielfalt des exiliranischen Kinos aus und untersucht vor dem Hintergrund der Abfolge verschiedener Fluchtwellen aus Iran dessen filmhistorische Entwicklungslinien. Er analysiert Migration und Exil als in verschiedene innere Phasen gegliedert, auf die sich auch die Inhalte und Problemstellungen des iranischen Exilkinos beziehen lassen. Charakteristisch erscheint der hohe Grad der Politisierung des exiliranischen Films, der mehr oder weniger direkt in politische Auseinandersetzungen im Heimatland interveniert oder diese zumindest kommentiert. Die enge Verquickung von Politik und persönlicher Entwicklung prägt ganz unterschiedliche Filme aus verschiedenen Phasen. Vergleichend bezieht Hosravi auch geduldete »Festivalfilme« und underground Filme aus Iran in seine Untersuchung ein. Der Aufsatz von Laura Coppens setzt sich mit dem Versuch der Selbstrepräsentation ethnischer Minderheiten im Film auseinander. Anhand des Films »Blind Pig Who Wants to Fly« (2008) zeigt Coppens, wie es dem Regisseur Edwin gelingt, nicht nur die in Indonesien nach wie vor diskriminierte Gruppe der Chinese Indonesians sichtbar zu machen, sondern gleichzeitig jegliche Art fixer Identität an sich zu unterlaufen. Die Versehrtheit von Personen und die Zerrissenheit bzw. die Prekarität sozialer Bindungen wird durch die spezifische Machart des Films, der mit Hilfe von »Erzählfetzen« lineare Narrationen aufbricht, medial unterlegt. Methodisch greift Coppens in ihrer Analyse auf theoretische Ansätze von Rey Chow zurück. Der Aufsatz von Sune Haugbolle schließt den Sammelband mit einer Analyse des schwedisch-libanesischen Spielfilms »Zozo« (2005) ab. Der Autor zeigt, wie dieser Film durch die dem libanesischen Kino seit seinen Anfängen inhärente Spannung zwischen Repräsentation über und Repräsentation für das Herkunftsland geprägt ist. Haugbolle unterstreicht die Bedeutung des Exilfilms gerade mit Blick auf die Aufarbeitung des libanesischen Bürgerkriegs und die verschiedenen – offiziellen wie oppositionellen, ideologischen wie

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künstlerischen – Erinnerungspolitiken. Das Medium Film wird dabei in den Kontext der kollektiven Produktion eines »emotionalen Archivs« eingeordnet. Der Verfasser zeigt zugleich, dass neben der Thematisierung des Bürgerkriegs auch ein kritischer Blick auf Multikulturalismus, nationale Identität und ethnische Zugehörigkeit im Exilland geworfen wird.

A NMERKUNGEN 1 | Dieser Ausdifferenzierung in Bezug auf die Thematisierung von Identität, Geschlecht und Migration im Film begegnet auch die Forschungsliteratur, in der in den letzten Jahren eine Vielzahl von Studien nicht nur zum Zusammenhang von Film, Identitätskonstruktionen und Migration entstanden ist, sondern zunehmend auch regionalspezifische Forschungen, aus denen hier nur eine Auswahl genannt sein kann: Annette Geiger u. a. (Hg.), Wie der Film den Körper schuf. Ein Reader zu Gender und Medien, Weimar: VDG 2006. Dagmar Hoffmann (Hg.), Körperästhetiken. Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit, Bielefeld: transcript 2010. Ulrich Meurer/Maria Oikonomou (Hg.), Fremdbilder. Auswanderung und Exil im internationalen Kino, Bielefeld: transcript 2009. J. Seipel: Film und Multikulturalismus. Repräsentation von Gender und Ethnizität im australischen Kino, Bielefeld: transcript: 2009. Beate Weghofer: Cinéma Indochina. Eine (post-)koloniale Filmgeschichte Frankreichs, Bielefeld: transcript 2006. 2 | Kimberlé Crenshaw: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine«, in: The University of Chicago Legal Forum (1989), S. 139–167. Kimberlé Crenshaw: »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color«, in: Stanford Law Review 6 (1991), S. 1241–1299. Nina Degele/ Gabriele Winker: Intersektionalität. Zur Analyse gesellschaftlicher Ungleichheiten, Bielefeld: transcript 2009. Vgl. auch Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp/Birgit Sauer (Hg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt/Main: Campus 2007. 3 | Nach wie vor grundlegend zum Zusammenhang von Gender und kollektiver Identität etwa Nira Yuval-Davis: Gender and Nation, London: Sage Publications 1997. 4 | Teresa de Lauretis: Alice Doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema, Bloomington: Indiana University Press 2000. 5 | Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld: transcript 2008.

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6 | Rey Chow in diesem Band, S. 19–32, hier S. 27. 7 | Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag 1995, S. 30. 8 | Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – Von Migranten und Touristen, Kiepenheuer & Witsch: Köln 2006. 9 | Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg 2007. 10 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. 11 | Vgl. hierzu beispielsweise einige Beiträge in dem Sammelband: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. 12 | Talal Asad: On suicide bombing: Calcutta: Seagull Books 2008.

Z ITIERTE F ILME »Alles für meinen Vater«, Regie: Dror Zahavi, Israel 2009. »Blind Pig Who Wants to Fly«, Regie: Edwin, Indonesien 2008. »Boys don’t Cry«, Regie: Kimberly Peirce, USA 1999. »Fremde Haut«, Regie: Angelina Maccarone, Deutschland 2005. »Gegen die Wand«, Regie: Fatih Akın, Deutschland/Türkei 2004. »Hombre«, Regie: Martin Ritt, USA 1967. »Lola und Bilidikid«, Regie: Kutluğ Ataman, Deutschland 1998. »Paradise Now«, Regie: Hany Abu-Assad, Israel, Niederlande/ Deutschland/Frankreich 2005. »Persepolis«, Regie: Marjane Satrapi/Vincent Paronnaud, Frankreich 2007. »The Bubble«, Regie: Eytan Fox, Israel 2006. »Zozo«, Regie: Josef Fares, Libanon 2005.

L ITER ATUR Asad, Talal: On suicide bombing: Calcutta: Seagull Books 2008. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg 2007. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag 1995.

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Crenshaw, Kimberlé: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine«, in: The University of Chicago Legal Forum (1989), S. 139–167. Crenshaw, Kimberlé: »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color«, in: Stanford Law Review 6 (1991), S. 1241–1299. Degele, Nina/Winker, Gabriele: Intersektionalität. Zur Analyse gesellschaftlicher Ungleichheiten, Bielefeld: transcript 2009. Geiger, Annette u. a. (Hg.), Wie der Film den Körper schuf. Ein Reader zu Gender und Medien, Weimar: VDG 2006. Hoffmann, Dagmar (Hg.), Körperästhetiken. Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit, Bielefeld: transcript 2010. Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – Von Migranten und Touristen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006. Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt/Main: Campus 2007. Lauretis, Teresa de: Alice Doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema, Bloomington: Indiana University Press 2000. Meurer, Ulrich/Oikonomou, Maria (Hg.), Fremdbilder. Auswanderung und Exil im internationalen Kino, Bielefeld: transcript 2009. Schaffer, Johanna: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld: transcript 2008. Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. Seipel, J.: Film und Multikulturalismus. Repräsentation von Gender und Ethnizität im australischen Kino, Bielefeld: transcript: 2009. Weghofer, Beate: Cinéma Indochina. Eine (post-)koloniale Filmgeschichte Frankreichs, Bielefeld: transcript 2006. Yuval-Davis, Nira: Gender and Nation, London: Sage Publications 1997.

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Film und kulturelle Identität Rey Chow

Wim Wenders’ Film »Die Brüder Skladanowsky« (»The Brothers Skladanowsky«, Teil I, 1994) erzählt von den Anfängen des Films in Deutschland. Er bietet wichtige Anhaltspunkte für die kontroversen Zusammenhänge von Film und kultureller Identität. Die Dreh- und Schnitttechnik der Stummfilmzeit verwendend schrieb Wenders zusammen mit seinen Studenten der Hochschule für Fernsehen und Film München, im entsprechenden Stil mit einer alten Handkurbelkamera gedreht, den Stiftungsmoment der Kinogeschichte in eine Erzählung von einem verlorenen und wiedergefundenen geliebten Menschen um. Beunruhigt von der bevorstehenden Abfahrt ihres Onkels Eugen, der sich auf eine lange Reise begeben will, fleht die fünfjährige Tochter von Max Skladanowsky ihren Vater und dessen anderen Bruder Emil an, Eugen in ihr Leben zurückzubringen. Ihr Wunsch wird erfüllt. Als es seinem Onkel zum Abschied winkt, wird dem kleinen Mädchen erzählt, er sei immer noch da und zwar in der Dose, die den Film enthält, den sie vor seiner Abreise von ihm gedreht hatten. Schon bald ist das Mädchen außer sich vor Freude, seinen Onkel Eugen durch das von seinem Vater erfundene »Bioskop« in Lebensgröße auf der Leinwand flimmern zu sehen, lustige Grimassen schneidend und akrobatische Kunststücke vollführend, ganz als ob er noch bei ihnen wäre. Onkel Eugen ist zwar persönlich nicht mehr anwesend, aber im Film wieder erschienen – und er wird dort für ewig sein. Wenders’ formvollendetes und bewegendes Werk über die Anfänge des Films erinnert uns an die Schlüsselmerkmale dieses Bedeutungsmediums, das in den 1890er Jahren noch neuartig war. Der Film (und hier beziehe ich mich sowohl auf die Fotografie als auch

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auf das Kino) ist zum einen, von seiner Struktur her, eine Erzählung von dem Verhältnis zwischen Abwesenheit und Anwesenheit sowie zwischen Verschwinden und Wiedererscheinen. In der filmischen Repräsentation wird die Welt mit einer den Künstlern zuvor unbekannten Abbildhaftigkeit reproduziert. Unabhängig davon, ob ein menschliches Gesicht, ein Körper, ein Objekt oder ein Ort festgehalten werden – die erzeugte Illusion der Präsenz ist derart, dass sich auf eine aggressive Weise ein neuer Realismus behauptet, der mit dem Leben selbst wetteifert. Wenn kulturelle Identität etwas ist, das sich in spezifischen Repräsentationsmedien verankert, dann ist es leicht verständlich, weshalb die illusorische Präsenz, die das Medium Film ermöglicht, in den kontroversen Aushandlungsprozessen um kulturelle Identität eine so große Herausforderung darstellt. Zum zweiten lenkt Wenders’ Arbeit, indem sie die wesentlichen Merkmale vieler früher Stummfilme erfasst, die Aufmerksamkeit auf die geschickten Bewegungen des menschlichen Körpers, die von den von Max Skladanowsky erbauten Geräten festgehalten wurden. Weil Ton und Dialoge noch nicht verfügbar waren, musste der Filmemacher die einzelnen Bestandteile in zahlreiche räumliche Einschreibungen auf der Leinwand umsetzen. Was hätte die Lebhaftigkeit dieser neuen Scheinwelt besser übermitteln können als die übertriebenen hieroglyphischen Bewegungen des menschlichen Körpers als Sequenz von bewegten Bildern? So wird der dem Film immanente, fesselnde fotografische Realismus von einer gleicherweise verlockenden Melodramatik unterstrichen. Diese technologisch übertriebenen Bewegungen heben die sich auf der Leinwand entfaltende Präsenz als künstliche und konstruierte Experimente hervor. Die Melodramatik ist hier weniger das Ergebnis sentimentaler Narration als vielmehr das Resultat karikierter Entfremdung einer vertrauten Form (der des menschlichen Körpers). Diese wurde durch innovative Licht- und Zeitspiele, wie auch durch Manöver von Belichtung und Verschlusszeit ermöglicht und hat direkte Auswirkungen auf die neu entstandenen Modi des Sehens und Zeigens. Die Koexistenz dieses beispiellosen Realismus mit der neuartigen Melodramatik weist darauf hin, dass die Verfahrensweisen der Identitätskonstruktion, die der Film seit seinen frühesten Anfängen bot, eher von relativer und relationaler als von essenzieller und beständiger Natur waren. Verschiedene Filmtechniken wie Montage, Nahaufnahmen, Panoramaaufnahmen, Totalen, Jump Cuts, Zeitraffer, Rückblenden und andere, führen zu Prozessen von Introjektion, Projektion

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oder Ablehnung, die sich zwischen den Bildern und Erzählungen auf der Leinwand und dem Bewusstsein des Publikums von sich selbst, dem Raum, der Geschichte und dem Genuss abspielen. Somit wird die Überlegenheit solcher Darstellungsweisen, die Relativität und Zusammenhänge hervorheben, bestätigt. Mit dem Aufkommen des Films kann das Selbstverständnis des Menschen nicht länger als ein rein ontologischer oder phänomenologischer Vorgang betrachtet werden. Eine solche Identifikation wird nun tiefgehend mit einer technologischen Intervention verstrickt, die sicherstellt, dass gerade (oder insbesondere) wenn die Kamera am wenigsten penetrant erscheint, das Durchdringen des filmischen Schauspiels durch die Apparatur vollständig und unbestreitbar ist. Und es ist diese Vollständigkeit des illusorischen Effekts, welche die Filmrezeption so kontrovers macht. Es war die Erkenntnis über diese grundsätzlich manipulierbare Beschaffenheit von Film – dieser bis zum Ende offenen Beziehung zwischen Schauspiel und Publikum infolge der paradoxen Vollkommenheit technologischer Durchdringung –, die Walter Benjamin dazu brachte, den Film mit revolutionärer Produktion und politischem Wandel zu assoziieren.1 Denn, wie Benjamin in den 1930er Jahren spekulierte, die durch und durch vermittelte Natur des Films schafft eine kulturelle Begebenheit, die für politische Zwecke instrumentalisiert wird. Genauso wie für den Filmschauspieler das Auftreten vor der Kamera einer Art Exil aus dem eigenen Körper gleicht, da dieses die Simulation emotionaler Kontinuität in einem aus technischer Sicht fragmentierten Produktionsprozess erfordert, besteht die neue Rezeptionshaltung des Publikums, so schreibt Benjamin, in Zerstreuung und Manipulation. Im Gegensatz zu der geistigen Vertiefung und Konzentration, die ein traditioneller Roman benötigt, der in Einsamkeit und im Privaten gelesen werden sollte, erfordert der Film eine in der Öffentlichkeit verortete simultane Kollektivrezeption. Diese Art von Interaktion ermöglicht dem Publikum die Kontrolle seiner Situation, indem es – statt unveränderliche – wechselnde Positionen einnimmt. Mit anderen Worten: Film verwandelt den Rezipienten potentiell in einen Produzenten, der bei der Gestaltung seiner oder ihrer kulturellen Umgebung eine viel mehr aktive als passive Rolle spielt. Während Benjamin in seinen marxistischen und Brecht‫ތ‬schen Momenten höchstens dazu bereit war, dem Filmpublikum den Stellenwert einer organisierten Masse einzuräumen, beschrieben spätere Generationen von Filmkritikern, besonders feministische Kritikerinnen mit psychoanalytischem Hintergrundwissen, die Handlungs-

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macht des Zuschauers weitaus komplexer als Prozesse der Subjektivitätsbildung. Diese Theoretikerinnen argumentierten, dass sowohl Fantasien, Erinnerungen und andere unbewusste Erfahrungen als auch die von der dominanten Kultur aufgezwängten Geschlechterrollen eine wichtige vermittelnde Funktion bei der Wirkung des Schauspiels auf das Publikum haben. »Suture« ist das Schlüsselkonzept, das psychoanalytische Interpretationen von Identität prägt. Im filmischen Kontext bezieht sich »Suture« auf die Interaktionen zwischen den Ausdrucksformen des filmischen Apparats, dem Schauspiel und dem betrachtenden Subjekt. Diese Interaktionen ermöglichen dem betrachtenden Subjekt Zugang zu kohärentem Sinngehalt, indem sie es auffordern oder »interpellieren«,2 eine Reihe wechselnder Positionen einzunehmen.3 Kaja Silverman schreibt: »Das Verfahren von Suture ist in dem Moment erfolgreich, in dem das betrachtende Subjekt sagt, ›Ja, das bin ich‹ oder ›Das ist das, was ich sehe‹.«4 Wie bereits im Begriff »Suture« selbst ausgedrückt – der wörtlich das Vernähen von Löchern bedeutet – ist die filmische Identifikation ein eminent ideologischer Prozess. Subjektivität wird vor allem als Mangel imaginiert, der dann durch seinen Wunsch nach Wissen vom visuellen Feld, ausgedrückt durch den omnipotenten Filmapparat, der mehr verschleiert als er offenbart, ausgenutzt wird. Um Zugang zu der Ganzheit zu erhalten, die die Grundlage von Identität ist, muss das Subjekt etwas von sich selbst aufgeben, um mit dem Anderen, dem visuellen Feld – das trotzdem für immer unerreichbar bleibt –, »verhakt« zu werden. Unabhängig davon, wie erfolgreich dieser Prozess verläuft, ist die Aneignung des Sinngehaltes durch das Subjekt per Definition nur kompensatorisch und unvollkommen. (Dieser Prozess der Subjektbildung durch »Suture« ist vergleichbar mit dem Versuch eines Individuums, in gewissen sozialen Situationen eine Identität zu erlangen. Um zum Beispiel von einer bestimmten sozialen Gruppe akzeptiert zu werden, muss ein Individuum bereit sein, gewisse Dinge zu opfern, zu denen es eine persönliche Verbindung verspürt, die aber gesellschaftlich nicht akzeptabel sind. Solche persönlichen Opfer garantieren jedoch nicht, dass die erlangte soziale Identität vollständig oder dauerhaft ist, denn, wie so oft, ist die soziale Gruppe unberechenbar und willkürlich in ihren Forderungen.) Da Kino Identifikationsprozesse durch visuelle Zusammenhänge in den Vordergrund rückt, ist es eines der explizitesten Systeme von »Suture«, dessen Verfahren effektiv durch den einfachen Akt des Se-

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hens erklärt werden kann. Indes ist das Kino homolog mit der gesamten dominanten Kultur, denn auch Letztere kann als ein repressives System gesehen werden, in dem einzelne Subjekte nur dann Zugang zu ihrer Identität erlangen, wenn sie Teile ihrer selbst aufgeben, Teile, die sie darüber hinaus niemals gänzlich wiederfinden werden. Seit der bahnbrechenden Arbeit von Laura Mulvey im Jahr 19755 haben feministische Kritikerinnen, die sich mit Identitätspolitik auseinandersetzen, unter Verwendung von »Suture«, Ideologie und anderen psychoanalytischen Konzepten die patriarchale Perspektive des Mainstream-Kinos und der dominanten, heterosexistischen Kultur des Westens aufgedeckt. Um den repressiven Effekten der dominanten Visualisierungs- und Identifizierungsverfahren entgegenzuwirken, analysieren einige Kritikerinnen detailliert die Mehrdeutigkeiten der Repräsentationen von Frauen.6 Andere wiederum greifen die Problematik des Zuschauens auf, insbesondere im Bezug auf ein weibliches Publikum, um alternative Sehweisen, Subjektivitäts- und Identitätskonstruktionen zu theoretisieren.7 Sobald Identität mit dem Prozess des Zuschauens verbunden wird, eröffnet sich ein neues Spektrum theoretischer Möglichkeiten. Zum Beispiel können die von Edward Saids »Orientalismus«8 beeinflussten Kritiker einen weiteren Zusammenhang feststellen. Als Signifikationssystem dient der Orientalismus, der für westliche Rezipienten im Zuge des okzidentalen Imperialismus nichtwestliche Kulturen repräsentiert, sowohl visuell als auch narrativ dazu, den »Orient« einer ideologischen Manipulation zu unterwerfen. Diese Kritiker weisen darauf hin, dass – wie auch die Darstellung der Frauen im klassischen narrativen Kino – Repräsentationen des Orients oft fetischisierten Objekten gleichkommen, hergestellt, um den maskulinen, westlichen Blick zu befriedigen. Um die kulturimperialistischen Annahmen hinter dem europäischen und amerikanischen Kino zu entlarven, gewinnt die Betrachtung nichtwestlicher Zuschauer zunehmend an Bedeutung.9 Da »Suture« Identität unverhandelbar als Ergebnis einer repressiven, wenn auch notwendigen Schließung konzeptualisiert, ist das Verfahren aus theoretischer Sicht präemptiv. Dies wird insbesondere anhand der beiden methodologischen Vorgehensweisen sichtbar, mit denen das Verhältnis von Film und Identität gewöhnlich untersucht wird. In beiden ist die Aufnahme des »Suture«-Begriffs unverzichtbar. Diese Akzeptanz kann sich negativ auswirken, wenn man den »Suture«-Begriff benutzt, um bestimmte Identitäten aufzudecken

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und als ideologisch, beispielsweise durch das Patriarchat oder den Imperialismus bedingt, zu kritisieren. Die Akzeptanz kann aber auch positiv und implizit funktionieren, nämlich in der kontrakritischen Praxis, die aufzeigt, dass einige Filme der Konstruktion anderer (meist marginalisierter) Identitätstypen dienen. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass selbst Kritiker, die darauf abzielen, die Mehrheitskultur subversiv in Frage zu stellen, und behaupten, dass »alternatives« Kino auch »alternative« Identitäten hervorbringt, sich theoretisch nicht von dem »Suture«-Konzept loslösen, solange sie Identitäten ausschließlich als klassische Interpellation von Subjektivitäten denken. Tatsächlich könnte man so weit gehen zu sagen, dass Kritiker, die versuchen, »andere« Identitäten in »anderen« Kinos zu idealisieren, eine größere Gefahr laufen, ideologisch zwingende Identifikationsprozesse durch »Suture« festzuschreiben. Aus diesen Gründen schlage ich vor, dass jeder Versuch, Film und kulturelle Identität zu theoretisieren, über eine bloße Kritik und ein implizites Festschreiben der Effekte von »Suture« hinausgehen sollte. In diesem Sinne könnte es ergiebig sein, zu Aspekten des Films zurückzukehren, die nicht unmittelbar mit Identität als solcher verbunden sind, sondern Alternativen zu den von »Suture« geschaffenen Sackgassen bieten. Denken wir genauer über die Folgen der Visualisierungsmethoden, die das filmische Medium mit sich bringt, nach. Um zur Geschichte der Skladanowsky-Brüder zurückzukommen: Was bedeutet es, wenn Onkel Eugen »erscheint«, obwohl er physisch abwesend ist? Aus einer anthropozentrischen Perspektive würden wir wahrscheinlich sagen, dass die Person Eugen das »Original« war, die »Realität«, die Anlass zur Produktion des Films gab, der dann zu einem Dokument, einer Aufnahme von ihm wurde. Aus der Perspektive der filmischen Bilder ist diese Annahme eines »Originals« jedoch nicht länger von essenzieller Bedeutung, denn Eugen ist nun ein Film, der eine unabhängige, mechanisch reproduzierbare Eigenexistenz angenommen hat. Mit der Zeit können immer mehr Nachauflagen produziert werden und jede wird gleich sein. Das »Original« Onkel Eugen ist nicht mehr relevant. Film, insbesondere weil er die vollständige Durchdringung der Realität durch den mechanischen Apparat und daher die Produktion einer makellosen Entsprechung der Realität selbst erzeugt, verdrängt ein für alle Mal die Eigenständigkeit des so genannten Originals, das oft eine unvollkommene und vergängliche Kopie seiner selbst ist: On-

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kel Eugens Bild existiert noch lange nach seinem Tod. Dieser unübersehbare Aspekt der filmischen Reproduktion unterstreicht Benjamins Argument über die Verkümmerung der Aura. Den Begriff verwendet er, um das unersetzliche Gefühl der Präsenz zu beschreiben, das traditionelle Kunstwerke auf so einzigartige Weise charakterisierte, als diese noch in bestimmten Zeiten und Orten verwurzelt waren.10 Das Alarmierende am Aufkommen des Films war (für viele Poeten und Künstler) ebendieses Fortfallen der Aura, eine Zerstörung, die in den filmischen Reproduktionsmodi vorprogrammiert ist und einen Teil der »Natur« des Films als Medium ausmacht. Dieser essenzielle Ikonoklasmus der filmischen Reproduktion wird in Wenders‫ތ‬ Geschichte durch das phantasmagorisch lebendige und immer wieder abspielbare Bild Onkel Eugens in dessen eigener Abwesenheit dargestellt. Dieses Bild kennzeichnet das Ende der Aura und der Heiligkeit, die die prototypische menschliche Gestalt einst besaß und die die menschliche Gestalt als Original charakterisierte. Es bedeutet auch einen Wandel hinsichtlich der Kompetenz des Sehens: Die realistische Exaktheit des Bildes zeugt davon, dass ein mechanisches Auge, das Auge der Kamera, das menschliche Auge komplett in seiner Fähigkeit, die Welt präzise zu erfassen und zu reproduzieren, ersetzt hat.11 Aufgrund ihrer Mechanik sind Filmbilder von unmenschlicher Qualität, selbst wenn sie von Menschen handeln. Folglich wurde der Film mit einem Prozess der Einbalsamierung,12 mit Versteinerung und dem Tod verglichen. Aber was der Film an Aura zerstört, gewinnt er an Beweglichkeit und Übertragbarkeit. Mit dem »Tod« eröffnen sich neue, ungeahnte Experimentiermöglichkeiten, denn in den mechanisch reproduzierten Bildern entfalten sich die »imagined communities«,13 so wie sie Benedict Anderson in seiner Analyse des Aufkommens des Nationalismus in der modernen Geschichte beschrieb. Dies zeigt sich zum Beispiel an den alltäglichen, anonymen Plätzen der Großstadt, die typisch für die frühen Stummfilme sind. Hier sind beispielsweise Walther Ruttmanns »Berlin – Die Sinfonie der Großstadt« (Deutschland 1927) (Abb. 1) und Dziga Vertovs »Der Mann mit der Kamera« (UdSSR 1929) zu nennen. Szenen von Arbeitern, die zur Arbeit gehen, Hausfrauen beim Einkaufen, Kindern auf dem Schulweg, Passagieren im Zug; Aufnahmen von Kutschen, Maschinen, Automobilen, Bahnhöfen, Schreibmaschinen, Telefonen, Rinnsteinen, Straßenlaternen, Ladenfronten – all diese Bilder zeugen von einer gewissen Faszination für die Möglichkeiten des Sehens, dafür, was alles sicht-

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bar gemacht werden kann. Das mechanisch reproduzierte Bild führt zu einer Wahrnehmung der Welt als unendlicher Sammlung von Objekten und Menschen, die für immer in ihrer eintönigen Existenz zur Schau gestellt werden. Gleichzeitig – weil der Film nicht nur reproduzierbar, sondern auch transportierbar ist – kann er an verschiedenen Orten gezeigt werden, meistens weit abgeschieden von den Plätzen, an denen er (ursprünglich) gedreht wurde. Da die Anfänge des Films weltweit mit der Erhebung der an traditionelle Lebensweisen und ans Land gebundenen Bevölkerungsgruppen und gleichzeitig mit den massiven Migrationen vom Land in die Stadt zusammenfielen, geht der Film omnipräsent von der Bedeutung des Monumentalen aus: Abb. 1: Neue und ungeahnte Möglichkeiten des Experimentierens – Ruttmanns »Berlin – Die Sinfonie der Großstadt« (Deutschland 1927)

Quelle: Rey Chow: »Film and cultural identity«, in: John Hill/Pamela Church Gibson (Hg.), Film Studies. Critical Approaches, Oxford/New York: Oxford University Press 2000, S. 170

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Der Kinosaal bringt, so schreibt Paul Virilio, wie ein Ehrenmal Ordnung in das visuelle Chaos. Der Kinobesuch befriedigt »den Wunsch der Wanderarbeiter nach einem dauerhaften und sogar ewigen Heimatland« und das Kino wird zu einem Ort »einer neuen Ursprünglichkeit inmitten der demografischen Anarchie«.14 Die ikonoklastischen, transportablen Kopien filmischer Bilder und das weltstädtische, in Bewegung begriffene Leben ihrer Betrachter führen dazu, dass Film ein vielseitiges Medium zur Erforschung einer kulturellen Krise ist – ein Medium, um die Kultur selbst als Krise zu untersuchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir zahlreiche Beispiele einer solchen Verwendung des Films in verschiedenen kinematografischen Kontexten gesehen: Die düsteren existentialistischen Porträts über den Zusammenbruch der menschlichen Kommunikation in italienischen und französischen Avantgarde-Filmen; die sentimentalen bürgerlichen Familienmelodramen Hollywoods; die ästhetischen Experimente mit Visualität und Narration im japanischen Kino; die selbstbewussten Parodien auf den Faschismus im Neuen Deutschen Kino; die explosiven Darstellungen von Diaspora und »Fremdheit« im sogenannten »Dritten Kino«.15 In den 1980er und frühen 1990er Jahren, als die ersten Filme von festlandchinesischen Regisseuren der fünften Generation erschienen, wurde deutlich, dass Film zur Erforschung von Krisen genutzt werden kann, besonders in Kulturen, deren Erfahrung mit der Moderne, wie in China, als Konflikt zwischen der indigenen Tradition und fremden Einflüssen, zwischen den Anforderungen des Nationalismus und der Verwestlichung gezeichnet ist. Für Regisseure aus Festlandchina wie Chen Kaige, Zhang Yimou, Tian Zhuangzhuang und Zhang Nuanxin beinhalten die Überlegungen zur »Kultur« zwangsläufig auch ein Überdenken ihrer Ursprünge – der »Vergangenheiten«, die die Gegenwart hervorgebracht haben; die Geschichten, Mythen, Rituale, Bräuche und Praktiken, die erklären, wie ein Volk zu dem wird, was es ist. Weil ein solches Überdenken mit dem historischen Verhältnis von Abwesenheit und Anwesenheit spielt, wird der Film für diese Regisseure und auch für solche in anderen Regionen Asiens16 zu einem bevorzugten Medium. Sein projizierender Mechanismus bewirkt, dass die Darstellung der Vergangenheit als das, was hinter uns liegt, gleichzeitig auch die Form von beweglichen Bildern einnehmen kann, die in ihrer lebendigen Leuchtkraft direkt vor uns ablaufen. Der einfache dialektische Zusammenhang zwischen visueller Absenz und visueller Präsenz, der von Anfang an durch das

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filmische Medium dramatisiert wurde, eignet sich daher hervorragend zur Veranschaulichung der Dilemmata und Widersprüche, der Nostalgien und Hoffnungen, die das Streben nach Modernität kennzeichnen. Diese Sehnsucht wurde beispielsweise in den Filmen »Yellow Earth« (1984), »Sacrifice Youth« (1985), »Judou« (1990) und »Raise the Red Lantern« (1991) dargestellt. Das eindeutig modernistische Bestreben, die eigenen Wurzeln neu zu entwerfen, verleiht den indigenen Traditionen den Stellenwert einer primitiven Vergangenheit, mit all den missverständlichen Bedeutungen des Begriffes »Primitivismus«. Diese besondere Überschneidung von Film und Primitivismus wird mit dem Begriff »primitive Leidenschaften« beschrieben.17 Da das Betrachten eines Films keine Bildung im traditionellen Sinne von Wissen, also keine Lese- und Schreibfähigkeit voraussetzt, markiert Film eine Transformation wortbasierter Kulturen hin zu visuell beherrschten Kulturen. Eine Wandlung, die als eine besondere Art der Übersetzung in einer postmodernen, postkolonialen Welt verstanden werden kann. Von Natur aus intersemiotisch, bezieht Film-als-Übersetzung auch geschichtliche Narrationen und Bevölkerungsgruppen mit ein, die bisher aufgrund begrenzter Bildung ausgeschlossen wurden. Somit fordert er die Klassenhierarchien heraus, die auf Bildungsniveaus basieren und als solche seit langem in den westlichen und östlichen Gesellschaften etabliert waren.18 Insofern filmische Bilder dauerhaft festgehalten werden, ist Film auch ein unermessliches visuelles Archiv, das Literatur, Popkultur, Architektur, Mode, Erinnerungsstücke und die Inhalte von Trödelläden in sich aufnimmt und darauf wartet, auf seine Bedeutungen und Verwendungsmöglichkeiten hin untersucht zu werden.19 Jeder Versuch, über Film und kulturelle Identität zu diskutieren, setzt daher voraus, dass man auch die mannigfaltigen Bedeutungen filmischer Visualität in der Moderne mit in Betracht zieht. Das trifft besonders dann zu, wenn die Moderne ein Teil der postkolonialen Situation ist, was auf viele nichtwestliche Kulturen zutrifft, in denen die Bemühungen, »modern« zu werden, von einer ständigen Revision der indigenen kulturellen Traditionen und gleichzeitig der obligatorischen Hinwendung zum Westen oder der »Welt im Allgemeinen« gekennzeichnet sind. Angesichts dessen sollte man bedenken, dass Film schon seit seinen Anfängen ein transkulturelles Phänomen ist, das die Kapazität besitzt, »Kultur« zu transzendieren, und eine Faszination zu schaffen, die unmittelbar zugänglich ist. Sie fesselt das

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Publikum auf eine Art und Weise, die unabhängig von sprachlichen und kulturellen Kompetenzen ist. Hier kann man beispielsweise die hochbeliebten Versionen von Märchenromanzen, Sex, Kitsch und Gewalt aus Hollywood oder den äußerst populären Slapstick-Humor und die Actionfilme von Jackie Chan aus Hongkong nennen. Selbstverständlich können solche beliebten Filme unweigerlich auch als Konstruktionen nationaler, sexueller und kultureller Identitäten und als Auferlegung westlicher, amerikanischer oder anderer Ideologien in der restlichen Welt gelesen werden. Ich leugne nicht einen Moment lang, dass dies zutrifft. Doch scheint es mir ebenso erwähnenswert, dass die weltweite Anziehungskraft vieler solcher Filme eher daher kommt, dass sie nicht an klar definierte Identitäten gebunden sind. Vielmehr sind es die spezifisch filmischen, wahrlich phantasmagorischen Bedeutungen von Maskulinität, moralischer Rechtschaffenheit, Liebe, Loyalität, Familie und Schrecken, die das Publikum, unabhängig von seinen eigenen Sprachen und Kulturen, weltweit ansprechen (Hitchcock soll während der Drehzeit von »Psycho« [USA 1960] angeblich gesagt haben, er wolle, dass die japanischen Zuschauer an denselben Stellen aufschreien wie das Publikum in Hollywood). Die phantasmagorischen Effekte der Illusion auf der Kinoleinwand erinnern erneut an die Bilderflut, die fundamentale Ersetzung der menschlichen Wahrnehmung durch die Maschine, die die ureigene Grundstruktur des Films bildet. Dieser originäre Ikonoklasmus, die Kraft des technisierten visuellen Bildes, über die verbale Sprache hinaus zu kommunizieren, sollte vielleicht als ein nützliches Rätsel betrachtet werden. Das könnte helfen, jede vorgefertigte Anschauung, die wir über Identifikationsprozesse haben, die der Film als Medium erzeugt, zu hinterfragen. Unabhängig davon, ob es sich um eine Identifikation in Bezug auf Subjektivität oder auf unterschiedliche kulturelle Kontexte handelt. In einem theoretischen Umfeld, in dem man sich Identitäten normalerweise – viel zu vorschnell, wie ich denke – als mit spezifischen Zeiten, Orten, Praktiken und Kulturen »vernäht« vorstellt, sollte es sich als aufschlussreiche Übung erweisen, die Problematik der transkulturellen Anziehungskraft des Films einer gründlichen Analyse zu unterziehen. Aus dem Englischen von Laura Coppens, Justyna Jaguscik und Claudia Riefert20

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A NMERKUNGEN 1 | Vgl. Walter Benjamin: »The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction«, in: Hannah Arendt (Hg.) und Harry Zohn (Übers.), Illuminations, New York: Schocken 1936/1969; Walter Benjamin: »The Author as Producer«, in: Peter Demetz (Hg.) und Edmund Jephcott (Übers.), Reflections: Essays, Aphorisms, Autobiographical Writings, New York: Schocken 1986. 2 | Louis Althusser: »Ideology and Ideology State Apparatuses (Notes towards an Investigation)«, in: Ben Brewster (Übers.), Lenin and Philosophy and Other Essays, New York: Monthly Review Press 1971. 3 | Vgl. Stephen Heath: Questions of Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1981. 4 | Kaja Silverman: The Subject of Semiotics, New York: Oxford University Press 1983, S. 205. 5 | Vgl. Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in Screen, 16/3 (1975), Neuauflage in: Constance Penley (Hg.), Feminism and Film Theory, New York: Routledge/London: British Film Institute 1989 (1989), S. 6–18. 6 | Vgl. Judith Mayne: Kino and the Woman Question: Feminism and Soviet Silent Film, Columbus: Ohio State University Press 1989; Mary Ann Doane u. a. (Hg.), Re-Vision: Essays in Feminist Film Criticisim, Frederick, Md.: University Publications of America; C. Penley (Hg.), Feminism and Film Theory. 7 | Vgl. Kaja Silverman: The Acoustic Mirror: The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1988; Teresa de Lauretis: Alice Doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1984; Teresa de Lauretis: Technologies of Gender: Essays on Theory, Film and Fiction, Bloomington: Indiana University Press 1987. 8 | Edward Said: Orientalism, London: Routledge, Kegan Paul 1978. 9 | Vgl. Rey Chow: Woman and Chinese Modernity: The Politics of Reading between West and East, Minneapolis: University of Minnesota Press 1991, S. 3–33. 10 | Vgl. W. Benjamin, »The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction«. 11 | Vgl. Jean-Louis Comolli: »Machines of the Visible«, in: Teresa de Lauretis und Stephen Heath (Hg.), The Cinematic Apparatus, London: Macmillan 1978. 12 | Vgl. André Bazin/Gray Hugh (Hg. u. Übers.): What is Cinema?, Berkeley und Los Angeles: University of California Press 1967, S. 9–16. 13 | Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 1983. 14 | Paul Virilio: War and Cinema: The Logistics of Perception, übers. von Patrick Camiller, London: Verso 1989, S. 39.

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15 | Vgl. Stuart Hall: »Cultural Identity and Diaspora«, in: J. Rutherford (Hg.), Identity: Community, Culture, Difference, London: Lawrence und Wishart 1990; Jim Pines/Paul Willemen (Hg.), Questions of Third Cinema, London: British Film Institute 1989. 16 | Vgl. Wimal Dissanayake (Hg.), Cinema and Cultural Identity: Reflections of Films from Japan, India and China, Lanham, Md.: University Press of America 1988. 17 | Vgl. Rey Chow: Primitive Passions. Visuality, Sexuality, Ethnography, and Contemporary Chinese Cinema, New York: Columbia University Press 1995. 18 | Vgl. R. Chow: Primitive Passions. 19 | Vgl. Thomas Elsaesser: New German Cinema: A History, New Brunswick, NJ: Rutgers University Press 1989, S. 322–323. 20 | Wir danken Oxford University Press für die Rechte der Übersetzung aus dem Englischen des Aufsatzes von Rey Chow: »Film and cultural identity«, in: John Hill/Pamela Church Gibson (Hg.), Film Studies. Critical Approaches, Oxford/New York: Oxford University Press 2000, S. 167–173.

L ITER ATUR Althusser, Louis: »Ideology and Ideology State Apparatuses (Notes towards an Investigation)«, in: Ben Brewster (Übers.), Lenin and Philosophy and Other Essays, New York: Monthly Review Press 1971. Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 1983. Bazin, André/Hugh Gray (Hg. u. Übers.), What is Cinema?, Berkeley, Los Angeles: University of California Press 1967. Benjamin, Walter: »The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction«, in: Hannah Arendt (Hg.)/Harry Zohn (Übers.), Illuminations, New York: Schocken 1936/1969. Benjamin, Walter: »The Author as Producer«, in: Peter Demetz (Hg.)/ Edmund Jephcott (Übers.), Reflections: Essays, Aphorisms, Autobiographical Writings, New York: Schocken 1986. Chow, Rey: Woman and Chinese Modernity: The Politics of Reading between West and East, Minneapolis: University of Minnesota Press 1991. Chow, Rey: Primitive Passions: Visuality, Sexuality, Ethnography, and Contemporary Chinese Cinema, New York: Columbia University Press 1995.

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Comolli, Jean-Louis: »Machines of the Visible«, in: Teresa de Lauretis und Stephen Heath (Hg.), The Cinematic Apparatus, London: Macmillan 1978. Dissanayake, Wimal (Hg.), Cinema and Cultural Identity: Reflections of Films from Japan, India and China, Lanham, Md.: University Press of America 1988. Doane, Mary Anne/Mellencamp, Patricia/Williams, Linda (Hg.), ReVision: Essays in Feminist Film Criticism, Frederick, Md.: University Publications of America 1984. Elsaesser, Thomas: New German Cinema. A History, New Brunswick, NJ: Rutgers University Press 1989. Hall, Stuart: »Cultural Identity and Diaspora«, in: J. Rutherford (Hg.), Identity: Community, Culture, Difference, London: Lawrence und Wishart 1990. Heath, Stephen: Questions of Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1981. Lauretis, Teresa de: Alice Doesn’t: Feminism, Semiotics, Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1984. Lauretis, Teresa de: Technologies of Gender: Essays on Theory, Film and Fiction, Bloomington: Indiana University Press 1987. Mayne, Judith: Kino and the Woman Question: Feminism and Soviet Silent Film, Columbus: Ohio State University Press 1989. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen, 16/3 (1975), Neuauflage in: Penley, Feminism and Film Theory, S. 6–18. Penley, Constance (Hg.), Feminism and Film Theory, New York: Routledge/London: British Film Institute 1989. Penley, Constance/Willis, Sharon (Hg.), Male Trouble, Minneapolis: University of Minnesota Press 1993. Pines, Jim/Willemen, Paul (Hg.), Questions of Third Cinema, London: British Film Institute 1989. Said, Edward: Orientalism, London: Routledge und Kegan Paul 1978. Silverman, Kaja: The Subject of Semiotics, New York: Oxford University Press 1983. Silverman, Kaja: The Acoustic Mirror: The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1988. Virilio, Paul: War and Cinema: The Logistics of Perception, übers. von Patrick Camiller, London: Verso 1989.

Medialisierungen von Grenzen

Das Geschlecht der Grenze Genderrepräsentationen von der Berliner Mauer bis zur EU-Außengrenze Ramón Reichert

D IE G RENZE ALS GESCHLECHTSSENSIBLER P OLITIKBEGRIFF In der feministischen Theoriebildung hat sich die Korrelation von Grenze und Gender als ein perspektivenreiches Forschungsfeld etablieren können.1 In diesem Zusammenhang ist der kritische Analysebegriff Gender nicht bloß hinsichtlich der Verfasstheit von Grenzsetzungen, sondern auch in Bezug auf mögliche Entgrenzungen und Grenzverschiebungen zu befragen.2 Beide Problemstellungen blieben bisher auf das Feld der Geschlechterforschung beschränkt und haben kaum zur theoretischen Neubestimmung der Geschlechtersignifikation der Grenze beigetragen. Diese Vernachlässigung der Genderrepräsentation von Grenzziehungen im politischen Raum hat historische und soziale Verwurzelungen. Letztlich führte sie dazu, dass die einflussreichsten Grenzziehungsdiskurse der jüngeren Vergangenheit (»Ost-West-Konflikt«, »Berliner Mauer«, »Eiserner Vorhang«) und Gegenwart (»EU-Außengrenze«, »Festung Europa«) als geschlechtsneutrale Exklusions- und Inklusionsformen stillschweigend akzeptiert werden konnten. Die medialen Inszenierungsformen der Grenze können folglich als bipolare Konstruktionsprozesse begriffen werden, in denen sich Produktions- und Rezeptionskontext wechselseitig bedingen und beeinflussen.3 Obwohl in Rezeptionskulturen das jeweils entworfene Bild der Grenze immer auch zur aktuellen Selbstverständigung über eine

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R AMÓN R EICHERT

dominante Identitätskultur dient (z. B. »Ost« versus »West«), generieren die maskulinistisch-hegemonialen Deutungskämpfe und Selbstbehauptungsgesten eine minoritäre Konstante, mit welcher Frauen aus den politischen Identitätsdiskursen ausgeschlossen werden. In diesem Aufsatz wird die Kernthese vertreten, dass politische, soziale und wirtschaftliche Grenzsetzungen in Prozesse der Vergeschlechtlichung des politischen Handelns eingebunden sind. Vor diesem Hintergrund wird dafür argumentiert, dass eine Grenze ein geschlechtssensibler Topos ist, der von Macht, Herrschaft und Interessen geordnet wird. Politische Prozesse der Grenzziehung sind gleichbedeutend mit Praktiken von Einschließung und Ausschließung. An Landes- und Zollgrenzen überlagern sich unterschiedliche Diskriminierungsformen, die weiblich oder männlich codierte Grundmuster von gesellschaftlich-politisch relevanter Ungleichheit als Handlungsgrundlage einer repressiven Migrationspolitik herausstellen. Diese Verflechtungszusammenhänge, die sich durch das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen ergeben, sind für die Intersektionalitätsforschung in besonderem Maße interessant.4 Grenzen im Allgemeinen sind eng mit kulturellen Setzungen von Geschlecht verknüpft und repräsentieren nationale, wirtschaftliche, polizeiliche oder militärische Politiken der Geschlechterhierarchisierung. Dementsprechend wird hier davon ausgegangen, dass die kritische Analysekategorie »Gender« für die Transformationen des Konzepts »Grenze« produktiv gemacht werden kann. In der Medienöffentlichkeit fallen Grenzen nicht voraussetzungslos vom Himmel. Um ihre Existenzberechtigung zu gewährleisten, müssen sie für spezifische Kommunikationsräume inszeniert werden, das heißt, sie müssen in der Medienarena politisch gerechtfertigt und plausibilisiert werden, um den Anspruch auf umfassende Verbindlichkeit zu erheben. In ihren medialen (Re-)Konstruktionen der Grenze reproduzieren die Medien Grenzsetzung als performative und soziale Praxis der Herstellung von Geschlecht und tragen zur Normalisierung von Geschlechterasymmetrien bei. Wenn aber Grenzen erst vermittels der Regeln des medialen Feldes in Szene gesetzt werden müssen, um eine maskulinistisch-hegemoniale Position erfolgreich besetzen zu können, dann muss eine genderpolitisch motivierte Problematisierung von Grenzsetzungen und -ziehungen immer zugleich eine medienkritische Sichtweise beinhalten und konkrete Vorschläge zur Analyse der Medienformate vorlegen.

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M ÄNNLICHKEITSKONSTRUK TIONEN DER M AUER Als maßgebliche Ikone des Kalten Krieges ist die Berliner Mauer bis heute ein Ort des kollektiven Gedächtnisses und der kulturellen Identitätspolitik.5 Mit dem Bau der Mauer geriet die sogenannte »Berlinkrise« zum Wendepunkt in der Geschichte des Ost-West-Konflikts und markierte eine Zäsur im medienpolitischen Kampf um das kulturelle Erinnern. Die Geschichte der Berichterstattung in den »Ost«- und »Westmedien« zeigt, dass sich das Bild der Mauer und des Eisernen Vorhangs allerdings widersprüchlicher, heterogener und vielschichtiger darstellt, als es die gegenwärtig dominierende Siegerperspektive vermuten lässt. Im Unterschied zu anderen politischen Symbolen fungierte die »Mauer« auch als gemeinsamer Bezugspunkt diametral entgegengesetzter Bildpolitiken. Einer dieser von »West«- und »Ostmedien« geteilten Bezugspunkte ist die männliche Vergeschlechtlichung der Ost/West-Grenze. In den bisher publizierten Untersuchungen zur medialen Repräsentation der Grenze zwischen West und Ost wurde stets von einem geschlechtsneutralen Topos ausgegangen.6 Die Binarität der Geschlechter ist jedoch eine dominante Konzeption des Mauerfilms. Von dieser Ansicht ausgehend kann das Forschungsfeld eröffnet werden. Infolgedessen wird hier eine historisch-vergleichende Untersuchung angestrebt, welche die Kernthese vertritt, dass die Genderrepräsentationen von »Zonen«- und Grenzfilmen bis heute von binären Geschlechterbildern geprägt werden. Im Unterschied zur fotografischen Darstellung der »Zonen«Grenze7 und der Berliner Mauer sind kinotechnische Verfahren befähigt, medienspezifische Codierungen vorzunehmen. So können etwa im Schuss-Gegenschuss-Verfahren oppositionelle Qualitäten wie »gut« und »böse«, »rückschrittlich« und »modern«, »friedlich« und »gewaltbereit« oder »weiblich« und »männlich« festgelegt werden. Dabei wird der filmische Gegenstand (Mauer) oder eine filmisch artikulierte Idee (Totalitarismus) mit einer spezifischen Eigenschaft (männlich/weiblich) konnotiert. In der filmischen Medienberichterstattung über die »Zonen«Grenze zwischen West und Ost dominieren Männlichkeitskonstruktionen.8 In dokumentarischen Formaten wie der Newsreel oder der Wochenschau strukturieren männliche Bau-, Verwaltungs- und Kontrollaktivitäten alle Zeichenregister der filmischen Repräsentation – von der Plotentwicklung, dem Point of View, dem Voice Over bis zur

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Figurenkonstellation. In der Regel sind den männlich konstruierten Grenzsujets weibliche Genderrepräsentationen beigefügt, welche auf die Charakteristik beschränkt sind, die männliche Attribuierung der Grenze zu bestärken. Innerhalb dieser Matrix fungieren männliche Figuren ausnahmslos als militärische oder polizeiliche Kontrollorgane. Die Herrschaft der männlichen Akteure im politischen Raum der Ost-West-Grenze ist eine Konstante, die Ost- und Westmedien gleichermaßen tradieren. Im Ost-West-Konflikt treten weibliche Figuren buchstäblich auf der Stelle, die einem häuslich-familiären Kontext entstammt und über kein eigenes Handlungsfeld verfügt. Der männliche Handlungsraum erstreckt sich hingegen über alle Sichtachsen hinweg und reicht vom Bildhintergrund bis zum Bildvordergrund: männliche Akteure bewachen nicht nur die Grenze, sondern üben auch Kontrolle über den filmischen Raum aus. In diesem filmischen Raum der Mise en Scène verfügen die weiblichen Figuren, die ausschließlich aus der Sicht ihrer »genuin« passiven Betroffenheitsperspektive in Erscheinung treten, über wenig Handlungsbewegung und bleiben statisch auf wenige Gesten beschränkt. Sowohl die Ost-Mauerfilme als auch die West-Mauerfilme weisen einen gemeinsamen Schnittpunkt auf.9 Mit ihren Männlichkeitskonstruktionen der Grenze produzieren sie eine spezifische Ästhetik der Geschlechterhierarchisierung, die im folgenden Filmvergleich aufgezeigt werden soll. Die Affirmation der eigenen kollektiven Identität zählt zu den zentralen Sujets der Berichterstattung in den »West«- und »Ostmedien«. Zu den in den westlichen Mauerfilmen vorherrschenden Strategien, den filmischen Raum zu organisieren, zählt die filmische Aufwertung des bürgerlichen Individuums durch den auktorialen Ich-Erzähler, der sowohl innerdiegetisch (filmische Figur) als auch vermittels des Voice Over (Off-Stimme) männlich repräsentiert ist. Im Jahr 1962 wird »The Wall« von der US-amerikanischen Wochenschau-Agentur Hearst Metrotone News produziert. Koproduzent ist die U.S. Information Agency, Regie der 9-minütigen Dokumentation führt Walter de Hoog. In »The Wall« verdichtet sich die visuelle Kultur der westlichen Mauerdarstellung auf kanonbildende Weise und thematisiert dabei die Auswirkungen des Kalten Kriegs im Alltagsleben von Betroffenen. Als Schauplatz ist die geteilte Stadt Berlin als das Symbol des Kalten Kriegs gewählt. Die erste Minute in »The Wall« wird im den Betrachter vereinnahmenden Plural des »We« erzählt, in der zweiten Minute wechselt die Narration und es

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wird ein männlicher Ich-Erzähler eingeführt, um die Geschichte des Mauerbaus als persönliches Schicksal darstellbar zu machen. Die Narration des Ich-Erzählers wird mit einer weiteren subjektiven Kamera eröffnet, die im Inneren der Wohnung des Protagonisten positioniert ist. Der männliche Ich-Erzähler etabliert das Motiv der verlorenen Mutter mit dem Satz »My Mother lives over there« und zeigt dem Kinopublikum das gegenüberliegende Haus. Das Haus der Mutter ist durch die Mauer nicht zugänglich. Die Familien sind voneinander getrennt. Handsignale zwischen den Wohnungen in Ost und West »sind verboten«, so der Kommentar. In der nächsten Einstellung wird die Trennung von den eigenen Kindern thematisiert. Der Protagonist wird beim Austauschen von Handzeichen aus starker Untersicht aufgenommen, um die heroische Positionierung der Figur visuell zu verstärken. Dabei wird beliebiges Found Footage10 montiert, denn der Protagonist kommuniziert »nicht wirklich« mit seinen eigenen Kindern. Es werden im Gegenschuss mehrere mögliche Ansprechpartner jenseits der Mauer ins Bild gerückt. Diese Bildrhetorik fungiert als Verallgemeinerung eines einzelnen »Schicksals« und plausibilisiert die Identifikation mit dem männlichen Protagonisten. Der sogenannte »Mauer-Film« hatte ausschließlich im Westen Konjunktur – vor allem unter den Vorzeichen einer politischen Standortbestimmung. In der DDR und in den Ost-Medien (wie z. B. die Wochenschauen der Polska Kronika Filmowa oder der tschechoslowakischen Krátký Film, die beinahe ausschließlich auf das Archivmaterial der DDR-Wochenschau »Der Augenzeuge« zurückgriffen) wurde die Mauer der Repräsentationskultur offizieller Politik entsprechend als »antifaschistischer Schutzwall« und »Sicherung der Staatsgrenze« heroisiert, blieb aber visuell weitgehend abwesend.11 Während die Dokumentation rund um den Mauerbau in der westlichen Publizistik einen festen Motiv- und Themenkanon ausbildete, marginalisierte die Medienberichterstattung der DDR und der angrenzenden Ostblockstaaten das Thema der Mauer-Legitimation und operierte stattdessen mit einem weitverzweigten Set visueller Stereotypen und Analogien bei der Konstruktion von Selbst-, Feind- und Fremdbildern.12 1962 beauftragte das DEFA-Dokumentarfilmstudio den Regisseur Karl Gass mit der Herstellung eines repräsentativen Dokumentarfilms als filmische Legitimation der Berliner Mauer.13 In »Schaut auf diese Stadt« geht es inhaltlich darum, die DDR-Perspektive des Mauerbaus zu rechtfertigen. Im 84-minütigen Film wird der Mauerbau zwar rhetorisch gefeiert, das Bild der Mauer und Bilder vom Mauer-

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bau bleiben jedoch weitgehend abwesend. Abbildung 1 zeigt eine der raren Einstellungen zu den Befestigungsarbeiten am 13. August 1961 an der »Zonen«-Grenze in Berlin. Die Szene ist mit dem Teleobjektiv aufgenommen und zeigt in der Halbtotale Grenzsoldaten beim Aufstellen eines Betonpfostens. In dieser Mauerszene – der einzigen im Film – dominiert aber der Arbeitsaspekt beim Aufbau der Grenzbefestigung: Es sind die Arbeiter und nicht die Grenze selbst, die im Bildzentrum und damit im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Der Mauerbau selbst ist lediglich in einer sehr kurzen Einstellung von einer Sekunde zu sehen. Abb. 1: Aus »Schaut auf diese Stadt«

Abb. 2: Aus »Schaut auf diese Stadt«

Quelle zu Abb. 1–2: DDR 1962, Regie: Karl Gass. DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme, Berlin-Johannisthal, © Progress Film Verleih, Berlin

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Die emotionale Lücke der Grenzsetzung füllt der Film mit der Nahaufnahme einer Frau, die Teil einer sich auf der Straße versammelnden Menschenmenge ist und die eine visuelle Begründung für die Grenzsicherung und den Bau der Mauer darstellen soll (Abb. 2). In halbnaher und naher Einstellungsgröße wird ihr Gesicht in Szene gesetzt. Die Aufnahme operiert mit dem Stilprinzip der Synekdoche (pars pro toto): Das mimisch und gestisch präsentierte Affektbild der Frauenfigur soll die (bedingungslose) Unterstützung der Bevölkerung für den Mauerbau anzeigen. Im Rahmen dieser Montagesequenz wird eine junge Frau gezeigt, die in ihrer Funktion als mütterliches Rollenvorbild die »Zukunft der DDR« allegorisch verkörpert. Um die pazifistische Mission des Mauerbaus hervorzuheben, wird die weibliche DDR-Allegorie mehrmals hintereinander in Großaufnahme gezeigt: Sie beugt sich glücklich über ihr Baby; sie übergibt ihr Baby der Obhut einer Kinderkrippe als Mustereinrichtung des Sozialismus (Abb. 3, 4). Mit der Überantwortung ihres Kindes an die staatliche Einrichtung darf sie sich in ein politisches Subjekt verwandeln; sie applaudiert dem Aufmarsch und der politischen Kundgebung der DDR-Führung. Das von der US-Wochenschau-Agentur »Universal News International« produzierte Newsreel »The Berlin Wall« (USA 1961) verlagert die stereotype Darstellungsweise des Mauerfilm-Genres. Im Jahr 1961 werden zeitgeschichtliche Bilder auf audiovisueller Basis sowohl durch die Wochenschau als auch das Fernsehen angeboten. International agierende Wochenschau-Agenturen wie die »Universal News International« montierten ihr Bildmaterial zu Dokumentationen über die Berliner Mauer und belieferten damit die Kinos. »Universal News« waren eine Serie von 7- bis 10-minütigen Nachrichtenfilmen, die im Kino ein- oder zweimal pro Woche im Zeitraum von 1929–1967 gezeigt wurden. Ohne dass der Film seine eigene Abweichung explizit in Szene setzen würde, schafft er filmischen Raum für den »weiblichen Blick«, der den im Film gezeigten Mauerbau von außen (und räumlich gesehen von oben) wahrnimmt. Die Mise en Scène zeigt männliche Grenzpolizisten, welche die Berliner Mauer mit Ziegelsteinen und Zement aufrichten. Dieses Bild ordnet die Montage von »The Berlin Wall« allerdings nicht einem objektivierenden Blick zu, sondern den mehrmals gezeigten Frauen, welche die Männer bei ihrer Tätigkeit beobachten. Auf den ersten Blick scheint es, dass die aus den Fenstern blickenden Frauen von der Mauer (und von den männlichen Figuren) eingesperrt werden würden.

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Doch beinahe einmalig in der Geschichte des Mauerfilms ist hier die Inszenierung des »weiblichen Blicks« als voyeuristischer und beobachtender Blick. Das detaillierte Beobachten von Handlungen wurde bisher dem männlichen Voyeur zuerkannt. Im Falle des Mauerbaus verkehrt sich dieses Blickverhältnis und Frauen nehmen eine subjektive Blickposition ein. Posierten Frauen in der Filmgeschichte primär als Objekte vor der Kamera, werden in »The Berlin Wall« Frauen als aktive Blicksubjekte etabliert und durchbrechen somit das Blickregime »Subjekt = männlich« und »Objekt = weiblich« (Abb. 5 und 6). Die Frauen verfügen in der kontrastierenden Montage von »The Berlin Wall« über einen technischen Blick, der über die Natur Abb. 3: Aus »Schaut auf diese Stadt«

Abb. 4: Aus »Schaut auf diese Stadt«

Quelle zu Abb. 3–4: DDR 1962, Regie: Karl Gass. DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme, Berlin-Johannisthal, © Progress Film Verleih, Berlin

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des Mehrsehens hinausgeht: sie werden mit der Wahrnehmungstechnologie eines Zoom-Objektivs ausgestattet, das Ereignisse aktiv zu fokussieren vermag. Die Parallelmontage in »The Berlin Wall« relativiert den subversiven Blick der aktiv beobachtenden Frauen allerdings dadurch, dass die Frauen eingesperrt in ihren Häusern gezeigt werden. Damit wird der Aspekt der Viktimisierung der ostdeutschen Bevölkerung feminisiert: die weiblichen Figuren werden als Opfer in Szene gesetzt und repräsentieren das Rollenklischee weiblicher Hilflosigkeit, das stellvertretend die Ost-Bevölkerung signifizieren soll. Diese Einstellung suggeriert, dass das Ost-Regime seine Frauen im Haus als Gefängnis einsperre. Die hier illustrierte Sequenz wird nach dem Prinzip der assoziativen Montage aufgebaut, wie sie seit dem russischen Revolutionskino bekannt ist: Dabei dominiert der Verzicht auf einen informativen Establishing Shot à la Hollywood seit Griffith, im Vordergrund steht die räumliche »Beziehung« zwischen männlichem Abb. 5: Aus »The Berlin Wall«

Abb. 6: Aus »The Berlin Wall«

Quelle zu Abb. 5–6: USA 1961. Universal News International

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Unterdrücker und weiblichem Opfer. Dieser vordergründigen Konstruktion der Opferrolle der weiblichen Figuren in »The Berlin Wall« widerspricht jedoch die Blickposition der Frauen, die auch als das Unbewusste der medialen Repräsentation angesehen werden können: denn es sind die Frauen, denen ein selektives und zugleich rahmendes Sehen zugestanden wird. Dieser Blickvorteil der weiblichen gegenüber den männlichen Figuren ist eine spezifische kinotechnische Konstruktion der West-Wochenschauen, um den Ost-Mauerbau auf der Ebene der visuellen Kodierungen des filmischen Bildes zu kritisieren. In diesem Sinne soll sich »der westliche Blick« auf den Ost-Mauerbau idealiter mit dem Blick der weiblichen Figuren auf die männlichen Erbauer der Mauer identifizieren, um die Mauer »anzuprangern«. Die im Film in Szene gesetzten Frauen sind es, welche hier die Männer beim Mauerbau taxieren und dies von einem privilegierten Standpunkt (von oben nach unten) aus tun. Die weiblichen Figuren nehmen in dieser Hinsicht die Position des Blicks ein (narrativ-ironisierender Point of View) und sehen mehr als die arbeitenden Männer (die Objekte des »weiblichen Blicks«),14 die sich letztlich ihren eigenen Blick im Mauerbau verbauen (die Mauersteine füllen die gesamte Kadrage), bis sie nichts mehr sehen. Die Binarität der Geschlechter ist nicht nur eine dominante Konzeption des Mauerfilms, sondern prägt weitgehend die populäre und popularisierende Bildkultur gegenwärtiger Grenzdarstellungen. Am Beispiel von Genderrepräsentationen der Fernsehbilder der EU-Außengrenze können nicht nur Traditionslinien, sondern auch Verschiebungen in den Männlichkeitskonstruktionen der Grenze thematisiert werden. Da die Medienberichterstattung in Kino und Fernsehen das kollektive Imaginäre der Mauer nachhaltig geprägt hat, kann man es mit den aktuellen Bildern der EU-Außengrenze in Beziehung setzen.

K ONTROLLBILDER DER EU-A USSENGRENZE Die Grenzzäune der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika gehören seit ihrer Errichtung im Jahr 1995 und 1996 zu politischen Ikonen der »Festung Europa«. Beide Städte haben im Rahmen des Schengener Abkommens zur Sicherung der europäischen Außengrenze einen Sonderstatus, da sie die einzigen Landesgrenzen der EU zum afrikanischen Kontinent darstellen. Beide Grenzanlagen

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sollen das EU-Territorium vor »illegaler« Migration sichern und sind mit EU-Geldern errichtet worden.15 Einen maßgeblichen Anteil an der Aufwertung und Verbreitung des Grenzzaunes als Ikone der »Festung Europas« haben Fernsehbilder geleistet: »Dass in den Reportagen und Dokumentationen immer häufiger und fast schon vorhersagbar Bilder von der Grenzanlage in Ceuta auftauchen, liegt vor allem daran, dass sie für das Bildmedium Fernsehen als ein Realsymbol fungiert.«16

Der spanische Grenzschutz, die Guardia Civil, instrumentalisierte die Kontrollbilder der Überwachungskameras für die Legitimation der eigenen – und vielerorts kritisierten – Flüchtlingspolitik17 und bot sie dem Fernsehen zur Veröffentlichung an. Heute werden Bilder der Überwachungskamera in Nachrichtensendungen vermehrt eingesetzt, um Authentizität zu evozieren. Im Fernsehen wird auf diese Weise jedoch nicht mehr die »reine« und »unverfälschte« Authentizität, Realität oder Wahrheit sichtbar gemacht, die der Fiktion, Fantasie oder Narration gegenübersteht, sondern eine fiktionalisierende Darstellung des Authentischen, die erst mit der Medialisierung der Nachrichten entsteht. Die Kontrollbilder der Überwachungskameras, welche im Verwendungskontext der Guardia Civil entstanden sind, demonstrieren in der totalisierenden Kameraperspektive einen starr-mechanischen Überwachungsblick, der das Authentizitäts- und Objektivitätspostulat bei weitestgehender Zurückdrängung eines auktorialen Einflusses repräsentieren soll. Diese Aufnahmen suggerieren eine objektive Wahrnehmungskontrolle über das Geschehen – die Überwachungskamera kann in diesem Zusammenhang auf ein registrierendes Aufnahmemedium reduziert werden. Mit der Fixierung des Blickpunkts, der Festlegung des Bildrahmens, der unbeweglichen Kameraführung und der starren Fokussierung des Bildfeldes wird nicht nur die Überwachungskamera als protokollierende Instanz, sondern auch ihre Videoästhetik (Unschärfe, Sicherheitsbeleuchtung, Nachtaufnahme, Vogelperspektive) als evidenzstiftende Besonderheit aufgewertet. Die unbewegte Kamera und die statische Einstellung auf ein determiniertes Bildfeld können in den folgenden Diskursivierungen des Filmmaterials in den Nachrichtenformaten als visuelle Kennzeichen einer sich selbst aufzeichnenden Natur veranschlagt werden. In zahlreichen Hintergrundberichten über die EU-Außengrenze bei Ceuta

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und Melilla wird immer wieder die Einsatzzentrale der Guardia Civil gezeigt, die männliche Beobachter vor Computermonitoren zeigt und verdeutlicht, dass Videoüberwachung nicht nur zu den Kernbereichen polizeilicher Kontrollaufgaben zählt, sondern einem männlich dominierten Produktions- und Rezeptionskontext entstammt, da das gezeigte männliche Kontrollpersonal die Filmaufnahmen zugleich sichtet, interpretiert und überwachungsrelevante Aufnahmen in eigenen Dokumenten speichert und archiviert. Mit der Statik der statisch montierten Überwachungskamera und der Stabilität des filmischen Bildraums plausibilisiert sich eine objektivierende Wissensrepräsentation der Migration. Gleichermaßen soll aber das Fernsehen in seiner Funktion als wahrheitsstiftendes Medium aufgewertet werden. Hier kommt nun der Rezeptionskontext ins Spiel, und mit ihm tritt die männliche Nachrichtenstimme auf, die einen zusätzlichen Bedeutungsrahmen der Überwachungsbilder aufspannt. Neben der abstrakten Gewalt der statischen Überwachungsbilder in der Totale und der »Geisterstimmen« der spanischen Guardia Civil etabliert sich mit dem männlichen Voice-Over-Kommentar des Nachrichtensprechers eine zusätzliche dritte Bedeutungsebene der männlichen Konstruktion der Grenze. Mit der Verwendung der Überwachungsbilder wird aber auch das Fernsehen als Medium inszeniert, das seine Berichterstattung auf die fernsehimmanente Beglaubigungsstrategie abstimmt, in der es darum geht, den medienspezifischen Stellenwert der Fernsehnachrichten (Aktualität, Bewegtbild) hervorzuheben. Vor diesem Hintergrund schreibt der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seiner Abhandlung »Über das Fernsehen«: »Die politischen Gefahren, die mit der üblichen Nutzung des Fernsehens verbunden sind, kommen daher, dass es erzeugen kann, was Literaturkritiker den effet du réel nennen, den Wirklichkeitseffekt: Es kann zeigen und dadurch erreichen, dass man glaubt, was man sieht.«18

Das von der Guardia Civil zeitlich fiktionalisierte Überwachungsvideo wird in der weiteren Verwendung und Ausstrahlung durch diverse Fernsehsender als authentisches Abbild (eye-witness) einer außerfilmischen Wirklichkeit präsentiert.19 Diesem Anspruch widersprechen allerdings die in der Postproduktion zusätzlich eingebrachten Evidenzstrategien (Off-Kommentar, Schriftinserts, Timecode), die das dokumentarische Filmbild zusätzlich mit einem erzählerischen

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Bedeutungszusammenhang konnotieren: so wurde das filmische Archivmaterial in mehreren Versionen etwa mit akustischen Signalen (z. B. Schritte) und (anonymisierten) Lautäußerungen (z. B. Zurufe) synchronisiert, um die auratische Authentizität des Sichtbaren zu verstärken.20

D IE POLITISCHE D IMENSION DES Z EITR AFFERS Um das Bildmaterial in seiner Aussagekraft zu verstärken, veränderte der spanische Grenzschutz das filmische Zeitkontinuum mit Hilfe der Zeitraffertechnologie. Zu sehen sind Nachtaufnahmen »illegaler« Überquerungen der Grenzanlagen, die oft im Zeitraffer wiedergegeben worden sind, um den Eindruck einer »massenhaften Erstürmung« der Grenzanlagen zu suggerieren. Die filmische Technologie des Zeitraffers hat folglich maßgeblich dazu beigetragen, ein medial generiertes Bild vom angeblichen »Anschlag auf die Grenze« und vom »Ansturm auf die Festung Europa« zu konstruieren.21 Der Zeitraffer ist eine seit den Anfängen des Kinos gebräuchliche Erzähltechnik, um die Ereignisse vor der Kamera auf spektakuläre Weise narrativ zu verdichten und damit Unsichtbares sichtbar zu machen.22 Mit dieser Technologie werden Raum und Zeit zum Experimentierfeld medialer Repräsentation definiert; die dargestellten Akteure werden dadurch verfügbarer Bestandteil einer filmtechnischen Manipulation. Die hier im Zeitraffer dargestellten nächtlichen Kontrollbilder von der EU-Außengrenze zeigen die Überquerungen der Grenzzäune zusätzlich aus mehreren Perspektiven (overlapping editing), die einen Teil des Geschehens aus einem anderen Blickwinkel wiederholen. So ist in der zweiten Einstellung ein Zeitmoment zu sehen, der bereits von der ersten Einstellung her bekannt ist. Die Schnittmontage der Guardia Civil bricht damit mit der narrativen Zeitachse dokumentarischer Echtzeit und operiert mit einer Schnitttechnik, die darauf abzielt, »Action« herzustellen (Abb. 7 und 8). Die filmische Transformation vermittels der Zeitraffer-Aufnahme kann folglich nicht nur als ein apparatives, sondern auch als ein epistemisches Stilelement geltend gemacht werden, das Rezeptions- und Wahrnehmungskulturen medial überformt. Es kommt zu folgender Aufteilung: die filmische Technologie macht als Mehrwissen etwas sichtbar, das den einzelnen Akteur/inn/en so nicht bewusst ist. Damit markiert die Zeitraffer-Technologie einen Wissensvorsprung, der

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den Betrachter/innen (den »Europäer/inne/n«) eingeräumt und dem Betrachteten (den »Afrikaner/inne/n«) aberkannt wird. Die Zeitraffer-Aufnahme kann vor diesem Hintergrund auch als eine sinnbildliche Visualisierung der in der Medienberichterstattung phrasenhaft verwendeten Flutsymbolik verstanden werden. Sie dient in diesem Zusammenhang vor allem dazu, die neorassistische Bildmetapher von »eindringenden Flüchtlingen« als unabzählbare »Masse« oder »Strom« abzurufen. Ein weiteres Referenzbild ist die Bildsymbolik der Festung und des Festungssturms: die von den »Afrikanern« gebastelten Leitern stehen in diesem Zusammenhang für eine »anachronistische« und »naive« Methode der Kriegsführung, die der Hochtechnologie der europäischen Grenzüberwachung gegenübergestellt wird. Die Pictura »Festung« dient »zur affirmativen Anschauung der als überlebensnotAbb. 7: Aus ORF, »Weltjournal«

Abb. 8: Aus ORF, »Weltjournal«

Quelle zu Abb. 7–8: Weltjournal, 5. Oktober 2005, Fernseharchiv ORF, Archivnr. Z/IX/0132912, Ausschnitt: Nachtaufnahme Guardia Civil

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wendig geltenden, Sicherheit und Stabilität garantierenden Maßnahmen zur Sicherung der europäischen Außengrenzen«.23 In den Nachtaufnahmen der EU-Außengrenze in Ceuta und Melilla verdichten sich intermediale und intertextuelle Bezüge, die aus der zwingenden Rahmenbedingung zeitlicher Begrenztheit hervorgehen. Ihr televisionärer Repräsentationsmodus der dramaturgisch verdichteten Filmzeit zielt in Schnitt und Montage auf die Herstellung einer Nichtnormalität: Sie zeigen das »ethnisch« begründete Feindbild eines finsteren Kollektivs, das sich die Zugehörigkeit zur europäischen Gemeinschaft auf illegitime Weise »erschleichen« will: »Der neue Rassismus ist ein Rassismus der Epoche der ›Entkolonialisierung‹, in der sich die Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten ›Mutterländern‹ umkehrt.« 24

Nach Étienne Balibar beschränken sich die Medienpraktiken des Neorassismus, der sich um den Komplex der Immigration herausgebildet hat, darauf, »die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten«.25 Der Zeitraffer ist in diesem Sinne weit mehr als nur ein filmischer Stil oder ein filmisches Verfahren: ihm ist eine politische Dimension inhärent. Seine Medienspezifik trägt wesentlich zur diskursiven Codierung und medialen Verbreitung des Bildes von Einwandernden als »gefährlicher Andrang«, »anonyme Masse« und »bedrohliche Flut« bei. Die nächtlichen Bilder aus Ceuta zeigen ausschließlich die eindringende Masse, die sich scheinbar »hemmungslos« und »unaufhaltsam« ihren Weg über die EU-Grenze bahnt. In diesem Konnex wird Migration auf eine kriminalisierte Grenzüberschreitung reduziert, die zur polizeilichen, administrativen und sozialen Überforderung zu werden droht. Die erst im Zeitraffer sichtbar gemachten Massen von Eindringlingen zeichnen ein bedrohliches Bild einer außer Kontrolle geratenen Zu- und Einwanderung. Im Kontext der »illegalen« Grenzüberschreitung der EU-Außengrenze wird der Zeitraffer vor allem dazu eingesetzt, um die Flüchtlinge zu depersonalisieren und sie als anonyme Masse in Szene zu setzen. Ausgeblendet werden soziale, politische und ökonomische Motive der Migration. Die Zeitraffer-Aufnahme relativiert den Realitätseindruck der Überwachungsbilder, indem sie ein neuartiges dramaturgisches Element etabliert: sie verdichtet die dargestellten Ereignisse und erzeugt ein künstliches Bild einer ununterbrochenen Massenbewegung.

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Sie simuliert dabei einen statistischen Blick, indem sie vorgibt, alle »illegalen« Phänomene, die sich im Laufe einer einzigen Nacht ereignet haben, abzubilden. Schließlich kumuliert die Ästhetik des Zeitraffers die dokumentierten Vorfälle am EU-Grenzzaun nicht mit dem Ziel, die Fälle in ihrer distinkten Besonderheit darzustellen, sondern erzeugt – diametral entgegengesetzt – das Bild eines amorphen und gesichtslosen »Ansturms«, dem die zuständigen Sicherheitsbehörden nicht (mehr) gewachsen sein sollen. Da die Aufnahmen vom spanischen Grenzschutz selbst in Umlauf gebracht worden sind, können sie auch als ein Appell an die EU verstanden werden, mehr in die Sicherheit ihrer gemeinsamen EU-Grenzanlagen zu investieren, um den suggerierten »Ansturm« auf die »Festung Europa« einzudämmen. Die Überwachungsbilder von der EU-Außengrenze verzichten auf Affektbilder in Nahaufnahmen, um mit dem totalisierenden Blick auf die amorphe Masse der Flüchtenden die Maßnahmen der autoritären und repressiven Gewalt aufrechtzuerhalten. In den historischen Mauerfilmen dienten – wie oben gezeigt wurde – die weiblich konnotierten Affektbilder in Nahaufnahme dem stereotypen Aufbau von Opferrollen. Diese Komponente fehlt in den Fernsehberichten zum »Ansturm« auf die »Festung Europa«. Die hier untersuchten Aufnahmen entstammen den Überwachungskameras der spanischen Grenzpolizei und markieren einen neuartigen Trend der Informationspolitik in der Medienberichterstattung.26 Seit Mitte der neunziger Jahre tauchen dokumentarische Bilder der Videoüberwachung und anderer visueller Kontrollsysteme zur Beweissicherung und Evidenzstiftung im öffentlichen Diskurs auf. Kritiker der zunehmenden Videoüberwachung öffentlicher Räume machen darauf aufmerksam, dass die Videokameras weniger als ein Kontroll- und Überwachungsinstrument der Verbrechensbekämpfung, sondern vielmehr ihre Bilder als ein kulturelles Phänomen unserer Zeit erinnert werden.27 Es ist eine neue visuelle Kultur der Überwachung entstanden, die heute Bestandteil des kollektiven Erinnerns ist.28

Z USAMMENFASSUNG Auf der einen Seite repräsentiert die Überwachungstechnologie der EU eine neue Form der abstrakten Gewalt über das Grenzgebiet der EU-Außengrenze bei Ceuta und Melilla. Die vor diesem Hintergrund entstandenen Überwachungsbilder der Grenze signifizieren den angeblich »objektiven« Blick auf das Grenzgeschehen mit einem männ-

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lichen Voice Over, der außerhalb des Bildes als »Geisterstimme« den Bildinhalten Bedeutung verleiht. Die männliche Stimme verkörpert im unsichtbaren Off eine protokollierende (Aufzeichnung) und kontrollierende Instanz (Identifizierung) und wird in der Fernsehausstrahlung entweder von einem Grenzpolizisten der Guardia Civil oder von einem Nachrichtensprecher besetzt. Andererseits transformieren die Überwachungsbilder die Migrationsbewegung in einen statischen Belagerungszustand. Die Belagerung des EU-Grenzzaunes wird aus der Sicht einer Überwachungskamera gefilmt. Sie zeigt in einer extremen Totale den distanzierten Überblick über das gesamte Geschehen und abstrahiert vom Individuum. Dieser Aufnahmestil produziert einen teilnahmslosen, interesselosen Blick auf das Szenario. Im Unterschied zum Mauerfilm, der die männliche Gewalt mit dem Affektbild weiblicher Betroffenheit kompensiert, radikalisieren die Fernsehbilder die Vermännlichung der Grenze, um damit den Einsatz polizeilicher und militärischer Gewalt zu rechtfertigen. Im Unterschied zum Mauerfilm, der eine Vielzahl anklagender oder bemitleidender AffektAdressierungen aufweist, kommunizieren die Fernsehbilder der EUAußengrenze vermittels der Männlichkeitskonstruktion der Grenze eine radikale Feindseligkeit gegenüber der Migrationsbewegung.

A NMERKUNGEN 1 | Sonia Saldívar-Hull: Feminism on the Border: Chicana Gender Politics and Literature, Berkeley u. a.: Univ. of California Press 2001. Pablo Vila: Border identifications: Narratives of Religion, Gender, and Class on the U.S.Mexico Border, Austin: University of Texas Press 2005. Antonia Castaneda u. a. (Hg.), Gender on the Borderlands: The Frontiers Reader, Lincoln u. a.: Univ. of Nebraska Press 2007. 2 | Beate Kohler-Koch: Regieren in entgrenzten Räumen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 11–25. 3 | Vgl. Jutta Gröschl: Die Deutschlandpolitik der vier Großmächte in der Berichterstattung der deutschen Wochenschauen 1945–1949. Ein Beitrag zur Diskussion um den Film als historische Quelle, Berlin, New York: Böhlau 1997. Matthias Thiele: Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen, Konstanz: UVK 2005. 4 | Vgl. Floya Anthias/Nira Yuval-Davis: Racialized Boundaries: Race, Nation, Gender, Colour and Class and the Anti-Racist Struggle, London: Routledge 2002; vgl. auch Cornelia Klinger: Ungleichheit in den Verhältnissen

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von Klasse, Rasse und Geschlecht, in: Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik 2, Münster: Westfälisches Dampfboot 2005, S. 14–48; Nina Degele/Gabriele Winker: Intersektionalität als Mehrebenenanalyse, 2007, online: http://www.tu-harburg.de/ agentec/winker/pdf/Intersektionalitaet_Mehrebenen.pdf. 5 | Die Konzeption eines genuin kulturwissenschaftlichen Modells der Erinnerung haben Jan und Aleida Assmann in zahlreichen Publikationen erarbeitet; vgl. Jan Assmann: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 9–19. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 1999. Die Gedächtniskunst ist nach Jan und Aleida Assmann von Begriffen wie Erinnerungskultur oder kulturellem Gedächtnis zu unterscheiden, die beide auf Kollektivität und Identität abzielen. Die Gedächtniskunst hingegen befasst sich mit der Schaffung eines künstlichen Gedächtnisses für Individuen. Die vorliegende Analyse untersucht den »Erinnerungsort« (Pierre Nora) der Berliner Mauer vorrangig als Topos medialer Konstruktion. 6 | Matthias Steinle: Vom Feindbild zum Fremdbild. Die gegenseitige Darstellung von BRD und DDR im Dokumentarfilm, Stuttgart: UVK 2003. Bernd Stöver: »›Das ist die Wahrheit, die volle Wahrheit.‹ Befreiungspolitik im DDRSpielfilm der 1950er und 1960er Jahre«, in: Thomas Lindenberger (Hg.), Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Wien: Böhlau 2006, S. 49–76. 7 | Die in der BRD gängigen Begriffskonstruktionen »Sowjetzone« bzw. »Zone« wurden etabliert, um die DDR als Staat abzuerkennen. In der DDR sprach man hingegen vom »Bonner Separatstaat« oder von den »Westzonen«. In der Bundesrepublik wurde für die DDR auch die Bezeichnung »Mitteldeutschland« verwendet. Damit wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Bundesrepublik die deutsch-polnische Ostgrenze an Oder und Neiße nicht anerkannte und auf die Ostgebiete des früheren Deutschen Reiches nicht zu verzichten bereit war. Vgl. Wolfgang Benz: »Stereotype des Ost-WestGegensatzes«, in: Vorurteile – Stereotype – Feindbilder (Informationen zur politischen Bildung 271), Bonn 2001, S. 51–52. 8 | Das hier exemplarisch untersuchte Filmmaterial wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes zum europäischen Bildgedächtnis im Auftrag des Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit der Ludwig BoltzmannGesellschaft, Wien, erhoben. Das Filmsample umfasst Archivmaterial aus dem Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin, der DEFA-Stiftung in Berlin, dem Filmarchiv Austria in Wien und der Digital Collections der Library of Congress in Washington.

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9 | Vgl. zur deutsch-deutschen Repräsentationsbeziehung in Film und Fernsehen die systematische Analyse von Matthias Steinle: Vom Feindbild zum Fremdbild. 10 | »Found Footage« bedeutet »gefundenes Material«. Ein Filmdokument, das mit »Found Footage« arbeitet, verwendet nicht selbst gedrehtes Filmmaterial – zum Beispiel aus Film- und Fernseharchiven, Amateurfilmen u. a. 11 | Vgl. exemplarisch »Schaut auf diese Stadt« (DDR 1962) von Karl Gass. 12 | Vgl. Ramón Reichert: »Medienparodie vs. Evidenzstiftung. ›Schaut auf diese Stadt‹ von Karl Gass«, in: Hilde Hoffmann/Jörg Schweinitz (Hg.), DDRDokumentarfilm und kollektives Gedächtnis, Marburg: Schüren, S. 154–171. 13 | Vgl. Karl Gass: »Interview«, in: Karl Gass. Materialienbroschüre zur öffentlichen Werkstatt Dokumentarfilm, hg. v. Kirsten Ankermann, Ulrich Fischer, Helmut Krebs, Oberhausen 1996, S. 60–63. 14 | Hier sind insbesondere Teresa de Lauretis, Laura Mulvey und Mary Ann Doan zu nennen, die in ihren formalen Analysen des Kinoapparates und der filmischen Repräsentation die geschlechterspezifischen Codes des Kinos dekonstruierten; vgl. Teresa de Lauretis: Technology of Gender: Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington u. a.: Indiana University Press 1987; Laura Mulvey: Visual and other pleasures, Bloomington u. a.: Indiana University Press 1989; Mary Ann Doane: »The Clinical Eye: Medical Discourse in the ›Woman‫ތ‬s Film‹ of the 1940s«, in: Susan Suleiman (Hg.), The Female Body in Western Culture: Contemporary Perspectives, Cambridge: Harvard University Press 1986, S. 152–174. 15 | Vgl. www.guardiacivil.org; Sigrid Faath: Illegale Migration aus Nordafrika nach Europa. Ursachen, Formen, Wege und Probleme der Eindämmung, Hamburg: Ed. Wuqûf (Wuqûf-Kurzanalysen 8) 1999. 16 | Nach Matthias Thiele (Matthias Thiele: Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen) findet sich das Sujet der Grenzsicherung in Ceuta u. a. in folgenden Reportagen und Dokumentationen: »Mare Nostrum. Wem gehört das Mittelmeer? Von Gibraltar bis nach Beirut« (ZDF 2000), »Wer darf bleiben?« (ARTE/ZDF 2000), »Festung Europa« (ARTE 2001), »Grenzen des Reichtums. Beobachtungen an den Toren der Festung Europa« (VOX 2002), »Tarifa, Traffic. Tod in Gibraltar« (3SAT/ZDF 2003). Vgl. zur Medialisierung der Grenze durch Fernsehbilder Philip M. Taylor: »Television and the Future Historian«, in: Graham Roberts/Philip M. Taylor (Hg.), The Historian, Television and Television History, London: University of Luton Press 2001, S. 171–177, hier S. 174. 17 | Vgl. www.es.amnesty.org. 18 | Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 27.

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19 | Dieses Filmmaterial wurde nach eigenen Recherchen von der RTVE, der BBC, der RAI, dem ZDF, der ARD und dem ORF ungeschnitten gesendet. 20 | Vgl. zum Aspekt der digitalen Auswertung und Bearbeitung von Überwachungsbildern Clive Norris: »From personal to digital«, in: David Lyon (Hg.), Surveillance as Social Sorting. Privacy, Risk and Digital Discrimination, London, New York: Routledge 2002, S. 249–281 21 | Vgl. www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21064/1.html. 22 | Thomas Y. Levin: »Die Rhetorik der Zeitanzeige. Erzählen und Überwachen im Kino der ›Echtzeit‹«, in: Malte Hagener/Johann N. Schmidt/Michael Wedel (Hg.), Die Spur durch den Spiegel. Der Film in der Kultur der Moderne, Berlin: Bertz + Fischer 2004, S. 349–366; Marcus Stiglegger: »Zeit-Lupe. Versuch zur Philosophie gedehnter Zeit im Film«, in: Thomas Koebner/Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München: edition text+kritik 2006, S. 345–357. 23 | Thiele, Matthias: Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen, S. 72. 24 | Étienne Balibar: Les frontières de la démocratie, Paris: Ed. La Découverte 1992, S. 28. 25 | Ebd. 26 | Vgl. Winfried Pauleit: »Videoüberwachung und die ›condition postmoderne‹«, in: Ästhetik & Kommunikation 30/106 (1999), S. 99–106. 27 | Vgl. Clive Norris: »From personal to digital«, in: David Lyon (Hg.), Surveillance as Social Sorting. Privacy, Risk and Digital Discrimination, London, New York: Routledge 2002, S. 249–281. 28 | Vgl. Jürgen Link: »Kollektivsymbolik und Mediendiskurse«, in: kultuRRevolution 1 (1982), S. 6–21. Frank Becker/Ute Gerhard/Jürgen Link: »Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22/1 (1997), S. 70–154.

L ITER ATUR Anthias, Floya/Yuval-Davis, Nira: Racialized Boundaries: Race, Nation, Gender, Colour and Class and the Anti-Racist Struggle, London: Routledge 2002. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 1999. Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1988, S. 9–19.

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Balibar, Étienne: Les frontières de la démocratie, Paris: Éd. La Découverte 1992. Becker, Frank/Gerhard, Ute/Link, Jürgen: »Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22/1 (1997), S. 70–154. Benz, Wolfgang: »Stereotype des Ost-West-Gegensatzes«, in: Vorurteile – Stereotype – Feindbilder (Informationen zur politischen Bildung 271), Bonn 2001, S. 51–52. Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. Castaneda, Antonia u. a. (Hg.), Gender on the Borderlands: The Frontiers Reader, Lincoln u. a.: Univ. of Nebraska Press 2007. Doane, Mary Ann: »The Clinical Eye: Medical Discourse in the ›Woman‫ތ‬s Film‹ of the 1940s«, in: Susan Suleiman (Hg.), The Female Body in Western Culture: Contemporary Perspectives, Cambridge: Harvard University Press 1986, S. 152–174. Faath, Sigrid: Illegale Migration aus Nordafrika nach Europa. Ursachen, Formen, Wege und Probleme der Eindämmung, Hamburg: Ed. Wuqûf (Wuqûf-Kurzanalysen 8) 1999. Gass, Karl: »Interview«, in: Karl Gass. Materialienbroschüre zur öffentlichen Werkstatt Dokumentarfilm, hg. v. Kirsten Ankermann/ Ulrich Fischer/Helmut Krebs, Oberhausen 1996, S. 60–63. Gröschl, Jutta: Die Deutschlandpolitik der vier Großmächte in der Berichterstattung der deutschen Wochenschauen 1945–1949. Ein Beitrag zur Diskussion um den Film als historische Quelle, Berlin/New York: Böhlau 1997. Klinger, Cornelia: Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht, in: Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik 2, Münster: Westfälisches Dampfboot 2005, S. 14–48. Kohler-Koch, Beate: Regieren in entgrenzten Räumen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998. Lauretis, Teresa de: Technology of Gender: Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington u. a.: Indiana University Press 1987. Levin, Thomas Y.: »Die Rhetorik der Zeitanzeige. Erzählen und Überwachen im Kino der ›Echtzeit‹«, in: Malte Hagener/Johann N. Schmidt/Michael Wedel (Hg.), Die Spur durch den Spiegel. Der Film in der Kultur der Moderne, Berlin: Bertz + Fischer 2004, S. 349–366.

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Link, Jürgen: »Kollektivsymbolik und Mediendiskurse«, in: kultuRRevolution 1 (1982), S. 6–21. Mulvey, Laura: Visual and other pleasures, Bloomington u. a.: Indiana University Press 1989 Norris, Clive: »From personal to digital«, in: David Lyon (Hg.), Surveillance as Social Sorting. Privacy, Risk and Digital Discrimination, London, New York: Routledge 2002, S. 249–281. Vila, Pablo: Border identifications: Narratives of Religion, Gender, and Class on the U.S.-Mexico Border, Austin: University of Texas Press 2005. Pauleit, Winfried: »Videoüberwachung und die ›condition postmoderne‹«, in: Ästhetik & Kommunikation 30 106, (1999), S. 99–106. Saldívar-Hull, Sonia: Feminism on the Border: Chicana Gender Politics and Literature, Berkeley, u. a.: Univ. of California Press 2001. Steinle, Matthias: Vom Feindbild zum Fremdbild. Die gegenseitige Darstellung von BRD und DDR im Dokumentarfilm, Stuttgart: UVK 2003. Stiglegger, Marcus: »Zeit-Lupe. Versuch zur Philosophie gedehnter Zeit im Film«, in: Thomas Koebner/Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München: edition text+kritik 2006, S. 345–357. Stöver, Bernd: »›Das ist die Wahrheit, die volle Wahrheit.‹ Befreiungspolitik im DDR-Spielfilm der 1950er und 1960er Jahre«, in: Thomas Lindenberger (Hg.), Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Wien: Böhlau 2006, S. 49–76. Taylor, Philip M.: »Television and the Future Historian«, in: Graham Roberts/Philip M. Taylor (Hg.), The Historian, Television and Television History, London: University of Luton Press 2001, S. 171–177. Thiele, Matthias: Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen, Konstanz: UVK 2005.

I NTERNE T Degele, Nina/Winker, Gabriele: Intersektionalität als Mehrebenenanalyse, 2007, online: http://www.tu-harburg.de/agentec/winker/ pdf/Intersektionalitaet_Mehrebenen.pdf. vom 2. Mai 2011. www.guardiacivil.org vom 2. Mai 2011. www.es.amnesty.org vom 2. Mai 2011. www.heise.de vom 2. Mai 2011.

Grenzen überschreiten Die Figur des Selbstmordattentäters in Spielfilmen zum Nahostkonflikt Elke Frietsch

Die Palästinenser/innen, die in den von Israel besetzten Gebieten im Westjordanland und im Gazastreifen leben, sind fast täglich mit Grenzen und Grenzkontrollen im eigenen Land konfrontiert. Zwischen den palästinensischen Städten und Dörfern sind Checkpoints eingerichtet. Ob die Einwohner/innen diese überqueren können, um ihren Zielort zu erreichen, hängt von der Einschätzung der Militärposten ab. Militärisch sind die Palästinenser/innen den Israelis deutlich unterlegen.1 Bilder über die Situation an den Grenzposten in den von Israel besetzten Gebieten gelangen kaum in die internationalen Medien. Daher kommt dem Medium Film hier besondere Bedeutung zu. Der Dokumentarfilm »Checkpoint« (Yoav Shamir, Israel 2003) etwa zeigt Gespräche zwischen israelischen Besatzungsoldat/inn/en und Palästinenser/inne/n an den Checkpoints, die konkrete Erfahrungen auf beiden Seiten sichtbar machen. Auch Spielfilme greifen die Thematik in unterschiedlicher Weise auf, um sich in das Konfliktfeld der Deutungen einzumischen. Die Auswahl der im vorliegenden Aufsatz besprochenen Filme dokumentiert nur einen kleinen Ausschnitt möglicher filmischer Aufarbeitung: »Alles für meinen Vater« (Dror Zahavi, Israel 2009) stellt die Diskriminierungen in den Vordergrund, denen Palästinenser/innen in den besetzten Gebieten ausgesetzt sind.2 Wie andere kritische Filme reagiert er auf Bilder über Gewalt und Zerstörung, die in den internationalen Medien über palästinensischen Terror im Nahen Osten ausgestrahlt werden, und modifiziert diese Aufnahmen

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durch Eindrücke, die man selten zu sehen bekommt: Bilder über die schwierigen Lebensverhältnisse von Palästinenser/innen in den besetzten Gebieten, die nicht entschuldigen, aber doch nachvollziehbar machen sollen, dass sich einzelne Palästinenser/innen für Gewalt und Selbstmordattentate entscheiden. Hatte der palästinensische Film »Paradise Now« (Hany Abu-Assad, Israel/NL/D/F 2005) gerade wegen seiner Dokumentarfilmästhetik in Israel kritische Stimmen hervorgerufen und sogar den Vorwurf des Antisemitismus ausgelöst,3 da er weitgehend auf moralische Distanzierung von Gewalt durch Terroranschläge verzichtet, schlägt der israelische Regisseur Zahavi einen ganz anderen Weg ein. Er nähert sich dem Thema Selbstmordattentat, indem er die Charaktere der Filmfiguren in den Vordergrund rückt und mit der Liebesgeschichte zwischen einem palästinensischen Selbstmordattentäter und einer Israelin eine versöhnliche Geste schaffen möchte.4 Der Film wurde in Israel weitgehend positiv aufgenommen.5 Anders als in »Paradise Now« wird versucht, die Handlungen der Protagonist/inn/en so nachvollziehbar wie möglich zu machen und Erklärungen bis hin zu eindringlichen Appellen in den Filmdialogen selbst mitzuliefern.6 In »Alles für meinen Vater« ist neben dem alltäglich erfahrenen Fremdsein im eigenen Land auch ein unbewältigter familiärer Konflikt Auslöser für die Tat. Wie bereits in »Paradise Now« und »The Bubble« (Eytan Fox, Israel 2006), wird in »Alles für meinen Vater« eine Vielfalt von Gründen aufgezeigt, die einen Palästinenser in den besetzten Gebieten zur Entscheidung für ein Selbstmordattentat veranlassen können. Während »Paradise Now« von zwei Selbstmordattentätern handelt, deren Taten durch Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen und politischen Situation motiviert sind, ist es in »The Bubble« v. a. die Homosexualität des Protagonisten, die ihn in Konflikte bringt. In »The Bubble« erscheint das Selbstmordattentat weniger politisch als durch Differenzen mit israelischen Freunden wie auch das eigene familiäre palästinensische Umfeld und den verzweifelten Drang, ausweglos erscheinenden Problemen zu entfliehen, motiviert. Mit dieser Perspektivenvielfalt auf die Gründe palästinensischen Terrors in den besetzten Gebieten unterscheiden sich die Spielfilme deutlich von der Berichterstattung in den Medien über Selbstmordattentate in Nahost. Wenn in den Medien über Selbstmordattentate in Nahost berichtet wird, kommen selten individuelle Hintergründe der Tat zur Sprache.7 Die Nachricht, die die Selbstmordattentäter oft in Form von Videos zurücklassen, ist durch die propagandistische is-

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lamistische Inszenierung eines Bekenntnisses zur Tat ebenfalls nicht geeignet, etwas über individuelle Hintergründe und Motivationen der Einzelnen auszusagen. Der Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zayd kommt zu dem Schluss: »Westliche Wissenschaftler sollten also aufpassen, dass sie nicht einfach dieselben Verse wie die Terroristen zitieren, um die Haltung des Koran und mithin des Islam zu präsentieren. Leider wird man jeden Tag genau damit konfrontiert, und zwar in Form von Artikeln, Interviews oder Talkshows in den Massenmedien rund um den Globus. Solche Zugeständnisse an die Logik der Terroristen reduzieren das Problem auf eine theologische Frage. Dabei sollten wir aufmerksamer auf die politischen Rechtfertigungen hören, nicht um überzeugt zu werden, aber um in der Lage zu sein, bis zum Kern des Problems vorzudringen, statt nur an der Oberfläche zu kratzen.« 8

Die drei im folgenden besprochenen Spielfilme sind vor dem Hintergrund solcher Berichterstattung und Diskussionen zu sehen. Die Filme zeigen mögliche Zugangsweisen zum Thema Selbstmordattentat in Nahost auf, die unter den Stichworten Emotionalisierung, Rationalisierung und Hinterfragung feststehender Identitäten analysiert werden. In einem kurzen abschließenden Resümee werden die nacheinander besprochenen Filme unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs von Film, Körper und Grenze weiterführend betrachtet.

E MOTIONALISIERUNG (De-)Konstruktionen von Feindbildern »Alles für meinen Vater« beginnt mit einem langsamen Kameraschwenk von links nach rechts. Nacheinander werden einzelne Objekte im Raum vorgeführt, wie eine Spielzeugfigur, ein gerahmtes Kinderfoto oder ein Pokal. Dann ruht die Kamera auf einem Vogel in einem Käfig, um schließlich das Gesicht eines im Bett liegenden jungen Mannes in Großaufnahme zu zeigen. Die symbolhafte Kamerabewegung verdeutlicht, dass die Gegenstände ihm gehören und dass er sich in seinem sozialen Umfeld fühlt wie der im Käfig eingeschlossene Vogel. Es folgt ein Schnitt auf ein brennendes Auto. Währenddessen hört man die Rufe der Mutter »Tarek, du wolltest doch heute früh aufstehen«, begleitet vom Piepsen des eingeschlos-

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senen Vogels. Bei dem brennenden Auto handelt es sich also nicht um ein Bild realer Gewalt, sondern um eine Imagination des Protagonisten. Die Mutter denkt, dass ihr Sohn nach Tel Aviv fahren wolle, um Arbeit zu suchen. Er hat eine Sondergenehmigung, um in Israel tätig zu sein. Das ermöglicht es ihm, seinen palästinensischen Wohnort Tulkarem zu verlassen und nach Tel Aviv zu gelangen. Die Stadt Tulkarem hat der Regisseur Zahavi wohl kaum zufällig als Wohnort für seinen Protagonisten gewählt: Tulkarem liegt im Norden des Westjordanlandes an der Grünen Linie, der Grenze zwischen Israel und Palästina von 1967. Die Stadt ist durch israelische Sperranlagen und Checkpoints eingekesselt. Die Arbeitslosenzahlen sind hoch. Darüber hinaus befindet sich in Tulkarem eines der größten Flüchtlingslager der West Bank. Es ist ein Ort, an dem alle Probleme der Palästinenser/innen zusammenlaufen. Den Zusehenden werden diese Probleme sofort durch das symbolhafte Bild des brennenden Autos vor Augen geführt. Vor dem Haus seiner Eltern steigt Tarek in ein Auto zu zwei Männern ein. Die beiden Männer werden im Film als dem Tanzim zugehörig beschrieben, einer Organisation, deren Gründung auf Yassir Arafat zurückgeht und die israelische Soldat/inn/en und Zivilist/inn/en bekämpft.9 Man erfährt, dass Tarek von den Tanzim-Milizen als Selbstmordattentäter ausgewählt wurde. Die Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er entspricht in keiner Weise dem Bild des furchtlosen Märtyrers mit Waffe und Koran, das oft durch propagandistische islamistische Videos und Plakate in Umlauf kommt. So wird ein Kontrast markiert zum Ende des Films, wenn palästinensische Kinder Tareks zum Helden stilisiertes Antlitz an die Häuserwände in Tulkarem kleben. Der Regisseur Zahavi will zeigen, dass dieses Bild ein Klischee ist. Konkretere Anliegen stehen hinter dem Selbstmordattentat. So ist beispielsweise von Geld die Rede, das Tareks Familie bekommen soll. Tarek ist es wichtig, dass das Geld, das er vom Tanzim erhält, an seinen Vater geht. Man merkt, dass Tarek keineswegs Abschied vom Leben genommen hat. Interessiert hört er sich an, wer am Wochenende heiratet. Bei dem Gespräch über die bevorstehenden Hochzeiten handelt es sich um eine deutliche Anspielung auf das Versprechen, das männlichen Selbstmordattentätern von Islamisten gemacht wird, im Paradies würden als Belohnung für ihre Tat schöne Jungfrauen auf

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sie warten.10 Tarek scheint nicht daran zu denken, was im Paradies auf ihn wartet, sondern sich für den Alltag zu interessieren.11 Der Mann, der am Steuer sitzt, hat kein Vertrauen in Tareks Eignung zum Märtyrer. Die ganze Fahrt über instruiert er ihn, wie er das Attentat auszuführen hat, und vergewissert sich, dass Tarek die Abläufe der Tat verstanden hat. Schließlich fragt er ihn, warum er das Attentat ausführen wolle. Die Antwort ist: »weil ich von Geburt an nicht mal träumen darf«, was ihn zufrieden zu stellen scheint. Während der Fahrt wird Tarek immer nervöser. Der Beifahrer versucht, ihn damit zu beruhigen, dass schon alles »gut gehen wird«. Doch »gut gehen« kann im Kontext eines Selbstmordattentats nur den Tod bedeuten, und dass Tarek eigentlich nicht sterben möchte, ist offensichtlich. Nicht nur durch die Doppeldeutigkeit der Dialoge wird das verbreitete Bild des fanatischen religiösen palästinensischen Selbstmordattentäters konterkariert, sondern auch durch die Inszenierung der Fahrt im Auto durch die Wüste. Das Bild der einsam durch die Wüste fahrenden Männer wirkt dem Road Movie entlehnt.12 Ein vermutetes fanatisches Heldentum wird nicht bestätigt, sondern – durch das ängstliche Verhalten des Protagonisten, das nicht zum Road Movie passt – hinterfragt. Zahavi nimmt ein im kollektiven Imaginären verankertes Bild, um die Erwartungen der Zusehenden zu durchbrechen. Im Laufe des Films steigert sich dieses Hinterfragen von im kollektiven Imaginären verankerten Bildern zunehmend in eine Hinterfragung der Medien bzw. der von ihnen übermittelten Informationen über politische Themen. Schweißgebadet geht Tarek über den Carmel-Markt in Tel Aviv, wo er die Zündung auslösen soll. In Zeitlupe nimmt die Kamera das Obst und Gemüse auf, zeigt alles von ganz nah. Ein Gemüsehändler wird gezeigt, wie er in einem Fernsehinterview erzählt, warum der Markt in Tel Aviv so großartig sei. Er trägt ein rotes Hemd mit Blumenmuster. Während der Händler spricht, sieht man ihn bereits auf dem Bildschirm eines vor ihm stehenden Fernsehers, in dem das Interview übertragen wird. Die Bilder in unseren Köpfen sind, so verdeutlicht Zahavi, stets medial vermittelt. Doch fallen Realität und ihre mediale Vermittlung auch tatsächlich zusammen oder unterscheiden sie sich? Bei den Zusehenden mögen die Fernsehbilder, die den Gemüsehändler zeigen, Bilder in Erinnerung rufen, die nach Selbstmordattentaten in den Medien ausgestrahlt werden: verwüstete Märkte und verletzte

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Opfer. Jeden Moment kann der Gemüsehändler zur Zielscheibe des Attentats werden. Das Rot seines Hemdes würde sich dann mit Blut mischen. Doch erzählt wird dabei nicht nur aus der Perspektive der potentiellen israelischen Opfer, sondern auch aus der Perspektive des palästinensischen Attentäters. Als er die Sekunden zählt, bis er auf den Schalter drücken soll, klingelt plötzlich das Handy: Die Mutter ist am Telefon. Sie möchte ihren Sohn warnen, er solle sofort den Markt verlassen, da in den Medien berichtet werde, dass sich ein palästinensischer Selbstmordattentäter in Tel Aviv aufhalte. Nachdem die besorgte Mutter eingeblendet ist, folgt ein Schnitt auf Tarek, wie er die Sekunden zählt. Durch das filmtechnische Mittel von Schuss/ Gegenschuss werden die Zusehenden in die emotionale Perspektive der besorgten Mutter auf ihren Sohn hineinversetzt. Tarek wird damit vom Täter zum Täter, der gleichzeitig Opfer ist. Als Tarek schließlich auf den Schalter drückt, passiert nichts. Hektisch drückt er immer wieder ab, doch der Schalter ist offenbar defekt. Die nun folgenden Filmszenen sind so angelegt, dass Tarek einige der Menschen, die er auf dem Markt möglicherweise umgebracht hätte, kennenlernt. Ziellos irrt er durch die Straßen, um schließlich ins Geschäft des Elektrohändlers Katz zu gelangen. Er erfährt, dass er zwei Tage auf die Lieferung des Schalters warten muss, da Sabbat ist. Anstatt zu töten, verbreitet Tarek in den Stunden, bis der Schalter eintrifft, Zuversicht. Zufällig rettet er Frau Katz, die den Gashahn aufgedreht hat, um sich das Leben zu nehmen. Auch Herrn Katz hilft er. Er verspricht, ihm als Gegenleistung für den Elektroschalter das defekte Dach seines Geschäfts zu reparieren. Schließlich begegnet er Keren, einer jungen Israelin, die gegen ihr jüdisch-orthodoxes Elternhaus rebelliert. Keren betreibt in dem Viertel einen Gemischtwarenhandel. Als orthodoxe Juden sie mit Gewalt zur Rückkehr in die Gemeinde zwingen wollen, geht Tarek dazwischen und kann sich gegen die Angreifer durchsetzen.

»Keine Romantik, keine Kultur« An einer Häuserwand in dem Viertel steht »Tod den Arabern«. Verschiedene Personen aus der Gegend könnten dies geschrieben haben. Die orthodoxen Juden, die Keren bedrohen und Tarek Feindseligkeit entgegenbringen, aber auch ein israelischer Polizist, der Tarek sogleich mit »Ahmad« anredet, um unmissverständlich klarzumachen, dass für ihn alle Araber gleich sind. Überall wird berich-

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tet, dass sich ein Selbstmordattentäter in der Stadt aufhalte. Der Polizist erklärt, dass es bislang nachweislich immer nur Araber gewesen seien, die in Israel Selbstmordattentate durchgeführt hätten. Er sei »kein Rassist«, beschwichtigt er, er wisse, warum die Araber zu terroristischen Anschlägen wie Selbstmordattentaten neigten: Ausgelöst würde dies nicht durch »die Rasse, sondern die Gene«. Die Szene soll aufzeigen, wie essentialistische Vorstellungen von Biologie an die Stelle der Analyse sozialer Ursachen treten können. Es wird versucht, filmisch eine Kritik am Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern zu inszenieren und Alternativen aufzuzeigen, wie sie auch von politischen und philosophischen Theorien erarbeitet wurden. Judith Butler etwa hat analysiert, dass die kritische Beschäftigung von Israelis mit Gewalt gegen Palästinenser aus der Erfahrung und Reflexion eigenen Leids hervorgehen kann.13 Der Film »Alles für meinen Vater« zeigt im Sinne Butlers, dass die eigene Erfahrung von Leid nicht zwangsläufig neue Gewalt nach sich ziehen muss, sondern auch alternative Verhaltensweisen denkbar sind: Als die Kamera Katz’ Unterarm filmt, sieht man wie beiläufig eine Nummer. Es wird deutlich, dass Katz als rumänischer Jude in einem deutschen Konzentrationslager gewesen sein muss. Dennoch verhält er sich einem Palästinenser wie Tarek gegenüber nicht ablehnend. In Tel Aviv, erklärt er Tarek, gibt es »keine Romantik, keine Kultur«. Als er dies ausspricht, kommt Musik im Radio. Herr Katz weist Tarek darauf hin, dass die Musik aus der Oper »Romeo und Julia« stammt. Mit diesem Hinweis wird gleichnishaft das Scheitern der Liebe zwischen Keren und Tarek vorweggenommen. Anders als es in der Tragödie »Romeo und Julia« der Fall ist, liegt die Verantwortung aber nicht bei den verfeindeten Familien, sondern wird durch die politische Situation verursacht. Symbole wie der Gashahn, den Frau Katz aufdreht, oder die Nummer auf Herrn Katz‫ ތ‬Arm sorgen dafür, dass die Handlung leicht verständlich wird – leider zu leicht, denn die Charaktere erscheinen dadurch etwas unterkomplex.14 Darüber hinaus hebt die Anspielung auf »Romeo und Julia« die Konflikte, die in »Alles für meinen Vater« thematisiert werden, auf eine universalisierende kulturelle Ebene. Bei William Shakespeares Tragödie »Romeo und Julia« handelt es sich um ein literarisches Stück, das tief im kollektiven Imaginären westlicher Kulturen verankert ist und in literarische und filmische Werke immer wieder Eingang gefunden hat. Indem spezifische Konflikte innerhalb des Nahostkonfliktes in eine Romeo-und-Julia-Tragödie über-

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führt werden, werden die zugrunde liegenden Ursachen eingeebnet und für ein westliches Publikum leicht verständlich und konsumierbar gemacht.15 Kritisches Potential, das der Film durchaus in einigen gelungenen Szenen enthält, v. a. durch den bereits beschriebenen geschickten Einsatz von Ironie und filmtechnischen Mitteln, wird dadurch letztlich nur unzureichend umgesetzt. Schon in den ersten Einstellungen des Films wird deutlich, dass Keren und Tarek sich kennenlernen werden. Mit dem einfachen Mittel einer Parallelmontage werden in den Filmszenen abwechselnd Tarek und Keren gezeigt. Der Szene, in der Tarek zu Beginn von seiner Mutter geweckt wird, folgt eine Szene, in der Keren ihren Laden öffnet. Die Probleme der israelischen und der palästinensischen Seite werden auf diese Weise miteinander verglichen und auf eine Ebene gestellt. Es wird verdeutlicht, dass extreme politische Situationen und Einstellungen einzelnen Personen zumeist nicht von Grund auf eigen sind, sondern diese sich in ihnen selbst nicht zurechtfinden. Ungefähr in der Mitte des Films bekommen die Zuschauer/innen eine mögliche Antwort darauf, warum sich Tarek für das Selbstmordattentat entschieden hat. Er erzählt Keren von den Problemen seiner Familie: Als Kind wurde Tareks Talent zum Fußballer entdeckt. Er fuhr zum Training nach Nazareth. »Die Probleme«, so Tarek, »begannen mit der Intifada.« Plötzlich konnte er nicht mehr ohne weiteres nach Nazareth. An der Grenze wurden sein Vater und er schikaniert und ständigen Demütigungen ausgesetzt. Dann forderten die Israelis Gegenleistungen für die Einreise. Tareks Vater sollte den Israelis »Namen« liefern. Was er genau verraten hat, bleibt im Vagen, doch, so Tarek, »das Gerede erreichte den Tanzim«. Mitglieder des Tanzim schlugen seinen Vater zusammen. Seitdem bleibt er depressiv in der Wohnung, kann seinem Beruf als Violonist nicht mehr nachgehen. Man begreift, dass Tarek denkt, dass er an der Depression des Vaters schuldig sei, und sich zudem dem Tanzim gegenüber in der Pflicht fühlt. Auf diese Weise macht der Film die innere Dimension von Gewalt in den besetzten Gebieten deutlich. Dass Tareks Entscheidung zum Selbstmordattentat aus erfahrenen Diskriminierungen und familiären Konflikten herrührt und keineswegs aus religiösem Fanatismus, wird auch in seiner Offenheit der jüdischen Religion gegenüber demonstriert. Die Figuren sind in ihrem Denken und Handeln dabei allerdings recht holzschnittartig gezeichnet. Es wirkt unrealistisch, dass Tarek, als durchweg sym-

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pathisch auftretender, kulturell offener junger Mann, der kaum einen Charakterfehler erkennen lässt, sich für ein Selbstmordattentat entscheidet. Der Charakter erscheint zu wenig gebrochen und vielschichtig. Keren erscheint als eine allegorische Figur für Hoffnung – insbesondere in der letzten Filmszene nach Tareks Tod, als sie im Morgengrauen ihren Laden öffnet, wodurch symbolisiert wird, dass das Leben weitergeht. In der visuellen Kultur wird Weiblichkeit oft als Allegorie verwendet. Als vermeintlich unmarkiertes, »natürliches« Wesen wird die Frau zur Projektionsfläche für die Wertvorstellungen einer Gesellschaft. Die Filmwissenschaftlerin Teresa de Lauretis unterscheidet zwischen »woman« und »women«, um dies kenntlich zu machen: Mit »woman« ist der allegorische Einsatz von Weiblichkeit gemeint, »women« steht für reale Frauen und ihre Lebenszusammenhänge.16 Für die Figur der Keren lässt sich sagen, dass sie »woman« und »women« zugleich verkörpert. Zwar hat sie in ihrem selbstbewussten Auftreten eine gewisse Komplexität, die sie der Realität annähert, doch erscheint sie in ihrer Funktion als Hoffnungsträgerin als allegorische Figur. Während Keren als Symbol für Hoffnung erscheint, ist Tarek noch nicht einmal in der Lage, Lösungsmöglichkeiten zu erkennen, die sich ihm anbieten. Als er bei Herrn Katz das Dach repariert, wird im Radio ein Fußballspiel übertragen. Zufällig betritt sein alter Trainer und Förderer mit einem Journalisten das Geschäft. »Wo bist du abgeblieben?«, fragt der Trainer, worauf Tarek lakonisch »ich bin doch hier« antwortet. Als der Trainer nachhakt: »Du warst plötzlich verschwunden«, entgegnet Tarek mit einem metaphorischen »ich bin mit der Verletzung nicht klargekommen«. Das zufällige Interview wird im Radio übertragen. Während Tarek mit dem Begriff »Verletzung« die innere Verletzung wie auch die politische Grenzziehung zwischen Israel und Palästina umschreibt, muss es für die Radiozuhörer/innen so klingen, als sei von einer körperlichen Verletzung die Rede. Doch schnell wird deutlich, dass der Trainer Tareks Metaphorik verstanden hat. Von Tareks Hinweis, dass er tief in Schwierigkeiten stecke, da er für den Tanzim arbeite, lässt er sich nicht abschrecken. Er erklärt Tarek, dass er einflussreiche Personen kenne, die ihm helfen könnten. Er solle gleich morgen früh zu ihm kommen. Tarek verspricht dies nach einigem Zögern. Damit bietet sich eine Alternative zu dem Selbstmordattentat, das ebenfalls am nächsten Morgen stattfinden soll.

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Medien im Film Den Zuschauenden zeigen sich zahlreiche Lösungen für Tarek. Doch die Inszenierungen der Medien im Film verdeutlichen, dass Tarek im Grunde genommen nicht »frei« entscheiden kann; zu sehr ist er in seiner Identität und deren Wahrnehmung fremdbestimmt. Medien kommen vor allen Dingen als Kommunikationsmittel zur Geltung: Handy, Telefon, Radio, Fernsehen und am Ende des Films noch ein Plakat, das Tarek als Märtyrer zeigt. Die Medien dienen nicht der gelungenen Kommunikation, sondern werden dazu eingesetzt, ihr Scheitern zu symbolisieren. Sie stehen für Missverständnisse und für eine Zurichtung von Identität durch die Umgebung, der sich der Einzelne aussetzen muss. Darüber hinaus stehen sie – was die öffentlichen Medien anbetrifft – auch für Fehlinformation. Das Handy symbolisiert Tareks Ausgeliefertsein. Permanent wird er von seinen Auftraggebern angerufen, die sich vergewissern wollen, was er tut. Als das Attentat scheitert, drohen sie damit, ihn fernzuzünden. Tarek hat durch das gescheiterte Attentat 48 Stunden Lebenszeit gewonnen und nutzt sie, um ein neues Umfeld kennenzulernen: Israelis wie Keren oder das Ehepaar Katz, die ihm nicht feindselig gegenüberstehen, sondern freundschaftlich verbunden sind. Das Klingeln des Handys zerstört die Möglichkeit des Neubeginns und bringt ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Auch das Radio steht für gescheiterte Kommunikation. Die Hörer/innen erfahren, dass Tarek verletzt ist, und stellen sich eine körperliche Verletzung vor. In Wirklichkeit meint Tarek die Verletzung der Identität durch Grenzen – die Unfähigkeit, legal in den israelischen Landesteil zu gelangen und dort von den Israelis akzeptiert zu werden. Den Höhepunkt der Inszenierung der Fehlinformation durch die Medien bietet das Ende des Films. Nachdem Tarek mit Keren am Strand übernachtet hat, erhält er morgens einen Anruf vom Tanzim, ob er bereit sei. Im ersten Moment weiß er noch nicht einmal, wozu, doch die Erinnerung kommt zurück, und er fühlt sich in der Pflicht. Er bricht auf, um das Selbstmordattentat auszuführen. Doch Tarek wird bereits gejagt. Der Polizist, der ihm von Anbeginn feindselig gegenüberstand, hat die israelische Polizei informiert. Doch Tarek hat eigentlich gar nicht mehr vor, den Auftrag ordnungsgemäß durchzuführen. Auf dem Markt möchte er sich einen Ort suchen, an dem er niemanden mit in den Tod reißt. Er möchte nur noch die Ehre seines Vaters retten.

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Dass er seine Eltern durch die Tat aber noch unglücklicher gemacht hat, als sie es zuvor waren, sieht man, als ihre verzweifelten Gesichter eingeblendet werden. Tareks Plan, einfach nur sich selbst zu töten, schlägt fehl – plötzlich steht der Elektrohändler Katz vor ihm. Er erklärt, nicht von Tareks Seite zu weichen. Es sei ihm gleichgültig, ob dieser ihn mit in den Tod reiße, da sein Leben ohnehin keinen Sinn mehr habe. Tatsächlich gelingt es Herrn Katz, Tarek zu überreden, mit ihm den Markt zu verlassen. Doch in dem Moment, in dem Tarek einlenkt und sich von ihm wegführen lassen will, wird er von israelischen Scharfschützen erschossen. Tarek sinkt auf die Knie – eine Geste, durch die sein Status als unschuldig Getöteter zum Ausdruck kommt. Der Skandal besteht darin, dass der Polizist den Einsatzkräften auf dem Dach per Handy immer wieder erklärt, dass Tarek der gesuchte Attentäter sei und einen Sprengsatz unter seinem Hemd trage – obwohl er hierfür nicht den geringsten Beweis hat. In den israelischen Medien wird Tareks Erschießung als Erfolgsstory verbreitet. Hierdurch übt der Film eine Kritik an der häufig einseitigen und uninformierten politischen Haltung der Medien.17 Auch der Islamismus wird kritisiert. Auf die Szene, welche die Berichterstattung von Tareks Erschießung zeigt, folgt ein Schnitt. Gezeigt werden palästinensische Kinder, die jubelnd durch die Straßen Tulkarems ziehen und propagandistische Plakate aufhängen, die Tarek als Märtyrer mit Waffe und Koran darstellen. Indem die Manipulation der Kinder gezeigt wird, wird die korrupte Haltung des Tanzim kenntlich. Es wird verdeutlicht, wie wenig die propagandistische islamistische Inszenierung mit der Realität desjenigen zu tun hat, der ein Selbstmordattentat ausführt.18

Fest umrissene Identitäten Der Film verfolgt eine klare politische Botschaft.19 Er möchte über die politische Diskriminierung von Palästinenser/inne/n aufklären und verdeutlichen, welche Gründe es haben kann, wenn sie sich radikalen Gruppierungen anschließen oder gar zum Mittel eines Selbstmordattentats greifen. Es wird über alltäglichen Rassismus und innenpolitische Gewalt in den besetzten Gebieten berichtet. Darüber hinaus werden die Gefahren aufgezeigt, die von terroristischen islamistischen Milizen ausgehen. Insofern vertritt der Film ein wichtiges Anliegen. Dennoch ist die emotionale Umsetzung nicht unproblematisch und ihrerseits wiederum geeignet, Klischees und Vorstellun-

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gen fixer Identitäten zu produzieren. Die Charaktere erscheinen zu eindeutig gezeichnet und entsprechen einem »Gut-böse-Schema«. Tarek und seine Eltern sind durchweg sympathische Figuren. Durch ihr angenehmes Äußeres, ihr gütiges Lächeln, ihre sanften Stimmen, ihre netten Gesten und Verhaltensweisen ziehen sie sogleich die Sympathie der Zuschauenden auf sich. Durch das filmtechnische Mittel der Parallelmontage wird ihr Alltag mit dem der Israelis in Tel Aviv (Keren, das Ehepaar Katz und deren Nachbarn) verglichen. Diese verhalten sich Tarek gegenüber wohlwollend und diskriminieren ihn nicht. Dass er ein Araber ist und in ihrem Land damit ein Fremder, von dem, wie in den Medien immer wieder berichtet wird, Bedrohung ausgehen könne, stört sie nicht. Sie akzeptieren ihn einfach als Menschen und sind überhaupt nicht darüber verwundert, warum er auf einmal an ihrem Leben teilnimmt. Im Gegensatz zu dem Polizisten, der Tarek sogleich mit rassistischen Vorurteilen begegnet, unterstellen sie ihm nichts Schlechtes. Selbst als Herr Katz weiß, dass Tarek der gesuchte Selbstmordattentäter ist, bleibt er noch auf seiner Seite. Auch Kerens Mutter hat – obgleich orthodoxe Jüdin – nichts gegen die Beziehung ihrer Tochter zu einem Araber. Verantwortungslos erscheinen diejenigen, die wir nicht näher kennenlernen – die orthodoxen Juden, die Keren bedrohen, der rassistische Polizist, der einen Minderwertigkeitskomplex zu haben scheint, oder die Scharfschützen am Filmende, von denen Tarek erschossen wird. Auf der palästinensischen Seite sind Tarek und seine Familie sympathisch, der Tanzim erscheint in Gestalt der egoistischen Redeweise der beiden Männer, die Tarek nach Tel Aviv bringen, wo er das Attentat ausführen soll, als korrupt. Die fest umrissenen Charaktere machen den Film leicht konsumierbar und widerstehen einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema.

R ATIONALISIERUNG Obwohl der Film »Paradise Now« schon durch den Umstand, dass er nicht von einem, sondern von zwei Selbstmordattentätern handelt, andere inhaltliche Akzente setzt als »Alles für meinen Vater«, bestehen in der Beschreibung der Beweggründe für das Attentat doch einige Ähnlichkeiten. Thematisiert wird die Freundschaft zwischen den beiden Selbstmordattentätern Khaled und Said. Ähnlich wie Tareks Vater war auch Saids Vater ein Kollaborateur. Im Alter von

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zehn Jahren musste Said erleben, wie sein Vater als Vergeltung für den »Verrat« von Palästinensern erschossen wurde. Das erfahren die Zuschauenden aber erst zu einem späten Zeitpunkt im Film. Zu Beginn erfährt man lediglich von Saids Religiosität und von seiner Freundschaft zu Khaled, mit dem er gemeinsam in einer Autowerkstatt arbeitet. Zwar sind beide stark vom Islam geprägt, doch werden sie in ihrem Alltag als junge Männer gezeigt, deren Wünsche und Probleme sich kaum von denen Gleichaltriger in westlichen Kulturen unterscheiden. Einen wesentlichen Unterschied gibt es aber doch: die Diskriminierungen, die sie als Palästinenser in ihrem Heimatort Nablus erfahren. Dadurch, dass in »Paradise Now« erwähnt wird, dass es sich bei dem Filmschauplatz um den Ort Nablus handelt, wird ein mögliches Vorwissen der Zuschauenden aufgerufen, denn Nablus erscheint als Ort der Gewalt häufig in den westlichen Medien.20 Nablus ist die größte Stadt Palästinas. Die israelischen Streitkräfte riegeln Nablus aus Angst davor, dass Selbstmordattentäter von dort nach Israel gelangen könnten, hermetisch ab. Man gelangt nur durch Checkpoints hinaus und hinein. Sechzig Prozent der Anschläge gegen Israel wurden in Nablus organisiert.21 Obwohl Khaled und Said im Alltag als Menschen gezeigt werden, die das Leben genießen, scheinen sie keineswegs überrascht zu sein, als ihnen von einer Gruppe Bekannter, die – im Auftrag einer im Film nicht namentlich genannten Organisation – Terroranschläge durchführen, mitgeteilt wird, dass sie für ein Selbstmordattentat ausgewählt wurden. Sie sollen einen palästinensischen Märtyrer rächen, der von den Israelis getötet wurde. Für den Einsatz ihres Lebens wird ihnen das Paradies versprochen. Ähnlich wie in »Alles für meinen Vater« wird auch hier das Bild des fanatischen Ideologen, der keine Gefühle kennt, hinterfragt: – »Was wird danach aus uns?«, wollen Khaled und Said wissen. – »Es kommen zwei Engel, die euch abholen«, erhalten sie zur Antwortet, worauf sie noch einmal nachfragen, ob »das hundertprozentig sicher« sei, und mit den Worten beruhigt werden: »Ja, ihr werdet es ja bald sehen.« Die Attentäter sollen zwei Aktionen innerhalb einer Viertelstunde ausführen. Die Auftraggeber schärfen ihnen ein, dass der »Zweite« dem »Ersten« auf gar keinen Fall zusehen darf, wenn er sich in die Luft sprengt. Obwohl das Paradies »hundertprozentig« sicher scheint, müssen große Vorkehrungen getroffen werden, damit keine Zweifel und keine Angst aufkommen. Auch als das Video aufgenommen

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wird, mit dem die Attentäter ihre Tat vor der Öffentlichkeit rechtfertigen sollen, um ein Fanal zu setzen, wird die populäre Vorstellung eines »fanatischen religiösen Charakters«, der vom Islam ausgehe, hinterfragt. Was bleibt, sind verzweifelte Menschen, die keinen Ausweg sehen. Khaled setzt sich in Szene, posiert mit Gewehr und selbstbewusster Miene. Man merkt, wie sehr er sich Mühe gibt. Doch dann erklärt einer der Anführer, dass die Kamera nicht aufgenommen hat. Khaled setzt noch einmal an, wieder funktioniert die Kamera nicht; Khaled reagiert wütend, von seiner Überzeugung ist nichts mehr zu spüren. Als die Kamera endlich aufnimmt, ist Khaled erschöpft. Sichtlich durcheinander, ergänzt er den einstudierten Text, um seiner Mutter mitzuteilen, wo es günstigere und bessere Wasserfilter gebe als die, die sie immer kaufe. Anhand der langwierigen Videoaufnahme wird vorgeführt, dass das Heldenhafte, Märtyrerhafte nicht für zum Selbstmordattentat ausgewählte Männer charakteristisch, sondern eingeübt ist und dass, wie beispielsweise die postkoloniale Theoretikerin Lila Abu-Lughod herausgearbeitet hat, Entscheidungen oder Handlungen einer Kultur nicht inhärent, sondern sozial konstruiert und damit veränderbar sind.22 Am nächsten Tag werden die Attentäter nach Tel Aviv gebracht. Die Sprengsätze sind unter ihrer Kleidung angebracht. Doch dann läuft die Operation nicht wie geplant. Am Grenzzaun, durch den sie hindurchgeschleust werden sollen, um die Durchsuchung an der offiziellen Kontrollstelle zu umgehen, fallen Schüsse, das Auto, das sie nach Tel Aviv bringen soll, fährt weg. Khaled gelangt nach Nablus zurück, Said gelingt es schließlich doch noch, durch den Grenzzaun zu kommen. Er kommt an eine Bushaltestelle; offensichtlich überlegt er, ob er sich in dem Bus in die Luft sprengen soll. Doch dann sieht er Zivilist/inn/en und ein kleines Kind. Als der Busfahrer ihn fragend ansieht, ob er einsteigen möchte, schüttelt er den Kopf und geht wieder zurück durch den Grenzzaun. Mittlerweile ist einige Zeit verstrichen. Die aufständischen Palästinenser haben Said im Verdacht, ein Verräter zu sein, Khaled bekommt bis zum Abend Zeit, ihn zu suchen. Für Khaled bedeutet die Suche nach seinem Freund, dessen Ansehen zu retten, denn die Auftraggeber haben ihn im Verdacht, ein »Verräter« zu sein. Für Said, der mit einer Bombe am Körper herumläuft, heißt die Suche nach den Auftraggebern, sich an der Grenze zwischen Leben und Tod zu bewegen.

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Ausschlaggebend für den Konflikt ist nicht nur die Freundschaft zwischen den beiden Männern, sondern auch die Bekanntschaft mit einer Frau namens Suha. Suha wurde in Frankreich geboren, aufgewachsen ist sie in Marokko, nun lebt sie wieder auf der West Bank, in Nablus. Suha ist die Tochter eines Märtyrers, der »den Mossad verrückt gemacht hat«. Sie ist verliebt in Said. Suha steht im Film für Emanzipation und fortschrittliches Denken. Sie scheint Said in allem überlegen. So verfügt sie über mehr Bildung als er, über Auslandserfahrung, hat Geld und eine elegante Wohnung. Wenn sie sich mit Said unterhält, scheitert dieser nicht nur am Inhalt der Gespräche, sondern schon an ihrer Wortwahl. Wie selbstverständlich verwendet sie Fremdwörter und Fachbegriffe, die Said, der nie etwas anderes gesehen hat als Nablus und dessen unmittelbare Umgebung, unbekannt sind. Suha hat kein Verständnis für die Bewunderung, die Said ihrem verstorbenen Vater entgegenbringt. »Lieber wäre mir, er würde noch leben«, erklärt sie ihm. Mehrfach streiten sie sich über die Art und Weise eines sinnvollen Widerstandes gegen die israelische Besatzungspolitik. Als sie gemeinsam in ein Geschäft gehen, entdeckt Suha zufällig, dass der Verkäufer sowohl Videos mit Erschießungen von Kollaborateuren als auch Inszenierungen von Märtyrern mit Koran und Kalaschnikow im Angebot hat. Suha ist irritiert darüber, dass diese unterschiedlichen Motive in ein und demselben Regal stehen. Schließlich werden die einen Videos als Botschaften von Helden gehandelt, die andern als Vernichtung von Feinden. Doch dass beides im Grunde genommen im realen Leben wie auf dem Video im Laden nicht weit voneinander entfernt sein muss, erfährt man, als Said Suha erzählt, dass sein Vater Kollaborateur war und von palästinensischen Milizen erschossen wurde. Suha reagiert verständnisvoll und bietet Said an, darüber zu reden. Doch Said hat kein Interesse an einem Gespräch, da dies nichts an der israelischen Besatzungspolitik und seiner eigenen familiären Situation ändere. Als Said und Khaled plötzlich kurz rasierte Haare und Anzüge tragen, begreift Suha, dass sie als Selbstmordattentäter ausgewählt wurden.23 Suha reagiert entsetzt und versucht, die beiden zu überzeugen, dass sie den falschen Weg gehen. Selbstmordattentate seien keine Lösung, man müsse »einen moralischen Krieg führen«. Spätestens an dieser Stelle im Film erscheint die Gegenüberstellung der Religiosität der Selbstmordattentäter mit der kulturell offenen Suha problematisch. Suha ist sehr westlich gezeichnet, sie steht für Fortschritt,

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Emanzipation und Moderne. Auch ihre Argumentation, man müsse »einen moralischen Krieg« führen, erscheint als westlich geprägt, da diese Begrifflichkeit von den USA im Kampf gegen den Terror – v. a. in Bezug auf weibliche Emanzipation, die in den westlichen Ländern vermeintlich erreicht sei – angeführt wurde.24 In der Rede von einem moralischen, gerechten Krieg wurden Ungerechtigkeiten legitimiert. Indem Suha von einem moralischen Krieg spricht, wird suggeriert, dass es einen gerechten Krieg gebe. Da der Film den Anspruch hat, solche Vorstellungen zu kritisieren, wäre es naheliegend, auch Begriffe wie »gerechter Krieg« oder »moralischer Krieg« zu dekonstruieren, anstatt sie plakativ einzusetzen und damit zu stützen.25 Suha kann Said nicht überzeugen. Während Khaled im letzten Moment die Fronten wechselt und sich gegen das Selbstmordattentat entscheidet, sieht man Said in einer der letzten Szenen des Films in einem Bus. Diesmal befinden sich keine Zivilisten und Kinder neben ihm, sondern israelische Soldaten. Man weiß, dass er jeden Moment auf den Auslöser drücken kann. Der Film schildert die komplexe Entscheidungsfindung der Attentäter. Anstatt der emotionalen Herangehensweise in »Alles für meinen Vater« wird versucht, das Thema Selbstmordattentat möglichst realistisch als Ergebnis einer bestimmten Entwicklung der Akteure darzustellen. Während Said zu Beginn des Films Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns hat, ist er es, der am Ende das Selbstmordattentat ausführen will. Khaled, der zu Beginn begeistert von dem Attentat ist, bekommt schließlich Bedenken und entscheidet sich gegen die Ausführung der Tat. Entscheidungen stehen nie von vorneherein fest, so die Aussage des Films, sondern sind von unseren Erfahrungen geprägt. Prinzipiell ist ein anderer Weg, eine andere Entscheidung als die einmal getroffene, denkbar. Die Vorstellung wandelbarer Entscheidungen und diesen zugrunde liegender Identitäten wird durch die Kategorie Geschlecht jedoch zum Teil unterlaufen. Wie Keren in »Alles für meinen Vater« steht Suha hier für »Hoffnung« und »Zivilisation«. Sie erscheint als allegorische Gestalt, die wenig mit dem realen Alltag von Frauen in der Region zu tun hat.26 In »Paradise Now« erscheint dies noch problematischer als in »Alles für meinen Vater«, da der Film mit äußerstem Realismus inszeniert ist, weitgehend auf Wertungen verzichtet und dadurch den Anschein des Dokumentarischen erweckt. Musik und Hintergrundgeräusche werden sehr sparsam eingesetzt. Gesichter und Blicke sind in Groß- und Detailaufnahmen gezeigt, um die Gefühle der Personen darzustellen. Die in Israel gedrehten Szenen

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sind sehr hell gefilmt, was die für Palästinenser/innen fremde und feindliche Umgebung symbolisieren kann. Der Rückbezug auf allegorisierende Geschlechterbilder führt dazu, Stereotype von Identität zu stützen, die an anderen Stellen im Film, etwa durch den Einsatz der beschriebenen filmtechnischen Mittel und das offene Ende, zu dekonstruieren versucht werden.

H INTERFR AGUNG FESTSTEHENDER I DENTITÄTEN Stehen in »Alles für meinen Vater« und »Paradise Now« heterosexuelle Beziehungen und traditionelle Männerfreundschaften im Zentrum der Darstellung, so thematisiert »The Bubble« homosexuelle Partnerschaften und alternative queere Lebenszusammenhänge. Das wird bereits in einer der ersten Szenen des Films deutlich. »Und wie waren die Jungs in der Armee? Kein einziger sexy Selbstmordattentäter heute?«, fragt der homosexuelle Yali seinen Mitbewohner, den Reservesoldaten Noam, als dieser aus Nablus zurück nach Tel Aviv kommt. Noam kann über die ironische Frage nicht lachen. Den ganzen Monat über hatte er mit anderen Reservesoldat/inn/en den Grenzposten in Nablus zu überwachen und die Palästinenser/innen, die die Grenze passierten, zu kontrollieren. Der Film zeigt die Konflikte an der Grenze mit extremem Realismus, der an die Aufnahmen in dem Dokumentarfilm »Checkpoint« (2003) erinnert. Heute war Noams letzter Tag. Die Vorfälle am Checkpoint waren die üblichen. Die Männer mussten ihre Hemden hochziehen, um zu beweisen, dass sie keine Bombe darunter verbargen. Auch vor einer schwangeren Frau machte die Kontrolle nicht halt. Während der Kontrolle setzten die Wehen ein, und die Frau hatte eine Totgeburt. Ein Fernsehteam filmte das Schreien der Frau, die Wut der Palästinenser/ innen, die überzeugt waren, die israelischen Soldaten seien schuld an der Totgeburt. Festgehalten wurde auch die Aggressivität der israelischen Soldaten, die in die Luft schossen, um Ruhe herzustellen. Dass Noam der israelischen Besatzungspolitik kritisch gegenübersteht, sieht man an seinem verzweifelten Gesichtsausdruck, als er versucht, der schwangeren Frau zu helfen. Nach der Totgeburt hat er neben Schweiß auch Blut des toten Kindes im Gesicht. Auf der Fahrt im Auto nach Tel Aviv versucht er, die Erlebnisse hinter sich zu lassen, während er im Rhythmus des Refrains »This ist the first day of my life« vor sich hin summt.

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Zurück in Tel Aviv versuchen seine Freundin Lulu, sein Freund Yali und er, in ihrer Wohngemeinschaft ein Stück Normalität zu leben. Doch plötzlich steht ein Palästinenser namens Ashraf vor der Tür. Ashraf war einer der Männer, die am Checkpoint ihr Hemd hochziehen mussten. Ashraf drückt Noam dessen ID-Card in die Hand und erklärt, dass er diese wohl während der Turbulenzen am Checkpoint verloren habe. Begann der Film mit dokumentarisch anmutenden Aufnahmen am Checkpoint, so folgt nun eine Liebesgeschichte mit utopischen Elementen und dekonstruktivistischem Potential. Bereits in der Szene am Checkpoint wurde dies angedeutet, als Ashraf dem Befehl eines Soldaten, sein Hemd hochzuziehen, betont langsam folgte und damit aus der demütigenden Anweisung eine Art parodistischen Strip machte. Noam, dessen Abwehr gegen die Situation am Checkpoint und die Demütigungen der Palästinenser/innen unter anderem in seinen Kommentaren seinem Vorgesetzten gegenüber deutlich wurde, begann zum ersten Mal, Interesse zu zeigen. Er nahm den Kopfhörer seines MP3-Players ab und begann, sich anstatt der Musik Ashrafs Strip zu widmen. Wie schon in »Yossi & Yagger« (Israel 2002) inszeniert Regisseur Eytan Fox auch in »The Bubble« die Kombination politischer Konflikte mit einer Liebesgeschichte und der Darstellung von Homosexualität. Stehen in »Yossi & Yagger« Liebesszenen und die Thematisierung von Problemen eines homosexuellen Coming-outs im israelischen Militär im Zentrum, so geht es in »The Bubble« um ein kompliziertes Geflecht von Konstruktionen des »Eigenen« und des »Anderen«. Noam und Ashraf tauschen auf dem Balkon begehrliche Blicke aus. Schnell wird klar, dass sie dasselbe wollen (Abb. 1). Doch nach dem Liebesakt werden sie gleich wieder von der Politik eingeholt. Der Palästinenser Ashraf erklärt, dass die Erlebnisse am Checkpoint, während derer sie sich zum ersten Mal begegneten, für ihn Alltag seien, worauf der Israeli Noam lakonisch antwortet: »Du weißt, warum es sie gibt?« Ashraf weicht aus: »Lass die Propaganda. Wir wollen nicht über Politik reden.« Es folgt ein kurzer Wortwechsel: – Noam: »Wir waren explosiv.« – Ashraf: »Explosiv?« – Noam: »Kennst du den Ausdruck nicht?« – Ashraf: »Doch. Eine Bombe explodieren lassen.«

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– Noam: »Explosiv bedeutet auch cool. Guter Sex ist explosiv.« Weisen die Dialoge zwischen Ashraf und Noam eine metaphorische Ebene auf, welche die Differenz zwischen beiden kenntlich macht, so schaffen die Dialoge zwischen Noam und seinem israelischen Mitbewohner Yali eine zusätzliche Ebene, in der ein gewisses ironisches Misstrauen enthalten ist, das sich im Laufe der Filmhandlung zusehends in Eifersucht gegenüber dem Palästinenser Ashraf steigert und eine sich anbahnende Eskalation anzeigt, wie der folgende Dialog deutlich macht: – Yali: »Bleibt er hier?« – Noam: »Er hat keine Aufenthaltsbewilligung. Wenn sie ihn erwischen, landet er im Knast.« – Yali: »Verstecken wir ihn im Schrank?« – Noam: »Sei ruhig. Dort [in Nablus, Anm. E. F.] schwul zu sein ist die Hölle.« Während Noam und Yali unverbindlich über die Probleme eines homosexuellen Palästinensers reden können, ist Ashraf mit der komplizierten Realität konfrontiert. Das wird deutlich, als Ashraf mit seiner Schwester telefoniert. Er erklärt ihr, dass er aus Nablus wegmöchte und nicht vorhabe, die von seiner Familie für ihn vorgesehene Frau zu heiraten. Seine Schwester zeigt sich verständnisvoll, als Ashraf vorgibt, dass er in Tel Aviv eine Freundin habe, die Christin und geschieden sei. Während Ashraf versucht, existenzielle Dinge zu regeln, steigert Yali seinen Wortwitz zum Thema Selbstmordattentat, den er schon in Abb. 1: Ashraf und Noam

Quelle: »The Bubble« (Eytan Fox, Israel 2006), © by Pro-Fun Media

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einer der ersten Szenen des Films mit der Frage eingeleitet hatte, ob es am Checkpoint »sexy Selbstmordattentäter« gegeben habe, indem er Noam fragt: »Was erwartet einen schwulen Märtyrer im Paradies? 70 Jünglinge oder 70 Muskelpakete? Glaubst du, er kann wählen?« Der Witz hat einen gewissen Sarkasmus, er spielt auf das Versprechen an, das Selbstmordattentätern von Islamisten gegeben wird, im Paradies würden sie für ihre Tat mit schönen Jungfrauen belohnt.27 Yali charakterisiert den Islam insgesamt als homophob und suggeriert, dass sich ein schwuler Mann von dieser Religion kaum angezogen fühlen könne. Damit thematisiert der Film kritisch Islamfeindlichkeit unter Homosexuellen. Darüber hinaus verdeutlicht die Filmszene, dass die ständige Gleichsetzung von Palästinensern mit Selbstmordattentätern auch eine identitätskonstruierende Ebene enthält. In Judith Butlers Diskursanalyse wird davon ausgegangen, dass Zuschreibungen von Identität nicht natürlich, sondern performativ erzeugt werden.28 Die ständige Gleichsetzung von Palästinensern mit Selbstmordattentätern macht sie, so ließe sich in Anlehnung an Butlers Methode der Diskursanalyse sagen, in der Realität tatsächlich zu solchen. Ashrafs Wandlung von einem »normalen jungen Mann« zu einem Selbstmordattentäter zeichnet sich hier also bereits ab. Der Film macht deutlich, dass diese Wandlung nicht in Ashrafs »palästinensischer Natur« liegt, sondern von performativen Zuschreibungen geprägt ist. Damit übt der Film eine differenzierte Kritik an Identitätskonstruktionen im Alltag. Nicht nur die offizielle Politik und das Militär erscheinen als gewalttätig und diskriminierend, wie etwa im Film »Alles für meinen Vater«. Vielmehr wird eine umgekehrte Perspektive eingenommen. Es wird gezeigt, dass scheinbar abstrakte Institutionen wie Militär und Staatsgewalt aus einzelnen Personen bestehen, die der offiziellen Politik kritisch gegenüberstehen können, auch wenn sie diese partiell mittragen. In Bezug auf Noam etwa wird dies deutlich, als im Film erwähnt wird, dass er den Militärdienst nicht verweigert hat. Dennoch ist er in der israelischen Friedensbewegung aktiv. Er verliebt sich in einen Palästinenser und hat keine diskriminierenden Vorannahmen, trägt diese zum Teil aber mit. Dies wird auch an seiner Mitbewohnerin Lulu deutlich, als sie Yali auffordert, mit seinem Spott gegenüber Ashraf aufzuhören und sich für ihn einzusetzen. – »Komm schon«, erklärt sie, »endlich können wir mal jemandem helfen.« Für sie beinhalten die Konflikte, die aus der Beziehung zwischen ihrem Freund und Mitbewohner Noam und dem Palästinenser Ash-

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raf entstehen, Abenteuer und Spaß, während sie für Ashraf bitterer Ernst bedeuten. Insofern hat ihre Haltung gegenüber Ashraf neben einer kollegialen auch eine koloniale Geste. Selbst als Lulu und Yali ihm helfen, wird das deutlich. – »Ich habe ihn als Kellner eingestellt,« erklärt Yali, »wir brauchen einen neuen Namen, einen neuen Lebenslauf.« Ashraf muss eine jüdische Identität annehmen, um nicht als Palästinenser aufzufallen. Niemand darf seine palästinensische Herkunft bemerken, da er sich illegal in Tel Aviv aufhält. Schließlich bekommt er den Namen Shimi. »Das kommt von Shimon«, weiß Lulu, worauf Yali zu witzeln beginnt, dann sei Ashraf alias »Shimi« wohl der erste jüdische Selbstmordattentäter. »Ich will sterben mit den Philistern!«, ruft er lachend aus und spielt damit auf das Ende der biblischen Figur Simson an. Zur Zeit Simsons wurde das Volk Israel von den Philistern unterdrückt. Als Simson von diesen gefangen genommen wurde, beschloss er, sich an den Philistern, von denen sich 3000 in einer großen Halle versammelt hatten, zu rächen. So heißt es im Alten Testament: »Simson aber rief den Herrn an und sprach: ›Herr, Herr, denke an mich und gib mir Kraft!‹ […] Und er umfasste die zwei Mittelsäulen, auf denen das Haus ruhte, die eine mit seiner rechten und die andere mit seiner linken Hand, und stemmte sich gegen sie und sprach: ›Ich will sterben mit den Philistern!‹ […] Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war […].« 29

Ungewollt hat Yalis Ausruf »Ich will sterben mit den Philistern!« also eine doppelbödige Aussage. Sie konstruiert nicht nur die Identität eines palästinensischen Selbstmordattentäters, sie verweist auch darauf, dass Selbstmordattentate nichts spezifisch Palästinensisches an sich haben, sondern auch in anderen Religionen als dem Islam vorkommen.30 An dieser Stelle im Film ist das besonders prägnant, da Ashraf gezwungen ist, eine neue Identität anzunehmen, und diese quasi perfekt adaptiert. Er ist als Palästinenser nicht zu erkennen. Ashraf bekommt Kleidung, wie sie unter jungen israelischen Männern als modern gilt, und die neuen Freunde zeigen ihm, wie er sich als Kellner verhalten müsse, um in einer angesagten Bar in Tel Aviv anzukommen. Da Ashraf nicht nur gut aussieht, was zumeist sympathiefördernd wirkt, sondern auch akzentfrei Hebräisch spricht, vollzieht er die Wandlung perfekt. Erklärungsbedürftig erscheint auch das allerdings: »Warum hast du keinen Akzent?«, möchte Lulu wissen,

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worauf Ashraf kontert: »Akzent sofort zurückkommen. Wie heißen du?« Ashraf erklärt, dass er in Jerusalem aufgewachsen ist. Sein Onkel hatte ein Souvenirgeschäft, und sie hatten viele jüdische Kunden, darum spreche er akzentfrei Hebräisch. Mit der Inszenierung von Ashrafs Identitätswandel wird filmisch umgesetzt, was postkoloniale Theoretiker/innen, etwa Homi Bhabha, analysiert haben: Vorstellungen des kolonialen Anderen werden von Kolonialmächten konstruiert, um ihre eigene Überlegenheit und Identität abzusichern. Die Andersheit ist nicht natürlich, sondern sozial hergestellt. Das bedeutet, dass die Kolonisierten prinzipiell auch den Platz der Kolonisator/inn/en einnehmen können – wovor die Kolonisator/inn/en sich fürchten.31 Im Sinne Bhabhas lässt sich Ashrafs Angleichung an die jüdische Identität als Mimikry beschreiben, als Möglichkeit der Angleichung an die Identität der Kolonisator/inn/en bzw. hier der Besatzer/innen. Dabei wird die Ambivalenz der Mimikry kenntlich: Einerseits erscheint sie als Zwang, eine fremde Identität anzunehmen, andererseits auch als Möglichkeit der Subversion und offensive Strategie.32 Gemeinsam organisieren Lulu und ihre Freundinnen und Freunde einen Rave gegen die israelische Besatzungspolitik. Sie überlegen, ob sie nicht auch Palästinenser/innen einladen sollen. »Kennt jemand einen netten Palästinenser?«, fragt eine junge Frau in die Runde. Auch hier wird eine Kritik deutlich. Indem sie fragt, ob jemand einen »netten Palästinenser« kenne, suggeriert sie, dass die Mehrzahl möglicherweise nicht »nett« ist. »Das klappt fast nie. Sie bekommen nie einen Passierschein«, erklärt eine andere und fragt, ob jemand schon einmal im Westjordanland gewesen sei. Noam erzählt, dass er gerade einen Monat in Nablus war. Der Palästinenser Ashraf hingegen schweigt, und man begreift, dass er ohne weiteres für einen Israeli gehalten wird. Das Spiel mit der Dekonstruktion von Identitäten wird noch weitergeführt, als ein aggressiver israelischer Soldat namens Golam auftaucht, der versucht, Yali zu verführen. Golam hält den Israeli Noam für einen Palästinenser, weil seine Kleidung so aussehe, wie sich die Palästinenser gern kleiden würden. Der Palästinenser Ashraf hingegen fällt ihm nicht als solcher auf. Identität erscheint im Sinne Bhabhas als »gespalten« und »hybrid«.33 Golam nutzt die Gelegenheit, um sich abfällig über Palästinenser zu äußern, worauf Lulu konternd fragt, ob seine Kameraden beim Militär eigentlich wüssten, dass er »vom anderen Ufer« ist. Golam kann das nicht aus der Fassung bringen: »Wenn man gegen den terroristi-

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schen palästinensischen Feind kämpft«, gibt er zur Antwort, »spielt es keine Rolle, ob man hetero- oder homosexuell ist. Ich habe mich wie ein Mann geoutet.« Anders als in »Alles für meinen Vater« sind die Charaktere nicht eindeutig gezeichnet, sondern komplex. Der Film verdeutlicht, dass auch die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich marginalisierten Gruppe, hier von Menschen mit einer homosexuellen Orientierung, kein Garant für eine reflektierte politische Verhaltensweise ist. Wirken die Freunde in ihrer politischen Haltung uneindeutig, so erscheinen zumindest Teile der Bevölkerung offen aggressiv gegenüber den Palästinensern. Das wird deutlich, als die Freunde in Tel Aviv Werbung für den geplanten Rave gegen die israelische BesatAbb. 2: Noam, Ashraf, Lulu und Yali auf dem Plakat zum Rave gegen die Besatzung

Quelle: »The Bubble« (Eytan Fox, Israel 2006), © by Pro-Fun Media

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zungspolitik machen. Auf die besetzten Gebiete zu verzichten, bedeute, »Frieden mit Terroristen« zu schließen, hält eine Frau den jungen Leuten entgegen. Sie werden von aufgebrachten Passant/inn/en eingekesselt, die immer aggressiver werden, sodass sie schließlich mit ihren Plakaten flüchten müssen. Die Plakate (Abb. 2) hat Lulu entworfen: Sie zeigen die Freunde nackt mit Feigenblättern in den Farben der Nationalflaggen von Palästina und Israel. Mit ihrer queeren Ästhetik der Körperdarstellung übermitteln die Plakate eine Kritik an patriarchalen Funktionsweisen von Militärgewalt und Politik. In einem Gespräch zwischen Ashraf und Noam wird die Sicht von Palästinenser/innen deutlich. Ashraf erzählt, dass er in Jerusalem aufgewachsen ist und seine Familie gern dort wohnen geblieben wäre. Seine Eltern sparten Geld und bauten ein Haus. Doch dann wurde das Haus von israelischen Baggern niedergerissen. Weil sie Palästinenser waren, hatten sie keine Chance, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Sein Vater beschloss, die israelischen Papiere zurückzugeben und nach Nablus zurückzukehren. Seine Mutter wäre lieber in Jerusalem geblieben, gab aber dem Drängen seines Vaters nach. Ashraf passt sich perfekt an seine Umgebung an. Doch er wird von einem Israeli erkannt, der ihn bei früherer Gelegenheit als Palästinenser kennengelernt hat. Dieser nutzt die Situation, um sich wegen einer zurückliegenden Streitigkeit zu rächen und Ashraf im Café als Palästinenser zu denunzieren, der sich illegal in Tel Aviv aufhält. Ashraf bleibt nur die Flucht zurück nach Nablus, ohne sich von Noam zu verabschieden. Der Rave am Meer von Tel Aviv gegen die Besatzung bildet nur einen kurzen Augenblick des Glücks für Ashraf und Noam, als Ashraf es unerwartet durch den Checkpoint schafft und teilnehAbb. 3: Ashraf und Noam (Bildmitte) beim Rave gegen die Besatzung am Strand von Tel Aviv

Quelle: »The Bubble« (Eytan Fox, Israel 2006), © by Pro-Fun Media

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men kann (Abb. 3). Denn als sich in Tel Aviv ein Selbstmordattentäter aus Nablus in die Luft sprengt, spitzt sich die Lage zu. Yali wird bei dem Attentat verletzt und liegt im Krankenhaus. Für Noam ist das ein Grund, sich emotional von seinem palästinensischen Freund zu distanzieren. Auf dessen besorgte Anrufe reagiert er nicht, das Telefon nimmt er nicht ab. Dabei weiß er das Schlimmste noch gar nicht: Ashrafs Familie ist in das Attentat verstrickt. Jihad, der Ehemann seiner Schwester Rana – sie haben am Tag zuvor geheiratet –, ist HamasFührer und hat das Attentat mitorganisiert. Plötzlich eskaliert in Nablus die Gewalt. Man sieht, wie israelische Soldaten auf Ashrafs Elternhaus zustürmen in der Absicht, Jihad festzunehmen. Ziellos wird in die Luft geschossen. Zufällig gerät Rana in die Schusslinie und stirbt. Ashraf ist über den Tod seiner Schwester verzweifelt. Kurz zuvor hatten sie sich entzweit. Ashraf hatte sich ihr als homosexuell geoutet, doch statt des erhofften Verständnisses traf er bei Rana auf Entsetzen. Ihre Hochzeit konnte sie kaum mehr genießen; wenn sie Ashraf ins Gesicht sah, kamen ihr die Tränen. Den Tanz mit Ashraf (Abb. 4) brach sie ab. Nun soll Ashraf zur Vernunft bzw. zur Heterosexualität gebracht werden. Er soll Samira, eine Cousine von Jihad, heiraten. Jihad, der ebenfalls von Ashrafs Homosexualität erfahren hat, setzt diesen massiv unter Druck (Abb. 5). Samira ist der palästinensischen Politik gegenüber sehr kritisch eingestellt. Sie hat gerade die Aufnahmeprüfung für das Architekturstudium bestanden und beschlossen, nach London auszuwandern. Sie bittet Ashraf, sie zu heiraten und ihr nach London zu folgen. Offensichtlich ist sie verliebt in Ashraf. Doch dieser kann mit dem Angebot nichts anfangen, obwohl Samira intelligent, gutaussehend und gebildet ist und – wie Ashraf – keinen Hehl daraus macht, dass sie aus Nablus wegmöchte und ihr Jihad und seine Freunde aus der HamasBewegung zuwider sind. Die Enttäuschung, als sie von Ashraf einen Korb bekommt, ist ihr deutlich anzusehen. Anders als Keren in »Alles für meinen Vater« oder Suha in »Paradise Now« ist Samira keine allegorische Figur. Sie steht in ihrem fortschrittlichen Denken nicht für »Hoffnung« oder in ihrer Prägung durch die westliche Kultur für »die Rückschrittlichkeit« der arabischen Welt. Vielmehr erscheint sie als hybride Figur, welche die komplexe Situation in der Kultur, in der sie lebt und die sie gern verlassen möchte, erfahrbar macht. Auch Rana erscheint nicht als Allegorie. Sie ist mit einem Hamas-Führer und islamistischen Terroristen verheiratet. Frauen im Umfeld des is-

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lamistischen Terrorismus werden in westlichen Medien zumeist als vollständig unterdrückte Wesen gezeigt, die in Passivität gezwungen seien und keinen eigenen Willen verfolgen dürften.34 Demgegenüber erscheint Rana durchaus als selbstbewusst. Nach der Hochzeit ist nicht ein Kind ihr erstes Ziel, sondern der Abschluss ihres Studiums und der Einstieg in den Beruf. Dass sie in vielen Dingen fortschrittlich denkt, wird auch deutlich, als sie Ashraf verständnisvoll begegnet, als dieser ihr vormacht, er habe eine Freundin, die Christin und Abb. 4: Ashraf und Rana

Abb. 5: Ashraf und Jihad

Quelle zu Abb. 4–5: »The Bubble« (Eytan Fox, Israel 2006), © by Pro-Fun Media

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geschieden sei. Als er sich ihr gegenüber als homosexuell outet, ist sie hingegen verzweifelt und begreift dies als »große Verfehlung«. An der Figur der Rana wird deutlich, dass Kulturen und die Menschen, die in ihnen leben, nie eindeutig sind – wie dies etwa der Einsatz spezifischer Allegorien suggeriert –, auch nicht in konflikthaften politischen Situationen. Kulturen sind vielschichtig und wandelbar – ebenso wie ihre Protagonisten gespalten und hybrid sind. Als Rana tot ist, ist Ashraf verzweifelt. Er weiß, dass Jihad für die Hamas-Bewegung tätig ist, und platzt mitten in die Videoaufnahme hinein, als Jihad mit Koran und Maschinengewehr aufgenommen wird. Er ist dabei, seine Botschaft zu übermitteln, mit einem Selbstmordattentat seine Frau Rana, die nun in Nablus als Märtyrerin gilt, zu rächen. Kurz und knapp teilt Ashraf ihm mit, dass er seinen Platz übernehmen wolle – Schnitt. In der darauffolgenden Szene sieht man Ashraf desorientiert durch die Straßen Tel Avivs irren. Als Noam ihn zufällig durch das Fenster des Cafés, in dem er gerade sitzt, vorbeigehen sieht, rennt er auf die Straße. Das letzte Bild zeigt eine Szene der Verwüstung und zwei zugedeckte Leichen – dann folgt ein Schnitt. Man sieht Ashraf und Noam als Kinder miteinander spielen, wobei es sich um die letzten Gedanken eines der beiden Sterbenden handeln kann. Ashrafs Selbstmordattentat ist kein Attentat aus Überzeugung, sondern ein Suizid aus Verzweiflung. In Bezug auf die propagandistische Inszenierung von Selbstmordattentaten in islamistischen Medien ist dies besonders bedeutsam, da im Islam Suizid ausdrücklich verboten ist.35 Islamisten unternehmen große Anstrengungen, um Selbstmordattentate – beispielsweise mit Hilfe von Prädestinationsvorstellungen – nicht als Suizid, sondern als »gottbestimmten Todeszeitpunkt« auszulegen. Nur die Wahl im Sinne des Märtyrertodes sei selbst gewählt.36 Diese propagandistische Auslegung wird, ähnlich wie Klischees reproduzierende Interpretationen von Selbstmordattentaten in westlichen Medien, in »The Bubble« dekonstruiert. Identitäten erscheinen im Film nicht feststehend, sondern vielschichtig und hybrid. Traditionelle Geschlechterbilder werden mit Hilfe queerer Identitäten kritisiert. Gleichzeitig werden Feindbilder unter Homosexuellen kenntlich gemacht. Insofern kann der Film als »queer« bezeichnet werden, d. h. als Versuch, nicht nur homosexuelle Identitäten und Lebensentwürfe darzustellen, sondern die Vorstellung feststehender Identitäten und damit vorhandener Binaritäten insgesamt zu dekonstruieren.37

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R ESÜMEE Anhand der drei Filme »Alles für meinen Vater«, »Paradise Now« und »The Bubble« wurde der Versuch analysiert, im Spielfilm vereinfachende Bilder, wie sie in den internationalen Medien häufig über den Nahostkonflikt übermittelt werden, zu hinterfragen. Handelt es sich bei »Alles für meinen Vater« um eine Parabel, so ist »Paradise Now« extrem realistisch gefilmt und nähert sich stilistisch dem Dokumentarfilm an. »The Bubble« vereint mit den realistischen Bildern von Grenze und Checkpoint und der Liebesgeschichte zwischen einem Israeli und einem Palästinenser realistische und utopische Elemente. »Alles für meinen Vater« versucht, über einen emotionalen Zugang Verständnis für die Motivationen eines Selbstmordattentäters zu schaffen, während »Paradise Now« die Thematik Selbstmordattentat rationalisieren möchte, um den Entscheidungsprozess eines Attentäters ins Blickfeld zu rücken. Gemeinsam ist allen drei Filmen, dass sie versuchen, Motivationen aufzuzeigen, die einen Palästinenser zur Entscheidung für ein Selbstmordattentat führen können. Mit dem Mittel der Ironie wird versucht, klischeehafte Vorstellungen zu durchbrechen und Diskriminierungen auf palästinensischer und israelischer Seite kenntlich zu machen. Der Versuch, essentialistische Zuschreibungen von Identität, Religion und Kultur zu konterkarieren, gelingt dabei nicht immer. Bei der Analyse wurde v. a. deutlich, dass die Kategorie Geschlecht in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion einnimmt. Führt die Verwendung stereotyper Geschlechterbilder in den Filmen »Alles für meinen Vater« und »Paradise Now« dazu, Identitäten teilweise neuerlich zu fixieren, so eröffnet »The Bubble« mit einer queeren Perspektive nicht nur Dekonstruktionen von Identitätszuschreibungen, sondern auch eine fundierte Kritik an den vielschichtigen Funktionsweisen von Macht. Die Rezeption politischer Themen wird maßgeblich durch Medien bestimmt. Da über Diskriminierungen von Palästinenser/innen in den Medien nur wenig berichtet wird, kommt dem Spiel- und Dokumentarfilm hier eine aufklärerische Funktion zu. Die Filme können helfen, Unwissenheit zu beseitigen. Trotz aller Klischees, die durch den emotionalen Zugang in »Alles für meinen Vater« produziert werden können, eröffnet auch dieser Film einen möglichen reflektierenden Zugang zum Thema. Wie Hannah Arendt gezeigt hat, resultieren

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Anschuldigungen und Gewalt oft aus Angst. Angst führt dazu, die eigenen Möglichkeiten zu unterschätzen, den Kreislauf von Gewalt zu durchbrechen. Demgegenüber sieht Arendt Verzeihen als Ausdruck von Stärke: »Was die Verfehlungen und somit das vergangene Gehandelte betrifft, so ist der natürliche Gegensatz der Verzeihung die Rache, welche in der Form der Reaktion handelt und daher an die ursprüngliche, verfehlende Handlung gebunden bleibt, um im Verlauf des eigenen reagierenden Tuns die Kettenreaktion, die ohnehin jedem Handeln potentiell innewohnt, ausdrücklich virulent zu machen und in eine Zukunft zu treiben, in der alle Beteiligten, gleichsam an die Kette einer einzigen Tat gelegt, nur noch reagieren, aber nicht mehr agieren können. Im Unterschied zur Rache, die sich als eine natürlich-automatische Reaktion gegen Verfehlungen jeder Art einstellt und die auf Grund der Unwiderruflichkeit der Prozesse des Handelns berechenbar ist, stellt der Akt des Verzeihens in seiner Weise einen neuen Anfang dar und bleibt als solcher unberechenbar.« 38

Insofern ist der Film »Alles für meinen Vater« mit seiner Emotionalität und den zahlreichen Darstellungen versöhnlicher Gesten geeignet, das Potential aufzuzeigen, das der Verzicht auf Rache eröffnet. Es ist zu erwarten, dass Spielfilmen, die den Nahostkonflikt thematisieren, auch in den nächsten Jahren ein wichtiges Potential zukommt, unerwartete Entwicklungen und die Möglichkeit, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, aufzuzeigen. Dass in diesem Zusammenhang auch die Darstellung des Körpers mit seinen spezifischen Geschlechtercodierungen eine Rolle spielt, scheint nicht nur inhaltlich begründet, sondern auch an der Verbindung des Mediums Film mit dem Körper selbst zu liegen: »Die Dispositive des Films sind schon an sich körperlich relevant: Der Kamerablick simuliert ein körperliches Sehen, das die Rezipierenden identifizierend wahrnehmen können – als seien sie selbst im Raum, als erlebten sie es von außen, als seien sie Voyeure und beobachteten die Beobachtung.« 39

Umgekehrt kann Film mit seinen spezifischen Möglichkeiten, wie etwa Montage, Schuss/Gegenschuss etc., den Konstruktionscharakter von Körperlichkeit, (nationaler) Identität und Geschlecht aufzeigen und bestimmte Erwartungshaltungen durch ungewohnte Ansichten und Interpretationen durchbrechen. Die Wahrnehmung von Grenzen

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ist nicht nur medial vermittelt, sondern steht darüber hinaus auch in einer spezifischen Beziehung zu Körperlichkeit, wie beispielsweise Judith Butler gezeigt hat: »Die Ontologie des Körpers kann als Ausgangspunkt für eine Neukonzeption der Verantwortung dienen, eben weil der Körper sowohl an seiner Oberfläche als auch in seiner Tiefe ein soziales Phänomen ist: Er ist anderen ausgesetzt, er ist per definitionem verletzlich. Sein Bestand hängt von sozialen Bedingungen und Institutionen ab; um ›sein‹ oder ›bestehen‹ zu können, muss sich der Körper auf das verlassen, was sich außerhalb seiner selbst findet. Wie lässt sich Verantwortung auf der Grundlage dieser sozial ekstatischen Struktur des Körpers denken?« 40

Ein Körper hat, wie Butler betont, keine Grenzen: »Er ist außer sich, in der Welt der anderen, in einem Raum und in einer Zeit, die er nicht beherrscht, und er existiert nicht nur im Vektor dieser Beziehungen, sondern ist selbst dieser Vektor. In diesem Sinne gehört der Körper nicht (zu) sich selbst.« 41

Eine produktive Neukonzeption von Verantwortung läge, so Butler, in der Anerkennung der Verletzlichkeit des Körpers. Butler zeigt auf, dass Grenzen künstlich gezogen werden, indem, etwa in Propaganda zu Kriegszeiten, manche Körper als unverletzlich und autonom gesetzt werden, während andere als verletzbar gelten. Butler zufolge liegt das Potential einer Neukonzeption von Verantwortung – in Bezug auf den Nahostkonflikt – darin, zu fragen, wie Körper in ihrer Beziehung zu anderen konzipiert und Grenzen künstlich gezogen, aber auch wieder aufgelöst werden können. Da der Film, wie oben gezeigt wurde, eng mit Körperlichkeit verwoben ist, scheint er besonders geeignet, Grenzziehungen zu medialisieren, in ihrer Problematik verständlich zu machen und in ihrer vermeintlichen Natürlichkeit zu hinterfragen. Der Kategorie Geschlecht kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da Geschlecht lange Zeit als etwas Natürliches, Unhinterfragbares galt und insofern oft als Metapher eingesetzt wurde und wird, um vermeintlich unhintergehbare Wahrheiten zu thematisieren. Bei der filmischen Inszenierung von Grenzen ist es daher besonders produktiv zu analysieren, an welchen Stellen die Kategorie Geschlecht ins Spiel kommt, um Grenzziehungen zu naturalisieren oder zu kritisieren und das

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Einhergehen sexueller und nationaler Identität mit Gewaltverhältnissen in den Blick zu nehmen.

A NMERKUNGEN 1 | Gilles Kepel: Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München, Zürich: Piper 2002, S. 197–205, S. 382–391. Zum Nahostkonflikt bis zur Gründung des Staates Israel im Jahr 1948: Gudrun Krämer: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, München: C. H. Beck 2002. 2 | Vgl. hierzu: Interview mit Dror Zahavi, DVD »Alles für meinen Vater«. Arthaus, Kinowelt GmbH 2009. 3 | Vgl. zu diesen Vorwürfen kritisch reflektierend und zusammenfassend Achim Rohde: »Sympathiewerbung für Selbstmordattentäter? Hany Abu Assads preisgekrönter Film ›Paradise Now‹«, in: ak – analyse und kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 500, vom 18.11.2005. Darüber hinaus siehe die Beiträge in: Dietmar Regensburger/Gerhard Larcher (Hg.), Paradise now!? Politik – Religion – Gewalt im Spiegel des Films, Marburg: Schüren 2009. 4 | Vgl. Interview mit Dror Zahavi auf: http://www.tagesspiegel.de/kultur/ erschoepfung-als-chance/1423888.html vom 29. April 2011. 5 | Ebd. 6 | Ebd. 7 | Demgegenüber setzt sich die Titelgeschichte des »Zeitmagazin« vom 8. Januar 2009 auf sehr emotionale Weise mit den Motivationen einer Selbstmordattentäterin auseinander (vgl.: »Meine Tochter, die Attentäterin«, Zeitmagazin vom 8.1.2009). Es erscheint geschlechtsspezifisch, dass das Selbstmordattentat bei einer Frau erklärungsbedürftig erscheint, bei männlichen Selbstmordattentätern hingegen kaum. Zur Emotionalität solcher Auseinandersetzungen auch Claudia Brunner/Daniela Hrzán: »Female Suicide Bombing – Female Genital Cutting: Wissen über ›die ganz Andere‹ im Spannungsfeld von physischer, politischer und epistemischer Gewalt«, in: Femina Politica. Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 2 (2009), S. 95–105. 8 | Nasr Hamid Abu Zayd: »Fundamentalismus. Von der Theologie zur Ideologie«, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 159–169, hier S. 167. 9 | http://www.thefreedictionary.com/Tanzim vom 28. April 2011.

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10 | Entgegen islamistischen Auslegungen gibt es im Koran keinen Beleg dafür, dass diese Jungfrauen als Belohnung für religiöse Märtyrer vorgesehen seien. Jane L. Smith: »Representations: Afterlife Stories«, in: Suad Joseph (Ed.): Encyclopedia of Women & Islamic Cultures. Volume V, Leiden, Boston: Brill 2007, S. 400–402, hier S. 401. 11 | Zur Faszination von religiösen Klischees über Selbstmordattentäter, wie das der sie im Paradies erwartenden schönen Jungfrauen, schreibt Claudia Brunner: »Mit zum Repertoire dieser Stereotypisierung gehört auch immer noch das Bild der im Jenseits auf islamistische Attentäter wartenden Jungfrauen, das auch auf Terrorismusforschende eine enorme Anziehungskraft auszuüben scheint, wird es doch immer wieder als mögliche Motivation ins Treffen geführt oder in Halbsätzen angedeutet. […] Einem möglicherweise auch sozialwissenschaftliche (Männer-)Fantasien anregenden Topos wie diesem, der Sexualität, Natur, Erotik, Tod und Gewalt bündelt, kann offensichtlich nur schwer widerstanden werden.« Claudia Brunner: Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 259. 12 | Zum Road Movie siehe den Beitrag von Hauke Lehmann in diesem Band. 13 | »Der Versuch von jüdischer Seite, Israel in diesen Zeiten zu kritisieren, entspringt gerade diesem Ethos [sich an den Antisemitismus zu erinnern, Anm. E. F.], möchte ich behaupten. Und obwohl die Kritik oft so hingestellt wird, als sei sie unempfindlich für jüdisches Leiden in Vergangenheit und Gegenwart, ist ihre Ethik genau aus dieser Erfahrung des Leids hervorgegangen – damit das Leiden selbst vielleicht ein Ende hat, damit etwas, das wir zu Recht die Unantastbarkeit des Lebens nennen könnten, gerecht und wahrhaft gewürdigt werden kann. Die Tatsache großen Leidens rechtfertigt weder Rache noch legitime Gewalt, sondern muss im Sinne einer Politik mobilisiert werden, die das Leiden universell verringern will, einer Politik, der es darum geht, die Unantastbarkeit des Lebens, aller Menschenleben, anzuerkennen.« Judith Butler: »Der Antisemitismus-Vorwurf. Juden, Israel und die Risiken öffentlicher Kritik«, in: Dies.: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 121–153, hier S. 123. 14 | Vgl. die Kritik von Thorsten Funke: Alles für meinen Vater, http://www. critic.de/film/alles-fuer-meinen-vater-1493/ vom 22. Januar 2011. 15 | Dies gilt nicht nur für »Alles für meinen Vater«, sondern lässt sich auch in anderen filmischen und literarischen Verarbeitungen von politischen Konflikten, die eine Liebesgeschichte enthalten und oft an die Romeo-undJulia-Tragödie angenähert sind, feststellen. Auf ähnliche Weise wie in »Alles für meinen Vater« geschieht dies beispielsweise in Erika Fischers Roman

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»Aimée und Jaguar« und seiner Verfilmung durch Max Färberböck (Deutschland 1999), in denen es um die lesbische Liebe zwischen einer jüdischen und einer nichtjüdischen Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus geht. Die Politikwissenschaftlerin Gudrun Hauer hat gezeigt, wie in der literarischen und filmischen Annäherung der historisch dokumentierten und für die jüdische Protagonistin tödlich endenden Liebesgeschichte an die Romeo-und-Julia-Tragödie eine Analyse realer politischer Konflikte leicht konsumierbar gemacht wurde. Gudrun Hauer: »Erika Fischers Aimée & Jaguar. Eine Analyse ausgewählter Beispiele der Rezeptionsgeschichte«, in: Elke Frietsch/Christina Herkommer (Hg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945, Bielefeld: transcript 2009, S. 395–411. 16 | Teresa de Lauretis: Alice doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema, Bloomington: Indiana University Press 2000. 17 | Vgl. hierzu auch einzelne Beiträge in D. Regensburger/G. Larcher (Hg.), Paradise now!?. 18 | Zu Islamismus als Ideologie und Propaganda: Mathias Rohe: »Islamismus in Deutschland. Einige Anmerkungen zum Thema«, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 171–184. 19 | Dass der Regisseur in dem Film versucht, eine klare politische Botschaft umzusetzen, erklärt er im Interview. Vgl. hierzu: Interview mit Dror Zahavi, DVD »Alles für meinen Vater«. Arthaus, Kinowelt GmbH 2009. 20 | Vgl. http://www.zeit.de/2007/47/Nablus vom 22. Januar 2011. 21 | Ebd. 22 | Lila Abu-Lughod: »Writing against Culture«, in: Richard G. Fox (Ed.), Recapturing Anthropology. Working in the Present, Washington: University of Washington Press 1991, S. 137–162. 23 | Das Ritual des Abschneidens »überflüssiger Körperhaare« führt man in islamisch geprägten Kulturen in der Regel vor der Hochzeit durch. Mit der Gleichsetzung von Märtyrertod und Hochzeit und der Gleichsetzung des Paradieses mit einer »Jungfrau« ist es »ins Repertoire der Dschihadisten eingegangen«. Rüdiger Lohlker: Dschihadismus. Materialien, Wien 2009: facultas, S. 73. 24 | Tom Holert: »Wie die Bilder zur Ordnung rufen. Geschlecht, Militär und Fotografie im ›War on Terrorism‹«, in: Linda Hentschel (Hg.), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Macht, Medien und Geschlechterverhältnisse, Berlin: b_books 2008, S. 161–180. Kelly Oliver spricht in diesem Zusammenhang sogar von Frauen als »Kriegswaffen«: Kelly Oliver: Women as Weapons of War. Iraq, Sex and the Media, New York: Columbia University Press 2007.

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25 | Nicht nachvollziehbar hingegen ist m. E. die – insbesondere von israelischer Seite – geäußerte Kritik, dass der Film »Paradise Now« für Verständnis gegenüber Selbstmordattentätern werbe und antisemitisch ausgerichtet sei. Vgl. hierzu auch die reflektiert kritische Auseinandersetzung mit diesen ablehnenden Stimmen von Achim Rohde. Rohde: »Sympathiewerbung für Selbstmordattentäter?«. Als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Selbstmordattentaten, die sich auch kritisch mit dem Vorwurf der Sympathiewerbung für Selbstmordattentäter beschäftigt, dem sich Wissenschaftler/innen ausgesetzt sehen können, wenn sie sich mit diesem Thema beschäftigen, siehe: C. Brunner: Wissensobjekt Selbstmordattentat. 26 | Vgl. zur Situation von Frauen in verschiedenen arabischen Ländern die Statistiken des »Arab Development Human Report« 2005: »Towards the Rise of Women in the Arab World«, unter: http://www.arab-hdr.org/reports/ stats.aspx?gid=1 vom 22. Januar 2011. 27 | Wie Anm. 10 und 11. 28 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. 29 | Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1985, Ri 16, 28–30, S. 272–273. 30 | Auch von Seiten der Islamwissenschaft wird auf die Bibelstelle hingewiesen, um kenntlich zu machen, dass Selbstmordattentate nicht ausschließlich in muslimischen Kulturen vorkommen, sondern beispielsweise auch in der christlichen und jüdischen Überlieferung zu finden sind. Vgl. hier Thorsten Gerald Schneiders: »Wie viel Islam steckt in einem islamistischen Selbstmordattentat? Einige Überlegungen zur Positionierung gegenüber Gewaltakten«, in: Ders. (Hg.), Islamverherrlichung, S. 329–340, hier S. 329. 31 | Homi K. Bhabha: »Die Frage der Identität. Frantz Fanon und das postkoloniale Privileg«, in: Ders.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg 2007, S. 59–96, hier S. 65–66. 32 | Homi K. Bhabha: »Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des postkolonialen Diskurses«, in: Ders.: Die Verortung der Kultur, S. 125–136. 33 | Vgl. zu diesen Begrifflichkeiten Elisabeth Bronfen: »Vorwort«, in: Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. IX–XIV. 34 | C. Brunner: Wissensobjekt Selbstmordattentat, S. 252–278. 35 | Th. G. Schneiders: »Wie viel Islam steckt in einem islamistischen Selbst mordattentat?«, S. 329. 36 | Ebd., S. 334. 37 | Zum Zusammenhang von Queertheory und Dekonstruktion: Sabine Hark: »Queer Studies«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@

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Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005, S. 285–303. 38 | Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 1967, S. 306–307. 39 | Einleitung, in: Annette Geiger u. a. (Hg.), Wie der Film den Körper schuf. Ein Reader zu Gender und Medien, Weimar: VDG 2006, S. 9–20, hier S. 9. 40 | Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/Main, New York: Campus 2010, S. 39. 41 | J. Butler: Raster des Krieges, S. 57.

Z ITIERTE F ILME »Aimée & Jaguar«, Regie: Max Färberböck, Deutschland 1999. »Alles für meinen Vater«, Regie: Dror Zahavi, Israel 2009. »Checkpoint«, Regie: Yoav Shamir, Israel 2003. »Yossi & Jagger«, Regie: Eytan Fox, Israel 2002. »Paradise Now«, Regie: Hany Abu-Assad, Israel/NL/Deutschland/ Frankreich 2005. »The Bubble«, Regie: Eytan Fox, Israel 2006.

L ITER ATUR Abu-Lughod, Lila: Writing against Culture, in: Richard G. Fox (Ed.), Recapturing Anthropology. Working in the Present, Washington: University of Washington Press 1991, S. 137–162. Abu Zayd, Nasr Hamid: Fundamentalismus. Von der Theologie zur Ideologie, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 159–169. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 1967. Asad, Talal: On Suicide Bombing, Calcutta: Seagull 2008. Bhabha, Homi K.: Die Frage der Identität. Frantz Fanon und das postkoloniale Privileg, in: Ders.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg 2007, S. 59–96. Bhabha, Homi K.: Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des postkolonialen Diskurses, in: Ders.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg 2007, S. 125–136.

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Die Unmöglichkeit der Übersetzung Lisl Pongers Filme »Passagen« und »Déjà vu« im Spannungsfeld von Tourismus und Migration Alexandra Karentzos

Lisl Pongers Film »Passagen«1 aus dem Jahr 1996 beginnt mit einer selbstreflexiven Wendung: Auf der Reling eines Schiffes ist eine weiße Frau im weißen Trägertop zu sehen, die mit einer Kamera, so scheint es, das Meer und den blauen Himmel filmt – ein für den Tourismus typischer Blick: Die Reling fungiert dabei wie die Absperrung einer Bühne und ermöglicht eine ästhetische Distanz zum Objekt der Wahrnehmung (Abb. 1). Die Betrachterin hat eine Art Logenplatz zum Schauspiel des Meeres. Touristisches Sehen wird durch Pongers »Passagen« vorgeführt: Nicht nur die Frau mit der Kamera, sondern auch bereits das Filmmaterial selbst zeigt den touristischen Blick. Es handelt sich dabei, wie auch bei der späteren Arbeit »Déjà vu«2 aus dem Jahr 1999, um Found Footage Filme, die auf Normal-8- und Super-8-Material basieren, auf Amateurfilmen von Weltreisenden aus den 1950er bis 1970er Jahren.3 Durch die Kamera im Film werden somit die Medialität der Arbeit und die Herkunft des Materials reflektiert. Ponger erklärt dazu: »Ich arbeite mit Found Footage Filmen als ›Reservoir‹ touristischer Erfahrung.«4 Die Technik des Super 8 zeichnet sich durch die besondere Körnigkeit und den intensiven Farbton aus und nähert sich damit der Ästhetik von Spielfilmen der 1950er Jahre mit ihrer Technicolor-Ästhetik an. Daran wird wiederum der Stellenwert medialer Dispositive für die touristische Imagination deutlich.5 Der Realitätsanspruch des touristischen »Ich-war-hier« und die Fiktion einer kolorierten Fantasiewelt greifen ineinander. Der Super-8-Film als Souvenir im wörtlichen Sinne dient einer Erinnerung

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an schöne Erlebnisse in der Ferne. Zum einen dient das Souvenir der individuellen Erinnerung, der Visualisierung des Selbst-Erlebten, zum anderen aber implizieren die touristischen Bilder immer auch kollektive Bilder, Topoi, wie etwa – in dem von Ponger verwendeten Material – die Abfahrt vom Hafen mit den winkenden Daheimgebliebenen, die Buntheit und Üppigkeit orientalischer Märkte, Elefanten und Löwen in der Savanne. Die weiße Frauenfigur in der Eingangsszene von »Passagen«, die im Film »Déjà vu« wieder erscheint, repräsentiert jedoch nicht nur diese touristische Sehweise, sondern kann darüber hinaus auch als Anspielung auf die Rolle der Künstlerin betrachtet werden – unabhängig davon, dass es sich bei der Frau an der Reling nicht um Ponger handelt. Die Figur verweist auf die Frage, wer Blickstrukturen bestimmt, und damit nicht zuletzt auf die Position der Künstlerin. Für beide Filme ist Pongers Selbstreflexion von besonderer Bedeutung: Pongers Status als weiße Künstlerin konturiert sich in einem postkolonialen Spannungsfeld, indem der Film kolonialistische Machtstrukturen, insbesondere auch die Verschränkung ethnischer und geschlechtlicher Differenzen, und die Unterscheidung von touristischen Reisenden und Migrierenden spannungsreich problematisiert und die Relevanz von Betrachtungsstandpunkten und Blickregimen herausstellt – ein Zusammenhang, der im Folgenden genauer herausgearbeitet werden soll.6 Abb. 1: Screenshot aus Lisl Ponger: »Passagen/ Passages«, A 1996, 35 mm (Normal-8, Super-8 blow up), found footage, 12 min

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A NDERE O RTE UND O RTE DER A NDEREN Die genannte Eingangsszene auf dem Schiff hat auch in anderer Hinsicht den Charakter einer Exposition: Schiffe und Boote bilden in dem Film »Passagen« wie auch in dessen Fortsetzung, dem Film »Déjà vu«, einen roten Faden. Im Anschluss an die Eingangsszene werden nahe und ferne Ziele auf der Bild- beziehungsweise Tonebene aufgerufen: Wien, Italien, Zaire, Kongo, Nairobi, Venezuela, Casablanca, New York, Cuba, China. So begeben sich die Zuschauer/ innen und Zuhörer/innen auf eine imaginäre Weltreise über Wasser – »Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin.«7 Michel Foucault beschreibt in seinem berühmten Text »Andere Räume«, dass »das Schiff ein schaukelndes Stück Raum ist, ein Ort ohne Ort, der aus einem selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist und der, von Hafen zu Hafen, von Landung zu Landung […], bis zu den Kolonien suchen fährt, was sie an Kostbarstem in ihren Gärten bergen«.8 Der Hinweis auf die Kolonien lässt bereits die Ambivalenz erkennen, die für das Schiff als Heterotopie kennzeichnend ist: Ein Gegenort beziehungsweise Gegenbild zur übrigen Gesellschaft ist das Schiff nicht nur als Vergnügungskreuzer; vielmehr ist es auch mit erzwungenen Reisen verbunden, etwa mit dem Transport von Kolonisierten als Sklaven. Damit bewegt sich das Schiff zwischen utopischen und dystopischen Aspekten der Reise. Foucault weist darauf hin, dass »das Schiff für unsere Zivilisation vom 16. Jahrhundert bis in unsere Tage nicht nur das größte Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist […], sondern auch das größte Imaginationsarsenal.«9 Dem Schiff kommt als Imaginationsarsenal, wie Foucault es beschrieben hat, eine zentrale Rolle zu. Das Kreuzfahrtschiff ist die touristische Heterotopie schlechthin, wie etwa das Architekten- und Künstler-Team NL-Architects überspitzt zeigt, eine eigene Welt in der Welt – eine Welt im Kleinen (Abb. 2). Denn gerade Kreuzfahrtschiffe sind mit vielen Fantasien verbunden, sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Traumschiffe. Auf einem solchen, fiktiven Schiff ist alles bereits vorhanden: Der Sandstrand, die Ruine und das idyllische Bergdörfchen als Touristenattraktion, selbst die Berge sind bereits auf dem Schiff. Man braucht so gar nicht mehr an Land zu gehen. Reisende produzieren und reproduzieren permanent neue Imaginationen und Bildwelten. In der neueren kulturwissenschaftlichen Reiseforschung wird festgestellt, dass Bilder eine wesentliche und

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formierende Rolle in den touristischen Praktiken spielen.10 Die Touristen suchen die Orte der Imagination auf und definieren im selben Moment diese Räume, erschaffen konkrete Orte, ziehen und überschreiten Grenzen, hinterlassen Spuren. Die Bilder des Reisens sind ambivalent, sie bewegen sich in Pongers Filmarbeiten zwischen Utopie und Dystopie: Im Mittelpunkt stehen die Brüche von Fiktion und »Realität«, die Perspektivwechsel von Tourist/inn/en und Migrierenden, Selbst- und Fremdentwürfen. In der Arbeit »Passagen« korrespondiert auf der Tonspur zunächst ein Schiffshorn mit den Bildern einer Überfahrt und eines Schiffsdecks mit Liegestühlen (Abb. 3). Eine Frauenstimme beginnt von einer Einschiffung auf der Donau zu erzählen. Die Erzählungen bleiben fragmentarisch, es beginnt immer wieder eine neue Erzählung, und erst allmählich versteht man, dass es sich um Erfahrungsberichte von Emigranten handelt, deren Flucht erzwungen wurde. Die Gegenüberstellung von freiwilliger Vergnügungsreise auf der Bildebene und erzwungener Flucht auf der Tonebene erzeugt Irritation und bildet ein komplexes Beziehungsgefüge aus. Im Folgenden soll näher auf die künstlerische Technik eingegangen werden, mit der Ponger durch die Konfrontation mit den Fluchterzählungen den touristischen Blick thematisiert. Die mediale Abb. 2: NL-Architects: Cruise City, 2003 (Detail)

Quelle: All Inclusive. Die Welt des Tourismus. Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, hg. von Matthias Ulrich, Max Hollein, Cologne: Snoeck 2008, S. 162–163

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Differenz von Bild und Sprache ist dabei ausschlaggebend: Während die touristischen Bilder nach festen Schemata zur Verklärung des exotischen Anderen als sichtbarer »Wirklichkeit« dienen und damit einem Blickregime unterliegen, verweisen die hörbaren Erzählungen sprachlich auf etwas Nicht-Sichtbares, sich dem Blick Entziehendes. Zum Verhältnis von Bild und Ton in Pongers Filmen hält Elisabeth Büttner fest: »Die Tonspur […] sucht keine Illustration und greift auch nicht in die Autonomie der Bildkomposition ein. Gleichzeitig lenkt sie die Wahrnehmung, zeigt Grenzen und weitere Bedeutungsschichten der Bilder.«11

Der Ton zieht die Aufmerksamkeit so auf die blinden Flecken der jeweiligen Perspektive, den einschränkenden touristischen Blick. An einigen Stellen meint man zwar Korrespondenzen von Bild und Text zu finden, etwa wenn, wie beschrieben, auf der Tonebene ein Schiffshorn erklingt und auf der Bildebene ein Schiff erscheint oder wenn Trommeln zu hören sind, während Trommler in den Filmbildern erscheinen, aber die Erwartung einer Kongruenz wird nicht erfüllt. Bernd Rebhandl hebt hervor, dass das Verhältnis zwischen Bild und Wort offenbleibt: »Es gibt viele mögliche Beziehungen, nur unterbleibt an vielen Stellen die Übersetzung, und damit bricht jedes Konzept einer Übersetzbarkeit zwischen Bild und Wort insgesamt zusammen.«12

Abb. 3: Screenshot aus Lisl Ponger: »Passagen/ Passages«, A 1996, 35 mm (Normal-8, Super-8 blow up), found footage, 12 min

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Lisl Ponger und Tim Sharp weisen darauf hin, dass so immer deutlich bleibt, dass es sich um einen kinematographischen Ton handelt, der mit Annäherungen und Täuschungen den Anschein von Authentizität und kohärenter Narration erweckt: »Geräuschmanipulationen und Taschenspielertricks (das ›alle großen Schiffe müssen im Hafen einmal tuten‹-Syndrom), die wir alle gern für bare Münze nehmen. Aber lange währt dieser Flirt nicht. Bei vielen Gelegenheiten bricht etwas durch, das an finstere Ironie grenzt.«13

Bild und Text stehen nicht beziehungslos zueinander, vielmehr können beide Ebenen immer wieder neu und anders zueinander in Beziehung gesetzt werden. Durch die Überlagerung von Bild und Text verschränken sich sehr differente Mobilitätsformen miteinander: Sind Reisen gerade im westlichen Kontext größtenteils positiv besetzt – als Entdeckungsreise, kosmopolitischer Weltzugang, Selbsterfahrungstrip oder regenerativer Urlaub –, werden in beiden Filmen ebenso die Kehrseiten aufgezeigt – Reisen als Form der Inbesitznahme, der Kommerzialisierung, als repressiver Konformismus oder als unfreiwilliger Wanderungsstrom. Auch auf der Tonebene werden Bilder evoziert, gegenläufige, andere Bilder. Diese stehen in einem komplexen Spannungsverhältnis zur visuellen Ebene des Films, sie sind nicht bloßer Gegensatz. Denn wenn die Bilder der touristischen Imagination mit den Fluchterzählungen verbunden werden, ergeben sich vielfältige Korrespondenzen und unterstützen die eigene Bildproduktion der Zuhörer/innen. Es Abb. 4: Screenshot aus Lisl Ponger: »Passagen/ Passages«, A 1996, 35 mm (Normal-8, Super-8 blow up), found footage, 12 min

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werden zum Beispiel ein Deck mit Liegestühlen auf einem Kreuzfahrtschiff und Boote voller Touristen eingeblendet und gleichzeitig Geschichten der Flucht erzählt, so dass sofort Bilder von Flüchtlingsbooten aus Afrika aufgerufen werden (Abb. 3, 4 und 5). Wie nah Tourismus und Migration als Formen des Reisens mit dem Schiff einander sind, ist in den letzten Jahren besonders eindringlich deutlich geworden an den Medienbildern von Urlaubsorten an den Grenzen Europas: Strandende Flüchtlingsboote aus Afrika an den Küsten der Urlaubsorte konfrontieren die Touristinnen und Touristen, aber auch die breitere Öffentlichkeit in Europa, mit jener anderen Form des Reisens. Während der Tourismus mit der Verheißung grenzenloser Mobilität verbunden ist, zeigt sich gerade an den Flüchtlingsbooten die Macht von Grenzziehungen und Schranken. Diese Migrantinnen und Migranten werden so zu illegalen Einwanderern gemacht. Dort, wo sonst die Touristinnen und Touristen sich in der Sonne bräunen, kommen Menschen aus Afrika erschöpft an Land. In oft kleinen, überfüllten Booten setzen sie sich extremen Gefahren aus, um Europa zu erreichen, einen Kontinent, von dem sie sich ein besseres Leben ohne Armut versprechen. Solche Bilder gehören zum Standardrepertoire der Reportagen zu diesem Thema. Michael C. Hall und Allan Williams sprechen von einem »Tourismus-Migrations-Nexus«, bei dem es die wechselseitigen Verbindungen zu untersuchen gilt.15 Wie Ramona Lenz aufzeigt, ist ein solcher Ansatz sowohl für die Tourismus- wie auch für die Migrationsforschung von Bedeutung, denn er versucht die bloße GegenüberstelAbb. 5: Pressebild »Ansturm auf Spanien: Illegale Einwanderer vor den Kanarischen Inseln«

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Mai 200614

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lung von Migration und Tourismus in Frage zu stellen, die von der Prämisse »sesshafter« Identitäten und »territorial fixierter« Kulturen ausgeht.16 Vielmehr ist es nach Lenz sinnvoll, touristische und migrantische Praktiken als Phänomene heutiger, von Mobilität gekennzeichneter Gesellschaften zu fassen und in Relation zueinander zu setzen. Mobilität bedeutet gegenwärtig nicht nur Freizügigkeit,17 sondern schafft auch neue Differenzen: »Auf der einen Seite scheint die ganze Welt – Menschen, Waren, Ideen – dank neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, verbesserter Reise- und Transportmöglichkeiten, globalisierter Handelspolitiken und Arbeitsmärkte in Bewegung geraten zu sein. Auf der anderen Seite gibt es neue Versuche der Grenzziehung und Grenzüberwachung. Beides – die Forcierung wie Beschränkung von Mobilität – lässt sich am Beispiel von Tourismus und Migration besonders anschaulich darstellen. Während Geschäftsleute, Touristen und andere Global Players sich nach Belieben bewegen dürfen, zählen Migranten zumeist zu den Personengruppen, deren Bewegungsfreiheit durch Grenzschutz und Ausländerbehörden permanenten Kontrollen unterliegt.«18

Diese ungleichen Bedingungen des Reisens werden in den beiden Filmen Pongers in den Blick gerückt. Das Touristenschiff wird in den Filmen über die Tonspur geradezu mit Flüchtlingsbooten gegengelesen. Die Überfülle der Touristenboote spiegelt verzerrt die Überfülle der Flüchtlingsboote, wie sie in den Massenmedien immer wieder vor Augen geführt werden, so zum Beispiel unter dem Titel »Ansturm auf Spanien: Illegale Einwanderer vor den Kanarischen Inseln« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung19 (Abb. 5) oder in einer BenettonKampagne des Fotografen Oliviero Toscani, die solche Bilder von Flüchtlingsströmen für die Werbung einsetzt (Abb. 6).20 Das Bild der vollen Touristenboote legt auch den Vergleich zu der Rhetorik des Slogans »Das Boot ist voll« nahe, der von Asylgegner/inne/n dazu verwendet wird, Länder wie die Bundesrepublik Deutschland als überfülltes Rettungsboot zu imaginieren, das von einer »Asylantenschwemme« bedroht wäre.21 Die Assoziation von Tourist/inn/en und Flüchtlingen besitzt eine besondere politische Brisanz – zu einer Zeit, in der die Europäische Union ihre Grenzen für Menschen aus Afrika undurchlässig macht. Solche Gegenüberstellungen von Tourismus und Migration werden am Schluss des Films »Déjà vu« explizit wiederaufgerufen, wenn

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die Geschichte im Schiffskeller zusammengepferchter Emigranten aus Afrika erzählt wird. Eine männliche Stimme berichtet: »… und die waren im Keller, unten im Schiff, die saßen sehr eng aneinander in kleinen Stühlen […] und die haben mir erzählt, warum sie ihre Länder verlassen müssen: Das Leben ist sehr teuer geworden und sie können kein Geld verdienen und Italien ist nicht weit: ›Sie haben alles dort und wir haben nichts. Und dann sollten wir es auch versuchen. Ein paar Jahre und dann sind wir auch reich.‹«22

Der Erzähler berichtet weiter, wie er das Schiff erkundet; und je höher er kommt, desto luxuriöser wird es: Abb. 6: Oliviero Toscani, Benetton-Werbekampagne 1992

Quelle: Bettina Richter (Hg.): Help! Soziale Appelle im Plakat, Ausst.-Kat. Museum für Gestaltung Zürich Plakatsammlung, Baden: Lars Müller Publishers 2009, Abb. 2

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»Ganz oben sah ich nur Europäer, also ganz junge Leute eigentlich, die saßen so auf ihren Liegestühlen und ich habe sie gefragt: ›Haben Sie gewusst, dass unten ganz viele Nordafrikaner sitzen im Dunkeln auf engen Stühlen?‹ Die haben gesagt: ›Ja, ja, ja, ja.‹ Und: ›Wissen Sie, warum sie hier auf dem Schiff sind?‹ – ›Ja, sie gehen nach Europa, um Geld zu verdienen.‹ Und ich habe gefragt: ›Was machen Sie auf dem Schiff?‹ – ›Wir sind Touristen.‹ Und das ist der Unterschied, ja das ist der Unterschied.«23

Die Migranten auf dem Unterdeck sind gleichsam Reisende »dritter Klasse«. Der Vergleich dieser Gruppe mit der der Touristen macht deutlich, was Tom Holert und Mark Terkessidis beobachten: An der Grenze zur EU entstehe »eine neue Klassengesellschaft – entlang dem Kriterium der Mobilität«.24 Die Ausführungen in Pongers Film erinnern zudem an das bekannte Bild des Sklavenschiffes von 1789, das von der Londoner Society for the Abolition of the Slave Trade auf Flugblättern verbreitet wurde und das angelehnt an technische Zeichnungen das Transportsystem von Sklavenschiffen offenlegt, und setzen es zu den Touristenströmen in Beziehung (Abb. 7). Durch den Rekurs auf das Bild des Sklavenschiffes, das die Sklaven dicht nebeneinander gedrängt Abb. 7: Unbekannt: »Description of a Slave Ship«, 1789, Holzschnitt und Hochdruck (Detail)

Quelle: Art and Emancipation in Jamaica. Isaac Mendes Belisario and His Worlds, exhibition catalogue Yale Center for British Art, ed. by Tim Barringer, Gillian Forrester, and Barbaro Martinez Ruiz, Yale: Yale University Press 2007, S. 298

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als anonyme, passive Körper vorführt, wird das Augenmerk auf die problematischen Implikationen einer solchen Repräsentation gelenkt.25 So verweist der Titel »Passagen« nicht zuletzt auch auf die »Middle Passage«, die Zwangsverschiffung versklavter Afrikaner/innen, die zum transatlantischen Handelsverkehr vom 15. bis ins späte 19. Jahrhundert hinein gehörte und auch als »gewaltsame Migration«26 gefasst wird. Der Theoretiker Paul Gilroy zeichnet mit seinem Konzept des Black Atlantic den Weg der »Middle Passage« nach und kontextualisiert diese traumatische Dislozierung mit der erinnerten Geschichte der modernen afrikanischen Diaspora.27 Der »Schwarze Atlantik« bildet auf diese Weise gleichsam den imaginierten kulturellen Raum, der auf die Sklaventransporte von Afrika in die Amerikas zurückgeht und so auf die Verbreitungsprozesse einer »black culture« verweist. In der Ausgrenzung und dem Rassismus sind die kolonialen Strukturen des Black Atlantic immer noch gegenwärtig. Das Prinzip des Black Atlantic »macht auf die Komplexität der kolonialen Prozesse und eine seiner unvorhergesehenen und unbeabsichtigten Konsequenzen aufmerksam, es geht unseren Vorstellungen von Kultur gegen den Strich. Es führt uns nicht zu dem Land, in dem wir diesen speziellen Boden finden, in dem, wie uns gesagt wird, ›nationale Kulturen‹ keimen, sondern zum Meer und der Seefahrt, auf dem und über den Atlantischen Ozean, wodurch eher fließende als starre ›hybride‹ Kulturen ins Leben gerufen werden«,28 so Gilroy. Dieses Konzept hat Gilroy in der Ausstellung »Black Atlantic« im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (2004) auch visuell umgesetzt, indem er Künstlerinnen und Künstler eingeladen hat, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Unter anderem war Ponger an dieser Ausstellung beteiligt, aus der das interaktive Gemeinschaftsprojekt »ImagiNative«, das sie zusammen mit dem Künstler Tim Sharp realisierte, hervorgegangen ist.29 Die Arbeiten »Passagen« und »Déjà vu« sind auch Gegenstand dieses Rechercheprojekts, dessen Konzept auf der Kontextualisierung der Werke beider Künstler beruht und Recherche als künstlerische Strategie versteht. Die afrikanische Diaspora wird in verschiedenen Sequenzen von Pongers Filmen zum Thema gemacht: etwa wenn afrikanische Hafenarbeiter beim Verladen von Bananen gezeigt werden und dazu ein Arbeitslied erklingt, das in einem amerikanischen Gefängnis aufgenommen wurde.30 »Es handelt sich [...] um ein afroamerikanisches Lied«, wie Sharp im Rahmen des »ImaginNative«-Projekts erläutert. Oder

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wenn im Film »Déjà vu« eine Frauenstimme davon erzählt, dass sie als Afroamerikanerin nach Afrika reist, »to see old black culture. [...] I’ve felt very connected to my own black history.«31 Das Wasser als Leitmotiv der Filme lässt zugleich die Symbolik des »Black Atlantic« aufscheinen. Von besonderer Bedeutung ist diese Symbolik nicht zuletzt insofern, als sie auf fluide Identitäten verweist. Nach Gilroy kommt gerade den Kommunikationstechnologien wie dem Film für die Identitätsbildung eine zentrale Bedeutung zu, denn sie lösen Entfernungen auf, indem sie verschiedenste Regionen der Welt miteinander vernetzen: »Sie haben die Basis verändert, auf der sich räumlich getrennte Gruppen treffen, miteinander identifizieren können.«32 Ponger nutzt dieses Potenzial des Films, indem sie die touristische Bild-Erzählung mit den migrantischen Voice-over-Geschichten verknüpft. Dadurch, dass in »Passagen« und »Déjà vu« die touristischen Szenarien auf der Bildebene nicht mit den Flüchtlingserzählungen auf der Tonebene zusammenfallen können, ergibt sich ein Dazwischen, das als Spannungsverhältnis, aber auch im Sinne Homi K. Bhabhas als produktiver Raum beschrieben werden kann, in dem verschiedene Reisebewegungen reflektiert und problematisiert werden.33 Der Titel »Passagen« verweist damit nicht nur auf die Gegenstandsebene des Films, den Reiseweg, sondern auch auf die Zwischenstellung der künstlerischen Arbeit, die im übertragenen Sinne unterschiedliche Positionen von Reisenden, Tourist/inn/en einerseits, Emigrant/inn/en andererseits, miteinander verbindet. Der Titel des Fortsetzungsfilms »Déjà vu« thematisiert zum einen das Wiederaufscheinen der touristischen Bilder, die einem irgendwie bekannt vorkommen, als hätte man genau diese bereits gesehen, da sie Topoi reproduzieren. Zum anderen erinnern sich auch die Sprecher/innen in ihren Erzählungen an Vergangenes, das nun aufblitzt. Indem überdies einige Film- und Tonsequenzen innerhalb beider Filme wiederholt werden, wird der Eindruck eines Déjà-vus verstärkt. Die Technik der Montage lenkt die Aufmerksamkeit gerade durch die Wiederholung einiger Szenen aber auch auf die Mittel, mit denen sowohl der touristische Blick als auch die Fluchterzählungen jeweils eine dokumentarische Wirklichkeit erzeugen34 – etwa, wenn die Tonsequenz wiederholt wird, in der eine Frau mit genauer Datumsangabe die Stationen einer Reise und die Namen von Schiffen aufzählt. Diese Geschichte bildet auch die Klammer des ersten Films: Die Wiederholung verweist wieder auf den Anfang. Mit Claudia Öhlschläger und Birgit Wiens ließe sich im Anschluss an Judith Butler die (Re-)Produktion von Erinnerung als ein

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vielschichtiger und dynamischer Vorgang der Aufbewahrung, Entstellung und Umschrift (historischer) Ereignisse und Signifikationsprozesse beschreiben.35 Es entsteht immer etwas Neues: Das Erinnerte ist nicht etwas Statisches, auf das man sich berufen kann, sondern ist in einen Prozess eingebunden. Die Technik der Wiederholung in Pongers Filmen reflektiert diese Funktionsweise der Erinnerung. Gerade auch für die touristischen Souvenirs, als die die nach Hause mitgebrachten Bilder und Filme fungieren, ist die Reproduktion von (Vor-)Bildern wesentlich. Diese Art von Erinnerung scheint zunächst einen rein privaten Charakter zu haben, werden doch die Fotos und Filme üblicherweise im familiären Rahmen präsentiert. Durch die Kontrastierung mit den Flüchtlingserzählungen auf der Tonspur in Pongers Filmen erweist sich jedoch – um eine Formulierung aus feministischen Debatten zu verwenden – das Private als politisch: In Pongers Arbeiten wird deutlich, wie sehr touristische Praktiken sich vom Kolonialismus herschreiben.36

TOURISTISCHE P R AK TIKEN UND K OLONISIERUNG In der Fotografie »Wild places« von 2001 verbindet Ponger ebenfalls die Ebene des Tourismus mit der Kolonisierung: Die Reihe von Begriffen, die eine Tätowiererin einer Frau auf den Unterarm eingraviert, beginnt mit dem »Missionary«, setzt sich fort über den »Mercenary«, den »Ethnologist« und den »Tourist«, die alle bereits durchgestrichen sind. Der »Artist« bildet den Abschluss und ist noch nicht durchgestrichen (Abb. 8). Irritierend ist, dass diese Bezeichnungen, die historisch in erster Linie männlich codiert sind, einer Frau eintätowiert werden – zumal auch das Tätowiertsein als solches in früheren Kontexten häufig mit Männlichkeit, etwa mit Seefahrern, assoziiert ist. Durch die Abfolge der Begriffe wird die machtvolle Verknüpfung von kolonialistischer Wissensproduktion und Bildproduktion zum Thema. Auch die Künstlerin kann sich dieser Wirkungsmacht der Kolonialgeschichte nicht entziehen. Ponger reflektiert ihre eigene Position als Künstlerin in einem Interview: »Ich versuche, die Rolle der weißen Künstlerin neu zu bewerten, bestimmte Strategien zu erklären, wie man sich bestimmten Mainstream-Vorstellungen, wie eine weiße Künstlerin zu sein hat, widersetzt.« 37

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Entscheidend ist, dass Ponger Blickregime38, die traditionell weißen Künstler/inne/n zukamen, aus der Distanz problematisiert, statt sie sich zu eigen zu machen. Die Künstlerin zeigt auf, welche Blickregime sowohl den Tourismus als auch den Kolonialismus bestimmen. Die Medien Fotografie und Film sind für die Bildproduktion des Tourismus von besonderer Bedeutung: Indem das Gesehene medial vermittelt ist, bietet es sich zu ästhetischen Codierungen an. Dieses Sehen aus sicherer Position heraus – in der erwähnten Anfangsszene des Films »Passagen« etwa aus erhöhter Position von der Reling des Schiffes – ermöglicht eine Überschau, durch die die Landschaft visuell verfügbar wird.39 Sharp und Ponger erklären: »Hinter der Kamera zu stehen (ob Filmkamera oder Fotoapparat) ist eine Möglichkeit, die ›Welt einzunehmen‹.«40 Abb. 8: Lisl Ponger: »Wild Places«, 2001, C-print, 126 x 102 cm

Quelle: Lisl Ponger. Fotos und Filmarbeiten – Photos and Films, Ausst.-Kat. Landesgalerie Linz, Kunsthaus Dresden, Klagenfurt: Wieser 2007, S. 85

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Ein Hintergrund dieser Feststellung ist die Funktion der Fotografie bei der Kolonisierung. Dazu bemerkt Susan Sontag: »After the opening of the West in 1869 by the completion of the transcontinental railroad came the colonization through photography. [...] The tourist invaded the Indian‫ތ‬s privacy, photographing holy objects and the sacred dances and places, if necessary paying the Indians to pose and getting them revise there ceremonies to provide more photogene material.« 41

Eine solche kolonialistische Machtkonstellation wird auch in »Déjà vu« in einer Szene vorgeführt, in der ein weißer Tourist in Tropenkleidung – eine Mode, die bereits kolonial geprägt ist – den Tanz schwarzer Frauen in Baströckchen fotografiert, dazu mitten in den Auftritt schreitet und überdies die Tänzerinnen aufhält, um ein »perfektes« Bild zu schießen (Abb. 9). Die Indigene42 wird so zum Objekt des »male gaze«43, der männlichen Schaulust – die Landnahme als »männlich« codiertes Projekt vollendet sich dadurch, dass die indigenen Frauen zumindest der Kamera vorgeführt werden. Zugleich wird aber im Film der Voyeurismus selbstreflexiv zur Schau gestellt. Dabei wird auch auf den Inszenierungscharakter der Tanzaufführung verwiesen, die für die Kameras der Touristen veranstaltet wird.44 Dean MacCannell spricht in seinem für die Tourismusforschung zentralen Buch »The Tourist« von »staged authenticity« und »tourist settings«; demnach ist die Inszenierung und das Bühnenhafte für das touristische Erlebnis grundlegend.45 Indem der Film dieses KonAbb. 9: Screenshot aus Lisl Ponger: »Déjà vu«, A 1999, 35 mm (Normal-8, Super-8 blow up), found footage, 23 min

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struktionsprinzip touristischer Erfahrung offenlegt, deutet er auf das »Spektakel des ›Anderen‹« hin. Stuart Hall stellt unter diesem Titel die stereotypen Muster heraus, nach denen ethnische »Differenz« repräsentiert wird: das Repertoire an Bildern und visuellen Effekten, das zur Darstellung etwa afrikanischer Männer gebräuchlich ist.46 Diese Stereotype und die Faszination des »Fremden« sind insbesondere auch für touristische Wahrnehmung in der Form, in der Pongers Filme sie vorstellen, kennzeichnend. Das, was gefilmt wird, sind häufig klischeehafte Motive: nackte schwarze Frauen in Baströckchen, ein schwarzer Junge, der, so wird suggeriert, wie ein Äffchen einen Baum hochklettert etc. Es liegt auf der gleichen Linie, wenn in der beschriebenen Szene von der Tanzvorführung übliche Dichotomien wie Natur/Kultur, Wildheit/Zivilisation, Primitivität/Modernität aufgerufen werden. Das Bild der »archaischen«, »unverdorbenen«, vom sozialen Wandel unberührten Kulturen, das auf »fremde Völker« projiziert wird, zieht sich als roter Faden durch die Geschichte des Tourismus.47 Die Funktion solcher Imaginationen für den Kapitalismus wird von Ponger und Sharp ebenfalls diskutiert: Der westliche Kapitalismus verwende üblicherweise Bilder dazu, soziale Brüche, wie ethnische, geschlechtliche und ökonomische Differenzsetzungen, zu überdecken.48 Gleichzeitig produziere er fragmentierte, »einrahmbare« Ansichten und konsumierbare Kulturen, »Bilder, die von den Augen der TouristInnen entweder direkt oder stellvertretend von ihrem mechanischen Helfer, der Kamera, konsumiert werden können«.49 Im Anschluss an Christoph Hennig weisen Ponger und Sharp auf die enge Verbindung von Film und Tourismus hin: Sowohl Film als auch Tourismus verschmelzen reale und fiktionale Elemente miteinander – der konkrete Raum wird mit Fantasie- und Gefühlsmomenten aufgeladen. Hennig erklärt: »Vieles wird als ›unbrauchbar‹ aus der Wahrnehmung ausgeschlossen, die ›gelungenen Szenen‹ gehen in die Urlaubsvorstellung ein. Die touristische Wahrnehmung ästhetisiert und typisiert wie der Film.« 50

M EDIEN DES TOURISMUS UND DER M IGR ATION Die Technik der Montage, die in »Passagen« und »Déjà vu« durch die rasche Schnittfolge sichtbar gemacht wird, unterbricht jedoch die Blickregime. Durch diese Technik wird sowohl auf der Bild- wie auf

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der Tonebene eine einheitliche, kohärente Erzählung verhindert, es entstehen mehrstimmige Bild-Erzählungen, die sich gerade durch eine Polyperspektivität auszeichnen, die auch Raum für »blinde Flecken« lässt, indem die Auslassungen bemerkbar werden. Die Einschränkung des Blicks wird gerade dadurch im Film reflektiert, dass, wie erwähnt, mehrmals Personen mit Kamera zu sehen sind – dem Apparat der Blickregie, der Blickführung. Die fotografische Kadrierung der Filme schränkt das Sichtfeld ein und blendet anderes aus. Überdies fügt sich nicht alles bruchlos in das Bild des perfekten Urlaubs: Das Medium hält zugleich oft etwas fest, das den Eindruck des Urlaubsparadieses stört, man könnte auch vom punctum im Sinne Roland Barthes‫ ތ‬sprechen, etwa wenn ein Mädchen verkrampft in die Kamera lächelt oder wenn eine Demonstration von Schwarzen zu sehen ist, in der Transparente gegen den Kolonialismus hochgehalten werden, »Feu sur le Colonialisme Portuguais« kann man dort lesen, und nicht zuletzt ergibt sich eine unfreiwillige Komik, wenn ein weißer Tourist stolz neben schwarzen Reitern posiert. Ponger und Sharp stellen den beschriebenen Bedeutungsüberschuss der Bilder explizit heraus: »Diese persönlichen Erinnerungsstücke sind aus über 60 Stunden Filmmaterial ausgewählt und bezeugen eine Sichtweise, eine weiße Weltansicht, einschließlich aller unausgesprochenen Hierarchien. Diese Sichtbarkeiten laden ein, sich von ihrer exotischen Opulenz verwöhnen zu lassen, die Lust daran wird aber immer wieder vorsätzlich irritiert.« 51

Aber auch auf der Ebene der Erzählung entstehen Irritationen, eine durchgehende Kohärenz wird verweigert. Das Fragmentarische der Geschichten wird auf der Tonebene zu Beginn von »Déjà vu« etwa mit den Erzählungen von »1001 Nacht« in Verbindung gebracht. Der Erzähler beginnt wie folgt: »Jetzt kommt die Fortsetzung der Geschichte. Das war die Geschichte von 1001 Nacht.«52 Bereits die Migrationserfahrung kann als Fragmentierung gelesen werden – Stuart Hall spricht von einer »Erfahrung von Zerstreutheit und Fragmentierung, die allen Geschichten der aufgezwungenen Diaspora gemeinsam« ist.53 Das Fragmentarische ist konstitutiv für Pongers Filmarbeit: Die Erinnerungen werden sowohl im Visuellen wie im Akustischen stets als bruchstückhaft vorgeführt. Zugleich ist das Fragmentarische ein ästhetisches Prinzip, das Distanz schafft. Bei der Montage könnte man

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im Anschluss an Benjamins Lesart von Brechts epischem Theater von einer Technik der Unterbrechung sprechen. Laut Benjamin hat die Unterbrechung beim epischen Theater eine pädagogische Funktion: »Sie bringt die Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt den Hörer zur Stellungnahme zum Vorgang.«54 Gesteigert wird dieses Prinzip noch dadurch, dass Ton und Bild unterschiedliche Geschichten erzählen und dass der Versuch einer Übersetzung zwischen beiden Medien scheitern muss, sie erweisen sich als inkommensurabel. Die Narration wird gleichsam de-plaziert, so dass sich im Sinne Homi Bhabhas ein produktives Überschneiden von Bild- und Textebene ergibt. Es ergibt sich eine Verschränkung beider Mobilitätsformen: Tourismus und Migration. Dabei sind die Medien beider Reisebewegungen nicht unerheblich: Wie im Vorigen beschrieben, kommt der Fotografie und dem Film innerhalb der touristischen Praxis eine formierende Rolle zu.55 Ist der Tourismus mit der Bildproduktion eng verbunden, verweist Pongers Film zugleich darauf, dass die erzwungene Flucht vielmehr mündlich vergegenwärtigt wird. Welcher Flüchtling hat schon die Zeit und Muße, mit der Super-8-Kamera zu filmen, zumal die Flucht oft nicht zu den Sehenswürdigkeiten führt? Den Ausblick vom Kreuzfahrtschiff genießen in Pongers Film nur die Touristen oben an Deck, die Flüchtlinge sitzen dagegen im Dunkeln – und das ist der Unterschied, wie im Film kommentiert. Der mediale Unterschied von Filmbildern und mündlicher Erzählung verweist darüber hinaus auf die Frage, welche Artikulationsformen den Flüchtlingen zur Verfügung stehen, das heißt, wie ihre Kommunikation in der Gesellschaft Resonanz finden kann – nicht zuletzt eine Frage der Übersetzung. Das Problem der Übersetzbarkeit macht die Spannung zwischen Bild- und Tonebene aus, aber es betrifft überdies auch die Sprachvielfalt auf der Tonebene. Sind die Texte in »Passagen« noch auf Deutsch und können sie auf der DVD zudem mit englischem Untertitel ergänzt werden, bleiben die Texte in »Déjà vu« unübersetzt. Die verschiedenen Geschichten werden in unterschiedlichen Sprachen erzählt: verschiedene europäische Sprachen – Deutsch, Englisch, Französisch, Portugiesisch, mithin Sprachen ehemaliger Kolonialmächte – und Nepali, Gujarati sowie verschiedene afrikanische Sprachen.56 Ponger und Sharp betonen, dass einige dieser Sprachen historisch gesehen wichtige Exportgüter darstellen:

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»Sprache ist nicht einfach nur ein Mittel der Kommunikation, sie ist auch imstande, kulturelle Flüchtlinge zu produzieren – Menschen, die zwar in ›ihrem‹ Land leben, deren Muttersprache aber herabgewürdigt oder aktiv unterdrückt wird.« 57

Der Sprache kommt in »Déjà vu« dergestalt eine zentrale politische Funktion zu. Der Film weist auf eine Frage hin, die zentral für feministische Postcolonial Studies im Anschluss an Gayatri Chakravorty Spivak ist: »Can the subaltern speak?«58 Spivak hat in ihrem Aufsatz die Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens und der Übersetzung herausgearbeitet und dabei gezeigt, dass das Sprechen und das Verstandenwerden als identitätskonstituierende Vorgänge immer Teil von hegemonialen Machtstrukturen sind. Im Ergebnis lässt sich festhalten: Durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Perspektiven, sowohl auf der Bild- als auch auf der Textebene, wird in »Passagen« und »Déjà vu« eine Vereinheitlichung und Zentrierung der Darstellung vermieden. Die buchstäbliche Polyphonie und Polyperspektivität der Filme ist mit postkolonialer Theoriebildung vergleichbar. Ebenso wie die postkolonialen Theorien verstehen sich Pongers Arbeiten als strategische Interventionen und sind mit einem politischen Anspruch verbunden. Die Künstlerin erklärt dazu: »Die öffentliche Wahrnehmung in Frage zu stellen, ist eine Form des Widerstands.«59

A NMERKUNGEN 1 | Lisl Ponger: »Passagen/Passages«, A 1996, 35 mm (Blow-up from Normal 8 and Super 8), colour, 11 min. 2 | Lisl Ponger: »Déjà vu«, A 1999, 35 mm (Blow-up from Normal 8 and Super 8), colour, 22 min. 3 | Vgl. Elisabeth Büttner: »Orte, Nichtorte, Tauschpraktiken. Die Zeit des Abgebildeten und die Zeit des Gebrauchs in Filmfragmenten und FoundFootage-Filmen«, in: Christine Rüffert/Imbert Schenk/Karl-Heinz Schmid/ Alfred Tews/Bremer Symposium zum Film (Hg.), Zeitsprünge. Wie Filme Geschichte(n) erzählen, Berlin: Bertz 2004, S. 62–72, hier S. 70. 4 | »›Kunst kann Diskursthemen vorgeben, die Welt verändern kann sie nicht.‹ Lisl Ponger und Tim Sharp im Gespräch mit Shaheen Merali«, in: Der Black Atlantic, Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt, Berlin, hg. vom Haus der Kulturen der Welt in Zusammenarbeit mit Tina Campt und Paul Gilroy, Berlin: HKW 2004, S. 99–111, hier S. 110.

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5 | Vgl. Jutta Saum/Anke Volkmer: »Passagen der Erinnerung«, in: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken, Ausst.-Kat. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, Köln: Wienand 2006, S. 384–396, hier S. 390. 6 | Vgl. allgemein zum Verhältnis von Migration und Tourismus: Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – Von Migranten und Touristen, Köln: KiWi 2006. Spezifisch zum Thema Migration auch die Ausstellung Projekt Migration: Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln: DuMont 2005. 7 | Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karl-Heinz Barck u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 34–46, hier S. 46. 8 | Ebd. 9 | Ebd. 10 | David Crouch und Nina Lübbren stellen dies im Anschluss an John Urry und Dean MacCannell fest. David Crouch/Nina Lübbren (Hg.), Visual Culture and Tourism. Oxford/New York: Berg 2003, vgl. auch John Urry: The Tourist Gaze: Leisure and Travel in Contemporary Societies, London: Sage 1990, und Dean MacCannell: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, New York: Schocken 1989. 11 | E. Büttner: »Orte, Nichtorte, Tauschpraktiken«, S. 70. 12 | Bernd Rebhandl: »Exodus, Diaspora, Pauschalreise: Lisl Pongers Phantomweltbilder«, in: Lisl Ponger. Fotos und Filmarbeiten – Photos and Films, Ausst.Kat. hg. von Landesgalerie Linz, Kunsthaus Dresden, Klagenfurt: Wieser 2007, S. 39–46, hier S. 41. 13 | Lisl Ponger/Tim Sharp: ImagiNative, http://lislponger.com/imaginative/htm/023/page-d.htm vom 29. August 2010. 14 | http://www.faz.net/s/Rub99C3EECA60D84C08AD6B3E60C4EA807 F/Doc~E9AFF78B7BEB84264A1B3CB8363A898EC~ATpl~Ecommon~Sco ntent.html (vom 30. August 2010). 15 | Vgl. Michael C. Hall/Allan M. Williams (Hg.), Tourism and Migration. New Relationships between production and consumption, Dordrecht u. a.: Kluwer Academic 2002. 16 | Ramona Lenz: »Migration und Tourismus als Gegenstand wissenschaftlicher und künstlerischer Projekte«, in: Alexandra Karentzos/Alma-Elisa Kittner/Julia Reuter (Hg.), Topologien des Reisens. Tourismus – Imagination – Migration/Topologies of Travel. Tourism – Imagination – Migration, dt. und engl. als Internetpublikation der Universitätsbibliothek Trier 2010, http:// ubt.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2010/565/pdf/Topolo gien_des_Reisens. pdf, S. 41–53, hier v. a. S. 42 ff. Vgl. dazu auch Julia Reuter: »Tourismus und Migration«, in: ebd., S. 13–18 (vom 29. August 2010).

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17 | Vgl. dazu Alexandra Karentzos/Alma-Elisa Kittner: »Touristische Räume: Mobilität und Imagination«, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2010, S. 280–293. 18 | Julia Reuter: »Tourismus und Migration«, S. 14. 19 | »Ansturm auf Spanien: Illegale Einwanderer vor den Kanarischen Inseln«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Mai 2006. 20 | Vgl. Bettina Richter: »Zeitgenössische Bilderstürmer«, in: Dies. (Hg.), Help! Soziale Appelle im Plakat, Ausst.-Kat. Museum für Gestaltung Zürich Plakatsammlung, Baden: Lars Müller Publishers 2009, S. 64–65, und auch den Aufsatz im selben Band: Sønke Gau/Katharina Schlieben: »Wer appelliert warum und wie an wen? Eine Frage der Übersetzungsstrategien in Hinblick auf die Ökonomie der Aufmerksamkeit«, S. 12–17. Zudem allgemein: Lorella Pagnucco Salvemini: Toscani. Die Werbecampagnen für Benetton 1984–2000. München: Knesebeck 2002, v. a. S. 91. Pagnucco Salvemini weißt darauf hin, dass es sich um ein albanisches Flüchtlingsschiff handelt, das am 18. August 1991 in Bari einlief. 21 | Vgl. zu dieser Parole Jürgen Link: »Zu Hause ›asylantenfrei‹ – in Übersee auf ›Friedensmission‹? Über eine eigenartige diskursive Konstellation«, in: Siegfried Jäger/Jürgen Link (Hg.), Die vierte Gewalt : Rassismus und die Medien. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS), Duisburg: DISS 1993, S. 31–48, hier v. a. S. 36 f. 22 | L. Ponger: »Déjà vu«. 23 | L. Ponger: »Déjà vu«. 24 | Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006, S. 256. 25 | Vgl. dazu Viktoria Schmidt-Linsenhoff: »On and beyond the Colour Line. Afterimages of Old and New Slavery in Contemporary Art since 1990«, in: Birgit Haehnel/Melanie Ulz (Hg.), Slavery in Art and Literature. Approaches to Trauma, Memory and Visuality, Berlin: Frank und Timme 2010, S. 59–92, hier v. a. S. 74. Vgl. auch zur Repräsentation der »Middle Passage« Marcus Wood: Blind Memory. Visual Representations of Slavery in England and America 1780–1865. Manchester: Manchester University Press 2000, v. a. S. 14. 26 | Hans-Georg Knopp/Peter C. Seel: »Vorwort«, in: Der Black Atlantic, S. 6–9, hier S. 7. 27 | Vgl. Paul Gilroy: »Der Black Atlantic«, in: Der Black Atlantic, S. 12–32. Vgl. dazu auch Sérgio Costa: Vom Nordatlantik zum »Black Atlantic«. Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik, Bielefeld: transcript 2007, v. a. S. 127 ff. 28 | Paul Gilroy: »Der Black Atlantic«, S. 13 29 | L. Ponger/T. Sharp: ImagiNative, http://lislponger.com (vom 29.08.2010).

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30 | L. Ponger/T. Sharp: ImagiNative, http://lislponger.com/imaginative/ htm/022–sub202/page-d.htm (vom 29. August 2010). 31 | L. Ponger: »Déjà vu«. 32 | P. Gilroy: »Der Black Atlantic«, S. 16. 33 | Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London, New York: Routledge 1994. 34 | Vgl. Christian Kravagna: »General Travel Conditions (Specifications)«, in: Ders. (Hg.), Routes. Imaging Travel and Migration, Ausst.-Kat. Grazer Kunstverein, Frankfurt/Main: Revolver 2006, S. 5–31, hier S. 27. Kravagna verweist in seinem Text auf Arbeiten von Tim Sharp. Da die Strategien beider künstlerischer Positionen ähnlich sind, lassen sich in diesem Kontext Sharps Arbeiten mit Pongers vergleichen. 35 | Claudia Öhlschläger/Birgit Wiens: »Körper – Gedächtnis – Schrift. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin: Erich Schmidt 1997, S. 9–22, hier S. 13. Vgl. allgemein zum Prinzip der Performativität: Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, und dies.: Körper von Gewicht, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. 36 | Vgl. dazu auch Kravagna, der in dem Ausstellungsprojekt »Routes« der Frage nachgeht, inwiefern die kolonialen Imaginationen bis heute für Reisen und Reisebilder prägend sind. C. Kravagna: Routes. 37 | »›Kunst kann Diskursthemen vorgeben, die Welt verändern kann sie nicht.‹ Lisl Ponger und Tim Sharp im Gespräch mit Shaheen Merali«, in: Der Black Atlantic, S. 107. 38 | Vgl. Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Edition ID-Archiv 1997, v. a. das Vorwort, S. 7–13. 39 | Solche Blicktechniken, die sich seit dem 16. Jh. in der niederländischen Landschaftsmalerei herausbilden, reichen bis in die Gegenwart. Vgl. dazu W. J. T. Mitchell: Landscape and Power. Chicago, London: University of Chicago Press 20022. Mitchell entwirft in diesem Buch das Konzept einer imperialen Landschaft. Vgl. auch: Tanja Michalsky: »Medien der Beschreibung – Zum Verhältnis von Kartographie, Topographie und Landschaftsmalerei in der Frühen Neuzeit«, in: Jürg Glauser/Christian Kiening (Hg.), Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne (Rombach Wissenschaften. Litterae; Bd. 105), Freiburg/Brsg.: Rombach 2007, S. 319–349. 40 | L. Ponger/T. Sharp: ImagiNative, http://lislponger.com/imaginative/ htm/018/page-d.htm (vom 29. August 2010). 41 | Susan Sontag: On Photography, New York: Anchor Books 1990, S. 64. 42 | In der Tourismusforschung ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass derartige Vorführungen häufig nur für die Touristen inszeniert wer-

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den und erst das Bild der »Einheimischen«, »Eingeborenen« produzieren. Die Auftretenden können freilich selbst zur Inszenierung angereist sein, etwa im Rahmen eines saisonalen Jobs. Vgl. etwa Dean MacCannell: The Tourist. 43 | Vgl. zum »male gaze« Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen, 16 (1975) 3, S. 6–18, und zum Blick als Instanz zur Kontrolle in der Verbindung von Kolonialismus, Wissensproduktion und männlichem Entdeckertum: Mary Louise Pratt: Imperial Eyes, Travel Writing and Transculturations, London/New York: Routledge 2008 2. 44 | Vgl. William O‫ތ‬Barr: Culture and the Ad. Exploring Otherness in the World of Advertising, San Francisco, Oxford: Westview Press 1994, S. 21, Peter Osborne: Travelling light. Photography, travel and visual culture, Manchester: Manchester University Press 2000, S. 86, Jane Desmond: Staging Tourism. Bodies on display from Waikiki to Sea World, Chicago u. a.: Chicago Press 1999, S. 105 f. 45 | Dean MacCannel lehnt sich dabei an Erving Goffmans Gebrauch der Bühnenmetapher für das Alltagsleben an. Vgl. D. MacCannel: The Tourist. 46 | Stuart Hall: »Das Spektakel des ›Anderen‹«, in: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, hg. von Juha Koivisto und Andrea Merkens, Hamburg: Argument Verlag 2004, S. 108–166. 47 | Vgl. Christoph Hennig: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 124. 48 | L. Ponger/T. Sharp: ImagiNative, http://lislponger.com/imaginative/ htm/020/page-d.htm (vom 29. August 2010). 49 | Ebd. 50 | C. Hennig: Reiselust, S. 99. 51 | L. Ponger/T. Sharp: ImagiNative, in http://lislponger.com/imaginative/htm/023/page-d.htm (vom 29. August 2010). 52 | L. Ponger: Déjà vu. 53 | Stuart Hall: »Kulturelle Identität und Diaspora«, in: Der Black Atlantic, S. 324–334, hier S. 325. 54 | Walter Benjamin: »Theater und Rundfunk. Zur gegenseitigen Kontrolle ihrer Erziehungsarbeit«, in: Gesammelte Schriften II, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 773–776, hier S. 775. Vgl. auch zum Montageprinzip in Brechts Film »Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?«, Regie: Slátan Dudow, Drehbuch: Bertolt Brecht u. a., D 1932. 55 | Vgl. Anm. 10. 56 | Vgl. Brigitte Huck: »Lisl Ponger«, in: Lisl Ponger. Travelling Light, Index DVD Edition, ARGE INDEX, sixpackfilm, DVD Booklet, S. 5. Brigitte Huck benennt die afrikanischen Sprachen nicht genauer.

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57 | L. Ponger/T. Sharp: ImagiNative, http://lislponger.com/imaginative/ htm/024/page-d.htm (vom 29. August 2010). 58 | Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: »Can the Subaltern Speak?«, in: Dies.: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia und Kant 2008, S. 17–118. 59 | »›Kunst kann Diskursthemen vorgeben, die Welt verändern kann sie nicht.‹ Lisl Ponger und Tim Sharp im Gespräch mit Shaheen Merali«, in: Der Black Atlantic, S. 107.

Z ITIERTE F ILME Lisl Ponger: »Passagen/Passages«, A 1996, 35 mm (Blow-up from Normal 8 and Super 8), colour, 11 min. Lisl Ponger: »Déjà vu«, A 1999, 35 mm (Blow-up from Normal 8 and Super 8), colour, 22 min.

L ITER ATUR »Ansturm auf Spanien: Illegale Einwanderer vor den Kanarischen Inseln«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Mai 2006. Benjamin, Walter: »Theater und Rundfunk. Zur gegenseitigen Kontrolle ihrer Erziehungsarbeit«, in: Gesammelte Schriften II, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 773–776. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London, New York: Routledge 1994. Büttner, Elisabeth: »Orte, Nichtorte, Tauschpraktiken. Die Zeit des Abgebildeten und die Zeit des Gebrauchs in Filmfragmenten und Found-Footage-Filmen«, in: Christine Rüffert u. a. (Hg.), Zeitsprünge. Wie Filme Geschichte(n) erzählen, Berlin: Bertz 2004, S. 62–72. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. Dies.: Körper von Gewicht, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. Costa, Sérgio: Vom Nordatlantik zum »Black Atlantic«. Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik, Bielefeld: transcript 2007. Crouch, David/Lübbren, Nina (Hg.), Visual Culture and Tourism, Oxford/New York: Berg 2003.

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Desmond, Jane: Staging Tourism. Bodies on display from Waikiki to Sea World, Chicago u. a. 1999. Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Karl-Heinz Barck u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1993, S. 34–46. Gau, Sønke/Schlieben, Katharina: »Wer appelliert warum und wie an wen? Eine Frage der Übersetzungsstrategien in Hinblick auf die Ökonomie der Aufmerksamkeit«, in: Bettina Richter (Hg.), Help! Soziale Appelle im Plakat, Ausst.-Kat. Museum für Gestaltung Zürich Plakatsammlung, Baden: Lars Müller Publishers 2009, S. 12–17. Gilroy, Paul: »Der Black Atlantic«, in: Der Black Atlantic, S. 12–32. Hall, Michael C./Williams, Allan M. (Hg.), Tourism and Migration. New Relationships between production and consumption, Dordrecht u. a.: Kluwer Academic 2002. Hall, Stuart: »Das Spektakel des ›Anderen‹«, in: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, hg. von Juha Koivisto und Andrea Merkens, Hamburg: Argument Verlag 2004, S. 108–166. Hall, Stuart: »Kulturelle Identität und Diaspora«, in: Der Black Atlantic, S. 324–334. Hennig, Christoph: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – Von Migranten und Touristen. Köln: KiWi 2006. Huck, Brigitte: »Lisl Ponger«, in: Lisl Ponger. Travelling Light, Index DVD Edition, ARGE INDEX, sixpackfilm, DVD Booklet, S. 5. Karentzos, Alexandra/Kittner, Alma-Elisa: »Touristische Räume: Mobilität und Imagination«, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2010, S. 280–293. Knopp, Hans-Georg/Seel, Peter C.: »Vorwort«, in: Der Black Atlantic, S. 6–9. Kravagna, Christian (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Edition ID-Archiv 1997. Kravagna, Christian: »General Travel Conditions (Specifications)«, in: Ders. (Hg.), Routes. Imaging Travel and Migration, Ausst.-Kat. Grazer Kunstverein, Frankfurt/Main: Revolver 2006, S. 5–31. »›Kunst kann Diskursthemen vorgeben, die Welt verändern kann sie nicht.‹ Lisl Ponger und Tim Sharp im Gespräch mit Shaheen Mera-

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li«, in: Der Black Atlantic, Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt, Berlin, hg. vom Haus der Kulturen der Welt in Zusammenarbeit mit Tina Campt und Paul Gilroy, Berlin: HKW 2004, S. 99–111. Link, Jürgen: »Zu Hause ›asylantenfrei‹ – in Übersee auf ›Friedensmission‹? Über eine eigenartige diskursive Konstellation«, in: Siegfried Jäger/Jürgen Link (Hg.), Die vierte Gewalt: Rassismus und die Medien. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS), Duisburg: DISS 1993, S. 31–48. MacCannell, Dean: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, New York: Schocken 1989. Michalsky, Tanja: Medien der Beschreibung – Zum Verhältnis von Kartographie, Topographie und Landschaftsmalerei in der Frühen Neuzeit, in: Jürg Glauser/Christian Kiening (Hg.), Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne (Rombach Wissenschaften. Litterae; Bd. 105), Freiburg/Brsg.: Rombach 2007, S. 319–349. Mitchell, W. J. T.: Landscape and Power, Chicago, London: University of Chicago Press 20022. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 16 (1975) 3, S. 6–18. O‫ތ‬Barr, William: Culture and the Ad. Exploring Otherness in the World of Advertising, San Francisco, Oxford: Westview Press 1994. Öhlschläger, Claudia/Wiens, Birgit: »Körper – Gedächtnis – Schrift. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin: Erich Schmidt 1997, S. 9–22. Osborne, Peter: Travelling light. Photography, travel and visual culture, Manchester: Manchester University Press 2000. Pagnucco Salvemini, Lorella: Toscani. Die Werbecampagnen für Benetton 1984–2000. München: Knesebeck 2002. Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes, Travel Writing and Transculturations, London, New York: Routledge 20082. Projekt Migration, Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln: DuMont 2005. Rebhandl, Bernd: »Exodus, Diaspora, Pauschalreise: Lisl Pongers Phantomweltbilder«, in: Lisl Ponger. Fotos und Filmarbeiten – Photos and Films, Ausst.Kat. hg. von Landesgalerie Linz, Kunsthaus Dresden, Klagenfurt: Wieser 2007, S. 39–46. Richter, Bettina: »Zeitgenössische Bilderstürmer«, in: Dies. (Hg.), Help! Soziale Appelle im Plakat, Ausst.-Kat. Museum für Gestaltung Zürich Plakatsammlung, Baden: Lars Müller Publishers 2009, S. 64–65.

D IE U NMÖGLICHKEIT DER Ü BERSETZUNG

Saum, Jutta/Volkmer, Anke: »Passagen der Erinnerung«, in: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken, Ausst.-Kat. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, Köln: Wienand 2006, S. 384–396. Schmidt-Linsenhoff, Viktoria: »On and beyond the Colour Line. Afterimages of Old and New Slavery in Contemporary Art since 1990«, in: Birgit Haehnel/Melanie Ulz (Hg.), Slavery in Art and Literature. Approaches to Trauma, Memory and Visuality, Berlin: Frank und Timme 2010, S. 59–92. Sontag, Susan: On Photography, New York: Anchor Books 1990. Spivak, Gayatri Chakravorty: »Can the Subaltern Speak?«, in: Dies.: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia und Kant 2008, S. 17–118. Urry, John: The Tourist Gaze: Leisure and Travel in Contemporary Societies, London: Sage 1990. Wood, Marcus: Blind Memory. Visual Representations of Slavery in England and America 1780–1865. Manchester: Manchester University Press 2000.

I NTERNE T Lenz, Ramona: »Migration und Tourismus als Gegenstand wissenschaftlicher und künstlerischer Projekte«, in: Alexandra Karentzos/Alma-Elisa Kittner/Julia Reuter (Hg.), Topologien des Reisens. Tourismus – Imagination – Migration/Topologies of Travel. Tourism – Imagination – Migration, dt. und engl. als Internetpublikation der Universitätsbibliothek Trier 2010, http://ubt.opus. hbz-nrw.de/volltexte/2010/565/pdf/Topologien_des_Reisens.pdf, S. 41–53 (vom 29.8.2010). Ponger, Lisl/Sharp, Tim: ImagiNative, http://lislponger.com/imagi native/htm (vom 29. August 2010). Reuter, Julia: »Tourismus und Migration«, in: Alexandra Karentzos/ Alma-Elisa Kittner/Julia Reuter (Hg.), Topologien des Reisens. Tourismus – Imagination – Migration/Topologies of Travel. Tourism – Imagination – Migration, dt. und engl. als Internetpublikation der Universitätsbibliothek Trier 2010, http://ubt.opus.hbznrw.de/volltexte/2010/565/pdf/Topologien_des_Reisens.pdf., S. 13–18 (vom 29.8.2010).

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Medialität, Räumlichkeit und Geschlecht

Ein toter Mann Zum Zusammenhang von Migration, Geschlecht und Ethnie im Western »Hombre« Heike Endter

W ESTERN UND M IGR ATION Im Verlauf eines Westerns sterben meist mehrere Menschen, unter ihnen auch Frauen, manchmal sogar Kinder. Aber am Ende stirbt ein Mann. Auf diesen »letzten Tod« läuft die Erzählung hinaus. Er wird sorgsam angelegt und in einem Ritual herbeigeführt. Auch in »Hombre« (Martin Ritt, USA 1967) wird erzählt, warum ein Mann erschossen wird. Die Erzählung beginnt mit dem Gesicht dieses Mannes (Abb. 1) und mit seinem toten Gesicht endet sie. Es bildet den visuellen und symbolischen Rahmen des Films, in dem die Frage nach Identifikation gestellt wird, wie sie aus der lokalen und historischen Situation entsteht, in der dieser Western angesiedelt ist. Der Western ist ein Genre des Hollywoodkinos, das durch seine Motivik wie kein anderes mit dem Thema der Migration, also mit Wanderungsbewegungen der neu in ein Land gekommenen, zumeist weißen Menschen verbunden ist. Das Westerngenre bildet dabei an sich ein Paradoxon ab: grundsätzlich werden Heimatlosigkeit, Suche nach Heimat und damit verbundene Bewegungen geschildert, womit aber auch ein mythischer Begriff von Heimat entsteht, so dass der Western ein originäres und identitätsstiftendes Genre in den USA werden konnte. Innerhalb des Genres gibt es Filme wie »Little Big Man« (1970), »A Man Called Horse« (1970), »Dances with Wolves« (1990) und eben »Hombre«, in denen eine bestimmte identifikatorische Begeg-

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nung mit »dem Anderen« geschildert wird. In diesen Filmen geraten, aus verschiedenen Gründen, Weiße in den Einflussbereich der Indianer. Sie werden in die fremde Gemeinschaft aufgenommen und übernehmen ein Repertoire zunächst fremder Verhaltensweisen und Ansichten, womit sie sich von ihrer ursprünglichen Gemeinschaft, die in einem existentiellen Konflikt mit den Indianern lebt, abgrenzen müssen. In dem Film »Hombre« macht die titelgebende Figur eine äußerlich sichtbare Wandlung durch. Hombre verändert sein Aussehen, das zuerst Zeichen des Indianerseins trägt, und passt es dem Aussehen der Weißen an. Parallel dazu bewegt er sich durch Räume, die mit verschiedenen Identifikationsangeboten durchsetzt sind. Innerlich aber bleibt er sich gleich und wird dadurch beständig vor die Entscheidung gestellt, welcher Gemeinschaft er angehören will und soll. Dabei tritt nicht die indianische, sondern ausschließlich die als weiß gezeichnete Gemeinschaft als Prüfinstanz auf. In der Auflösung des Konflikts opfert sich Hombre für ein Mitglied der weißen Gemeinschaft. Er stirbt für eine Gemeinschaft, die er nicht achtet und die das Opfer fordert und annehmen kann, weil er nicht vollständig Teil von ihr ist. Mit seinem Tod ist sein endgültiger Ausschluss besiegelt. Diese erzählerische Bruchstelle soll aus drei Perspektiven betrachtet werden. Erstens aus der Perspektive des Geschlechts. In den Western sind es gewöhnlich weiße Männer, die in eine neue Gemeinschaft wechseln. Ihnen steht die Möglichkeit offen, die neue Identität selbst zu gestalten und aus ihr eine souveräne Handlungsmacht zu Abb. 1: Das Gesicht der titelgebenden Figur »Hombre«, gespielt von Paul Newman

Quelle: »Man nannte ihn Hombre« (Originaltitel: »Hombre«), Regie: Martin Ritt, USA 1967, DVD aus der Reihe »Große FilmKlassiker«, Twentieth Century Fox Home Entertainment, 2005

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gewinnen. Die zweite Perspektive ist der Darstellung von Gruppen gewidmet. Wie identifizieren sich die Gruppen in Western? Wie grenzen sie sich ab? Wie durchlässig sind sie für neue Einflüsse? Für den Western lässt sich etwas aussagen, das dieses Filmgenre gegenüber anderen Filmen, in denen das Thema der Migration verhandelt wird, abgrenzt. Es ist das ihm eigentümliche Verhältnis zwischen einer angestammten Minorität, den Indianern, und einer einwandernden Majorität. Die weißen Männer, die im Mittelpunkt der genannten Filmerzählungen stehen und darin in eine andere Gemeinschaft überwechseln, gehören zur gesellschaftlichen Majorität. Es gibt folglich einen völlig anderen Rahmen, eine andere Richtung und Funktion von Identifikation als in anderen Filmen, in denen Migration dargestellt wird. Hollywood-Western werden nicht aus der Perspektive einer gesellschaftlichen Randgruppe erzählt. Sie werden aus dem Blickwinkel und vornehmlich für den Blickwinkel der Weißen erzählt, und damit für die gesellschaftliche Hauptgruppe. Für die Weißen im Film wird dabei aus dem notgedrungenen Aufenthalt außerhalb ihrer ursprünglichen sozialen und lokalen Gegebenheiten ein selbst gewählter und neu geschaffener Identitätsraum, der zugleich einen alternativen Lebensentwurf für die Mitglieder westlicher Gesellschaften zeigt. Die zeitgenössische und aktuelle Bedeutung dieser Filme besteht also weniger in einer möglichen Identifikation mit dem Fremden, als in der Darstellung des Eigenen, das Fremdes aufnimmt oder verwirft. In meinem Aufsatz werde ich deshalb besprechen, wie Identität innerhalb eines sozial wie lokal definierten Raumes konstruiert wird oder wie Machtstrukturen durch das Verhältnis von Minderheit und Mehrheit erzeugt werden. Da sich in der Hauptfigur des Hombre zwei kulturelle Lebenswelten überschneiden, die, wie oben beschrieben, teilweise antagonistischen Logiken folgen, wird der Gedanke des Hybriden eine Rolle spielen. Zum Begriff der Hybridität sei allgemein auf postkoloniale, nicht spezifisch dem Western gewidmete Theorien von Homi Bhabha1 oder Kien Nghi Has verwiesen.2 Was den Westernfilm betrifft, so gibt es wissenschaftliche Literatur, in der das Genre in den Vordergrund gestellt wird, weshalb in diesen Texten vor allem typische Erzählmuster, stereotype Figuren und ihre Variationen untersucht werden.3 Analysen zur Darstellung von Rassismus, die am ehesten zu den Fragen der Migrationsforschung passen, finden sich unter anderem bei Seeßlen und Prats.4 Betrachtungen, in denen die Beziehung von Westernfilmen zum Thema Migration im Mittelpunkt

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steht, wurden in der Literatur nicht gefunden. Am nächsten kommt dem ein Aufsatz über zwei Western in einem Buch, in dem sich Elisabeth Bronfen mit Heimweh und Heimatsuche in Hollywood-Filmen auseinandersetzt.5 Davon beeinflusst widme ich mich der visuellen Darstellung von Migration im Sinn eines Abschieds von und einer Zugehörigkeit zu einem sozialen wie visuellen Raum. Mit dem Visuellen ist letztlich auch die dritte Perspektive genannt, unter der der Film »Hombre« im Folgenden betrachtet wird. Es wird untersucht, wie die erzählerischen Bruchstellen mit einer filmspezifischen visuellen Argumentation verbunden sind.

I NNER - UND AUSSERFILMISCHER K ONTE X T Schon durch seine Entstehungszeit zählt der Western »Hombre« zu den Spätwestern oder sogenannten »Postwestern«. Das sind Western, die nach der Blütezeit des Western-Genres in Hollywood, die etwa zwischen 1910 und 1960 liegt, entstanden. Zuvor hatte es im Genre bereits einige markante Verschiebungen in der Gestaltung der Helden, ihrer Handlungsziele, ihrer Motivationen gegeben, die zeithistorisch begründet sind. So fallen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zerrissene Heldenfiguren auf, die nicht mehr klar zwischen »Gut« und »Böse« trennen, sondern zwischen beidem changieren, was ebenso aus anderen Genres, vor allem dem film noir, bekannt ist. Die Gründe, weshalb das Western-Genre in seiner Ausprägung durch Hollywood zum Ende der 1960er Jahre immer weniger funktionierte, sind vielfältig. Beim Publikum kamen die Filme, die in der bewährten Genrerezeptur hergestellt waren, nicht mehr an. Das Hollywood-Studio-System begann zusammenzubrechen. Es gab gesellschaftliche Veränderungen, die ein Zeitalter einleiteten, in dem ungewöhnlich kritische und düstere Hollywoodfilme entstanden. In der Geschichte der USA gibt es einige Eckdaten und Ereignisse, die für Spätwestern wie »Hombre« eine Rolle spielen. Das sind das kritisch aufgenommene US-amerikanische Engagement im Vietnamkrieg (die offene Intervention der USA in Vietnam begann im Frühjahr 1965), die folgende Friedensbewegung mit ihrem Plädoyer für Gewaltlosigkeit sowie die erstarkenden Menschenrechtsbewegungen der schwarzen und der indianischen Bevölkerung der USA. In dieser Situation entstand mit »Hombre« ein Western, in dem eine hybride Figur – ein Mann halb Indianer, halb Weißer – im Mit-

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telpunkt der Handlung steht. Am Ende des Filmes gibt es keine positive Auflösung seines Konfliktes. Darüber hinaus gibt es eine äußerst zwiespältige Darstellung körperlicher Gewalt, über die sowohl ethnische wie geschlechtliche Identität definiert werden. »Hombre« wurde 1967 in den USA uraufgeführt. Regie führte Martin Ritt. Von ihm ist im deutschsprachigen Raum vor allem sein Film »The Spy Who Came in from the Cold« (»Der Spion, der aus der Kälte kam«, 1965) bekannt, ein Film über Spionage im geteilten Deutschland des Kalten Krieges. In der Filmografie des Regisseurs bildet dieser Film eine Ausnahme, denn in den weitaus meisten seiner anderen Filme beschäftigt er sich mit gesellschaftlichen Phänomenen in den USA, wobei es für einen weißen Regisseur wie ihn bemerkenswert ist, wie häufig er auf das Thema Rassismus eingeht.6 Mehrere seiner Filme sind den Problemen der schwarzen Bevölkerung in den USA gewidmet7 und in diesem einen, hier vorgestellten Film beschäftigt sich Ritt mit den Vorurteilen der weißen gegenüber der indianischen Bevölkerung. Der Film »Hombre« beginnt in seinem Vorspann mit einer langsamen ruhigen Melodie. Dazu sieht man Standbilder. Es sind Aufnahmen von Indianern. Der Film gewährt die Zeit, sie ruhig zu betrachten. Auf diesen Bildern gibt es keine dramatischen Szenen. Es sind Bilder vom Alltag, Studien des Lebens, der Menschen, ihrer Gesichter. Sie stammen aus einer Serie historischer Fotografien, die Edward Sheriff Curtis zwischen 1895 und 1930 anfertigte. Curtis reiste in dieser Zeit als Fotograf und ethnografischer Forscher durch verschiedene Regionen Nordamerikas, um Geschichte, Aussehen, Tradition der indianischen Ureinwohner zu dokumentieren und teilweise zu rekonstruieren. Denn schon zu Beginn seiner Reisen lebten die meisten von ihnen bereits in Reservaten. Die Bilder waren Ende der 1960er Jahre, zur Zeit der Filmentstehung recht bekannt. In einem diffusen Unrechtsbewusstsein sahen Teile der weißen Mehrheit der USA in den Bildern einen Beweis ihrer verlorenen Unschuld. Sie trauerten um die verlorenen Fähigkeiten der im Einklang mit der Natur lebenden indianischen »Naturkinder«,8 wobei die Trauer um andere sich mit dem Gefühl mischte, dass man mit deren Lebensweise auch ein Mittel zur eigenen »Heilung« zerstört habe. Begleitet von der Musik, die in ihrer Ruhe und ihren Molltönen keineswegs melancholisch klingt, vermitteln die Fotografien bei der Betrachtung ein angenehmes Gefühl. Sie strahlen etwas Selbstverständliches, Fortdauerndes aus. Demgegenüber sind aber leichte

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Akzente gesetzt. Ins Bild geschnitten sind die Credits der Filmcrew. Auch wenn sie harmonisch eingefügt sind, also keine bildentscheidenden Elemente überschneiden, bilden sie einen Subtext, mit dem die Versenkung in die Welt dieser Fotografien gestört wird, um die Gemachtheit einer nun folgenden Geschichte anzukündigen. Die Fotografien des Vorspanns sind außerdem eingefärbt, was, wenn man alte Foto- oder auch Filmtechniken kennt, zwar nicht ganz ungewöhnlich erscheint. Aber besonders die rot eingefärbte Darstellung eines Indianers, der allein auf einem hohen Felsen steht und Ausschau hält, setzt einen dramatischen Impuls. Außerdem ist eine sehr grobe Bildstruktur zu erkennen. Sie stammt von einem Stoff. Auch das wäre nicht ganz ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Fotografien früher zuweilen auf Fotoleinwand entwickelt wurden. Diese Leinwandstruktur hat in mehrfacher Hinsicht eine historisierende Wirkung. Erstens verweist sie gemeinsam mit der monochromen Einfärbung der Bilder auf eine alte fotografische Technik. Zweitens aber sind die Fotografien durch diese stoffliche Anmutung gegenüber dem neuen Medium Film abgegrenzt. Sie existieren in einem Zwischenstadium, zwischen Fotografie und Gemälde, und die Fotografie erscheint historisch, abgelagert, aufbewahrt, in sich geschlossen. Demgegenüber wirkt das erste Filmbild, das ganz filmisch glatt und transparent ist, fast wie ein Schock. Einerseits wird das Sujet – die Darstellung eines Indianers – beibehalten, andererseits aber wird die Technik gewechselt. Allein durch den Wechsel entsteht das Gefühl, einer abrupt einsetzenden Unmittelbarkeit, einer Nähe, eines Geschehens, das jetzt einsetzt und nicht mehr in eine Vergangenheit eingeschlossen ist. Unvermittelt sieht man sich einer völlig detaillierten, realistisch gefilmten Großaufnahme eines Gesichtes gegenüber. Dieses Gesicht wiederum ist ganz der Betrachtung freigegeben, denn die Augen schauen zur Seite. Der Mann, zu dem sie gehören, scheint etwas zu beobachten, von dem er seinen Blick nicht abwendet. Den Filmschauenden wird also die Gelegenheit gegeben, nun ihrerseits das Gesicht zu mustern. Und sie sollen es mustern, denn lange Zeit erscheint nur dieses eine Bild vor ihnen. Im Gesicht des Mannes fallen die blauen Augen auf. Seine langen dunklen Haare werden von einem Stirnband gehalten. In dieser ersten, betont ruhigen und langen Einstellung wird ein Gegensatz eingeführt: die blauen Augen als Zeichen eines europäischstämmigen Gesichtes kontrastieren mit der Haartracht eines indianischen Gesichtes. Das Leuchten der blauen Augen wird durch den Kontrast

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zur dunklen Gesichtshaut und die insgesamt helle Beleuchtung der Szene forciert. Zudem sind die blauen Augen ein Markenzeichen des Schauspielers Paul Newman, weshalb sie eine weitere Funktion übernehmen, die zwar nicht filmimmanent ist, aber letztlich auf die Rezeption des Filmes zurückwirkt. Denn Newman war ein beliebter weißer Star, und ohne einen solchen hätte der Regisseur, wie er in einem Interview betonte, niemals die Erlaubnis der Studiobosse erhalten, einen Film zu machen, in dessen Mittelpunkt ein tragisches indianisches Schicksal und der Anteil der Weißen daran stehen.9 Ina Mae, die neben anderen das Interview führte, erklärte, dass sie den Film gemeinsam mit einigen indianischen Freunden gesehen habe. Diese hätten empört reagiert.10 Sie selbst habe Newman bisher als typischen Angloamerikaner wahrgenommen, so dass sie über den Identitätswechsel des Schauspielers, den er innerhalb seiner Rolle vollzieht, verwundert gewesen sei. In beiden Reaktionen wirken sowohl die tatsächliche ethnische Herkunft als auch die in verschiedenen Filmen erworbene Rollenbiografie des Schauspielers auf die Glaubwürdigkeit der dargestellten Figur zurück. Bei der Rezeption des Filmes wurde von den Zuschauenden ein Rahmen definiert, außerhalb dessen sie einen Identitätswechsel ablehnen. Dieser Rahmen ist von der ethnischen Identität des Publikums selbst abhängig. Im Film wird also nach der dokumentarisch angelegten Vorführung von Fotografien des Indianerlebens auf einen Mann geschnitten, der Zeichen des Weißseins wie des Indianerseins trägt. Damit wird sofort das Thema des Hybriden angesprochen. Hombre sitzt allein hinter dem Felsen und beobachtet eine Herde wilder Pferde. Erst nach einer Weile sieht man, dass es noch zwei Männer gibt, die mit ihm warten. Diese anderen Männer sind Indianer. Sie warten von Hombre entfernt. Sie sind also räumlich von ihm abgesetzt, und sie sind es auch in der Wahl des Bildausschnitts. Ihr Gesicht erscheint niemals in Nahaufnahme wie das von Hombre. Sie treten immer zu zweit auf. Es wird also auch die Frage gestellt, welche Position das Hybride in einer Gemeinschaft einnimmt. In diesem Fall ist es die kleine Gemeinschaft, die er zusammen mit den beiden Indianern bildet. Nur wenig später taucht ein Vertreter einer weiteren und anderen Gemeinschaft auf, zu der Hombre als hybride Figur potenziell gehören kann. Die Botschaft, die der neu Angekommene aus der Welt der Weißen bringt, enthält schon in der Anrede die Frage nach seiner Identität. Der Bote wünscht, mit John Russell zu sprechen. Wie schon dieser Name verrät, soll er in Hombre den Weißen ansprechen

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und ihn als solchen zur Station der Weißen einladen. Hombre, beziehungsweise John Russell, lässt den Boten darüber im Unklaren, ob er seine Einladung an den Richtigen weitergegeben hat und ob dieser ihr folgen wird. An diesem Gespräch nehmen die Indianer nicht teil. Sie sind weder zu sehen noch zu hören. Sie dienen hier wie auch später als Hombres Umfeld, als Erklärung für seine Art, für seine Ansichten. Die Handlungsführung liegt ganz bei Hombre. Im Film soll seine Geschichte erzählt werden. Das wird mit dem Filmtitel angekündigt. Aber sein Zusammensein mit den Indianern hat etwas Unstimmiges. Er erscheint von ihnen abgehoben; nicht in dem Sinn, dass er durch sie wegen eines Andersseins auf Abstand gehalten würde, sondern im Sinn von Dominanz ihnen gegenüber. Diese Stellung wird in der nächsten Sequenz bestätigt. Das geschieht zunächst sehr subtil. In weiter Ferne tauchen drei Berittene vor einer Felskulisse auf, um dann über weites flaches Land auf die Kamera zuzureiten (Abb. 2). Dabei gibt es einen kleinen Spalt zwischen den drei Reitern, so dass eine Gruppe zu zwei Reitern leicht gegen den dritten, einzelnen ReiAbb. 2: Hombre und zwei indianische Reiter

Abb. 3: Die Fellfarbe der Pferde als Indiz der Identität ihrer Reiter

Quelle zu Abb. 2–3: »Man nannte ihn Hombre« (USA 1967)

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ter abgegrenzt ist. Der Einzelne ist Hombre, und in einem weiteren Detail wird seine Besonderheit gegenüber den beiden Indianern wiederholt. Von vorn gesehen sind die Pferde aller drei Reiter braun. Als die Gruppe in einem Bogen an der Kamera vorbeigeritten ist, kommen die Hinterteile der Pferde ins Bild (Abb. 3). Das von Hombres Pferd ist weiß. Während die Indianer also auf vollständig braunen Pferden reiten, wird Hombre von einem Schecken getragen, so dass die zweifarbige Fellzeichnung des Tiers das Motiv seines Reiters als »weißer Indianer« wiederholt.

G E WALT ALS M ASSSTAB VON I DENTIFIK ATION An physischer Gewalt wird im Western das männliche Rollenmodell ausgelotet. Außerdem gibt es im Western einige Orte, die dazu ausgewählt sind, eine Choreographie der Gewalt zu entwickeln. Zu diesen besonderen Orten gehört der Saloon. Er ist ein halböffentlicher Ort mit durchlässigen Grenzen – räumlichen wie sozialen –, an dem Konflikte entstehen, zugespitzt und ausgetragen werden. Auch in »Hombre« gibt es eine solche in der Westerndramaturgie nicht ungewöhnliche und dennoch schwierig zu bewertende Szene. Hombre betritt mit seinen beiden indianischen Begleitern eine Schenke. Zu dritt übertreten sie eine räumliche und soziale Grenze, deren Durchlässigkeit die Prüfung für den Status der Eintretenden darstellt. Sie erweist sich zunächst als für alle gleichermaßen durchlässig. Danach aber trennen sich Hombre und die Indianer. Hombre setzt sich an einen Tisch, wo er von einem Mann – einem Mexikaner, wie sich herausstellt – erwartet wird.11 Die Indianer stellen sich an den Tresen und werden dort bedient. Diese Trennung und die unterschiedlichen Positionen im Raum lassen sich unabhängig vom sozialen Status der Beteiligten begründen. Dennoch gibt es Unsicherheiten, etwas Unausgesprochenes wie eine Handbewegung Hombres gegenüber den Indianern, noch bevor sie die Schenke betreten, die eine herrische Note hat. Der Mexikaner versucht, Hombre zu überreden, wieder ganz in das Leben der Weißen einzutreten, womit er die Lebensweise der Indianer als minderwertig erklärt. Auf diesen bis dahin unterschwellig bleibenden Konflikt wirken zwei neu eintretende Männer als Katalysatoren, so dass er nun offengelegt wird und eine Lösung verlangt. Diese beiden weißen Männer versuchen, die Indianer zu demütigen, wobei sie darauf bestehen, dass die Indianer einen ihnen

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verbotenen Raum betreten hätten. Während die Angegriffenen die Situation ertragen, und das durchaus würdevoll und ohne sich noch für eine Gegenaktion entschieden zu haben, mischt sich am Höhepunkt des Angriffs auf die Indianer Hombre in den Konflikt ein. Er schlägt einem der Weißen seinen Gewehrkolben ins Gesicht. Es ist ein plötzlicher Ausbruch extremer körperlicher Gewalt, der mit größtmöglicher Gelassenheit beendet wird. Beides gehört zum gängigen Zeichenrepertoire eines Westernhelden, in dem er beweisen kann, wie er erfolgreich physische Gewalt anwendet und dennoch über emotionale Stärke verfügt. Das Ungewöhnliche an der Situation in diesem Film ist, dass Hombre den Körper eines anderen ziemlich unvermittelt verletzt. Er tut es, nachdem er im Gespräch zuvor verbales Geschick und Ruhe bewiesen hatte. Zu beidem kehrt er nach seinem Angriff sofort zurück. Diese friedfertigen Anteile seines Wesens komplettieren die Figur des Hombre als einen Charakter, der nicht nur willens, sondern auch fähig ist, körperliche Gewalt anzuwenden. Seine Fähigkeit zu körperlicher Gewalt aber wird nur wenig später in einem Kommentar des Mexikaners als Merkmal eines »Wilden«, also als Merkmal des Indianerseins, bezeichnet. Hombre widerspricht dessen Einordnung. Gerade an dem Zweifel, wie dieses Merkmal von Hombres Charakter, nämlich seine Fähigkeit zu körperlicher Gewalt, einzuordnen ist, wird sich sein Schicksal im Film entscheiden. Als die Indianer, an deren Anwesenheit sich der Konflikt in der Schenke entzündet hatte, auch zu ihren Waffen greifen, bestätigen sie die Handlung Hombres. Auf einer ersten Ebene hat Hombre den Indianern die Lösung ihres Konfliktes aus der Hand genommen. Das kann sie herabwürdigen, wenn er damit indirekt anzweifelt, dass sie selbst in der Lage seien, ihre Konflikte zu lösen. Es kann aber auch klug sein, wenn er den Konflikt in einem Raum an sich zieht, in dem die Indianer, und damit ihre Handlungen, weniger beheimatet und geduldet sind als Hombre selbst. Die Frage ist also, ob er zu Recht oder zu Unrecht eine führende Rolle beansprucht und was das für seine Stellung gegenüber den Indianern bedeutet. Diese beiden widersprüchlichen Argumente lassen sich auf eine andere Ebene überführen, auf der sie in einer verallgemeinerten Form die Darstellung von Weißen, welche die Lebensweise der Indianer annehmen, spiegeln. Da gibt es einerseits den weißen Indianer als »besseren Indianer«, als einen, der in der Lage ist, die Lebensweise der Indianer zu übernehmen, und das heißt insbesondere, ihre Überlebensfähigkeit in der Wildnis zu erreichen und sogar zu übertreffen.12 Es gibt den

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weißen Indianer aber auch als einen Menschen, der zwischen zwei Welten vermitteln kann oder der einen Seite, hier der unterlegenen indianischen, dadurch hilft, dass er die andere Seite, die Seite der Weißen, kennt, sie kontaktieren und zu seinen Gunsten beeinflussen kann. Obwohl es widersprüchlich ist, kann Hombre in dieser Situation beide Stellungen einnehmen.13 Außerdem beweist er, dass es in seiner Macht liegt, die sozialen und räumlichen Sphären zu wechseln. Er bewegt sich nicht nur sicher und souverän in der Sphäre der Indianer. Es steht auch in seiner Macht, diese zu verlassen und in die Sphäre der Weißen einzutreten. Diese Möglichkeit, die Identitäten zu wechseln oder eine der anderen hinzuzufügen oder etwas Fehlendes durch die angenommene fremde Identität zu ergänzen, ist in den Western den Männern vorbehalten. Es gibt eine kleine Einschränkung, mit der sich diese Aussage etwas konturieren lässt. Mir sind zwei Western bekannt, in denen eine weiße Frau selbstbestimmt zwischen den Sphären der Weißen und der Indianer wechselt und damit eine ihr eigene Stärke demonstriert, nämlich die Filme »Cheyenne Autumn«14 und »Soldier Blue«15. Es geschieht schnell, dass man bei einem Genre, das allgemein als Männergenre gilt, die Rolle der Frauen unterschätzt. Aber es gab zu jeder Zeit starke Heldinnen im Western. Als Beispiele seien hier die Filme »Forty Guns«16 und »Johnny Guitar«17 genannt. Letzterer hat die einzige mir bekannte Szene, in der das Duell am Ende des Films zwischen zwei Frauen ausgetragen wird. Dieses Duell ist auch deshalb spannend, weil die eigene, durch Stereotype eingeübte Filmbetrachtung bis zuletzt daran zweifeln lässt, ob es die Frauen sein werden, die töten, oder ob einer der umstehenden Männer eingreift und ihnen den physischen Konflikt abnimmt.18 Was den Wechsel zwischen den Sphären der Weißen und der Indianer betriftt, so besteht der Unterschied zwischen Frauen, die einen selbstbestimmten Wechsel vollziehen, und einer männlichen Figur wie Hombre darin, dass die Frauen trotzdem nicht indianisch werden, also trotz ihres räumlichen und sozialen Wechsels keine äußerliche oder innerliche Metamorphose durchleben. Stattdessen setzen sie ihre schon bestehenden Eigenschaften und moralischen Vorstellungen in der fremden Sphäre konsequent um. Häufiger ist aber ein anderes Motiv: Wechseln Frauen die Sphären, so werden sie dorthin gebracht. Sie werden von indianischen Männern aus der weißen Sphäre geraubt und von dort durch weiße Männer zurückgeholt.19 Dies ist ein Motiv, das es unter umgekehrten geschlechtlichen

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Vorzeichen nicht gibt. Versuchsweise sollte man sich vorstellen, wie eine Frau einen Mann raubt oder in seine angestammte Gemeinschaft zurückführt. Eine solche Szene scheint absurd, weil sie den tatsächlichen oder auch nur angenommenen Geschlechterverhältnissen so sehr widerspricht, dass ihre Vorstellung geradezu komisch erscheint, denn Komik entsteht aus dem Unerwarteten und Übertriebenen. Natürlich ist es interessant, wie geschlechtstypisches Verhalten in Filmen der letzten Jahrzehnte abgeändert wurde und inwieweit diese Änderungen funktionieren. In neueren Western sind solche Verschiebungen wenig geglückt. Als Beispiel sei hier die klamaukhafte Handlung um zwei Pistolenheldinnen in dem Western »Bandidas« von 2006 genannt.20 Dass im Westerngenre gelungene Verschiebungen der Geschlechterrollen fehlen, mag damit zusammenhängen, dass der Western bereits seit den 1970er Jahren kein vitales Genre mehr ist. In Filmen anderer Actiongenres haben solche Verschiebungen besser funktioniert und die Heldin, die auch körperliche Gewalt einsetzt, gehört inzwischen zum Standard, wie etwa in »The Matrix« von 1999. Wegweisend hierfür war die Figur der Ellen Ripley in den Filmen der »Alien«-Serie. Der erste »Alien«-Film kam 1979 in die Kinos. Bemerkenswert an »Hombre« ist aber auch, dass sich viele der männlichen Figuren erstaunlich gewaltlos zeigen. »Hombre« wird oft mit dem sehr viel älteren Film »Stagecoach«21 von John Ford verglichen,22 vor allem weil ein großer Teil beider Erzählungen in einer Postkutsche spielt. In »Stagecoach« sind die männlichen Reisenden ein schießwütiger Gentlemen, ein die meiste Zeit betrunkener Arzt und ein räuberischer Geschäftsmann, ein Sheriff mit einem Delinquenten, der Kutscher und schließlich ein kleingewachsenes, dünnes Männlein mit religiösen Anwandlungen und so viel Angst, dass seine Figur dazu dient, die selbstverständliche Gewalt der anderen Männer ironisch zu kontrastieren. Während es also für die Männer in dem älteren Film selbstverständlich ist, physische Gewalt auszuüben, ist es in dem neueren Film »Hombre« selbstverständlich zu zeigen, wie schwer genau diese Art zu handeln ist: welche Überwindung sie kostet, welche Angst und innere Konflikte sie verursacht. Mendez, der Mexikaner, der im Saloon mit Hombre gesprochen hat, fährt später die Kutsche, in deren Enge und Isolation die Filmerzählung weiterentwickelt wird. Die Kutsche wird von Banditen überfallen, die Reisenden werden ausgeraubt und ohne Pferde und

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Wasser zurückgelassen. Hombre legt sich mit Mendez in einen Hinterhalt, wo sie den Banditen auflauern, von denen sie fürchten, dass sie zurückkommen und alle töten werden. Keiner der mitreisenden Frauen ist diese Aufgabe angeboten worden. Aber auch Mendez sagt, er lehne es ab, jemanden zu töten. Mehr noch, er zeigt sich aufgrund seiner moralischen Skrupel dazu unfähig. Während des Wartens ist er sichtlich nervös. In seiner Anspannung schießt er verfrüht auf einen sich nähernden Banditen. Selbst das Geräusch seines Gewehrs vermittelt seine emotionale Verfassung. Es schießt mit einem hellen Klang, der gemeinsam mit dem Pfeifen der Querschläger, die es erzeugt, und dem schnellen Schießrhythmus etwas von hysterischer Eile hat. Als Hombre merkt, dass Mendez der Situation nicht gewachsen ist, greift er ein. Hombres Ruhe ist gepaart mit dem tiefen Klang seines Gewehres, mit dessen Schüssen er den Angreifer verletzt. Verglichen mit Mendez ist er durch seinen Lebenslauf zu einer Ökonomie des Tötens entschlossen, wie sie die anderen, die weißen Mitreisenden, trotz der Gefahr für ihr Leben ausschließen. Hombre beruft sich darauf, zu tun, was getan werden muss, um zu überleben. Es ist kein Ausbruch wilder, emotionaler Gewalt, wie sie zuvor in der Szene in der Schenke einen ambivalenten Eindruck erzeugt hat. Trotzdem gerät er dadurch in eine Position, in der sich sein mögliches Opfer abzeichnet. Er schützt die Mitglieder der Gemeinschaft, die diesen Schutz annehmen, mit Mitteln, die sie selbst nicht anwenden würden. Er führt sie aus ihrer bedrängten Lage, bleibt nun aber gerade durch diese Fähigkeit von ihr ausgeschlossen.

E THNIE UND G ESCHLECHT Neben einer ethnischen gibt es eine geschlechtliche Trennlinie für das Verhalten der Figuren. Beide können parallel verlaufen, einander aber auch kreuzen, wobei die damit verbundenen Hierarchien entsprechend justiert werden. In »Hombre« tauchen nach der Szene in der Schenke keine Indianer mehr auf. Hombre tritt nun ohne seine vorherigen indianischen Begleiter in die Welt der Weißen ein. Sie wird repräsentiert durch einen kleinen, staubigen Ort. Hier bleibt Hombre vor einer Pension stehen (Abb. 4). Sie ist von einem kaputten Zaun umgeben und hat eine quietschende, knallende Tür, durch die er eintritt, um sein Erbe anzutreten, das aus ebendieser Pension besteht. Bei sei-

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nem ersten Eintreten in die Welt der Weißen sieht man, dass er seine Kleidung und seinen Haarschnitt der anderen Umgebung angepasst hat. Eine äußerliche Metamorphose ist also sichtbar. Die folgende Erzählung besteht nun darin, wie er als weißer Indianer, der er trotz seiner äußeren Wandlung ist, auf seine Identität geprüft wird und dabei von einer Gruppe umgeben ist, deren Mitglieder selbst in Bewegung sind. Als erstes Mitglied dieser neuen Gruppe lernt er Jessie kennen. Sie ist die Hauswirtin der Pension und erwartet ihn bereits. Visuell ist die erste Begegnung der beiden durch vielfältige Grenzen markiert: durch einen Zaun, eine Wäscheleine, eine Tür. Jessie hängt gerade im Hof der Pension Wäsche auf, als sie einen Mann auf der anderen Seite des Zauns stehen sieht. Nachdem sie ihn als den Erwarteten angerufen hat, zögert er. Hombre bleibt hinter dem niedrigen Holzzaun, der auch ein reales Hindernis, vor allem aber eine symbolische Grenze ist, deren kaputte Tür offen steht. Selbst in diesem offenen Durchgang bleibt Hombre ein weiteres Mal stehen. Jessie, die verbal die Kommunikation beginnt, setzt ihrerseits gestisch Grenzen. Sie spricht hinter der Wäscheleine stehend zu Hombre. Sie zieht mit ihren Händen sogar die Leine nach unten, so dass die als deutliche Trennlinie zwischen ihr und dem Angekommenen fungiert. Die Reihung von Grenzen wird auf dem Weg ins Haus fortgesetzt und hat immer dasselbe Ergebnis. Jessie geht voraus und Hombre folgt ihr, ohne seine abwartende Haltung mit den hinter dem Rücken gefalteten Armen zu verändern. Die Eingangstür zum Haus fällt misstönend hinter Jessie zu. Hombre unternimmt nichts, diese neue Grenze offen zu halten. Er bleibt wiederum auf der anderen Seite stehen, wodurch ihr Gespräch durch die halbdurchlässige Tür – sie hat eine Glasscheibe – fortgeführt wird. Alle Grenzen stehen ihm mehr oder Abb. 4: Hombre und Jessie vor der Pension

Quelle: »Man nannte ihn Hombre« (USA 1967)

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weniger offen, werden aber durch sein Verhalten auch als Grenzen markiert. Insofern funktionieren sie als visuelle Zeichen von Hombres hybrider Identität. Am Ende der Szene ist klar, dass Hombre trotz der äußerlichen Anpassung seines Aussehens nicht in die ihm offen stehende, vorgefertigte Welt der Weißen eintreten wird, während Jessie ebendiese vorgefertigte Version von Heimat verlassen muss. Hombre wird die Pension verkaufen. Jessie indessen scheitert mit ihrem Plan, ihn als Mann anzusprechen und durch bereit gestellte Annehmlichkeiten an das Haus zu binden. Hombre lehnt es ab, an sie Zugeständnisse zu machen. Er verfolgt ein anderes Ziel. Während Jessie auf ein geschlechterdefiniertes Konzept baut, präferiert Hombre ein ethnisch-moralisches Konzept, das sich aus seiner Zugehörigkeit zu den Indianern ergibt. Jessie versucht, dem alten, vertrauten Leben nah zu bleiben, indem sie den Sheriff, mit dem sie zusammenlebt, bittet, sie zu seiner Ehefrau zu machen. Diese geschlechtsspezifische Möglichkeit, sich an eine Heimat zu binden, variiert sie, indem sie seinen Antrag nicht abwartet, sondern gegenüber dem Sheriff pragmatisch vorbringt. Der lehnt jedoch ab. Er begründet die Ablehnung damit, dass er sein Glück an diesem Ort, an dem Jessie bleiben will, nicht gefunden habe. In seiner Argumentation verweist er auf ein Glücksversprechen, wie es der Westernerzählung als der Eroberung von Möglichkeiten eingeschrieben ist, welches er selbst aber nicht einlösen konnte. Jessie ist nun zum Aufbruch gezwungen. Im Gegensatz zum Sheriff verkörpert sie dabei einen optimistischen Geist, wie er im Westerngenre angelegt ist und von dort in die historisch später angesiedelten Road-Movies überführt wird: Sie ist auf der Suche und bereit, Altes zurückzulassen, in der Gewissheit, einen Ausweg, Verlorenes oder einfach das zum Leben Notwendige zu finden. Wenn auch in einer nüchternen und abgeklärten Variante, so erscheint hier die Botschaft des Westerns, wie er mit dem Mythos des Landes selbst verbunden ist. Hier kann das Glück immer wieder neu gesucht werden, wobei die Suchbewegung mit dem Verlassen eines alten, untauglich gewordenen Ortes beginnt und zu einer Wanderungsbewegung führt, in der nicht nur die Essenz des amerikanischen Traumes, sondern der von ihm inspirierte Traum der westlichen Welt von einer glückhaften Migration aufgehoben ist, durch die die Wandernden geprüft werden, um am Ende zu sich selbst zu finden. Jessie will mit der nächsten und letzten Pferdekutsche den Ort verlassen, denn der Kutschenbetrieb wird eingestellt. Es gibt einen

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Warteraum für die Reisenden und hier werden die Einzelnen der neuen Gruppe zusammengeführt. Dabei wird jenes Element markiert, das ihnen gemeinsam ist: Alle Menschen in diesem Warteraum befinden sich in einer Übergangsphase ihres Lebens. Sie warten auf die vorerst letzte Möglichkeit, den Übertritt in eine andere Lebensphase einzuleiten. Der junge Mann, der am Tresen die Fahrscheine ausgibt, will mit seiner jungen und unzufriedenen Frau, die ihm gegenüber auf einer Wartebank sitzt, den Ort verlassen. Ein Soldat, der bei ihm seine Fahrkarte in Empfang nimmt, hat gerade, wie er allen berichtet, seine Laufbahn bei der Armee beendet und bricht auf, um zu heiraten und sich ein anderes Leben einzurichten. Er setzt sich auf eine Bank an der Wand, wo schon Hombre und Jessie, so weit wie möglich voneinander entfernt, Platz genommen haben. Als weiterer Passagier trifft ein Mann ein, von dem nichts bekannt ist, weder woher er kommt, noch welches Ziel er verfolgt, und der, wegen des Mangels an Fahrgelegenheiten, den Soldaten zwingt, ihm seine Fahrkarte zu überlassen. Als weitere Fahrgäste wurde zuvor ein Ehepaar eingeführt. Es besteht aus einem alten Mann und einer jungen Frau. Beide wollen dringend genug fort, um durch ihre Initiative zu bewirken, dass die Kutsche ein letztes Mal fahren wird. Nach dem kargen Warteraum mit seinen Wandbänken, auf denen die Reisenden in größtmöglicher Entfernung zueinander saßen, sieht man sie wenig später aneinandergedrückt in der Kutsche sitzen (Abb. 5). In der räumlich zusammengepressten Gemeinschaft beginnt ein Gespräch, in dem sich die sozialen Abstände zwischen den Reisenden offenbaren. Die junge Frau des Hilfskutschers beginnt das Gespräch mit der Frage, ob etwas zu befürchten sei, da sie ja nun durch Indianerland führen. Währenddessen ist von diesem Abb. 5: In der Kutsche. Von links: Mr. Grimes, Audra Favor und ihr Mann

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Land nichts zu sehen. Die Fenster sind verschlossen. Die Reisenden sitzen in einem hermetischen Kasten, in dem sie durch einen Raum bewegt werden, der durch seine Unsichtbarkeit vollständig imaginär wirkt. Sie bewegen sich durch einen Raum, der als solcher gar nicht feststellbar ist. Zudem begann die Fahrt nachts, als es bis auf einen schmalen hellen Streifen am Himmel völlig dunkel war. In dieser irrealen Situation beginnt die junge Frau das Gespräch damit, dass sie den nicht sichtbaren Raum, den sie durchfährt, mit einer verbal geäußerten Vermutung symbolisiert und ihre Mitreisenden zugleich um eine Realisierung dieses Raumes bittet, indem sie eine Antwort auf ihre Vermutung verlangt. Die anderen Reisenden beginnen nun aus ihrer jeweiligen Weltsicht den imaginären, wenn auch zugleich vorhandenen Außenraum zu bestimmen. Mr. Grimes – der Mann, der zuvor dem Soldaten die Fahrkarte abgenommen hatte – beweist wiederholt seine rücksichtslose Art, indem er sagt, die Indianer machten mit den weißen Frauen das Gleiche wie mit ihren eigenen und keiner von ihnen würde das missfallen. Hier taucht also erneut das Thema vom Wechsel der Sphären auf und es ist deutlich als geschlechtsspezifisch gekennzeichnet. In dieser Form entspricht es ganz dem Westernmythos, der besagt, dass Indianer weiße Frauen verschleppen.23 Als Mythos bezeichnet er ein Trauma, ist aber auch Definitionshilfe einer Gruppe, die fremdes Land betritt und sich über ihre Unterschiede hinweg durch einen deutlich gekennzeichneten gemeinsamen Feind als Gruppe zu definieren beginnt. Gerade damit wird das erste Gespräch der in der Kutsche neu zusammengeführten Gruppe begonnen. Mr. Grimes zeigt, dass er den Mythos kennt, aber nicht bereit ist, davon eine Zusammengehörigkeit abzuleiten. Abgesehen davon macht er sich, wie später bestätigt wird, über den sexuellen Subtext in der Rede der jungen Frau lustig. Mit seiner Antwort zielt er auch auf den verschleierten sexuellen Gehalt des Mythos von den gestohlenen Frauen. Denn die Furcht der weißen Männer vor der Verschleppung ihrer Frauen bezeichnet auch ihre Furcht vor einer sexuellen Demütigung, während sie den Frauen die Möglichkeit gibt, ihre Männer mit der Vorstellung eines möglicherweise zu bevorzugenden Sexualpartners zu irritieren. Interessanterweise werden hier die Anderen nur als Männer imaginiert, als Indianer. Einerseits lässt sich das mit dem tatsächlichen Rollenverhalten erklären, bei dem nur Kämpfer, also Männer, die Kutsche überfallen würden. Andererseits zeigt sich darin ein Muster, bei dem das zu bekämpfende Andere immer als männlich dargestellt wird,

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wie etwa in »The Searchers«. Kommt das weibliche Andere ins Bild, verschiebt sich die Argumentation hin zum Beschützen, Bewahren und zum Eingestehen eigenen Fehlverhaltens wie etwa in »Little Big Man« oder ebenfalls in »The Searchers«.24 Nachdem das Gespräch in der Kutsche diese Richtung genommen hat, schalten sich der Mann der jungen Frau und Jessie ein. Die Rede, die dem Gespräch eine Wendung gibt, aber kommt von der Frau des alten Mannes. Sie beginnt von ihren eigenen Erfahrungen mit Indianern zu berichten. Das Gespräch wendet sich also vom Imaginären, Hypothetischen ab und dem Bericht einer »Augenzeugin« zu, die damit einen Anspruch auf Authentizität erhebt. Zunächst spricht sie von Indianern, die in einem Reservat, also in einem abgeschlossenen Raum, leben und das bedeutet gleichsam »gezähmt« sind. Sie sexualisiert ihre Beobachtung und kehrt dabei die vorher eingeführte Objekt-Subjekt-Beziehung um. Waren es im Gespräch zuvor bei den freien Indianern die Männer, die die Frauen zu Objekten machten, indem sie sie raubten, nimmt nun sie als Frau die Subjekt-Stellung ein und kann dadurch die im Reservat lebenden Männer ihrerseits zu Objekten machen. Sie kann also innerhalb einer ethnischen Hierarchie, in der sie als Weiße die höhere Stellung beansprucht, auch als Frau die geschlechtliche Hierarchie umkehren. Zuerst spricht sie über das gute Aussehen der indianischen Männer. In einer Variation dieser Aussage wiederholt sie ihre dominante Stellung ihnen gegenüber, aber auf eine Art, mit der sie ihr sexuelles Begehren widerruft, das heißt es kaschiert. Denn nun spricht sie davon, dass diese Männer ihr nicht mehr gefallen könnten, sobald sie sich als Indianer benähmen und Hunde äßen. Sie unterscheidet also, um ihre dominante Stellung auszugestalten, zwischen Aussehen und Benehmen, wobei sie mit dem Aussehen auf die Männlichkeit anspielt und mit dem Benehmen auf »Unmännliches« und Nicht-Menschliches, gleichsam Tierhaftes, Undiszipliniertes. An diesem Punkt bringt sich Hombre in das Gespräch ein. Er wirbt um Verständnis für die Indianer, indem er kurz deren Situation im Reservat schildert und dabei ihr Verhalten auf ihre Situation, nicht ihre ethnische Zugehörigkeit zurückführt. Er antwortet der Frau, dass sie sich in einer solchen Situation ebenso verhalten würde, womit er sich auf ein allgemein menschliches Verhalten beruft und die weiße Frau den Indianern gleichstellt. Die Frau streitet diese Möglichkeit ab, worauf sich ihr Mann beschwichtigend einmischt. Er drückt Verständnis für die Meinung Hombres aus, von

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dem er bisher nichts weiß. Zugleich beglaubigt er das Urteil seiner Frau über die Indianer, indem er sich als Leiter eines Indianerreservates vorstellt. Hombre offenbart sich nun vor den anderen als den Indianern zugehörig. Während sich also das Gespräch über den Außenraum und diejenigen, die ihn möglicherweise bewohnen und beherrschen, langsam vom Imaginären abwandte, bricht in dem Moment, in dem sich Hombre als indianisch zu erkennen gibt, die imaginär beschworene Außenwelt in die Innenwelt der Kutsche ein.

G RUPPENDYNAMIK UND S ELBSTDEFINITION Das hat zur Folge, dass Hombre aus der Gruppe der Reisenden ausgeschlossen wird und auf dem Kutschbock weiterfahren muss. Die Initiative dafür kommt vom Chef des Indianerreservats und seiner Frau. Von den anderen wird das mehr oder weniger schweigend hingenommen. Dass die Gruppe in ihrer Definition flexibel ist, wird wenig später noch einmal deutlich. Der rücksichtslose Mr. Grimes erweist sich als Dieb, der mit seinen Kumpanen, die der Kutsche vorausgeritten sind, die anderen Reisenden ausraubt. Zugleich werden Favor, der Chef des Indianerreservats, und seine Frau weiter diskreditiert. Favor hatte die Indianer systematisch betrogen und wollte nun mit seiner Frau und dem ergaunerten Geld über die Grenze nach Mexiko fliehen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren fast alle nordamerikanischen Indianer in Reservate deportiert worden. Dort nahm das Bureau of Indian Affairs, eine Behörde des Kriegsministeriums, die die Indianerreservate treuhänderisch verwaltete, eine zwiespältige Rolle ein. Es gab viele Fälle von Korruption. Dementsprechend zwielichtig ist der Vertreter dieser Behörde in »Hombre« gestaltet.25 Die Räuber nehmen die Frau des Reservatschefs als Geisel und reiten davon. Hombre erschießt zwei der Diebe, wodurch Favors gestohlenes Geld in seine Hände gelangt. Anschließend macht sich Hombre ohne ein weiteres Wort allein auf den Weg. Die anderen Reisenden folgen ihm, denn sie erwarten, dass er ihnen den Weg zurück zur Stadt zeigt. Dabei berufen sie sich auf ihre Zusammengehörigkeit als Gruppe, obwohl sie diese selbst kurz zuvor verleugnet hatten. Sie erkennen, dass sie außerhalb der Stadt, außerhalb der Sphäre der Weißen nur wegen der Fähigkeiten Hombres überleben können, das heißt genau wegen jenes Teils seines Wesens, wegen dem sie ihn aus

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der Gruppe ausgeschlossen hatten. Dadurch wird er wieder mit der Frage nach seiner Zugehörigkeit und Identität konfrontiert. Die in der Kutsche fahrende Gruppe ist eine Gemeinschaft, die durch gruppendynamische Elemente wie ein gemeinsames Ziel (die Reise), einen gemeinsam genutzten Raum (die enge Kutsche) und einen gemeinsamen Feind bestimmt wird. Der gemeinsame Feind besteht im ersten Gespräch aus den »wilden indianischen Männern«. Deshalb wird Hombre als Mitglied ausgeschlossen. Später ist es die wilde Natur, in der die meisten Gruppenmitglieder, von den Banditen ausgesetzt, allein nicht überleben würden, weshalb sie das zuvor ausgeschlossene Mitglied Hombre zurückrufen. Hombres Ausschluss geschah aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit. Bemerkenswert dabei ist, dass es eine selbst gewählte ist. Hombres Zugehörigkeit zu den Indianern ist keine biologische. In diesem Sinn ist auch seine Verwandlung in einen Indianer am Anfang des Filmes eine unvollständige. Er kann sein Aussehen bis an eine äußerste Grenze verwandeln und er kann diese Verwandlung wieder rückgängig machen. Weil Hombre weiße Eltern hatte, gibt es keine körpereigene Definition seiner hybriden Identität. Allerdings bestanden der alte Reservatschef und seine junge Frau darauf, diese soziale ethnische Zugehörigkeit einer »rassischen« gleichzusetzen, denn allein wegen der sozialen Zugehörigkeit Hombres verlangten sie auch eine andere Behandlung seines Körpers. Darum sollte er nicht mehr mit ihnen in der Kutsche, sondern auf dem Kutschbock fahren. Immer wieder sind es diese beiden, die die Gruppe durch ihr Verhalten und ihre Ansichten definieren. Zugleich sind sie es, die deren Integrität am stärksten belasten – wegen ihres Diebstahls, mit dem sie sich gegenüber den Indianern ins Unrecht gesetzt, aber auch außerhalb der Regeln der weißen Gemeinschaft gestellt haben. Später gefährdet der alte Reservatschef Favor die Integrität der Gruppe, als er mit vorgehaltener Waffe deren Wasservorrat und Geld fordert. Aber selbst nachdem Favor sich als gefährlich für die eigene weiße Gemeinschaft erwiesen hat, beruft er sich auf deren moralische Regeln und verlangt insbesondere Mitleid. Da Hombre ihn trotzdem fortschickt, muss Favor allein den Weg durch eine wüstenartige Ebene finden. Halb verdurstet kommt er an einem alten Bergwerk an. Die anderen aus seiner ehemaligen Gruppe sind bereits dort und halten sich in einer hochgelegenen Hütte versteckt. Jessie hat Mitleid mit Favor. Sie kommt aus dem Versteck

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und ruft ihn. Dabei macht sie auch die Banditen auf ihren Aufenthaltsort aufmerksam, wovor Hombre gewarnt hat. Schnell hilft Jessie Favor die steile Holztreppe zum Versteck in der Hütte hinauf. Als er eintritt, nutzt er die Gelegenheit, um gegenüber Hombre seine Definition einer weißen Gemeinschaft zu wiederholen. Wieder definiert er sie nach der Fähigkeit zum Mitleid, deren Beweis seiner Meinung nach jetzt erbracht ist. Dabei stellt er verbal die weiße Gemeinschaft über die indianische. Zugleich zeigt er selbst kein Mitleid gegenüber den Mitgliedern der weißen und von ihm als solcher immer wieder angerufenen Gruppe. Er ist auch nicht willens, das seiner Definition inhärente Versprechen – die Weißen würden sich in der Not immer helfen – einzulösen und seine Frau zu retten, die als Geisel von den Banditen gefoltert wird. Mit ihr wollen die Banditen die Herausgabe des Geldes erpressen. Die Fähigkeit zu Mitleid spielt für das folgende Schicksal Hombres eine entscheidende Rolle. Allerdings muss die Forderung danach erst von den falschen, eigennützigen Implikationen, die ihnen Favor gegeben hat, »gereinigt« werden. Das geschieht in einem Gespräch zwischen Jessie und Hombre, in dem Jessie ihr Mitleid gegenüber Favor begründet. Hombre argumentiert, dass jemand, der kein Mitleid zeigt, es selbst nicht wert sei. Dabei beruft er sich auf das tragische Schicksal von Indianern, das Favor zu verantworten hat. Also begründet Hombre, aus seiner Lebenserfahrung heraus, eine moralische Ökonomie, in der Handlungen mit gleichwertigen Reaktionen beantwortet werden. Jessie hingegen begründet eine andere Ökonomie. In dieser bedeuten Handlungen und Reaktionen keinen gleichwertigen Tausch. Sie verlangt stattdessen, etwas im Voraus zu geben, so dass eine Reaktion nicht auf vergangenes Reales, sondern auf zukünftiges Imaginäres zielt. Jessie hat Mitleid, weil sie damit zukünftiges Gutes initiieren will. Wegen dieser Haltung wurde in der Forschungsliteratur überlegt, ob das nun folgende Opfer Hombres auf die christliche Kultur und den Opfertod Christi verweise.26 Diese Deutung erscheint problematisch, da Hombre ein Mensch ist, der »das Andere« gegenüber der weißen Gemeinschaft der Reisenden verkörpert. Mit einem Rückgriff auf den christlichen Mythos aber wird er in die Deutungshoheit der weißen, christlichen Gemeinschaft eingepasst. Das Andere wird nicht als das Andere belassen, sondern in das eigene Zeichenrepertoire eingefügt. Wenn dadurch das Indianersein zum nur leicht kaschierten Ausdruck eines »reinen, ursprünglichen Christentums«27 erhöht wird, ist es nur eine Spielart,

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das Fremde unter die Autorität einer christlich formulierten Mythologie und Ikonografie zu bringen. Hombres möglicher Tod zeichnet sich ab, als die Banditen ihre Geisel, Favors Frau Audra, an eine alte Eisenbahnschiene fesseln. Die anderen aus der Gruppe der Reisenden können von der hochgelegenen Hütte, in der sie sich versteckt haben, sehen, wie die Gefesselte in der Sonne leidet. Auch wenn sie den Blick abwenden, sind Audras Hilferufe zu hören. Ihr Sterben kann deshalb niemanden unbeteiligt lassen. Trotzdem lehnen es nacheinander die Männer der Gruppe ab, sie zu retten und dabei ihr eigenes Leben zu riskieren. Schließlich fragt Hombre Jessie, ob sie bereit sei zu gehen, was innerhalb der geschlechtsspezifischen Konstellation dieses wie anderer Western ungewöhnlich ist. Er fordert sie heraus, ihren eigenen moralischen Anspruch zu erfüllen, und zwar ungeachtet ihres Geschlechtes. Für diese Probe behandelt er sie als eine Frau, die die gleichen Pflichten wie ein Mann zu übernehmen bereit sein muss. Zugleich weist er Jessie damit indirekt auf das Versagen der anderen Mitglieder ihrer Gruppe hin. Denn durch deren Verhalten ist bereits bewiesen, wie wenig ihr Mitleid wert ist, wenn es eine für das eigene Schicksal möglicherweise verhängnisvolle Bereitschaft zum Handeln erfordert, so dass die insbesondere von Favor beschworene Definition einer weißen Gemeinschaft – die sich durch die Fähigkeit zum Mitleid auszeichne und damit besser als die indianische Gemeinschaft sei – ungültig ist. Jessie jedoch ist bereit zu gehen, wodurch sie die Gültigkeit ihrer eigenen Vorstellungen von Menschlichkeit bestätigt. Sie schultert die Satteltasche mit dem Geld und bittet Hombre um dessen Messer, mit dem sie die Gefangene losschneiden könnte. Hombre antwortet ihr, sie verlange noch viel mehr von ihm als das Messer. Denn mit ihrer Abb. 6: Hombre entscheidet sich, Audra Favor zu retten

Quelle: »Man nannte ihn Hombre« (USA 1967)

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Bitte um sein Messer verweist sie auch auf die Waffenlosigkeit der Frauen, welche hier wie in anderen Western den Rahmen weiblicher Handlungsfähigkeit bildet und den Frauen nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Pflicht zur Selbstverteidigung nimmt. Am Ende eines langen Blickwechsels zwischen den beiden steht fest, dass Hombre gehen wird, um die Gefangene zu befreien (Abb. 6). Die Dauer des Blickwechsels entspricht der Menge an Deutungsmöglichkeiten, die durch den Dialog zwischen den beiden eröffnet wurden und nicht eindeutig abgeschlossen sind. Als Hombre geht, ist zu erkennen, dass er es nicht tut, weil er die Regeln der weißen Gemeinschaft nun anerkennen und in sie eintreten würde. Bevor er seinen Weg antritt, trifft er verschiedene Vorkehrungen. Zu seiner Rückendeckung postiert er den jungen Hilfskutscher mit einem Gewehr am Fenster der Hütte. Weiterhin trägt er ihm auf, das Geld den Indianern zurückzubringen, so dass Hombre den eigenen Tod zwar einkalkuliert, aber möglichst verhindern will. Weder er noch eine andere der Figuren haben im Film eine Entwicklung durchgemacht, auch wenn sie alle unterwegs und dadurch verschiedenen Optionen ausgesetzt waren, die eigenen Gewissheiten zu prüfen und zu ändern. Stattdessen dienten die jeweiligen Identitäten innerhalb der Filmerzählung als Rahmen, um die Konsequenzen, die sich aus ihrem Zusammentreffen ergeben, auszuloten. Es wurde gezeigt, wie unfähig die Mitglieder der weißen Gemeinschaft sind, ihre eigenen Regeln zu erfüllen, so dass sie sich zu Unrecht auf eine moralische Überlegenheit berufen. Jessie ist die Einzige, die bereit wäre, sie zu erfüllen, und steht damit gleichwertig zu Hombre, der selbst konsequent seine Regeln befolgt. Deshalb ist sie letztlich die Einzige, die ihn bewegen kann, die bedrohte Frau zu retten. Abb. 7: Hombre stirbt nach einem Pistolenduell

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Dieser begegnet er wieder, als sie nun ganz und gar Körper ist, ein Körper, der bald sterben würde, und zwar außerhalb jeder ethnischen Kategorie. Ähnlich wie Favor triumphierte, als er aus Mitleid wieder in die weiße Gemeinschaft aufgenommen wurde, könnte nun Hombre die Situation der Frau als Beweis der eigenen These nehmen, die er anfangs in der Kutsche formulierte, nämlich dass sie sich nicht von einem Indianer unterscheiden würde, sobald gleich diesem ihre körperliche Existenz bedroht sei. Hombre zeigt sich bereit, ihren Körper zu retten, indem er seinen eigenen Körper einsetzt. Er und die Frau wechseln einen langen, wortlosen Blick, dessen Folgen in ihrem Bewusstsein und späteren Handeln offenbleiben. Mit seinem Opfer aber erzwingt Hombre von den anderen, das gestohlene Geld zu den Indianern zurückzubringen, das heißt, er initialisiert einen über seine eigene Gegenwart hinaus angelegten Moment einer möglichen Annäherung (Abb. 7). Zugleich stirbt mit ihm eine Lebensweise, die die Mitglieder der weißen Gemeinschaft aus sich verbannt haben, weil sie die Wildnis aus sich und ihrem Leben verbannt haben, so dass sie unfähig waren, die Banditen zu töten, selbst wenn und obwohl ihr eigenes Leben durch sie bedroht war. Wildnis wurde durch sie mit Wildsein und das heißt auch Indianersein gleichgesetzt. Welche nützlichen Implikationen es für ihr eigenes Überleben auch gehabt haben mochte, wurde dessen Ausschluss letztlich durch Hombres Tod besiegelt. Er wird von einem der Banditen erschossen.

A NMERKUNGEN 1 | Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London: Routledge 1994. 2 | Kein Nhgi Ha: Ethnizität und Migration Reloaded: Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Des Weiteren: Frank Heidemann/Alfonso de Toro (Hg.), New Hybridities: Societies and Cultures in Transition, Hildesheim u. a.: Olms 2006; sowie Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius/Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikansichen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenberg Verlag 1997. 3 | Georg Seeßlen: Geschichte und Mythologie des Westernfilms, Marburg: Schüren 1995; Bernd Kiefer/Norbert Grob (Hg.), Filmgenres Western, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2003; R. Philip Loy: Westerns and American Culture, 1930–1950, Jefferson, North Carolina, London: McFarland & Com-

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pany 2001 und R. Philip Loy: Western in a Changing America, 1955–2000, Jefferson, North Carolina, London: McFarland & Company 2004. 4 | G. Seeßlen: Geschichte und Mythologie des Westernfilms, die Kapitel »Rassenprobleme im Western«, S. 142–147, »Indianerfilme«, S. 197–215, und »Black Western«, S. 215–219; sowie Armando José Prats: Invisible Natives – Myth and Identity in the American Western, Ithaca, London: Cornell University Press 2002. 5 | Elisabeth Bronfen: Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood, Berlin: Verlag Volk & Welt 1999, S. 327–407. 6 | Gabriel Miller (Hg.), Martin Ritt. Interviews, Jackson: University Press of Mississippi 2002, S. X. 7 | Das gilt für die folgenden Filme: »Edge of the City « (dt. Verleihtitel »Ein Mann besiegt die Angst«), USA 1957; »The Great White Hope« (dt. Verleih titel »Die große weiße Hoffnung«), USA 1970; »Sounder« (dt. Verleihtitel »Das Jahr ohne Vater«), USA 1972; »Conrack« (dt. Verleihtitel »Abschied von einer Insel«), USA 1974. 8 | Siehe dazu: Sacred Legacy: Edward S. Curtis And The North American Indian, Fotografien von Edward S. Curtis, herausgegeben von Christopher Cardozo, Vorwort von N. Scott Momaday; New York u. a.: Simon & Schuster 2000. 9 | G. Miller: Martin Ritt. Interviews, S. 30. 10 | Ebd. Gründe für diese Reaktion werden leider nicht genannt. 11 | Für einen Ansatz zu den Rollen, die männliche Figuren mit mexikanischer Herkunft typischerweise zwischen demütigem Bittsteller und wildem Räuber ausfüllen, siehe Carl Wilmsen: »Cinematic Conquest: Breaking the Mexican American Connection to the Land in the Movies« in Deborah A. Carmichael (Hg.), The Landscape of Hollywood Westerns: Ecocriticism in an American Film Genre, Salt Lake City: The University of Utah Press 2006, S. 182–211. 12 | Siehe Wilmsen: »Cinematic Conquest«, S. 182–211, besonders S. 191. Ein bekanntes literarisches Beispiel dafür ist auch die Figur des Old Shatterhand von Karl May. 13 | Dass der weiße Mann, der zu den Indianern kommt, bei ihnen eine führende Rolle einnimmt, liegt auch an der »Mechanik« des Geschichtenerzählens: die Hauptfigur ist der Held, der keine untergeordnete Rolle einnehmen kann. Oder anders gesagt: würde der weiße Mann bei den Indianern keine führende Rolle einnehmen oder wenigstens durch seine Erzählung eine solche transzendieren, dann bliebe es eine unerzählte Geschichte. Es gibt die umgekehrte Form, in der Indianer, nachdem sie die Lebensweise der Weißen kennengelernt haben, daraus Nutzen für ihre Gemeinschaft ziehen können.

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Mir ist nur ein Text bekannt, in dem dieses Motiv konsequent aus der Perspektive der Indianer beschrieben und ihnen dabei vollständig die Lösung ihres Konflikts überlassen ist: Liselotte Welskopf-Henrichs »Die Söhne der großen Bärin«. Liselotte Welskopf-Henrich: Die Söhne der großen Bärin, 6 Bände, 4. Auflage, Berlin: Altberliner Verlag 1981 [Original: Berlin: Altberliner Verlag 1953]. 14 | »Cheyenne Autumn« (»Cheyenne«), Regie: John Ford, USA 1964. 15 | »Soldier Blue« (»Das Wiegenlied vom Totschlag«), Regie: Ralph Nelson, USA 1970. 16 | »Forty Guns« (»Vierzig Gewehre«), Regie: Samuel Fuller, USA 1957. 17 | »Johnny Guitar« (»Wenn Frauen hassen«), Regie: Nicholas Ray, USA 1954. 18 | Für einen geschlechterorientierten Ansatz in der Analyse von Western siehe u. a. Susanne Spiegler: Women in the American Western Film from 1930–1980. Historical Reality and Filmic Representation, Aachen: Shaker 2002; Karin Esders-Angermund: Weiblichkeit und sexuelle Differenz im amerikanischen Genrekino. Funktionen der Frau im frühen Westernfilm, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1997, sowie Martin Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden. Politik und Geschlecht im amerikanischen Western, Frankfurt/Main u. a.: Campus 2006. 19 | Dies geschieht zum Beispiel in »The Searchers« (»Der schwarze Falke«), Regie: John Ford, USA 1956. Siehe dazu die Analyse von Elisabeth Bronfen in: Heimweh, S. 327–367. 20 | Siehe R. Philip Loy: Westerns in a Changing America, 1955–2000, in dessen letztem und kurzem Kapitel er sich mit der in den 1990er Jahren entstandenen Figur der Pistolenheldin beschäftigt. S. 297 ff. 21 | »Stagecoach« (»Ringo«), Regie: John Ford, USA 1939. 22 | Siehe unter anderem G. Seeßlen: Geschichte und Mythologie des Westernfilms, S. 143. 23 | Siehe dazu eine etwas oberflächliche, aber in ihren Stichworten »Sexualität« und »Mythos« bedeutsame Darstellung von Georg Seeßlen in: Geschichte und Mythologie des Westernfilms, S. 16 f. 24 | Es wäre lohnend, dieses Muster im Western genauer zu untersuchen. Das gleiche Muster ist im Genre der Science-Fiction-Filme sehr ausgeprägt, wo häufig die zu bekämpfende Ethnie als rein männlich dargestellt wird. Siehe dazu Heike Endter: Ökonomische Utopien und ihre Bilder in ScienceFiction-Filmen, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2011, das Kapitel »Tier und Frau als ökonomische Modelle«. 25 | Zur weißen Indianerpolitik in den USA siehe u. a. Vine Deloria: American Indian Policy in the Twentieth Century, Norman: University of Oklahoma

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Press 1992; Donald L. Fixico: The Invasion of Indian Country in the Twentieth Century: American Capitalism and Tribal Natural Resources, Niwot: University Press of Colorado, 1998; David E. Wilkins: American Indian Politics and the American Political System, Lauham u. a.: Rowman & Littlefield Publishers 2007. 26 | Was Armando José Prats vorschlägt. Siehe Armando José Prats: Invisible Natives – Myth and Identity in the American Western, Ithaca, London: Cornell University Press 2002, S. 207–220. 27 | Ebd., S. 207.

Z ITIERTE F ILME »Alien« (dt. Verleihtitel »Alien – das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt«), Regie: Ridley Scott, USA, GB 1979. »A Man Called Horse« (dt. Verleihtitel: »Ein Mann, den sie Pferd nannten«), Regie: Elliot Silverstein, USA 1970. »Bandidas« (dt. Verleihtitel »Bandidas«), Regie: Joachim Roenning/ Espen Sandberg, USA, Frankreich, Mexiko 2006. »Cheyenne Autumn« (dt. Verleihtitel »Cheyenne«), Regie: John Ford, USA 1964. »Conrack« (dt. Verleihtitel »Abschied von einer Insel«), Regie: Martin Ritt, USA 1974. »Dances with Wolves« (dt. Verleihtitel: »Der mit dem Wolf tanzt«), Regie: Kevin Costner, USA 1990. »Edge of the City« (dt. Verleihtitel »Ein Mann besiegt die Angst«), Regie: Martin Ritt, USA 1957. »Forty Guns« (dt. Verleihtitel »Vierzig Gewehre«), Regie: Samuel Fuller, USA 1957. »Hombre« (dt. Verleihtitel »Man nannte ihn Hombre«), Regie: Martin Ritt, USA 1967. »Johnny Guitar« (dt. Verleihtitel »Wenn Frauen hassen«), Regie: Nicholas Ray, USA 1954. »Little Big Man« (dt. Verleihtitel »Little Big Man«), Regie: Arthur Penn, USA 1970. »Soldier Blue« (dt. Verleihtitel »Das Wiegenlied vom Totschlag«), Regie: Ralph Nelson, USA 1970. »Stagecoach« (dt. Verleihtitel »Ringo«), Regie: John Ford, USA 1939. »Sounder« (dt. Verleihtitel »Das Jahr ohne Vater«), Regie: Martin Ritt, USA 1972.

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»The Great White Hope« (dt. Verleihtitel »Die große weiße Hoffnung«), Regie: Martin Ritt, USA 1970. »The Matrix« (dt. Verleihtitel »Matrix«), Regie: Andy und Larry Wachowski, USA, Australien 1999. »The Searchers« (dt. Verleihtitel »Der schwarze Falke«), Regie: John Ford, USA 1956. »The Spy Who Came in from the Cold «(dt. Verleihtitel »Der Spion, der aus der Kälte kam«), Regie: Martin Ritt, UK 1965.

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Permanente Migration Das Road Movie und die Suspendierung von Identität im Kino des New Hollywood Hauke Lehmann

E INLEITUNG Dieser Beitrag fragt nach den ästhetischen Grundlagen der Beschäftigung des Films mit dem Thema Migration. Dabei wird Migration, ihrer prozessualen Struktur entsprechend,1 als eine Bewegung verstanden, welche Identität suspendiert, das heißt als eine Bewegung, welche die Verankerung in fixen, definierten Subjektpositionen löst und einen Schwebezustand herbeiführt.2 Dieser Vorgang hinterfragt nicht nur die Konstruktion von Identität und Körper im Allgemeinen, sondern insbesondere damit verbundene, auf Ausschluss beruhende Unterscheidungskategorien wie Ethnie und Geschlecht. Denn wenn es zutrifft, dass die Frage der Identität nicht unabhängig vom Raum gedacht werden kann,3 und wenn gleichzeitig die Entgegensetzung von Raum und Zeit (im Sinne eines Verständnisses von Raum als neutralem, passivem Behälter, mithin als weiblich codiert) eine wesentliche Bedingung besagter Dichotomien darstellt,4 dann ist wohl kaum eine Kunstform besser für eine Revision solchen Denkens geeignet als der Film, in dessen Bewegtheit die Zeit verräumlicht und der Raum dynamisiert wird. Bezogen auf den Film als Wahrnehmungserlebnis im Kino schließt dies sowohl die Identität filmischer Figuren als auch die Identität des Zuschauers mit ein, welche beide über eine bestimmte Dauer einen Prozess der Suspendierung oder Aufschiebung durchlaufen. Die Charakteristik dieser Aufschiebung ist Gegenstand der folgenden Untersuchung. Den Aspekt der Öffnung, des Tretens ins Ungewisse, wel-

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cher die solcherart skizzierte Konzeption von Bewegung kennzeichnet, spricht Jean-Luc Nancy mit Blick auf die Filme Abbas Kiarostamis an: »Die Bewegung ist nicht die Verschiebung oder Übersetzung, die zwischen den gegebenen Orten in einer Totalität, die selbst gegeben ist, statthaben kann. Sie ist im Gegenteil das, was stattfindet, wenn ein Körper in einer Situation und in einem Zustand ist, der ihn dazu bringt, seinen Ort finden zu müssen, einen Ort, den er folglich nicht innehatte oder nicht mehr innehat. Ich bewege mich (tatsächlich oder im Geiste), denn ich bin nicht da – ontologisch – da, wo ich bin [sic] – lokal gedacht. Die Bewegung bringt mich woanders hin, aber dieses ›Anderswo‹ ist nicht vorher da: meine Ankunft wird das ›dort‹, wohin ich von ›hier‹ gekommen sein werde, erwirken.« 5

Was konstituiert die Matrix, anhand derer Identitäten filmisch in Bewegung versetzt werden? Auf der Suche nach einer Antwort bietet sich die Untersuchung einer spezifischen filmischen Ausdrucksform an, welche wie kaum eine andere das Verhältnis von unsicher gewordener Identität zu den Gestaltungsformen filmischer Bewegung ins Zentrum ihrer Poetik stellt: das Ende der 1960er Jahre im US-amerikanischen Kino entstehende Road Movie. Dabei ergeben sich nicht nur inhaltliche Überschneidungen mit dem Thema Migration – bei den mobilen Protagonisten des Road Movie handelt es sich ausnahmslos um gesellschaftliche Außenseiter und Vertreter von Minderheiten, seien diese sozial, geschlechtlich oder ethnisch markiert –, sondern vor allem auf ästhetischer Ebene. So bildet auf der einen Seite der Gegensatz zwischen Mobilität und Stillstand den Kern aller in den Filmen dieser Gruppe verhandelten dramatischen Konflikte; auf der anderen Seite wird der für das Road Movie elementare Zustand des In-Bewegung-Seins auf das Wahrnehmungsverhältnis zwischen Publikum und Film bezogen. Wenn also das Road Movie nach Katie Mills auf der Grundlage der Idee operiert, das Unterwegssein auf der Straße aktiviere eine transformierende Energie,6 so gilt dies eben nicht nur auf der Ebene der Darstellung, sondern ist verbunden mit der Entstehung der Subjektposition des Zuschauers im konkreten Akt der Filmwahrnehmung: »The driving force of road stories is questions about autonomy, mobility, and identity, whether that identity be threatened or expanded by being on the road. The road genre offers a pop cultural forum for imagining a fluid self and new genres of relating with others.«7

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Dabei steht das im vorliegenden Aufsatz mit Nancy formulierte Verständnis von Bewegung dafür ein, dass dieser doppelte Prozess nicht auf eine Festschreibung, sondern auf eine Öffnung zuläuft. Die Ausgangsthese dieses Beitrags lautet demzufolge, dass das Road Movie den »liminalen«8 Zustand des Migrierens (verstanden als eine transitorische Existenzform zwischen Aufbruch und Ankunft) in Permanenz überführt und als Wahrnehmungseindruck erfahrbar macht. Damit liefert eine Untersuchung des Road Movie die Voraussetzungen, der gewachsenen Komplexität des Phänomens der Migration theoretisch gerecht zu werden.9 Aus diesem Grund wird der Schwerpunkt im Folgenden weniger auf einer Untersuchung der historischen Entstehungsbedingungen dieser filmischen Ausdrucksform liegen als auf einer Analyse der konkreten ästhetischen Strategien, welche diesen Wahrnehmungseindruck entstehen lassen.10 Nur so viel sei zur genaueren Einordnung gesagt: es scheint unabdingbar, das Road Movie vor dem Hintergrund der Auflösung des klassischen Genresystems zu betrachten und es nicht vorschnell als den vollgültigen Vertreter eines solchen Systems zu klassifizieren (sei es, weil man wiederkehrende Muster zu erkennen glaubt, sei es, weil die Straße ein zentrales ikonographisches ebenso wie narrativ-strukturelles Motiv seit Beginn der Filmgeschichte darstellt).11 Denn die konstitutive Operation des Road Movie seit »Easy Rider« (Dennis Hopper, USA 1969) besteht hauptsächlich darin, eine spezifische Konstellation aus dem klassischen Westerngenre zu isolieren und unablässig zu variieren – den Konflikt von Stillstand und Mobilität, Zivilisation und frontier, Farmer und Outlaw, Gesellschaft und Individuum. Es scheint sich daher eher um den Appendix eines Genres zu handeln, welcher sich zu dessen Desintegration in einer bestimmten Weise verhält. Diese Weise kann im Rahmen dieses Aufsatzes nur en passant diskutiert werden.12 Festzuhalten ist, dass bereits in dieser besonderen Relation zum Genre das Thema der Konstitution von Identität aufscheint: erstens in narrativer Hinsicht, als Problematisierung der Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft; zweitens filmhistorisch, als Frage nach der unsicher gewordenen Position des Zuschauers angesichts der Auflösung eines kohärenten Genresystems; drittens kulturhistorisch, als Hinweis auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext Ende der 1960er Jahre in den USA, mit dem diese filmhistorische Entwicklung in Beziehung zu setzen ist. Die Konsequenz der Relativierung des Genrebegriffs liegt für die Analyse darin, dass nicht ein klassisches Vorbild mit seinen

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postklassischen Varianten verglichen, sondern dass die permanente Selbstbefragung als poetologische Grundvoraussetzung dieser Filme anerkannt wird. Das Hauptaugenmerk ist im Folgenden darauf gerichtet, zu veranschaulichen, auf welche Weise diese übergeordneten Zusammenhänge als konkrete Erfahrung im Kino für den einzelnen Zuschauer überhaupt erst Gestalt annehmen. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, einige grundsätzliche theoretische Bemerkungen zur Bedeutung filmischer Bewegung für die Wahrnehmungssituation im Kino vorauszuschicken.

B E WEGUNG , DAS FILMISCHE S UBJEK T UND DIE LEIBLICHE P R ÄSENZ DES Z USCHAUERS 1. Ein Modell filmischer Bewegung Der Akt der konkreten Wahrnehmung eines Films lässt sich beschreiben als ein zusammengesetzter Prozess, in welchem eine Reihe von Bewegungsvorgängen verbunden und aufeinander bezogen sind. Da ist, auf der Seite des Films, zunächst die Bewegung des Filmstreifens durch den Projektor – die Grundlage der Bewegungsillusion. Für Hugo Münsterberg handelt es sich hierbei um das »wirklich wesentliche Merkmal der Filmaufführung«,13 insofern als es die Bedingungen für die Verhältnisbildung des Films zum Zuschauer wesentlich mitbestimmt. Der Kern von Münsterbergs Argument liegt diesbezüglich in der Feststellung der Tatsache, dass das Zustandekommen der Bewegungsillusion sich keineswegs physiologischen Faktoren wie der Trägheit des Auges verdankt – ein verbreiteter Irrtum, der auch in jüngeren Arbeiten immer wieder auftaucht.14 Vielmehr liegt hier eine spezifische Leistung des Bewusstseins zugrunde, nämlich das Integrieren disparater Zustände in einen sinnvollen Zusammenhang: »Die Bewegungswahrnehmung ist eine eigenständige Erfahrung, die nicht auf ein einfaches Sehen von einer Folge verschiedener Positionen reduziert werden kann. Ein eigentümlicher Bewußtseinsinhalt muß solch einer Folge visueller Eindrücke beigefügt werden.«15

Eine sich daraus ergebende Schlussfolgerung für den Kontext unserer Untersuchung lautet, dass von vornherein die Bewegungsaktivität des Films aufs engste mit der psychischen Tätigkeit des Zuschauers

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verknüpft ist. Diese psychische Tätigkeit bildet demzufolge die zweite Komponente des Bewegungskomplexes der Filmwahrnehmung: ohne leiblich16 anwesenden, das heißt bewusst wahrnehmenden Zuschauer kein Film. Wendet man sich nun wieder der Seite des filmischen Apparates zu, so ergeben sich die weiteren Komponenten, die, aufeinander bezogen, die Komplexität des zusammengesetzten Prozesses der Filmwahrnehmung steuern: • Relationale apparative Bewegung: Dieser Aspekt umfasst die Variationen des Verhältnisses von Aufnahme- und Abspielgeschwindigkeit, also Zeitlupe und Zeitraffer in allen Abstufungen. • Die Bewegung der Objekte vor der Kamera: Damit sind Figuren und Gegenstände gemeint, die ihre Position im Raum verändern. • Optische Bewegung: Diese Kategorie bezieht sich auf die Optik der Kamera, und zwar (auch) im Verhältnis zu ihren Korrelaten im vorfilmischen Bereich. Neben dem Zoom sind damit vor allem Lichtstimmungswechsel und Fokusverschiebungen einbezogen, deren Effekt erst im Zusammenspiel von Kamera- und vorfilmischer Optik entsteht. • Die Bewegung der Kamera selbst: Dieser Aspekt umfasst alle Arten von Fahrten und Schwenks. • Akustische Bewegung: Dazu zählt die gesamte Tonspur, verstanden als dynamische Strukturierung von Ausdrucksqualitäten wie Geschwindigkeit, Lautstärke und Klang. • Bewegung im Verhältnis der einzelnen Einstellungen: Hiermit ist schließlich die Montage angesprochen, welche durch den Schnitt getrennte Filmstücke miteinander kombiniert. Wie bereits erwähnt, bestehen diese Komponenten nicht einfach nebeneinander, sondern bilden ein vielfach verzweigtes Netz an Bezüglichkeiten aus, welches sich in der Zeit der Filmwahrnehmung stetig aktualisiert. Die eigentliche Komplexität des Vorgangs erschließt dabei erst der Umstand, dass sich die psychische Aktivität des Zuschauers nicht allein auf die Bewegung des Filmstreifens, sondern auf sämtliche der aufgeführten Komponenten in ihrer Verwobenheit richtet. Das heißt, die formale Gestaltung des Films »spielt«, wie Münsterberg es ausdrückt, nicht allein »auf der Klaviatur unserer Seele«,17 sondern es konstituiert sich hier eine Form von Subjektivität:

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»Es ist, als wäre die [vom Film dargestellte] Außenwelt in unser Bewußtsein eingewoben und als sei sie nicht entsprechend ihren eigenen Gesetzen geformt, sondern durch das Agieren unserer Aufmerksamkeit [er ergänzt im Folgenden: Gedächtnis, Phantasie und Emotionen].«18

Filmwahrnehmung ist, so verstanden, nicht einfach das Betrachten von Bewegung und damit auch nicht beschreibbar durch ein Rezeptionsmodell, welches auf der eindeutigen Aufteilung von Subjekt und Objekt basiert; vielmehr handelt es sich um einen Vorgang, der eine Verschränkung dieser Instanzen realisiert.

2. Film als Objekt und Subjekt der Wahrnehmung Die Art und Weise dieser Verschränkung hat auf systematischer Ebene hauptsächlich die neophänomenologische Filmwissenschaft um Vivian Sobchack thematisiert.19 Die zentrale These Sobchacks lautet, dass ein Film nicht nur als Objekt der Wahrnehmung des Zuschauers fungiert, sondern gleichzeitig als subjektive Instanz verstanden werden muss. Sie schreibt: »More than any other medium of human communication, the moving picture makes itself sensuously and sensibly manifest as the expression of experience by experience. A film is an act of seeing that makes itself seen, an act of hearing that makes itself heard, an act of physical and reflective movement that makes itself reflexively felt and understood.« 20

Das heißt, wir haben es im Kino mit zwei Leiblichkeiten oder Instanzen der Wahrnehmung zu tun: der des Zuschauers und der des Films. Dabei ist zu betonen, dass sich der Film als Wahrnehmungsakt zwar in fester Bindung an den Zuschauer, jedoch nicht in Abhängigkeit von diesem konstituiert. Das heißt, sein Ausdruck kann an anthropomorphe Modalitäten angenähert sein, sich von diesen jedoch ebenso leicht entfernen. Stets vermittelt sich sein »Sinn« in der konkreten Wahrnehmung des im Kino leiblich präsenten Zuschauers, und zwar nicht durch Interpretation, sondern als Struktur eines spezifischen »Zur-Welt-Seins«, folgt man Maurice Merleau-Ponty, auf den sich Sobchack durchgehend bezieht. Er schreibt: »Der Sinn des Films ist mit seinem Rhythmus verschmolzen, wie der Sinn einer Geste der Geste unmittelbar ablesbar ist, und der Film will nichts be-

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deuten außer sich selbst. Die Idee ist hier in den Geburtszustand zurückversetzt, sie taucht auf aus der zeitlichen Struktur des Films wie in einem Tableau aus der Koexistenz seiner Teile. Das Glück der Kunst ist zu zeigen, wie etwas eine Bedeutung anzunehmen beginnt, und zwar nicht durch Anspielung auf bereits entwickelte oder erworbene Ideen, sondern durch die zeitliche oder räumliche Anordnung der Elemente.« 21

Während diese Form der Beschreibung das Wahrnehmungsverhältnis von Film und Zuschauer auf einer allgemeinen Ebene – wenn auch bis in alle Feinheiten – zum Gegenstand hat, muss es das Bestreben dieses Aufsatzes sein, sowohl die Affizierung des Zuschauers als auch die Ausgestaltung des filmischen Wahrnehmungs- und Ausdrucksmodus an konkrete Verfahren rückzubinden, um eine historische, für das Road Movie wie für die Behandlung des Themas Migration spezifische Perspektive entwickeln zu können. Als Relais zwischen Theorie und Analyse soll dabei das oben skizzierte Modell von Bewegungskategorien dienen. Sucht man nun nach einem theoretischen Anknüpfungspunkt für dieses Modell, so bietet sich der Rückgriff auf die sowjetische Montagetheorie an, welche Sobchack im Übrigen – namentlich in Person von Sergej Eisenstein – zu den theoretischen Vorläufern des von ihr betriebenen Projekts zählt.22 Wie noch zu zeigen sein wird, macht es Eisensteins differenziertes Montage-Konzept möglich, die verschiedenen Ebenen filmischer Bewegung in ein kohärentes Modell des affektiven Verhältnisses von Film und Zuschauer zu übertragen. Neben Eisenstein sind auch Vsevolod Pudovkins Überlegungen zur Frage der Subjektivität in der Filmwahrnehmung für diesen Zusammenhang wertvoll. Charakteristisch für beide Theoretiker ist, dass sie den Prozess des Filmerlebens permanent in seiner Doppelgestalt reflektieren: sowohl als Steuerung des Zuschauers durch die Organisation von Verfahren als auch aus der Warte der Aktivität ebendieses Zuschauers. So beschreibt Pudovkin auf der einen Seite ein klares Reiz-Reaktionsschema: »Der unterschiedliche Zeitrhythmus der einzelnen Einstellungen – bald schnell, bald langsam – bedingt rein physiologisch den Grad der Erregung des Zuschauers, die Gegenüberstellung von Einstellungen unterschiedlichen Inhalts erzeugt die psychologische Intonation seiner Assoziationen. Das Montageverfahren ist damit ein Instrument, das jene Erregung des Zuschauers lenkt, die unerläßliche Begleiterscheinung jedes Kunsterlebnisses ist.«23

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Auf der anderen Seite hat diese Bearbeitung des Zuschauerkörpers jedoch nichts anderes zum Ziel als die Herausbildung einer neuen Subjektivität, einer neuen Leiblichkeit: den idealen Beobachter oder, in historisch-materialistischer Perspektive, den Revolutionär. Schon die Fähigkeit des Films, auf den Zuschauer einzuwirken, zeugt nach Pudovkin von einer strukturellen Analogie zwischen den beiden Instanzen: »Man muß daran denken, daß der Filmzuschauer [...] gleichsam unmittelbar an der Handlung beteiligt ist. Letztlich beruht die gesamte Technik der Filmmontage darauf, den Zuschauer in den Rhythmus und in das Tempo des Films einzubeziehen. Der Wechsel der Einstellungen, der Handlungsorte und der Blickpunkte im Film – ist das nicht mit der zielstrebigen inneren und äußeren Bewegung des Zuschauers identisch?«24

So stellt sich der Akt der Filmwahrnehmung letztlich dar als komplexe Verzahnung zweier Wahrnehmungsakte über eine fest definierte Dauer, als Kombination zweier Leiblichkeiten. Die höchste Präzision in der Beschreibung dieses filmischen Wahrnehmungsverhältnisses erreicht Sergej Eisenstein. In seinem Aufsatz »Die vierte Dimension im Film«25 unterscheidet er vier Ebenen von Bewegungsgestaltung. Das Prinzip der filmischen Bewegung leitet sich dabei für Eisenstein stets aus der Montage her (auf der untersten Ebene als konfliktreiche Beziehung zweier Einzelbilder zueinander), die damit zum konstitutiven Verfahren des Films überhaupt wird. Eisenstein entwickelt die vier Ebenen auseinander heraus26 und klassifiziert sie anhand ihrer Wirkprinzipien. Die erste und grundlegende bezeichnet er als metrische Montage. Diese hat »die absolute Länge der Abschnitte als wesentliches Baukriterium«.27 Nach Eisenstein stellt das filmische Metrum auf motorischem Wege, nahezu unabhängig von der Bildgestaltung, die Verbindung zwischen Publikum und Film her: »Seine [des Metrums] Exaktheit bringt das Pulsieren eines Objekts mit dem Pulsieren des Publikums in Einklang. Ohne dies kann es keinen Kontakt zwischen beiden geben. Eine allzu große Kompliziertheit metrischer Beziehungen ergibt ein Wahrnehmungschaos anstelle einer präzisen emotionalen Spannung.« 28

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Die zweite Kategorie ist die rhythmische Montage. Hier tritt nun die Gestaltung der einzelnen Einstellung hinzu, besonders hinsichtlich der Bewegung (oder Bewegungssuggestion) der Objekte vor der Kamera. Diese Ebene sorgt für die Dynamisierung der metrischen Struktur, in Figuren der Intensivierung oder Abschwächung. Die Einwirkung vollzieht sich auf »primitiv-emotionale« Weise.29 Die nächste Kategorie, die tonale Montage, betrifft zu einem Gutteil die von mir so bezeichnete optische Bewegung: Eisenstein unterscheidet zwischen Bewegung als räumlicher Verlagerung (entsprechend dem Konzept der rhythmischen Montage) und Bewegung als Vibration oder Schwankung, welche sich als Intensität (z. B. des Lichts, der Luftfeuchtigkeit, der Temperatur) vermittelt. Diese Letztere konstituiert den »emotionale[n] Klang«30 einer Einstellung. Die letzte und entscheidende Kategorie, die Obertonmontage, unterscheidet sich von der tonalen Montage (welche, wie auch metrische und rhythmische Montage, nach dem dominanten Merkmal einer Einstellung vorgeht), »durch die summarische Berücksichtigung aller Reize eines Abschnitts. Und dieses Merkmal führt die Wahrnehmung aus der melodisch-emotionalen Färbung heraus – in die unmittelbar physiologische Sinnesempfindbarkeit.«31 Das bedeutet, die Gestaltung des Films lässt sich auf dieser Ebene ausschließlich in Verbindung mit dem konkreten Wahrnehmungsprozess des Zuschauers beschreiben, in welchem sie sich verwirklicht: »Wenn nämlich eine Einstellung die visuelle Wahrnehmung ist und der Ton die akustische, stellen der visuelle wie der akustische Oberton summarisch die physiologische Wahrnehmung dar. Und zwar ein und derselben Ordnung, außerhalb der Akustik- und Gehörkategorien, die lediglich Vermittler und Wege zur Erlangung der Wahrnehmung sind. Für den musikalischen Oberton (den Pulsschlag) paßt der Terminus ›Ich höre‹ schon eigentlich nicht mehr. Genau wie für den visuellen Oberton nicht mehr ›Ich sehe‹. Für beide tritt die neue, homogene Formel ›Ich empfinde‹ in Kraft.« 32

An dieser Stelle wird die enge Verwobenheit der an der Filmwahrnehmung beteiligten Subjektpositionen deutlich: die filmischen Verfahren konstituieren nicht nur eine Ich-Instanz, sondern diese bedarf zu ihrer Aktualisierung der integrierenden Bewusstseinstätigkeit des Zuschauers, welcher die vielfältigen Sinnesreize zu einem Wahrneh-

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mungseindruck höherer Qualität vereinigt. Das Verhältnis von Film und Zuschauer ist demnach ein doppeltes, wie Hermann Kappelhoff mit Bezug auf Eisensteins Aufsatz schreibt: »So ist mit dem montierten Bewegungsbild einerseits ein Parcours physiologischer Reize, Wirkungen und Effekte entworfen, der von den Zuschauern durchlaufen wird. Andererseits ist dieses Bild die Matrix eines Prozesses permanenter Rückkopplungen, in der eben diese Wirkungen und Effekte als Ausdrucksfigur aufgenommen und als Zuschaueremotion verwirklicht werden.« 33

D AS R OAD M OVIE IM K ONTE X T DES N E W H OLLY WOOD 1. Filmische Bewegung als Ort der Transformation Wendet man sich nun, auf der Grundlage dieser theoretischen Erwägungen, dem Entstehungszeitraum des Road Movie als eigenständiger Ausdrucksform zu, also der Ende der 1960er Jahre einsetzenden Periode, die gemeinhin als »New Hollywood« bezeichnet wird, so zeigt schon eine oberflächliche Betrachtung, dass sich auf dem Feld filmischer Bewegung deutliche Veränderungen ereignen, welche zusammengenommen die Auffassung von filmischer Affektpoetik einer radikalen Transformation gegenüber dem klassischen Hollywood unterziehen. Diese Veränderungen betreffen alle Kategorien des von mir skizzierten Modells filmischer Bewegung – vom ausgiebigen Gebrauch der Zeitlupe bis zu neuen Schauspielmethoden, vom vermehrten Einsatz der Handkamera bis zur Ersetzung des klassischen Scores durch Rockmusik, schließlich bis zu einer neuen Poetik der Montage, welche den Schnitt von seiner kontinuitätswahrenden Funktion loslöst und als Verfahren zur Sichtbarkeit kommen lässt. Die Entstehung des Road Movie als eigenständige filmische Ausdrucksform, so die These, ist nun in genau diesem ästhetischen Kontext zu verstehen. Es ergibt sich das Bild einer Form, welche die Frage nach Gestaltung und Funktion von Bewegung in den Mittelpunkt ihrer Poetik stellt. Das beginnt damit, dass häufig der unmotivierte Bewegungsimpuls, dem Anlaufen des Filmprojektors gleichgesetzt, für das Ingangsetzen der filmischen Erzählhandlung ausreicht: so etwa in »Easy Rider«, »Vanishing Point« (Richard C. Sarafian, USA 1971) oder »Thunderbolt and Lightfoot« (Michael Cimino, USA 1974).

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»Two-Lane Blacktop« (Monte Hellman, USA 1971), der hier zum Gegenstand einer näheren Analyse werden soll, ist in dieser Beziehung noch radikaler: der Film setzt gänzlich unvermittelt ein, um ebenso, ohne dass narrativ eine Schließung erreicht worden wäre, zu enden. In dieser enormen Reduktion liegt für Thomas Elsaesser der fundamentale Konflikt der Form begründet, den ich zu Beginn dieses Aufsatzes mit der widersprüchlichen Situation eines Genres nach dem Genresystem in Verbindung gebracht habe: »The contradiction – or tension – lies in the combination of the unmotivated hero and the motif of the journey, that is, the recourse on the one hand to a motivation, ready-made, highly conventionalised and brought to the film from outside, and on the other, the lack of corresponding motivation on the inside, on the part of the protagonist’s inner drive or palpable conflict.« 34

2. Suspense der Identität Die folgende Analyse soll sich vor diesem Hintergrund hauptsächlich mit zwei Aspekten des Road Movie beschäftigen bzw. mit der Frage, wie diese beiden Aspekte zusammenhängen. Zum einen handelt es sich dabei um die übergreifende dramaturgische Form, zum anderen, auf Basis der theoretischen und historischen Vorarbeit, um die Art und Weise, wie sich diese Form in ihren einzelnen Elementen als konkrete Zuschauererfahrung realisiert. Zur Beschreibung beider Seiten ist das Konzept des Suspense hilfreich. »Suspense« lässt sich nicht einfach mit dem etwas unspezifischen Begriff »Spannung« gleichsetzen, sondern leitet sich ab von »Suspendierung«, also Aufhebung oder Aufschiebung. Damit kommen wir nun zurück auf den Aspekt der Öffnung, den ich zu Beginn dieses Aufsatzes unter Rückgriff auf Nancy als zentral für meine Konzeption des Bewegungsbegriffes eingeführt habe. Suspense bezeichnet, auf das Feld filmischer Bewegung übertragen, den Umstand, dass das Ziel einer Bewegung aufgeschoben wird.35 Suspense ist damit ein hervorragendes Beispiel für das, was Eisenstein mit dem Konzept der Obertonmontage erklärt, weil sich in diesem Fall die Wahrnehmungsaktivität des Zuschauers präzise auf die Gestaltung desjenigen Bewegungsablaufs richtet, welcher dem Prinzip der zeitlichen Aufschiebung unterliegt. Das heißt, Suspense ist wie der visuelle Oberton ein Phänomen der »vierten Dimension«. Bekanntestes Beispiel und prägend für die hier in Anschlag gebrachte Interpretation

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des Begriffs ist die Verwendung des Prinzips in den Filmen Alfred Hitchcocks.36 Tatsächlich lässt sich ein Gutteil des New Hollywood als Auseinandersetzung mit dieser Poetik verstehen, welche bereits das klassische Hollywood bis an die Grenzen seiner Logik getrieben hat. Bei Hitchcock ist der Suspense das bevorzugte Mittel für die Einbeziehung des Zuschauers in den Ablauf der filmischen Erzählhandlung. Das Road Movie geht nun in sehr spezifischer Weise mit der Idee der Aufschiebung um. Zuerst in dramaturgischer Hinsicht: betrachtet man die oben genannten und noch einige weitere Beispiele für das Road Movie des New Hollywood,37 so stellt man fest, dass beinahe alle diese Filme das Ende auf die eine oder andere Weise öffnen, also die Schließung suspendieren. Die einmal angestoßene Bewegung kommt entweder sehr plötzlich (und häufig gewaltsam) an ihr Ende, ohne dass sie ein Ziel gefunden hätte (»Bonnie and Clyde«, »Easy Rider«); oder das Ende wird durch verschiedene Verfahren in Frage gestellt und unterlaufen (die Rückblenden-Struktur in »Vanishing Point«, die Freeze Frames in »Wanda« und »Bring Me the Head of Alfredo Garcia«). Mit einer solchen Suspendierung des Endes der Bewegung ist zum einen ganz häufig eine Struktur der Wiederholung, des Seriellen angesprochen, welche sich auf die Genretradition des Western bezieht: der einsame Cowboy, der in den Sonnenuntergang reitet.38 In diese Art der Öffnung eingeschlossen ist schon im Genrekino eine letztlich widersprüchliche Figur: der Outlaw als diejenige Figur im Western, welche die Wiederherstellung der Ordnung ermöglicht, jedoch selbst nicht Teil dieser Ordnung werden kann und deshalb die Gemeinschaft verlassen muss. Auf dieser Ebene ist die Identität der Figur schon immer problematisch, was sich im Road Movie durch die Stilisierung der Form noch verschärft. Insofern aber diese Enden häufig plötzlich und gewaltsam herbeigeführt werden, eignet ihnen ein Moment des Unterbrechens, des Abbrechens, welches sich noch der Unabschließbarkeits-Formel des Genrekinos widersetzt. Dies führt uns zu der zweiten Ebene der Untersuchung, nämlich der Analyse der konkreten ästhetischen Gestaltung.

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A NALYSE : DAS E NDE VON »TWO -L ANE B L ACK TOP « Um das Ende von »Two-Lane Blacktop« auch in einen dramaturgischen Zusammenhang setzen zu können, folgt zunächst eine knappe Zusammenfassung des Inhalts – eine Nacherzählung der Geschichte erwiese sich bei der episodischen Bauweise dieses Films als ebenso schwierig wie sinnlos. Zwei namentlich nicht näher bezeichnete junge Männer39 fahren mit ihrem getunten Wagen durch die ländlichen Gegenden der USA und liefern sich mit diversen, meist ortsansässigen Gegnern illegale Rennen. Auf dem Weg nehmen sie eine junge Anhalterin mit und treffen auf einen anderen Fahrer, mit dem sie ein Rennen nach Washington vereinbaren – dort kommt jedoch keiner von ihnen an, das »Rennen« verläuft auf merkwürdige Art im Sande; kurz vor Ende des Films trennen sich die Wege der Figuren wieder. Die Motivation der einzelnen Figuren wird dabei konsequent ausgespart. Nach Elsaesser ist der Film damit typisch für das Road Movie und seine Poetik der narrativen Öffnung: »Taking to the road comes to stand for the very quality of contingency, and a film like ›Two-Lane Blacktop‹ is symptomatic in this respect: there is only the merest shadow of an intrigue, the action provocatively avoids the interpersonal conflicts potentially inherent both in the triangular relationship and in the challenge personified by the Warren Oates character, and finally, the film toys with goals (the race to Washington) in an almost gratuitous, ostentatiously offhand way.« 40

Schon hier ergeben sich für die Frage nach der Identität erste Hinweise auf eine Antwort, bezogen auf die Seite der Erzählhandlung. So ist es bemerkenswert – und auch oft bemerkt worden –, dass nicht nur im Abspann die Marken der zwei hauptsächlich beteiligten Autos gleichberechtigt neben den Namen der Hauptdarsteller genannt werden, sondern dass auch während des Films in dieser Beziehung höchstens eine flache Hierarchie etabliert wird.41 Der Film beginnt und endet mit einem Rennen (also der Verbindung von Auto und Figur) und setzt damit gegen die Einpassung der Figuren in ein narratives Kontinuum die Emphase einer sich in der Beschreibung entfaltenden Gegenwart, welche durch die wechselseitige Bezogenheit von Mensch und Maschine aufeinander gekennzeichnet ist. Der durch den Vorschlag eines Rennens nach Washington eingeführte Suspense verspricht zunächst die Einschreibung einer Richtung, eines Vektors in den Raum.

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Dieser Suspense gleitet jedoch schon bald in den Dauerzustand eines richtungslosen Bewegtseins über – wie noch zu zeigen sein wird, lässt sich dieses Prinzip auch im Kleinen an der letzten Szene des Films nachweisen. Die Analyse dieser Szene wird sich zum einen an dem skizzierten Modell filmischer Bewegung, zum anderen an den von Eisenstein eingeführten Montagekategorien orientieren.42 Die in vier annähernd gleichlange Abschnitte unterteilbare Szene beginnt mit der Nahaufnahme des Mittelstreifens auf einem Rollfeld; in der Ferne ist Motorenlärm hörbar. Die Kamera schwenkt vertikal nach oben und erfasst im Hintergrund der Einstellung einige Autos (Abb. 1). Die Komposition ist streng symmetrisch, was durch den sich auf den Fluchtpunkt hin verjüngenden Mittelstreifen betont wird. Der Fluchtpunkt selbst ist nicht exakt in der Mitte des Kaders platziert, sondern entlang der vertikalen Mittelachse nach oben verschoben. Dies trägt zu einer Dynamisierung der Perspektive bei, die stärker mit der Straße verbunden wird. So scheint die Szene zunächst einen »klassischen« Suspense einzuführen, d. h. einen Vektor in den Raum einzuschreiben, welcher die Objekt- und Figurenbewegung ausrichtet. Diese Codierung mutet jedoch bereits an dieser Stelle überbetont an: durch die extreme Betonung der Symmetrie und den Einsatz von Weitwinkel scheint die Einstellung über die von ihr beschriebene Materialität hinauszuweisen auf die Instanz des Blicks selbst. Der Schnitt zur nächsten Einstellung verschiebt die Zuschauer-Perspektive, ungefähr in einem 45°-Winkel, von der Symmetrieachse weg43 und näher an die Autos und Figuren heran, während der Motorenlärm an Lautstärke zunimmt (Abb. 2). Diese zweite, statische Einstellung ist kürzer (ca. 11 Sekunden) als die erste (ca. 13 Sekunden), eine Struktur, die sich im Laufe der Szene wiederholen und noch verstärken wird.44 Von der starken Abstrahierung der Situation in der ersten Einstellung bewegt sich die zweite in Richtung einer konkreteren Beschreibung: einzelne Figuren sind unterscheidbar, die sich an zwei für ein Rennen aufgestellten Autos zu schaffen machen. Andere Figuren stehen dabei, während im Mittelgrund weitere Autos verteilt sind. Der Hintergrund wird weiterhin bestimmt von der leicht hügeligen, hier und da mit Bäumen bestandenen Landschaft. Über eine nochmals nähere und kürzere Einstellung gelangt die Szene zur letzten Einstellung des ersten Abschnitts, einer Detailaufnahme des Motor-Innenraums. Diese versorgt gleichsam die gesamte kompositorische Anlage mit Energie (Abb. 3): Diese wiederum statische Einstellung ist die kürzeste des ersten Abschnitts

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und gleichzeitig die naheste, während der Geräuschpegel hier aufs Maximum gesteigert ist. Bis hierher ist der Aufbau von großer Klarheit und Konsequenz: die Steigerung der Einstellungsnähe korrespondiert exakt mit der Steigerung von Schnittgeschwindigkeit und Lautstärke. Damit handelt es sich hier, beschrieben in Eisensteins Kategorien, um einen Fall einfacher rhythmischer Montage: das metrische Prinzip der Einstellungsverkürzung wird von den SteigerungsAbb. 1: Die Einschreibung eines Vektors in den Raum

Abb. 2: Weitere Dynamisierung des Settings

Abb. 3: Im ersten Kraftzentrum der Szene

Quelle zu Abb. 1–3: »Two-Lane Blacktop«, Regie: Monte Hellman, USA 1971. DVD Captures, Universal Studios and Michael Laughlin Enterprises, Inc., 1999

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figuren in Kadrierung (siehe auch den Kameraschwenk in der ersten Einstellung) und auf der Tonebene ergänzt. Abgesehen von der Akzentverschiebung weg von den Protagonisten und hin zur Energie der Maschinen stellt sich dieser erste Abschnitt der Szene formal noch recht deutlich in die Traditionslinie von Autorennen, wie sie unter anderem von »Rebel without a Cause« (Nicholas Ray, USA 1955)45 begründet und auch in den 70er Jahren aufgenommen wird, so etwa in dem späteren »American Graffiti« (George Lucas, USA 1973). Der Aufbau und die Verwertung der Bewegungsenergie unterscheidet sich in allen drei Beispielen, und im Vergleich dieser Transformationen lässt sich das Vorgehen in »Two-Lane Blacktop« historisch genauer bestimmen. In dem James-Dean-Melodram wird ebenfalls mit viel Emphase der Raum vektorial ausgerichtet, hauptsächlich über den Einsatz von Licht und die Montage von Blickachsen. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die weibliche Protagonistin: über ihre Position im Raum und ihre Situierung im Netz der visuellen Aufmerksamkeit wird sie zum eigentlichen Fokus der Szene, an welchem sich die Aufladung mit (libidinöser) Bewegungsenergie vollzieht.46 Die begleitende Musik, ein klassischer Score, markiert expressiv den Verlauf der Spannungskurve. Das Rennen vollzieht sich in nahezu völliger, nur von den Scheinwerfern der Autos erleuchteten Dunkelheit, das heißt, über den Punkt der Initialzündung hinaus verliert der handlungsräumliche Vektor seine Orientierung bietende Funktion und die Konstellation verdichtet sich zu einem Duell zweier melodramatischer Kontrahenten, zweier Rivalen um die Figur des Mädchens. Das Auto als Maschine wird somit in die metaphorische Redeweise des Melodrams eingegliedert, wie auch der finale Sturz über die Klippe. Die Subjektive des abstürzenden Rivalen gibt dabei eine beziehungsreiche Folie für das Ende der Szene aus »Two-Lane Blacktop« ab. »American Graffiti« wendet diese Anordnung ins Komische: an die Stelle des begehrten Mädchens tritt der brilletragende Verlierertyp, und der Crash endet nicht tödlich, sondern lediglich mit einem Überschlag des besiegten Autos. Das melodramatische Prinzip der metaphorischen Ersetzungen wird hier entsublimiert und zugespitzt auf die Posen zweier Machos. Die Inszenierung schwächt die vektoriale Emphase ab und gliedert das Rennen stärker in ein dramaturgisches Kontinuum ein,47 welches sich permanent zwischen komischer Konfrontation und nostalgisch-wehmütigen Anwandlungen hin- und herbewegt. Dabei stiftet die Gestaltung des Bildraums, vor allem in

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der expressiven Farbgebung, so etwas wie Kontinuität mit dem Vorbild von »Rebel without a Cause« und damit auch Anknüpfungspunkte für ein solch geschichtsmelancholisches Konzept. Die Farbgebung wiederum ist neben der Offenheit der dramaturgischen Struktur einer der Punkte, die »Two-Lane Blacktop« besonders deutlich gegen diese Traditionslinie abgrenzen. Und wie schon angedeutet wurde, ist die totale Geschichtslosigkeit ein hervorstechendes Merkmal aller Hauptfiguren in diesem Film. So lässt sich wohl weder die existentielle Verzweiflung der melodramatischen »Rebellen« noch die Zukunftsangst der 1960er-Jahre-Provinzler ohne weiteres auf das Umherdriften dieser entweder besonders wortkargen oder äußerst redseligen Figuren übertragen, sosehr auch die ikonographischen und generischen Verweise (das Setting, die getunten Autos) dafür einen Anhaltspunkt zu liefern scheinen.48 Der Schlüssel scheint vielmehr tatsächlich in der Art und Weise zu liegen, wie die Wahrnehmungstätigkeit des Zuschauers zu einem Bestandteil des konkret ablaufenden filmischen Bewegungsvorgangs wird. Wie also inszeniert »Two-Lane Blacktop« diese zunächst konventionelle Anordnung eines Rennens Mann gegen Mann? Eine Teilantwort: indem zunächst alle Konzentration der Hauptfigur gewidmet wird. Sehr bald wird deutlich, dass es sich hier eben nicht um ein Rennen Mann gegen Mann handelt, und dass der Gegner Statist bleibt. Mit allen Mitteln arbeitet der Film an einer Zentrierung von Energie, welche von ihrem Bezug auf den Außenraum, wo Bewegung als Verlagerung definiert ist, getrennt wird. Der zweite Abschnitt beginnt, wie der erste, mit einer vergleichsweise langen und bewegten Einstellung, welche die Kadrierung der (hier übersprungenen) Zwischeneinstellung des ersten Abschnitts wiederholt: von einer amerikanischen Einstellung auf das Auto und die darum herumstehenden Männer schwenkt die Kamera mit dem Gang des »Mechanic« auf die Figur des »Driver«, der im Wagen sitzt. Ein Umschnitt isoliert die Figur in einer Nahaufnahme (Abb. 4). Gleichzeitig mit diesem Schnitt wird der Lärm abgedämpft. Die folgenden Einstellungen dieses und des nächsten Abschnitts sind sämtlich als von ihm ausgehender Schuss/Gegenschuss bzw. Blick und Blickanschluss strukturiert und installieren diese Figur als jenen Fokuspunkt der Szene, in welchem sich die aufgebaute Energie bündelt und umwandelt. So entsteht hier eine Körperlichkeit, welche maschinelle und psychologische Dynamik kombiniert (und diese Körperlichkeit ist spezifisch für das Road Movie): der Motorenlärm lädt den stechenden Blick des Fahrers auf.

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Der Steigerungsverlauf des ersten Abschnitts führt mithin im zweiten Abschnitt zu einer Transformation: in der Figur des Fahrers scheint die Bewegungsenergie einen Punkt der Verankerung gefunden zu haben, von dem aus sie sich – bei Annahme einer Kontinuität von Figur und Raum – bei Beginn des Rennens wieder entladen könnte. Diese Kontinuität wird jedoch bereits im zweiten Abschnitt auf mehreren Ebenen gestört: zum einen durch die Dämpfung des Lärms, welche für den Perspektivwechsel in den Innenraum des Autos unverhältnismäßig abrupt zu sein scheint (zumal das Fenster des Wagens geöffnet ist). Es scheint, als führe der Film an dieser Stelle eine subjektive Instanz der Figur ein, welche sich eben durch einen Abstand zum äußeren Raum auszeichnet. Dieser Abstand wird im Folgenden noch vergrößert, indem die Motorengeräusche graduell immer weiter an Lautstärke abnehmen, bis sie gar vom Gezwitscher der Vögel übertönt werden. An dieser Stelle erfolgt – als ein weiterer Blickanschluss – der Umschnitt auf ein in der Nähe des Rollfeldes gelegenes Gehöft. Diese Einstellung bildet einen deutlichen rhythmischen Konflikt mit der vektorialen Ausrichtung der Bewegungsenergie: sie verletzt nicht nur das Schema der kontinuierlichen Verkürzung von Einstellungen, sie verletzt auch die Reihe naher und sehr naher Einstellungsgrößen (es handelt sich um eine Totale), sie führt auch einen neuen räumlichen Bezugspunkt jenseits der Rennstrecke ein. Zudem, und das ist entscheidend, manifestiert sich hier auch tonal eine andere Qualität: das Gezwitscher der Vögel, das Schreiten der Pferde auf der Wiese in Verbindung mit dem reicheren Baumbestand auf dieser Seite des Rollfeldes markieren eine Differenz, nicht Abb. 4: Der stechende Blick als Transformation der Bewegungsenergie

Quelle: »Two-Lane Blacktop«, Regie: Monte Hellman, USA 1971. DVD Captures, Universal Studios and Michael Laughlin Enterprises, Inc., 1999

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auf die Bewegung im Raum bezogen, sondern verstanden als emotionale Intensität (Bewegung als Vibration). Die kontinuierliche Steigerung der Bewegungsenergie, die sich bisher dem Zuschauer direkt als Wahrnehmungsintensität vermittelte (schneller, größer, lauter), wird an dieser Stelle abgelenkt und auf die innere Aktivität der Figur bezogen – ein Sprung, der auch dem Zuschauer abverlangt wird. Der dritte und vorletzte Abschnitt geht, auf subtile Weise, noch einen Schritt weiter, indem zum einen die Abkoppelung der subjektiven Perspektive weiter vorangetrieben wird: der Fahrer schließt das Autofenster. Das entsprechende Geräusch ist mit einem Echo-Effekt versehen, danach kehrt auf der Tonspur völlige Stille ein. Weniger offensichtlich ist die Tatsache, dass ab dieser Einstellung die Szene teilweise in leichter Zeitlupe abläuft – mit einem wesentlichen Effekt: ohne dass es dem Zuschauer notwendigerweise bewusst wird, löst sich nicht nur die sensomotorische Verbindung der Figur zu ihrer Umgebung, sondern auch die Verbindung des Films zum Zuschauer gelangt auf eine neue Ebene. Dies wird am besten in den beiden letzten Einstellungen des Abschnitts deutlich: gemeinsam bilden sie, nur nach ihrer zeitlichen Länge (also dem metrischen Kriterium) beurteilt, eine Auftaktfigur: Die erste der beiden wiederholt die Naheinstellung auf den Fahrer (vgl. Abb. 4). Mit ca. 9 Sekunden ist sie allerdings ungewöhnlich lang und unterbricht wiederum die Reihe kürzer werdender Einstellungen, welche auch diesen Abschnitt strukturiert. Zusammen mit der letzten Einstellung (ca. 2 Sekunden Länge) passt sie sich jedoch sehr wohl in das Steigerungsschema ein, indem sie nämlich einen Kontrast der Längen vorbereitet, welcher die Dynamik des Startvorgangs erzeugt. Dies ist jedoch nur die eine Funktionsebene. Die andere Ebene bereitet unmerklich einen neuen Modus der Einbindung des Zuschauers vor, auf Basis der subtil eingesetzten Zeitlupe. Denn die Zeitlupe wirkt hier nicht einfach als ein rhythmischer Effekt, sondern sie überführt die gesamte Anlage der Startvorbereitung in den Modus eines Suspense, welcher sich nicht mehr auf den Raum und auch nicht auf die Subjektive der Figur bezieht, sondern auf die Bewegtheit des Films selbst. Dieser neue Modus der Zuschauereinbindung kommt erst im vierten und letzten Abschnitt der Szene voll zur Entfaltung. Dieser letzte Abschnitt besteht aus nur einer einzigen, ca. 36 Sekunden langen Einstellung (Abb. 5): eine Weitwinkelaufnahme aus dem Inneren des vorwärtsfahrenden Autos, links im Vordergrund die Figur des

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Fahrers, von hinten gesehen. Im Mittelgrund ist, zentral positioniert, der Motoraufbau zu sehen, während sich jenseits davon das Rollfeld und die umgebende Landschaft erstrecken. Zu dieser Einstellung gibt es nun einiges zu bemerken – zunächst eine kurze Beschreibung: die Einstellung setzt, wie die vorangehende, in Zeitlupe und völliger Stille ein. Schon nach einigen Sekunden wird allerdings ein Geräusch vernehmbar, dessen Lautstärke sich stetig, bis zur finalen Abblende, steigert: Lärm, der von einem Filmprojektor verursacht wird. Auf der Bildebene dominiert zunächst der Rhythmus der Erschütterungen, hervorgerufen von den Unebenheiten der Straße und abgemildert von der Zeitlupe. Nach etwas mehr als zehn Sekunden tritt eine weitere Form der Bewegung hinzu, und zwar ein Stocken, welches durch die zusätzliche Verlangsamung des Bildablaufs am optischen Printer erzeugt wird. Dieses Stocken verstärkt sich graduell und führt nach etwa 20 Sekunden zu einem völligen Stillstand im Freeze Frame. Nach etwas mehr als zwei Sekunden Stillstand fängt der Film Feuer (Abb. 6) und löst sich schließlich auf (Abb. 7), völlige Dunkelheit zurücklassend. Im Dunkel verklingt allmählich der Lärm des Projektors. Diese letzte Einstellung des Films unterscheidet sich nicht nur durch ihre Länge von den vorhergehenden. So vermittelt sie trotz des Weitwinkels einen wesentlich flacheren Raumeindruck, und auch die Farben sind nochmals entsättigt, wodurch der Eindruck der Körperlosigkeit, den schon die leichte Zeitlupe vermittelt, bedeutend gesteigert wird. Lediglich Flächen scheinen sich hier gegeneinander zu verschieben, der Raum gewinnt eine eigene Aktivität – der Film tendiert hier zu einer reinen Bewegtheit, welche jede dualistische Opposition auflöst. Abb. 5: Im Innenraum der Fortbewegung

Quelle: »Two-Lane Blacktop«, Regie: Monte Hellman, USA 1971. DVD Captures, Universal Studios and Michael Laughlin Enterprises, Inc., 1999

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Die Flächigkeit hängt vor allem damit zusammen, dass es sich um eine abgefilmte Projektion handelt; das heißt, was wir sehen, ist tatsächlich das Verbrennen (einer Kopie) des Films und kein Spezialeffekt (diese Form der Körperlosigkeit bezeichnet die nächste Stufe in der Verbindung von Mensch und Bewegungsmaschine). Damit bezieht sich hier im wörtlichen Sinne der Film auf den in der Zeit ablaufenden Vorgang seiner eigenen Projektion und auf die Wahrnehmungssituation im Kino – und genauso beschreibt es der Regisseur Monte Hellman: »It was really the most intellectual, conscious manipulation of the audience that I’ve ever done. I thought it was a movie about speed, and I wanted to bring the audience back out of the movie and into the theatre, and to relate them to the experience of watching a film. I also wanted to relate them to, not consciously but unconsciously, the idea of film going through a camera, which is related to speed as well. I think it came to me out of a similar kind of thing that Bergman did with ›Persona‹.« 49

Abb. 6: Die Auflösung der Bewegung/die Bewegung der Auflösung

Abb. 7: Der Leib des Films als verbrennende Oberfläche

Quelle zu Abb. 6–7: »Two-Lane Blacktop«, Regie: Monte Hellman, USA 1971. DVD Captures, Universal Studios and Michael Laughlin Enterprises, Inc., 1999

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Für Timothy Corrigan liegt die hier beschriebene Kopplung von Kamera und automobiler Fortbewegung im Kern des Road Movie: »In this genre, the perspective of the camera comes closest of any genre to the mechanical unrolling of images that defines the movie camera.«50 Was in dieser Einstellung eigentlich geschieht, ist, dass das Kompositionsprinzip der Szene – nämlich der Aufbau von Bewegungsenergie und ihre Umwandlung – in eine einzige Ausdrucksfigur zusammengezogen ist. Dabei ereignet sich exakt das, was Eisenstein mit dem Begriff des filmischen Obertons beschreibt: die filmische Bewegung vermittelt sich nicht mehr in einzelnen Kategorien der Wahrnehmung, sondern wird im Nachvollzug der filmischen Verfahren im Bewusstsein des Zuschauers zur Realität. Die erste Einstellung der Szene (vgl. Abb. 1) ist in dieser Perspektive, wie schon angedeutet, nicht nur der handlungsorientierten Dynamisierung des Raums verpflichtet, sondern bereitet das Ende der Szene schon vor: die Konzentration des Blicks auf die Mittelachse ist dem raum- und körperlosen Blick der letzten Einstellung eng verwandt und auch strukturell mit ihm verbunden: es handelt sich um einen über die gesamte Szene hinweg vorbereiteten Schuss/Gegenschuss,51 nur dass der Ort des »Schusses« nicht den Standpunkt einer Figur, sondern, wie Hellman explizit zu verstehen gibt, den Ort der Wahrnehmung des Zuschauers bezeichnet – einen Ort, der gerade nicht als Koordinate im Objektraum des Films lokalisierbar ist. Hellmans Bezugnahme auf »Persona« (Ingmar Bergman, SE 1966)52 kann – neben der offensichtlichen Parallele des Verbrennens im Projektor – unter anderem als Hinweis auf die besondere leibliche Beziehung des Zuschauers zum Film verstanden werden, hauptsächlich in der Betonung des Haptischen. So nimmt der Film in seinen letzten Sekunden nochmals eine neue Gestalt für den Zuschauer an, aktualisiert eine letzte Struktur des »Zur-Welt-Seins«; und zwar eine solche, welche das Vergehen von Zeit im Film als Vergänglichkeit unmittelbar erfahrbar macht.

D AS R OAD M OVIE UND DIE K ONSTRUK TION VON K ÖRPERLICHKEIT – EIN A USBLICK Was bedeutet es also, wenn die Bezugnahme des Zuschauers zum Film auf die leibliche Erfahrung einer Auflösung hin ausgerichtet ist? Zunächst bedeutet es, dass die Frage nach der Identität von Zuschau-

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er und Figur für das Road Movie nicht allein auf der Ebene der Repräsentation zu beantworten ist, sondern vorrangig auf der Ebene einer Analyse des Wahrnehmungsverhältnisses. Das Road Movie setzt den Zuschauer in Beziehung zu einer Form von Körperlichkeit, in der sich Mensch und Maschine miteinander verbinden – wobei die Maschine hier eben nicht nur das Auto meint, sondern auch und besonders den Apparat der filmischen Aufnahme und Projektion. Damit wird es nicht einfacher, sondern wesentlich komplexer, die Analyse des Road Movie, verstanden als Matrix für eine Poetik der Migration, mit Fragen nach Körper- und Geschlechterkategorien zu verbinden. Was die Filme unmissverständlich deutlich machen, ist die Tatsache, dass dualistische Denkansätze diesen Fragen nicht gerecht werden können. Vielmehr öffnet sich das Feld auf Inszenierungen von Hybridität53 vielfacher Spielart, angefangen bei der Tatsache, dass die tradierte Zuweisung von Mobilität und Stillstand zur Kategorisierung der Geschlechter, wie bereits erwähnt, nicht mehr geeignet erscheint (in diesem Zusammenhang sei neben dem »Girl« in »Two-Lane Blacktop« und der die Bewegung initiierenden Protagonistin in »The Sugarland Express« auch die titelgebende Hauptfigur aus Barbara Lodens Film »Wanda« hervorgehoben, die radikal und solitär von jeder festen Ortszuweisung abgeschnitten ist und sich gleichzeitig jedem Versuch einer Festlegung ihrer Rolle und Identität widersetzt – sinnlich erfahrbar in einer fast permanenten Verzögerung oder Suspendierung ihrer Reaktionen). Diese Verunsicherung der Geschlechterpositionen ironisiert ein Film wie »Stranger Than Paradise« (Jim Jarmusch, USA 1984) – übrigens einer der ersten Filme, die die Form des Road Movie auf die Migrationsthematik im engeren Sinne beziehen54 –, während »Thelma & Louise« (Ridley Scott, USA 1991) bekanntlich eine radikale Inversion der klassischen Zuweisung vollzieht, indem der Film zwei Frauen zu Outlaws macht. Schließlich formuliert Oliver Stones »Natural Born Killers« (USA 1994) die ultimative Verschränkung von filmischer und automobiler Bewegung in dem Sinne, dass Erstere Letztere völlig in sich aufgehen lässt.55 So wird spätestens hier die geographische Dichotomie, von der das Road Movie als Abkömmling des Western seinen Ausgang nimmt, obsolet (hatte sie sich doch bereits am Ende von »Two-Lane Blacktop« aufgelöst). Vielmehr erhebt der Film Hybridisierung, verstanden als permanente, die Bezüge gegenüberstellende Metamorphose,56 zum durchgehenden Prinzip – nicht nur in der Überladung assoziativer Montageketten und der Kombination

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unterschiedlichster Stilrichtungen, sondern in der Konsequenz auch in der Inszenierung der Körper. Gewissermaßen ausgehend von dem in »Two-Lane Blacktop« formulierten Nullpunkt der Körperlosigkeit durchlaufen sie hier eine überwältigende Vielzahl von Transformationen,57 welche sich akkumulieren, sich gegenseitig unterlaufen, sich widersprechen und hinterfragen und schließlich dem Zuschauer jede Möglichkeit nehmen, sich zu den Figuren in einer kohärenten Weise zu verhalten. Dabei folgen die freigelegten Assoziationen nicht der reinen Willkür, sondern aktualisieren je spezifische filmhistorische Verbindungslinien, vor allem zu generischen Formen des Hollywoodkinos und des Fernsehens – genau hierin findet das Verfahren der Hybridisierung die Bedingung seiner Möglichkeit.58 Das Konzept des Suspense, aufgefasst als Aufschiebung des Ziels einer Bewegung, gelangt damit auf eine neue Ebene, auf welcher die Frage nach dem Ende des Films nur mehr eine untergeordnete Rolle spielt. Vielmehr ist das Prinzip der Aufschiebung in nahezu jeder einzelnen Szene am Werk: zu kaum einem Zeitpunkt lassen sich die Identitäten der Figuren auf einen widerspruchsfreien Bedeutungszusammenhang festlegen; die Untergrabung eines jeden solchen Versuchs verläuft dabei nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch und gerade in einem ästhetischen Sinne gewaltsam.59 Positiv formuliert, eröffnet der Film in seiner unkontrollierbaren Bewegtheit ein schier unendliches – und doch filmhistorisch rückgebundenes – Feld der Verkörperungen von Identität, indem die jeweils aufgerufenen Bezüge nicht bloß ein Verweissystem etablieren, sondern sich im konkreten Erleben des Zuschauers als Nachvollzug von Bewegung realisieren, wie in der Analyse demonstriert. Fragt man also abschließend nach einer Definition der Möglichkeiten des Road Movie im Hinblick auf die Inszenierung von Körperund Geschlechtskonstruktion, so scheint es, dass dem Prinzip der Suspendierung von Identität, also ihrer Aufschiebung und Öffnung mit den Mitteln filmischen Ausdrucks, in der Antwort auf diese Frage eine entscheidende Rolle zukommt: »Das ethische Moment an ›Two-Lane Blacktop‹ ist diese Verkörperung einer Spannung als Spaltung und Entblößung, kraft deren in jedem Tun immer auch das Nicht-Tun unabweisbar mitschwingt, jede Aktualisierung in ereignishafter Verdoppelung an eine Virtualität gebunden bleibt, die jene in Frage stellt, ohne von ihr ausgeschöpft zu werden.« 60

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Dieses Prinzip der Suspendierung ist dabei unmittelbar mit der Gestaltung filmischer Bewegung verknüpft, und es hat sich gezeigt, dass dies ganz besonders für die Inszenierung des Körpers gilt. Dieser spezifische Körper des Road Movie befreit sich in seiner Verbindung von Mensch und Maschine von externen Zuschreibungen (und dies ist die zweite, konkrete Bedeutung der Auflösungserfahrung am Ende von »Two-Lane Blacktop«),61 um an deren Stelle einen Prozess des Werdens zu setzen, welcher sich aus einer radikalen Ausrichtung auf den gegenwärtigen Moment speist: »Die Aktualität einer Aktion füllt das Bild und die Zeit und den road [sic] nicht aus [...].«62 So wird mit dem Prinzip der Hybridisierung jene Öffnung wieder aufgenommen, welche anfangs als charakteristisch für die hier vertretene Konzeption von Bewegung beschrieben wurde: »Hybridity is not confined to a cataloguing of difference. Its ›unity‹ is not found in the sum of its parts, but emerges from the process of opening what Homi Bhabha has called, a ›third space‹, within which other elements encounter and transform each other. Hybridity is both the assemblage that occurs whenever two or more elements meet, and the initiation of a process of change.« 63

Es ist diese Betonung eines steten Wandels, welche dafür einsteht, dass die Frage nach der Identität im Road Movie sich weniger auf Angaben von Herkunft und Ziel bezieht, sondern auf die Art und Weise, in welcher sich der Wandel, in welcher sich die Bewegung vollzieht.

A NMERKUNGEN 1 | Anstatt an klassische soziologische Definitionen von Migration anzuschließen, welche den Begriff lediglich unter den Gesichtspunkten von Ursache und Wirkung untersuchen und den Vollzug entsprechender Handlungen als gegeben voraussetzen, wird dieser Aufsatz Migration dahingehend bestimmen, dass eine Analyse der Bedingungen ihrer medialen Vermittlung (und damit ihrer Wahrnehmbarkeit) möglich wird. Ein solcher Schritt ist erforderlich, um Migration diesseits und jenseits ihrer diskursiven Repräsentation zu verstehen, welche auch heute noch das Blickfeld der Forschung eingrenzt. 2 | Nikos Papastergiadis: »[...] the cultural identity of the migrant will need to be seen as being partly formed by and in the journey [...], and not as a

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locked item that preceded the very act of movement.« Papastergiadis: The Turbulence of Migration. Globalization, Deterritorialization and Hybridity, Cambridge: Blackwell 2000, S. 4. Etwas weiter: »Movement is not just the experience of shifting from place to place, it is also linked to our ability to imagine an alternative.« Ebd., S. 11. 3 | Vgl. ebd., S. 52. 4 | Vgl. ebd. 5 | Jean-Luc Nancy: Evidenz des Films. Abbas Kiarostami, Berlin: Brinkmann und Bose 2005, S. 23. Die Filme Kiarostamis könnte man in dieser Perspektive als eine spezielle Form des Road Movie begreifen – man denke in diesem Zusammenhang besonders an die ausgedehnten Autofahrten aus der subjektiven Perspektive. 6 | Katie Mills: The Road Story and the Rebel. Moving through Film, Fiction, and Television, Carbondale: Southern Illinois University Press 2006, S. xii und passim. (Vgl. auch N. Papastergiadis: »Departures and returns are rarely, if ever, final, and so it is important that we acknowledge the transformative effect of the journey [...].« Papastergiadis: The Turbulence of Migration, S. 4.) Die Dimension der Identitätskonstruktion, die durch die Bewegung auf der Straße eröffnet wird, steht im Fokus von Mills’ Studie, welche sich nicht auf das Road Movie im engeren Sinne beschränkt, sondern sowohl in der Film- als auch der Kulturgeschichte analoge Formationen aufsucht. 7 | Ebd., S. 12. 8 | Bishnupriya Ghosh und Bhaskar Sarkar bezeichnen in ihrem Aufsatz zum »Cinema of Displacement« den Zustand des Exils als »liminal state, where structures of home and host country exist in suspension«. Diesen liminalen Zustand verbinden sie zum einen mit der steten Mobilität der Protagonisten, zum anderen mit der Figur des »double space«, eines Raumes, der nicht nur für sich steht, sondern auf einen anderen, abwesenden verweist. Die Straße im Road Movie wäre in diesem Sinn ein Beispiel für einen solchen »doppelten« Raum, in welchem sich die Bewegtheit der Protagonisten aktualisiert. Ghosh/Sarkar: »The Cinema of Displacement. Towards a Politically Motivated Poetics«, in: Film Criticism 20 (1995/96), S. 102–113, hier S. 104 bzw. S. 109 ff. 9 | »[...] it is increasingly evident that contemporary migration has no simple origin and no simple end. It is an ongoing process and needs to be seen as an open voyage.« N. Papastergiadis: The Turbulence of Migration, S. 4. 10 | Die Literatur zu den ästhetischen Bedingungen des Verhältnisses von Film und Migration ist recht spärlich. Sowohl Katie Mills als auch David Laderman (Laderman: Driving Visions. Exploring the Road Movie, Austin: University of Texas Press 2002), Verfasser der beiden maßgeblichen jüngeren

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Studien zum Road Movie, beschäftigen sich mit den Implikationen des Road Movie für Fragen von Identität und Geschlecht, ziehen jedoch keine Verbindung zum Problem der Migration. Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von Film und Migration auseinandersetzen, verbleiben in ihren Analysen häufig auf der Ebene von Plot, Dialog und Figurenpsychologie – vgl. die überwiegende Zahl der Beiträge in Eva Rueschmann (Hg.), Moving Pictures, Migrating Identities, Jackson: University of Mississippi Press 2003. Dagegen ist es interessant, dass sich innovativere Ansätze vor allem mit der Frage des Raums, also zumindest implizit mit den konkreten Bedingungen von Bewegung befassen, vgl. Klaus Müller-Richter: Einleitung, in: Ders./Ramona Uritescu-Lombard (Hg.), Imaginäre Topografien. Migration und Verortung, Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 11–31, hier S. 14 ff. Eine umfassende, systematische Untersuchung der für das Thema Migration relevanten filmästhetischen Strategien steht noch aus. 11 | Bennet Schaber zieht aus diesem Sachverhalt die Konsequenz, das Road Movie weniger als Genre, sondern als »Konzept« zu verstehen – was allerdings die Gefahr mit sich bringt, dass die Bezeichnung »Road Movie« selbst unscharf wird. Vgl. Bennet Schaber: »›Hitler Can’t Keep ‫ތ‬Em that Long‹. The Road, the People«, in: Steven Cohan/Ina Rae Hark (Hg.), The Road Movie Book, London/New York: Routledge 1997, S. 17–44, hier S. 22. 12 | David Laderman beschreibt das Problem als widersprüchliche Situation eines Genres nach dem Genresystem: »During the classical Hollywood era, various traditional genres generated road movie elements; then the road movie emerges with distinction through the New American cinema of the late 1960s, as an ›independent‹ film genre, vehicle of antigenre sensibilities and countercultural rebellion.« Laderman: Driving Visions, S. 3. Katie Mills spannt den Bogen noch weiter, indem sie die »road story« als postmodernes, das meint bei ihr vor allem auch intermediales Genre untersucht. Vgl. K. Mills: The Road Story and the Rebel. 13 | Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916], in: Ders., Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916] und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien: Synema 1996, S. 27–103, hier S. 45. 14 | So etwa bei Steven Shaviro: The Cinematic Body, Minneapolis, London: University of Minnesota Press 1993, S. 50 f.; im online verfügbaren Glossar zu Timothy Corrigan, Patricia White: The Film Experience. An Introduction, Boston: Bedford/St. Martin’s 2004, Quelle: http://bcs.bedfordstmartins. com/ filmexperience/pages/bcs-main.asp?v=category&s=00060&n=990 00&i=99060.01&o=, vom 12. Oktober 2010; oder bei Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld: transcript 2006, S. 189 f.

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15 | H. Münsterberg: Das Lichtspiel, S. 46. 16 | Der Begriff des »Leibes« als subjektive Dimension des Erlebens wird hier, stark verkürzt ausgedrückt, in Abgrenzung zum Begriff des »Körpers« verstanden, welcher sich auf die objektive Dimension bezieht. Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1966, S. 91 ff. 17 | Ebd., S. 54. 18 | Ebd., S. 57. 19 | Am ausführlichsten in: Vivian Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton: Princeton University Press 1992. Einschlägig außerdem: Laura Marks: Touch. Sensuous Theory and Multisensory Media, Minneapolis: University of Minnesota Press 2002. Ansonsten finden sich in der neueren Forschung lediglich vereinzelt Ansätze, filmische Verfahren als Ausdrucksformen einer Subjektinstanz zu analysieren, wobei besonders die Rolle der Kamera Beachtung findet, so bei William Rothman: The »I« of the Camera. Essays in Film Criticism, History and Aesthetics, Cambridge: Cambridge University Press 1988, bei Christine N. Brinckmann: »Die anthropomorphe Kamera [1994]«, in: Dies., Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration, Zürich: Chronos Verlag 1997, S. 276–301, oder bei Eva Bederke: »Die leibhaftige Kamera. Emotionale Perspektiven in ›Mar Adentro‹ und ›21 Grams‹«, in: Susanne Marschall/Fabienne Liptay (Hg.), Mit allen Sinnen. Gefühl und Empfindung im Kino, Marburg: Schüren 2006, S. 153–158. Das wichtigste Modell für meinen eigenen Ansatz stellen die Arbeiten von Hermann Kappelhoff zum filmischen Ausdruck dar, vor allem in: Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 2004. 20 | V. Sobchack: The Address of the Eye, S. 3 f. 21 | M. Merleau-Ponty: »Das Kino und die neue Psychologie [1947]«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig: Reclam 1997, S. 227– 246, hier S. 243. 22 | Vgl. V. Sobchack: »What My Fingers Knew. The Cinesthetic Subject, or Vision in the Flesh«, Quelle: http://www.sensesofcinema.com/contents/00/5/ fingers.html, vom 23. September 2008. 23 | Vsevolod Pudovkin: »Prinzipien der Szenarientechnik [1925]«, in: Ders., Die Zeit in Großaufnahme. Aufsätze/Erinnerungen/Werkstattnotizen, ausgewählt und kommentiert von Tatjana Sapasnik und Adi Petrovic, Berlin: Henschelverlag 1983, S. 162–168, hier S. 165. 24 | Ebd., S. 166. 25 | Sergej Eisenstein: »Die vierte Dimension im Film [1929]«, in: ders., Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film, übersetzt und herausgege-

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ben von Oksana Bulgakova und Dietmar Hochmuth, Leipzig: Reclam 1988, S. 90–108. 26 | Wie immer bei Eisenstein geschieht das über Konfliktbildung zwischen den Kategorien: jede Ebene wird durch die folgende modifiziert. 27 | Ebd., S. 97. 28 | Ebd., S. 98. 29 | Ebd., S. 106. 30 | Ebd., S. 101. 31 | Ebd., S. 104, Hervorhebung im Original. 32 | Ebd., S. 97, Hervorhebung im Original. 33 | Hermann Kappelhoff: Realismus. Das Kino und die Politik des Ästhetischen, Berlin: Vorwerk 8 2008, S. 30 f. 34 | Thomas Elsaesser: »The Pathos of Failure. American Films in the 1970s. Notes on the Unmotivated Hero [1975]«, in: Ders./Alexander Horwath/Noel King (Hg.), The Last Great American Picture Show. New Hollywood Cinema in the 1970s, Amsterdam: Amsterdam University Press 2004, S. 279–292, hier S. 280. 35 | Dies kann sich auf eine der oben unterschiedenen Bewegungskategorien oder auf eine Kombination mehrerer Bewegungen beziehen. 36 | Hitchcock erläutert das Prinzip des Suspense (im Gegensatz zur Überraschung) mit dem Beispiel einer unter dem Tisch tickenden Bombe: weiß das Publikum nichts von deren Existenz, so wird es bei der Explosion der Bombe kurzzeitig überrascht. Ist die Bedrohung durch die Bombe bekannt, so lädt sich die bis zur Explosion ablaufende, möglicherweise sehr viel längere Zeit mit dem emotionalen Engagement des Zuschauers auf, der z. B. um das Schicksal der bedrohten Figuren fürchten mag. Vgl. François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München: Heyne 1973, S. 62–64. 37 | Eine bei weitem nicht vollständige Liste, die nur einige der wichtigsten Filme umfasst: »Bonnie and Clyde« (Arthur Penn, USA 1967), »Easy Rider«, »Wanda« (Barbara Loden, USA 1970), »Vanishing Point«, »Badlands« (Terrence Malick, USA 1973), »Scarecrow« (Jerry Schatzberg, USA 1973), »Thieves Like Us« (Robert Altman, USA 1974), »Thunderbolt and Lightfoot«, »Bring Me the Head of Alfredo Garcia« (Sam Peckinpah, USA 1974), »Sugarland Express« (Steven Spielberg, USA 1974). 38 | Im klassischen Kino ist das Ende von »The Searchers« (John Ford, USA 1956) ein typisches Beispiel; für das Road Movie wäre etwa »Thunderbolt and Lightfoot« zu nennen, der auch das ikonographische Inventar des Western aufgreift. Nach Timothy Corrigan fungiert »The Searchers« als eine Art Vorfahre des Road Movie. Vgl. Corrigan: A Cinema without Walls. Movies and Culture After Vietnam, New Brunswick: Rutgers University Press 1991, S. 143.

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39 | Der Abspann des Films listet sie auf als »Driver« und »Mechanic«. 40 | Elsaesser: »Notes on the Unmotivated Hero«, S. 281. 41 | Vgl. etwa Greg Ford: »[Ohne Titel]«, Review von »Two-Lane Blacktop«, in: Film Quarterly 25, Nr. 2 (1971/1972), S. 53–55, hier S. 55; zudem Drehli Robnik: »New Hollywood Road Movies als Wissensbiotop und Medium prekärer Erfahrung«, in: Winfried Pauleit u. a. (Hg.), Traveling Shots. Film als Kaleidoskop von Reiseerfahrungen, Berlin: Bertz + Fischer 2007, S. 104–117, hier S. 117. 42 | Zur speziellen Relevanz der Theorie und Praxis Eisensteins für das Kino des New Hollywood sei angemerkt, dass sich eine ganze Reihe der Filmemacher dieser Periode mit Eisenstein auseinandergesetzt und auch explizit auf ihn bezogen haben, so etwa Sam Peckinpah, Francis Ford Coppola oder Brian De Palma. 43 | Dadurch wird eine Art vektoriale Reibung erzeugt, die den Raum zusätzlich dynamisch auflädt. 44 | Die ersten drei Abschnitte verwirklichen eine Art Anlauf vor dem eigentlichen Start des Rennens, indem sich die Einstellungen innerhalb der Abschnitte fast durchgehend verkürzen (von 13 auf 5 Sekunden im ersten Abschnitt, dann von 17 auf 7, schließlich von 5 auf 2 Sekunden). 45 | »Rebel without a Cause« ist für Corrigan neben »The Searchers« der andere wichtige Bezugspunkt für das Road Movie des New Hollywood, gerade hinsichtlich der Tatsache, dass auch hier Fragen der Identität im Zentrum des dramatischen Konflikts stehen: »Indeed, perhaps the finest overture of the threat that drives men to repeat and keep moving through the road movies of the fifities, sixities, and seventies is the key sequence in ›Rebel without a Cause‹ (1955). Shortly after watching an astronomer’s demonstration of man’s insignificant presence within the galaxies of outer space, James Dean prepares to do battle with his local rival Buzz, who in a twisted way is also his buddy. As a test of their manhood, their cars are lined up to race toward a cliff that plunges into the ocean below. Dean, a traditionalist even then, naive ly asks, ›Why are we doing this?‹ His rival, who would have been a man of the future if he had survived, replies, ›You gotta do something.‹« T. Corrigan: A Cinema without Walls, S. 147 f. 46 | Gleichzeitig lässt sich, angesichts der Inszenierung James Deans als melodramatischer Hauptfigur, schwerlich von einer dem Western entlehnten klassischen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern sprechen. 47 | Im Gegensatz dazu besitzt das Rennen in »Two-Lane Blacktop« den Status eines Epilogs. 48 | Beispielsweise verläuft die Unterscheidung von Mobilität und Stillstand in Hellmans Film nicht entlang der traditionellen Geschlechterlinie; vielmehr

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scheint die weibliche Hauptfigur einem eher noch flüchtigeren Lebensstil anzuhängen als die männlichen Protagonisten. 49 | Monte Hellman, zit. nach: Kent Jones: »›The Cylinders Were Whispering My Name‹. The Films of Monte Hellman«, in: Elsaesser/Horwath/King (Hg.), The Last Great American Picture Show, S. 165–194, hier S. 184. 50 | T. Corrigan: A Cinema without Walls, S. 146. Eine prägnante Formulierung Robniks fasst den Vorgang als »Materialisierung des Asphaltstreifens als Filmstreifen«, vgl. D. Robnik: »New Hollywood Road Movies«, S. 104. 51 | Die unterschiedlichen Winkel der aufeinanderfolgenden Kameraeinstellungen beschreiben, in eine gedachte kontinuierliche Bewegung überführt, eine fast vollkommene Kreisfahrt um die Figur des Fahrers herum, zurück zum Ausgangspunkt der Szene. 52 | Thomas Elsaesser nennt als Vorbild für diese Szene das Ende von »Le Départ« (Jerzy Skolimowski, F 1967), was mindestens ebenso plausibel erscheint – besonders, was die Behandlung der Tonebene angeht. Vgl. Elsaesser: »The Pathos of Failure«, S. 292. 53 | Mit dem Begriff der Hybridität ist an dieser Stelle keineswegs ein beliebiges Vermischungskonzept angesprochen, sondern eines, das auf sehr konkreten Bedingungen basiert, wie am Beispiel von »Natural Born Killers« gezeigt wird. Das Konzept des »doppelten Raumes« bei Ghosh und Sarkar (vgl. Anm. 8) verweist bereits auf diese Tendenz zur Hybridität, vgl. B. Ghosh/B. Sarkar: »The Cinema of Displacement«, S. 106. Zur Frage der Hybridität im Road Movie vgl. auch Delia Falconer: »›We Don’t Need to Know the Way Home‹. The Disappearance of the Road in the ›Mad Max‹ Trilogy«, in: Steven Cohan/Ina Rae Hark (Hg.), The Road Movie Book, New York: Routledge 1997, S. 249–270. Vgl. schließlich auch Mills’ Begriff eines »flüssigen Selbst«, K. Mills: The Road Story and the Rebel, S. 12. 54 | Weitere Filme, die die ethnische Zugehörigkeit ihrer Protagonisten in unterschiedlicher Weise zum Thema der Inszenierung machen, sind u. a. »The Honeymoon Killers« (Leonard Kastle, USA 1970), »Powwow Highway« (Jonathan Wacks, USA 1989) und »Get on the Bus« (Spike Lee, USA 1996). 55 | Dies ist auf einer Ebene ganz wörtlich zu verstehen, nämlich insofern als das von Mickey (Woody Harrelson) gesteuerte Auto keine tatsächliche Landschaft, sondern eine unabsehbare Reihe von Rückprojektionen passiert. 56 | Schaber spricht vom Bemühen der Kamera in »Natural Born Killers«, die Bilder auf eine gleichzeitig technologische wie organische Weise zu erzeugen, vgl. B. Schaber: »›Hitler Can’t Keep ‫ތ‬Em that Long‹«, S. 39. 57 | Hier nur einige der Figurenkonzepte: Sitcom-Liebespaar, Comic-Helden, Doku-Serienkiller (verkörpert durch andere Darsteller), HorrorfilmMonster ... – eine vollständige Aufzählung scheint kaum möglich.

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58 | »According to Stuart Hall, cultural identity is always hybrid, but he also insists that the precise form of this hybridity will be determined by specific historical formations and cultural repertoires of enunciation.« N. Papastergiadis: The Turbulence of Migration, S. 189. 59 | Vgl. B. Schaber: »›Hitler Can’t Keep ‫ތ‬Em that Long‹«, S. 39 f. 60 | D. Robnik: »New Hollywood Road Movies«, S. 115. 61 | »Within a non-mechanistic perspective [...], the identity of the migrants is not subordinate to external categories, but formed out of their own experience of movement and settlement.« Ebd., S. 35. 62 | D. Robnik: »New Hollywood Road Movies«, S. 115. 63 | Ebd., S. 170. Schaber bezieht den Begriff der Hybridität explizit auf das Road Movie, gerade mit Bezug auf das Element der Begegnung und seine auf die Zukunft gerichtete Dynamik: »It may be fair to say then, that the hybrid nature of the genre, the vast differences that traverse it and constitute it, belongs in a number of important ways to a social and historical mode of being with difference. On the road there are, inevitably, encounters, which have to do with precisely how men, women, things, and places will be [Hervorhebung H. L.] with one another.« B. Schaber: »›Hitler Can’t Keep ‫ތ‬Em that Long‹«, S. 22.

Z ITIERTE F ILME »American Graffiti«, Regie: George Lucas, USA 1973. »Badlands«, Regie: Terrence Malick, USA 1973. »Bonnie and Clyde«, Regie: Arthur Penn, USA 1967. »Bring Me the Head of Alfredo Garcia«, Regie: Sam Peckinpah, USA 1974. »Easy Rider«, Regie: Dennis Hopper, USA 1969. »Get on the Bus«, Regie: Spike Lee, USA 1996. »Le Départ«, Regie: Jerzy Skolimowski, F 1967. »Natural Born Killers«, Regie: Oliver Stone, USA 1994. »Persona«, Regie: Ingmar Bergman, SE 1966. »Powwow Highway«, Regie: Jonathan Wacks, USA 1989. »Rebel without a Cause«, Regie: Nicholas Ray, USA 1955. »Scarecrow«, Regie: Jerry Schatzberg, USA 1973. »Stranger Than Paradise«, Regie: Jim Jarmusch, USA 1984. »Sugarland Express«, Regie: Steven Spielberg, USA 1974. »The Honeymoon Killers«, Regie: Leonard Kastle, USA 1970. »Thelma & Louise«, Regie: Ridley Scott, USA 1991.

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»The Searchers«, Regie: John Ford, USA 1956. »Thieves Like Us«, Regie: Robert Altman, USA 1974. »Thunderbolt and Lightfoot«, Regie: Michael Cimino, USA 1974. »Two-Lane Blacktop«, Regie: Monte Hellman, USA 1971. »Vanishing Point«, Regie: Richard C. Sarafian, USA 1971. »Wanda«, Regie: Barbara Loden, USA 1970.

L ITER ATUR Cohan, Steven/Hark, Ina Rae (Hg.), The Road Movie Book, New York: Routledge 1997. Corrigan, Timothy: A Cinema without Walls. Movies and Culture After Vietnam, New Brunswick: Rutgers University Press 1991. Eisenstein, Sergej: »Die vierte Dimension im Film [1929]«, in: Ders., Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film, übersetzt und herausgegeben von Oksana Bulgakova und Dietmar Hochmuth, Leipzig: Reclam 1988, S. 90–108. Elsaesser, Thomas/Alexander Horwath/Noel King (Hg.), The Last Great American Picture Show. New Hollywood Cinema in the 1970s, Amsterdam: Amsterdam University Press 2004. Elsaesser, Thomas: »The Pathos of Failure. American Films in the 1970s. Notes on the Unmotivated Hero [1975]«, in: Ders./Horwath/King (Hg.), The Last Great American Picture Show (2004), S. 279–292. Falconer, Delia: »›We Don’t Need to Know the Way Home‹. The Disappearance of the Road in the ›Mad Max‹ Trilogy, in: Cohan/Hark (Hg.), The Road Movie Book (1997), S. 249–270. Ford, Greg: »[Ohne Titel]«, Review von »Two-Lane Blacktop«, in: Film Quarterly 25, Nr. 2 (1971/1972), S. 53–55. Ghosh, Bishnupriya/Sarkar, Bhaskar: »The Cinema of Displacement. Towards a Politically Motivated Poetics«, in: Film Criticism 20 (1995/96), S. 102–113. Jones, Kent: »›The Cylinders Were Whispering My Name‹. The Films of Monte Hellman«, in: Elsaesser/Horwath/King (Hg.), The Last Great American Picture Show (2004), S. 165–194. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 2004. Kappelhoff, Hermann: Realismus. Das Kino und die Politik des Ästhetischen, Berlin: Vorwerk 8 2008.

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Laderman, David: Driving Visions. Exploring the Road Movie, Austin: University of Texas Press 2002. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung [1945], Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1966. Merleau-Ponty, Maurice: »Das Kino und die neue Psychologie [1947]«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig: Reclam 1997, S. 227–246. Mills, Katie: The Road Story and the Rebel. Moving through Film, Fiction, and Television, Carbondale: Southern Illinois University Press 2006. Müller-Richter, Klaus: »Einleitung«, in: Ders./Ramona Uritescu-Lombard (Hg.), Imaginäre Topografien. Migration und Verortung, Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 11–31. Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916], in: Ders., Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916] und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien: Synema 1996, S. 27–103. Nancy, Jean-Luc: Evidenz des Films. Abbas Kiarostami, Berlin: Brinkmann und Bose 2005. Pantenburg, Volker: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld: transcript 2006 Papastergiadis, Nikos: The Turbulence of Migration. Globalization, Deterritorialization and Hybridity, Cambridge: Blackwell 2000. Pudovkin, Vsevolod: »Prinzipien der Szenarientechnik [1925]«, in: Ders., Die Zeit in Großaufnahme. Aufsätze/Erinnerungen/Werkstattnotizen, ausgewählt und kommentiert von Tatjana Sapasnik und Adi Petrovic, Berlin: Henschelverlag 1983, S. 162–168. Robnik, Drehli: »New Hollywood Road Movies als Wissensbiotop und Medium prekärer Erfahrung«, in: Winfried Pauleit u. a. (Hg.), Traveling Shots. Film als Kaleidsokop von Reiseerfahrungen, Berlin: Bertz + Fischer 2007, S. 104–117. Rueschmann, Eva (Hg.), Moving Pictures, Migrating Identities, Jackson: University of Mississippi Press 2003. Schaber, Bennet: »›Hitler Can’t Keep ‫ތ‬Em that Long‹. The Road, the People«, in: Cohan/Hark (Hg.), The Road Movie Book (1997), S. 17–44. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, Minneapolis, London: University of Minnesota Press 1993. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton: Princeton University Press 1992.

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Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München: Wilhelm Heyne Verlag 1973.

I NTERNE T Sobchack, Vivian: »What My Fingers Knew. The Cinesthetic Subject, or Vision in the Flesh«, Quelle: http://www.sensesofcinema.com/ contents/00/5/fingers.html, vom 23. September 2008.

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»Ein Mann ist ein Mann, und ein Loch ist ein Loch« Männlichkeit, Homosexualität und Migration in Kutlu÷ Atamans »Lola und Bilidikid« (Deutschland 1998) Christopher Treiblmayr

»L OL A« UND DER »J UNGE D EUTSCHE F ILM « DER 1990 ER J AHRE 1998 kam mit Tom Tykwers »Lola rennt« ein Film in die Kinos, der von vielen – nicht zuletzt in der deutschen Filmbranche – zum Aushängeschild eines »Jungen Deutschen Films« erklärt wurde. Die rotschöpfige Lola, gespielt von Franka Potente, sprintet dabei in atemberaubenden Kamerafahrten und alternativen Handlungslinien durch das wiedervereinigte Berlin, um für die Rettung ihres Freundes, gespielt von Moritz Bleibtreu, 100.000 Mark aufzutreiben, die dieser Gangstern schuldet. Mit zwei Millionen Zuschauer/inne/n wurde »Lola rennt« nicht nur beim deutschen Publikum und der Kritik ein ungeahnter Erfolg. Erstmals seit den Zeiten des »Neuen Deutschen Kinos« wurde der deutsche Film wieder zu einem internationalen Phänomen, wie der weltweite Verleih belegt.1 Mit seiner globalisierten »MTV-Ästhetik«, den zahlreichen Verweisen auf Popmusik, Mode und Lifestyles beinhaltet »Lola rennt« einerseits zahlreiche Charakteristika des postmodernen Films2 und ist andererseits auch symptomatisch für die Bemühungen einer jungen deutschen Regiegeneration, Autor/innen/enhaltung und Kommerz erfolgreich zu vereinen.3 Nach dem »Ende« des »Neuen Deutschen Kinos«, das gemeinhin mit Rainer Werner Fassbinders Tod 1982 datiert wird, konnte die deutsche Filmlandschaft mit diesem »Erfolgsrezept« sowohl beim Publikum

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als auch bei der Kritik wieder internationalen Anschluss finden. Die Zeiten der ausschließlich in Deutschland populären »Neuen Deutschen Beziehungskomödie« – etwa Sönke Wortmanns »Der Bewegte Mann« aus dem Jahr 1994 – schienen vorbei. Diese hatte nach der »Wiedervereinigung« vor allem die Funktion erfüllt, von den sozialen und politischen Problemen des Landes mit seichter Unterhaltung abzulenken, wie Katja Nicodemus feststellt: »Man kann die im Zeittrend liegenden Großstadtgeschichten […] durchaus als kulturelles Symptom der Kohl-Ära interpretieren – Kino als Ausdruck einer saturierten Erstarrung, die dem gesellschaftlichen Status quo weder Visionen noch eine Autorenhaltung entgegensetzte. Statt Konflikte und gesellschaftliche Reizthemen wie Rassismus, Arbeitslosigkeit oder auch nur soziale Unterschiede aufzugreifen und auf komische Art zuzuspitzen, wurden die gesellschaftlichen Widersprüche auf dumpfe Weise zugedeckt, nivelliert und verdrängt.« 4

Gegen Mitte der 1990er Jahre hatte sich beim Publikum allmählich ein »Sättigungsgefühl« in Bezug auf die stark normierten und sowohl narrativ als auch ästhetisch wenig abwechslungsreichen Komödien einzustellen begonnen.5 Deren prinzipiell kommerzielle Ausrichtung US-amerikanischer Prägung freilich behielten die Vertreter/innen des »Jungen Deutschen Films« unter den veränderten, neoliberalen Verhältnissen im geeinten Deutschland bei und versuchten trotzdem, neue, differenzierte Bilder vom »Deutsch-Sein« gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu entwerfen. Mit vergleichsweise geringen 18.289 Kinobesuchen6 einem größeren Publikum weniger bekannt und wesentlich weniger auf kommerzielle Verwertbarkeit ausgerichtet als andere Produktionen, durchaus aber dem »Jungen Deutschen Film« zuzurechnen, ist Kutluğ Atamans »Lola und Bilidikid«, der wie Tykwers Film 1998 erschien. Auch hier trägt die – wie bei Tykwer markant rothaarige – Hauptfigur den Namen Lola, und der Stadtraum Berlin nimmt eine zentrale Stellung ein. Was die beiden Filme und ihre Hauptfiguren aber deutlich unterscheidet und wohl auch der wesentliche Grund dafür ist, dass Atamans »Lola« zu keinem »Kassenschlager« wurde wie jene von Tykwer, ist das Geschlecht bzw. die Geschlechterperformance der beiden Protagonist/inn/en. Zwar wird, wie dies Webber anmerkt, einer Figur wie Tykwers Lola die Fähigkeit zugestanden, in einer Art und Weise zu rennen, wie es Frauen sonst nicht tun, aber am Ende

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des Films wird der vereinnahmte Handlungsspielraum wieder aufgelöst – auch dadurch, dass ihr Mann wieder an die gehörige Position zurückgeführt wird und nun an ihrer Seite die Straße entlanggeht.7 Atamans Lola hingegen, die gegen Ende des Film tragisch ums Leben kommt, stammt aus dem deutsch-türkischen Stricher- und Transvestitenumfeld in Berlin. Sie ist ein Mann, der mit roter Perücke und in Drag-Aufmachung symbolischen Stadtraum für sich und seine Freund/inn/e(n) reklamiert und dabei gesellschaftliche Vorannahmen über Homosexualität und nicht-heterosexuelle Sexualität radikal herausfordert. Dies hatten auch schon die anderen »Lola-Figuren« in der deutschen Filmgeschichte in gewisser Weise getan. So war bereits Marlene Dietrich in Joseph von Sternbergs »Der blaue Engel« (1930) mit ihrer Darstellung der gleichnamigen, sexuell höchst ambivalenten »femme fatale« zu Weltruhm gelangt. Fassbinders in »Bonbonfarben« gehaltene Abrechnung mit der Zeit des Wiederaufbaus und des beginnenden »Wirtschaftswunders« hat 1981 mit Barbara Sukowa erneut eine »Lola« auf die Leinwände gebracht, die wie »Lola-Lola« bei Sternberg mit ihren erotischen Reizen einen gewissen Grad an Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit erreichte, beide allerdings immer in ihrer festgelegten und kommerzialisierten Rolle als Bühnenkünstlerin.8 Atamans »Lola« als »postmoderne Nachfolgerin« der beiden tritt zwar auch in Travestieclubs auf und verortet sich damit in der Berliner Kabarett-Tradition. Darüber hinaus durchzieht den Film, den man mit Webber als explizit queere Alternative zu Tykwers Film sehen kann,9 aber eine neuartige, ausdrücklich heteronormativitätskritische Perspektive, die zudem mit dem gesellschaftlichen Reizthema Migration verbunden ist. »Lola und Bilidikid« macht damit deutlich, dass die Konstruktion von Geschlecht immer mit anderen Kriterien sozialer Zuschreibung – wie etwa Ethnie – verwoben ist.10 Dies soll im Folgenden näher ausgeleuchtet werden, wobei ich Atamans Film in einer größeren historischen Perspektive als Teil eines Phänomens verstehe, das mit Siegfried Kaltenecker als regelrechte »homosexuelle Spektakularität«11 im Kino des ausgehenden 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann: Gemeint ist, dass Homosexualitäten – und insbesondere männliche Homosexualitäten – seit den 1980er Jahren und dann vor allem in den 1990er Jahren ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt sind.12 Dies trifft für den deutschen Film der 1990er Jahre ebenso wie für viele andere, vor allem westliche Filmländer zu.

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K RISE DER M ÄNNLICHKEIT UND P LUR ALISIERUNG VON HOMOSE XUELLEN I DENTITÄTSENT WÜRFEN Um die neue Sichtbarkeit homosexueller Identitätsentwürfe im Film zu erklären, wende ich einen männergeschichtlich orientierten Analyseansatz an. Zentrales Element ist dabei eine von verschiedenen Disziplinen konstatierte »Krise der Männlichkeit« – bzw. in der Terminologie des australischen Soziologen Connell – eine Krise des hegemonialen Männlichkeitsmodells. Connell definiert hegemoniale Männlichkeit »als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis […], welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)«.13 Er versteht darunter jene männlichen Attribute, die von einer Gesellschaft als erstrebenswert angesehen werden, gleichzeitig aber auch jene Normen und Praktiken von Männlichkeit, die von der dominanten Klasse zur Absicherung ihrer Interessen eingesetzt werden.14 Dieses streng dichotom aufgebaute, von der »überlegenen« Männlichkeit markierte und somit asymmetrische Modell ist nach Wolfgang Schmale in Europa in der Zeit der Aufklärung entstanden. Es erfasste im späten 18. Jahrhundert die ländliche Gesellschaft ebenso wie die städtische. Vor allem im 19. Jahrhundert breitete es sich – eng an Kapitalismus, Nationalismus und Imperialismus gekoppelt – ungebremst aus und erfasste auch die Arbeiter/innen-/klasse. Von der herrschenden bürgerlichen Klasse wurde über die »gesellschaftlich entscheidenden Kommunikationskanäle« wie das Schul- und Bildungswesen oder das auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhende Militär das Aufklärungsbild von Männlichkeit »persuasiv verbreitet«.15 Hatten jahrhundertelang die ständischen Unterschiede schwerer gewogen als das biologische Geschlecht, so traten nun hinter der Kategorisierung als Mann oder Frau alle anderen Differenzierungskategorien zurück. Hegemonial ist das verbreitete Modell von Männlichkeit nach Schmale, weil es einerseits biologisch unausweichlich erscheint und andererseits andere Männlichkeiten nur noch in stigmatisierter Form oder aber als bewusste Opposition möglich sind. Zudem durchzieht es die gesamte Gesellschaft: Verschiedene Männlichkeiten werden hierarchisch konfiguriert, Frauenrollen und Weiblichkeit in Relation zu Männlichkeit bestimmt, »was auf eine dichotomisch-geschlechtliche visuelle und kommunikative Trennung des öffentlichen und privaten Raums hinausläuft: Alles, wirklich alles:

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ideell, materiell, körperlich, moralisch, habituell, wird dichotomischgeschlechtlich und asymmetrisch durch überlegene Männlichkeit markiert.«16 Das Männlichkeitsbild dieses Modells wurde vor allem von soldatischen Tugenden und Kameradschaft, gewissen sozialen und politischen – »staatsbildenden« – Fähigkeiten, durch die Rolle als Familienernährer und durch Heterosexualität bestimmt.17 Homosexualität war damit zum »konstitutiv Anderen« geworden. Connell spricht von »untergeordneten« homosexuellen Männlichkeiten.18 Der »Sodomit« des Mittelalters – so Foucault – wurde im 19. Jahrhundert vom »Gestrauchelten« zur »Spezies«, wobei der neu entstehenden Sexualwissenschaft eine zentrale Rolle in diesem Konstruktionsprozess zukam.19 Sicherlich wies das hegemoniale Modell – wie etwa Jacques LeRider für die Wiener Moderne festhält20 – in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts immer wieder Modifikationen und Krisentendenzen auf und war – etwa durch die Erste Frauenbewegung oder die Erste Homosexuellenbewegung – Angriffen ausgesetzt. Dennoch blieb es hegemonial und erlebte schließlich seine Radikalisierung im Nationalsozialismus.21 Erst die unter dem Schlagwort »68er-Bewegung« einsetzenden Diskurse um die Enttabuisierung des Geschlechtlichen, die Liberalisierung der Sexualität und die Dekonstruktion des Weiblichen wie Männlichen führten unter den Vorzeichen globaler und nationaler Transformationsprozesse zu weitreichenden Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen. In der längeren historischen Perspektive kann man daher mit Schmale von einem Übergang vom hegemonialen Männlichkeitsmodell zu »polymorphen Männlichkeiten« in der postmodernen Gesellschaft sprechen. Polymorphe Identitätsbildungen, soziokulturelle Pluralisierungsprozesse und nicht zuletzt politisch verordnete Gleichberechtigungsnormen lassen der hegemonialen Männlichkeit immer weniger Raum.22 So erklärt Wolfgang Schmale: »Bis mindestens Anfang der 1980er Jahre entwickeln sich neue oder alternative Männlichkeiten im Rahmen der konfliktreichen Auseinandersetzung mit dem hegemonialen Männlichkeitsmodell, von dem zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch wesentlich mehr als nur Spuren übrig geblieben sind. Aber seit den 1960er Jahren existieren andere Entwürfe von Männlichkeit, die keinen hegemonialen Charakter haben bzw. haben können. Die bürgerliche Gesellschaft und die anderen Vorausbedingungen des hegemonialen Modells kommen der Männlichkeit abhanden.« 23

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Es zeigten sich deutliche »Krisensymptome« von »Männlichkeit«, die sich an der zunehmenden Etablierung von Männerratgebern und Männerzeitschriften im Laufe der 1990er Jahre als Teil einer allgemeinen »Diskursexplosion über Männlichkeit(en)«24 genauso festmachen lassen wie am zunehmenden Legitimationsverlust von Ehe und Familie und der damit in Zusammenhang stehenden neuen Thematisierung der »Vater-Rolle«25 oder etwa an Diskussionen über geschlechterspezifische Verschiedenheiten von gesundheitlichem Verhalten.26 Sicherlich herrscht über den genauen Anteil der Einflussfaktoren auf diese Krise, ihre Auswirkungen und vor allem über ihre Reichweite erhebliche Uneinigkeit.27 Darüber hinaus wird in der Forschung zunehmend problematisiert, inwieweit die »68er-Bewegung« tatsächlich zu umfangreichen Liberalisierungen in allen Lebensbereichen geführt hat.28 Festzuhalten ist aber dennoch, dass die Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen gegen Ende des 20. Jahrhunderts trotz aller Beharrungstendenzen29 eine »Revision des Hegemonialkonzepts«30 notwendig machten, die gleichzeitig eine historisch neue Chance für die Entstehung von homosexuellen Identitätskonstruktionen darstellte. Damit können auch andere, alternative Entwürfe von Männlichkeit – wie untergeordnete homosexuelle Männlichkeiten – offen gelebt werden. Dies bedeutet freilich nicht, dass sich nicht auch innerhalb dieser homosexuellen Identitätsentwürfe Hierarchisierungen und Ausgrenzungen vollziehen können. So ist es ein Charakteristikum der Spätmoderne, dass sich die von Foucault beschriebene »Normalisierung«, also die Grenzziehung zwischen »normal« und »abnormal«, durch die Einbindung in den Konsumkapitalismus flexibilisiert hat. War früher durch die Normalisierung der Heterosexualität Homosexualität als Devianz erzeugt worden, lässt sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine Tendenz zur Normalisierung homosexueller Identität beobachten.31 Dabei scheinen sich die gesellschaftlich dominanten Angebote schwuler Identität mit den »Ansprüchen des zeitgenössischen Individualismus ausgezeichnet zu vertragen«, was im so genannten »gay lifestyle« seinen Ausdruck findet.32 Auch wenn dieser »gay lifestyle« keinesfalls die Lebensweisen aller schwulen Männer gegen Ende des 20. Jahrhunderts umfasste, kann man/frau ihn in vielen westlichen Industrienationen und insbesondere auch im wiedervereinigten Deutschland, in dem der Kapitalismus in der Systemauseinandersetzung »gesiegt« hat und als gesamtdeutsches Wirtschafts- und Vergesellschaftungsmodell implementiert wurde, als die hegemoniale Form und Repräsentation schwuler Lebensstile verste-

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hen. In Fortführung von Kommerzialisierungs- und Professionalisierungstendenzen der Schwulenbewegung seit den 1980er Jahren sind Individualisierung und Orientierung am Konsum zentrale Elemente des stark internationalen »gay lifestyles«, der als Identitätsentwurf für homosexuelle Männer in den 1990er Jahren nicht zuletzt deswegen eine solch dominante Stellung erreichte, weil er die Integration in die neoliberal geprägte Gesamtgesellschaft in einem bis dahin ungekannten Ausmaß ermöglichte. Volker Woltersdorff stellt fest: »Wir erleben eine historische Zäsur: Die radikale Differenzerfahrung von einst, die das Individuum an sein Schwulsein band, wird zum exotischen Unterscheidungsmerkmal abgeschwächt, mit dem das symbolische Überleben des Individualisten garantiert wird. Hier triumphiert das Tauschprinzip, indem es Differenz durch Identität ersetzt und so in eine Ökonomie von Äquivalenzbeziehungen eingliedert. Indem ihr der Zahn radikaler Differenz gezogen wird, steht die Integration von Homosexualität in den Markt des gesellschaftlichen Austausches offen.« 33

Mithin besteht sogar Grund für die Annahme, dass sich gerade so etwas wie eine »neue Homonormativität« herausbildet: eine weiße schwule Führungsschicht, die sich unter dem Stichwort »gay neoliberalism« an der Durchsetzung des »neoliberalen Projekts« beteiligt, was zwar für diese priviligierte Gruppe von Schwulen gesellschaftliche Anerkennung, aber auch erneute Ausgrenzungen all jener mit sich bringt, die diesem »Ideal« nicht entsprechen34 – wie etwa Homo-, Bi- und Transsexuelle innerhalb migrantischer Minderheiten.

»L OL A UND B ILIDIKID « Z WISCHEN »N E W Q UEER C INEMA« UND »K INO DER M É TISSAGE « Filme können als kinematographische Reflexionen unter bestimmten Bedingungen als Antriebsmotoren der geschilderten soziokulturellen Pluralisierungsprozesse gesehen werden. Nicht zuletzt können sie als »Gegen-Analyse der Gesellschaft«35 »Gegen-Entwürfe« zu hegemonialen Geschlechterkonstruktionen freilegen und damit Material für die Ausgestaltung von Identitätsentwürfen liefern. Dies trifft insbesondere auf die Produktionen des so genannten »New Queer Cinema« zu, in deren Tradition Kutluğ Atamans Film steht. Im engeren Sinne meint der von der Filmtheoretikerin Ruby Rich 1992 einge-

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führte Terminus eine Reihe von selbstbewussten, offen sexualisierten schwulen, lesbischen, bisexuellen und transgender Filmen in den frühen 1990er Jahren, die in enger Verbindung mit der Aufarbeitung der Folgen von HIV/Aids stehen. Sie werden meist mit Namen wie Todd Haynes, Tom Kalin, Gus Van Sant, Isaac Julien, Derek Jarman, Gregg Araki oder Monica Treut in Verbindung gebracht.36 Als kritisches Konzept betonen die Filme dieser vor allem aus der »Queer Community« stammenden Regiegeneration mit Michele Aaron »die Unbeständigkeit von Geschlechterkonstruktionen und die Unbeständigkeit von homo- und heterosexueller Sexualität«.37 Damit wollen sie sich von der Vorstellung einer exklusiven und klar definierten Sexualität abgrenzen, die sowohl das Konzept von Hetero- als auch von Homosexualität bestimmt.38 Dies schließt vielfach auch die Abgrenzung von »gay lifestyle-Konzeptionen« und den damit verbundenen Hierarchisierungen mit ein. Gleichwohl hatte sich gegen Ende der 1990er Jahre auch das »New Queer Cinema« unter dem Einfluss der Professionalisierungs- und Kommerzialisierungstendenzen in der Schwulen- und Lesbenbewegung gewandelt. Nicht zuletzt war auch die Beschäftigung mit HIV/Aids gegen Ende des Jahrzehnts durch die medizinischen Fortschritte weniger brennend als noch zu seinem Beginn. Meist formal konventioneller und inhaltlich weniger radikal als ihre frühen Vertreter beschäftigten sich die späten Ausläufer des »New Queer Cinema« gegen Ende des Jahrzehnts vielfach mit den Schwierigkeiten und Problemen von »Coming-out-Prozessen«.39 Diese verbanden sie meist mit anderen gesellschaftsrelevanten Themen, die von einer Ausdifferenzierung der »Gay Community« in verschiedene Szenen mit Mehrfachzugehörigkeiten und Hybridbildungen zeugen.40 So ist auch »Lola und Bilidikid« ein »Coming-out-Film«, der als später Ausläufer des »New Queer Cinema« seine Darstellung männlicher Homosexualitäten und nicht heterosexueller Sexualitäten mit der Darstellungstradition eines deutsch-türkischen »Kinos der Métissage« verbindet. Dieses hatte sich schon seit den 1960er Jahren in Folge der Migrationsbewegungen als »sozial-realistisches Genre«41 etabliert, denkt man etwa an Fassbinders Beschäftigung mit den Erfahrungen von Minderheiten und »Außenseitern« in Filmen wie »Katzelmacher« von 1969 oder »Angst essen Seele auf« aus dem Jahr 1973. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann sich im Kontext des »Jungen Deutschen Films« vor allem in Hamburg und Berlin eine junge Generation von Regisseur/inn/en zu profilieren, die versuchte, alternative, zeitgemä-

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ße Sichtweisen auf das Thema Migration anzubieten. Am bekanntesten sind hier wohl Fatih Akıns Filme wie »Kurz und schmerzlos« (1998), »Im Juli« (2000) oder nach der Jahrtausendwende »Gegen die Wand« (2004). Mit Deniz Göktürk lässt sich bei diesen Filmen von einem neuen, transnationalen Genre sprechen, das als »world cinema« oder »Weltkino« bezeichnet werden kann: Indem es die »herkömmlichen geographischen, nationalen, kulturellen und filmischen Grenzen sprengt«, bringt es nicht nur die Brisanz von Themen wie Mobilität und Diversivität zum Ausdruck, sondern ist auch ein Beleg dafür, wie Migrant/inn/en gegen Ende des Jahrzehnts damit begonnen haben, in der »kulturellen Imagination […] der subnationalen Nische zu entwachsen und in transnationale Netzwerke einzutreten«.42 Kutluğ Ataman, der sich in einem Interview selbst als der einzige offen schwule Filmemacher in der Türkei bezeichnet43 und abwechselnd in Istanbul und Los Angeles lebt, sehe ich auch in diesem Kontext. 1961 in Istanbul geboren, studierte er Theater- und Filmwissenschaft an der University of California, Los Angeles (UCLA), wo er 1988 sein Studium abschloss. Neben seiner Arbeit als Regisseur wurde er vor allem als Videokünstler bekannt und nahm 1999 als erster türkischer Künstler an der »Biennale« in Venedig teil. Nach seinem ersten Kurzfilm »La Fuga« (1988), den Filmen »Karanlik Sular« (auch »Serpent’s Tale«, 1994) und »Spikes and Heels« (1994) sowie den Videoarbeiten »Memleketimi Seviyorum« (1995) und »Kutluğ Ataman’s Semiha B. Unplugged« (1997) war »Lola und Bilidikid« Eröffnungsfilm im »Panorama« der »Berlinale« 1999.44

»D OING G ENDER « UND »D OING E THNICIT Y« ALS WECHSELSEITIG GENUT Z TE R ESSOURCEN Der nach dem klassischen »5-Akt-Schema« aufgebaute Film »Lola und Bilidikid« beschreibt »den mühsamen und abenteuerlichen Weg der zweiten und dritten Generation zwischen Rückkehrhoffnungen und Integration« und die »Suche von Menschen nach sich selbst in dieser Reibung der Kulturen«45 anhand dreier zentraler Handlungsstränge: Erstens erzählt er die Geschichte des 16-jährigen Murat (Baki Davrak), der als Türke in Berlin lebt und sein homosexuelles »Coming-out« hat – also gewissermaßen einer Subkultur innerhalb einer Subkultur zuzurechnen ist. Der Film zeigt eine schrille, gefährliche, aber für ihn durchaus auch spannende und vielversprechen-

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de Welt mit den Augen eines Heranwachsenden, der sich still, aber mit einer gewissen Beharrlichkeit einen Platz in ihr sucht. Analog zu Murats Seelenzuständen wechselt der Film zwischen greller Komödie, Familiendrama, Gang-Film, Thriller, Milieuschilderung und vor allem Liebesgeschichte.46 Titelgebend ist wie erwähnt der zweite Handlungsstrang: die melodramatische Liebesgeschichte zwischen dem Travestiekünstler Lola (Gandi Mukli), dem Bruder Murats, und seinem Lebensgefährten, dem Stricher Bili (Erdal Yildiz). Drittens schließlich wird, sozusagen als parodistische Entlastung dieser tragisch endenden Liebe, die Liebesgeschichte zwischen dem deutschen Aristokraten Friedrich (Michael Gerber) und dem deutsch-türkischen Stricher Iskender (Murat Yilmaz) erzählt, die mit einem Happy End schließt. Das Generalthema des Films, welche Unterdrückungsmechanismen in einer »Kultur der Unterdrückten« entstehen können, verbindet diese drei Handlungsstränge. Besonders deutlich wird dabei auch, wie zentral die verschiedenen Formen der Macht mit Konzepten von Männlichkeit und deren internen Hierarchisierungen zusammenhängen. Soziologisch muss mit Ghadban dabei bedacht werden, dass die Politik der Ausgrenzung, die die vielfach mangelnde Integrationsbereitschaft der deutschen Gesellschaft zur Folge hatte, auch in der Abb. 1: Lola und Bili (Bildmitte) im Kreis ihrer Bezugsgruppe

Quelle: K. Atamans »Lola und Bilidikid« (Deutschland 1998): Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Martin Hagemann, »zero fiction film«. Dank an den »Delphi Filmverleih« und die Deutsche Kinemathek Berlin. © zero fiction film

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dritten Migrant/inn/engeneration zu einer starken Selbstabgrenzung der türkischen Jugendlichen führte. Oft blieb ihnen nur die Zuflucht in die eigene »ethnische Gemeinschaft«. Die »Pseudo-Heimatkultur«, die in den entstehenden Parallelgesellschaften gepflegt wird, ist eine hybride Kultur,47 die aus ethnischer, religiöser und deutscher Sozialisation besteht. Im Hinblick auf die Haltung Homosexuellen gegenüber sind diese drei Dimensionen eng miteinander verflochten, wie Ghadban betont: Die deutsche Sozialisation beeinflusst das Verhalten vieler muslimischer Jugendlicher in gleichem Maße wie das anderer Jugendlicher, sie sind genauso wie andere Jugendliche dem Rechtsextremismus und der Versuchung, sich auf Kosten Schwächerer oder von Randgruppen mit Gewalt zu behaupten, ausgesetzt. Die ethnische Dimension, so Ghadban, findet ihren Ausdruck im Patriarchalismus, der die gesellschaftlichen Verhältnisse im Herkunftsland Türkei vielfach prägt. Dieser impliziert ein Männlichkeitsbild, zu dessen wesentlichen Bestandteilen die sexuelle Potenz und die Fähigkeit zur Penetration als Beweis zählen. Dabei ist vor allem die Unterscheidung zwischen einer aktiven und einer passiven Haltung zentral: Wer beim sexuellen Verkehr die passive Haltung einnimmt, wird von der Gesellschaft nicht nur verachtet, weil er eine verbotene Handlung begangen hat, sondern vor allem auch, weil er das hegemoniale Männlichkeitsbild verraten hat.48 Entsprechend hat auch Bourdieu darauf hingewiesen, dass die symbolische Codierung des Sexualaktes eine Modalität der Verleiblichung sozial konstruierter Geschlechterdifferenzen ist, »bei dem der Mann oben, oben auf, und die Frau unten, darunter ist. Der Geschlechtsakt wird also als ein Akt der Herrschaft, der Inbesitznahme, als ›Einnehmen‹ der Frau durch den Mann dargestellt (das Gleiche gilt für homosexuelle Beziehungen, bei denen die Opposition oben/unten durch vorne/hinten ersetzt wird).«49 Bei einer Liaison zwischen zwei Männern schließlich verraten beide Partner das Männlichkeitsbild, indem sie die Rollenverteilung der akzeptierten »Hetero-Ehe« durcheinanderbringen – offen gelebte Partnerschaften werden nicht geduldet. Mit Ghadban speisen sich aus diesen Komponenten und den Vorgaben des Islam, der Homosexualität als große Verfehlung klassifiziert und eine weitere wichtige Ressource darstellt, die Vorstellungen vieler Migrant/inn/en über Homosexualität.50 Erneut sei hier darauf hingewiesen, dass Homophobie ein strukturelles Phänomen ist, das sich keinesfalls ausschließlich unter Migrant/inn/en finden lässt, wie es insbesondere in manchen Diskussionen um eine

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erhöhte homophobe Gewaltbereitschaft unter jungen Männern mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland erscheint. Weitere differenzierte Studien darüber, inwieweit Diskriminierungs- und Migrationserfahrung mit einer erhöhten Tendenz zu Homophobie zusammenhängen, sind hier dringend notwendig. Wie María do Mar Castro Varela in diesem Zusammenhang aus einer postkolonialen Perspektive festhält, muss dabei gesehen werden, »inwieweit die Errungenschaften einer queeren Bewegung staatlicherseits funktionalisiert werden, um Europa erneut als frei, liberal und gewaltfrei zu markieren und auf der anderen Seite Exklusionspraxen voranzutreiben. Solange die Anderen als ›wirklich homophob‹ bezeichnet werden, solange kann Deutschland behaupten, liberal und von Toleranz geprägt zu sein.«51 In eine ähnliche Richtung argumentierte die Theoretikerin und Aktivistin Judith Butler, als sie in einer Aufsehen erregenden Aktion den »Preis für Zivilcourage« ablehnte, der ihr anlässlich des CSD in Berlin 2010 verliehen werden sollte. Butler begründete dies unter anderem damit, dass sich der CSD nicht genügend von Rassismus distanziere, und forderte zu verstärkter Zusammenarbeit mit migrantischen Gruppen auf.52 In der Figur des machohaft gezeichneten Bilidikid, also des Lebensgefährten des Travestiekünstlers Lola, kommen viele Aspekte von Patriarchalismus zum Ausdruck. Bereits in einer der Expositionssequenzen des Films wird dies explizit eingeführt. Wie schon sein Name andeutet – Bili ist eine Abkürzung für »Billy the Kid«, den amerikanischen Westernhelden – vermischen sich in seiner Identitätskonzeption deutsche und türkische Komponenten mit Elementen der US-amerikanischen Populärkultur. In einer Bettszene mit Lola geht es um den Traum von einer schöneren Zukunft für die beiden. Kleine Einstellungsgrößen (es dominieren Großaufnahme, Nahaufnahme, Halbtotale) suggerieren Intimität und Romantik, was durch Kerzenlicht und romantische Geigenmusik unterstrichen wird. In dieser Mise en Scène gewinnt Bilis »Machismo« besonders prägnant Kontur. Deutlich formuliert er, »cool« eine Zigarette rauchend, seine Selbstsicht als Mann, während sein muskulöser Körper mit vielen Nahaufnahmen das Bild bestimmt. Obwohl er als Stricher arbeitet und mit Lola eine Beziehung lebt, sieht er sich keinesfalls als homosexuell oder gar schwul, sondern als »richtiger Mann«, der beim Geschlechtsverkehr immer aktiv ist.53 Er will, dass Lola sich umoperieren lässt, um mit ihm gemeinsam in der Türkei zusammenzuleben:

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»So wie diese deutschen Schwuchteln können wir nicht zusammenleben. Wir müssen wie ganz normale Leute leben, wie Mann und Frau, eben eine ganz normale Familie. Ich komm nach Hause und du bist da. Aber da gibt es noch ein kleines Problem.«

Noch deutlicher formuliert er die Fähigkeit zur Penetration als »Männlichkeitsbeweis« an anderer Stelle, als er Murat in die mannmännliche Prostitution einführt und ihm einbläut: »Ein Mann ist ein Mann, und ein Loch ist ein Loch. Egal, wo du ihn reinsteckst. Nur: Sei kein Loch.« Die bereits in der Bettszene skeptische Lola wird recht behalten: Auch eine Umoperation würde nichts helfen. Die mann-männliche Liebe der beiden ist durch die gesellschaftlichen RahmenbedingunAbb. 2: Lola und Bili

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gen verunmöglicht. So sterben sie dann auch am Ende des Films – nach einem Actionfilm-artigen Showdown, dem Atamans Nähe zum US-amerikanischen Kino sehr deutlich anzumerken ist – unter tragischen Umständen. Analog zu Bili trägt auch Osman (Hasan Ali Mete), der Bruder Lolas und Murats, viele dieser patriarchalen Züge. Er ist das »Oberhaupt« der vaterlosen Familie und tyrannisiert sie aus »Sorge um die Ehre«. Vor allem die Mutter ordnet sich ihm bedingungslos unter. Er hatte schon Lola aufgrund ihrer sexuellen Neigungen vertrieben, und als sich nun auch Murat mehr für Bücher als für Mädchen zu interessieren scheint und sich auf die Suche nach Lola macht, versucht er alles, um ihn davon abzuhalten. Der Film visualisiert damit sehr eindrucksvoll, wie Machtrelationen unter Männern auf das Engste mit anderen sozialen Zugehörigkeiten verwoben sind. Wie Bohnsack herausgearbeitet hat, ist bei jungen männlichen türkischen Migranten der Begriff der »Ehre« ein Beispiel für diese Zusammenhänge, das zeigt, wie hegemoniale Männlichkeit soziale Praxen generiert, die wiederum untergeordnete Männlichkeiten konstituieren.54 So bringt die Konfrontation zwischen der von der Herkunftsfamilie vermittelten Kultur und der deutschen Mehrheitskultur bei einem Teil dieser Jugendlichen erhebliche habituelle Verunsicherungen mit sich, sowohl was die ethnische als auch was die geschlechtliche Dimension betrifft. Diese Verunsicherungen sind bei jenen jungen Männern am geringsten, die vergleichsweise fest in der türkischen Kultur verankert sind. Die Wahrung der »männlichen Ehre« ist für sie oft eine unumstößliche Verpflichtung, was unter anderem die Kontrolle über ihre Frauen und Freundinnen beinhaltet, besonders wenn sich diese in der Öffentlichkeit befinden: »Das bedeutet auch, daß diese Kontrolle nicht durch ein persönliches und auf das Individuum bezogenes Misstrauen (im Sinne einer ›Eifersucht‹) motiviert ist. Es ist vielmehr Element der habituellen Disposition des Mannes, des männlichen Habitus schlechthin.« 55

Somit grenzen sich sowohl Bili als auch Osman bewusst gegen die »deutsche« Männlichkeit ab, deren »Laschheit« als »unmännlich« angesehen wird, weil sie die Verteidigung der »Ehre« nicht als Wert ansieht. Geschlechterdifferenz wird hier einerseits genutzt, um ethnische Differenz zu akzentuieren, andererseits bedingt die ethnische Differenz die Durchsetzung der sehr rigiden Vorstellung, was ein

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geschlechtsadäquates Verhalten ausmacht: »Doing Gender« und »Doing Ethnicity« sind gewissermaßen »wechselseitig genutzte Ressourcen«.56 Die starke Betonung – oder übersteigerte Markierung – männlicher Dominanz bzw. männlicher Hegemonie wird in der deutschen Mehrheitskultur jedoch kaum akzeptiert, man kann von einer »in Bezug auf die in Deutschland üblichen Standards der Performanz hegemonialer Männlichkeit«57 marginalisierten türkischen Männlichkeit58 sprechen. Obwohl »die Deutschen« – wie etwa auch in Fatih Akıns »Kurz und schmerzlos« – in »Lola und Bilidikid« eine eher untergeordnete Rolle spielen und mit Ausnahme von Friedrich vor allem als bedrohliche Neonazis auftreten, ist ihr »schwules Coming-out-Modell« damit omnipräsent: Murat kann sich gegen die Traditionen und Männlichkeitsvorstellungen seiner Herkunftskultur schließlich mit einem Berliner »Coming-out« durchsetzen, das – und wir können es nur erahnen, da der Film an dieser Stelle endet – wohl zentrale Elemente jener von Bili so gefürchteten »deutschen Schwuchtel-Konzeption« aufnehmen wird. Wie in vielen späten Ausläufern des »New Queer Cinema« gegen Ende des 20. Jahrhunderts spielt die HIV/Aids-Thematik in »Lola und Bilidikid« nur am Rande eine Rolle, wenngleich sie sich schon allein durch Bilis Stricherdasein stets im assoziativen Wahrnehmungskontext des Films befindet. Sie kommt einmal kurz vor, als der Architekt Friedrich und Iskender auf einem zerstörten Modell von Berlin liegen. Dieses – so vermuten wir – wird FriedAbb. 3: Murat und sein ältester Bruder Osman

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rich gebaut haben, und nun fallen die beiden beim scherzhaften Liebesspiel darauf. Symbolisch wird damit auch die Aneignung des Berliner Stadtraums zum Ausdruck gebracht, die Lola und ihre Freund/inn/e(n) vornehmen. Exemplarisch, so Webber, nehmen die übergroßen queeren Körper den entscheidenden Stadtraum für sich ein. In einer eigenen, privaten Christopher Street Day Parade wird die Straße zurückgefordert.59 Während in einem Film wie Thomas Arslans »Dealer« (1998) der Stadtraum Berlin fast anonym und austauschbar wirkt, kommt der Inszenierung der Stadt in »Lola und Bilidikid« wichtige Bedeutung zu.60 Bereits in der Eröffnungssequenz sehen wir eine Nachtaufnahme der Siegessäule im Tiergarten, dem bekanntesten Berliner Cruising-Platz.61 Wir sehen Murat, der in der Dunkelheit durch den Park läuft und seine Erkundungen durch die schwule Welt Berlins beginnt. In weiterer Folge wird vor allem das »rebellische Kreuzberg« – mit seiner hohen Zahl von Bewohner/inne/n mit Migrationshintergrund – als jener Stadtteil gezeigt, der als »Nährboden« für Alternativentwürfe geradezu prädestiniert scheint. Hier – oder in den als Strichertreffpunkt bekannten öffentlichen Toiletten am nahe gelegenen Hermannplatz in Neukölln – können sich auch Figuren wie die »Transen«62 der Travestiegruppe der »Gastarbeiterinnen«, mit denen Lola auftritt, frei entfalten. Nach Seeßlen entspricht dies einem historisch neuen Trend der 1990er Jahre: Abb. 4: Die »Gastarbeiterinnen«

Quelle: K. Atamans »Lola und Bilidikid« (Deutschland 1998)

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»Die achtziger Jahre zeigten sich geradezu besessen vom Thema der Travestie. Beinahe jeder Anlass war willkommen, Männer in Frauenkleider oder Frauen in Männerkleider zu stecken. In der Regel erzählt das Genre von einem durch abenteuerliche und komische Umstände erzwungenen Geschlechtertausch, der zum guten Ende immer rückgängig gemacht wird. In den neunziger Jahren dagegen konnte man durchaus Geschichten um ›wirkliche‹ Transvestiten drehen, ohne einen allzu großen Tabubruch zu fürchten.« 63

Burns sieht bei Regisseuren wie Arslan, Akın oder Ataman mit ihrer Konzentration auf Figuren wie Drogendealer, Prostituierte oder Kleinkriminelle die Gefahr, populistische Stereotype des Fremden als anitsozialem Simulanten oder chronischem Kriminellem zu bestärken.64 Diese Gefahr sehe ich bei »Lola und Bilidikid« nicht, vielmehr bin ich der Meinung, dass diese Stereotype durch ihre ironisch verfremdete Darstellung als solche kenntlich gemacht und damit »umgeschrieben« werden. Das betrifft auch den Sprachgebrauch im Film, den man in Anlehnung an den »Undergroundliteraten« Feridun Zaimoğlu als »Kanak Sprak«,65 also eine Mischung aus Deutsch, Türkisch und Kurdisch, bezeichnen kann. Kiliçbay spricht in diesem Zusammenhang von einer »Queer Kanak Sprak« in dem Film: »Die Figuren in Lola wechseln nicht einfach von Deutsch zu Türkisch, sondern zu einem speziell schwulen Slang im Türkischen. Sie empfinden es als notwendig, in den Türkischen Slang zu wechseln, wenn es ums Fluchen geht, um Smalltalk beim Sex oder um etwas zu sagen, was im Deutschen nicht ausdrückbar wäre. Während Drag Queens zu queerem Slang switchen, benutzen Macho Hustlers, so auch Bili, einen heterosexuellen und ansatzweise homophoben Jargon.« 66

Durch diese »Sprachspiele« wird auch das Spiel mit Geschlechterordnungen deutlich, deren Konstruktionscharakter im Film explizit vorgeführt wird. Bilis Machismo wird als Maskerade dargestellt, die nicht nur die Performativität, sondern auch die Theatralität seiner Hypermännlichkeit akzentuiert.67 Osman stellt sich letzten Endes sogar als Lolas wahrer Mörder heraus, der seine eigenen homosexuellen Neigungen zu verbergen sucht. Somit werden in postmodern-ironischer Art68 schließlich allen drei Brüdern homosexuelle Neigungen zugeschrieben. Bilis im Showdown tödlich endender Kampf gegen die als vermeintliche Mörder Lolas angesehenen Neonazis erweist sich ebenfalls als sinnlos. So sind sowohl Osman als auch Bili zwar zunächst

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in ihrer unmittelbaren Bezugsgruppe als dominant dargestellt. Diese Dominanz wird aber zunehmend angegriffen und letzten Endes scheitern sie und die Männlichkeitsmodelle, für die sie stehen. Sehr deutlich tritt die performative Herstellung von Geschlecht69 auch bei Lola und den transsexuellen »Gastarbeiterinnen« zu Tage. Indem ihre Transsexualität als »natürlich ablaufendes Krisenexperiment« gezeigt wird, wird der Blick erneut auf das alltägliche »Doing Gender« gelenkt.70 Die Spannungen, die sich aus dieser Divergenz konkurrierender Männlichkeitsbilder und Rollenerwartungen ergeben, verleihen »Lola und Bilidikid« einen besonderen Reiz – der in der Türkei auch zu Todesdrohungen gegen den Regisseur geführt hat.71 Dies mag auch mit dem emanzipatorischen Schlussplädoyer des Films zusammenhängen: Murat und seine Mutter – neben Friedrichs Mutter eine der ganz wenigen Frauen in dem Film72 –, die ihr Kopftuch abstreift, lassen den heuchlerischen Patriarchen Osman stehen und gehen auf die Straße, womit sie sich in einer langen Totale ebenso öffentlichen Raum aneignen wie Lolas Travestie-Kolleginnen, die sich in der letzten Einstellung unweit der Siegessäule tummeln und dort eine wertvolle Brosche auflesen, die Friedrichs Mutter Iskender angeboten hatte, damit dieser Friedrich verlässt.73 Damit fahren sie Richtung Siegessäule. Der Film endet somit, wo er begonnen hat.

R EZEP TION Wie Kiliçbay betont, leistete »Lola und Bilidikid« für die junge und starken Anfeindungen ausgesetzte Schwulen-, Lesben- und Transgenderbewegung in der Türkei einen hohen symbolischen Beitrag zur Selbstvergewisserung und Formierung im politischen Kampf.74 Darüber hinaus wurde der in Berlin und Toronto preisgekrönte Film von der Kritik breit rezipiert, aber durchaus kontrovers aufgenommen. Während in angloamerikanischen Rezensionen sein »subversiver Charakter« durchweg gelobt wurde,75 fielen die Bewertungen in deutschen Medien und Fachzeitschriften sehr unterschiedlich aus. Neutral bis positiv äußerte sich Wilhelm Roth in »epd Film«, der den Film zwar in der ersten Hälfte »sehr unausgeglichen inszeniert« fand, ihn aber insbesondere in der zweiten Hälfte als gelungen und mit gut sitzenden Dialogpointen bewertete.76 Wenig Positives fand hingegen Rolf-Rüdiger Hamacher, der in seiner Rezension in »filmdienst« sogar meinte, Ataman würde in »der allzu distanzlosen Feier

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für eine ›Szene‹« diese letzten Endes sogar dadurch entwerten, dass er »die ›normale‹ Umwelt nur als Karikatur wahrnimmt«.77 In der Tagespresse würdigten die »Stuttgarter Zeitung« und die »Süddeutsche Zeitung« vor allem die stringent umgesetzte Thematik »Homosexualität und dritte Migrantengeneration«.78 Die »Frankfurter Rundschau« fand den Film – sicherlich nicht ganz zu Unrecht – etwas zu überladen, aber durchaus »sehenswert«.79 Im »Neuen Deutschland« hoffte Caroline Buck darauf, dass der emanzipatorische Charakter des Films, der von der »Welt« als »mutig«80 bezeichnet wurde, ein breites Publikum erreiche.81 Aufschlussreich ist auch, wie die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) auf den Film reagierte. Während etwa Tom Tykwer für »Lola rennt« eine Freigabe ab zwölf Jahren erhielt, wurde diese bei Ataman abgelehnt und in der Prüfsitzung des Arbeitsausschusses auf 16 Jahre hinaufgesetzt. Dies wurde einerseits durch hart in Szene gesetzte Gewalthandlungen begründet, andererseits würden der »bedrückende[n] Milieustudie«, so die Auffassung des Ausschusses, »positive Perspektiven fehlen«. Die »ausschließliche Fixierung der Handlung auf die (zudem klischeehafte) Schilderung des Homosexuellen-Milieus« könnte bei pubertierenden Jugendlichen »Schwierigkeiten der Einordnung dieser Milieubeschreibung auftreten« lassen und Vorurteile verstärken. Für Sechzehnjährige, so der Ausschuss schließlich, sei »das Anliegen des Films durchschaubar, so daß die Gefahr einer Überforderung oder sozialen Desorientierung« nicht mehr gegeben sei.82

F A ZIT Bei aller Unterschiedlichkeit der Bewertungen von »Lola und Bilidikid« in Deutschland lässt sich in ihnen nicht nur eine erhöhte Sensibilität gegenüber dem Thema Migration festmachen, deutlich wird auch eine durchweg positive – oder zumindest nicht mehr explizit negative – Grundhaltung gegenüber dem Phänomen Homosexualität. Sicherlich wurde Heterosexualität vielfach noch immer als »normsetzende Instanz« wahrgenommen, wie etwa Hamachers Reaktion auf den Film zeigt oder wie es auch in dem FSK-Entscheid deutlich wird. Dies trifft umso mehr auf die im Film dargestellten Formen von Transsexualität oder anderer nicht-heterosexueller Sexualitäten zu. Indem sie als »exotisch-schillerndes Randphänomen« wahrgenommen werden, kann ihr heteronormativitätskritischer Charakter

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ausgeblendet werden. Trotz allem kommt hier eine gesellschaftliche Entwicklung zum Ausdruck, in der sich in der deutschen Gesellschaft gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine jahrhundertealte Geschichte der Unterdrückung, Ausgrenzung und Verfolgung verändert zu haben scheint. Vor allem in den urbanen Zentren wie Berlin, in denen sich eine immer professionalisiertere schwule und lesbische Subkultur als sichtbarer Teil des (post)modernen Stadtbildes etablierte, zeichnete sich zunehmend die Tendenz ab, schwule und lesbische Lebensweisen als »normal« anzusehen und auf sie nicht mehr mit Abwehr und Abwertung, sondern eher mit einem Achselzucken zu reagieren: »Was soll‫ތ‬s?! Jede/r soll leben, wie er oder sie es will« – so der Tenor der 1990er Jahre. Dies schloss nicht zuletzt die intensiven Debatten um die so genannte »Homo-Ehe« ein, die in Deutschland mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz 2001 schließlich einen vorläufigen Abschluss fanden.83 Wie rasant dieser »Normalisierungsprozess« von Homosexualität verlief, zeigt sich auch daran, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erst etwas mehr als zehn Jahre zuvor, nämlich am 17. Mai 1990, Homosexualität von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen hatte. Am 31. Mai 1994 fiel dann mit dem 29. Strafrechtsänderungsgesetz auch der Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1872 in mehrfach veränderter Form jeweils bestimmte sexuelle Handlungen zwischen Personen des männlichen Geschlechts unter Strafe gestellt hatte.84 Einer der Proponenten der deutschen Schwulenbewegung, Werner Hinzpeter, verfolgte im Mai 1997 in einem Artikel im Hamburger »stern« unter dem Titel »Total normal« die Lebenssituation einiger schwuler Männer, die sich 1978 in einer aufsehenerregenden Titelgeschichte der Illustrierten geoutet hatten. Er fasst die zwanzigjährige gesellschaftliche Entwicklung, die sich darin spiegelt, positiv zusammen und schreibt: »Inzwischen ist Deutschland wieder zu einem der schwulenfreundlichsten Länder der Welt geworden.«85 Wie ich gezeigt habe, wäre die neue Sichtbarkeit homosexueller Identitätsentwürfe im Film nicht ohne eine Pluralisierung der Lebenswelten in globalisierten Gesellschaften und eine Krise des hegemonialen Männlichkeitsmodells möglich gewesen. Bei aller Relativierung hinsichtlich des differenzierten und teilweisen widersprüchlichen Spektrums von Männlichkeiten, das aus dem beschleunigten Transformationsprozess der Geschlechterordnung seit den 1970er Jahren entstanden ist, sind homosexuelle Männ-

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lichkeiten gleichzeitig als Akteure und »Kriegsgewinnler«86 dieses »Geschlechterkampfs« anzusehen. Dass gerade dominante, neoliberale »gay lifestyle-Konzeptionen« dabei neue Ausschlüsse – etwa von Migrant/inn/en – produzieren können, stellt sich vor diesem Hintergrund als große Herausforderung an theoretische Verortungen und daraus abzuleitende Praxisstrategien dar. Kutluğ Atamans »Lola und Bilidikid« zeigt nicht zuletzt, welche Bedeutung filmischen »GegenEntwürfen« von Männlichkeit in diesem Prozess zukommen kann. Er macht alternative Konzepte sichtbar und verweist gleichzeitig auf die Brüche, die biographie- und kontextbedingt – etwa durch Homooder Transsexualität – »zwischen gesellschaftlicher und personaler sowie kollektiver und individueller Ebene des Geschlechterverhältnisses auftreten können«. Der Film zeigt damit die Konstruiertheit von hegemonialer Männlichkeit als »kollektivem Muster« auf,87 und entwirft in ironisch-spielerischer Weise neue Modelle, ohne jedoch die Macht der alten Gewaltverhältnisse aus dem Blick zu verlieren.88 »Lola und Bilidikid« demonstriert, dass binäre Gegensätze wie männlich und weiblich oder deutsch und türkisch kulturelle Konstruktionen und damit veränderbar sind.89 In einer größeren Perspektive verweist der Film auf eine Pluralisierung von Männlichkeitsentwürfen im ausgehenden 20. Jahrhundert, die ein historisches Novum ist. Welche Möglichkeiten sich daraus im 21. Jahrhundert ergeben, bleibt Spekulation. Dass dem Medium Film weiterhin die wichtige Aufgabe zukommen wird, Material für die Ausgestaltung von alternativ-emanzipatorischen Identitätskonzepten zur Verfügung zu stellen, kann jedoch bereits jetzt gesagt werden.

A NMERKUNGEN 1 | Vgl. Katja Nicodemus: »Film der neunziger Jahre. Neues Sein und altes Bewußtsein«, in: Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler (Hg.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2004, S. 319–356, hier S. 336. 2 | Vgl. Jens Eder: »Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er Jahre«, in: Jens Eder (Hg.), Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, Münster u. a.: Lit-Verlag 2002, S. 9–39, hier S. 23; Sabine Hake: Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1896, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2004, hier S. 336.

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3 | Weitere prominente Beispiele für diese Generation sind Sebastian Schipper, dessen Debut »Absolute Giganten« (1999) viel Beachtung fand, oder Wolfgang Becker, der mit »Good bye, Lenin!« (2001) über 6,6 Millionen Kinobesucher/innen anzog. 4 | Vgl. K. Nicodemus: »Film der neunziger Jahre, S. 326. 5 | Vgl. Eric Rentschler: »From New German Cinema to the Post Wall Cinema of Consensus«, in: Mette Hjort/Scott MacKenzie (Hg.), Cinema and Nation, London, New York: Routledge 2000, S. 260–277. 6 | Angabe der SPIO – Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft. Schriftliche Mitteilung an den Verfasser vom 19.9.2008. 7 | Andrew Webber: »Berlin is Running: Olympic Memories and Queer Performances«, in: Robin Griffiths (Hg.), Queer Cinema in Europe, Bristol, Chicago: intellect 2008, S. 195–206, hier S. 196. 8 | Vgl. ebd. 9 | Ebd. 10 | Vgl. zur Einbeziehung von Kriterien wie Klasse, »Rasse« (race), Sexualität, Alter oder etwa Ethnie in die Analyse von Geschlechterkonstruktionen beispielsweise: Alexander Ihrcke: Krise der Männlichkeit? Männlichkeit aus dem Blickwinkel des studentischen Milieus, Saarbrücken: Verlag Dr. Müller 2007. 11 | Siegfried Kaltenecker: »Von bewegten Männern in bewegten Bildern. Heterosexuelle Männlichkeiten im Kino«, in: http://www.europrofem.org/ contri/2_02_de/de-imag/01de_ima.htm vom 20. Mai 2010. 12 | Vgl. zu den hier behandelten Fragen ausführlicher meine Dissertation: Christopher Treiblmayr: Bewegte Männer. Männlichkeit und männliche Homosexualität im deutschen Kino der 1990er Jahre, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011. Für die kritische Lektüre dieses Aufsatzes danke ich Manfred Mugrauer, Peter Stadlbauer und Thomas Tretzmüller. Die im Folgenden verwendeten Übersetzungen englischer Zitate sind gemeinsam mit Urs Riegl entstanden, wofür ich ihr zu Dank verpflichtet bin. 13 | Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 98. Infolge einer Geschlechtsanpassung erscheinen neuere Arbeiten Connells unter dem weiblichen Vornamen Raewyn. 14 | Vgl. John Tosh: »Hegemonic Masculinity and the History of Gender«, in: Stefan Dudnik/Karen Hagemann/John Tosh (Hg.), Masculinities in Politics and War. Gendering Modern History, Manchester: Manchester University Press 2004, S. 41–58, hier S. 47 f. 15 | Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450– 2000), Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2003, S. 153. Zur Bedeutung des Mi-

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litärs als »Schule der Männlichkeit« vgl. etwa: Ute Frevert: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München: C. H. Beck 2001. 16 | W. Schmale: Geschichte der Männlichkeit, S. 154. 17 | Vgl. Thomas Kühne: »Rezension zu: Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien 2003«, in: H-Soz-u-Kult, 17.2.2004, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-093 vom 20. Mai 2010. 18 | R. W. Connell: Der gemachte Mann, S. 99 f. 19 | Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. Foucaults Thesen sind in ihren Grundzügen bis heute nicht widerlegt. Zu zeitlichen und geographischen Relativierungen siehe etwa: Angela Taeger: Intime Machtverhältnisse. Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien Régime, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 1999; Bernd Ulrich Hergemöller: »Das Mittelalter«, in: Robert Aldrich (Hg.), Gleich und anders. Eine globale Geschichte der Homosexualität, Hamburg: Murmann Verlag 2007, S. 57–78. 20 | Jaques LeRider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien: Deuticke 1990. Verwiesen sei diesbezüglich auch auf die Ergebnisse der Forschungen von Christa Hämmerle, die für die Habsburgermonarchie von 1868 bis 1914/18 zeigen konnte, dass in der österreichisch-ungarischen Monarchie mehrere Männlichkeitsentwürfe um Hegemonie konkurrierten und erst in der Gesellschaft des Ersten Weltkrieges eine spezifische Form von Männlichkeit mit staatlicher Macht und Gewalt durchgesetzt werden konnte. Christa Hämmerle: »Zur Relevanz des Connell‫ތ‬schen Konzepts hegemonialer Männlichkeit für Militär und Männlichkeit/en in der Habsburgermonarchie (1868–1914)«, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt/Main, New York: Campus 2005, S. 103–121. 21 | W. Schmale: Geschichte der Männlichkeit, S. 232. Zum komplexen Verhältnis zwischen konkurrierenden Männlichkeitsvorstellungen, männerbündischen Strukturen und männlicher Homosexualität in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere im Nationalsozialismus vgl. weiterführend: Susanne zur Nieden (Hg.): Homosexualität und Staatsräson: Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900– 1945, Frankfurt/Main, New York: Campus 2005. 22 | Vgl. T. Kühne, »Rezension zu Schmale«. 23 | W. Schmale: Geschichte der Männlichkeit, S. 238 f. 24 | Ebd., S. 238.

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25 | Vgl. Martin Dinges: »›Hegemoniale Männlichkeit‹ – Ein Konzept auf dem Prüfstand«, in: Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper (2005), S. 7–33, hier S. 21. 26 | Vgl. Jutta Jacob/Heino Stöver (Hg.), Sucht und Männlichkeiten. Entwicklungen in Theorie und Praxis der Suchtarbeit, Wiesbaden: VS-Verlag 2006. 27 | Zweifelsfrei ist im Kontext dieser Diskussionen auch die Gefahr einer »›Resouveränisierung‹ durch die Rede von der Krise« im Auge zu behalten, wie etwa Forster kritisch angemerkt hat. Edgar Forster: »Männliche Resouveränisierungen«, in: Feministische Studien 2 (2006), S. 193–207. 28 | Vgl. etwa: Eva-Maria Silies: Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationenerfahrung in der Bundesrepublik Deutschland 1960–1980, Göttingen: Wallstein 2010. 29 | Vgl. etwa: Michael Meuser: Männerwelten. Zur kollektiven Konstruktion hegemonialer Männlichkeit. Vortrag auf der 1. Tagung AIM Gender 1.– 3.2.2001, veröffentlicht unter: http://www.ruendal.de/aim/pdfs/Meuser. pdf vom 20. Mai 2010. 30 | Lothar Böhnisch: Die Entgrenzung der Männlichkeit. Verstörungen und Formierungen des Mannseins im gesellschaftlichen Übergang, Opladen: Leske & Budrich 2003, S. 65. 31 | Vgl. Lüder Tietz: »Schwule Sexualität und die Sehnsucht nach Erfüllung: Zwischen (Selbst-)Normalisierung und Transgression«, in: Lüder Tietz/Volker Weiss, Normierung und Diskriminierung. Grundkurs Homosexualität und Gesellschaft II, Göttingen: Edition Waldschlösschen 2003, S. 59–98, hier S. 67. 32 | Volker Woltersdorff: Coming out. Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung, Frankfurt/Main, New York: Campus 2005, S. 88 f. 33 | Ebd., S. 58. 34 | Antke Engel: »Gefeierte Vielfalt. Umstrittene Heterogenität. Befriedete Provokation. Sexuelle Lebensformen in spätmodernen Gesellschaften«, in: Rainer Bartel u. a. (Hg.), Heteronormativität und Homosexualitäten, Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2008, S. 43–63, hier S. 50. 35 | Marc Ferro: »Der Film als ›Gegenanalyse‹ der Gesellschaft«, in: Claudia Honegger (Hg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 247–271. 36 | Ruby Rich: »New Queer Cinema«, in: Sight and Sound 5 (1992), S. 30–34. 37 | Michele Aaron: »New Queer Cinema: An Introduction«, in: Michele Aaron (Hg.), New Queer Cinema. A Critical Reader, Edinburgh: Edinburgh Uni-

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versity Press 2004, S. 3–14, hier S. 5. Im Original: »the non-fixity of gender expression and the non-fixity of both straight and gay sexuality«. 38 | Vgl. Richard Dyer: The Culture of Queers, London, New York: Routledge 2002, S. 4. 39 | Vgl. Ruby Rich: »Queer and present danger«, in: Sight and Sound 3 (2000), S. 22–25. 40 | Vgl. V. Woltersdorff: Coming out, S. 62. 41 | Deniz Göktürk: »Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?«, in: Carmine Chiellino (Hg.), Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 329–347, hier S. 330. 42 | Ebd., S. 331 f. 43 | Lawrence Ferber: »Young Turks, Old Ways«, in: The Advocate vom 12.2.1999. 1997 war mit Ferzan Özpeteks »Hamam – Das türkische Bad« (Italien/Türkei/Spanien 1999) bereits ein Film erschienen, der männliche Homosexualität in der Türkei – allerdings sehr vorsichtig – nicht mehr ausschließlich negativ thematisierte. 1999 schließlich folgte neben »Lola und Bilidikid« mit A. Polats deutschem Fernsehfilm »Auslandstournee« die dritte filmische Beschäftigung mit der in der Türkei gesellschaftlich höchst sensiblen Thematik Homosexualität. Dieser Film schildert die Reise eines schwulen türkischen Nachtclubsängers nach Hamburg. 44 | Die Originalfassung des Films ist englisch, für den deutschsprachigen Raum wurde eine Synchronfassung mit Untertiteln für die teilweise türkischen Dialoge hergestellt. Vgl. Pressemappe zu »Lola und Bilidikid«, Schriftgutarchiv Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen Berlin. 45 | Georg Seeßlen: »Métissage: Bilder-Bewegung zwischen den Kulturen. Das türkisch-deutsche Kino der Dritten Generation«, in: Getürkt – Young Turks. Heimatfilme aus Deutschland. »Heimatfilms from Germany«. Goethe Institut Inter Nationes, o. O., o. J., S. 5–9, hier S. 7 f. 46 | Vgl. Getürkt – Young Turks, S. 19. 47 | Eine differenzierte Abhandlung der Themen »Parallelgesellschaften« und »Leitkultur«, die für »eine kluge Politik der Differenz« und den offenen Austausch und die kommunikative Einbindung aller beteiligten Gruppierungen plädiert, bietet: Werner Schiffauer: Parallelgesellschaften. Wie viel Werte konsens braucht die Gesellschaft?, Bielefeld: transcript 2008. 48 | Ralph Ghadban: »Gescheiterte Integration? Antihomosexuelle Einstellungen türkei- und arabischstämmiger MigrantInnen in Deutschland«, in: LSVD Berlin-Brandenburg e. V. (Hg.), Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin: Querverlag 2004, S. 217–225, hier S. 222 f.

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49 | Pierre Bourdieu: »Männliche Herrschaft revisited«, in: Feministische Studien 2 (1997), S. 88–99, hier S. 95. 50 | R. Ghadban: »Gescheiterte Integration?«, S. 223 f. 51 | María do Mar Castro Varela: »Migration, Begehren und Gewalt. Anmerkungen zu Rassismus und Homophobie«, in: Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (Hg.), Homophobie in der Einwanderungsgesellschaft. Dokumente lesbisch-schwuler Emanzipation 24, Berlin 2009, S. 13–25, hier S. 25 (Hervorhebung im Original). 52 | Vgl. Katharina Hamann: »In diesem Kampf gibt es keinen Platz für Rassismus«. Interview mit Judith Butler, in: Jungle World vom 29. Juli 2010, abrufbar unter: http://jungle-world.com/artikel/2010/30/41420.html vom 9. November 2010. 53 | Diesen Zusammenhang streichen auch Fink und Werner aus sozialpädagogischer Sicht heraus: »In der Regel werden nur bestimmte Verhaltensweisen (›tuntiges‹ Auftreten) oder Sexualpraktiken (passiver Analverkehr) mit homosexuellen Praktiken gleichgesetzt. Türkische Stricher üben zum Beispiel keine homosexuellen Sexualpraktiken aus, wenn sie aktiven Analverkehr bei einem Mann ausüben.« Karin Fink/Wolfgang B. Werner: Stricher. Ein sozialpädagogisches Handbuch zur mann-männlichen Prostitution, Lengerich u. a.: Pabst Science Publishers 2005, S. 72. 54 | Vgl. dazu: Michael Meuser/Sylka Scholz: »Hegemoniale Männlichkeit. Versuch einer Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive«, in: Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper (2005), S. 211–228, insbes. S. 219 f. 55 | Ralf Bohnsack: »Der Habitus der ›Ehre des Mannes‹. Geschlechtsspezifische Erfahrungsräume bei Jugendlichen türkischer Herkunft«, in: Peter Döge/Michael Meuser (Hg.), Männlichkeit und soziale Ordnung, Opladen: Leske und Budrich 2001, S. 49–71, hier S. 57. Zu gegenläufigen Tendenzen in der Entwicklung dieser Werte- und Deutungsmuster, die die Annahme geschlossener kultureller Welten relativieren, vgl. W. Schiffauer: Parallelgesellschaften, S. 40 f. 56 | M. Meuser/S. Scholz: »Hegemoniale Männlichkeit«, S. 220. 57 | Ebd. 58 | Den Terminus »marginalisiert« verwendet auch Connell. Er versteht darunter Männlichkeiten »untergeordneter Klassen oder ethnischer Gruppen«. Als Beispiel führt er an, dass etwa in einem weiß dominierten Kontext schwarze Männlichkeiten hohe symbolische Bedeutung bei der Konstruktion des sozialen Geschlechts von Weißen haben. R. W. Connell: Der gemachte Mann, S. 101 f. 59 | A. Webber: »Berlin is Running«, S. 203.

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60 | Vgl. Rob Burns: »Turkish-German Cinema: from Cultural Resistance to Transnational Cinema?«, in: David Clarke (Hg.), German Cinema Since Unification, London, New York: Continuum 2006, S. 127–149, hier S. 141. 61 | Ein zeitgenössischer Reiseführer nennt hier vor allem den Bereich des Tiergartens an der Siegessäule zwischen Hofjägerallee und Straße des 17. Juni als beliebten Cruising-Ort. Michael Schulze (Hg.), Homopolis. Das schwule Berlin. Mit großem schwul-lesbischem Serviceteil, Berlin, Köln: Jackwerth Verlag 1997, Serviceteil, S. 196. 62 | Dieser Begriff für Transgender-Menschen wird verwendet, um Pathologisierungen durch medizinische Klassifizierungen zu vermeiden. Clark sieht »transness« auch als das zentrale Phänomen, mit dem in »Lola und Bilidikid« Fantasien von kultureller Hegemonie und sexueller Identität unterlaufen werden. Christopher Clark: »Transculturation, Transe Sexuality, and Turkish Germany: Kutlug Atamans Lola und Bilidikid«, in: German Life and Letters 4 (2006), S. 556–572. 63 | Georg Seeßlen: Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg: Schüren 1996, S. 218. 64 | R. Burns: »Turkish-German Cinema«, S. 142. 65 | Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak: 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Hamburg: Rotbuch 1995. 66 | B. Kiliçbay: »Queer as Turk: A Journey to Three Queer Melodramas«, in: Griffiths (Hg.), Queer Cinema (2008), S. 117–128, hier S. 122. Im Original: »The characters in Lola do not simply switch between German and Turkish, but to a peculiar Turkish queer slang. They feel the need to switch to Turkish slang to curse, to small talk in a sexual context, or to say something German language would be unable to express. While drag queens switch to queer slang, macho hustlers, including Bili, employ a heterosexual and slightly homophobic male slang« (Hervorhebung im Original). 67 | Vgl. Claudia Breger: »Roman- und Filmanalysen aus der Perspektive angloamerikanischer Männlichkeitsforschung«, in: Annette Jael Lehmann (Hg.), Un/Sichtbarkeiten der Differenz. Beiträge zur Genderdebatte in den Künsten, Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 119–143, hier S. 139. 68 | Vgl. zur Auseinandersetzung mit postmodernen Ironie-Begriffen etwa: Claire Colebrook: Irony, London, New York: Routledge 2004, S. 153–176. 69 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. 70 | A. Ihrcke: Krise der Männlichkeit, S. 27. Wie Ataman in einem Interview sagte, nahm er sich für ihre Darstellung sowohl Anleihen in Berlin – wo er zwei Jahre zur Vorbereitung des Films verbrachte – als auch in Istanbul. Vor allem in Istanbul, so Ataman, seien die Transvestiten, die anschaffen gehen

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wollen, meist gar keine Transvestiten, sondern müssten zum Crossdressing greifen, weil sich ein Mann sonst nicht prostituierten könne. Gudrun Holz: »›Diese Parallele zur Homophobie‹. Eine Art Oper und Charaktere, die über ihre Grenzen gehen. Der türkische Filmemacher Kutlug Ataman über ›Lola & Bilidikid‹«, in: die tageszeitung/taz vom 11.2.1999. 71 | Vgl. Paul Julian Smith: »Lola + Bilidikid«, in: Sight and Sound 8 (2000), S. 53–54, hier S. 54. 72 | Wie Yekani bemerkt hat, ist »Weiblichkeit« in dem Film vor allem an biologisch männliche Körper wie bei den »Transen« oder »asexualisierte Mutterfiguren« geknüpft. Ein »eigenständiges Begehren nach und von Transweiblichkeit« sieht sie in dem Film daher nicht realisiert. Haschemi Elahe Yekani: »Transgender-Begehren im Blick. Männliche Weiblichkeiten als Spektakel im Film«, in: Robin Bauer/Josch Hoenes/Volker Woltersdorff (Hg.), Unbeschreiblich männlich. Heteronormativitätskritische Perspektiven, Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag 2007, S. 264–278, hier S. 273. 73 | Vgl. D. Göktürk: »Migration und Kino«, S. 340; vgl. auch: C. Breger, »Roman- und Filmanalysen«, S. 140. 74 | B. Kiliçbay, »Queer as Turk«, S. 120. 75 | So sieht Smith diesen trotz der konventionellen Erzählform durchaus gegeben: »Mainstream narrative and characterization make the film all more subversive, because challenging content is presented in an accessible form.« P. Smith: »Lola + Bilidikid«, S. 54. Positiv urteilte auch »Variety«, obwohl Eddie Cockrell den Film »somewhat overheated« fand. Eddie Cockrell: »Lola + Bilidikid«, in: Variety, 22.–28.3.1999. 76 | Wilhelm Roth: »Lola und Bilidikid«, in: epd Film 3 (1999), S. 46. 77 | Rolf-Rüdiger Hamacher: »Lola und Bilidikid«, in: film-dienst 4 (1999), S. 16. 78 | »Lola rennt nicht, sie tanzt als Transvestit«, in: Stuttgarter Zeitung vom 11.3.1999; Anke Sterneborg: »Der Wankelmut der Geschlechter. Zwischen Tradition und Moderne: ›Lola und Bilidikid‹ von Kutlug Ataman«, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.3.1999. 79 | Daniela Sannwald: »Kreuzberger Nächte. ›Lola und Bilidikid‹, ein Film von Kutlug Ataman«, in: Frankfurter Rundschau vom 10.3.1999. 80 | »Film Premieren: Lola und Bilidikid«, in: Die Welt vom 11.3.1999. 81 | Caroline M. Buck: »Max, der einst Anita war. Lola & Bilidikid von Kutlug Ataman/Gendernauts und Die Jungfrauenmaschine von Monika Treut«, in: Neues Deutschland vom 11.3.1999. 82 | Arbeitsausschuss der FSK: Jugendentscheid. Prüfsitzung vom 8.1.1999, Prüf-Nr. 81335–K. Für die Überlassung des Entscheids bin ich der FSK zu Dank verpflichtet.

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83 | Constance Ohms: »Die Sehnsucht der Lesben und Schwulen nach Normalität«, in: Ilona Bubeck (Hg.), Unser Stück vom Kuchen? Zehn Positionen gegen die Homo-Ehe, Berlin: Querverlag 2000, S. 3–41, hier S. 23 f. 84 | Vgl. Christian Schulz: Paragraph 175 (abgewickelt). Homosexualität und Strafrecht im Nachkriegsdeutschland – Rechtssprechung, juristische Diskussionen und Reformen seit 1945. Mit einem Beitrag von Michael Sartorius: Wider Gutmachung. Die versäumte Entschädigung der schwulen Opfer des Nationalsozialismus, Hamburg: MännerschwarmSkript Wissenschaft 1994. 85 | Werner Hinzpeter: »Total normal«, in: stern 21 (1997). 86 | Michael Bochow: »Hat AIDS die Situation schwuler Männer verändert?«, in: Detlev Grumbach (Hg.), Was heißt hier schwul? Politik und Identitäten im Wandel, Hamburg: MännerschwarmSkript 1997, S. 139–149, hier S. 146. 87 | Holger Brandes: »Hegemoniale Männlichkeit und männlicher Habitus. Thesen zu Connell und Bourdieu. Diskussionspapier zur 3. AIM-Gender-Tagung 2004«, S. 4, in: http://www.ruendal.de/aim/tagung04/pdfs/holger_ brandes.pdf vom 20. Mai 2010. 88 | Vgl. C. Breger: »Roman- und Filmanalysen«, S. 131. 89 | Vgl. D. Göktürk: Migration und Kino, S. 331.

Z ITIERTE F ILME »Angst essen Seele auf«, Regie: Rainer Werner Fassbinder, Deutschland 1973. »Auslandstournee«, Regie: Ayşe Polat, Deutschland 1999. »Dealer«, Regie: Thomas Arslan, Deutschland 1999. »Der Bewegte Mann«, Regie: Sönke Wortmann, Deutschland 1994. »Der blaue Engel«, Regie: Josef von Sternberg, Deutschland 1930. »Gegen die Wand«, Regie: Fatih Akın, Deutschland/Türkei 2004. »Hamam – Das türkische Bad«, Regie: Ferzan Özpetek, Italien/Türkei/Spanien 1999. »Im Juli«, Regie: Fatih Akın, Deutschland 2000. »Karanlik Sular«, Regie: Kutluğ Ataman, Türkei 1994. »Katzelmacher«, Regie: Rainer Werner Fassbinder, Deutschland 1969. »Kurz und schmerzlos«, Regie: Fatih Akın, Deutschland 1998. »Kutluğ Ataman‫ތ‬s Semiha B. Unplugged«, Regie: Kutluğ Ataman, 1997 (Videoarbeit). »La Fuga«, Regie: Kutluğ Ataman, 1988 (Abschlussfilm).

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»Lola«, Regie: Rainer Werner Fassbinder, Deutschland 1981. »Lola rennt«, Regie: Tom Tykwer, Deutschland 1998. »Lola und Bilidikid«, Regie: Kutluğ Ataman, Deutschland 1998. »Memleketimi Seviyorum«, Regie: Kutluğ Ataman, 1995 (Videoarbeit). »Spikes and Heels«, Regie: Kutluğ Ataman, USA 1994.

L ITER ATUR Aaron, Michele: »New Queer Cinema: An Introduction«, in: Michele Aaron (Hg.), New Queer Cinema. A Critical Reader, Edinburgh: Edinburgh University Press 2004, S. 3–14. Arbeitsausschuss der FSK: Jugendentscheid. Prüfsitzung vom 8.1.1999, Prüf-Nr. 81335–K. Bochow, Michael: »Hat AIDS die Situation schwuler Männer verändert?«, in: Detlev Grumbach (Hg.), Was heißt hier schwul? Politik und Identitäten im Wandel, Hamburg: MännerschwarmSkript 1997, S. 139–149. Bohnsack, Ralf: »Der Habitus der ›Ehre des Mannes‹. Geschlechtsspezifische Erfahrungsräume bei Jugendlichen türkischer Herkunft«, in: Peter Döge/Michael Meuser (Hg.), Männlichkeit und soziale Ordnung, Opladen: Leske und Budrich 2001, S. 49–71. Bourdieu, Pierre: »Männliche Herrschaft revisited«, in: Feministische Studien 2 (1997), S. 88–99. Böhnisch, Lothar: Die Entgrenzung der Männlichkeit. Verstörungen und Formierungen des Mannseins im gesellschaftlichen Übergang, Opladen: Leske & Budrich 2003. Breger, Claudia: »Roman- und Filmanalysen aus der Perspektive angloamerikanischer Männlichkeitsforschung«, in: Annette Jael Lehmann (Hg.), Un/Sichtbarkeiten der Differenz. Beiträge zur Genderdebatte in den Künsten, Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 119–143. Buck, Caroline M.: »Max, der einst Anita war. Lola & Bilidikid von Kutlug Ataman/Gendernauts und Die Jungfrauenmaschine von Monika Treut«, in: Neues Deutschland vom 11.3.1999. Burns, Rob: »Turkish-German Cinema: from Cultural Resistance to Transnational Cinema?«, in: David Clarke (Hg.), German Cinema Since Unification, London, New York: Continuum 2006, S. 127– 149. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991.

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Clark, Christopher: »Transculturation, Transe Sexuality, and Turkish Germany: Kutlug Atamans Lola und Bilidikid«, in: German Life and Letters 4 (2006), S. 556–572. Cockrell, Eddie: »Lola + Bilidikid«, in: Variety, 22.–28. März 1999. Colebrook, Claire: Irony, London, New York: Routledge 2004. Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen: Leske + Budrich 2000. Dinges, Martin: »Hegemoniale Männlichkeit« – Ein Konzept auf dem Prüfstand, in: Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper (2005), S. 7–33. Dinges, Martin (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt/Main, New York: Campus 2005. Dyer, Richard: The Culture of Queers, London, New York: Routledge 2002. Eder, Jens: »Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er Jahre«, in: Jens Eder (Hg.), Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, Münster u. a.: LitVerlag 2002, S. 9–39. Engel, Antke: »Gefeierte Vielfalt. Umstrittene Heterogenität. Befriedete Provokation. Sexuelle Lebensformen in spätmodernen Gesellschaften«, in: Rainer Bartel u. a. (Hg.), Heteronormativität und Homosexualitäten, Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2008, S. 43–63. Ferber, Lawrence: »Young Turks, Old Ways«, in: The Advocate vom 12.2.1999. Ferro, Marc: »Der Film als ›Gegenanalyse‹ der Gesellschaft«, in: Claudia Honegger (Hg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 247–271. »Film Premieren: Lola und Bilidikid«, in: Die Welt vom 11.3.1999. Fink, Karin/Werner, Wolfgang B.: Stricher. Ein sozialpädagogisches Handbuch zur mann-männlichen Prostitution, Lengerich u. a.: Pabst Science Publishers 2005. Forster, Edgar: »Männliche Resouveränisierungen«, in: Feministische Studien 2 (2006), S. 193–207. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. Frevert, Ute: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München: C. H. Beck 2001.

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Grenzverschiebungen

Iranisches Kino im Exil: auf der Suche nach Identität Eine Bestandsaufnahme Hamid Hosravi

A BSTR ACT Im Artikel werden Tendenzen und Themen des exil-iranischen Kinos nachgezeichnet. Nach Klärung der politischen, historischen und gesellschaftlichen Implikationen von Migration und dem Leben im Exil werden Meilensteine der exil-iranischen Filmgeschichte vorgestellt und im Hinblick auf die aufgegriffenen Themen analysiert. Diese Themen reichen von individueller und kollektiver Vergangenheitsbewältigung über Darstellung politischer Themen mit Vermittlung einer Botschaft bis zu Generationen- und Geschlechterkonflikten.

E INLEITUNG Seit den 1990er Jahren hat der iranische Film zunehmend Aufmerksamkeit erhalten und wurde auf Festivals wiederholt mit Preisen überhäuft. Dabei wurden nicht nur Filme von in Iran lebenden Filmemachern1 gezeigt, sondern auch solche von Exil-Iranern. Letztere sind von besonderem Interesse, da sich an ihnen Tendenzen zur Entwicklung des Lebens der Exilanten von der Flucht über das Ankommen bis zur Suche nach Identität feststellen lassen. Der Film ist dabei die Artikulation der Stimme der im Exil lebenden Iraner. Die Geschichte des exil-iranischen Films ist stets mit den Ereignissen in

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Iran verwoben und kann nicht getrennt vom Geschehen im Heimatland der Migranten betrachtet werden. Die Wirkungskraft des iranischen Exilkinos wird durch die Zahl von Filmfestivals deutlich: 2010 wurde in Berlin das Filmfestival »Ein Blick in die Freiheit – Widerstand durch iranisches Kino im Exil« durchgeführt. Ghazaleh Nassibi, eine der Organisatorinnen des Festivals, macht deutlich, wie viele unterschiedliche Themen die gezeigten Filme umfassen und dass besonders Aspekte thematisiert werden, die bei Filmen auf anderen Festivals ausgeblendet werden.2 2009 fand in Göteborg das »9th International Exile Film Festival« statt, bei dem zahlreiche iranische Exilfilme vorgeführt wurden.3 In Paris findet 2011 bereits das »9ième Festival international du cinéma iranien en exil« statt.4 Filme von in Iran lebenden Regisseuren werden einerseits häufig vom iranischen Regime für seine politischen Ziele benutzt, andererseits handelt es sich bei international gezeigten Filmen nicht selten um »Festivalfilme«, ein Genre, das sich in der iranischen Kinowelt etabliert hat, von Iranern selbst jedoch kaum beachtet wird oder in Iran nicht gezeigt werden kann.5 Diese »Festivalfilme« scheinen spezifisch für ein westliches Publikum produziert zu werden. Sie bieten häufig eine Art Folklore oder allegorische und poetische orientalische Bilder vor romantischen Dorfkulissen, bei denen Konflikte und aktuelle Probleme nur implizit angedeutet werden – nicht zuletzt, um der iranischen Zensurbehörde zu entgehen.6 Dessen ungeachtet können Regisseure mit ihren gesellschaftskritischen Filmen der iranischen Filmlandschaft neue Impulse geben, indem sie kreativ die Zensurbehörde umgehen und zu Recht auf internationalen Filmfestivals ausgezeichnet werden. Besonders in letzter Zeit mussten einige iranische Regisseure nach Drohungen oder Haftstrafen das Land verlassen. Das Schicksal des bekannten Regisseurs Jafar Panahi ist exemplarisch für das Vorgehen des Regimes gegen die Kulturschaffenden: Panahi wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, und ihm wurde von den Gerichten für die nächsten 20 Jahre untersagt, Drehbücher zu schreiben, Filme zu drehen oder Interviews zu geben.7 In den Filmen von Exiliranern können hingegen kritische Themen aufgegriffen werden. Trotz der großen Bandbreite an Inhalten und Themen, die die Filme behandeln, lassen sich anhand der Filme Übergangsphasen im Exil nachzeichnen. Im Folgenden werden allgemeine Überlegungen zu Exil, dem Leben im Exil und seinen Über-

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gangsphasen angestellt. Zum Verständnis dieses Themenkomplexes ist die Kenntnis der geschichtlichen Hintergründe und Zusammenhänge unerlässlich. Schlaglichtartig sollen Filme von Exil-Iranern herausgegriffen werden, um zu verdeutlichen, welche Themen und Fragen für die unterschiedlichen Phasen wichtig und typisch sind.

I SL AMISCHE R E VOLUTION , M IGR ATION UND K INO Die aktuellen Ereignisse in Iran verdeutlichen die gesellschaftlichen Herausforderungen, denen das Land ausgesetzt ist. Die Situation Irans 32 Jahre nach der Islamischen Revolution zeigt, dass das herrschende System Irans seine politischen und gesellschaftlichen Versprechen nicht eingelöst hat und die Kluft zwischen den Machthabern und der Bevölkerung größer ist denn je. Die Massenproteste und Demonstrationen nach der Präsidentschaftswahl 2009 in Iran sind ein Beweis dafür, dass das System ohne grundlegende Änderung nicht überlebensfähig ist: Entweder muss das Regime der Forderung des Volkes nach mehr Mitbestimmung nachgeben oder sich zu einer Militärdiktatur religiöser Prägung wandeln. Die politische Entwicklung und zunehmende Militarisierung zwei Jahre nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl zeigen eine Tendenz zu Letzterem. Schon nach der Islamischen Revolution von 1979 kam es in der Folge des politischen Umsturzes zu einer Emigrationswelle. Die ersten Emigranten der Islamischen Republik leben nun in der zweiten Generation in ihren Zielländern. Ihre aktive Teilnahme an jüngst stattgefundenen Solidaritätsveranstaltungen mit der iranischen Bevölkerung zeigt ihre Verbundenheit mit der Heimat und ihr fortdauerndes Engagement und Interesse für gesellschaftliche Veränderung in Iran, was sich auch in den Filmen äußert.8 Der Austausch der Exil-Iraner mit den Protestierenden in Iran über unterschiedlichste Kanäle, nicht zuletzt über das Medium Internet, war letztlich nur eine Fortführung der kontinuierlichen Kontakte zwischen beiden Gruppen: Dazu gehören beispielsweise politische Schriften, Filme, Essais oder auch Theaterstücke.

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Geschichtliche Hintergründe Gesellschaftskritische Fragen und ein neues Interesse an kultureller Identität wurden in Iran Anfang des 19. Jahrhundert durch die Konfrontation mit Europa zum Thema. Das autoritäre politische System versuchte vergeblich, den Modernisierungstendenzen, hervorgerufen durch die Verflechtung Irans mit den expandierenden Interessen Europas und vertreten durch Segmente der iranischen Bürokratie, Aristokratie und die städtische Elite, entgegenzutreten. Diese anfängliche Reformbewegung mündete in die konstitutionelle Bewegung, welche 1906 mit der Errichtung eines Parlaments und der Verabschiedung eines Grundgesetzes ihren Höhepunkt fand. Die konstitutionelle Bewegung, die Einschränkung der despotischen Herrschaftsmacht, und der Einfluss europäischer Ideen in Iran haben zu einer schrittweisen Veränderung der iranischen Weltanschauung und des iranischen Identitätsbewusstseins geführt.9 Die Machtergreifung Reza Shahs und die Gründung der PahlaviDynastie (1925–1979) markieren den Beginn eines modernistischen Staatsverständnisses, das zunehmend autoritär wurde. Im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts nahmen die Bestrebungen einer religiösen und kulturellen Emanzipation von islamischen Wertvorstellungen signifikant zu.10 Der Rückgriff auf die als glorreich verklärte persische Vergangenheit und die damit einhergehende Schaffung einer neuen »iranischen« Identität begeisterte Autoren und Kunstschaffende. Sie erhofften sich, mit Hilfe der neuen Identität die gesellschaftliche Unterentwicklung und das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden. Der anfänglich erfolgreiche Ansatz mit der Errichtung moderner Institutionen in Bürokratie, Bildungswesen u. a. erlitt jedoch einen herben Rückschlag: Die zunehmend autoritäre Ausrichtung des Staates, weltpolitische Entwicklungen, die Integration Irans in das Weltmarktsystem nach der Entdeckung von Erdölfeldern in Iran 1909 sowie revolutionäre politische Diskurse in der »Dritten Welt« nach dem Zweiten Weltkrieg ließen die Suche nach einer neuen Form von Identität notwendig erscheinen, religiöse Modelle dafür fanden zunehmend Anklang. Die Islamische Revolution von 1979, unterstützt von großen Teilen der Bevölkerung, sollte eine mögliche Antwort auf die gefühlte Ohnmacht sein und hatte weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen.11 Die Rolle der Massenmedien, die zum großen Teil staatlich gefördert wurden, bestand nun vorrangig darin, die islamische Epoche

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der iranischen Geschichte hervorzuheben. Die erste Forderung der neuen Machthaber an die Kulturschaffenden war die Rückgewinnung einer historischen Betrachtung, die ein neues, auf islamisch-religiöse Identität und Überzeugung der Massen gestütztes Bewusstsein der iranischen Geschichte schaffen sollte. Aufgrund der kaum verinnerlichten neuen kulturellen Identität dauerte diese Phase revolutionärer Kompromisslosigkeit jedoch nicht lange an. Die Selbstkritik, das historische Bewusstsein, eine klar definierte Auffassung des modernen Kulturverständnisses sowie wissenschaftliche Grundlagen des zeitgenössischen Gesellschaftsdiskurses gaben unabhängigen iranischen Kulturkritikern neue Impulse. Die Abfolge dieser historischen Ereignisse hat die kulturelle Orientierung in Iran immer wieder zerrüttet. Identitätssuche und Beschäftigung mit der eigenen kulturellen Vergangenheit waren die ständigen Begleiter der Krise.

D IE F LUCHTBE WEGUNG AUS I R AN NACH DER R E VOLUTION VON 1979 Der Sturz des Schahs zog eine kurze Zeit ungewohnter Freiheit nach sich: Im ganzen Land begannen politische Gruppierungen jeglicher Couleur mit dem Aufbau ihrer Organisationen und wurden aktiv. Die Befreiung, die sich viele von der Revolution erhofft hatten, blieb jedoch aus. Allzu bald setzten unter der Herrschaft der neuen Machthaber erneut Gewalt und Terror ein, was zu einer Flüchtlingsbewegung führte. Zum besseren Verständnis der Motivationen der Flucht werden im Folgenden vier Fluchtwellen unterschieden, welche jeweils spezifische Merkmale aufweisen.12

1. Fluchtwelle Erste Maßnahmen des neu geschaffenen Revolutionsrates betrafen Anhänger und Funktionsträger des Ancien Régime. Einige von ihnen wurden noch während des Umsturzes oder unmittelbar danach verhaftet und hingerichtet. Es folgte eine systematische Säuberungsaktion in den Ministerien, bei der sämtliche Positionen durch Anhänger des neuen Regimes ersetzt wurden, deren politische Ausrichtung zu diesem Zeitpunkt noch zweitrangig war. Wer immer die Möglichkeit hatte, floh ins Ausland, um sich dem Zugriff der Gerichte zu entzie-

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hen. Schon während der Revolution hatten hochrangige Staatsbeamte, Militärs und Funktionäre des Geheimdienstes SAVAK das Land verlassen. Da sie zur Elite des Schahregimes gehörten, waren sie finanziell überwiegend abgesichert.

2. Fluchtwelle In den 1980er Jahren ging das Regime verstärkt gegen Oppositionelle vor. Als Gegner wurden immer mehr Personen und Gruppierungen wahrgenommen, die selbst aktiv an der Revolution beteiligt gewesen waren. Umfassende Säuberungsaktionen ausgehend von Staatsinstitutionen erfassten schnell auch gesellschaftliche Bereiche. Vorausgegangen war eine Konzentration der staatlichen Macht in den Händen der Geistlichkeit, die nach dem Prinzip der »Herrschaft der Rechtsgelehrten« faktisch uneingeschränkte Herrschaftsgewalt hatten. Rigoros ging der Staat gegen Personen in Staat und Gesellschaft vor, die scheinbar nicht seiner Linie und dem »Geist des Islams« treu waren. Ziel war die vollständige Kontrolle im staatlichen, aber auch gesellschaftlichen Bereich. Oppositionelle Kräfte, die nicht mit der staatlichen Linie konform waren, liberale Intellektuelle sowie Minderheiten in ethnischer oder religiöser Hinsicht waren vom Vorgehen des Staates am stärksten betroffen. Die Islamische Republik bestand noch kein Jahr, als bereits vereinzelt Verhaftungen und Hinrichtungen von Angehörigen aus diesem Umkreis bekannt wurden. Im Frühjahr 1980 kündigte Khomeini eine Islamische Kulturrevolution an, das Vorgehen gegen Andersdenkende wurde noch härter. Ziel der Kulturrevolution war eine sogenannte Islamisierung, unter anderem der Universitäten, die von Khomeini als »imperialistische Bastionen« bezeichnet wurden. Liberale Intellektuelle sowie linke oder links-islamische Gruppierungen, die meist von den Universitäten aus agierten und dort viele Anhänger hatten, wurden besonders empfindlich getroffen. Akademiker und Studenten flohen in großer Zahl ins Ausland. Die zunehmende Verhärtung der Fronten zwischen dem Regime und oppositionellen Gruppierungen führte im Juni 1981 zu einer neuen Welle von Verhaftungen, bei der das Regime oppositionelle Organisationen endgültig ausschalten wollte und mit entsprechender Härte vorging. Eine ganze Reihe von Anhängern der verbotenen Organisationen und Sympathisanten der oppositionellen Gruppierungen flohen

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aus Iran, um dem Terror zu entgehen. Führende Oppositionelle und Kader vieler oppositioneller, linksgerichteter Organisationen zogen sich in die umkämpften kurdischen Gebiete zurück oder flohen nach Pakistan und in die Türkei. Einige wählten den Weg über Afghanistan und die damalige Sowjetunion weiter nach Westeuropa.

3. Fluchtwelle Die zunehmende Verschlechterung der politischen und gesellschaftlichen Lage und der irakisch-iranische Krieg waren die wichtigsten Auslöser für die dritte Fluchtwelle. Für den Einsatz an der Front wurden breite Teile der iranischen Bevölkerung eingezogen. Iranische Kinder und Jugendliche flohen in großer Zahl, um dem drohenden Kriegsdienst zu entgehen. Meist stammten sie aus Familien der Mittel- und Oberschicht, viele von ihnen mussten alleine fliehen, da die Eltern ihre eigene Flucht nicht finanzieren konnten. Einen Höhepunkt erreichte die Fluchtwelle zur Zeit der Eskalation des irakisch-iranischen Krieges. Auffällig bei den Flüchtlingen der dritten Fluchtwelle ist eine gewisse politische Indifferenz. Sie hofften auf ein stabiles Land und ein gewisses Maß an Sicherheit, was in Zeiten des Krieges und des damit einhergehenden wirtschaftlichen Niedergangs aussichtslos erschien. Zugleich kehrte auch eine andere Gruppe der Bevölkerung Iran den Rücken: Frauen, die sich gegen Repressionen des Regimes und die Unterdrückung der Frau aussprachen oder politisch aktiv waren, und Angehörige verfolgter Minderheiten wie Homosexuelle. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Fluchtwellen setzte die dritte Fluchtwelle nicht plötzlich ein, sondern entwickelte sich über einige Jahre zu einer Massenflucht. Die Flüchtlinge bildeten eine heterogene Gruppe aus Kindern, Frauen, religiösen Minderheiten oder Homosexuellen etc., was sich letztlich in der demographischen Zusammensetzung der Exilanten niederschlug. Generell hofften die Flüchtlinge der dritten Fluchtwelle auf ein Leben in Sicherheit und Eigenständigkeit. Zur gleichen Zeit wurden bei den Flüchtlingen der früheren Fluchtwellen Veränderungen spürbar. Der lange Aufenthalt im Zielland und die schwindende Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat veränderten die Sichtweise auf den momentanen Aufenthaltsort, der nicht mehr nur als Durchgangsstation angesehen wurde. Die Auseinandersetzung mit der Kultur der neuen Heimat wurde

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stärker, besonders bei Familien mit Kindern, und allmählich entstand aus dieser Mischung eine neue Identität der Exilanten.13

4. Fluchtwelle Die 4. Fluchtwelle begann nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen von 2009. Das Vorgehen des Regimes gegen Anhänger und Unterstützer der »Grünen Bewegung« traf insbesondere Journalisten und Studenten, die ins Ausland fliehen mussten. Sie wählten den Weg in die Türkei mit dem Ziel, nach Europa zu gelangen. Überwiegend gehörten die Flüchtlinge der vierten Fluchtwelle zu den ReformGruppierungen in Iran, die das Regime selbst nicht in Frage stellten und Veränderungen innerhalb des Systems forderten. Der Austausch dieser Gruppen mit den Flüchtlingen der vorangegangenen Fluchtwellen wird interessant sein und bleibt abzuwarten. Viele Flüchtlinge der jüngsten Flüchtlingswelle waren im Staatsapparat tätig und trugen zur früheren Flucht vieler Iraner bei.

D REI P HASEN DES Ü BERGANGS IM E XIL Nicht nur die Auslöser für die Flucht aus dem Heimatland sowie die Fluchtumstände selbst, auch das Ankommen im Zielland hat großen Einfluss auf den Migranten. Dabei verlaufen die Prozesse nicht in sich abgeschlossen: In der Trennungsphase verlässt das Individuum seine Heimat. In der Transformationsphase befindet sich das Individuum zwar schon im neuen Land, die geistigen Verbindungen mit der Heimat sind jedoch noch gegenwärtig. Erst in der darauffolgenden Phase wird das Individuum von der neuen Gesellschaft und Kultur absorbiert.14 Diese Phasen sollen im Folgenden noch ausdifferenziert werden, um die spezifischen Merkmale der unterschiedlichen Phasen und deren Einflüsse auf die Exilanten zu verdeutlichen.

1. Trennung von der gewohnten und vertrauten Umgebung In dieser ersten Phase wird das Individuum aus seiner Gesellschaft, aus seinem ihm vertrauten sozialen Milieu herausgerissen. Dabei kann es zu ethnischem/kulturellem Widerstand kommen, wenn sich der Migrant gegen diese kulturelle Absorption zur Wehr setzt. Eine wichtige Rolle spielen hierbei die gesellschaftlichen und politischen

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Rahmenbedingungen. Faktoren wie Beruf, Wohnlage und soziale Position, welche vom Grad der Sprachbeherrschung abhängen, beeinflussen maßgeblich die soziale Integration im Zielland. Beispiele für diesen Prozess finden sich auch unter iranischen Autoren und Intellektuellen. Gholamhosein Saedi, Autor und Psychologe, starb 1985 im Pariser Exil. Er beschreibt das Leben eines als Flüchtling lebenden Exilanten als »einen Kampf gegen die Krankheit Krebs: Es liegt zwischen Tod und Auferstehung.« Über seine Zeit in Paris schreibt er: »Nun ist es etwa zwei Jahre her, und ich verbringe fast jeden Tag bei einem Freund. Ich habe das Gefühl, dass ich aus meiner Wurzel herausgerissen bin. Nichts nehme ich als real wahr. Alle Gebäude in Paris sehe ich als Dekoration für ein Theater. Mein Leben empfinde ich als ein Leben in einer Ansichtskarte. Vor zwei Dingen fürchte ich mich: vor dem Schlafen und vor dem Aufwachen.«15

Der Dichter Ahmad Shamlou, der schon vor der Islamischen Revolution einige Jahre im Exil verbrachte, sagt über diese Zeit: »Jene Jahre rechne ich nicht als einen Teil meines Lebens.«16

2. Ankunft und neues Leben in der Peripherie: Transformationsphase Während dieser Übergangsphase gehört das Individuum weder der alten noch der neuen Heimat an. Die Transformationsphase ist gekennzeichnet durch Unklarheit und Labilität. Die Vergangenheit ist nicht mehr da, die Zukunft noch nicht greifbar. Besonderes Augenmerk muss auf die Transformationsphase des Exilanten gelegt werden, da Vorgänge in dieser Zeit entscheidend und prägend für das literarische Schaffen sein können: Der Exilant steht in dieser Phase zwischen zwei Welten bzw. zwei Kulturen, einer bekannten und vertrauten Welt, und einer anderen, welcher er skeptisch gegenübersteht und die er sich noch nicht zu eigen machen konnte. Der Literat und Dichter Esmail Khu‫ތ‬i beschreibt diese Phase folgendermaßen: »Der politische Emigrant ist ein heimatloser Wanderer. Ein politischer Flüchtling. Er wird immer so bleiben, d. h., er kann sich nicht niederlassen. Er ist konfus und durcheinander. Das ist sein Problem. Die Heimat ist für ihn eine

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weit entfernte Fiktion. Er kann weder in die Heimat zurückkehren noch in seinem Gastland bleiben. Es kommt ihm vor, als ob ihn hier keiner will und in der Heimat auch nicht, wo ihn außer Verfolgung, Folter und Gefängnis nichts erwartet. Hier ist er ein Fremder und dort ein Vertriebener. Physisch ist er hier und geistig dort. Ein Mensch mit zwei Persönlichkeiten. Der Flüchtling ist jemand, den ich ›Mensch zwischen zwei Stühlen‹ nenne.«17

3. Eingliederung in der neuen Gesellschaft Das Individuum ist im neuen sozialen Lebensraum angekommen. Die neuen Gesellschaftsstrukturen werden ihm immer mehr vertraut und die soziale Position kann nun neu definiert und letztlich eingenommen werden. In dieser Periode rückt die Heimat in die Ferne. Neue Werte ersetzen den althergebrachten Verhaltenscode, die Aufnahmefähigkeit für neue Dinge wird größer. Die kulturellen Werte des Ziellandes fügen sich zu einem kohärenten Bild und ergänzen sich. Diese Verschmelzung und die Koexistenz der alten und neuen Verhaltenswerte ist das Resultat eines zumeist langwierigen dialektischen Prozesses. Die Flüchtlinge wurden aus ihrer gesellschaftlichen Position und ihrem kulturellen Boden herausgerissen. Sprache, Familie und Kultur müssen nun in die neue Heimat übertragen, die Umgebung muss neu gestaltet werden. Zudem muss sich der Exilant mit neuen Werten vertraut machen, möglicherweise seinen Verhaltenscode neu justieren. Es findet in dieser Phase demnach eine komplette Umorientierung, eine politische und gesellschaftliche »Umschulung« statt. Je nach Phase, in der sich der Exilant befindet, erfüllt sein Kunstschaffen bzw. im vorliegenden Fall die Produktion eines Filmes andere Aufgaben. Wesentliche Funktionen sind die Pflege und Stiftung von Identität; zugleich stellt der Film einen Ersatz für politisches Engagement dar, dient also als ideologische Waffe. Allen vorgestellten iranischen Filmemachern ist gemeinsam, dass sie ihre Heimat unfreiwillig verlassen mussten, insbesondere in den ersten Jahren nach der Islamischen Revolution. Dies spiegelt sich vor allem in den Themen wieder, welche von Identitätskrise über das Hoffen auf baldige Rückkehr in die Heimat, Pessimismus, Lethargie und Darstellung der Gefühlswelt bis hin zu politischen Äußerungen reichen. Bei späteren Produktionen lässt die Hoffnung auf Rückkehr nach. Stattdessen findet sich ein nostalgischer Blick auf die Vergangenheit, aber auch eine

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Auseinandersetzung mit Lob und Kritik an der Kultur des Ziellandes. Die Emotionalität wird abgelöst von stärkerer Nachdenklichkeit und einem Desinteresse an politischen Themen.

I R ANISCHE F ILME IM E XIL Das kreative und künstlerische Schaffen der Exilanten ist vielfältig, nicht nur in Romanen und Gedichten, auch in Filmen verarbeiten sie ihre Erlebnisse und stellen die Fragen, die für sie von Bedeutung sind. Es scheint nur natürlich, dass dabei die unterschiedlichen Übergangsphasen im Exil Einfluss auf die Themenwahl der Filme haben. Dabei stellen die Filme einen Versuch dar, das Erlebte zu überwinden, und zugleich sind sie Zeugnis für die neu zu erlangende Identität. Die schmerzhafte Vergangenheit ist in den Filmen allzeit gegenwärtig. Besonders in der Anfangsphase im Exil, wenn das Erlebte noch frisch ist, wird alles mit der Vergangenheit verbunden, die sich mit zunehmender Integration im Zielland ins Nostalgische kehrt.18 Aufgrund der Fülle an Produktionen von über 700 Filmen in den letzten dreißig Jahren wird im Folgenden exemplarisch eine Auswahl relevanter Filme vorgestellt.19 Der erste Film, der sich mit Flucht und Migration aus Iran beschäftigte, war »Ferestade (Mission)« des in die USA geflüchteten Regisseurs Parviz Sayyad20 von 1983. Der Regisseur war in Iran als Künstler, Schauspieler und Filmschaffender aktiv gewesen und brachte so alle Voraussetzungen mit, um sofort nach seiner Flucht mit der Arbeit an einem neuen Film zu beginnen – zu einer Zeit, in der Anhänger des Shah-Regimes auf der Flucht in den Westen waren.21 Der Film handelt von einem Agenten, der vom iranischen Regime beauftragt wurde, einen früheren SAVAK-Funktionär in New York zu töten. Das Leben in New York gestaltet sich schwierig für den Agenten, der sich als gläubiger Muslim in der neuen Umgebung nicht zurechtfindet. Nachdem der Agent sein Opfer zufällig vor einem Überfall rettet, wird er voller Dankbarkeit in dessen Familie aufgenommen. Die aufgebauten Beziehungen machen es für den Agenten schwierig, seinen Auftrag auszuführen.22 Im Film greift der Regisseur Sayyad besonders das Gefühl der Fremdheit auf, das nicht nur dem Migranten, sondern auch dem kurzzeitigen Besucher Schwierigkeiten bereitet.

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Ein Film, der die Situation der Flüchtlinge in der Türkei zum Inhalt hat, ist »Mehmanan-e Hotel Astoria (Die Gäste des Hotels Astoria)« aus dem Jahr 1989. Der in den Niederlanden lebende Regisseur, Reza Allamehzadeh,23 hatte ebenfalls schon in Iran Filme gedreht. Im Film werden iranische Flüchtlinge porträtiert, die in einem Hotel in der Türkei gestrandet sind und versuchen, in europäische Länder oder die USA weiterzureisen. Der tagtägliche Überlebenskampf und die Bemühungen, die Türkei rasch Richtung Westen zu verlassen, zeigen die verschiedenen Facetten des Lebens als Flüchtling. Vom selben Regisseur stammt der Film »Jenayat-e moqaddas (Heiliges Verbrechen)« aus dem Jahr 1994. Im Film werden Ereignisse um das Attentat auf den letzten iranischen Premierminister unter dem Shah, Shapur Bakhtiyar, verarbeitet.24 Bakhtiyar wurde von iranischen Agenten in seinem Pariser Exil regelrecht massakriert. Der Täter konnte festgenommen werden und wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Bei einem Deal zwischen Frankreich und Iran wurde er jedoch gegen eine in Iran inhaftierte französische Studentin, die als Agentin Frankreichs angeklagt worden war, ausgetauscht und kam so in Iran auf freien Fuß. Eine Reihe von Filmen beschäftigen sich mit Folter, Gefängnis und der Unterdrückung in Iran, hier ist etwa »Sangsar (Steinigung)« der Regisseurin Mahnaz Tamizi aus dem Jahr 1994 zu nennen. Tamizi besuchte in den Niederlanden eine Filmhochschule. Im Film geht es um ein Pärchen, das verhaftet wird. Die Frau wird vor den Augen ihres Freundes gesteinigt, dem Mann gelingt daraufhin die Flucht aus dem Gefängnis in Iran, er kommt schließlich nach Holland. Die vergangenen Ereignisse lassen ihn jedoch auch in seinem Gastland nicht los, so dass er nicht imstande ist, ein normales Leben aufzunehmen und eine neue Beziehung einzugehen. Der Film wurde fast 300 Mal bei verschiedenen Filmfestivals vorgestellt. Die Reaktion der Islamischen Republik Iran war ablehnend, da die Zustände in Iran so deutlich angeprangert wurden. Ein weiterer Film zu diesem Thema ist der Dokumentarfilm »Man asheqaneh zisteh-am« oder »And in Love I Live« der Regisseurin Pante A. Bahrami,25 der 1999 in Deutschland gedreht wurde. Im Film erzählen Frauen aus drei Generationen aus ihrem Leben im Gefängnis in Iran. Nach politischen Aktivitäten wurden sie inhaftiert, manche von ihnen wurden im Gefängnis vergewaltigt. Einige der Frauen waren zum Zeitpunkt der Verhaftung schwanger und muss-

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ten ihre Kinder in der Haft zur Welt bringen und aufziehen. Der Film zeigt nachgestellte Szenen aus den Gefängnissen in Iran. Die brutale und schmerzhafte Darstellung dieser Erfahrungen lässt nichts aus und verlangt vom Zuschauer starke Nerven. Im Unterschied zu den anderen Filmen verleihen hier die Protagonistinnen dem Erlebten ihre eigene Stimme. Auch in »The Tree that Remembers« des in Kanada lebenden Regisseurs Masoud Raouf aus dem Jahr 2002 werden die Ereignisse nach der Islamischen Revolution reflektiert. Nach einem kurzen Abriss der Geschichte Irans seit den 1950er Jahren stellt der Regisseur eine Gruppe Iraner vor, die allesamt für ihre politischen Aktivitäten Abb. 1: Filmplakat »And in Love I Live«

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in Iran inhaftiert waren und verbindet ihre Erinnerungen mit Szenen aus den vergangenen Jahren in Iran.26 Im Film »A Few Simple Shots« des in Kanada lebenden Regisseurs Joseph Akrami27 aus dem Jahr 2003 kommen ebenfalls ehemalige politische Gefangene zu Wort und berichten von ihrer Zeit in der Haft in iranischen Gefängnissen. Der Regisseur lässt auch Vertreter von Menschenrechtsorganisationen und der UNO zu Wort kommen, die ihre Einschätzung zur Lage in Iran zum Ausdruck bringen.28 Im Dokumentarfilm »Raqs ba malafe-ye sefid« oder »Dance Below White Sheet« des Regisseurs Isa Vandi aus dem Jahr 2003 Abb. 2: Filmplakat »Koridor«

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geht es um die nach Schweden geflohene Künstlerin Fateme Gosheh. Sie verarbeitet in ihren Bildern schmerzhafte Erinnerungen an die Steinigung ihrer Freundin in Iran. Ihre Ausstellung in Stockholm wird von Anhängern des iranischen Regimes gestürmt, Gosheh mit dem Tode bedroht. Im Film kommt die Künstlerin selbst zu Wort und spricht über ihre Erinnerungen und Erfahrungen. Der Film wurde 2003 mit dem Dokumentarfilmpreis des schwedischen Filminstituts ausgezeichnet. Im Dokumentarfilm »Koridor (Korridor)« der in England lebenden Regisseurin Zohreh Neirizi aus dem Jahr 2004 geht es um eine Abb. 3: Filmplakat »Exile Family Movie«

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politische Aktivistin, die gegen das Regime protestiert. Sie erzählt von ihren Erlebnissen im Gefängnis, von Folter und von der Geburt ihres Kindes während ihrer Haft. Ihr Kind wurde ihr weggenommen und der Familie ihres Mannes übergeben, nach ihrer Freilassung musste sie Iran verlassen. »Exile Family Movie« ist ein preisgekrönter Dokumentarfilm des in Österreich aufgewachsenen Regisseurs Arash Riahi aus dem Jahr 2006. Er begleitet seine Familie zu einem ungewöhnlichen Familientreffen, bei dem die verstreuten Mitglieder alle nach Mekka reisen, um sich dort zu treffen. Im Film wird die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kulturen, die in Saudi-Arabien zusammentreffen, dargestellt. Dabei wird nicht nur das als Pilgerfahrt getarnte Familientreffen gezeigt, sondern auch ein Bogen zu Flüchtlingsgeschichten und Migration gespannt.29 Vom selben Regisseur stammt der Film »Ein Augenblick Freiheit« aus dem Jahr 2008. Der Film erzählt von Flüchtlingen, die versuchen, von der Türkei aus in ein besseres Leben zu entkommen. Die stattfindenden Begegnungen und Konflikte enthüllen ihre Vorgeschichten und welche Hoffnungen sie für die Zukunft hegen.30 Im Film »Terror dar Berlin (Terror in Berlin)« des in Deutschland lebenden Regisseurs Arman Nadjm von 2010 werden die Ereignisse des Mykonos-Attentats (1992) verarbeitet. Das »Mykonos« war ein von einem Iraner betriebenes griechisches Restaurant in Berlin. Beim Mykonos-Anschlag wurden vier iranische Oppositionelle in Berlin von einem Kommando des iranischen Geheimdienstes brutal ermordet. Im Prozess wurde von Interpol ein Haftbefehl gegen das iranische Informationsministerium ausgestellt, nachdem nicht nur der iranische Außenminister, sondern auch der damalige Staatspräsident Rafsanjani beschuldigt worden waren, von den Attentatsplänen gewusst zu haben. Auch in diesem Fall wurde der Attentäter zu lebenslanger Haft verurteilt, nach einem Deal zwischen Deutschland und Iran jedoch wieder freigelassen.31 Gefängnisszenen und Folterungen zeigt auch der Film »Iran Zendan (Gefängnis Iran)« des in Deutschland lebenden Regisseurs Daryush Shokof aus dem Jahr 2010. Im Film werden die jüngsten Ereignisse nach den letzten Präsidentenwahlen 2009 und das Aufkommen der Grünen Bewegung in Iran thematisiert. Der Regisseur wurde nach Fertigstellung seines Filmes in Deutschland von Unbekannten verschleppt und festgehalten. Er wurde bedrängt, den Film

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nicht zu zeigen, da er den Islam und die Islamische Republik Iran beleidige. Shokof stellte nach seiner Freilassung den Film frei zugänglich ins Internet.32 In einem anderen Genre von Exilfilmen geht es primär nicht um Flucht und Verarbeitung von Erlebnissen in Iran und während der Flucht, sondern um Fragen des Lebens im Exil. Der Blick richtet sich auf Fragen von Identität, den Bruch mit der Tradition und den Umgang mit Neuem. Hinzu kommt oftmals auch ein Gender-Aspekt, der

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sich so in der soeben vorgestellten Reihe von Filmen nicht niederschlug. Vom in Deutschland lebenden Regisseur Rahman Milani ist der Film »Stille Landschaft« aus dem Jahr 2004. Er handelt von einem iranischen und einem norwegischen Jungen, die ihre Homosexualität entdecken. Die iranische Familie tut sich schwer, dies zu akzeptieren, und auch das Umfeld einer norwegischen Kleinstadt begegnet den beiden mit Ablehnung. Abb. 5: Filmplakat »Persepolis«

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In die Kategorie der Filme zum Leben im Exil gehört auch »Die Seepferde«, ebenfalls von Rahman Milani aus dem Jahr 2007, der Spannungen zwischen Tradition und Assimilation sowie Familie und Religion thematisiert. Der Film handelt von einem Witwer, der mit seinem Partner und seiner Tochter in Berlin lebt. Die Tochter wendet sich nach und nach gegen diese besonderen Lebensumstände und der Religion zu, was zu Spannungen zwischen Vater und Tochter führt. Der in Cannes preisgekrönte Trickfilm »Persepolis« der in Frankreich lebenden Regisseurin Marjane Satrapi aus dem Jahr 2007 ist eine Verarbeitung ihrer eigenen Biographie. Satrapi wächst in einer Abb. 6: Filmplakat »The Queen and I«

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bürgerlichen Familie in Iran auf und ist bei Ausbruch der Revolution neun Jahre alt. Sie erzählt von ihren Erinnerungen an die Ereignisse unmittelbar danach und verknüpft dabei historische Ereignisse direkt mit ihrem eigenen Schicksal. Im Alter von 14 Jahren wird sie schließlich von ihren Eltern nach Wien geschickt. Der Film zeigt die Grausamkeit und Brutalität des iranischen Regimes, ist zugleich jedoch eine Kritik am Westen, wo sich Satrapi als Außenseiterin fühlt und Schwierigkeiten hat, Anschluss zu finden. Sie versucht vergeblich einen Neuanfang in Iran, wo sie jedoch ein Land vorfindet, das nicht mehr der Heimat ihrer Erinnerung entspricht. Sie entscheidet sich schließlich dafür, nach Frankreich zu emigrieren.33 Abb. 7: Filmplakat »Women Without Men«

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In »The Queen and I« von der in Schweden lebenden Regisseurin Nahid Persson Sarvestani aus dem Jahr 2008 trifft die ehemalige linksrevolutionäre Sarvestani mit Farah Diba, der Frau des letzten Schahs, zusammen. Zu Beginn ist die Begegnung geprägt von gegenseitigem Misstrauen, waren sie doch zur Zeit der Islamischen Revolution politische Gegnerinnen. Hieran zeigt sich, wie das fehlende Vertrauen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen Irans bis heute den Weg zu einem Konsens unmöglich macht. Nach und nach entdecken die beiden Frauen Gemeinsamkeiten ihres Lebens im Exil. Dies gelingt jedoch erst durch die Distanz zum Geschehenen.34 Abb. 8: Filmplakat »The Neighbor«

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Der Film »Women Without Men« der in den USA lebenden Filmemacherin und Künstlerin Shirin Neshat aus dem Jahr 2009 wurde auf dem Internationalen Filmfestival Venedig mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Der Film basiert auf einem in Iran erschienenen Roman, welcher der Zensur zum Opfer fiel.35 Kurz nach dem durch das CIA gestützten Militärputsch 1953 gegen den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mosaddeq werden vier Frauen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten ungeachtet ihrer Herkunft zu Opfern der patriarchalen und frauenfeindlichen Struktur der Gesellschaft. Jede versucht auf ihre Weise und mit ihren Möglichkeiten, mit ihrem Schicksal zurechtzukommen.36 Neshat versucht, durch ihre Bilder und eine surrealistische Erzählweise die Situation von Frauen in einer islamisch geprägten Gesellschaft darzustellen und gleichzeitig einen Teil der Geschichte Irans zu erzählen.37 »Bonbast« oder »Cul de Sac« des in England lebenden Regisseurs Ramin Goudarzi Nejad aus dem Jahr 2010 erzählt die Geschichte einer lesbischen Frau, Kiana Firouz, deren Asylantrag in England abgelehnt wurde, obwohl sie zuvor in Iran einen Film über homosexuelle Beziehungen von Frauen gedreht hatte und daraufhin fliehen musste. Firouz spielt im Film selbst die Hauptrolle.38 »The Neighbor« aus dem Jahr 2010 von der in den USA lebenden Regisseurin Naghmeh Shirkhan thematisiert die Beziehung iranischer Mütter und Töchter, die ihre Beziehung zueinander und ihren Platz in ihrem neuen Heimatland definieren müssen. Der Regisseurin geht es um Fragen von Entwurzelung und Anpassung und darum, was man zurücklassen kann und was man beibehalten muss oder will. Dem Film zugrunde liegt die Frage, welche Bedeutung es hat, eine Frau zu sein. Er beschreibt, wie die Figuren langsam ins Leben zurückfinden, Verantwortung übernehmen und sich so schließlich mit der neuen Umwelt arrangieren.39

U NDERGROUND -F ILME Neben diesen Filmen gibt es eine Reihe von Filmen, die heimlich in Iran gedreht wurden, da sie sich mit Themen befassen, die von der iranischen Zensur nicht freigegeben würden. Diese Filme kann man der Rubrik »Underground-Film« zuordnen. Sie sind zwar nicht explizit Exil-Filme, jedoch sind sie bezüglich der Thematik und auf-

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grund ihrer regimekritischen Haltung in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Aufgrund der zunehmenden Zensur und Repressalien gegen Filmemacher in Iran scheint diese Art von Film die einzige Möglichkeit für in Iran lebende Regisseure zu sein, ihre Ideen zu verarbeiten. Ein wichtiges Thema dieser Filme sind Sexualität und Prostitution. In »Epitaph« von Moslem Mansouri40 aus dem Jahr 2002 kommen Prostituierte zu Wort, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Not ihren Körper verkaufen müssen, um zu überleben. Der Film zeigt ihre Lebensbedingungen und offenbart die paradoxe Einstellung des Regimes, das einerseits außereheliche Beziehungen bestraft, andererseits indirekt selbst am Mädchenhandel beteiligt ist und davon profitiert. Es wird deutlich, dass Prostitution in Iran ein bedeutendes soziales Problem darstellt und von vielen Frauen als einzige Option zum Überleben angesehen wird. Ebenfalls von Moslem Mansouri ist »Utopia« aus dem Jahr 2002, der sich mit Überlebenden des Iran-Irak-Krieges beschäftigt. Während die Toten als Märtyrer geehrt werden, müssen die Überlebenden ohne offizielle Unterstützung um ihr Überleben kämpfen und erhalten im Film eine Stimme. Auch in diesem Film wird die widersprüchliche Haltung des Regimes thematisiert. Der von Hossein Keshavarz ebenfalls heimlich gedrehte Film »Aragh sagi« oder »Dog Sweat« aus dem Jahr 2010 zeigt die gesellschaftliche Vielschichtigkeit in Iran. Es geht um junge Leute und deren Lebensumstände. Dabei werden neben Beziehungsproblemen, verbotenen sexuellen Beziehungen und Alkoholgenuss auch feministische Einstellungen und die Sicht der Jugend auf die iranische Gesellschaft thematisiert. Zugleich offenbart der Film einen Generationenkonflikt zwischen den religiösen Eltern und den jungen Leuten, die gegen das Regime sind, und zeigt einen Querschnitt durch unterschiedliche gesellschaftliche Schichten und Lebenssituationen.41 »Orion« von Ali Zamani Esmati aus dem Jahr 2010 erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die ihre Jungfräulichkeit verloren hat und nun versucht, diese über einen Eingriff bei einem zwielichtigen Chirurgen wiederherstellen zu lassen. Der Film thematisiert die auswegslose Situation einer gebildeten und intelligenten jungen Frau in einer traditionell strukturierten Gesellschaft.

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R ESÜMEE Die Vorstellung der Filme hat gezeigt, dass die Filme die verschiedenen Phasen des Lebens im Exil widerspiegeln. In den frühen Filmen sind die Verbindungen mit der Heimat noch viel gegenwärtiger als in den späteren, der Einfluss der Trennungs- und Transformationsphase ist bestimmend. Erst in den späteren Filmen zeigt sich die zunehmende Bindung an das Zielland, andere Themen und Fragestellungen werden zentral. Insgesamt betrachtet liegt jedoch allen Filmen in unterschiedlichen Facetten das Motiv der Identitätssuche und -findung zugrunde, das stets mit dem Verhältnis zur Kultur und Gesellschaft des Gastlandes in Verbindung steht. Erst eine Verarbeitung der Vergangenheit ermöglicht es dem Migranten, sich für neue Werte und Normen zu öffnen. In den Filmen wird die Verarbeitung der Vergangenheit nicht nur thematisiert, die Filme selbst stellen für den Migranten und sein Umfeld auch ein Mittel zur Vergangenheitsbewältigung dar. Die Filme stellen ein Medium dar, in dem Politik und persönliche Erfahrungen zusammenfließen. Gleichzeitig betreiben die Filmemacher mit ihren Produktionen Aufklärung und leisten Öffentlichkeitsarbeit. Da sie selbst überwiegend eine politische Haltung haben und stets das Geschehen in ihrem Heimatland mitverfolgen, vermitteln sie auch ihr Anliegen durch den Film. Oftmals erscheinen daher in den Filmen Ereignisse der Vergangenheit und persönliche Schicksale gekoppelt an aktuelle Entwicklungen in Iran und geben Anlass zu Dialog und Diskussion zwischen verschiedenen Akteuren der politischen und gesellschaftlichen Gruppen innerhalb und außerhalb Irans, zumal viele der Filme über das Internet und mit entsprechenden Filterprogrammen auch Iranern in Iran zugänglich sind.42 Viele der Filme sind als Reportagen oder Dokumentationen konzipiert, um der Botschaft des Filmes Nachdruck zu verleihen und keine Zugeständnisse aus kommerziellen Gründen machen zu müssen. Die Finanzierung der Filme wird dadurch zugleich erschwert. Mit zunehmender Absorption des Migranten in der Kultur und Gesellschaft des Ziellandes lässt sich eine Veränderung bei den Themen feststellen: Nicht mehr die Erlebnisse in Iran stehen im Vordergrund, sondern Probleme, denen sie bei der Suche nach einer neuen Identität im Zielland begegnen. Immer noch werden persönliche Schicksale gezeigt, jedoch nicht mehr im Rückblick auf die Vergan-

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genheit, sondern im Leben im Jetzt. Es tauchen verstärkt Fragen der Individualität, nach zwischenmenschlichen Beziehungen, Generationskonflikten und nicht zuletzt zur Genderproblematik auf. Bei der Skizzierung der Entwicklung exil-iranischer Filme wurden Aspekte der Kommerzialität und Umstände, wie die Filme entstanden, völlig ausgeblendet: Die Filme entstanden meist nicht für ein breites Publikum, und staatliche Subventionen für die Produktion eines Filmes waren stets von der aktuellen Beziehung des Gastlandes zum iranischen Regime abhängig. Dennoch ist die Wirkung der Filme, selbst wenn sie kein breites Publikum erreichen, in dem Kreis, der sie anschaut, nicht zu unterschätzen und entspricht wohl der Intention der Regisseure, auch auf die aktuelle Situation in Iran aufmerksam zu machen. Meines Erachtens ist und bleibt die Suche nach Identität für die iranische Gesellschaft immer gegenwärtig. Die Konfrontation Irans mit der Moderne und mit Europa seit dem 19. Jahrhundert warf neue Fragen auf, die zu einer Identitätskrise führten. Die fehlgeschlagene Konstitutionelle Bewegung konnte keine Balance zwischen traditioneller und moderner Welt mit all ihren neuen Normen und Werten schaffen. Weder konnten die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Iran die Notwendigkeit des Fortschritts und der Moderne samt all ihren gesellschaftlichen Konsequenzen verleugnen, noch konnten sie sich von alten, traditionellen Wertvorstellungen und ihrer überkommenen Lebensauffassung trennen. Auch die Islamische Revolution konnte auf diese drängenden Fragen keine Antwort geben, sondern verstärkte vielmehr die Identitätskrise, da der Gegensatz zwischen Tradition und Modern noch verschärft wurde. Daher ist das künstlerische Schaffen in Iran und von Iranern grundlegend bestimmt von der Identitätskrise und der Suche nach neuen Ufern. Die iranischen Filmemacher können sich dem nicht entziehen.

A NMERKUNGEN 1 | Zur besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Text das generische Maskulinum verwendet, die weiblichen Formen sind dabei stets impliziert. 2 | Vgl. Jungle World 3 vom 21. Januar 2010. 3 | http://www.exilefilmfestival.com/index.php?id=212 vom 25. Januar 2011. 4 | http://www.artenexil.net/A3.htm vom 25. Januar 2011.

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5 | Zum Verhältnis des iranischen Kinos zum Regime sowie der Entwicklung des iranischen Kinos vgl. z. B. Ali Mohammadi/Eric Egan: »Cinema and Iran. Culture and Politics in the Islamic Republic«, in: Asian Cinema 12,1 (2001), S. 14–28; Hamid Reza Sadr: Iranian Cinema. A Political History, London: I. B. Tauris 2006; Shahla Mirbakhtyar: Iranian Cinema and the Islamic Revolution, London 2006; Saeed Zeydabadi-Nejad: The Politics of Iranian Cinema. Films and Society in the Islamic Republic, London: Routledge 2009. 6 | Es gibt durchaus einige interessante Filme in diesem Genre, die jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes sind. Zum »Neuen Iranischen Kino« und dem Motiv des poetischen Realismus vgl. Issa Rose/Sheila Whitaker (Hg.), Life and Art. The New Iranian Cinema, London: British Film Institute/National Film Theatre 1999; Richard Tapper (Hg.), The New Iranian Cinema. Politics, Representation and Identity, London/New York: I. B. Tauris 2002; Shohini Chaudhuri/Howard Finn: »The Open Image. Poetic Realism and the New Iranian Cinema«, in: Julie F. Codell (Hg.), Genre, Gender, Race, and World Cinema. An Anthology, Oxford: Blackwell 2007, S. 388–407. 7 | Zum Verhältnis des iranischen Regimes zum Kino sowie zu einzelnen iranischen Regisseuren vgl. Hamid Dabashi: Close Up. Iranian Cinema. Past, Present and Future, London, New York: Verso 2001; Tobias Ebbrecht: »Europäische Sehnsüchte und iranischer Kulturexport« unter http://www. extrablatt-online.net/archiv/ausgabe-3/tobias-ebbrecht-europaeischesehnsuechte-und-iranischer-kulturexport.html vom 10. Januar 2011. 8 | Zur »Grünen Bewegung« vgl. Bahman Nirumand u. a.: »Iran. Die Grüne Bewegung«, in: Inamo 63 (2010); Slater Bakhtavar: Iran. The Green Movement, o. O.: Parsa Enterprises, LLC 2009; Hamid Dabashi/Navid Nikzadfar: The Green Movement in Iran, New Brunswick, N. J.: Transaction Publishers 2011; Nader Hashemi/Danny Postel (Hg.), The People Reloaded. The Green Movement and the Struggle for Iran’s Future, New York: Melville House 2011. 9 | Zur konstitutionellen Bewegung/Revolution vgl. Ervand Abrahamian: Iran between Two Revolutions, Princeton, NJ: Princeton University Press 1983; Janet Afary: The Iranian Constitutional Revolution. 1906–1911, New York: Columbia University Press 1996; Mangol Bayat: Iran’s First Revolution. Shi’ism and the Constitutional Revolution of 1905–1909, New York: Oxford University Press 1991; Edward G. Browne: The Persian Revolution of 1905– 1909, Cambridge: Cambridge University Press 1910; Houchang Esfandiar Chehabi: Iran’s Constitutional Revolution. Popular Politics, Cultural Transformations and Transnational Connections, London: I. B. Tauris 2010; Ahmad Kasravi: History of the Iranian Constitutional Revolution, Costa Mesa, Calif.: Mazda Publishers 2006; Vanessa Martin: Islam and Modernism. The Iranian Revolution of 1906, London: I. B. Tauris 1989.

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10 | Zur Pahlavi-Dynastie vgl. Cyrus Ghani: Iran and the Rise of Reza Shah. From Qajar Collapse to Pahlavi Rule, London: I. B. Tauris 1998; Homa Katouzian: State and Society in Iran. The Eclipse of the Qajars and the Emergence of the Pahlavis, London: I. B. Tauris 2000; Nikki R. Keddie: Qajar Iran and the Rise of Reza Khan. 1796–1925, Calif.: Costa Mesa: Mazda Publishers 1999; Nikki R. Keddie: Modern Iran. Roots and Results of Revolution, aktualisierte Auflage, New Haven, Conn.: Yale University Press 2006. 11 | Zur Islamischen Revolution vgl. Dawud Gholamasad: Die Entstehung der islamischen Revolution, Hamburg: Junius 1985; Nikki R. Keddie (Hg.), The Iranian Revolution and the Islamic Republic, Syracuse: Syracuse University Press 1986; Nikki R. Keddie: Modern Iran. Roots and Results of Revolution, aktualisierte Auflage, New Haven, Conn.: Yale University Press 2006; Mohsen M. Milani: The Making of Iran’s Islamic Revolution. From Mon archy to Islamic Republic, 2. Aufl., Boulder: Westview Press 1994; Abbas Milani: The Persian Sphinx. Amir Abbas Hoveyda and the Riddle of the Iranian Revolution, Washington, D. C.: Mage 2000; Asghar Schirazi: The Con stitution of Iran. Politics and the State in the Islamic Republic, London: I. B. Tauris 1997. 12 | Von Fluchtwellen spricht auch Masoud Jannat: Iranische Flüchtlinge im deutschen Exil. Probleme einer Abstiegssituation, Dissertation Philipps-Universität Marburg 2005. Online unter http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv? idn=975989472&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=975989472.pdf vom 10. Januar 2011. 13 | Zu den Fluchtwellen und der iranischen Diaspora vgl. Mehdi Bozorgmehr: Art. »Diaspora in the Postrevolutionary Period«, in: Encyclopaedia Iranica, online unter http://www.iranica.com/articles/diaspora vom 10. Januar 2011, sowie Asghar Fathi (Hg.), Iranian Refugees and Exiles Since Khomeini, Costa Mesa: Mazda Publishers 1991. 14 | Nach Arnold Van Gennep: Les rites de passage, Paris: Édition A. et J. Picard 1981. Die Anwendung von Genneps Thesen auf Aspekte iranischen Exillebens anhand der Untersuchung persischer Fernsehsender in den USA findet sich ausführlich bei Hamid Naficy: »Az tab’id-e farhangi ta farhang-e tab‫ތ‬idi«, in: Kankash 5 (1989), S. 187–211. Rituale werden im vorliegenden Artikel verstanden als Ausdruck und Reglung der Interaktion des Menschen mit seiner Umgebung. 15 | Gholamhosein Saedi: »Sharh-e Ahval«, in Alefba 7 (1986), S. 3–7. Zitiert nach Naficy »Az tab’id-e farhangi ta farhang-e tab‫ތ‬idi«, S. 191. 16 | Ahmad Shamlou: »Yad-ha va Yadegar-ha«, in Par 3 (1988), S. 51. Zitiert nach Naficy »Az tab’id-e farhangi ta farhang-e tab‫ތ‬idi«, S. 191. 17 | Zitiert nach Naficy »Az tab’id-e farhangi ta farhang-e tab‫ތ‬idi«, S. 189 f.

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18 | Zum iranischen Film im Exil hat v. a. Hamid Naficy gearbeitet. Vgl. z. B. Hamid Naficy: »The Aesthetics and Politics of Iranian Cinema in Exile«, in: Cinemaya 9 (1990), S. 4–8; Ders.: The Making of Exile Cultures. Iranian Television in Los Angeles, Minneapolis, London: Minnesota University Press 1993; Ders.: An Accented Cinema. Exilic and Diasporic Filmmaking, Princeton: Princeton University Press 2001. 19 | Einen Überblick über das Schaffen von Exil-Iranern von Literatur über Poesie, Theater und Film bietet die in Paris erscheinende persische Zeitschrift Arash. A Persian Monthly of Culture and Social Affairs 100 (2007). 20 | Vgl. die Website des Regisseurs http://www.parvizsayyad.com vom 7. Januar 2011. 21 | Der Film war auf dem Berliner Filmfestival 1983 zu sehen. Vgl. http://www.berlinale.de/en/archiv/jahresarchive/1983/02_programm_ 1983/02_Pro gramm_1983.html vom 5. Januar 2011. 22 | Den Film kann man sehen unter http://www.youtube.com/watch?v=5_ BYNU5bZM&feature=related vom 7. Januar 2011. 23 | Vgl. die Website des Regisseurs http://reza.malakut.org vom 5. Januar 2011. 24 | Der Film ist zu sehen unter http://www.youtube.com/watch?v= 9R5oLZ8TnWs oder unter http://tease.blogspot.com/2006/08/blog-post_ 115643046376869564.html vom 7. Januar 2011. 25 | Die Regisseurin Bahrami hat eine Reihe von Filmen zu Themen wie Migration, Leben im Gastland, Identität in der Diaspora und Genderfragen gedreht. Vgl. die Website der Regisseurin unter http://www.panteabahrami. com vom 5. Januar 2011. 26 | Der Film ist zu sehen unter http://www.nfb.ca/film/tree_that_remem bers vom 5. Januar 2011. 27 | Vgl. die Website des Regisseurs unter http://www.article19film.com main.html vom 5. Januar 2011. 28 | Der Film ist zu sehen unter http://www.movie.article19film.com vom 7. Januar 2011. 29 | Vgl. http://www.exilefamilymovie.com/ und http://www.kinomachtschule.at/data/augenblickfreiheit.pdf vom 7. Januar 2011. 30 | Vgl. http://p106906.typo3server.info/52.0.html vom 10. Januar 2011. 31 | Zum Mykonos-Attentat vgl. Siegmund, Norbert: Der Mykonos-Prozess. Ein Terroristen-Prozess unter dem Einfluss von Außenpolitik und Geheimdiensten, Deutschlands unkritischer Dialog mit dem Iran, Münster: Lit 2001; http://www.welt.de/politik/ar ticle1447537/Drahtzieher_des_Mykonos_ Attentats_freigelassen.html vom 7. Januar 2011. 32 | http://de.stopthebomb.net/shokof.html vom 7. Januar 2011.

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33 | Eine Reihe von Artikeln zum Film findet sich unter http://www.film-zeit.de/ ?action=result&sub=film&info=cinema&film_id=18710 vom 7. Januar 2011. 34 | Ausschnitte aus dem Film finden sich unter http://onlinefilmhome.dk/ info.asp?filmid=3057 vom 10. Januar 2011. 35 | Die englische Übersetzung des Romans erschien als Shahrnush Parsipur: Women Without Men. A Novella, Syracuse: Syracuse University Press 1998. 36 | Vgl. die Website zum Film unter http://www.womenwithoutmen-derfilm.de vom 7. Januar 2011. 37 | Eine Reihe von Artikeln zum Film findet sich unter http://www.film-zeit. de/Film/20931/WOMEN-WITHOUT-MEN/Kritik vom 10. Januar 2011. 38 | Vgl. die Website zum Film unter http://www.culdesacmovie.com/index. html vom 10. Januar 2011. 39 | Vgl. die Website des Films unter http://www.theneighbor-film.com vom 7. Januar 2011. 40 | Vgl. die Website des Regisseurs unter http://www.moslemmansouri. com vom 5. Januar 2011. 41 | Vgl. die Website des Films unter http://www.dogsweatthefilm.com vom 5. Januar 2011. 42 | Zum Verhältnis des iranischen Exilkinos zum iranischen Kino vgl. Hamid Naficy: »Iranian Émigré Cinema as a Component of Iranian National Cinema«, in: Mehdi Semati (Hg.), Media, Culture and Society in Iran. Living with Globalization and the Islamic State, Abingdon: Routledge 2008, S. 167–192.

Z ITIERTE F ILME »A Few Simple Shots«, Regie: Joseph Akrami, Kanada 2003. »Aragh sagi«, Regie: Hossein Keshavarz, Iran 2010. »Bonbast« (»Cul de Sac«), Regie: Ramin Goudarzi Nejad, England 2010. »Dance Below White Sheet«, Regie: Isa Vandi, Schweden 2003. »Die Seepferde«, Regie: Rahman Milani, Deutschland 2007. »Dog Sweat«, Regie: Hossein Keshavarz, Iran 2010. »Ein Augenblick Freiheit«, Regie: Arash Riahi, Österreich 2008. »Epitaph«, Regie: Moslem Mansouri, Iran 2002. »Exile Family Movie«, Regie: Arash Riahi, Österreich 2006. »Ferestade (Mission)«, Regie: Parviz Sayyad, USA 1983. »Iran Zendan (Gefängnis Iran)«, Regie: Daryush Shokof, Deutschland 2010.

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Eine andere Art der Migration Der Paradigmenwechsel in der Repräsentation von Chinese Indonesians am Beispiel des Spielfilms »Blind Pig Who Wants to Fly« Laura Coppens

In ihrem Buch »Sentimental Fabulations, Contemporary Chinese Films« spricht Rey Chow davon, wie sich die Filmwissenschaften in der Untersuchung von Gruppenidentitäten verfangen hätten.1 Das zahlreiche Aufkommen von (Selbst-)Repräsentationen aller erdenklichen Minderheitengruppen zwang westliche Filmkritiker buchstäblich zu einer Auseinandersetzung mit diesen medialen Identitätspolitiken. Chow weist darauf hin, dass insbesondere die feministische Filmtheorie – allen voran Laura Mulvey mit ihrem Essay »Visual Pleasure and Narrative Cinema«2 – Impuls gebend für die kritische Beschäftigung mit dem Verhältnis von Film und Gruppenidentität war. Gerade die von Mulvey in Gang gesetzte Ikonophobie, die sich in der Annahme manifestiert, dass filmische Bilder per se unterdrückend seien, war seitdem die antreibende Kraft und zudem produktives Momentum innerhalb der Filmwissenschaften.3 Mit der Übertragung von Foucaults »Repressionshypothese«4 auf visuelle Medien verschob sich der Fokus auf die Kritik der in die Produktion von filmischen Bildern und in die Narration eingewobenen ideologischen Prozesse. Der Einfluss dieser Theorie schwappte weit über die fachlichen Grenzen hinaus. So bemerkt Chow: »[…] the ambivalent logics exemplified by feminist film theory from the very beginning may be seen as constitutive, perhaps paradigmatic, of the process of a subordinated group’s rise of visibility.« 5

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Doch das Sichtbarwerden einer marginalisierten Gruppe gestaltet sich kompliziert. Die Problematik liegt in dem Verdacht der Fetischisierung von Identität, d. h. der Verwechslung der visuellen Anwesenheit einer Gruppe mit einer vermeintlich authentischen Realität derselbigen. Entkommen kann man dieser Falle der Anthropologisierung von Bildern laut Chow nur, wenn man sich wieder der spezifischen Materialität des Mediums zuwendet.6 Mein Interesse für den indonesischen Spielfilm »Blind Pig Who Wants to Fly« (»Babi Buta Yang Ingin Terbang«), Regie: Edwin, Indonesien (2008), begründet sich insbesondere in diesem Plädoyer für eine nichtikonophobische Auseinandersetzung mit Filmen. Es ist gerade die Lust am Visuellen und die alternative und experimentelle filmische Herangehensweise an die »Problematik des Orientalismus«7 des Regisseurs, die »Blind Pig Who Wants to Fly« zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand machen. »Blind Pig Who Wants to Fly« steht nicht nur für einen Paradigmenwechsel in der filmischen Repräsentation von Chinese Indonesians innerhalb der indonesischen Filmlandschaft, sondern kann darüber hinaus als eine Kritik an der Identitätspolitik des indonesischen Staates wie auch der Chinese Indonesians selbst gelesen werden. Ich werde zeigen, wie Edwin die in diesem Rahmen geprägte Vorstellung von »Chineseness« visuell dekonstruiert. Wenn ich im Folgenden von Chinese Indonesians spreche, beziehe ich mich auf die Definition von Charles Coppel: »[Chinese Indonesians are] ... persons of Chinese ancestry who either function as members of, and identify with, Chinese society or are regarded as Chinese by indigenous Indonesians (at least in some circumstances) and given special treatment as a consequence.« 8

Das Kino der indonesischen Neuen Ordnung (Orde Baru) (1966–1998) steht für die Absenz der Chinese Indonesians auf der Kinoleinwand. Das ist besonders deswegen bemerkenswert, weil die indonesische Filmindustrie nicht nur von Chinese Indonesians begründet, sondern darüber hinaus in der gesamten Zeit der Neuen Ordnung von ihnen mitbestimmt wurde. Krishna Sen untersucht dieses Phänomen und bemerkt: »[...] reflecting their peculiar position of economic power and cultural voicelessness, the ›Chinese‹ owned the overwhelming majority of production

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companies, movie theatres, the import and distribution networks, but could not speak openly as ›Chinese Indonesians‹ in the texts of the films they funded.« 9

Chinese Indonesians spielten nicht nur eine bedeutende Rolle als Produzenten, Financiers oder Filmverleiher, sondern auch als Regisseure und Kameramänner.10 Doch das »national cinema« der Neuen Ordnung radierte jegliches chinesisches Mitwirken vollkommen aus, indem es den Chinese Indonesians nicht mehr erlaubt war, als solche zu agieren. Sen sieht die Negierung jeglicher »Ethnizität« als ein Merkmal des indonesischen Kinos dieser Zeit: »It is arguable that ethnicity itself became an ›unspeakable‹ of Indonesian cinema, as government prescriptions and proscriptions censored and censured all discussions of ethnic and religious conflict in the media generally and in cinema in particular.«11

Dieses »thematische Verschweigen« (»thematic silence«)12 lässt sich mit einem historischen Rückblick auf das soziopolitische Umfeld und die Position der Chinese Indonesians in der damaligen Zeit erklären. Die Neue Ordnung ist ein Synonym für die Regierungszeit des zweiten indonesischen Präsidenten Suharto. Diese Bezeichnung für sein Regime wurde von Suharto selbst eingeführt, um sich von der »alten Ordnung« seines Vorgängers Sukarno abzugrenzen. Unter Suharto verschlechterte sich die schon unter der Kolonialherrschaft der Holländer bestehende negative öffentliche Einstellung der Indonesier gegenüber den Chinese Indonesians.13 Suharto initiierte systematisch eine Kampagne tiefgreifender Einschränkungen, die alle Lebensfacetten der Chinese Indonesians beeinflusste. Er war ein vehementer Fürsprecher für die Assimilation der chinesischen Minderheit. Suharto verlangte die vollständige Anpassung und Aufgabe der eigenen Identität und damit die bedingungslose Absorption in die indonesische Mehrheitsgesellschaft.14 Im Rahmen der »Basic Policy for the Solution of the Chinese Problem« von 1967 wurden chinesische Zeitungen und Schriftzeichen verboten, Schulen geschlossen und die Ausübung chinesischer Tradition auf den eigenen Haushalt beschränkt. Darüber hinaus wurden die Chinese Indonesians gezwungen, indonesisch klingende Namen anzunehmen. Chinese Indonesians mussten außerdem Zertifikate vorweisen, die bewiesen, dass sie die chinesische Staatsbürgerschaft abgelehnt hatten. Diese Verpflichtung

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galt unabhängig davon, ob sie in Indonesien geboren waren oder die Familie bereits seit Generationen in Indonesien lebte. Mit dem Sturz Suhartos im Jahre 1998 und den damit eingeleiteten demokratischen Reformen (Reformasi), ist es nun einfacher, vormalige Tabuthemen in Filmen anzusprechen. Nachdem Aburrahm Wahid 1999 zum Präsidenten gewählt wurde, beseitigte er zügig einige der diskriminierenden Gesetze. Er veröffentlichte den »Präsidentenerlass 6« von 2000, der den »Präsidentenerlass 14« aus dem Jahre 1967 über »Chinesische Religion, Glaube und Traditionen« aufhob und nun den Chinese Indonesians erlaubte, frei ihre Religion und kulturellen Praktiken auszuüben. Zwei Jahre später erklärte die neu gewählte Präsidentin Megawati Sukarnoputri das chinesische Neujahrsfest (Imlek) ab dem Jahr 2003 zum nationalen Feiertag. Es durfte wieder öffentlich Chinesisch unterrichtet, gesprochen und geschrieben werden. Mehr und mehr Chinese Indonesians betraten die politische Szene und neue Parteien und Organisationen wurden gegründet. Die wohl wichtigste Neuerung war jedoch die Veränderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes im Jahr 2006, das die Chinese Indonesians als Indonesia asli (»native born Indonesians«) anerkannte und ihnen somit die vollen Bürgerrechte zugestand. Trotz der zahlreichen Modifizierungen der von Suharto erlassenen Gesetze, bleiben viele seiner diskriminierenden Verordnungen bis heute unverändert bestehen. Anders als Indonesier arabischer oder indischer Herkunft müssen Chinese Indonesians immer noch ein Dokument besitzen, das ihren Status als indonesische Staatsbürger beweist. Für nahezu alle administrativen Handlungen wie die Registrierung von Geburten, Hochzeiten oder aber für die Anmeldung an Schulen oder Universitäten wird dieses so genannte SBKRI-Dokument benötigt. Ihr Leben lang müssen sie ihre »Indonesianness« beweisen – die Diskriminierung aufgrund ethnischer Herkunft bleibt bestehen.15 Noch eine Dekade nach Beendigung von Suhartos Neuer Ordnung ist es für viele Chinese Indonesians schwierig, sich von den Traumata der Vergangenheit zu befreien und ihren Platz in der indonesischen Gesellschaft zu finden. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass sich diese Situation allmählich ändert. Vor allem in der jüngeren Generation werden Stimmen laut, die in der Öffentlichkeit ungemütliche und häufig kontroverse Fragen über die Marginalisierung in der Neuen Ordnung stellen und darüber, was es eigentlich bedeutet, Chinese Indonesian zu sein. Angefangen mit »Ca-bau-kan« (»The Courtesan«),16 Regie: Nia Dinata, Indonesien (2002), und »Gie«, Regie: Riri Riza, In-

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donesien (2005), wird Film immer mehr zu einem Medium, in dem die Situation der Chinese Indonesians dargestellt und diskutiert wird. »Ca-bau-kan« ist genau genommen der erste Film seit 1965, der sich mit der chinesischen Minderheit in Indonesien auseinandersetzt. Krishna Sen sieht darin die ersten Anzeichen und Früchte der Demokratisierung, auch wenn die Zurückeroberung der Kinoleinwand zu diesem Zeitpunkt noch nicht von den Chinese Indonesians selbst vollzogen wurde.17 Erst sechs Jahre später hat ein junger Regisseur den Mut, sich mit der eigenen Identität und den Traumata vieler Chinese Indonesians auseinanderzusetzen. »Blind Pig Who Wants to Fly« ist der erste Spielfilm, bei dem nicht nur der Regisseur, sondern auch die Schauspieler sowie teilweise das Filmteam selbst Chinese Indonesians sind. Edwin18 gehört zu einer Gruppe junger Regisseure, die in ihren Filmen Fragen von Identität und Identitätszuschreibungen sowie deren Dekonstruktion, Diskriminierung und andere Aspekte des Daseins als Chinese Indonesian thematisieren. Mit seinem Debütfilm möchte Edwin den öffentlichen Diskurs über Chinese Indonesians um seine Perspektive erweitern. Diese Erzählung eines Insiders steht im starken Kontrast zur öffentlichen »chinesischen Identitätspolitik« und kritisiert die von der indonesischen Regierung propagierte »harmonische multikulturelle Gesellschaft«. Es wird deutlich, dass wir es hier mit mehreren Arten von »Migration« zu tun haben. Nicht die Chinese Indonesians haben sich bewegt, sondern das politische System und damit die Gesellschaft um sie herum. Ihre Identitäten bewegen und verändern sich innerhalb eines »fließenden politischen Milieus« und unterliegen somit einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess, bei dem »Chineseness« ständig neu konstruiert wird. Die Migration von einem politischen System in ein anderes ist maßgeblich für die zweite Art der Migration: von der visuellen Abwesenheit in die visuelle Anwesenheit der Chinese Indonesians auf der Kinoleinwand. In dem folgenden Abschnitt schließe ich an die Arbeiten von Sen19 und Heryanto20 an und analysiere, wie »Chineseness« in »Blind Pig Who Wants to Fly« dargestellt und zugleich (de)konstruiert wird. Dabei werden Aspekte von Gender ebenso in die Analyse mit einbezogen wie der gesellschaftliche und politische Gebrauch von »Ethnizität«. Inwiefern unterscheidet sich »Blind Pig Who Wants to Fly« im Bezug auf die Repräsentation von Gender und Chinese Indonesians von vorhergehenden Produktionen zu dieser Thematik? Im Bezug

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auf den Film »Ca-bau-kan« (2002) beispielsweise kritisiert Sen nicht nur die problematische Darstellung von Weiblichkeit, sondern auch die unveränderte Darstellung von Stereotypen und Vorurteilen gegenüber den Chinese Indonesians. Im Gegensatz dazu stellt Edwins Film eine radikale Veränderung in der Repräsentationspolitik von Chinese Indonesians dar.

A LTERNATIVE R EPR ÄSENTATION : E THNIZITÄT UND G ENDER IN »B LIND P IG W HO W ANTS TO F LY« »Since we were little, we were told to be nationalistic, to be a true Indonesian. Whether it means to kill our roots. And killing our roots means killing our emotion and killing our emotion means killing ourselves. How should we, in reality, really know how to be a true Indonesian? Or it is necessary at all to be a true Indonesian?«21

Diese von Edwin formulierten existentiellen Fragen über Identität und das darin implizierte Gefühl der Isolation und der Zerrissenheit – das »Nicht-Dazugehören« – wird in »Blind Pig Who Wants to Fly« nicht nur auf narrativer Ebene transportiert, sondern spiegelt sich auch stark auf filmästhetischer und filmsprachlicher Ebene wider. Der Film besteht aus einer Serie von Erzählfetzen, die zeitlich und zwischen den Charakteren hin und her springen. Das Aufbrechen der linearen Narration ermöglicht es Edwin, die Idee unveränderbarer, feststehender Identitäten in Frage zu stellen. Die durch den Filmschnitt forcierten Brüche öffnen dem Zuschauer einen Raum, der Platz für eigene Assoziationen und Interpretationen bietet und somit auch den Blick jenseits destabilisierter Identitäten auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge richtet. Die Abkehr vom mimetischen Realismus und das Experimentieren mit dem Medium Film, dieses Sich-wieder-bewusst-Werden seiner spezifischen Materialität, ermöglicht kritische Reflexion über die Politik des Sehens und über Identitätskonstruktionen im Allgemeinen. »Blind Pig Who Wants to Fly« erzählt vom Leben verschiedener, miteinander in Verbindung stehender Chinese Indonesians. Es gibt Linda, ihren besten Freund Cahyono, ihren Vater Halim, den blinden Zahnarzt, ihre Mutter Verawati, die Badmintonspielerin, und Opa, Lindas Großvater (das Wort ist ein sprachliches Überbleibsel der holländischen Kolonialherrschaft). Es geht um alte Wunden, Stereoty-

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pisierung, Stigmata, Ausgrenzung, Negierung der eigenen Identität, Wunsch nach Zugehörigkeit – Themen und Aspekte, die bis heute nur selten im Zusammenhang mit der chinesischen Minderheit öffentlich diskutiert werden, aber noch immer stark deren Leben beeinflussen. Der Film ist ein Zusammenschnitt von Momentaufnahmen im Leben der einzelnen Charaktere. Wir folgen ihren Irrungen und Wirrungen auf einer Reise in ihre unterschiedlichen Gefühlswelten, oder etwas poetischer von Edwin ausgedrückt: »Like a mosaic, this film is built from shattered pieces of colored glass. Delicate, fragile, beautiful.«22 Zuerst begegnen wir der Badminton-Meisterin Verawati, die ihre Karriere aufgibt, weil ihre Herkunft permanent in Frage gestellt wird. Sie ist mit Halim verheiratet, der mit einer dunklen Sonnenbrille gekleidet ununterbrochen den Stevie-Wonder-Song »I just called to say I love you« singt. Auch seine Geliebte Salma ist verrückt nach diesem Lied, jedoch auf einer etwas anderen Ebene: Sie möchte das Lied unbedingt live in einer Fernsehsendung singen. Noch ernsthafter sind beide darin, heiraten zu wollen, Kinder zu bekommen und dann in die USA auszuwandern. Beide, Halim und Salma, benutzen sich gegenseitig, um ihre Träume wahr werden zu lassen. Dabei hilft ihnen das schwule Pärchen Roni und Yahya, zwei indonesische Staatsbeamte. Doch sie möchten im Gegenzug dafür ihre sexuellen Wünsche erfüllt bekommen. Dann ist da noch Linda, Halims und Verawatis Tochter. Sie ist nicht wirklich an alldem interessiert. Lindas Hauptinteresse gilt chinesischen Feuerwerkskörpern, die sie am liebsten mit ihrem besten Freund Cahyono explodieren lässt. Cahyono leidet unter der Diskriminierung aufgrund seiner vermuteten chinesischen Herkunft, die er bis ins Erwachsenenalter erfährt. Linda vertreibt die gehässigen Kinder mit ihren Knallern. Einige Jahre später sehen wir beide in einem Videoschnittraum, in dem sie gemeinsam Aufnahmen aus dem Jahr 1998 bearbeiten: Die Ausschreitungen gegen Chinese Indonesians im Zuge des Sturzes von Suharto. Inmitten dessen begegnen wir Lindas Großvater Opa, der zufrieden ist, wenn er mit seinen Freunden Billard spielt. Linda geht oft zu Opa, um seinen Rat einzuholen. Nicht zu vergessen ist das Schwein, das dem Film seinen Titel gibt. Das Schwein hat in dem Film eine starke symbolische Funktion. Offensichtlich steht es für die Chinese Indonesians. Immer wieder taucht es zwischen den Szenen auf. Provokativ wird im Titel des Films ein Tier genannt, das in der muslimischen Mehrheitsgesellschaft als unrein und im islamischen Recht als verboten (haram) gilt. Mit ca. 200 Millionen Moslems ist Indonesien der

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Staat mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt.23 Jedoch ist der Islam nicht Staatsreligion. Die meisten Chinese Indonesians gehören dem christlichen Glauben an, einige wenige sind Buddhisten. Immer wieder kommt es zu teilweise blutigen Auseinandersetzungen zwischen Moslems und Christen. In Anbetracht dessen wird das Schwein zu einem politisch aufgeladenen Symbol. Es ist also nicht verwunderlich, dass »Blind Pig Who Wants to Fly« wohl nicht zuletzt auch wegen seines provokanten Titels nie öffentlich in indonesischen Kinos gezeigt wurde.24 Hinzu kommt, dass der Film auch aufgrund der expliziten Darstellung von Homosexualität niemals die Tore des Lembaga Sensor Film (Indonesische Zensurbehörde) unzensiert verlassen hätte – wahrscheinlich wäre er sogar verboten worden.25 Doch anders als die Vorgängerfilme zu der Thematik reproduziert »Blind Pig Who Wants to Fly« nicht die in Indonesien vorherrschende essentialistische Vorstellung von »Ethnizität«. So kritisiert Krishna Sen die negative Darstellung der chinesischen Charaktere in »Ca-baukan« (2002). Sie ist der Meinung, dass der Film trotz seines bewussten Bestrebens, die dominanten Stereotype zu dekonstruieren, den Rassismus der Neuen Ordnung fortsetzt: »[...] In another peculiarly characteristic stereotyping common in New Order discourse, the Chinese protagonist is simultaneously a ruthless capitalist but also in dangerous liaisons with communists.« 26

Wie im offiziellen Diskurs der Neuen Ordnung werden die Chinese Indonesians auch in »Ca-bau-kan« erniedrigt und entrechtet, ohne dass dies ausreichend kritisiert wird.27 Ähnlich kritisch bewertet auch Ariel Heryanto diesen Film. Ebenso spricht er dem von Riri Riza gedrehten Spielfilm »Gie« (2005) die erfolgreiche Umsetzung ab und kritisiert die realitätsfremde Darstellung des Protagonisten: »[...] being portrayed as so ›ideally Indonesian‹, Soek Hok Gie appears very unfamiliar to most Indonesians. He is someone too far removed from what we find in everyday life in Indonesia. He is not someone ordinary Indonesians can easily meet, identify with or emulate.« 28

»Blind Pig Who Wants to Fly« ist im Vergleich zu diesen beiden Filmen »ethnisch unproblematisch«.29 Der Film ist der bisher ehrlichste und mutigste Versuch, den vorherrschenden Stereotypen über die

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Chinese Indonesians zu trotzen. Edwin bringt neue Perspektiven in die Debatte ein, ohne dabei eindeutig politisch oder moralisch zu werten. Seine doppeldeutigen Filmfiguren wirken trotz ihrer oftmals exzentrischen Tendenzen sehr lebensnah. Die Spannbreite ist so groß, dass sich jeder Zuschauer – ob Chinese Indonesian oder nicht – mit dem einen oder anderen Charakter identifizieren kann. Das liegt unter anderem daran, dass der Film einen Querschnitt durch die Generationen liefert und aufzeigt, wie verschieden die Charaktere jeweils mit ihrer Situation umgehen und dabei ihre ganz persönlichen Antworten finden. Der Paradigmenwechsel in der Repräsentation von Chinese Indonesians deutet sich an dieser Stelle bereits an. Die Lösung liegt in der Verschiebung des Referenzrahmens von der Outsider- in die InsiderWelt, nicht darin, die visuelle Repräsentation gänzlich aufzugeben. Chow schreibt dazu: »This move makes it possible to include that which has hitherto remained invisible and thereby to reinvent the very terms of the relation between the visible and the invisible. In this process, however, becoming visible is no longer simply a matter of becoming visible in the visual sense (as an image or object) but also a matter of participating in a discursive politics of (re-) configuring the relation between center and margins, a politics in which what is visible may be a key but not the exclusive determinant.« 30

Edwins soziologische Bestandsaufnahme werde ich im Folgenden anhand der Analyse der Hauptfiguren beleuchten. Im Fokus stehen dabei die drei Charaktere Verawati, Linda und Halim, die sich hinsichtlich der Untersuchung von »Ethnizität« und »Gender« besonders eignen.

Verawati – the fragile badminton player Der Film »Blind Pig Who Wants to Fly« beginnt mit einer in Zeitlupe abgespielten Aufnahme eines Badmintonspiels zwischen Indonesien und China. Es gibt keinen Ton. Die Totale zeigt nur die dynamischen Bewegungen der Spielerinnen auf dem Platz. Sehen können wir die indonesische Spielerin nur von hinten. Nach einem langen Ballwechsel erzielt Indonesien den Ausgleich – es steht 10:10. Die Einstellung springt auf die Halbtotale der Indonesierin. Sie hat die Angabe und mit der Berührung von Ball und Schläger setzt der Ton

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ein. Nun dominiert das dumpfe und gleichzeitig schallende Geräusch des wechselseitigen Abschlags die Szene. Die Bewegungen können wir nur noch ausschnittartig nachvollziehen. Es folgt der Schlüsselmoment dieser Eröffnungssequenz: Aus dem Off hören wir plötzlich die Stimme eines kleinen Jungen, der fragt: »So which one is the Indonesian player?« Die Antwort ist die Nahaufnahme auf das Netz, an dem der Federball hängen bleibt und dann auf den Boden fällt. Die Frage des Jungen basiert auf einem realen Ereignis. Beim Finale der Badminton-Weltmeisterschaft 1990 zwischen Indonesien und China rief ein Junge exakt die gleichen Worte. Die Chinese-IndonesianBadmintonspielerin und damalige Nr. 1 der indonesischen Nationalmannschaft Verawati musste sich ständig mit der Anzweiflung ihrer indonesischen Herkunft auseinandersetzen. Die unbedarfte Frage des Jungen brachte das Fass zum Überlaufen. Sie trat als Nationalspielerin zurück und beendete ihre Karriere. Das scheint überhaupt Edwins grundlegende Strategie zu sein: Er nimmt ein reales Ereignis und verwandelt es in ein Symbol oder ein Klischee. Oder auch umgekehrt: er nimmt eine Metapher und interpretiert diese so wortgetreu wie nur möglich. Nach der Badminton-Szene gibt es einen Schnitt auf zwei Frauenhände, die Dumplings mit Schweinefleisch füllen. Es ist Verawati, die dabei eine christliche Fernsehsendung schaut. Sie trägt noch immer das T-Shirt der Badminton-Nationalmannschaft. Verawati – eine Chinese Indonesian der zweiten Generation – fühlt sich als Indonesierin und hat für ihr Land als Sportlerin gekämpft. Nun kämpft sie nicht Abb. 1: Verawati – »the fragile badminton player«

Quelle: Eriek Nujaragan, © babi buta film

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mehr, sondern schweigt. Sie ist die einzige Figur, die kein Wort in dem ohnehin dialogarmen Film spricht und so gut wie nie in Interaktion mit den anderen Charakteren zu sehen ist. Apathisch und deprimiert sieht man sie meistens unentwegt chinesische Teigtaschen formen, während sie die Predigten des Fernsehpfarrers verfolgt. Nachts wandelt sie ziellos in der Wohnung umher, tagsüber starrt sie apathisch in die Luft. Verawati scheint in ihrer ganz eigenen Welt zu leben. Sie flüchtet vor der Realität und sucht die Antwort für die Geschehnisse im Christentum. Die Figur steht für eine Generation von Chinese Indonesians, die weder in der Lage ist, die erfahrene Schikanierung und Diskriminierung zu verstehen, noch, sie zu verarbeiten. Der einzig mögliche Umgang mit den Traumata scheinen Totschweigen und Verdrängung zu sein. Betrachtet man die Figur Verawati aus feministischer Perspektive, könnte man in ihr das sehen, was Krishna Sen als »feminity of silence«31 bezeichnet. Demnach werden »Weiblichkeit« oder »FrauSein« in der Gesellschaft mit Schweigsamkeit und Passivität gleichgesetzt. Sen bezieht sich hier insbesondere auf die kodrat wanita (»Natur der Frau«), ein vom Staat vorgegebenes Weiblichkeitsideal. Saskia Wieringa definiert die kodrat wanita als ein »religiously inspired code of conduct based on women‫ތ‬s intrinsic nature«.32 Dieser Verhaltenscode schreibt Gehorsamkeit gegenüber Männern, Passivität, sexuelle Sittsamkeit und Selbstaufopferung für die Familie vor. Die kodrat wanita definiert demnach den Status und die Rolle von Frauen innerhalb der indonesischen Gesellschaft als Mütter und Ehefrauen. Das Ausüben dieser Pflichten macht sie erst zu »richtigen« Frauen und legitimen Mitgliedern des indonesischen Nationalstaates.33 Ein Effekt dieser Vorschreibung als ideal angesehener Formen des Seins ist das Schweigen. So wundert es nicht, dass die Metapher des Schweigens sehr häufig in den Filmen der Neuen Ordnung verwendet wurde, um die »ideale Frau« zu (de)konstruieren. Verawati bekommt auch in »Blind Pig Who Wants to Fly« keine Stimme. Ihre »Fragilität« spiegelt sich in der Internalisierung von Emotionen und der Unfähigkeit zu sprechen wider. Die Affäre ihres Mannes Halim mit der Arzthelferin Salma und seine Konvertierung zum Islam nimmt sie ohne Worte hin. Auf den ersten Blick scheint Edwin das »Ideal der sprachlosen Frau«34 der Neuen Ordnung unreflektiert zu wiederholen. Doch bei genauerer Betrachtung des Films wird ersichtlich, dass er im Gegenteil eine Kritik an dem gängigen indonesischen Frauenbild und damit auch an der Neuen Ordnung übt.

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Edwin übernimmt das Stereotyp, interpretiert es aber metaphorisch und schafft es, durch diese Überziehung auf die Problematik aufmerksam zu machen. Vergleicht man darüber hinaus die Darstellung von Verawati mit der von Linda, wird deutlich, welches Frauenbild Edwin bevorzugt: das einer starken und selbstbewussten Frau. Linda nimmt als Protagonistin von »Blind Pig Who Wants to Fly« den meisten Raum innerhalb des Filmes ein und dominiert das Geschehen. Sie fungiert als Referenzperson, auf die sich alle anderen Charaktere beziehen. Sie ist diejenige, die um sich herum alle Sonderbarkeiten und Ungereimtheiten beobachtet, die das Dasein als Chinese Indonesian mit sich bringen. In »Blind Pig Who Wants to Fly« fehlt die dominante männliche Perspektive, die Frauen unterordnet und zum Schweigen bringt. Im Gegensatz zu den Filmen der Neuen Ordnung sind die weiblichen Rollen in Edwins Film nicht von den männlichen Figuren abhängig. Verawati lebt in ihrem eigenen Universum, in das niemand Zutritt hat – weder männliche, noch weibliche Personen. Sie allein dominiert das Geschehen in ihrer Welt des Schweigens. Ähnlich verhält es sich mit Linda. Obwohl sie im gesamten Film nur zusammen mit männlichen Charakteren zu sehen ist (mit ihrem Vater, ihrem Großvater und ihrem besten Freund, aber nie mit ihrer Mutter), sind die Rollen in diesen Szenen immer gleichberechtigt. Linda repräsentiert nicht nur eine junge, selbstbewusste Generation urbaner indonesischer Frauen, sondern – insbesondere im Kontext des Films – eine Gruppe junger emanzipierter Chinese Indonesians, zu der auch Edwin gehört.

Linda – the girl who eats firecrackers Die Kritik am Schweigen ist ein wesentlicher Bestandteil des Films und Motivation für die Produktion von »Blind Pig Who Wants to Fly«. Der Film soll die Stille um die Thematik durchbrechen und eine neue Diskussion anregen. Nicht nur Verawati verkörpert dieses Motiv. Ebenso sehen wir Linda am Anfang wortlos das Geschehen über sich ergehen lassen. In der Einführungsszene zur Vorstellung der Figur erscheint Linda als Kuriosität in einer indonesischen Fernsehsendung. In der fiktiven Reality Show »Cesa Show« werden jede Woche unterschiedliche indonesische Haushalte aufgesucht und außergewöhnliche Hobbys der Bewohner präsentiert. Nach dem »girl who sleeps with a thousand scorpions« ist nun Linda »the girl who eats firecrackers« Mittelpunkt der Show. Linda führt dem Fernsehteam vor, wie sie einen

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Feuerwerkskörper isst. Ähnlich einem Hot Dog legt sie den Knaller in ein Sandwich, steckt dieses in ihren Mund und zündet es an. Der (chinesische) Feuerwerkskörper ist eines der vielen Symbole, das sich wie ein roter Faden durch den Film zieht. Linda möchte mit dem Essen des Feuerwerkkörpers die bösen Geister aus ihrem Körper vertreiben. Es sind die Geister ihrer chinesischen Vorfahren, mit denen sie sich nicht identifizieren kann. Gezeigt wird hier die Angst und Paranoia, die die junge Generation von Chinese Indonesians von ihren Eltern geerbt hat und die sie sich nicht erklären kann. Edwin sagt dazu: »The fear is just something we inherit from our parents, but we don’t really know where this much pain comes from. And we don’t know the enemy ›the Chinese‹ there is a fear of on the part of our fellow Indonesians. I consider myself as Indonesian, not as Chinese.« 35

Lindas selbstzerstörerischer Akt ist für die weitere Entwicklung der Figur von wesentlicher Bedeutung. Der Knall ist ein befreiendes Moment. Die bösen Geister der Vergangenheit sind vertrieben und ermöglichen ihr einen neuen offenen Umgang und eine bewusste Auseinandersetzung mit den Traumata. Allgemein lässt sich die Szene auch als eine Kritik Edwins an den geldgierigen und sensationslüsternen indonesischen Medien sowie an der Kommerzialisierung so genannter »Chineseness« interpretieren. Auf humorvolle Art und Weise porträtiert er ein typisches MeAbb. 2: Linda – »the girl who eats firecrackers«

Quelle: Eriek Nujaragan, © babi buta film

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dienspektakel innerhalb der indonesischen Informationslandschaft und erörtert dabei die in die Visualität und Visibilität eingeschriebenen politischen und ökonomischen Faktoren. Weiter lässt sich die Szene als eine Kritik am Orientalismus, d. h. an der Ethnographisierung und Exotisierung der »Anderen« durch die Mehrheitsgesellschaft, lesen. Der durch die Explosion des Feuerwerkskörpers angedeutete neue, befreite Umgang mit der Vergangenheit seitens der jungen Generation von Chinese Indonesians wird noch in einer anderen Szene verdeutlicht. Linda sitzt mit ihrem besten Freund Cahyono am Computer. Gemeinsam legen sie den Leitsong des Films, Stevie Wonders Hit »I just called to say I love you«, als Soundtrack unter das Archivmaterial der »May ’98 Riots«. Wonders eigentlich romantisches Lied bekommt dadurch eine höchst ironische, wenn nicht gar sarkastische Note. Die Unruhen im Mai 1998, kurz vor dem Sturz der Neuen Ordnung, stellten einen Höhepunkt der Abneigung gegenüber den Chinese Indonesians dar. Die Finanzkrise in Asien im Jahre 1997 führte zum Kollaps des Bankensystems und der indonesischen Währung. Inflation und horrende Lebensmittelpreise waren die Folge. Die Regierung suchte nach Ausreden und beschuldigte lokale Händler und Ladenbesitzer. Die Wut der Öffentlichkeit richtete sich folglich gegen die finanzstärkste Bevölkerungsschicht – die Chinese Indonesians. Im Mai eskalierte dann die Lage: Häuser und Läden wurden niedergebrannt, tausende wurden umgebracht und unzählige Frauen vergewaltigt.36 Nach diesen Ausschreitungen verließen viele Chinese Indonesians das Land. Sie flohen nach Australien, Singapur, in die Niederlande und die USA – einige kehrten später nach Indonesien zurück, andere blieben für immer fort. Das unter die Live-Aufnahmen der Ausschreitungen gelegte Lied »I just called to say I love you« symbolisiert Terror und Hoffnung zugleich und wird damit zur einer Art Hymne für die Chinese Indonesians. Das Moment der Hoffnung wird zudem unterstrichen, wenn man mit einbezieht, dass Stevie Wonder in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung engagiert war und sich für die Gleichberechtigung der Afroamerikaner einsetzte. »I just called to say I love you« widmete er Nelson Mandela. Der Terror kommt wiederum auf formaler Ebene zum Ausdruck. Insgesamt kommt der Song acht Mal im Film vor, womit die Nerven der Zuschauer/innen bis an die Grenzen strapaziert werden. Edwin sagt zur Auswahl des Liedes Folgendes:

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»Back in late 80s I grew up with that song. It was so popular. Somehow it’s like a terror following me everywhere. For me it was an early symbol of ›The American Dream‹ and my evolving understanding of it. I have so many friends who are trying hard to leave Indonesia and go to the United States to reach their dreams – to escape, to survive. The Stevie Wonder music can be your hope, it can be your friend, but it also can be your enemy. It depends on your mood and vision.« 37

Mit dieser Aussage wird auch deutlich, in welchem Ausmaß es sich bei der filmischen Auseinandersetzung mit der Thematik um ein persönliches Anliegen handelt. Auch in einer anderen Szene gibt es einen autobiographischen Bezug. Cahyono und Linda kennen sich bereits seit der Schulzeit. Immer wieder wird Cahyono von anderen Kindern schikaniert, als »Cino« beschimpft, obwohl er eigentlich gar kein Chinese Indonesian ist. Er läuft mit dem Kopf nach unten, um sein Aussehen zu verstecken. Ähnlich ist auch Edwin in seiner Kindheit durch die Straßen gelaufen. In einem zeitlichen Rückblick sehen wir Linda und Cahyono auf dem Rückweg von der Schule nach Hause. Sie kommen an einer Gruppe von Jungen vorbei, die die beiden anpöbeln: Boys: Cahyono: Linda: Boys: Boys: Boys: Boys:

»Hey look! Chinese brats.« »Let’s take another route home.« »It’s ok. Don‫ތ‬t look down.« »Why are you looking down? Are you human beings or pigs?« »Hey, stop! ... We said stop them. Take them in there. Just grab them. Don’t be a slug.« »Get the bag. Hey, give me the bag!« »Kick their asses! Pigs! Cino! Cino!«

Als die Jungen anfangen Cahyono zu verprügeln, zündet Linda einen Feuerwerkskörper an und wirft diesen auf die Gruppe, um sie zu vertreiben. Die Rückblicke in Lindas Vergangenheit zeigen die Kontinuität des Symbols Feuerwerkskörper auf. Sie scheint diese stets bei sich zu tragen, um gegebenenfalls böse Kinder oder Geister in den verlassenen Ruinen zu vertreiben. Ihre rebellische Art kommt hier bereits zum Vorschein. Cahyonos Eltern reagieren auf die ständigen Schikanen. Aus Angst um ihren Sohn wollen sie ihn auf eine öffentliche Schule schicken. Er soll nicht mehr mit Linda und anderen chinesischen Kindern spielen.

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Cahyono möchte kein Chinese sein. Als Linda ihn fragt: »What do you want to be when you grow up?«, antwortet er traurig: »Anything but Chinese.« Auch als junger Mann tut er alles dafür, um nicht mit einem Chinese Indonesian verwechselt zu werden. Er trägt permanent japanische Baseballkleider, um erst gar nicht in den Verdacht zu kommen Chinese Indonesian zu sein. In dem Beziehungspaar LindaCahyono ist Linda immer die Überlegene. Sie bestimmt die Situation und steht Cahyono mit Worten oder Taten unterstützend zur Seite. Linda ist diejenige, die Fragen stellt und nach Antworten sucht. Der selbstbewusste Umgang mit Diskriminierungssituationen lässt sich erklären, wenn wir ein anderes Beziehungspaar betrachten. In einer Szene sehen wir in einer Rückblende Linda mit ihrem Großvater »Opa«, zu dem sie eine sehr enge Beziehung hat. »Opa« lebt seiner Enkelin vor, dass es keine Schande ist, chinesischer Herkunft zu sein. Er steht exemplarisch für eine ältere Generation, die sich selbst als »Chinesen« identifiziert. Er ist mit sich selbst im Reinen und erscheint somit als glücklichste und ausgeglichenste Figur im Film. Beim Billardspielen unterhält er sich mit Linda über seinen Namen: »My name is Gian Tik. Wie Gian Tik. At school, people called me Bernardus ... then Wie Gian Tik again at home. Then ... I changed my name to Suwisno Wijanarto. Su is Javanese. Wis is short for Suwis, which comes from the Kuning Kingdom. So then they called me Suwisno Wijanarto.«

Hier thematisiert Edwin den von Suharto eingeführten Zwang zur Namensänderung im Rahmen seiner Assimilierungspolitik. Ariel Heryanto beschreibt sehr treffend die in diesem Verfahren verwendete Strategie der Ein- und Ausgrenzung: »Changing names is enforced not really to eradicate racial discrimination. Rather, it celebrates the conquest of a threat that the conquerors had initially fashioned. Badminton world champions of Chinese descent are known by their Indonesian names. But criminals of the same ethnic background appear in the mass media under their Chinese names.« 38

Im Gegensatz zu den anderen Charakteren trägt »Opa« selbstbewusst seinen chinesischen Namen Gian Tik Wie. Während »Opa« für Linda eine Vorbildfunktion einnimmt, bleibt die Beziehung zu ihrem Vater Halim ambivalent. In ihrer Kindheit kommunizieren beide noch

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singend (»I just called to say I love you«), später sieht man sie dann gar nicht mehr zusammen. Die Kommunikationsunfähigkeit mit den Eltern ist ebenso eine Erfahrung aus Edwins Biografie. Die Situation der Chinese Indonesians im Allgemeinen und die chinesische Herkunft der Eltern im Besonderen sind bis heute in seiner Familie Tabuthemen. Es wird deutlich, dass vor allem die Kommunikation mit der Generation am schwierigsten ist, die am heftigsten von den »May ’98 Riots« betroffen war.

Halim – who wants to become a Muslim Der Zahnarzt Halim ist der komplexeste Charakter in »Blind Pig Who Wants to Fly«. Am Anfang sehen wir Halim mit seiner Frau Verawati zusammen im Wohnzimmer sitzen. Im Umgang mit ihrer Identität sind die beiden grundverschieden. Verawati hat die Hoffnung aufgegeben und ist depressiv. Sie versucht dennoch, beide Seiten, die »indonesische« und die »chinesische«, miteinander zu vereinen (symbolisiert durch das Formen von Dumplings und dem gleichzeitigen Tragen des Badminton-Shirts). Halim hingegen tut alles dafür, ein »richtiger (moderner) Indonesier« und guter Muslim zu werden, sich damit seiner »Chineseness« zu entledigen und so in die Mehrheitsgesellschaft einzugliedern. Anstatt Dumplings isst er Hot Dogs. Vom Christentum konvertiert er zum Islam. Das demonstriert er deutlich, als er eine christliche Sendung im Fernsehen ausschaltet und zu seiner Frau sagt: »My wife, I want to convert to Islam.« Schon der Name Halim ist Abb. 3: Halim – »who wants to become Muslim«

Quelle: Sony Seniawan, © babi buta film

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ein Hinweis darauf, dass er es mit seiner »Identitätsänderung« sehr ernst meint. Das arabische Wort halim bedeutet nicht nur milde, höflich und geduldig und verkörpert somit wichtige »javanische Tugenden«, sondern ist auch einer der 99 Namen Allahs. Halim geht sogar so weit, sein Aussehen verändern zu wollen. Er möchte seine Augen runder machen. Wir sehen ihn, wie er in seiner Praxis ein Skalpell an seine Augen führt – Schnitt. Seitdem trägt er eine dunkle Sonnenbrille. Auch hier lässt sich der Bezug zu Stevie Wonder wiederfinden. Blindheit ist ein wichtiges Motiv in »Blind Pig Who Wants to Fly«. Das Nicht-sehen-Können steht in der Literatur allgemein für die Flucht vor der Wahrheit, dafür, dass eine Person die Realität sehend nicht mehr ertragen kann. Ähnlich wie Verawati entledigt sich auch Halim eines Sinnesorgans. Während Verawati nicht über die erfahrene Diskriminierung sprechen kann, verschließt Halim seine Augen davor. Die Metaphern von Blindheit und Stummheit stellen eine sinnbildliche Kritik des Regisseurs an den Chinese Indonesians selbst dar, die die Vergangenheit totschweigen und wegsehen, anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen. Halim hat, wie bereits erwähnt, neben seiner Frau noch eine indonesische Geliebte Salma, eine javanische Schönheit und fromme Muslimin. Er möchte mit Salma eine »richtige indonesische Familie« gründen, sie heiraten und ein Kind bekommen. Damit Salma einwilligt, muss er ihren Traum erfüllen und ihr einen Auftritt bei der Musikshow »Planet Idol« verschaffen (»Planet Idol« ist eine fikAbb. 4: Salma

Quelle: Sony Seniawan, © babi buta film

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tive Version von »Indonesian Idol«, dem indonesischen Pendant zu der deutschen Sendung »Deutschland sucht den Superstar«). Salma dient als eine Art Rettungsanker für Halim, der mit ihr die Aussicht auf ein besseres und friedvolles Leben verbindet. Nicht zufällig heißt seine Geliebte Salma: Der Name leitet sich von dem arabischen Wort salima ab, was so viel bedeutet wie sicher sein, heil sein, frei sein, Frieden schließen u. Ä. Die Thematisierung einer Hochzeit zwischen einem Chinese Indonesian und einer »indigenen Indonesierin« (pribumi),39 die ein gemeinsames Kind bekommen möchten, ist jedoch keine Selbstverständlichkeit in der Geschichte des indonesischen Kinos. So merkt Krishna Sen in ihrer Analyse des Films »Ca-bau-kan« an, dass die Erzählung einer solchen Geschichte vor 1998 nicht möglich gewesen wäre.40 Die Konvertierung von Chinese Indonesians zum Islam und Mischehen wurden in der Neuen Ordnung weitestgehend als Wege der Assimilierung und als Zeichen von Nationalbewusstsein gutgeheißen. Doch ein chinesischer Bräutigam ist nicht automatisch ein gleichberechtigter Mitbürger, wie Ariel Aryanto deutlich macht: »Chinese males marrying native women still have to carry special identification cards and are subject to various other administrative discriminations. Their children are still classed as non-pribumi (non-indigenous), regardless of how purely native their mothers are.« 41

Anders als die chinesische Minderheit geht man bei den pribumis davon aus, dass sie automatisch mit der Geburt »richtige Indonesier« sind. Das impliziert die Vorstellung, dass Indonesien geerbter Grund und Boden sei und somit ausschließliches Besitztum der pribumi.42 Diese Erbschaftsvorstellung spiegelt auch die in Indonesien in weiten gesellschaftlichen Kreisen vorherrschende Auffassung einer unveränderbaren und fixen ethnischen Identität wider. »Ethnizität« wird dabei als etwas Biologisches betrachtet, als etwas, das man »im Blut hat«. Die Vorstellung, dass es sich bei Ethnizität um ein historisches und soziokulturelles Konstrukt handelt, ist den meisten Menschen, so auch den Indonesiern, fremd, wie Allen Chun feststellt: »Discourses of identity produced by the state or cultural mainstream always make claims about the nature of identity as though they are based on natural facts, when, in actuality, they are just claims, or representations, that need to be constantly legitimized.« 43

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Die Staatszugehörigkeit in Indonesien wird zudem über den Vater und nicht über die Mutter vererbt. Dementsprechend erklärt sich auch die folgende Szene: Halim sitzt am Ende des Films als glücklicher Moslem an einem Tisch und füllt ein Formular für die »Lotterie« um die Green Card für die USA aus. Gleichzeitig läuft im Fernsehen die Aufzeichnung der »Planet Idol«-Show und wir hören seine frisch angeheiratete Frau Salma »I just called to say I love you« singen. Die Kamera schwenkt von Halim auf einen kleinen Jungen, offensichtlich sein Sohn, der fröhlich mit einem Spielzeug im Takt des Liedes klappert. Die indonesische Staatsbürgerschaft wird automatisch nur an die Kinder eines pribumi-Vaters und einer Chinese Indonesian Mutter vererbt, nicht aber – wie im Falle von Halims Sohn – an Kinder eines Chinese Indonesian und einer pribumi-Mutter.44 Diese gesetzliche Regelung spiegelt nicht nur die Stellung von Frauen innerhalb der indonesischen patriarchalen Gesellschaft wider, sondern führt auch zu Halims Entscheidung, Indonesien zu verlassen. Halim möchte seinem Sohn die Erfahrung der Diskriminierung ersparen und hofft, ihm in den USA ein besseres Leben bieten zu können. Doch der Wunsch nach Frieden und größerer Freiheit hat seinen Preis. Hier kommen das schwule Paar Roni und Yayha ins Spiel. Die beiden leben in einer riesigen Villa mit Schwimmbad. Roni ist ein Militär und Yayha ein gutbürgerlicher Regierungsbeamter. Am Pool drückt Roni gegenüber Yayha sein Begehren aus, von ihm anal penetriert zu werden: »Why are you always like that? I want to know what it feels like. I don’t buy your excuse. This is not about pride, not about who’s dominating whom. I want to feel you inside me. If you say you don’t want to do it, because you think it would hurt my pride ... that’s nonsense.«

Interessant hierbei ist, dass der Satz »I want to feel you inside me« als einziger nicht auf Indonesisch, sondern auf Englisch gesprochen wird. Einerseits deutet das auf ihre Zugehörigkeit zur oberen Mittelschicht bzw. Oberschicht hin, in der es mittlerweile als Statussymbol gilt, Englisch zu sprechen oder das Indonesische mit englischen Wörtern zu mischen. Andererseits kann diese Abgrenzungsstrategie aber auch mit dem indonesischen Scham-Konzept malu erklärt werden. Malu ist ein Emotionsterminus, der gemeinhin als Scham (shame) oder Verlegenheit (embarrassment) übersetzt wird.45 Elizabeth Collins und Ernaldi Bahar weisen allerdings darauf hin, dass diese Überset-

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zung eine Vereinfachung dieses sehr komplexen Gefühls darstellt, da es sich nicht nur auf das Persönliche bezieht, sondern insbesondere weitreichende Auswirkungen im sozialen Bereich mit sich bringt.46 Collins und Behar bringen malu vor allem mit Sexualität in Verbindung: »As with the English concept of shame, malu is closely associated with sexuality. The Indonesian word for genitals (kemaluan) echoes the English expression ›private parts‹. Furthermore, sexually provocative behaviour by self or others should elicit malu [...]. Gender-inappropriate behaviour causes both men and women to feel malu. A boy would feel malu if he behaved like a girl, for example by displaying tears in public.« 47

Ronis Wunsch nach analer Penetration löst nach dieser Logik malu aus. Er umgeht allerdings die Gefahr einer gesellschaftlichen Zurückweisung, indem er sein von den indonesischen Normen abweichendes Begehren in englischer Sprache ausdrückt und damit in ein anderes Normensystem verlagert. Mit der Antwort von Yayha »Have you had your teeth checked?« wird die Verbindung zum Zahnarzt Halim hergestellt. Durch die Montage nichtlinear abfolgender Szenen wird uns vermittelt, dass zwischen Halim und dem schwulen Pärchen ein Geschäft läuft. Halim erfüllt Roni seine sexuellen Fantasien und dafür verhilft dieser Salma zu dem Auftritt bei der »Planet Idol«-Show. Die beiden schwulen Charaktere sind laut Edwin von fundamentaler Bedeutung. Sie erlauben ihm, zwei wichtige Themen anzusprechen. Chinese Indonesians und Homosexuelle begeben sich gleichermaßen auf eine Identitätssuche und versuchen dabei, ihren Platz in einer sinophoben und homophoben Gesellschaft zu finden. Beide Gruppen werden in Indonesien gemeinhin als »krank und abartig« betrachtet, wie der Regisseur Edwin kommentiert: »Being Chinese and being gay is like having a disease that has to be fight and cured.«48 Neben Homophobie und Sinophobie kritisiert Edwin auch die sich bis heute durch die Geschichte Indonesiens ziehende Korruption. Der moderne indonesische Staat ist praktisch aus den korrupten Beziehungen zwischen dem Militär, den Regierungsbeamten und der reichen chinesischen Elite geschaffen worden. Suharto war abhängig von den Geldern der chinesischen Geschäftsleute, die er benötigte, um seine Militärherrschaft aufrechtzuerhalten. Schmiergelder und Korruption zwischen vielen wohlhabenden Chinese Indonesians, dem

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Militär und Staatsbeamten wurden zur Normalität. Dieses Mitwirken seitens der chinesischen ökonomischen Elite verstärkte allerdings die bereits in der Kolonialzeit bestehende Missgunst und schürte die Vorurteile gegenüber allen Chinese Indonesians als Plünderer und Ausbeuter, die von den korrupten Praktiken der Neuen Ordnung profitiert hätten. Zwar hatten die Chinese Indonesians der elitären Oberschicht eine ökonomische Vormachtstellung, auf politischer und gesellschaftlicher Ebene jedoch waren sie diskriminiert.49 Die gegenseitige Abhängigkeit wird in dieser Szene von Edwin sinnbildlich dargestellt.

D IE I DENTITÄTSKRISE DER C HINESE I NDONESIANS Der Film »Blind Pig Who Wants to Fly« macht deutlich, dass es auch eine Dekade nach Beendigung von Suhartos Neuer Ordnung für viele Chinese Indonesians schwierig ist, sich von den Traumata der Vergangenheit zu befreien und ihren Platz in der indonesischen Gesellschaft zu finden. Der Film erscheint zu einer Zeit, in der Chinese Indonesians noch verwirrter über ihre Identität sind als je zuvor. Plötzlich haben sie die Freiheit, ihre einst verbannte Sprache zu sprechen und ihre Feste zu feiern. Die »China-mania«, die um den Globus geht, findet sich auch in Indonesien in einer wiederentdeckten »Kultur« und ihren Stereotypen wieder. Das (wieder) gefeierte Neujahrsfest Imlek ist das wohl deutlichste Anzeichen für den sich wandelnden Charakter chinesischer Identitäten in Indonesien. Mehr als alle anderen Feste steht Imlek für eine lang unterdrückte »ethnische Identität« und gilt für viele als Symbol für freie Meinungsäußerung. Doch viele Chinese Indonesians, insbesondere die jüngere Generation, finden diesen Boom chinesischer kultureller Feste befremdend. Auch die totok50 halten diese »erfundenen Traditionen« für irrelevant und unnötig.51 Imlek steht somit sinnbildlich für eine Identitätskrise, die mehrere Generationen von Chinese Indonesians betrifft. Viele Chinese Indonesians der alten Generation tendieren heute dazu, ihre lang unterdrückte »Chineseness« zu idealisieren, wie es Allen Chun auf den Punkt bringt: »Chineseness here refers to the attachment that individuals felt to their own ethnic homeland [...].«52 Sie imaginieren ein »ancestral homeland« – ein Land, das in ihrer Vorstellung für eine authentische chinesische Identität steht, fix und unveränderbar. Diese Vorstellung spiegelt eine Idee von Identität wi-

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der, die auf Ethnizität beruht. Der Diskurs von »Ethnizität + Kultur = Identität« ist die Grundlage für die Konstruktion einer Gemeinschaft, die vom indonesischen Mainstream autorisiert wird, so Chun: »In the service of the modern nation-state, identity is rarely a question of who one is as an individual, despite appearances to the contrary, but always, in the first instance, of who we are as a group.« 53

Wer sind nun also die Chinese Indonesians? »Blind Pig Who Wants to Fly« ist Edwins persönliche Antwort auf diese Frage – eine Antwort, die jegliche Definitionsversuche einer vermeintlichen »Chineseness« hinfällig macht. Ariel Heryanto umschreibt diese vage Identitätszuschreibung wie folgt: »[Chinese Indonesians are] … a ›group‹ whose imagined identity remains nebulous and whose substantive elements remain fictional.«54 Oder, um es mit Edwin pragmatischer auszudrücken: »The problem is not becoming Chinese, but becoming Indonesian.«55 Edwin kritisiert den plötzlichen Enthusiasmus für eine scheinbare »chinesische Kultur«, die eine öffentliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung der langen Geschichte der Diskriminierung gegenüber der chinesischen Minderheit in den Schatten rückt. Ohne Polemik erinnert Edwin in seinem Film an die persönlichen Leiden und die fest in die Körper eingeschriebenen Traumata. Auch das bedeutet es, Chinese Indonesian zu sein. Anders als die meisten indonesischen Filme, wie z. B. »Ca-baukan«, die sich diesem Thema widmen, verzichtet Edwin auf Exotisierung. Bei ihm gibt es keine prätentiösen und kitschigen Accessoires in leuchtend roten Farben, keine traditionellen Drachentänze und keine Räucherstäbchen in chinesischen Tempeln. Edwin geht es um die Darstellung von Emotionen. Wir sehen Figuren, deren Identitäten in Bewegung sind und es wird ein Bild einer Gruppe gezeichnet, deren einzelne Mitglieder unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was es heißt Chinese Indonesian oder einfach nur Indonesier/ in zu sein. Edwin zeigt uns, dass die Vorstellungen eines Selbst sich je nach soziopolitischer Disposition wie etwa Alter und Geschlecht unterscheiden. Edwin liefert uns eine soziologische Analyse der sehr heterogenen Gruppe der Chinese Indonesians und überlässt es den Zuschauer/inne/n selbst, aus dieser strategischen Auswahl aneinandergereihter Emotionsfetzen Sinn zu stiften. »Instead of simply asking how identity is constituted«, erklärt Allen Chun, »one should also ask when and why identity is invoked. That is to say, perhaps

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more interesting than knowing that people have identities is the problem of why people have crises of perception that give rise to new identities.«56 Edwin subversiert die in Indonesien gängige Vorstellung einer natürlichen und fixen Identität. Anders als vielen Filmemacher/inne/n vor ihm gelingt es ihm, von einer essentialisierenden Idee von »Chineseness« wegzukommen. »Chinesisches Blut«, das durch »chinesische Körper« fließt, gibt es in seinem Film nicht.57 Chinese Indonesians sind Fiktionen, die sowohl von der indonesischen Mehrheitsgesellschaft als auch von der chinesischen Minderheit selbst erfunden und konstruiert werden. In »Blind Pig Who Wants to Fly« erscheint alles als konstruiert – die Charaktere genauso wie die unkonventionelle Art des Geschichtenerzählens, in dem sich Erzählfetzen an Erzählfetzen reihen. Dies erscheint adäquat, um den zerrissenen Zustand der Figuren, aber auch den des Regisseurs, zu vermitteln. Edwin erklärt sein Anliegen wie folgt: »I can’t do it in linear narrative. For me, when you want to share feelings and emotions, it’s impossible to be clear or analytical. It’s more than ›cause and effect‹. Sometimes you know the ›effect‹ only, but not the ›cause‹. I don’t want to make those feelings and emotions become something clear to explain. Because it’s not, it’s very complicated. The film should not explain the story of being Chinese. It’s not a simplification of a history. It’s not a collection of facts. It’s about how you feel as Chinese Indonesian.« 58

Es ist dieses Experimentieren, das Edwins Film zu einem außergewöhnlichen Werk innerhalb der indonesischen Filmlandschaft macht. Aufgrund seiner besonderen Erzählsprache, gespickt mit kritischen Reflexionen, schafft er den Paradigmenwechsel in der visuellen Repräsentation von Chinese Indonesians. Konsequent erobert er ein lang vorenthaltenes Recht auf (Selbst-)Repräsentation zurück. Doch eine wichtige Frage bleibt bis zum Schluss: Wird das Schwein jemals frei sein und fliegen können? Edwins Antwort ist nüchtern, aber dennoch nicht ohne Hoffnung: »[...] the pig will never fly. For the blind pig there is only a hope to fly […].«59 Aber um wessen Befreiung geht es eigentlich? Es ging zumindest um Edwins. Für ihn war der Film eine Art Therapie. Er gehört zu den wenigen, die den Mut gefunden haben, öffentlich über ein Thema zu sprechen, das lange Zeit tabu war. Edwin wagt es, ungemütliche und kontroverse Fragen zu stellen. Er kritisiert nicht nur die indonesische

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Regierung, sondern auch die eigenen Reihen. Vielleicht liegt gerade darin sein größtes Verdienst.

A NMERKUNGEN 1 | Rey Chow: Sentimental Fabulations, Contemporary Chinese Films: Attachment in the Age of Global Visibility, New York: Columbia University Press 2007. 2 | Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 16 (1975), S. 6–18. 3 | Rey Chow: »Sentimental Fabulations, Contemporary Chinese Films: Attachment in the Age of Global Visibility«, in: Paul Bowman (Hg.), The Rey Chow Reader, New York: Columbia University Press 2010, S. 186. 4 | Ebd., S. 187; Michel Foucault: The History of Sexuality, Vol. 1: An Introduction, London: Penguin, 1979. 5 | Ebd., S. 188. 6 | Ebd., S. 190. 7 | Rey Chow: »The Dream of a Butterfly«, in: Paul Bowman (Hg.), The Rey Chow Reader, S. 125. 8 | Charles A. Coppel: Indonesian Chinese in Crisis, Kuala Lumpur: Oxford University Press 1983, S. 5. Aufgrund dieser komplexen Bedeutung werde ich den englischen Begriff Chinese Indonesians beibehalten. 9 | Krishna Sen: »›Chinese‹ Indonesians in national cinema«, in: Inter-Asia Cultural Studies 7 (1) (2006), S. 171–184. 10 | Vgl. K. Sen: »Chinese Indonesians«, S. 171. 11 | Ebd., S. 177. 12 | Ariel Heryanto: »Silence in Indonesian Literary Discourse: The Case of the Indonesian Chinese«, in: Sojourn 12/1 (1997), S. 26–45, hier S. 26. 13 | Die Zeit der niederländischen Verwaltung war durch eine starke Hierarchie innerhalb der indonesischen Gesellschaft gekennzeichnet. Der Machterhalt der Niederlande in dem indonesischen Archipel beruhte auf dem Prinzip der gesellschaftlichen Segregation (vgl. A. Vickers: A History of Modern Indonesia, New York: Cambridge University Press 2005). Im Zuge dessen wurde auch die chinesische Minderheit von der Mehrheitsgesellschaft isoliert. Die in Niederländisch-Ostindien eingeführte »europäische Logik der Differenz«, insbesondere im Bezug auf den Umgang mit den Chinese Indonesians, hat sich bis heute fest in Indonesien verankert (Martin Sökefeld: »Problematische Begriffe: ›Ethnizität‹, ›Rasse‹, ›Kultur‹, ›Minderheit‹«, in: Brigitta Schmidt-Lauter (Hg.), Ethnizität und Migration, Berlin: Reimer 2007, S. 31–50, hier S. 42.

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14 | C. A. Coppel: »Historical Impediments to the Acceptance of Ethnic Chinese in a Multicultural Indonesia«, in: Leo Suryadinata (Hg.), Chinese Indonesians: State Policy, Monoculture and Multiculture, Singapore: Eastern Universities Press 2004, S. 17–28, hier S. 27. 15 | Vgl. Wahyu Effendi: »Never Indonesian Enough: State discrimination against Chinese is a form of cultural violence«, in: Inside Indonesia 95 (2009), http://www.insideindonesia.org/edition-95/never-indonesian-enough vom 5. Januar 2010. 16 | »Ca-bau-kan« ist die Literaturverfilmung des gleichnamigen Romans von Remy Sylado. Sie ist die erste Publikation der in der Reformasi neu gegründeten »Peranakan Chinese Literary Series«. 17 | Vgl. K. Sen: »›Chinese‹ Indonesians«, S. 182. 18 | Edwin wurde 1978 in Surabaya (Java) geboren. Zunächst machte er seinen Abschluss als Grafikdesigner. Danach entschied er sich, seine Heimatstadt zu verlassen, und begann 1999 sein Filmstudium am Jakarta Institute of the Arts (Institut Kesenian Jakarta – IKJ). Dort entflammte seine Leidenschaft für den Film. Dennoch verließ er im Jahr 2005 das Institut. Ohne einen Abschluss verfolgte er nun seine Karriere als unabhängiger Filmemacher. Seine Kurzfilme wurden auf zahlreichen internationalen Filmfestivals gezeigt. Für »Blind Pig Who Wants to Fly« gewann er insgesamt fünf Preise (unter anderem den begehrten internationalen Kritikerpreis FIPRESCI Prize des Rotterdam International Film Festivals sowie zuletzt die Auszeichnung für seinen Debütfilm als bester »New Indonesian Director 2009« auf dem Jakarta International Film Festival). Der Filmkritiker Alexis Tioseco würdigt Edwin wie folgt: »Refined yet playful in aesthetic, often with leaps in logic, Edwin has carved out a unique place – and represents a unique voice – among filmmakers in Southeast Asia. Hailed by many as one of the finest short filmmakers in the region (he has exhibited his work in Rotterdam, Oberhausen, and the Director‫ތ‬s Fortnight at Cannes respectively), there is a force to his aesthetic, a punch to his imagery and use of sound, and a certain degree of modernism in his insistence on working with celluloid.« Alexis Tio seco 2006 in http://www.criticine. com/interview_article.php?id=31 vom 5. Januar 2010. 19 | Krishna Sen: »›Chinese‹ Indonesians in national cinema«, in: Inter-Asia Cultural Studies, 7 (1) (2006), S. 171–184, hier S. 171. 20 | Ariel Heryanto: »Citizenship and Indonesian Ethnic Chinese in post1998 films«, in: Ariel Heryanto (Hg.), Popular Culture in Indonesia: Fluid Identities in Post-Authoritarian Politics, London/New York: Routledge 2008, S. 70–92, hier S. 85. 21 | Zitat Edwin, entnommen aus der Pressemappe zu »Blind Pig Who Wants to Fly«.

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22 | Edwin 2008, Zusammenfassung der Handlung auf IMDb (International Movie Database): http://www.imdb.com/title/tt1129405/plotsummary vom 1. Dezember 2010. 23 | Laut der letzten Bevölkerungszählung im Jahr 2000 gibt es ungefähr 1,8 Millionen Chinese Indonesians. Das sind nur 1 % der indonesischen Gesamtbevölkerung (ungefähr 238 Millionen Einwohner). Diese sehr niedrige Zahl wurde von vielen Wissenschaftler/inne/n angezweifelt und wird darauf zurückgeführt, dass sich die meisten Chinese Indonesians aus Angst vor Diskriminierung nicht als solche identifizierten und dementsprechend andere Angaben machten. Jami Mackie geht davon aus, dass die Zahl bei 5–6 Millionen Chinese Indonesians liegt. Vgl. Jami Mackie: »How many Chinese Indonesians?«, in: Bulletin of Indonesian Economic Studies, 41 (1) (2005), S. 97–101, hier S. 97. 24 | Die Vorführungen von »Blind Pig Who Wants to Fly« beschränkte sich in Indonesien auf lokale Filmfestivals und einzelne Vorführungen in Schulen, Universitäten und Kulturzentren. Der Film hatte dafür international großen Erfolg. 25 | Doch unabhängig davon verfügte diese ambitionierte unabhängige Produktion nicht über die notwendigen finanziellen Mittel, um den Film mit ausreichend vielen Kopien in den kommerziellen indonesischen Kinoketten wie Cinema 21 veröffentlichen zu können. Edwin fügt hinzu: »I realized from the beginning that the film would never be a box office. It is too experimental for Indonesian audiences. Therefore it wasn’t efficient to go to the mainstream cinemas. But apart from that, it wasn’t also the main goal of my film. I want the audience to discuss the issues raised in the film and this wouldn’t work when putting it in Cinema 21. I prefer to show the film in schools and film centers where I can discuss face to face with the audience. There are also other site effects by distributing the film through Cinema 21. When the film is not successful and doesn’t sell enough tickets they just pull it out before the end of the release time. It can be just two or three days after the premiere and then people will think that your film is bad and that gives you a bad reputation as filmmaker.« Edwin, Interview mit der Autorin, Dezember 2009. 26 | K. Sen: »›Chinese‹ Indonesians«, S. 181. 27 | Ebd., S. 182. 28 | A. Heryanto: »Citizenship and Indonesian Ethnic Chinese«, S. 85. 29 | Ebd., S. 90. 30 | Vgl. R. Chow: »Sentimental Fabulations«, S. 189. 31 | Krishna Sen: Indonesian Cinema: Framing the New Order, London, New Jersey: Zed Books 2004, S. 141.

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32 | Saskia Wieringa; »The Birth of the New Order State in Indonesia: Sexual Politics and Nationalism«, in: Journal of Women’s History 15 (1) (2003), S. 70–91, hier S. 75. 33 | Ebd, S. 75 f. 34 | Vgl. Sen: »Indonesian Cinema«, S. 143. 35 | Edwin, Interview mit der Autorin, Dezember 2009. 36 | Vgl. Leo Suryadinata: »Indonesian State Policy Toward Ethnic Chinese: From Assimilation to Multiculturalism«, in: Leo Suryadinata (Hg.), Chinese Indonesians: State Policy, Monoculture and Multiculture, Singapore: Eastern Universities Press 2004, S. 1–16, und Jemma Purdey: »A common destiny: Challenges remain for Chinese Indonesians 10 years after reformasi« in: Inside Indonesia 95 (2009), http://www.insideindonesia.org/edition-95/ a-common-destiny vom 5. Januar 2010. 37 | Edwin, Interview mit der Autorin, Dezember 2009. 38 | Ariel Heryanto: »Ethnic Identities and Erasure«, S. 104. 39 | Pribumi bedeutet wörtlich übersetzt »Nachkommen der Erde« und bezieht sich auf die »Ureinwohner« Indonesiens, die sich aus den verschiedenen ethnischen Gruppen des Inselstaates zusammensetzen. Der Begriff wurde unter der holländischen Kolonialherrschaft als soziodemographische Kategorie eingeführt, um die drei von ihnen eingeführten Klassen zu unterscheiden: Europäer, Immigranten aus Asien (insbesondere Chinese Indonesians) und die pribumi (niederländisch: inlander). 40 | Vgl. K. Sen: »Chinese Indonesians«, S. 176 f. 41 | Ariel Heryanto: »Ethnic Identities and Erasure«, S. 103. 42 | Ebd., S. 93. 43 | Allen Chun: »Fuck Chineseness: On the Ambiguities of Ethnicity as Culture as Identity«, in: boundary 2, 23 (2) (1996), S. 111–138, hier S. 126. 44 | Vgl. K. Sen: »Chinese Indonesians«, S. 176 f. 45 | J. R. J. Fontaine/Y. H. Poortinga/B. Setiadi/S. Markam: »Cognitive structure of emotion terms in Indonesia and The Netherlands«, in: Cogni tion & Emotion 16 (1) (2002), S. 61–86. C. Goddard: »The ›social emotions‹ of Malay (Bahasa Melayu)«, in: Ethos 24 (3) (1996), S. 426–464. Elizabeth Fuller Collins/Ernaldi Bahar: »To Know Shame: Malu and Its Uses in Malay Societies«, in: Crossroads: An Interdisciplinary Journal of Southeast Asian Studies, 14 (1) (2000), S. 35–69. 46 | Elizabeth Collins/Ernaldi Bahar: »To Know Shame«, S. 35. 47 | Ebd., S. 42. 48 | Edwin, im Rahmen einer persönlichen Kommunikation mit der Autorin, Dezember 2009. 49 | Vgl. Filomeno V. Aquilar Jr.: »Citizenship, Inheritance«.

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50 | Suryadinata bezeichnet peranakan als Chinese Indonesians, die in Indonesien geboren wurden und deren erste Sprache Bahasa Indonesia ist. Im Gegensatz dazu bezieht sie die Bezeichnung totok auf diejenigen, deren erste Sprache ein chinesischer Dialekt ist und/oder die bis heute noch mit China oder Diaspora-Chinesen in anderen Ländern in Verbindung stehen. 51 | Chang-Yau Hoon: »How to be Chinese«, in: Inside Indonesia 78 (2004). 52 | A. Chun: »Fuck Chineseness«, S. 122. 53 | Ebd., S. 126. 54 | A. Heryanto: »Citizenship and Indonesian Ethnic Chinese«, S. 77. 55 | Persönliche Kommunikation mit der Autorin, Dezember 2009. 56 | A. Chun: »Fuck Chineseness«, S. 132. 57 | Vgl. A. Heryanto: »Citizenship and Indonesian Ethnic Chinese«, S. 78. 58 | Edwin, Interview mit der Autorin, Dezember 2009. 59 | Edwin, Interview mit der Autorin, Dezember 2009.

Z ITIERTE F ILME »A very slow breakfast«, Regie: Edwin, Indonesien 2003. »A very boring conversation«, Regie: Edwin, Indonesien 2006. »Babi Buta Yang Ingin Terbang/Blind Pig Who Wants to Fly«, Regie: Edwin, Indonesien 2008. »Ca-bau-kan/The Courtesan«, Regie: Nia Dinata, Indonesien 2002. »Dajang Soembi, perempoan jang di kawini andjing/The woman who was married by a dog«, Regie: Edwin, Indonesien 2004. »Gie«, Regie: Riri Riza, Indonesien 2005. »Hulahoop Soundings«, Regie: Edwin, Indonesien 2008. »Kara, anak sebatang pohon/Kara, the daughter of a tree«, Regie: Edwin, Indonesien 2005. »Postcard from the Zoo«, Regie: Edwin, Indonesien 2011 (in Postproduktion).

L ITER ATUR Anderson, Benedict: Imagined Communities: reflections on the origins and spread of nationalism, London: Verso 1991. Aquilar Jr., Filomeno V.: »Citizenship, Inheritance, and the Indigenizing of ›Orang Chinese‹ in Indonesia«, in: Positions 9 (3) (2001), S. 501–533.

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Chow, Rey: »Sentimental Fabulations, Contemporary Chinese Films: Attachment in the Age of Global Visibility«, in: Paul Bowman (Hg.), The Rey Chow Reader, New York: Columbia University Press. Chow, Rey: Sentimental Fabulations, Contemporary Chinese Films: Attachment in the Age of Global Visibility, New York: Columbia University Press 2007. Collins, Elizabeth Fuller/Bahar, Ernaldi: »To Know Shame: Malu and Its Uses in Malay Societies«, in: Crossroads: An Interdisciplinary Journal of Southeast Asian Studies, 14 (1) (2000), S. 35–69. Coppel, Charles A.: Indonesian Chinese in Crisis, Kuala Lumpur: Oxford University Press 1983. Coppel, Charles A.: »Historical Impediments to the Acceptance of Ethnic Chinese in a Multicultural Indonesia«, in: Leo Suryadinata (Hg.), Chinese Indonesians: State Policy, Monoculture and Multiculture, Singapore: Eastern Universities Press 2004, S. 17–28. Chun, Allen: »Fuck Chineseness: On the Ambiguities of Ethnicity as Culture as Identity«, in: boundary 2, 23 (1996), S. 111–138. Effendi, Wahyu: »Never Indonesian Enough: State discrimination against Chinese is a form of cultural violence«, in: Inside Indonesia 95 (2009). Fontaine, J. R. J./Poortinga, Y. H./Setiadi, B./Markam, S.: »Cognitive structure of emotion terms in Indonesia and The Netherlands«, in: Cognition & Emotion 16 (1) (2002), S. 61–86. Ford, Michele/Purdey, Jemma: »Chinese Indonesians ten years after reformasi«, in: Inside Indonesia, 95 (2009). Foucault, Michel: The History of Sexuality, Vol. 1: An Introduction, London: Penguin, 1979. Goddard, C.: »The ›social emotions‹ of Malay (Bahasa Melayu)«, in: Ethos 24(3) (1996), S. 426–464. Heryanto, Ariel: »Citizenship and Indonesian Ethnic Chinese in post1998 films«, in: Ariel Heryanto (Hg.), Popular Culture in Indonesia: Fluid Identities in Post-Authoritarian Politics, London & New York: Routledge, 2008, S. 70–92. Heryanto, Ariel: »Ethnic Identities and Erasure: Chinese Indonesians in Public Culture«, in: Joel S. Kahn (Hg.), Southeast Asian Identities; Culture and the Politics of Representation in Indonesia, Malaysia, Singapore, and Thailand, Singapore: Institute of Southeast Asian Studies 1998, S. 95–114. Heryanto, Ariel: »Silence in Indonesian Literary Discourse: The Case of the Indonesian Chinese«, in: Sojourn 12/1 (1997), S. 26–45.

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Hoon, Chang-Yau: »How to be Chinese«, in: Inside Indonesia, 78 (2004). Mackie, Jami: »How many Chinese Indonesians?«, in: Bulletin of Indonesian Economic Studies 41/1 (2005), S. 97–101. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 16 (1975), S. 6–18. Purdey, Jemma: »A common destiny: Challenges remain for Chinese Indonesians 10 years after reformasi«, in: Inside Indonesia 95 (2009). Sen, Krishna: »Screening a Nation in the Post-New Order«, in: Anne Tereska Ciecko (Hg.), Contemporary Asian Cinema, Oxford, New York: Berg 2006, S. 96–107. Sen, Krishna: »›Chinese‹ Indonesians in national cinema«, in: InterAsia Cultural Studies 7 (1) (2006), S. 171–84. Sen, Krishna: »What’s ›Oppositional‹ in Indonesian Cinema?«, in: A. R. Guneratne und N. Dissanayake (Hg.), Rethinking Third Cinema, New York, London: Routledge 2003, S. 146–165. Sen, Krishna: Indonesian Cinema: Framing the New Order, London, New Jersey: ZedBooks 2004. Sökefeld, Martin: »Problematische Begriffe: ›Ethnizität‹, ›Rasse‹, ›Kultur‹, ›Minderheit‹«, in: Brigitta Schmidt-Lauter (Hg.), Ethnizität und Migration, Berlin: Reimer 2007, S. 31–50. Suryadinata, Leo: »Indonesian State Policy Toward Ethnic Chinese: From Assimilation to Multiculturalism«, in: Leo Suryadinata (Hg.), Chinese Indonesians: State Policy, Monoculture and Multiculture, Singapore: Eastern Universities Press 2004, S. 1–16. Suryasukuma, Julia: »The State and Sexuality in New Order Indonesia«, in: L. J. Sears (Hg.), Fantasizing the Feminine in Indonesia, Durham: Duke University Press 1996, S. 120–139. Tioseco, Alexis: »A Conversation with Edwin – Interview«, in: Criticine 2006. Vickers, A.: A History of Modern Indonesia, New York: Cambridge University Press 2005. Wieringa, Saskia: »The Birth of the New Order State in Indonesia: Sexual Politics and Nationalism«, in: Journal of Women’s History 15 (1) (2003), S. 70–91.

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I NTERNE T http://www.criticine.com/interview_article.php?id=31 vom 5. Januar 2010. http://www.insideindonesia.org/ vom 5. Januar 2010. http://www.imdb.com/title/tt1129405/plotsummary vom 1. Dezember 2010

Emotionale Archive und libanesische Migrationserfahrungen Eine Analyse des Spielfilms »Zozo« Sune Haugbolle »In the study of a period, we may be able to reconstruct, with more or less accuracy, the material life, the social organization, and, to a large extent, the dominant ideas.«1

Der erste libanesische Film wurde 1930 von einem italienischen Einwanderer namens Jordano Pidutti gedreht. Der Film, »Moughamarat Elias Mabrouk (Die Abenteuer von Elias Mabrouk)«, ist eine einfache, vom französischen Stummfilm inspirierte Komödie, wie sie seit dem Ersten Weltkrieg in libanesischen Kinosälen gezeigt wurden. Der Film handelt von einem jungen libanesischen Emigranten, der nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten versucht, an die Beziehungen zu seiner Familie und seinem Heimatland wiederanzuknüpfen.2 Springt man zum libanesischen Kino nach dem Bürgerkrieg, so zeigt sich, dass Auswanderung und Rückkehr in modernem Gewand wiederauftauchen. Das libanesische Kino ist seit seinen Anfängen, mehr noch aber seit dem libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, wesentlich von im Ausland lebenden Libanesen geprägt worden, und zwar personell – d. h. durch namhafte Regisseure und deren Biographien – wie auch thematisch. Einige der bedeutendsten Regisseure der letzten drei Jahrzehnte, darunter Mai Masri, Jocelyne Saab, Jean Chamoun, Ghassan Salhab und Randa Chahal Sabbag, haben in Paris studiert; andere, wie Ziad Doueiri und Josef Fares, haben in den Vereinigten Staaten, Kanada und verschiedenen europäischen Ländern Karriere gemacht. Der Mangel an staatlicher Unterstützung für kommerzielle wie künstlerische Produktionen (soweit eine solche

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Unterscheidung sinnvoll ist) hat zum Entstehen enger institutioneller Verbindungen zu ausländischen Film- und Kultureinrichtungen geführt, was wiederum Inhalte und künstlerische Formen der Filme maßgeblich beeinflusst hat.3 Alle vorübergehend oder dauerhaft im Exil lebenden libanesischen Filmschaffenden kreisen in ihren Filmen trotz – oder gerade wegen – der langen Aufenthalte im Westen um Fragen nach libanesischer Geschichte, Identität und Erinnerung. Damit teilen sie ein Grundproblem libanesischer Künstler in der Diaspora: Sie erzählen die eigene Nation von außerhalb bzw. von einem Standpunkt aus, der ständig zwischen außer- und innerhalb des libanesischen öffentlichen Raumes oszilliert. Die Kunst erfüllt dabei zwei übergeordnete Ziele. Einerseits ermöglicht sie es dem Künstler, in Verbindung zu einem Publikum im Libanon zu treten, andererseits macht sie ihn für das westliche Publikum zum Repräsentanten seines libanesischen Herkunftslandes.4 Damit wirken die Kulturschaffenden einerseits als selbsternannte Übersetzer libanesischer Kultur, messen ihre künstlerische Praxis jedoch andererseits an deren Einfluss auf das öffentliche Leben im Libanon. So liefert ihre Kunst zugleich immer Repräsentationen über den Libanon wie Repräsentationen für den Libanon. Dieser Artikel untersucht mittels einer genauen Analyse von Josef Fares’ Spielfilm »Zozo« (2005) die dem Migrationsfilm eigentümliche Dialektik von Repräsentationen über und für den Libanon, über und für das Herkunftsland. Der Film besteht aus zwei Teilen; der erste spielt 1987, im Libanon des Bürgerkriegs, der zweite schildert das Leben des Protagonisten, des Jungen Zozo, in seiner neuen Heimat Schweden. Da dem Regisseur eine eindringliche Beschreibung der Kluft zwischen dem Libanon und der diasporischen Situation gelingt, kann »Zozo« als exemplarischer Ausgangspunkt für eine Untersuchung dienen, die danach fragt, wie die Repräsentationen von Migration mit Heimat und Exil zusammenhängen. Wie eingangs erwähnt, ist Migration zentraler Gegenstand in Kunst, Literatur und Film libanesischer Kulturschaffender. Dalia Abdelhady, die sich mit der Kulturproduktion in der libanesischen Diaspora beschäftig hat (insbesondere in Paris, New York und Montreal, drei der Städte mit der größten Zahl libanesischer Migranten), konstatiert, dass das libanesische kollektive Gedächtnis und dessen Beziehung zum Bürgerkrieg für diese Künstler zu einer Art Obsession geworden ist.5 Im Bemühen darum, den Libanon sowohl dem libanesischen als auch

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einem westlichen Publikum darzustellen, wählen sie persönliche, individuelle Erzählformen, die, statt folkloristische Stereotype zu bedienen, der Ambivalenz ihrer Position als »insiders from the outside« Ausdruck verleihen.6 Viele Künstler sehen sich als Teil einer breiteren kulturellen Gegenbewegung im Libanon, deren Ziel es ist, mit den Tabus über den Bürgerkrieg zu brechen und dabei vor allem Fragen von Scham, Schuld und der Alltagserfahrung des Krieges zu thematisieren. Während sie ihr Verständnis davon offenlegen, wie Krieg und Migration das gegenwärtige libanesische Bewusstsein maßgeblich geprägt haben, intervenieren sie zugleich in kontroverse westliche Debatten um Multikulturalismus, nationale Identität und Zugehörigkeit. In meinem Beitrag analysiere ich, wie diese Fragen verhandelt werden, und untersuche dabei, wie der Film »Zozo« etwas hervorbringt, was ich als emotionales Archiv des Bürgerkriegs und der libanesischen Migrationserfahrung bezeichne.

TR ANSNATIONALISMUS , M IGR ATION UND G EFÜHLE IN DER F ORSCHUNG ZUM L IBANON Um deutlich zu machen, was ich unter dem Begriff des emotionalen Archivs verstehe, sollen zunächst bestehende Ansätze der Migrationsforschung zum Libanon umrissen werden. Ein Großteil der Literatur, die sich mit den Erfahrungen libanesischer Migranten und Flüchtlinge befasst, konzentriert sich auf die sozioökonomischen Aspekte von Migration, untersucht also Wege und Formen der Auswanderung von Libanesen nach Europa, Amerika, nach Afrika und Australien seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Nadim Shahade und Albert Hourani beschreiben in »Lebanese in the World: A Century of Migration« Fälle aus einer Vielzahl von Ländern, wobei sie persönliche Erfahrungsberichte mit soziologischen Analysen von Marginalität, sozialer Organisation und kultureller Auswirkung von Migration verknüpfen.7 Eine der umfassendsten historischen Untersuchungen ist Akram Fouad Khaters »Inventing Home: Emigration, Gender, and the Middle Class in Lebanon, 1870–1920«.8 Das Buch beschreibt Dorfmigranten und deren sozialen Aufstieg von Bauern zu einer neuen bürgerlichen Klasse nach der Rückkehr in den Libanon Jahre später. Khater zufolge sind es solche historischen Dynamiken, die den Libanon »modern‹« gemacht haben. Anhand unterschiedlicher Migrationsgeschichten zeigt er, wie neue Vorstellungen

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von Gender, Familie und Klasse entstanden, und verdeutlicht, wie heimkehrende Emigranten in diesem Prozess tatsächlich »Modernität« erfanden. Libanesen, die auswanderten und später in ihr Land zurückkehrten, waren damit zentral für die kulturelle und politische Entwicklung des Libanons. Neben den soziologischen und historischen Untersuchungen – viele von ihnen über Libanesen, die in der Hoffnung auf ökonomischen oder sozialen Aufstieg auswanderten und dabei erfolgreich waren – existiert eine wachsende Anzahl von Studien über libanesisches Kulturschaffen und die gegenwärtige Produktion eines historischen Gedächtnisses.9 Im Gegensatz zu einer älteren Generation von migrantischen Schriftstellern und Künstlern, deren bekanntester der Nationaldichter Khalil Jibran ist, der in seinem Werk das mythische und nostalgische Bild eines ursprünglichen, vorzeitlichen Libanons beschwört, haben die migrantischen Künstler der Gegenwart, d. h. die nach 1950 Geborenen, einen Teil des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 erlebt und sind durch ihn zu Emigranten geworden. In ihren Werken, in denen sie sowohl Arabisch als auch die Sprachen ihres Gastlandes verwenden, verleihen sie den vielen Libanesen vertrauten Erfahrungen von Entwurzelung, Sehnsucht und Transnationalismus Ausdruck.10 Entsprechend erscheint Migration in der englischsprachigen Nachkriegsliteratur weniger als Abenteuer denn als ebenso verwirrende wie beschwerliche Belastungsprobe.11 Auch die meisten zeitgenössischen Kunstwerke, die sich mit dem Thema der Erinnerung befassen, fußen auf Migrationserfahrungen. In der intensiven Beschäftigung mit persönlichen Erfahrungen von Migration wird nationale Identität neu verhandelt und so die herrschende Meinung darüber, was der Libanon ist und was er sein sollte, infrage gestellt. Salem hat diesen Aushandlungsprozess vom Beginn des Bürgerkriegs bis heute nachgezeichnet und dabei analysiert, welchen Einfluss er auf den libanesischen Nationalismus hatte.12 Sie konstatiert, dass Nationalismus, obschon fast durchgängiges Leitmotiv in Roman, Film, Lyrik, Musik und Theater, infolge des Krieges immer auch mit Skepsis betrachtet wird. Die Fokussierung auf die persönliche Erfahrung in der Kulturproduktion hat aber noch eine weitere Folge, die anders als die Auseinandersetzung mit den großen Fragen von Nationalismus und konfessioneller Spaltung bisher weniger beachtet wurde: Sie produziert einen

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enormen Vorrat von mit dem Bürgerkrieg verbundenen Gefühlen. Diese Gefühle sind in den Bildern, Symbolen, Geräuschen, Alltagserfahrungen, Liedern und der Sprache der 1970er und 1980er Jahre gespeichert – in der Vielzahl sinnlicher Erfahrungen, die das ausmachen, was Raymond Williams als Gefühlsstruktur bezeichnet.13 Ich behaupte, dass Erinnerungskultur als Archiv der Formen betrachtet werden kann, durch die die Libanesen sich Zugang zu ihren kollektiven Gefühlsstrukturen während des Krieges verschaffen. Bei Williams bezeichnet der Begriff die allgemeine Organisation von Gefühlen und Erfahrungen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, der meist generationell gefasst ist. Die Gefühlsstruktur beschreibt, wie die kollektiven Werte und Erfahrungen einer Generation subjektives Empfinden prägen. Für Williams sind bestimmte soziale Praktiken, Kunstwerke und Literatur die wichtigsten Träger dieser Strukturen. Um das Entstehen dieser verschiedenen kulturellen Konstrukte zu begreifen, müssen aus soziologischer Perspektive jene Personen in den Blick genommen werden, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Gefühlsstruktur vergangener Zeiten zu rekonstruieren. In meinem Buch »War and Memory in Lebanon« habe ich Gruppen untersucht, die seit 1990 ganz bewusst versuchen, historische Erinnerung an den Bürgerkrieg zu produzieren. Beweggrund für ihr Schaffen kann die persönliche Erfahrung von Entwurzelung, Amnesie und Sehnsucht sein, aber auch der ideologisch gespeiste Wunsch, gegen Milizenführer und War Lords, von denen nach dem Krieg viele zu nationalen Führern wurden, zu Feld zu ziehen. Einige Künstler verstehen sich als Sprecher für alle Libanesen; andere reflektieren nur die Zugehörigkeit zur eigenen, meist bürgerlichen Klasse.14 Worauf ich hier hinauswill, ist, dass diese »Erinnerungsmacher« bewusst oder unbewusst an der Schaffung emotionaler Archive beteiligt sind. Das soll nicht heißen, dass emotionale Archive in irgendeiner Form geordnet sind, und auch nicht, dass sie von ihren Schöpfern oder ihrem Publikum so wahrgenommen werden. Tatsächlich entspräche dies auch nicht Raymond Williams’ Verständnis.15 Es ist wahr, dass Kunst, einschließlich des Kinos, häufig entsprechend bestimmter Richtlinien über die mögliche Wirkung auf ein Empfängerpublikum konzeptualisiert wird. So haben viele der libanesischen »Erinnerungsmacher« klare Vorstellungen davon, wie das zu produzierende »kollektive Gedächtnis« beschaffen sein soll (wobei »kollektives Gedächtnis« häufig nur als Hüllwort für eine bestimmte Erzählung über Täter und Opfer des Krieges steht). Aber selbst wenn Erinnerungskultur vorrangig

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dazu dient, die Geschichte einer bestimmten ideologischen Lesart zu unterziehen, leistet sie doch oft noch etwas anderes. Bei der Rekonstruktion von Vergangenheit wird automatisch auf die sinnliche Erfahrung der betreffenden Zeit zurückgegriffen, um diese authentisch erscheinen zu lassen. Unabhängig voneinander nähern sich Künstler dabei der Weise an, in der eine Gruppe von Menschen die Vergangenheit erlebt hat.16 Es ist unmöglich, zu ermitteln, ob künstlerische Repräsentationen authentisch sind oder nicht, es sei denn über die Wirkung, die sie auf ein bestimmtes Publikum haben. Mir geht es hier überdies nicht um die Genauigkeit von Repräsentationen, sondern vielmehr darum, dass Erinnerungskultur als Speicher von Gefühlen verstanden werden kann, die mit der Vergangenheit verbunden sind. Ohne Zweifel sind Gefühle zentral für das Verständnis von Migrationserfahrung. Skrbiš hat angemerkt, dass die Migrationssoziologie lange Zeit einer Vorstellung von wissenschaftlichem Rationalismus verpflichtet war, die sich nach dem Vorbild von Parsons und Weber auf die Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Ordnung konzentrierte und entsprechend die emotionale Dimension ausklammerte.17 Erst in den letzten zwei Jahrzehnten ist vielen Soziologen bewusst geworden, dass Gefühle in der Migrationsforschung wieder Beachtung finden müssen, ist Migration doch nicht nur mit dem Aufbau neuer Netzwerke verbunden, sondern auch mit dem Verlust bestehender Netzwerke. Migrationsprozesse lösen Individuen nicht nur aus ihren familiären und freundschaftlichen Netzwerken, sondern auch aus anderen gesellschaftlich relevanten und emotional stark konnotierten Zusammenhängen – etwa die vertraute Umgebung, eine bestimmte Landschaft, gewisse Gebäude, aber auch sakrale Objekte und Orte – kurz, Migration trennt Individuen von ihren Alltagsgewohnheiten und -praktiken.18 Migrationsgeschichten sind verbunden mit einer Vielzahl von Erfahrungen – sich an ein neues Land und dessen Normen anpassen zu müssen, dort Fuß zu fassen oder daran zu scheitern, Sehnsucht nach dem Heimatland, versehrtes Zugehörigkeitsgefühl, neue Lebensentwürfe, Verlust von Bindungen, Diskriminierung, abrupte Brüche, neue Anfänge und neue Möglichkeiten – all dies sind mächtige Quellen von Gefühlen. Hauptaufgabe eines jeden libanesischen Künstlers, der Erinnerungen an Krieg und Migration rekonstruiert, ist mithin, eine künstlerische Sprache zu finden, die diesen Gefühlen Ausdruck verleihen kann.

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L IBANON , 1987 Die Anfangsszenen von »Zozo« zeigen große Ähnlichkeit zu der Eingangssequenz von Ziad Doueris »West Beyrouth« (1997), dem Film, mit dem wohl die Thematisierung von Kriegserinnerungen im libanesischen Nachkriegskino begonnen hat. »Zozo« wie auch »West Beyrouth« versetzen uns mitten in ein bürgerliches Viertel von Beirut, das aus der Perspektive eines Jungen gezeigt wird. Beide Filme beginnen mit einer Szene, die vor dem Hintergrund der konfessionellen Spaltungen des Bürgerkrieges ebenso vertraut wie symbolträchtig erscheint: eine Gruppe von Schülern singt vor der Schule die Nationalhymne »Kulluna lil-watan« (Wir alle für die Nation). In »West Beyrouth« wird auf besonders symbolträchtige Weise gezeigt, wie die fragile Vision eines überkonfessionellen Nationalismus durch das Massaker von Ain al-Rumanah zerstört wird, mit dem am 13. April 1975 der Bürgerkrieg begann. »Zozo« spielt 1987, während einer späteren Phase des Krieges, die geprägt war von den Lagerkämpfen zwischen vormals Verbündeten. Diese Phase, die auch die innerschiitischen und innerchristlichen Kämpfe umfasst, dauerte von 1983 bis 1990. Der Krieg ist Alltag geworden, hat dabei aber nichts von seinem Schrecken verloren. Wie alle zehnjährigen Jungen verbringen Zozo und seine Freunde die Zeit damit, zu faulenzen und Witze über Mädchen zu machen. Als schwere Bombenangriffe Zozo und seine Familie zwingen, im Schutzraum Zuflucht zu suchen, ist die Angst jedoch so stark wie eh und je. Der Krieg ist zu diesem Zeitpunkt nicht weniger bedrohlich als 1975; viele Libanesen verlassen aus Kriegsmüdigkeit das Land, ohne einen Blick zurück zu werfen (Abb. 1). In diesen Anfangsszenen ist die Vorstellung von Schweden allgegenwärtig. Die Jungen fantasieren von dem fernen Land, in dem das Leben ruhig und einfach ist und die Mädchen blond und schön sind. Zuhause hört Zozo mit seiner Familie eine Kassette an, die die in Schweden lebenden Großeltern geschickt haben, denen sich die Familie in Kürze anschließen will. Die Familie staunt über die sonderbaren schwedischen Ausdrücke auf dem Kassettenrecorder und amüsiert sich über den seltsamen Klang schwedischer Wörter im Arabischen. Später am Tag trifft Zozo ein kleines Küken, das ihm von Schweden und dem zukünftigen Leben dort erzählt. Das Küken, das so zum Träger der kindlichen Vorstellungskraft wird, ist im ersten Teil des Filmes Kristallisationspunkt der Selbstgespräche des

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Jungen. Die Nüchternheit, mit der Zozos Imagination hier und in anderen Szenen dargestellt wird – nicht als Fantasiewelt, sondern als Teil der kindlichen Realität, ganz so, als wäre es selbstverständlich, dass Küken sprechen können – ließe sich als magischer Realismus bezeichnen. Der Begriff des magischen Realismus, der sich meist auf literarische Werke bezieht, geht auf lateinamerikanische Autoren wie Gabriel García Márquez zurück, die in ihren Texten mythologische Elemente und persönliche Erfahrungen dessen verknüpfen, was Freud als das Unheimliche bezeichnet hat, d. h. vorgeblich willkürliche Phänomene, die merkwürdig bedeutungsvoll erscheinen.19 In einer Welt aus Krieg und drohendem Chaos erschafft sich der Junge durch die Fähigkeit, ein sprechendes Küken zu imaginieren, einen lebensnotwendigen Zufluchtsort, ganz so, wie sich die Erwachsenen durch die Vorstellung von Schweden eine mentale Fluchtroute erschaffen. Durch den Krieg ist das Unheimliche in die Realität der Menschen eingebrochen. Im Gegenzug versuchen diese, der Realität zu entfliehen; sei es durch praktische und bewusste Pläne zur Auswanderung wie im Falle der Erwachsenen, sei es durch den Rückzug in andere Seelenzustände wie im Falle des Kindes. Die Visionen von einer Rettung außerhalb des Landes unterstreichen noch die schlimme Kriegswirklichkeit, in der die Familie sich befindet. Das Leben im Libanon ist unmöglich geworden; es ist Zeit zu gehen. Am Morgen der Abreise, als die Familie zum Flughafen aufbrechen will, wird die Wohnung jedoch von Granaten getroffen. Durch Abb. 1: Flucht aus dem Libanon

Quelle: © Josef Fares: Zozo (DVD), Schweden: Force Video 2006

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Zufall sind Zozo und sein Bruder auf der Straße, als die Granate in der Wohnung einschlägt, und überleben so die Bombardierung, während der Rest der Familie buchstäblich ausgelöscht wird. Als Zozo die Treppe zur Wohnung hinaufläuft, stößt er auf ein Blutbad. Der Anblick der geliebten Mutter, die in Stücke gerissen in der Wohnung liegt, wird in elektroschockartigen, traumatischen Schnappschüssen gezeigt bzw. in Form so genannter Blitzlichterinnerungen, womit in der Psychologie detailgenaue Momentaufnahmen eines Ereignisses von hoher persönlicher oder historischer Bedeutung bezeichnet werden. Benommen von den »fotografischen« Bildern stolpert er zurück auf die Straße, die inzwischen zum Schauplatz totalen Aufruhrs geworden ist: Man sieht den Aufmarsch von Milizionären, die offenbar ein weiteres Blutbad anrichten wollen. Die Jungen rennen um ihr Leben. Zozo versteckt sich in einer Mülltonne, während sein Bruder weiter versucht, zu entkommen. Später wird Zozo von dem sprechenden Küken aufgeweckt, das ihn dazu drängt, auf eigene Faust zum Flughafen zu gelangen. Auf dem Weg durch ein vom Krieg erschüttertes Beirut hilft ihm Rita, ein junges Mädchen, das in der Nähe des Flughafens lebt. Sie nimmt Zozo auf und verspricht, mit ihm nach Schweden zu gehen, wird am Ende aber von ihrem Vater zurückgehalten. Zozo muss alleine aufbrechen; ein mitfühlender Milizionär, der am Flughafen Wache hält, bringt ihn zum Flugzeug. Im ersten Teil des Films wird die Handlung durch die verzweifelte Flucht des Jungen aus Beirut vorangetrieben. Beirut erscheint hier zunehmend als menschenfressendes Monster, vor dem es zu fliehen gilt. Das hohe Tempo dieses Teils wird dabei durch mehrere traumartige Sequenzen unterbrochen, die veranschaulichen, wie ein kleiner Junge die ihn umgebende gewalttätige Wirklichkeit erlebt. Das Küken steht einerseits für Realitätsflucht und die imaginäre Welt des Jungen, verweist andererseits aber auch auf seine Vertrautheit mit der Stadt. Hühner sind insbesondere in den mittelständischen und kleinbürgerlichen Vierteln von Beirut sehr verbreitet. Zozo kennt das Alltagsleben in Beirut sehr gut und kann mit den Dingen, die ihn umgeben, kommunizieren. Das arabische Wort für Küken ist sus und steht damit in phonetischer Nähe zu Zozo. Das Küken redet lässig und locker mit stark umgangssprachlichem Beiruter Akzent. Als für Zozo die Zeit zum Aufbruch gekommen ist, erklärt das Küken, ihn nicht zu begleiten – lieber bleibe es im warmen Beirut, um dort »mit meinen Freunden abzuhängen, Bier zu trinken und zu relaxen«. Diese umgangssprachliche

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Beschwörung von Alltag steht im krassen Gegensatz zu dem Bruch, den Zozo erfahren muss. Eine zweite Traumsequenz folgt unmittelbar nach dem Tod der Mutter, als Zozo in der Mülltonne schläft. Im Traum sieht er sich im Wohnzimmer seiner Familie und geht dann auf den Balkon und entdeckt ein merkwürdiges Leuchten am Himmel. Dieser Traum wiederholt sich im späteren Teil des Filmes; auf seine Bedeutung soll später eingegangen werden. Eine dritte Traumsequenz wird gezeigt, als Zozo zuhause bei Rita schläft. Zozo erlebt im Traum erneut den vergangenen Tag, an dem er mit Rita im Zedernwald (al-hurj) in der Nähe des Flughafens spielte, Tauben zu Abb. 2: Der drohende Krieg erscheint im Traum

Abb. 3: Magischer Realismus und Traumsequenz

Quelle zu Abb. 2–3: © Josef Fares: Zozo (DVD), Schweden: Force Video 2006

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erschießen. Als Zozo mit dem Zeigefinger als Waffe auf die Vögel zielt, sind echte Schüsse zu hören; und ein unheilvolles Gefühl drohenden Krieges senkt sich auf den Traum (Abb. 2). In diesen Traumsequenzen gewährt der Regisseur dem Zuschauer einen Blick auf die unterbewussten, emotionalen Folgen des Krieges. Damit verlässt er die Ebene rein deskriptiven Erzählens und zeigt die Erfahrung von Krieg und die Gefühle, die durch ihn ausgelöst werden. Das Bemühen um Vermittlung davon, wie der Krieg sich anfühlte und nicht nur, wie er passierte, teilt Fares mit vielen libanesischen Künstlern, die an der Schaffung eines kulturellen Gedächtnisses vom Krieg arbeiten, insbesondere mit den in der Diaspora lebenden Künstlern. Da viele von ihnen den Krieg als Kinder oder Jugendliche erlebten, taucht in ihren Werken immer wieder das Kind als Sinnbild des ausgelieferten Opfers auf. So ist der Protagonist in Jean Chamouns Spielfilm »In the Shadows of the City« von 1999 ebenfalls ein Junge. Es reicht jedoch nicht, das Schicksal eines Opfers zu zeigen oder eine Geschichte aus dem Leben des Opfers zu erzählen: Um ein Individuum glaubhaft als Opfer darzustellen, muss es emotionalisiert werden, indem die subjektive Ebene einbezogen wird. Schriftsteller, Künstler und Regisseure haben hierfür eine Vielzahl stilistischer Verfahren entwickelt. Wie erwähnt, ließe sich der von Joseph Fares in »Zozo« gewählte Ansatz als magischer Realismus beschreiben. Er verwendet Traumsequenzen, um zu verdeutlichen, wie sich Zozos Realität permanent und unweigerlich mit einer Realität von Krieg, Bombardierung und Tod vermischt (Abb. 3).

F REMDSEIN IN S CHWEDEN Am Flughafen in Stockholm angekommen, wird Zozo von den Beamten der Passkontrolle und Einwanderungsbehörde mit einem Wortschwall aus unverständlichem Schwedisch konfrontiert. Endlich wird er in die Ankunftshalle durchgelassen, wo ihn seine alternden Großeltern begrüßen. Beide sind von der Trauer über den Tod ihres Sohnes und des Großteils seiner Familie überwältigt, dabei aber überglücklich, Zozo zu sehen. Wir verfolgen die schweigsame Autofahrt zum Haus der Großeltern; Zozo sitzt auf dem Rücksitz, vorne im Auto weinen beide Großeltern leise vor sich hin. Diese Szene verdeutlicht ihre Situation als Flüchtlinge. Die drei Menschen sind auf sich

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allein gestellt in einem fremden Land, ohne jede Hoffnung auf Rückkehr in ihr Heimatland. Schweden ist für Zozo ganz anders als der Libanon: still, kalt und fremd, dabei aber voll von neuen Dingen, die es zu entdecken gilt. Er tut alles, um sich in der neuen Wirklichkeit zurechtzufinden und sich anzupassen; aber die Vergangenheit ist, kaum verwunderlich, allgegenwärtig. In der Schule wird er von einer Gruppe schwedischer Jungen drangsaliert, lässt dies aber zunächst mit sich geschehen. Als jedoch der Großvater die blauen Flecken in seinem Gesicht entdeckt, beschließt der alte Mann, die Angelegenheit auf libanesische Art zu lösen: Er geht mit Zozo zum Direktor und stellt den Jungen, der Zozo tyrannisiert hat, ohne Umschweife zur Rede. Als dieser seine Tat nicht zugeben will, stellt Zozos Großvater die beiden Jungen einander gegenüber und fordert sie auf, die Sache »von Mann zu Mann« auszutragen. Der Direktor protestiert, dass »bei ›uns‹ die Dinge so nicht geregelt werden«; dieser Versuch schwedischer Diplomatie wird jedoch von Zozos Großvater zunichte gemacht, der ihn mit geballten Fäusten angreift. Die beiden Libanesen werden schließlich ordnungsgemäß des Büros verwiesen; Zozo bekommt am nächsten Tag die Konsequenzen zu spüren, als seine Peiniger ihn dafür bestrafen, sie »verpetzt« zu haben. Mehrfach will der Großvater Zozo dazu bewegen, den starken Mann zu geben. »Lass dir von niemandem etwas erzählen – hau ihnen einfach eins auf den Kopf – Nahna – qabaday qabaday! (Wir sind echte Kerle, du und ich!)«, sagt er dem Jungen. Ein qabaday (arabisch wörtlich für »brutal«, »Schläger«) bezeichnet im Libanon den traditionellen starken Mann, einen »Mann der Straße«, der weiß, wie man kämpft. Der qabaday ist integraler Bestandteil der Machtstruktur im Libanon, die sich in politische Führer, ihre Handlanger (qabadayat) und die breite Bevölkerung gliedert.20 Im betont pazifistischen Schweden als qabaday aufzutreten mutet indes ebenso befremdlich wie lächerlich an – und tatsächlich ist die Szene im Büro des Direktors ein umwerfend komisches Sinnbild für den culture clash. Gegen Ende des Films erteilt Zozo den großväterlichen Forderungen eine Absage. Gerade heraus verkündet er: »Ich bin nicht wie du.« Der alte Mann ist bemüht, sich weiter optimistisch zu zeigen, um den Lebensmut des Jungen zu erhalten, der gerade seine nächsten Familienangehörigen verloren hat. Gleichzeitig ist er aber ein Mann aus dem Libanon, der mit traditionellen libanesischen Werten von Männlichkeit aufgewachsen ist. Stärke zu zeigen ist für ihn wo-

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möglich sogar noch wichtiger geworden, seit er als Außenseiter in einer fremden Umgebung lebt. Zozo kann indes seine Verletzlichkeit nicht verbergen. Er vermag es nicht, das libanesische Ideal von Männlichkeit mit seiner prekären Situation als Waise und Flüchtling zu vereinbaren (Abb. 4). Der Kontrast zwischen libanesischer Familie und schwedischer Umgebung wird in diesen Szenen aber noch in anderer Weise illustriert, und zwar über die sprachlichen Unterschiede und Hürden, mit denen Zozo konfrontiert ist. Ein gutes Argument dafür, »Zozo« als libanesischen Film zu betrachten, obschon der Regisseur in Schweden lebt und offiziell als schwedischer Filmschaffender gilt, ist, dass im Film mit Ausnahme der Szenen, in denen schwedische Figuren auftreten, ausschließlich libanesisches Arabisch gesprochen wird. Bedenkt man, was ich eingangs über Gefühlsstrukturen gesagt habe, und zieht überdies das sprachliche Universum des Jungen und des Films insgesamt in Betracht, so wird deutlich, dass es sich hier um einen wesentlich libanesischen Film handelt. Wortspiele, subtile kulturelle Referenzen und ein großer Teil der Komik des Films finden sich in den Gesprächen zwischen Zozo und seinen Großeltern. Diese subtilen Anspielungen erschließen sich teilweise zwar auch dem nicht arabischsprachigen Zuschauer, einige gehen jedoch in der Übersetzung zwangsläufig verloren. An dieser Stelle wird eine Gefühlsstruktur libanesischer Migranten spürbar. Zwischen den Kulturen zu stehen heißt zuallererst, sich zwischen zwei Sprachen und zwei kulturellen Bezugsrahmen zu befinden. Die libanesische Abb. 4: Das »libanesische Ideal« von Männlichkeit

Quelle: © Josef Fares: Zozo (DVD), Schweden: Force Video 2006

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Seite dieser Kluft kann natürlich von einem libanesischen Publikum besser verstanden und gewürdigt werden als von einem internationalen. Trotz seiner Bemühungen, sich anzupassen und ein normales Leben zu führen, ist Zozo offenkundig traumatisiert. Die Vergangenheit verfolgt ihn auf unterschiedliche Weise. Zuhause dreht er alle Familienfotos um, um nicht mit seiner abwesenden Familie konfrontiert zu werden. Als er beim Nachhausekommen die Nachricht findet, dass sein Großvater ins Krankenhaus eingeliefert wurde, zerschlägt er aus Frustration die umgedrehten Bilder. In der folgenden Szene zeigt Josef Fares abermals einen »unheimlichen« Traum. Zozo geht zum Fenster und schaut auf ein kreisendes Licht am Himmel, ganz wie damals, als er sich in Beirut in einer Mülltonne versteckte. Möglicherweise ist es die flüsternde Stimme seiner Mutter; er kann das aber nicht ausmachen. »Inte Allah shi? (Bist du Gott oder so?)«, fragt er, erhält aber keine Antwort. In beiden Szenen macht der Junge die Erfahrung unbekannter Mächte – vielleicht des Schicksals –, die ihm erst seine Mutter genommen und ihn dann nach Schweden, in eine fremde und nicht sehr gastfreundliche Umgebung gebracht haben. Er träumt von dem Mädchen Rita und dem kleinen Küken, mit dem er gesprochen hat. Beide sind vertraute Charaktere, die ihn verstehen. In Schweden kommuniziert er hingegen nicht mit den Dingen. Nach dem Versuch, sich die Freundschaft seiner Mitschüler zu erkaufen, indem er allen gestohlene Stifte schenkt (nur um von den schwedischen Kindern an den Lehrer verraten zu werden), hat Zozo einen Wutausbruch und läuft hinaus auf den Schulhof. Eine Taube landet neben ihm, die er in der Hoffnung auf eine Antwort anspricht. Es ist aber kein libanesisches Küken, sondern eine schwedische Taube, die ihm nur mit einem Gurren antworten kann. In seiner Autobiographie Am falschen Ort hat Edward Said gezeigt, dass Vertrautheit in erster Linie über die Sprache entsteht – über die Möglichkeit, zu kommunizieren und sich verstanden zu fühlen, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen.21 Schwedisch ist für Zozo noch kein integraler Teil seiner Gefühlswelt und damit auch kein Mittel, um mit seiner Umwelt zu kommunizieren, d. h. um das sinnliche Erleben einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes semantisch zu verarbeiten. Edward Said, der ein Leben zwischen Arabisch und Englisch führte, war nie ganz sicher, welche der beiden

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seine eigentliche Muttersprache war. »Ich führe diese grundlegende Unsicherheit auf meine Mutter zurück«, schreibt er, »die in meiner Erinnerung sowohl englisch als auch arabisch mit mir sprach […]. Gewisse gesprochene Ausdrücke von ihr wie tislamli oder mish ‫ތ‬arfa shu biddi ‫ތ‬amal? oder rouh‫ތ‬ha, deren es Dutzende gab, waren arabisch, und ich kann mich nicht entsinnen, dass ich sie jemals bewusst hätte übersetzen müssen oder selbst in Fällen wie tislamli genau gewusst hätte, was sie bedeuten. Sie waren Teil ihrer unendlich mütterlichen Ausstrahlung, nach der ich mich in Augenblicken großer Anspannung sehnte, verkörpert in dem sanft geäußerten Ausdruck ›ya mama‹, eine träumerisch verführerische, dann aber abrupt entrissene Ausstrahlung, die etwas versprach, was am Ende niemals gewährt wurde.«22 In den Traumsequenzen versucht der Regisseur, Zozos Sehnsucht nach der »träumerisch verführerischen« Intimität mit seiner Mutter und der vertrauten Umwelt vor dem Tod seiner Familie und der hastigen Flucht aus Beirut Ausdruck zu geben. Vor allem seine Mutter steht für eine Vertrautheit, deren Fehlen immer schmerzlicher spürbar geworden ist. Obschon der Film mit einem Moment der Hoffnung endet – Zozo freundet sich mit einem introvertierten schwedischen Jungen an, der aus schwierigen Familienverhältnissen stammt und damit wie Zozo ein Außenseiter ist –, bleibt doch ein überwältigendes Gefühl der Trostlosigkeit. Als die neuen zwei Freunde von der wohlbekannten Bande von Schulhofschlägern angehalten werden, scheint Zozo sich kopfüber in den Angriff zu stürzen. Die Begegnung entpuppt sich als weitere Tagtraumfantasie, in der Zozos Zorn auf dem Schulhof in eiAbb. 5: »Warum hast du mich verlassen, Mutter?«

Quelle: © Josef Fares: Zozo (DVD), Schweden: Force Video 2006

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nen Granatenhagel übergeht, in dem die schwedischen Kinder verletzt zu Boden sinken oder panisch die Flucht ergreifen. Zozo hat Beirut zwar verlassen, den Krieg jedoch mitgenommen; und so steht er da und sieht, wie die schwedische Kleinstadt sich in Beirut verwandelt, als ihn von hinten plötzlich seine Mutter an der Hand packt, um ihn in Deckung zu bringen. Zozo dreht sich um und stellt ihr mit eindringlichem Blick die schlichte Frage, die seine emotionale Notlage auf den Punkt bringt: »Warum hast du mich verlassen, Mutter?« (Abb. 5) »Zozo« ist ein zutiefst persönlicher Film, der dabei doch einer allen Migranten bekannten Erfahrung Ausdruck verleiht: dem Gefühl, fremd zu sein, und der Schwierigkeit, seinen Platz zu finden. Der Film archiviert Gefühle von Verlust, Entwurzelung, Sehnsucht und familiären Bindungen, die den meisten libanesischen Migranten wohlvertraut sind. Die grundsätzliche Offenheit, mit der Zozo seiner Umwelt begegnet, lässt vermuten, dass er sich eines Tages doch zurechtfinden wird. Zozo ist ein arabischer Kosename für Josef (meist Joseph geschrieben); einer von vielen Hinweisen darauf, dass es sich hier um einen weitgehend autobiographischen Film handelt. Entsprechend ließe sich das Ende dahingehend deuten, dass Josef Fares in Schweden tatsächlich Fuß gefasst hat. Für das libanesische Flüchtlingskind in der erzählten Gegenwart des Filmes ist die unmittelbare Vergangenheit jedoch noch allgegenwärtig.

C ONCLUSIO : W ESSEN G EFÜHLE , WELCHE A RCHIVE ? In einer genauen Analyse, einem close reading von »Zozo« habe ich zu zeigen versucht, wie der Film ein Gespür dafür vermittelt, was es heißt, den libanesischen Bürgerkrieg zu erleben, Beirut unter entsetzlichen Umständen verlassen zu müssen und in einem fremden Land anzukommen. Meine Untersuchung hat gezeigt, wie Josef Fares in geschickter Weise libanesische Sprache, Kultur und Bräuche einsetzt, um den von Zozo erlittenen Verlust der vertrauten Lebenswelt zu beschreiben und seine Unfähigkeit, mit der neuen Umgebung verbal und kulturell in Verbindung zu treten. Die Schlüsselerfahrung des Migrantenseins wird durch eine Anzahl archetypischer libanesischer Tropen, Bilder, Ausdrücke und Figuren plastisch gemacht. Um auf die eingangs gestellten Überlegungen zur Konstruktion emotionaler Archive in der libanesischen Erinnerungskultur zurückzukommen,

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drängt sich abschließend die Frage auf, welche Gefühle es sind, die der Film »Zozo« archiviert und welche Bedeutung sie innerhalb des breiteren Projekts, den Bürgerkrieg zu erinnern, haben. Weiter ist zu fragen, inwieweit »Zozo«, ein schwedisch-libanesischer Film über eine schwedisch-libanesische Realität, als Repräsentation für ein Publikum im Libanon und inwieweit er als Repräsentation vom Libanon für ein schwedisches, europäisches bzw. internationales Publikum betrachtet werden kann. Wie oben erwähnt, archiviert »Zozo« eine Reihe von Gefühlen, die alle mit der Erfahrung von Entwurzelung verbunden sind. Dies geschieht durch bestimmte Zeichen und Themen; in Beirut sind dies zunächst das Küken, der Schutzraum, das typische Mittelschichtsviertel und dessen Bewohner, die scherzhaften Wortgefechte in Zozos Familie der unteren Mittelschicht; später in Schweden sind es Sprachbarrieren, Zugehörigkeitsgefühl innerhalb der Familie und Gefühl der Fremdheit außerhalb, das Bemühen um Zugehörigkeit, kleine Erfolge und Kämpfe in der neuen kulturellen Umgebung. Wie ich dargestellt habe, verbinden die im Film rekurrierenden Traumsequenzen die Entwurzelung des Jungen aus seiner vertrauten Umgebung mit der neuen Realität als Flüchtling und verleihen dabei seinen Gefühlen künstlerischen Ausdruck. Das Gefühl, das der Film womöglich am besten einfängt, ist das einer bedrohlichen Wirklichkeit, die quasimagische Vorstellungen produziert. Josef Fares ist nur einer von zahlreichen libanesischen Künstlern, die ihre Kriegserfahrungen aufgearbeitet haben. Ist das Archiv angesichts dieser Vielzahl von Repräsentation aber überhaupt eine geeignete Metapher für die verschiedenen Arbeitsweisen des öffentlichen Gedächtnisses? Schließlich zeigt sich Erinnerungskultur als relativ ungeordnet bei der Wiedergabe von ganz unterschiedlichen und häufig sehr subjektiven Interpretationen der Vergangenheit. Ein Archiv ist hingegen ein geordnetes System des Wissens über die Vergangenheit, das dazu dient, den Zugang zum kollektiven Gedächtnis einer Nation, bisweilen auch der ganzen Menschheit, zu gewähren und zu erleichtern. Dem möchte ich mit etwas entgegnen, worauf auch von Archivforschern hingewiesen wird: alle Archive sind auf Schnittstellen (in Form von Archivaren oder Computersystemen) angewiesen, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermitteln.23 Wir stellen uns Archive zwar als gut organisierte Systeme vor; gut organisiert sind sie jedoch nur dann, wenn sie über Mittler verfügen, die den Benutzer erfolgreich durch die häufig riesigen Berge von

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Quellenmaterial leiten, welches die Grundlage für Rekonstruktionen der Vergangenheit bildet. Überdies ist das, was wir für das Ergebnis neutraler und objektiver Prozesse halten, oft auf die Intervention der Archivare zurückzuführen, die darüber entscheiden, was ein legitimes Zeugnis der Vergangenheit ist und so gesellschaftliche Erinnerung beeinflussen. Wenn wir Erinnerungskultur als eine Form von emotionalem Archiv anerkennen, müssen wir uns fragen, auf welche Weise libanesische »Erinnerungsmacher« wie Josef Fares als Mittler tätig sind. Stehen ihre Erfahrungen für die Gefühlsstruktur der gesamten libanesischen Bevölkerung oder nur die einer bestimmten sozialen Klasse, wie Raymond Williams vermutlich behauptet hätte? Sprechen sie nur für sich selbst oder kann ihr kollektives Schaffen als Teil eines nationalen Archivs gesehen werden, in dem alle Libanesen vertraute Gefühlspartikel wiedererkennen können? Oder vermögen es zumindest einige kulturelle Werke, beim Empfänger die verschiedenen Gefühle auszulösen? Eine klare Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Sie zu stellen ist dennoch notwendig, da sie auf ein mögliches Forschungsfeld verweisen, sowohl im Bereich des Nachkriegskinos, einschließlich der Filme von und über Migranten aus dem Libanon, als auch im breiteren Kontext der Gedächtnisforschung. Was öffentliche Erinnerung ist, hängt wesentlich davon ab, wie diese Erinnerung produziert wird und welches emotionale Engagement in ein Kunstwerk fließt. Ein möglicher Ansatz wäre natürlich, nach der Rezeption eines Kunstwerkes durch ein Publikum zu fragen. Das hieße insbesondere im Fall des Libanons, den engen nationalen Rahmen zu überschreiten, da ein erheblicher Teil der Künstler wie auch der libanesischen Bevölkerung – ganz gleich, ob sie sich als Halb-, Viertel- oder Volllibanesen begreift – in verschiedenen Diasporas lebt. Die breite Zustimmung, auf die »Zozo« gestoßen ist, legt nahe, dass Josef Fares mit seinem Film tatsächlich einen Nerv getroffen hat. »Zozo« mag nicht in demselben Maße zur Repräsentation für die Libanesen geworden sein wie andere internationale Produktionen, etwa »West Beyrouth«, der in Beirut wochenlang in ausverkauften Kinos lief und sich auch auf DVD tausendfach verkaufte. Ohne Zweifel ist er aber eine künstlerisch herausragende Repräsentation von den Libanesen und dem Seelenleben von Migranten, die auch von Menschen anderer Länder gewürdigt werden kann. Aus dem Englischen von Julia Clauß

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A NMERKUNGEN 1 | Raymond Williams: Preface to Film, London: Film Drama 1954. 2 | Vgl. Hady Zaccak: Le cinéma libanais: itinéraire d‫ތ‬un cinéma vers l‫ތ‬inconnu (1929–1996), Beirut: Dar al-Machreq 1997, S. 13–14. 3 | Vgl. Lina Khatib: Lebanese Cinema: Imaging the Civil War and Beyond, London: Tauris 2008, S. 29–41. 4 | Vgl. Dalia Abdelhady: »Cultural Production in the Lebanese Diaspora: Memory, Nostalgia and Displacement«, in: Journal of Political and Military Sociology 35 (2007), S. 39–62, hier S. 41. 5 | Vgl. ebd., S. 49. 6 | Sune Haugbolle: War and Memory in Lebanon, Cambridge: Cambridge University Press 2010, S. 62. 7 | Nadim Shahade/Albert Hourani (Hg.), Lebanese in the World: A Century of Migration, London: I. B. Tauris 1993. 8 | Fouad Khater: Inventing Home: Emigration, Gender, and the Middle Class in Lebanon Emigration, 1870–1920, Cambridge: Cambridge University Press 2001. 9 | Vgl. D. Abdelhay: »Cultural Production«, S. Haugbolle: War and Memory, Syrine C. Hout: »Memory, Home, and Exile in Contemporary Anglophone Lebanese Fiction«, in: Critique: Studies in Contemporary Fiction 46 (2005), S. 219–233, L. Khatib: Lebanese Cinema. 10 | Vgl. S. C. Hout: »Memory, Home, and Exile«, S. 220. 11 | Vgl. ebd. 12 | Vgl. Elise Adib Salem: Constructing Lebanon – A Century of Literary Narratives, Gainesvilles: University of Florida Press 2003. 13 | Vgl. Raymond Williams: Politics and Letters – Interviews with New Left Review, London: Verso 1981, S. 133–185. 14 | Vgl. S. Haugbolle: War and Memory, S. 96–131. 15 | Vgl. R. Williams: Politics and Letters, S. 160. 16 | Ebd., S. 159. 17 | Vgl. Zlatko Skrbiš: »Transnational Families: Theorising Migration, Emotions and Belonging«, in: Journal of Intercultural Studies 29 (2008), S. 231– 246, hier S. 235. 18 | Vgl. ebd., S. 236. 19 | Frederic Jameson: »Magic Realism in Film«, in: Critical Inquiry 12 (2005), S. 301–325, hier S. 302. 20 | Michael Johnson: Class & Client in Beirut: The Sunni Muslim Community and the Lebanese State, 1840–1985, London: Atlantic Highlands/NJ: Ithaca Press 1986.

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21 | Vgl. Edward Said: Am falschen Ort. Autobiografie. Aus dem Englischen v. Meinhard Büning, Berlin: Berlin Verlag 2000, S. 8–9 [Originalausgabe: Out of Place. A Memoir, New York: Alfred A. Knopf 1999]. 22 | Ebd., S. 12. 23 | Vgl. Margaret Hedstrom: »Archives, Memory, and Interfaces with the Past«, in: Archival Science 2 (2002), S. 21–43.

Z ITIERTE F ILME »Moughamarat Elias Mabrouk (Die Abenteuer von Elias Mabrouk)«, Regie: Jordano Pidutti, Libanon 1930. »West Beyrouth«, Regie: Ziad Doueris, Libanon 1997. »Zozo«, Regie: Josef Fares, Libanon 2005.

L ITER ATUR Abdelhady, Dalia: »Cultural Production in the Lebanese Diaspora: Memory, Nostalgia and Displacement«, in: Journal of Political and Military Sociology 35 (2007), S. 39–62. Haugbolle, Sune: War and Memory in Lebanon, Cambridge: Cambridge University Press 2010. Hedstrom, Margaret: »Archives, Memory, and Interfaces with the Past«, in: Archival Science 2 (2002), S. 21–43. Hout, Syrine C.; »Memory, Home, and Exile in Contemporary Anglophone Lebanese Fiction«, in: Critique: Studies in Contemporary Fiction, 46 (2005), S. 219–233. Jameson, Frederic: »Magic Realism in Film«, in: Critical Inquiry 12 (2005), S. 301–325. Johnson, Michael: Class & Client in Beirut: The Sunni Muslim Community and the Lebanese State, 1840–1985, London: Atlantic Highlands/NJ: Ithaca Press 1986. Khater, Akram Fouad: Inventing Home: Emigration, Gender, and the Middle Class in Lebanon, 1870–1920, Cambridge: Cambridge University Press 2001. Khatib, Lina: Lebanese Cinema: Imaging the Civil War and Beyond, London: Tauris 2008.

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Said, Edward: Am falschen Ort. Autobiografie. Aus dem Englischen v. Meinhard Büning, Berlin: Berlin Verlag 2000 [Originalausgabe: Out of Place – A Memoir, London: Granta Books 1999]. Salem, Elise Adib: Constructing Lebanon – A Century of Literary Narratives, Gainesvilles: University of Florida Press 2003. Shahade, Nadim/Albert Hourani (Hg.), Lebanese in the World: A Century of Migration, London: I. B. Tauris 1993. Skrbiš, Zlatko: »Transnational Families: Theorising Migration, Emotions and Belonging«, in: Journal of Intercultural Studies 29 (2008), S. 231–246. Williams, Raymond: Preface to Film, London: Film Drama 1954. Williams, Raymond: Politics and Letters – Interviews with New Left Review, London: Verso 1981. Zaccak, Hady: Le cinéma libanais: itinéraire d‫ތ‬un cinéma vers l‫ތ‬inconnu (1929–1996), Beirut: Dar al-Machreq 1997.

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Autorinnen und Autoren

Rey Chow ist Anne Firor Scott Professor of Literature an der Duke University, USA. Vor ihrer Lehrtätigkeit an der Duke University war sie Andrew W. Mellon Professor of the Humanities an der Brown University. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vergleichende Literaturwissenschaft, moderne chinesische Literatur-, Film und Medienwissenschaften sowie Kulturtheorie. Sie ist Autorin von »Woman and Chinese Modernity« (1991), »Writing Diaspora« (1993), »Primitive Passions« (1995), »Ethics after Idealism« (1998), »The Protestant Ethnic and the Spirit of Capitalism« (2002), »The Age of the World Target« (2006), und »Sentimental Fabulations, Contemporary Chinese Films« (2007). Ihr Werk wurde in zahlreiche asiatische und europäische Sprachen übersetzt. Laura Coppens ist Ethnologin und seit September 2009 Doktorandin am universitären Forschungsschwerpunkt »Asien und Europa« an der Universität Zürich. Sie studierte Ethnologie, Soziologie und Lateinamerikanistik an der Freien Universität Berlin und an der University of Melbourne. Von 2008 bis 2009 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie der FU Berlin. Zwischen 2004 und 2007 hat sie mehrere Feldforschungsaufenthalte in Australien und Indonesien durchgeführt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Audiovisuelle Anthropologie und Medienethnologie, Queer und Gender Studies, Southeast Asian Cinema und Ethnologie der Sinne. Neben der Arbeit an der Universität realisiert sie eigene Filmprojekte und leitet seit 2007 das asiatische Filmfestival Asian Hot Shots Berlin. Publikation: Hg. mit Yvonne Michalik, Asian Hot Shots – Indonesian Cinema, Schüren Verlag: Marburg 2009.

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I DENTITÄTEN IN B EWEGUNG : M IGRATION IM F ILM

Bettina Dennerlein, Professorin für Gender Studies und Islamwissenschaft am Orientalischen Seminar der Universität Zürich. Studium in Berlin mit Studienaufenthalten in Kairo. Tätigkeiten als Wissenschaftliche Mitarbeiterin: FU Berlin, Zentrum Moderner Orient in Berlin, Sonderforschungsbereich 640 »Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsaufenthalte: Wissenschaftskolleg zu Berlin, Van Leer-Jerusalem-Institute, Maison des Sciences de l’Homme (MSH), Paris. Professorin für Kultur und Geschichte der modernen arabischen Welt (Islamwissenschaft) am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg (2007–2009). Forschungsthemen: islamisches Familienrecht, Menschen- und Frauenrechtsbewegungen, Erinnerungspolitik, Reformprozesse (Schwerpunkt Nordafrika). Publikationen u. a.: »Writing Against Islamic Dramas. Islamisches Familienrecht neu denken«, in: Asiatische Studien/Études Asiatiques LXIV, 3 (2010), S. 517–533; (Hg. mit D. Reetz) South-South Linkages in Islam, Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East, 27, 1 (2007); Islamisches Recht und sozialer Wandel in Algerien. Zur Entwicklung des Personalstatuts seit 1962 (1998). Heike Endter, Dr. phil., freie Wissenschaftlerin und Autorin. Studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Journalistik in Leipzig. Promotion an der Universität Bern. Postdoc-Projekt zu Exil und Migration in Western. Publikation: Ökonomische Utopien und ihre Bilder in Science-Fiction-Filmen, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2011. Elke Frietsch, Dr. phil., ist Kunstwissenschaftlerin und seit 2009 Oberassistentin im interdisziplinären Studienfach Gender Studies an der Universität Zürich. Sie war wissenschaftliche Assistentin an der Universität Wien sowie Gastprofessorin an der Kunstuniversität Linz. Promotion mit einem Stipendium des Graduiertenkollegs Codierung von Gewalt im medialen Wandel an der HU Berlin. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie an der FU Berlin und der HU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kunstwissenschaftliche Gender und Postcolonial Studies, Nationalsozialismus, politische Ikonografie, Kunst der Moderne und zeitgenössische Kunst. Veröffentlichungen u. a.: »Kulturproblem Frau«. Weiblichkeitsbilder in der Kunst des Nationalsozialismus, Köln u. a. (Böhlau) 2006. Gemeinsam mit Christina Herkommer (Hg.), Nationalsozialismus und Ge-

A UTORINNEN UND A UTOREN

schlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945, Bielefeld: transcript 2009. Sune Haugbolle ist assistant professor in Arabic an der Copenhagen University. PhD in Middle Eastern Studies, Oxford 2006, MA in Middle Eastern Studies, Oxford 2003, BA in Arabic, Kopenhagen 2000. Er publizierte zu sozialem Gedächtnis, zeitgenössischem Libanon und arabischen Medien. Veröffentlichungen u. a.: »War and Memory in Lebanon« (Cambridge UP 2010) und »The Politics of Violence, Truth and Reconciliation in the Arab Middle East« (Hg., Routledge 2009). Zurzeit forscht er zu den Themen Ideologie und Medien mit Fokus auf der arabischen Linken. Hamid Hosravi, Dr. phil., ist Dozent für Persische Sprache und Literatur an der Universität Zürich. Seine Forschungsgebiete sind die Politik und Gesellschaft Irans in der Moderne. Aktuell arbeitet er zu persischer Exilliteratur nach der Islamischen Revolution von 1979, unter Einbeziehung der Aspekte politische Verfolgung, Flucht und Migration, Identität und Identitätssuche. Alexandra Karentzos, Dr. phil., ist seit 2004 Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der Universität Trier. Derzeit ist sie Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. Von 2002 bis 2004 war sie wissenschaftliche Assistentin bei den Staatlichen Museen zu Berlin (Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, und Alte Nationalgalerie). Sie ist Mitbegründerin und Vorstand des Centrums für Postcolonial und Gender Studies (CePoG) und Mitherausgeberin der Zeitschrift Querformat. Zeitgenössisches. Kunst. Populärkultur. Forschungsschwerpunkte: Kunst des 19.–21. Jh., Kulturtheorien (Visual Culture, Postcolonial und Gender Studies, Systemtheorie), Kunst und Globalisierung, Lachen und Ironie, Körper- und Identitätskonzepte, Antikenrezeptionen, Orientalismen, Reisen und Tourismus in der Kunst. Letzte Publikationen: Postkoloniale Schlüsselwerke. Wiesbaden: VS Verlag 2011 (zusammen mit Julia Reuter; in Vorbereitung); Topologien des Reisens. Tourismus – Imagination – Migration/Topologies of Travel. Tourism – Imagination – Migration. Online-Publikation, Trier 2010 (zusammen mit Alma-Elisa Kittner, Julia Reuter).

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Hauke Lehmann ist seit Oktober 2008 Stipendiat an der Graduiertenschule des Exzellenzclusters Languages of Emotion in Berlin. Er hat Filmwissenschaft und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und an der Karls-Universität Prag studiert und 2008 mit dem Magister Artium abgeschlossen. Gegenwärtig arbeitet er an seinem Dissertationsprojekt mit dem Titel: »Die Aufspaltung des Zuschauers. Bewegung und Emotion im Kino des New Hollywood«. Jüngste Publikationen: »Shock and Choreography. Dying and Identity in Gimme Shelter«, in: Snodi 6 (2010), S. 144–154; »Schrecken der Straße. Steven Spielbergs Duel als Road Movie-Horrorfilm«, in: Uta Felten/ Kerstin Küchler (Hg.), Kino und Automobil – cinema e automobile – cinéma et automobile (im Erscheinen). Ramón Reichert, Professor für Neue Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien, lehrt Medientheorie und Kulturwissenschaft an der Johannes Kepler Universität Linz, am Mozarteum Salzburg und an der Donau-Universität Krems. Forschungs- und Lehraufenthalte u. a. in Berlin (HU), Bochum, Canberra (ANU), Columbia (SC), London und Zürich. Er war 2008/09 Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Forschungsschwerpunkte: Soziale Medien, Online-Medien, Digitale Ästhetik, Netzkritik, Visuelle Politik. Veröffentlichungen (Auswahl): Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens (2007); Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0 (2008); Das Wissen der Börse. Medien und Praktiken des Finanzmarktes (2009). Christopher Treiblmayr, MMMag. Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte der Universität Wien, Studium der Geschichte, Deutschen Philologie, Kommunikationswissenschaft, Theaterwissenschaft, Philosophie und Pädagogik an den Universitäten Wien und Salzburg, am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Technischen Universität Berlin, der London School of Economics und am Birkbeck College, University of London sowie am German Department der University of California at Berkeley. Habilitationsprojekt zur Geschichte der Österreichischen Liga für Menschenrechte. 2011 erscheint: Bewegte Männer. Männlichkeit und männliche Homosexualität im deutschen Kino der 1990er Jahre, Wien/Köln/Weimar: Böhlau.

Film Tobias Ebbrecht Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis Filmische Narrationen des Holocaust Februar 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1671-2

Dagmar Hoffmann (Hg.) Körperästhetiken Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit 2010, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1213-4

Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch November 2011, ca. 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Film Annette Simonis Intermediales Spiel im Film Ästhetische Erfahrung zwischen Schrift, Bild und Musik 2010, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1520-3

Michael Wedel Filmgeschichte als Krisengeschichte Schnitte und Spuren durch den deutschen Film 2010, 464 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1546-3

Waltraud »Wara« Wende, Lars Koch (Hg.) Krisenkino Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm 2010, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1135-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Film Maik Bozza, Michael Herrmann (Hg.) Schattenbilder – Lichtgestalten Das Kino von Fritz Lang und F.W. Murnau. Filmstudien 2009, 212 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1103-8

Nathalie Bredella Architekturen des Zuschauens Imaginäre und reale Räume im Film 2009, 186 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1243-1

Nicole Colin, Franziska Schössler, Nike Thurn (Hg.) Prekäre Obsession Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder Dezember 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1623-1

Catrin Corell Der Holocaust als Herausforderung für den Film Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie 2009, 520 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-719-6

Uwe Christian Dech Der Weg in den Film Stufen und Perspektiven der Illusionsbildung

Daniel Fritsch Georg Simmel im Kino Die Soziologie des frühen Films und das Abenteuer der Moderne 2009, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1315-5

Hans-Christian Mennenga Präödipale Helden Neuere Männlichkeitsentwürfe im Hollywoodfilm. Die Figuren von Michael Douglas und Tom Cruise April 2011, 258 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1797-9

Asokan Nirmalarajah Gangster Melodrama »The Sopranos« und die Tradition des amerikanischen Gangsterfilms Dezember 2011, ca. 355 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1843-3

Bettina Papenburg Das neue Fleisch Der groteske Körper im Kino David Cronenbergs Mai 2011, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1740-5

Elisabeth Scherer Spuk der Frauenseele Weibliche Geister im japanischen Film und ihre kulturhistorischen Ursprünge August 2011, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1525-8

Februar 2011, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1716-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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