Hunger, Rauchen, Ungeziefer: Eine Sozialgeschichte des Alltags in der Neuzeit 3515111905, 9783515111904

In Geschichtsbüchern ist fast immer nur von Kriegen, Verträgen und diplomatischen Schachzügen zu lesen wie das konkrete

110 92 9MB

German Pages 424 [427] Year 2016

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Ist Tod gleich Tod? Die Debatte um die Opferzahlen des Dreißigjährigen Krieges
Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution. Eine Kausalkette aus Wetter, Armut, Hunger und Gewalt
Der vermessene Mensch. Über den Einfluss der Ernährung auf Wachstum und Lebenszeit während der Industrialisierung
Ungeziefer, historisch betrachtet. Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Ektoparasiten
»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust« Zur Ausbreitung der Unterhose im 19. Jahrhundert
»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.« Der Ausbruch des Mt. Tambora als Ursache der Hungersnot 1816
»… und erblicken in den Spiegeln mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.« Quecksilber- und Phosphorvergiftungen in der fränkischen Industrie im 19. Jahrhundert
Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen« Säuglingssterblichkeit im 19. Jahrhundert
Die Spanische Grippe 1918/19 – eine Pandemie entscheidet den Krieg?
Qualmen gegen alle Vernunft. Eine sehr kurze Geschichte des Rauchens
»Angst wirft sich auf alles.« Facetten des Suizids in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert
Textnachweis
Abbildungsnachweis
Abkürzungsverzeichnis
Recommend Papers

Hunger, Rauchen, Ungeziefer: Eine Sozialgeschichte des Alltags in der Neuzeit
 3515111905, 9783515111904

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

M. Va s old

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Manfred Vasold Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Manfred Vasold

Hunger, Rauchen, Ungeziefer Eine Sozialgeschichte des Alltags in der Neuzeit

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Einbandgestaltung: deblik, Berlin Gesetzt aus der Minion Satz: textformart, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-515-11190-4 (Print) ISBN 978-3-515-11191-1 (E-Book)

Inhalt Einleitung Ist Tod gleich Tod? Die Debatte um die Opferzahlen des Dreißigjährigen Krieges Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

7

15

Eine Kausalkette aus Wetter, Armut, Hunger und Gewalt

43

Der vermessene Mensch Über den Einfluss der Ernährung auf Wachstum und Lebenszeit während der Industrialisierung

91

Ungeziefer, historisch betrachtet

Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Ektoparasiten

137

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust« Zur Ausbreitung der Unterhose im 19. Jahrhundert

169

6

Inhalt

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.« Der Ausbruch des Mt. Tambora als Ursache der Hungersnot 1816

213

»… und erblicken in den Spiegeln mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.« Quecksilber- und Phosphorvergiftungen in der fränkischen Industrie im 19. Jahrhundert

265

Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen« Säuglingssterblichkeit im 19. Jahrhundert

293

Die Spanische Grippe 1918/19 – eine Pandemie entscheidet den Krieg?

309

Qualmen gegen alle Vernunft Eine sehr kurze Geschichte des Rauchens

347

»Angst wirft sich auf alles.« Facetten des Suizids in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert

389

Textnachweis

419

Abbildungsnachweis

421

Abkürzungsverzeichnis

425

Nichts wurde so trocken gelehrt wie bayerische Geschichte […] Geschichte, die nichts zu erzählen weiß als Erbschaftsstreitigkeiten der Wittelsbacher, die Spaltung und Wiedervereinigung von Bayern-Ingolstadt, Bayern-Landshut, Bayern-Straubing und Bayern-München? Vom Volke hörte man nichts, von seinem Leben, von Bauart, Kunst und Handwerk, von Handel und Wandel im Lande … Ludwig Thoma (1867–1921), Erinnerungen Die Geschichte des Bauern und seines Treibens in Feld und Scheune, die des Handwerkers in seiner Werkstätte, seiner Freuden und Leiden, seines Glaubens und Hoffens in jedem Zeitraum sollte Stoff der Geschichte sein. Dann wäre sie menschlich … Joh. Andreas Schmeller (1785–1852; bay. Mundartforscher)

Einleitung Geschichte soll davon berichten, was in der Vergangenheit geschehen ist. Dabei hat der Historiker eine fast unendliche Auswahl an Themen und eine ebenso große Zahl an Fragen, die er an seine Quellen stellen kann. Dieses Buch ist der Sozialgeschichte verpflichtet, fragt also nach den Lebensumständen der Menschen, wie sie die Generationen vor uns erfahren haben. Die Sozialgeschichte umfasst vieles. Hier sind einzelne Kapitel der Sozialgeschichte zusammengetragen, die Einblicke in das Leben der Menschen vom 17. bis ins 20. Jahrhundert geben. Der Leser wird dem Tod in Kriegszeiten begegnen, vom allgegenwärtigen Hunger erfahren, von den Auswirkungen der Witterung auf die Ernährung, der Ernährung auf das Wachstum, auf die Fruchtbarkeit, auf das Glück überhaupt das erste Lebensjahr zu überleben. Das Leben der einfachen Leute war immer schwer. Am Arbeitsplatz, besonders in den Werkstätten der frühen Industrialisierung, hantierte man mit Stoffen, deren Wirkung auf die Gesundheit niemand erahnte: Bei jährlichen Arbeitszeiten, die oft doppelt so lang waren wie heute, ruinierte manch einer seine Gesundheit. Wie tragisch, wenn auch noch ein tödliches Laster zur großen Mode wird: Tabak, geschnupft oder geraucht, beruhigte in turbulenten Zeiten

8

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

die Nerven. Aber dann packt die Sucht zu, und das Gewinnstreben der großen Tabakkonzerne verhinderte jede Vernunft und Aufklärung. Wenn die Verzweiflung überhandnahm und nicht einmal der Glaube mehr Halt bot, legten viele Hand an sich und setzen ihrem Leben ein Ende – auch das gehört zur Sozialgeschichte. Die Sozialgeschichte bleibt nicht bei Momentaufnahmen stehen, sondern beschäftigt sich vor allem mit längerfristigen Entwicklungen. Dabei gibt es natürlich auch Positives zu erforschen. Wo wären wir heute, wenn es nicht so wäre? Die Fortschritte in der Landwirtschaft – Düngung und Maschinen – machten die Menschen von den Unbilden der Witterung weitgehend unabhängig, machten immer mehr Menschen satt und setzten Arbeitskräfte frei, die in den Industrien dringend gebraucht wurden. Einen Quantensprung in der Textilverarbeitung stellten die maschinelle Fertigung und die Baumwolle dar. Die größte Errungenschaft für die Gesundheit war wohl die Erkenntnis der Bedeutung der Hygiene. Sei es die Verbreitung der Unterwäsche oder die Sterilisierung der Milch oder die Kanalisation  – die Lebenserwartung der Menschen in unseren Breiten stieg nach der Industrialisierung stark an. Wir sind diejenigen, die von den Opfern unserer Vorfahren profitieren. Nie zuvor wurden so viele Kinder groß, nie wurden sie so groß, nie wurden so viele so alt, wurden so gesund alt. Nie hatten auch einfache Leute so viel Freizeit, und nie waren sie so zufrieden wie heute. Das Buch handelt also von den Dingen, die die Zeitgenossen tagtäglich um sich herum sahen und erlebten, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen. Es geht um die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt und zwar in unseren Breiten, in Mitteleuropa. Dabei soll weniger die Umwelt als abstrakte Größe betrachtet werden, sondern vielmehr die konkrete Umgebung der individuellen Menschen. Vieles wird dem Leser von heute vertraut vorkommen; vieles aber auch ganz fremd. In der Geschichte des Alltags, gerade dort, wo es um die Befriedigung der Grundbedürfnisse geht, hat es gewaltige Veränderungen gegeben. Das Buch erzählt von den Menschen und wie sie sich in ihrer Umwelt – und gegen ihre Umwelt – zu behaupten versuchten. Es erzählt über die Zeit vor und während der Industrialisierung, ein wenig auch von der Zeit danach.

Einleitung

Im 18.  Jahrhundert war die Bevölkerung, nach den Zerstörungen und Verlusten des Dreißigjährigen Krieges, ziemlich rasch gewachsen, nun verteilten sich die Güter der Natur auf immer mehr Köpfe, man musste nach einem Ausweg aus dieser Misere suchen. Man fand ihn in dem, was wir heute »Industrialisierung« nennen. Die industrielle Fertigungsweise erweiterte die Nahrungsmittelproduktion gewaltig, und sie setzte Menschen frei für andere Tätigkeiten. Vor der Industrialisierung waren Hungersnöte nicht selten. Fiel einmal eine Ernte sehr schlecht aus, kam unweigerlich der Hunger. Der Mensch war der Natur ausgeliefert; die Zeitgenossen fürchteten die Unbilden der Witterung mehr als die Willkür ihrer Fürsten. Wo der Mensch seine Daseinsvorsorge vernachlässigt und nicht ausreichend Getreide für Notjahre gehortet hatte, rächte sich dies bei Unwetterperioden, so etwa in den Jahren 1816/17, als die Ernten in Mitteleuropa deutlich geringer ausfielen als in gewöhnlichen Jahren. Bis gegen 1830 nahmen die landwirtschaftlichen Erträge nur wenig zu. Erst danach begannen die Agrarprodukte schneller zu wachsen als die Bevölkerung. Die Industrialisierung modernisierte auch die Landwirtschaft von Grund auf, sie erhöhte die Ertragsfähigkeit der Böden, verbesserte die Erträge pro Ackerbaueinheit. Seither kann ein Landwirt aus dem, was er erwirtschaftet, mühelos eine Vielzahl außerhalb der Landwirtschaft tätiger Personen ernähren. Im frühen 19.  Jahrhundert wuchs die deutsche Bevölkerung, nicht die einzelnen Menschen, sie blieben klein. Zur Jahrhundertmitte waren die Deutschen um etwa neun Prozent kleiner als heute, der bayerische Durchschnittsrekrut maß 1,64 Meter. Die Generationen der in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Geborenen wurden nicht größer, ihre körperliche Reife setzte spät ein. Zwischen der Oberschicht und den unteren Volksschichten bestanden bedeutende Unterschiede in den Körpermaßen: Die Oberschicht war viel besser ernährt und daher deutlich größer. Das Bevölkerungswachstum beobachteten die Regierenden mit Sorge. Es sah so aus, als nähme die Zahl der Individuen immer mehr zu. Für die Zeitgenossen waren die Aussichten beängstigend. In konservativen Kreisen, vor allem unter Ärzten, erörterte man Ge-

9

10

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

burtenkontrolle, gar Zwangssterilisationen. Erleichterung brachte eine Frucht, die die Entdecker schon Jahrhunderte zuvor aus der Neuen Welt mitgebracht hatten: Die Kartoffel setzte sich als das Nahrungsmittel der breiten Massen erst jetzt wirklich durch. Über den Menschen und seine Umwelt nachzudenken, war damals die Aufgabe der die Kameralisten. Sie betrachteten die Natur in erster Linie unter dem Aspekt: Was kann sie dem Menschen bieten? Der am österreichischen Hof tätige Kameralist Philipp Wilhelm von Hörnigk (1640–1714), zu dessen Lebzeiten die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges wohl noch nicht ganz ausgeglichen waren, glaubte, die Natur brächte alles im Überfluss hervor und flehte den Menschen geradezu an, sich ihres Reichtums nach Belieben zu bedienen. Mehr als hundert Jahre später schrieb der englische Philosoph John Stuart Mill (1806–1873) umgekehrt von der »Knausrigkeit der Natur«; er kam zu der Schlussfolgerung, dass der Mensch sparsam mit diesen knappen Gütern umgehen und umsichtig wirtschaften müsste. Sein Landsmann, der englische Geistliche und Nationalökonom Thomas Robert Malthus (1766–1834), gab der Bevölkerungswissenschaft und der Ökologie wichtige Anstöße und förderte das Umweltbewusstsein: Er sah eine Bevölkerungskatastrophe voraus und empfahl deshalb den sparsamen Umgang mit den Ressourcen der Natur. Solange in Mitteleuropa nur wenige Menschen auf einem Quadratkilometer hausten, waren seine Eingriffe in den Naturhaushalt vergleichsweise gering. Aber heute leben in Mitteleuropa rund 230 Menschen auf einem Quadratkilometer, in den Städten sind es mehrere Tausend, daraus ergibt sich eine ganz andere Belastung für die Umwelt als vor zweihundert Jahren. Diese Entwicklung begann bereits im 19. Jahrhundert, im Verlauf der Industrialisierung und raschen Urbanisierung zum Problem zu werden: saurer Regen, verpestete Luft und verseuchtes Wasser. Auch die Veränderungen des Klimas haben Forscher schon damals beobachtet, nämlich Glaziologen, Gletscherkundler, die eine stetige Erwärmung wahrnahmen, weil die Gletscher schmolzen. Sie erkannten, dass die niedrigen Temperaturen der »Kleinen Eiszeit« mit ihren Gletscherhöchstständen Vergangenheit waren und Europa sich auf eine Epoche mit höheren Temperaturen zubewegte. Im Verlauf des 19. Jahrhun-

Einleitung

derts nahm die Durchschnittstemperatur um etwa 0,7 Grad Celsius zu, diese Erwärmung setzte sich im 20. Jahrhundert fort. Hatte der Anstieg der Weltbevölkerung zu der Erwärmung beigetragen? Im 19.  Jahrhundert hat sich die Weltbevölkerung fast verdoppelt, die deutsche Bevölkerung in den hundert Jahren nach 1815 verdreifacht; sie stieg von 22 auf über 66 Millionen.1 Oder war dies die Folge menschlicher Einwirkung, der Industrialisierung etwa, die mit großem Energieausstoß verbunden war? Alle diese Vermutungen mögen zutreffen, aber man wird auch noch weitere Faktoren berücksichtigen müssen. In der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts, noch bevor die Industrialisierung auf einen Höhepunkt zustrebte, ließ beispielsweise die Tätigkeit der Vulkane nach. Einige Klimatologen weisen darauf hin, dass dies an dem weltweiten Temperaturanstieg mitursächlich beteiligt sein könnte. Die Industrialisierung bescherte uns große Segnungen, aber sie hatte auch Nachteile: Sie hinterließ zum Beispiel schädliche Rückstände, erzeugte Abfälle und Schmutz. An die Stelle des alten Drecks und Gestanks – Fäkalien der Zugtiere in den Gassen, Tierhaltung in nahezu jedem Haushalt – trat nun der neue Dreck und Gestank: Abgase und Abwässer der Fabriken, giftiger Müll. Als die Mehrzahl der Deutschen auf dem Land und von der Landwirtschaft lebte, hausten Mensch und Tier nicht selten in engster Nachbarschaft, oftmals sogar unter einem Dach. An der Wärme der Tiere wärmten sich die Bewohner des Hauses. Aber das Thema »Mensch und Tier« hat noch eine andere Facette: Der Mensch beherbergte nicht nur Nutztiere sondern auch Tiere in Gestalt von Parasiten. Die persönliche Hygiene schien den meisten nicht sonderlich wichtig, dafür fehlten ihnen die Zeit und die Möglichkeiten. Ungeziefer war lange Zeit weit verbreitet. Derlei Getier – vor allem Flöhe, Läuse, Wanzen – lebten auf seiner Haut, in seiner Kleidung, in seinen Betten; andere, vor allem Würmer verschiedener Arten, tummelten sich in seinem Körperinneren, Trichinen in der Muskulatur. Ungeziefer bedeutet nicht nur eine harmlose Belästigung, es beherbergt gefährliche Krankheitserreger. Der Floh überträgt die Pest – eine Seuche, die keineswegs Vergangenheit ist, in einigen Teilen der Welt ist sie noch heute lebendig. Die lange Zeit weitverbreitete Kleiderlaus kann den Erreger des Fleckfiebers in sich tragen,

11

12

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

dessen Bedeutung in der Neuzeit noch zunahm und im 19. Jahrhundert der deutschen Bevölkerung tiefe Wunden schlug, dem russischen Volk noch im 20. Jahrhundert. Mit den Errungenschaften der Medizin, der Pharmazie und der Chemie gelang es, diese unliebsame Fauna loszuwerden oder zumindest in Schranken zu halten. Aber auch schon der Wechsel von Tag- und Nachtwäsche, die Verwendung von Unterwäsche machten es dem Einzelnen leichter, sich rein zu halten. Am Ende des Ersten Weltkriegs 1918/19 trat eine weitere tödliche Gefahr auf, deren Erreger, ein mutiertes Virus, auf den Menschen übergesprungen war: die spanische Grippe, eine Pandemie, die weltweit innerhalb weniger Monate viel mehr Menschen in den Tod riss als der Weltkrieg in viereinviertel Jahren. Aber bevor die Industrie ihr Füllhorn über die Bewohner Mitteleuropas ausgießen konnte, mussten die Industrieanlagen erst einmal aufgebaut werden. Die Industrialisierung brachte für die Menschen neue Härten mit sich: vor allem sehr viel Arbeit. Den Zeitgenossen im 19. Jahrhundert ging es sicher nicht besser als den Menschen zuvor. Es war eine gewaltige Aufgabe, die auf sie wartete. Sie würden sie zwar schließlich meistern, aber im Verlauf der Industrialisierung nahm die Sterblichkeit keineswegs ab, viele bezahlten den Fortschritt mit ihrem Leben. Auch die Säuglingssterblichkeit, die in Deutschland schon lange Zeit sehr hoch war, stieg bis gegen 1870 sogar noch einmal an. Es hatte mit der Umwelt und der Umweltverschmutzung zu tun, mit den Belastungen, die die Industrialisierung den Zeitgenossen aufbürdete. Aber: Starb um das Jahr 1870 in Deutschland einer von fünf Säuglingen im ersten Lebensjahr, stirbt heute nicht einmal mehr einer von hundert. Es gibt viele Krankheiten, die von der Umwelt begünstigt, ja ausgelöst werden. Eine Reihe von schweren Seuchen, die noch im 19. und selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Mitteleuropa heimsuchten – die Cholera, die Pocken, Fleckfieber, Kindbettfieber und andere  – sind heute in unseren Breiten Vergangenheit. Die Erreger dieser Krankheiten waren um uns herum. Die Veränderungen der Umwelt trugen dazu bei, dass die Erreger verschwanden und die Infektionskrankheiten zurückgedrängt wurden – oder anders gesagt: dass die Lebenserwartung heute so hoch ist. Seit 1880

Einleitung

hat sich die Lebenserwartung in Deutschland verdoppelt, sie liegt heute bei rund achtzig Jahren, wenn man beide Geschlechter zusammennimmt. Die Menschen werden heute älter, bleiben länger gesund. Dieser Fortschritt ist zu einem guten Teil auf ökologische Maßnahmen zurückzuführen, nicht auf die Erfolge der Heilkunst im engeren Sinne. Und das Leben verläuft viel angenehmer. Man arbeitet jährlich nur noch halb so lange wie die Generationen, die 1820 oder 1830 geboren wurden. Wohlhabende Leute verfügten zwar seinerzeit über zahlreiche Dienstboten und Hausmädchen, die die Arbeiten für sie erledigten, manch einer hatte einen eigenen Kutscher. Heute besitzen auch die Mittel- und Unterschichten eine Vielzahl von Maschinen, die ihnen ihre Arbeiten erledigen, und wer ist für eine Reise noch auf reale Pferdestärken angewiesen? Seit den Anfängen der Industrialisierung in Deutschland sind noch keine zweihundert Jahre vergangen, und was hat sich in diesem Zeitraum nicht alles getan!? Die Lebensumstände haben sich seither wohl mehr verändert als in den tausend Jahren davor. Vor der Industrialisierung war der Mensch in Mitteleuropa wie anderswo, wie alle Lebewesen, seiner Umwelt ziemlich hilflos ausgeliefert. Aber der Mensch ist hochintelligent und rücksichtslos, es gelang ihm, seine Umwelt zu verändern und immer mehr aus ihr herauszuholen, immer mehr Energie zu gewinnen, um seine schier unendlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Es gelang ihm – als dem einzigen Lebewesen – seine Umweltbedingungen radikal zu verändern. Das Leben ist leichter geworden in unseren Breiten. Es sind aber auch die Erwartungen gestiegen, und die Menschen werden immer anspruchsvoller, weil der hohe Standard zur Gewohnheit wurde. Doch die längere Lebensdauer, das Bevölkerungswachstum und der Raubbau an der Natur hat die Menschheit im 21. Jahrhundert bis an den Rand einer ökologischen Katastrophe geführt. Für seine Umwelt erwies sich der Mensch als »das zerstörerischste aller Wesen, das die Erde je bevölkerte«.2 Ein Wort ist hier noch angezeigt zur Darstellungsweise. »Historiker sollten nicht nur für Historiker schreiben«, meint der englische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm. Der Verfasser hat sich daher stets bemüht, allgemeinverständlich zu schreiben, wollte aber nicht dar-

13

14

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

auf verzichten, Quellen anzugeben, aus denen er geschöpft hat, beispielsweise bei einem Zitat oder bei einem Verweis auf einen Fundort in einem städtischen Archiv. Aus diesem Grund findet der Leser da und dort im Text Hochzahlen, am Ende des Buches sind dann die jeweiligen Fundorte genannt. Außerdem kann der interessierte Leser hier auch Anregungen bekommen, was man zu einem Thema lesen könnte. Aber niemand sollte sich von diesen Hochzahlen verunsichern lassen oder sich bei der Lektüre gestört fühlen, man kann sie ebenso gut einfach überspringen. 1 2

Siehe http://www.tacitus.nu/historical-atlas/population/germany.htm. »Human beings are the most environmentally destructive animals ever to live«, lautet eine Kapitelüberschrift in: Neil A. Campbell / Lawrence G. Mitchell / Jane B. Reece, Biology. Concepts and Connections, Redwood City u. a. 1994, S. 744.

Ist Tod gleich Tod? Die Debatte um die Opferzahlen des Dreißigjährigen Krieges Im Jahr 1648, nach dreißigjährigem Kampf, waren die Streithähne in Deutschland ermattet, sie waren nun zum Frieden bereit. In den Westfälischen Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück mussten die deutschen Fürsten fremden Mächten weitreichende territoriale Zugeständnisse machen: Das Königreich Frankreich, das schon fast hundert Jahre zuvor die Bistümer Metz, Toul und Verdun annektiert hatte, wurde nun in diesem Besitz bestätigt und erhielt außerdem die habsburgischen Besitzungen und einige weitere Gebiete im Elsass und am Oberrhein. Das Königreich Schweden erhielt Vorpommern samt der Inseln Rügen, Usedom und Wollin, Lande zu beiden Seiten der Oder, also auch Teile Hinterpommerns, ferner das Erzstift Bremen, das Stift Verden an der Aller und die Stadt Wismar. An den Mündungen der großen Flüsse Oder, Elbe und Weser saßen nun Fremde.1 Fremde Monarchen wurden nun Reichsfürsten und Reichsstand im Alten Reich mit einem Sitz im Reichstag. Der Dreißigjährige Krieg hatte gravierende Folgen, ganz ohne Zweifel, er ist vermutlich aus diesem Grund im Gedächtnis der Deutschen haften geblieben. Er hatte weitreichende Erschütterungen im Bewusstsein der Deutschen zur Folge, hervorgerufen wohl dadurch, dass viele Jahrzehnte lang fremde Söldnerheere auf

16

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

deutschem Boden kämpften, nicht wenige Slowaken oder »Krawaten« (Kroaten) darunter im deutschen Auftrag, gegen deutsche Bezahlung. Die Grausamkeiten der schwedischen Soldateska blieben lange Zeit im Gedächtnis der Deutschen haften, der »Schwedentrunk« blieb legendär.2 Eine Vielzahl von – heute noch – regelmäßig abgehaltenen Festspielen geht auf diesen Krieg zurück. Selbst so berühmte wie die von Oberammergau beziehen sich auf die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, nämlich auf die tödliche Seuche, die während dieses Krieges, seit 1630, in weiten Teilen Deutschlands zu wüten begann. Dreißig Jahre Krieg, Mord und Zerstörung bewirkten nicht nur hohe demographische Verluste, sondern auch mentale Traumata. Die schweren Folgen dieses langen Bürgerkrieges berührten die Psyche der Beteiligten und prägten sie für lange Zeit. Noch im 20.  Jahrhundert hatte der Westfälische Friede  – am meisten wohl für die Nationalsozialisten – eine sehr große Bedeutung: Sie sahen Deutschland 1648 auf einem Stand tiefster Erniedrigung. Deutschland im Jahr 1648, das war für sie das Gegenteil von dem, was sie sich erträumten. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels schreibt in seinen Tagebüchern mehrmals davon, dass Hitler die »Liquidierung des Westfälischen Friedens« anstrebte. Dieser Friedensschluss müsse aus den Geschichtsbüchern »ausradiert« werden. Seit 1937 sprach er immer häufiger davon, dass bald ein »Weltkampf« einsetzen werde, der es ihm erlaube, den Westfälischen Frieden zu liquidieren und die Raumnot der Deutschen zu beheben.3 Der Zweite Weltkrieg war von viel kürzerer Dauer, seine Bevölkerungsverluste waren – für Deutschland – deutlich geringer und er wurde nicht ausschließlich in Mitteleuropa ausgetragen. Wenn man heute nach den längerfristigen Folgen dieses Krieges für die Deutschen fragt, dann würde man wohl eher in dem Sinne antworten, welche Folgen das nationalsozialistische Gedankengut und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft für sie hatten, weniger der von ihnen entfesselte Krieg und dessen materielle Folgen. Sechs Jahre Krieg, davon nicht einmal die Hälfte auf deutschem Boden, Bevölkerungsverluste von etwas mehr als zehn Prozent, das wurde bald überwunden. Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges waren schlimmer. Kein Geringerer als Henry Kissinger, Historiker und Diplomat, hat vor

Ist Tod gleich Tod?

wenigen Jahren darauf hingewiesen, ja er hat sogar angedeutet, dass die fremdenfeindlichen Verhaltensweisen der Deutschen vielleicht auf diesen Krieg und die Intervention fremder Mächte zurückzuführen seien. Kissinger hat den zivilisatorischen Rückstand Deutschlands mit diesem Krieg in ursächliche Beziehung gebracht. Die Gegenreformation, schreibt er, führte zum Dreißigjährigen Krieg, der 1618 in Mitteleuropa ausbrach. »Er muß zu den gewalttätigsten, brutalsten und zerstörerischsten Kriegen der Geschichte gezählt werden«, schreibt Kissinger.4 Fremde Völker mischten sich ein: Dänen, Schweden, Franzosen. »Als sich die Gelegenheit schließlich bot, sorgte Richelieu um so entschlossener dafür, daß der Krieg nicht endete, bevor Mitteleuropa ausgeblutet war.«5 »Richelieus Einwirken auf die Geschichte Mitteleuropas war die Kehrseite der Leistungen, die er zugunsten Frankreichs vollbrachte. Er fürchtete ein vereintes Mitteleuropa und verhinderte sein Entstehen. Die deutsche Einheit hat er wohl um etwa zwei Jahrhunderte verzögert. […] Deutschland gelang es nicht, ein Nationalstaat zu werden. Zerstückelt und von kleinlichen dynastischen Streitigkeiten aufgezehrt, kehrte es sich nach innen. Das Ergebnis dieser Vorgänge war, daß Deutschland keine nationale politische Kultur entwickelte, sondern in einem engstirnigen Provinzialismus erstarrte. Erst im neunzehnten Jahrhundert konnte es sich davon lösen, zu jener Zeit, da Bismarck es vereinte. Deutschland wurde zum Schlachtfeld der meisten europäischen Kriege, nicht wenige davon durch Frankreich ausgelöst, und versäumte die erste Welle der europäischen Kolonisation in Übersee. Und als das Land sich schließlich vereinigte, fiel ihm die Definition seines nationalen Interesses so schwer, daß es im Verlauf dieses Prozesses die schlimmsten Tragödien diesen Jahrhunderts bewirkte.«6 »Als der Krieg 1648 endete, war Mitteleuropa verwüstet. Deutschland hatte fast ein Drittel seiner Bevölkerung verloren.«7 Der Dreißigjährige Krieg war für die Deutschen eine schreckliche Erfahrung. Noch in den letzten Jahren haben deutsche Historiker wie Heinrich August Winkler ein vernichtendes Urteil über diesen Krieg und seine Folgen gefällt: »In der kollektiven Erinnerung der Deutschen lebte der Dreißigjährige Krieg Jahrhunderte lang als die nationale Katastrophe fort; erst die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und namentlich der zweite haben ihm diesen

17

18

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Rang streitig gemacht. Eine Katastrophe war der Krieg vornehmlich in demographischer, wirtschaftlicher, sozialer und moralischer Hinsicht. Große Teile Deutschlands haben sich erst im folgenden Jahrhundert, manche noch später oder nie von den Folgen des drei Jahrzehnte währenden Mordens und Brandschatzens erholt.«8 Auch die letzten historiographischen Darstellungen des Dreißigjährigen Krieges, aus der Feder von Johannes Burkhardt, Gerhard Schormann und Georg Schmidt, schreiben diesem Krieg eine große Bedeutung für die deutsche Geschichte zu. Der Dreißigjährige Krieg habe »ganz offensichtlich im deutschen Volk [traumatische Erfahrungen] hinterlassen«, schreibt Schmidt. »[Er] hat zu massenhaften Verwerfungen aus den angestammten Lebensbahnen geführt; seine Wirkung auf die Psyche des Einzelnen kann wohl nicht überschätzt werden«.9 Georg Schmidt hält »die Bevölkerungsbilanz des Krieges [für] eindeutig, die Verlustrate liegt mit Sicherheit dichter an 40 als an 15 Prozent«, schreibt er.10 Seit dem Zeitalter der Reformation und der Gegenreformation war Deutschland konfessionell gespalten. Eine Folge der langen gewalttätigen Auseinandersetzung war, dass die Konfessionen sich danach voneinander abschotteten, nicht nur von Territorium zu Territorium, sondern auch innerhalb kleinerer Bezirke, zum Beispiel innerhalb von Städten. Deutschland entwickelte sich zu einem Land der Duodezstaaten, der Krähwinkelei. Das Trennende wurde wichtiger als das Verbindende. Die Angehörigen der verschiedenen Bekenntnisse gingen sich aus dem Weg. Sie wollten sich nicht einmal kennenlernen – allenfalls aus der Ferne, sie beäugten einander mit scheelen Blicken. Dabei blieb es lange Zeit. Mehr noch, sie blieben sich innerlich fremd; man kann es nachlesen, am eindringlichsten und schönsten wohl in der Selbstbiographie von Jacob Grimm, der über seine Kindheit am Ende des 18. Jahrhunderts schreibt: »Wir Geschwister wurden alle […] streng reformirt erzogen, Lutheraner, die in dem kleinen Landstädtchen mitten unter uns, obgleich in geringerer Zahl, wohnten, pflegte ich wie fremde Menschen anzusehen, und von Katholiken, die aus dem eine Stunde entlegenen Salmünster oft durchreisten, gemeinlich aber schon an ihrer bunteren Tracht zu erkennen waren, machte ich wohl mir scheue, seltsame Begriffe.«11

Ist Tod gleich Tod?

In den dem Krieg folgenden Saecula gab es Zeit und Gelegenheit genug, dass sich in den konfessionell geschiedenen Räumen verschiedene Sozialmilieus und Menschentypen ausbildeten. Der Dichter-Historiker Friedrich Schiller hat in seinem Buch »Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung« sehr schön die Eigentümlichkeiten von Katholiken und Protestanten beschrieben: Die einen erschienen ihm romantisch, kunstsinnig und äußerlich fromm; die anderen bürgerlich, undichterisch, nüchtern. »Die katholische Religion wird im ganzen mehr für ein Künstlervolk, die protestantische mehr für ein Kaufmannsvolk taugen«, schrieb er.12 Zur Historiographie der demographischen Verluste Der Dreißigjährige Krieg hat zu einem gewaltigen Bevölkerungsrückgang geführt. Seit langer Zeit gilt unter Historikern die Annahme als gesichert, dass die deutschen Bevölkerungsverluste während des Dreißigjährigen Krieges sehr hoch waren. Zwischen den Jahren 1618 und 1648 soll die deutsche Bevölkerung um ein Drittel oder etwas mehr geschrumpft sein. Aber vor wenigen Jahren wurden diese Schätzungen vehement bestritten. In seiner fünfbändigen »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« hat der vormalige Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler diese Zahlen in Zweifel gezogen. »Keineswegs sank die Einwohnerzahl des Reiches von ca. 16 Mill[ionen] im Jahre 1620 auf ca. 10 Mill[ionen], wie man in der Literatur manchmal [!] liest«, schreibt Wehler. »Vielmehr schwankte sie vermutlich um 15 Mill[ionen] im Jahre 1600, zwischen 15 und 16 Mill[ionen] im Jahre 1650. Daß durchschnittlich 40 % der ländlichen und 30 % der städtischen Bevölkerung des Reichs umgekommen seien, ist eine übertreibende Behauptung, die aus der methodisch unzulässigen Verallgemeinerung von Greuelberichten hervorgegangen ist«, schreibt er weiter.13 Wehlers Äußerungen über das angebliche Sinken der deutschen Bevölkerung – »wie man es in der Literatur manchmal liest« – erwecken den Anschein, als sei der starke Bevölkerungsrückgang zwischen den Jahren 1618 und 1648 eine veraltete Hypothese, die heute längst widerlegt sei und nur noch gelegentlich von einer Min-

19

20

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

derheit deutscher Historiker vertreten werde. Dies ist nicht richtig: Die große Mehrzahl deutscher Historiker vertritt weiterhin die Auffassung von den sehr hohen Bevölkerungsverlusten, daher hat der verstorbene Münchner Historiker Thomas Nipperdey in einer Besprechung des ersten Bandes von Wehlers Sozialgeschichte Wehlers These mit Recht in Zweifel gezogen. »Wie viele Revisionisten schüttet er«, so schreibt Nipperdey über Wehler, »oft das Kind mit dem Bade aus. Über die Bevölkerungsverluste des 30jährigen Krieges z. B. kann man mit Fug anderer Meinung sein als Wehler im Anschluß an einige revisionistische Studien«.14 In der fernen Vergangenheit und noch im 19. Jahrhundert, das ist richtig, wurden die demographischen Verluste dieses Krieges gewaltig übertrieben. Der Schriftsteller Gustav Freytag hat in den 1860er-Jahren mit seinen »Bildern aus der deutschen Vergangenheit« beigetragen, diese Übertreibungen zu popularisieren, die seinerzeit freilich auch von Fachgelehrten wie Theodor Karl von Inama-Sternberg, Karl Biedermann und vielen anderen vertreten wurden. »Als der Krieg endete, war wenig von der deutschen Nation übrig«, schreibt Freytag. »Deutschland, welches den Frieden festlich begeht, hat drei Vierteile seiner Bevölkerung verloren.« Und an anderer Stelle fügt er noch hinzu, Nationalliberaler, der er war: »Durch diesen Krieg wurde Deutschland gegenüber den westlicheren Nachbarn, den Niederländern, den Engländern, um 200 Jahre zurückgeworfen.«15 »Drei Vierteile seiner Bevölkerung verloren«, das wurde zunächst einmal von vielen akzeptiert. Aber schon am Ende des 19.  Jahrhunderts begannen einzelne kritische Fachgelehrte, wie Bernhard Erdmannsdörffer, diese Verlustzahlen ernstlich in Zweifel zu ziehen.16 Der Historiker Robert Hoeniger, der 1881 mit einer Arbeit über den »Schwarzen Tod« in Deutschland promovierte, leitete mit seinem Aufsatz »Der dreißigjährige Krieg und die deutsche Kultur« eine vorsichtige Neubewertung der Bevölkerungsverluste ein.17 Hoeniger griff zunächst die Zweifel von Erdmannsdörffer auf und ging sodann auf die Fragen ein, die seinerzeit oft erörtert wurden und die Gemüter erhitzten: Ob dieses Deutschland des Jahres 1618 nicht schon im Niedergang begriffen gewesen sei und wie hoch wohl die Bevölkerungsverluste gewesen seien. Hoeniger

Ist Tod gleich Tod?

kam zu der Auffassung, der Niedergang der geistigen Kultur in Deutschland sei »schon vor dem Krieg […] hinlänglich erwiesen«,18 desgleichen auch der demographische Rückgang. Die Bevölkerungsverluste, die infolge des Krieges eintraten, schätzt er weitaus niedriger ein als Gustav Freytag. Er hielt die »allgemeinen Angaben« über riesengroße Bevölkerungsverluste  – »drei Vierteile«  – infolge des Krieges, wie sie seinerzeit kursierten, für »aus der Luft gegriffen«.19 Nun wusste Hoeniger, der als Historiker viel über Seuchen geforscht hatte, natürlich, dass nicht die Kämpfe oder die Grausamkeiten der Soldateska, sondern ansteckende Krankheiten – Epidemien – dem deutschen Volk diese Wunden geschlagen hatten. Nicht die Kriegshandlungen bewirkten das Sterben der vielen, »sondern es sind die schleichenden Mächte von Not, Hunger und Pest, die das Massensterben heraufführen«, schrieb er.20 »Und nach dieser Richtung eröffneten sich uns allerdings ergreifende Bilder menschlichen Jammers. Seuchenartige Krankheiten haben entsetzlich gehaust. Ungezählte Hunderttausende, deren Summierung sehr wahrscheinlich zu einer mehrfachen Millionenziffer steigt, sind durch sie fortgerafft worden. Genaue Berechnungen fehlen. Hier bliebt exakter historisch-statistischer Forschung noch unendlich viel zu tun übrig.«21 Hoeniger war sich der vielen Probleme der demographischen Geschichtsschreibung  – wie Bevölkerungsverschiebungen, Fluchtbewegungen, zeitweilige Abwanderung, die Fragen nach den Grenzen des behandelten Raumes usw. – sehr wohl bewusst. Er verglich die Verluste dieses langen Krieges mit denen des »Schwarzen Todes« in der Mitte des 14. Jahrhunderts und legte dar, dass »die Abstriche« nach 1648 »nicht so schnell beglichen« worden seien wie jene des 14.  Jahrhunderts.22 Die Bevölkerungsverluste infolge des »Schwarzen Todes« werden heute meist mit einem Drittel oder noch mehr beziffert,23 und es dauerte wohl annähernd zweihundert Jahre, bis sie wieder behoben waren, wobei man auch erwähnen muss, dass im Verlauf des 15. Jahrhunderts mehrere Seuchenzüge Europa heimsuchten und der Tiefpunkt der demographischen Entwicklung erst im 15.  Jahrhundert erreicht war.24 Versuchsweise nannte Hoeniger Zahlen. Er schätzte die Bevölkerung des Heiligen

21

22

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Römischen Reiches Deutscher Nation – also des Alten Reiches, das 1806 unterging – zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf 18 bis 20 Millionen vor dem Krieg; Kriegsverluste von vier Millionen hielt er für »hoch gegriffen«, wenngleich nicht für unmöglich.25 Hoeniger regte in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1909 historischstatistische Detailstudien an, sie wurden für einzelne Regionen in den folgenden Jahrzehnten vorgenommen. Sie kamen im Großen und Ganzen noch immer zu der Auffassung, die Folgen dieses Krieges seien für die deutsche Bevölkerung schrecklich gewesen. Aber die Schätzungen bezüglich der Verluste waren nun weitaus niedriger als die von Gustav Freytag. In vielen dieser Untersuchungen ging es, wie auch bei Hoeniger, nicht zuletzt um die Frage, ob der Niedergang Deutschlands schon vor dem Jahr 1618 eingesetzt habe. Der amerikanische Historiker Theodore K. Rabb hat die Ergebnisse von 34 solcher Studien in einem Aufsatz zusammengefasst, die Mehrzahl dieser Studien (24 von 34) kamen seiner Ansicht nach diesbezüglich zu einer gegenteiligen Auffassung.26 Eine weitere Reihe von örtlichen Untersuchungen, die in den 1920er- und 1930er-Jahren in den »Monographien Deutscher Städte« veröffentlicht wurden, unterstützte gleichfalls diese Hypothese.27 Im Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, 1938, veröffentlichte die englische Historikerin C. Veronica Wedgwood ein Buch über den Dreißigjährigen Krieg, das seit Langem auch in deutscher Übersetzung vorliegt und zu einem Bestseller wurde. Sie schätzte die Einwohnerzahl des Deutschen Reiches unter Einschluss des Elsass (jedoch ohne die Niederlande und Böhmen) für das Jahr 1618 auf »wahrscheinlich 21 Millionen« und für das Jahr 1648 auf »eher weniger als 13 ½ Millionen«.28 Aufbauend auf regionalen und lokalen Studien dieser Art erschien im Jahr 1943 die umfassendste und detaillierteste Studie zu diesem Thema, »Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk« von dem Agrarhistoriker Günther Franz, die 1979 in 4. Auflage vorlag. Günther Franz kam nach umfangreichen Vorstudien zu der Überzeugung, dass die Verluste von Region zu Region höchst unterschiedlich waren und sich, auf das ganze Reich bezogen, auf 33 Prozent der städtischen und 40 Prozent der ländlichen Bevölkerung beliefen. Da die deutsche Bevölkerung im 17.  Jahrhundert in großer

Ist Tod gleich Tod?

Mehrheit auf dem Land lebte, muss man annehmen, dass die Bevölkerungsverluste insgesamt eher über 36 Prozent lagen. Als Günther Franz diese Arbeit vorlegte, regierten in Deutschland die Nationalsozialisten, die sich gern mit Fragen der Volksgesundheit und mit Seuchen beschäftigten und wohl auch die deutschen Bevölkerungsverluste infolge dieses langen Krieges gern hochspielten, die Deutschland in der Vergangenheit durch seine Nachbarn erlitten hatte. Aber dies kann nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Ergebnisse von Franz absichtlich verzerrt oder aus anderen Gründen ungenau sind. Im Gegenteil, Franz’ Ergebnisse gelten seit langer Zeit als »allgemein anerkannt«.29 Franz rekapitulierte zunächst die Auffassungen einer älteren Historiographie und lobte Erdmannsdörffer dafür, dass er die Sichtweise ins Lot gebracht hatte. Sodann räumte er ein, dass man von diesem vorstatistischen Zeitalter, dem 17. Jahrhundert, keine exakten Zahlen erwarten dürfe. »Ein Rückschluß auf die tatsächliche Einwohnerzahl wird immer nur bedingt möglich sein und nicht zu absolut genauen Angaben führen«, schreibt er. »Aufschlußreicher als die Angaben über die tatsächliche Bevölkerungszahl [seien] die Mitteilungen über die wüsten Höfe, obgleich auch hier nicht selten, um Steuererleichterungen zu erreichen, die Schäden größer angegeben wurden, als sie wirklich waren.«30 Günther Franz war sich im Klaren, dass die »unmittelbaren Kriegsverluste verhältnismäßig gering gewesen« seien. Älteren Schätzungen zufolge wurden im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges 325 000 bis 338 000 Menschen mit Waffen getötet oder starben infolge von Verletzungen. Eine Überprüfung dieser Zahlen hielt Franz nicht für möglich.31 Wichtiger erschien ihm die Zahl der an Seuchen Verstorbenen, die er für wesentlich größer hielt. Namentlich »die Pest« sei die »Hauptursache« des Bevölkerungsverlustes gewesen, schreibt er, aber sie habe sich »so verhängnisvoll nur infolge des Krieges und nur in den Gebieten, die Kriegsschauplatz waren«, auswirken können. Es sei daher »schlechterdings unmöglich, die Pesttoten nicht zu den Kriegsfolgen zu rechnen«32. Diesbezüglich ist Franz voll und ganz zuzustimmen: Die Seuchentoten sind Teil  der Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges. In allen Kriegen des Mittelalters und der Neuzeit, bis über die Mitte des

23

24

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

19.  Jahrhunderts hinaus, kamen mehr Menschen  – Soldaten nicht ausgenommen – infolge von Krankheiten als infolge von Verletzungen durch Waffen ums Leben, das ist bekannt. Franz bemerkte bei seinen Studien auch, dass die einzelnen Regionen des Deutschen Reiches unterschiedlich stark in Mitleidenschaft gezogen waren, ja sein größtes Verdienst liegt in diesem Zusammenhang wohl überhaupt darin, dass er die Verluste in regionaler Differenzierung aufbereitet hat. Die Schonungsgebiete seien vor allem im Nordwesten des alten Reiches gelegen, die Verlustgebiete in der Mark Brandenburg, in Mecklenburg, Pommern und Schlesien, im Erzstift Magdeburg, Thüringen und Hessen, Franken, Bayern und Württemberg, in der Pfalz, im Elsass und im Kurfürstentum Trier. Für alle diese Landschaften stünden Zahlen zur Verfügung, die einen Einblick in die Bevölkerungsentwicklung geben.33 In seiner Zusammenfassung für das Alte Reich kommt Günther Franz zu dem Ergebnis, »daß in diesen 30 Notjahren etwa 40 % der ländlichen Bevölkerung dem Krieg und den Seuchen zum Opfer gefallen sind. In den Städten mag der Verlust nur auf 33 % geschätzt werden.«34 Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 1947, veröffentlichte ein amerikanischer Historiker, ein deutscher Emigrant, Sigfrid H. Steinberg, angeregt vielleicht durch diese neuerliche deutsche Katastrophe, einen wenig beachteten Aufsatz mit dem Titel »The Thirty Years’ War: A New Interpretation«.35 Ebenso wenig Beachtung fand einige Jahre später ein kleines Buch von Robert Ergang, »The Myth of the All-Destructive Fury of the Thirty Years’ War«, das in einem wenig bekannten Verlag in einem kleinen Ort in den USA erschien.36 Es war dieser Robert Ergang, der die Zahl der im Krieg getöteten deutschen Soldaten mit 325 000 bezifferte. Ergang sah die größten Verluste an Menschenleben nicht in den Kampfhandlungen, sondern in der »Folge von Epidemien – epidemischen Dysenterien, Fleckfieber und Bubonenpest. Die Tatsache wird oft übersehen«, schreibt er weiter, »daß es Epidemien vor und nach dem Krieg gab«.37 Die hohe Sterblichkeit während dieser Kriegsjahre betrachtet er also nicht als Teil des kriegerischen Geschehens, demgemäß weigerte er sich, diese Seuchentoten als Kriegstote zu verstehen. Aber es geht hier gar nicht um die Frage, wer zu den Kriegstoten zu rechnen ist

Ist Tod gleich Tod?

Die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges, zum größten Teil infolge von Heeresdurchzügen und Seuchen, waren in Zentraleuropa von Region zu Region sehr unterschiedlich.

und wie hoch diese Zahlen waren – es geht hier einzig und allein darum, wie hoch die deutsche Bevölkerung zu Beginn und am Ende des Dreißigjährigen Krieges gewesen ist. Es ist sicherlich richtig und seit Langem bekannt, dass die wenigsten an der Gewalt der Waffen zugrunde gingen; aber das ist nicht die Frage. Es geht um die demographische Entwicklung  – man könnte auch sagen: das Schrumpfen – der deutschen Bevölkerung in diesen dreißig Jahren.38 Wiederum einige Jahre später legte der bereits erwähnte Historiker Steinberg eine kleine Monographie vor, die auch ins Deutsche

25

26

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

übertragen wurde. Darin argumentiert er ähnlich wie Ergang. Steinberg erinnert an »die Dehnbarkeit des Begriffs ›Deutschland‹« und nennt für das Jahr 1600 eine Bevölkerungszahl von 15 bis 17 Millionen und von 16 bis 18 Millionen für 1650.39 Demnach wäre also die Bevölkerung des Alten Reiches in diesen fünfzig Jahren, davon dreißig Jahre Krieg, allenfalls geringfügig geschrumpft, also vielleicht von 17 auf 16 Millionen, eher aber sogar leicht angestiegen. Steinberg bezieht die Verluste jedoch ausschließlich auf die Soldaten und folgert, dass angesichts der geringen Größe der Armeen die Verluste auf dem Schlachtfeld nur gering gewesen sein konnten, sie waren insbesondere durch die gefürchteten Seuchen, zur Hauptsache »Typhus«, Pest und Geschlechtskrankheiten verursacht. In den geschädigten Städten sei die Sterblichkeitsziffer, schreibt er weiter, »niemals über 12 v. H.« hinausgegangen, ja sie habe sich »im Durchschnitt auf 6–8 v. H. belaufen«.40 Wehler schließt sich in vollem Umfang der Argumentation Steinbergs an, ja Steinberg ist eigentlich sein einziger Gewährsmann. In einer Anmerkung zu seinen oben zitierten Behauptungen erwähnt Wehler zwar die »nüchterne Kritik an den seit langem mitgeschleppten Stereotypen« – damit meint er die Verluste von rund einem Drittel  – und nennt S. H. Steinberg, T. K. Rabb, G. Benecke, G. Livet, H. Kamen, G. Schormann und H. Haan als die Fachleute, deren Angaben er vertraut. Erstaunlicherweise teilen die genannten Autoren, Steinberg ausgenommen, Wehlers revisionistischen Standpunkt keineswegs; ganz im Gegenteil, die meisten von ihnen wiederholen ausdrücklich die Zahlen von Günther Franz, oder sie äußern sich (wie H. Haan) nicht ausdrücklich zu den Bevölkerungsverlusten.41 Der Eindruck, den Wehler zu fördern versucht, dass die Zahlen von Franz veraltet und längst widerlegt seien, ist völlig unzutreffend. Die Angaben von Franz wurden in den letzten Jahren lediglich vereinzelt mit Blick auf einzelne Landesteile in Zweifel gezogen,42 nicht jedoch im Hinblick auf die Verlustziffern für das Alte Reich insgesamt. Die überwältigende Mehrzahl deutscher und nicht-deutscher Historiker, die sich ernsthaft mit dem Dreißigjährigen Krieg beschäftigt haben – auch und gerade in den allgemeineren Darstellungen und den Geschichtsatlanten – haben die Zahlen von G. Franz wiederholt oder sie in etwas allgemeinerer Form

Ist Tod gleich Tod?

wiedergegeben: Friedrich Lütge (1960), Georges Livet (1963), Henry Kamen (1968), Josef Kulischer (1971), Wilhelm Abel (1974), Roger Mols (1974), Friedrich-Wilhelm Henning (1974), Walter Zeeden (1975), Hermann Kellenbenz (1977), Rudolf Vierhaus (1978), Andreas Kraus (1983) – um nur einige bekannte zu nennen, sie alle nehmen an, dass Deutschland in diesen dreißig Jahren etwa ein Drittel seiner Bewohner verloren hat.43 Es kommt noch dazu, dass die Zahlen, die Wehler über Natalität und Mortalität während dieses langen Krieges vorlegt, in sich nicht schlüssig sind. Wenn man mit diesen von Wehler genannten Zahlen die Mortalität und Natalität zueinander in Beziehung setzt, kommt man zu anderen Ergebnissen: Wehler übernimmt zwar die von Steinberg genannte Sterbeziffer für die Kriegsjahre – Steinberg schreibt von einer durchschnittlichen Sterbeziffer von sechs bis sieben oder acht Prozent, Wehler setzt sie »im Durchschnitt auf 6–8  v. H.«  –, doch ist alleine diese Sterbeziffer, also 60 bis 80 Promille, so hoch, dass man sich fragen muss, wie die deutsche Bevölkerung angesichts einer so hohen Sterblichkeit in einer so schweren Zeit – mit harten, langen, schneereichen Wintern, die von einer Agrarkrise überschattet war – überhaupt wachsen konnte. Wehler kontert diese Bedenken mit dem Hinweis, dass auch die Geburtenziffer »nicht selten erstaunlich hoch« gewesen sei.44 Was wäre eine »erstaunlich hohe« Geburtenziffer für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts, für eine Zeit des Krieges, einer schlechten Witterung und der allgemeinen Not? Eine erstaunlich hohe Geburtenziffer könnte sich in diesem Zeitraum zum Beispiel auf 35 bis 40 Promille belaufen, kaum darüber. Setzt man die Bevölkerung Deutschlands45 zu Beginn des Krieges 1618 mit 16 Millionen an, wie Wehler das macht, und erlaubt für die folgenden dreißig Jahre eine Geburtenziffer von 40 und eine Sterbeziffer von 40 bis 60 Promille – oder einfacher: von durchschnittlich 50 Promille –, so reduziert sich diese Bevölkerung bis zum Jahr 1648 auf 11,8 Millionen. Setzt man die Geburtenziffer auf 35 (oder 40 Promille) und die Sterbeziffer auf 50 (oder 55) Promille, so reduziert sich diese Bevölkerung gar von 16 auf 10,2 Millionen. Schon hier zeigt sich, dass Wehlers Zahlen in sich nicht stimmig sind. Wehlers Angaben zufolge wuchs die deutsche Bevölkerung zwischen den Jahren 1600 und 1650 etwa ebenso schnell wie zwischen

27

28

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

1650 und 1700, nämlich von ca. 15 Millionen anno 1600 auf 15 bis 16 Millionen anno 1650 und weiter auf rund 16 Millionen im Jahr 1700. Für das Jahr 1800 schätzt Wehler die Bevölkerung »Deutschlands« auf 23 bis 24 Millionen. Aber für die acht Jahrzehnte vor 1800 nennt er sodann Wachstumsraten, die seine Angaben für das 17.  Jahrhundert ab absurdum führen: Die dritte Welle der europäischen Bevölkerungsexpansion, schreibt er, »hatte auch in den deutschen Staaten in den sechs bis acht Jahrzehnten vor 1800 schon zu einer gewaltigen Vermehrung um 80 bis 100 % geführt.46 Wenn die Bevölkerung »Deutschlands«, so muss man nun folgern, im Jahr 1700 »rd. 16 Mill[ionen]« zählte und sie sodann zwischen 1720 (bzw. 1740) und 1800 um rund 80 bis 100 Prozent zunahm, wie Wehler weiter behauptet, so muss man doch für das Jahr 1800 eine Bevölkerung von 28,8 bis 32 Millionen erwarten – es sei denn, eine schwere Seuche oder ein langer Krieg zwischen den Jahren 1700 und 1720 (bzw. 1740) hätte die 16 Millionen des Jahres 1700 wieder stark vermindert oder aber der Bezugsrahmen ›Deutschland‹ wurde stillschweigend geändert. Aber welche demographische Katastrophe soll das am Beginn des 18. Jahrhunderts gewesen sein? Wehler sagt es nicht, wohl aber behauptet er, im Jahr 1800 habe die deutsche Bevölkerung zwischen 23 und 24 Millionen betragen.47 Wehlers Angaben werden noch anfechtbarer, wenn man sie mit einigen Grundtatsachen der Frühen Neuzeit in Beziehung setzt. Im demographischen System des Ancien Régime gab es drei Arten von Übersterblichkeit: bedingt durch Seuchen, bedingt durch Krieg, bedingt durch Nahrungsmittelknappheit infolge einer schlechten Ernte.48 Im Dreißigjährigen Krieg aber kamen diese drei Faktoren zusammen, und zwar für den Zeitraum von dreißig Jahren, und sie verstärkten sich gegenseitig. Dreißig Jahre Hunger, Seuchen und Krieg – wie soll da eine Bevölkerung wachsen? Schon vor 1618 waren die Durchschnittstemperaturen niedrig und die landwirtschaftlichen Erträge gering. Die schlechten Ernten setzten sich nach 1620 fort: »eine Reihe katastrophaler Ernten« suchte Deutschland heim.49 Die Winter waren kalt, die Temperaturen lagen während des langen Krieges »immerhin um 1,4 Grad C unter den heutigen«.50 Zu den weit verbreiteten Hungersnöten gesellten sich Epidemien. Bereits nach der Schlacht am Weißen Berg,

Ist Tod gleich Tod?

als die Truppen des Winterkönigs durch Süddeutschland nach Westen marschierten, zogen sie durch die Verbreitung von Fleckfieber unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung ein Leichentuch hinter sich her.51 Fleckfieber ist eine von Kleiderläusen übertragene Infektionskrankheit, die vor allem in der kalten Jahreszeit auftritt, wenn Menschen viel Kleidung tragen; sie endet bei älteren Personen nicht selten tödlich. Seit 1630 wüteten vor allem Pest und Fleckfieber. »Niemals zuvor sind so viele Orte und so oft von der Seuche ergriffen worden.«52 »Im Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Soldaten große Teile des heutigen Deutschland und dezimierten seine Bevölkerung um ungefähr ein Drittel«, schreibt der amerikanische Soziologe Steven Pisker. Er stützt sich dabei auf einen Forscher namens R. J. Rummel, der die Zahl der »Todesopfer« mit 5 750 000 beziffert.53 Bis gegen Ende des 19.  Jahrhunderts war die Sterblichkeit in großen deutschen Städten höher als die Geburtenrate. Diese Städte lebten von der menschlichen Substanz des Umlandes; es war der Zuzug von außen, der sie erhielt. Während des Dreißigjährigen Krieges versechs- bis verachtfachte sich die Sterblichkeit zeitweise in einzelnen großen Städten des Reiches – wie Leipzig, Dresden, Breslau, Augsburg, Frankfurt am Main.54 Modernen Berechnungen zufolge lag die Sterblichkeit in Frankfurt am Main in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei durchschnittlich 51 Promille, in der ersten Hälfte des 17.  Jahrhunderts bei 68 Promille.55 Augsburg, über dessen Bevölkerung die Historiographie gut Bescheid weiß, erlebte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Stadt ca. 56 000 Einwohner hatte, acht schwere Seuchenjahre und büßte dabei mehr als 38 000 Einwohner ein.56 Über die Reichsstadt Nürnberg schreibt Steinberg, sie habe den Krieg »unversehrt« überstanden. Wehler folgt ihm darin. »An der Wende zum 19.  Jahrhundert«, so behauptet Wehler, seien »Nürnberg und Augsburg [Städte] mit 45 000 bis 60 000 Bewohnern« gewesen.57 Tatsächlich hatte jede dieser beiden Städte nur etwa halb so viele Einwohner. Wehler überschätzt ihre Regenerationsfähigkeit nach 1648, wie er den Bevölkerungsschwund dieser Städte vor 1648 unterschätzt.58 In den zehn Jahren vor 1618  – keine besonders guten Jahre für Nürnberg – wurden in dieser Stadt jährlich im Durchschnitt 1600 bis 1700 Kinder geboren.59 Diese Zahl wurde

29

30

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

nach dem Dreißigjährigen Krieg erst rund zweihundert Jahre nach dem Ende dieses Krieges, also im Jahr 1850, wieder erreicht.60 Noch verheerender waren die Verluste in Nördlingen. Der Seuchenzug des Jahres 1634 hatte diese kleine Stadt schon in der ersten Jahreshälfte 1634 schwer heimgesucht. In der zweiten Jahreshälfte fand hier eine große Schlacht statt, und erneut kam mit ihr eine Seuche. Vor 1629 starben in Nördlingen jährlich zwischen 200 und 350 Personen, zwischen 1629 und 1633 zählte man 500 bis 600 Verstorbene pro Jahr, danach sprang diese Zahl hoch auf 1800. Im Jahr 1600 lebten in Nördlingen 8790 Personen, einige Jahre nach diesem Krieg (1652) waren es gerade halb soviel. Der Bevölkerungsstand von 1618 wurde erst im 20. Jahrhundert wieder erreicht.61 Gerade mit Blick auf Bayern erscheinen Steinbergs und später Wehlers Behauptungen vollkommen unbegreiflich. Deren Zahlen wurden in der deutschen Geschichtsschreibung teils ignoriert, teils zurückgewiesen, am heftigsten wohl von dem bayerischen Historiker Andreas Kraus. Schon einige Jahre vor dem Erscheinen von Wehlers Gesellschaftsgeschichte hat Andreas Kraus die Behauptungen Steinbergs einer vernichtenden Kritik unterzogen. »Die Feststellung Steinbergs, daß alle Angaben über die grauenvollen Bevölkerungsverluste Deutschlands in diesem Krieg reine Propaganda seien, ignoriert alles, was wir an Quellen kennen«, schreibt Kraus. »Daß er dabei auch behauptet, Niederbayern sei vom Krieg überhaupt kaum betroffen, zeigt am besten, wie wenig kompetent er ist.« Andreas Kraus stützt sich dabei vor allem auf die indirekten Folgen von Bevölkerungsschwund, nämlich auf den Preisverfall der Höfe nach 1648. »Nach dem Krieg fielen die Preise für landwirtschaftliche Güter auf ein Drittel bis ein Viertel des Vorkriegswerts; ein Bauernhof war für 20–50 Gulden zu kaufen, das spricht für ein horrendes Überangebot an leerstehenden Höfen. Daß sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im allgemeinen bereits vor dem Krieg zusehends verschlechterten, ist überhaupt kein Gegenbeweis.«62 Die Preise für Höfe gingen zurück, obwohl viele Höfe zerstört waren. Kraus räumt ein, dass »exakte Angaben über die Höhe der Bevölkerungsverluste […] nicht möglich sind«, und fährt fort, auf Bayern bezogen: »Schätzungen reichen bis zu 50 %.«63 Diese Zahl nennt auch der bayerische Agrarhistoriker Dietmar Stutzer.64 Ihm zufolge

Ist Tod gleich Tod?

lagen in Bayern nach dem Krieg »etwa 900 Städte, Marktorte, Dörfer und Flecken verwüstet und niedergebrannt«.65 Ähnlich hoch lauten die Schätzungen für Franken66 und Schwaben.67 Die mittelbaren Folgen im Anschluss des Dreißigjährigen Krieges, an dessen Ende »mehr als ein Drittel der ehemaligen landwirtschaftlichen Fläche nicht mehr im Kulturzustand war«, weisen eindeutig darauf hin, dass die Bevölkerungsverluste hoch waren.68 Trotz weiträumiger Wüstungen und niedrigerer Hektarerträge war die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten in der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts so gering, dass die Preise zurückgingen: Vom zweiten zum dritten Viertel sanken die Preise für Nahrungsmittel; zwischen dem zweiten Viertel des 17. und dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts sanken sie – in Silber berechnet – immerhin um ein Drittel.69 Auch außerhalb Deutschlands, in Regionen, die der Dreißigjährige Krieg nicht berührt hatte, ging die Bevölkerung in dieser Zeit zurück: In Frankreich erreichte die Zahl der von der Pest berührten Orte gegen 1630 einen Höhepunkt,70 und auch Italien erlebte in den 1630er-Jahren eine Reihe von Pestausbrüchen.71 Dass die Bevölkerungsverluste während des Dreißigjährigen Krieges auch in Deutschland sehr viel weniger dem Kampfgeschehen, sondern in erster Linie den Seuchen und Hungersnöten und ihren Folgen – Geburtenausfall nicht zuletzt infolge von Hungeramenorrhoe – zuzuschreiben sind, steht außer Zweifel.72 Seit der Veröffentlichung der ersten beiden Bände von Wehlers »Deutscher Gesellschaftsgeschichte« (1987) sind einige Jahre verstrichen, und es sind seither neue Monographien über den Dreißigjährigen Krieg erschienen. Die meisten von ihnen haben Wehlers Behauptungen einfach ignoriert. Zwei ausführliche, von Bernd Roeck verfasste Studien über die Stadt Augsburg während des Dreißigjährigen Krieges bestätigen die hohen Verluste dieser Stadt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts infolge von Krieg, Pest und Hunger. Augsburg war am Ende des Dreißigjährigen Krieges »trotz der Erholungspause zwischen 1635 und 1645 eine der am schwersten betroffenen Städte des Reiches«. Noch im Jahr 1678 lebten wenig mehr als ein Drittel der Einwohner von 1618 innerhalb ihrer Mauern.73 Unter der Herausgeberschaft von Hans-Ulrich Wehler entstanden in den folgenden Jahren in der »Neuen historischen Bibliothek«

31

32

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

einige Monographien, von denen eine auf den Zeitraum nach 1648 eingeht. Veranlasst möglicherweise von den Behauptungen Wehlers hat Christof Dipper eine übersichtliche Tabelle erstellt, in der er – für die Jahre 1600, 1650, 1700, 1750 und 1800 – die wichtigsten Autoren mit ihren Bevölkerungsangaben wiedergibt. Am plausibelsten erscheinen ihm selbst die Zahlen von Hermann Kellenbenz, also demographische Verluste von etwa einem Drittel, die auszugleichen »ungefähr drei Generationen gedauert hat«.74 Diese Tabelle mit den Bevölkerungsverlusten des Dreißigjährigen Krieges wurde auch von Volker Press wiedergegeben. Press hält den demographischen Aderlass infolge des Krieges »an Menschen, Tieren und Sachwerten« für »beträchtlich« und vermutet, dass der Bevölkerungsstand von 1618 erst hundert Jahre nach Kriegsende, um 1750, wieder erreicht war.75 Eine neue Studie über den Dreißigjährigen Krieg von Johannes Burkhardt, die gleichfalls in der von Wehler herausgegebenen Reihe erschienenen ist, macht keine Angaben über die Bevölkerungsverluste; der Verfasser glaubt jedoch, schreibt er: »Als runde Zahl kann jedoch festgehalten werden, daß der deutsche Vorkriegsstand von etwa 16 Millionen nach den pessimistischsten Schätzungen bis auf elf Millionen absank – in den Städten auf etwa zwei Drittel, auf dem Lande noch stärker – und erst um 1700 wieder erreicht war.«76 An anderer Stelle schreibt Burkhardt über die Bevölkerungsverluste: Es »bestätigt sich die von Günter [!] Franz entdeckte Zerstörungsdiagonale quer über Deutschland; und wenn etwas zu korrigieren ist, dann zum Schlechteren«.77 Und der Sozialhistoriker Wolfgang Behringer, der sich viel mit der Geschichte des Klimas beschäftigt hat, schreibt: »Die neueren Übersichten zur Bevölkerungsentwicklung im 17. Jahrhundert oder zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges neigen dazu, Franz in seiner Quantifizierung zu bestätigen.«78 Das Bevölkerungswachstum in Europa nach 1648 Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wurde auch in anderen Teilen Europas heftig gekämpft, als Folge davon schrumpfte auch dort die Bevölkerung; aber das ändert nichts an dem Bevölkerungsrückgang im Alten Reich. Das frühe 17.  Jahrhundert gehörte noch zur »kleinen

Ist Tod gleich Tod?

Eiszeit«, eine Epoche mit vielen kalten Jahren, in denen die Bevölkerung Alt-Europas kaum wuchs. Krieg regierte nicht nur in Zentraleuropa, sondern auch in anderen Teilen, namentlich in Frankreich und England. Welches Wachstum zeigte die europäische Bevölkerung in der Frühen Neuzeit? Der schweizerische Sozialhistoriker Alfred Perrenout nennt für die Zeit von 1340 bis 1700 ein jährliches Wachstum der europäischen Bevölkerung von 0,7 Promille, behindert vor allem durch Epidemien, wie er schreibt. Im 18.  Jahrhundert lag das jährliche Wachstum seines Erachtens bei etwa 0,3 Prozent in der ersten Hälfte und um die 0,5 Prozent in der zweiten. Er macht Nahrungsmangel verantwortlich für die hohe Sterblichkeit und das geringe Wachstum.79 Andere Historiker vertreten andere Auffassungen: Ihnen zufolge wuchs die Bevölkerung Europas im 18. Jahrhundert ziemlich schnell, sie soll sich in diesem Zeitraum sogar verdoppelt haben.80 Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es in Mitteleuropa zu einem deutlichen Bevölkerungsanstieg.81 Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte häuften sich die Notzeiten wieder, und dies wohl nicht zuletzt deswegen, weil die Bevölkerung immer größer wurde und folglich immer mehr Nahrung verzehrte, während die landwirtschaftlichen Erträge längst nicht im gleichen Maße mithalten konnten. Die Bevölkerung Deutschlands soll um das Jahr 1700 wohl etwas kleiner gewesen sein als hundert Jahre früher; aber im Jahr 1800 um mehr als die Hälfte größer als 1700. »Nach gängiger Ansicht belief sich der gesamteuropäische Bevölkerungszuwachs zwischen 1750 und 1800 auf ca. 34 Prozent, von knapp 140 Millionen auf etwa 187 Millionen Menschen«, schreibt der bayerische Historiker Manfred Rauh, der auch für »die Bevölkerung ganz Bayerns in den späteren Jahrzehnten des 18.  Jahrhunderts einen nennenswerten Aufschwung zu verzeichnen hatte«, obwohl er für die drei Jahrzehnte nach 1770 eine Schrumpfung konstatiert.82 In den hundert Jahren nach den Westfälischen Friedensschlüssen nahm die vom Krieg dezimierte Bevölkerung im Heiligen Römischen Reich wieder zu, sie war zur Jahrhundertmitte (also um 1750)83 wohl schon etwas größer als vor dem Dreißigjährigen Krieg. In Deutschland war die Bevölkerung während des Dreißigjährigen

33

34

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Kriegs (1618–1648) von 16 auf 10 oder 11 Millionen gefallen; bis zum Jahr 1700 oder etwas später war etwa der Stand von 1600 wieder erreicht, vielleicht sogar der von 1618. Im Jahr 1740, zu Beginn des ersten Schlesischen Krieges, könnte die Gesamteinwohnerschaft Deutschlands mit 17 oder 18 Millionen Menschen vielleicht schon um ein, zwei Millionen höher gewesen sein als 1618, danach setzte sich dieses Wachstum fort.84 Der deutsche Wirtschaftshistoriker Karl Heinrich Kaufhold schätzt die deutsche Bevölkerung um 1750 auf ca. 17 Millionen.85 Der Berner Klima- und Sozialhistoriker Christian Pfister schreibt, »der gesamtdeutsche Bevölkerungsstand von 1620 sei erst wieder um 1750 erreicht worden«.86 Das würde bedeuten, dass um 1750 die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges wieder ausgeglichen waren und das Alte Reich fortan mehr Einwohner zählte als zu Beginn dieses Krieges. Die deutsche Gesamtbevölkerung erreichte vielleicht »zwischen 1720 und 1750 mit 15 bis 17 Millionen wieder den Stand vom Beginn des 17. Jahrhunderts«.87 Um 1800 stand sie dann wohl etwa bei 20 Millionen. In den letzten Jahren, seit Wehlers Veröffentlichung (1987), haben einige Historiker andere, nämlich deutlich niedrigere Verlustzahlen genannt, und diese fanden sogar Eingang in die 10. Auflage von »Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte«. Erstaunlicherweise setzt der englische Militärhistoriker Geoffrey Parker den Anteil der Bevölkerungsverluste deutlich herab, Parker nennt eine Verlustrate von 15 bis 20 Prozent, ohne eine weitere Begründung dafür zu geben.88 Allerdings nennt er für das Alte Reich vor Ausbruch dieses langen Krieges auch andere Bevölkerungsgrößen, er wird also einen anderen Bezugsrahmen gewählt haben. In seiner kleinen Monographie über den Dreißigjährigen Krieg aus dem Jahr 1985 stellt sich der emeritierte deutsche Historiker Gerhard Schormann noch voll und ganz hinter die Verlustraten von Günther Franz.89 In seiner Darstellung für den »Gebhardt« hingegen setzt er die Aussagen von Franz neben die von Parker, ohne dies mit einem Verweis auf nur einen Autor, nämlich G. Parker, zu begründen. Schormann schreibt über die Bevölkerungsverluste, wobei er in dem hier zitierten ersten Satz offenbar Günther Franz folgt: »Bei regional ganz unterschiedlicher Verteilung werden sie auf 40 % der länd-

Ist Tod gleich Tod?

lichen und 33 % der städtischen Bevölkerung angesetzt.«90 Dann fährt Schormann fort: »Die jüngste Schätzung für die Gesamtbevölkerung geht von etwa 20 Millionen [bei Kriegsbeginn anno 1618] aus und von 16 bis 17 Millionen bei Kriegsende, was einem Verlust von 15 bis 20 % entspricht. Die verschiedenen, zumeist alle als ›Pest‹ bezeichneten Seuchen haben die mit Abstand größte Zahl an Todesopfern gefordert. Dieser Tatbestand ist aber eine Auswirkung des Krieges.«91 Dies ist irritierend, weil Günther Franz zunächst, und später auch Hans-Ulrich Wehler, die Bevölkerungszahl ihrer Bezugsgröße, also des Alten Reiches, auf 15 bis 16 Millionen bei Kriegsbeginn festgelegt hatten und Franz seine Verlusteinschätzung – von insgesamt etwas mehr als einem Drittel insgesamt  – auf diese Bezugsgröße bezog. Eine Erklärung, warum er einerseits Verluste von »40 % der ländlichen und 33 % der städtischen Bevölkerung« erlaubt, dann aber die Verluste sehr viel niedriger beziffert, nur etwa halb so hoch, gibt Schormann nicht. Der Leser gewinnt hier den Eindruck, Gerhard Schormann lasse beide Verlustanteile – nämlich 33 bis 40 Prozent neben 15 bis 20 Prozent – nebeneinander bestehen. Es ist derzeit offenbar nicht möglich, die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges für das Alte Reich annähernd genau anzugeben. Man kann die Ergebnisse von Günther Franz möglicherweise in der einen oder anderen Region in Frage stellen; aber man kann sie nicht pauschal als »übertreibende Behauptungen« abtun. Man wird sich im Hinblick auf dieses vorstatistische Zeitalter am besten einer vorsichten Ausdrucksweise bedienen, wie Wilhelm Abel das getan hat, als er schrieb: »Vielleicht greift man nicht allzu weit fehl, wenn die Bevölkerung Deutschlands für die Jahre vor und nach dem großen Krieg […] wie folgt geschätzt wird: 1620 etwa 16 Millionen, 1650 etwa 10 Millionen«.92

1 2 3

Siehe zu den territorialen Verfügungen des Westfälischen Friedens Putzger. Historischer Weltatlas, Berlin 1032001, S. 98 f.: Mitteleuropa nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648. Peter Englund, Die Verwüstung Deutschlands. Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 31998, S. 201. Hermann Graml, Europas Weg in den Krieg. Hitler und die Mächte, München 1990, S. 67 f.

35

36

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 4 Henry A. Kissinger, Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik, Berlin 1994, S. 57. 5 Ebd., S. 59. 6 Ebd., S. 63. 7 Ebd., S. 57. 8 Heinrich August Winkler, Der weite Weg nach Westen, Bd.  1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reichs bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 22. 9 Georg Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, München 1995, S. 87, 93. 10 Ebd., S. 87. 11 Jacob Grimm, Selbstbiographie, Ndr. München 1987, S. 7. 12 Friedrich Schiller, Geschichte des Abfalls der Niederlande von der spanischen Regierung (Sämtliche Werke IV), München o. J., S. 39. 13 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära, 1700–1815, München 1987, S. 54. 14 Thomas Nipperdey, Rezension: Wehlers Gesellschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 14/1 (1988), S. 403–415, hier S. 406. 15 Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd.  2, o. O. o. J., S. 530. 16 Bernhard Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen, Bd.  1, Berlin 1892, S. 102 f. Vgl. Wolfgang Zorn, Gewerbe und Handel 1648–1800, in: HDWSG, Bd. 1, hg. von Hermann Aubin und Wolfgang Zorn, Stuttgart 1971, S. 531. 17 Robert Hoeniger, Der dreißigjährige Krieg und die deutsche Kultur, in: Preußische Jahrbücher 138 (1909), S. 420. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 426. 20 Ebd., S. 427 f. 21 Ebd., S. 429. 22 Ebd. 23 Ich halte diese Einschätzung für zu hoch, falls sie sich auf das Deutsche Reich bezieht. Siehe dazu Manfred Vasold, Die Ausbreitung des Schwarzen Todes in Deutschland nach 1348. Zugleich ein Beitrag zur deutschen Bevölkerungsgeschichte, in: HZ 277/2 (2003), S. 281–308. 24 Manfred Vasold, Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute, München 1991, S. 61 ff. 25 Hoeniger, Krieg (wie Anm. 17), S. 430. 26 Theodore K. Rabb, The Effects of the Thirty Years’ War on the German Economy, in: Journal of Modern History 34 (1962), S. 45 f. Eine überarbeitete Fassung dieses Aufsatzes ist abgedruckt in: The Thirty Years’ War. Problems of Motive, Extent, and Effect, hg. von Theodore K. Rabb, Boston 1964, S. 42–49. 27 Rabb (wie Anm. 26), S. 45 f. 28 Veronica Wedgwood, The Thirty Years’ War, London 1964, S.  516. Meine Übersetzung, M. V. 29 Gerhard Schormann, Der Dreißigjährige Krieg, Göttingen 1985, S. 119.

Ist Tod gleich Tod? 30 Günther Franz, Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte, Stuttgart/New York 4 1979, S. 2. 31 Ebd., S. 5 Anm. 2. – »So starben etwa 600 000 Soldaten [aus aller Herren Länder] während des Dreißigjährigen Krieges«, schreibt ein Militärfachmann. Geoffrey Parker, Der Soldat, in: Der Mensch des Barock, hg. von Rosario Villari, Frankfurt a. M. 1991, S. 47–81, hier S. 71. 32 Franz, Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 30), S. 7. 33 Ebd., S. 19. 34 Ebd., S. 59. 35 Abgedruckt in: History 31 (1947), S.  89–102. In deutscher Übersetzung in: Hans-Ulrich Rudolf (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg, Darmstadt 1977, S.  51–67. Steinberg hat auch ein schönes Buch über den Buchdruck veröffentlicht. 36 Diese Schrift sei »in den zuständigen Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland nicht vorhanden«. Auskunft der Bay. Staatsbibliothek München vom 3.8.1990. 37 Robert Ergang, The Myth of the All-Destructive Fury of the Thirty Years’ War, Pocona Pines 1956, zitiert nach: Critical Issues in History, Bd. 1: Ancient Times to 1648, hg, von Thomas W. Africa u. a., Boston 1967, S. 364. Meine Übersetzung, M. V. 38 Die Spanische Grippe, die im Deutschen Reich Ende Oktober 1918 ihren Höhepunkt erreichte, kostete weltweit mehr Menschenleben als der Erste Weltkrieg. Die Frage, ob diese an der Grippe Verstorbenen zu den Kriegstoten zu zählen sind, braucht hier nicht entschieden zu werden. 39 Sigfrid H. Steinberg, Der Dreißigjährige Krieg und der Kampf um die Vorherrschaft in Europa 1600–1660, Göttingen 1967, S. 132. 40 Ebd., S. 135, 126. Unter ›Typhus‹ ist hier vermutlich nicht der Typhus abdominalis zu verstehen, sondern das Fleckfieber, der Flecktyphus. Im Englischen bedeutet ›typhus‹, Fleckfieber; ›typhoid‹ bedeutet Typhus abdominalis. Vgl. Friedrich Prinzing, Epidemics Resulting form Wars, Oxford 1916, S. 76. 41 Vgl. H. Haan, Prosperität und 30jähriger Krieg, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 91–118. 42 So z. B. G. Benecke, The Problems of Death and Destruction in Germany during the 30 Years’ War, in: European Studies Review 2 (1976), S.  250 Anm. 31. 43 Friedrich Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 21969, S.  288; Georges Livet, La Guerre de Trente Ans, Paris 1963, S.  62; Henry Kamen, The Economic and Social Consequences of the Thirty Years’ War, in: Past & Present 39 (1968), S. 48 Anm. 21; Josef Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Bd.  2, München/Wien 3 1971, S. 17–19; Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, Hamburg 1974, S.  128; Roger Mols, Population in Europe 1500–1700, in: The Fontana Economic History, Bd. 2, Glasgow 1974, S. 38 f.; Friedrich-Wilhelm Henning, Das vorindustrielle Deutschland 800 bis 1800,

37

38

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

44 45 46 47

48 49 50

51

Paderborn 1974, S.  242; Walter Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe 1556–1648, Berlin u. a. 1975, S.  305; Hermann Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd.  1, München 1977, S.  305; Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648–1789), Göttingen 1978, S. 14 f.; ders., Staaten und Stände. Vom Westfälischen Frieden bis zum Hubertusburger Frieden 1648–1763, Berlin u. a. 1984, S.  57 ff.; Andreas Kraus, Geschichte Bayerns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1983, S.  253 f.; P. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19.  und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984, S. 21, schreibt etwas sibyllinisch: »Die Bevölkerungsverluste des 30jährigen Krieges wurden erst im Laufe des 18. Jahrhunderts ausgeglichen; die Bevölkerung Deutschlands (ohne Österreich), die zwischen 1600 und 1650 auf 10 Mio. abgesunken war, hatte schon um 1700 diesen Rückgang wettgemacht.«  – Noch höher als auf rund ein Drittel schätzen H. Kellenbenz / R. Walter, Das Deutsche Reich 1350–1650, in: Hdb. d. Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd.  3, Stuttgart 1986, S. 828 f., die Verluste ein. Dort heißt es: »Der Dreißigjährige Krieg dezimierte die Bevölkerung um etwa 43 %, wobei die ländliche Bevölkerung stärker betroffen war als die städtische.« Nach den Grundlagen dieser Zahlen befragt, antwortete der mutmaßliche Verfasser, Rolf Walter: »Die Verluste lägen zwischen 33 und 43 %. – In dieser Relativität ist auch unsere Zahl im europ. Handbuch zu sehen«, Bf. v. 7.6.1989 an den Verf. Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 13), Bd. 1, S. 54. Siehe Horst Rabe, Deutsche Geschichte 1500–1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung, München 1991, S. 42 f. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815–1849, München 1987, S. 663. Im Allgemeinen wird die Bevölkerung des späteren Deutschen Reiches in seinen Grenzen von 1870 also vor der Annektierung Elsass-Lothringens im Jahr 1816 mit 23,5 Millionen angegeben. Siehe W. Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1800–1970, in: HDWSG, Bd. 2, hg. von W. Zorn, Stuttgart 1976, S. 10. John D. Post, Food Shortage, Climatic Variability, and Epidemic Disease in Preindustrial Europe. The Mortality Peak in the Early 1740 s, Ithaca/London 1985, S. 19. C. Concannon, The Third Ennemy: The Role of Epidemics in the Thirty Years’ War, in: Journal of World History 10 (1967), S. 506. Hans Flohn, in: H. v. Rudloff, Die Schwankungen und Pendelungen des Klimas in Europa seit dem Beginn der regelmäßigen Instrumenten-Beobachtungen (1670), Braunschweig 1967, S. 81 f. Dazu auch H. H. Lamb, Klima und Kulturgeschichte. Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte, Reinbek 1989, bes. S. 232 ff. Vgl. Gottfried Lammert, Geschichte der Seuchen-, Hungers- und Kriegsnöte zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Wiesbaden 1890, S. 55 f. Siehe auch Karl Kißkalt, Epidemiologisch-statistische Untersuchungen über die Sterblichkeit 1600–1800, in: Archiv für Hygiene und Bakteriologie 137 (1953), S. 33.

Ist Tod gleich Tod? 52 Siehe Erich Keyer, die Pest in Deutschland und ihre Erforschung, in: Actes du Colloque International de Démographie Historique, hg. von P. Harsin u. E. Hélin, Paris 1965, S. 374. 53 Zit. nach Steven Pisker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Bonn 2011, S. 224. 54 Vgl. Prinzing, Epidemics (wie Anm. 40), S. 78 Tabelle; ferner Kisskalt, Sterblichkeit (wie Anm. 51), S. 29. 55 Peter Borscheid, Geschichte des Alters. Vom Spätmittelalter zum 18.  Jahrhundert, Münster 1987, S. 34. 56 Alois Schreiber, Die Entwicklung der Augsburger Bevölkerung vom Ende des 14.  bis zum Beginn des 19.  Jahrhunderts, in: Archiv für Hygiene und Bakteriologie 123 (1940), S. 98. Dazu auch Bernd Roeck, Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, Göttingen 1989, bes. S. 630–653; ders., Als wollt die Welt schier brechen. Eine Stadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, München 1991, S. 299. 57 Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 13), S. 70. Auf S. 186 gibt Wehler, für 1808, die Einwohnerzahl Nürnbergs korrekt mit 25 000 an. Nürnberg zählte 1806 gut 25 000 Einwohner, in den folgenden Jahren nahm diese Zahl noch etwas ab. Rudolf Endres / Martina Fleischmann, Nürnbergs Weg in die Moderne. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Nürnberg 1996, S. 17. 58 Roeck, Als wollt die Welt … (wie Anm. 56), S. 299. 59 Vgl. Walter Jungkunz, Die Sterblichkeit in Nürnberg 1714–1850, zugleich ein Beitrag zur Seuchengeschichte der Stadt, in: MVGN 42 (1951), S. 301 f. 60 Nürnberg vor 125 Jahren. Die Medizinal-Topographie von 1862, bearbeitet von Jutta Seitz, Nürnberg 1987, Tab. III. 61 Christopher R. Friedrichs, Urban Society in an Age of War: Nördlingen 1580–1720, Princeton 1979, S.  306 f.; ders., Bevölkerungsentwicklung der Reichsstadt Nördlingen 1579–1720, in: Jb. des Hist. Vereins für Nördlingen und das Ries 26 (1980), S. 136 f.; D. Voges, Die Reichsstadt Nördlingen. 12 Kapitel aus ihrer Geschichte, München 1988, S. 260 ff. 62 Andreas Kraus, Geschichte Bayerns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1983, S. 254. 63 Ebd, S. 253. Ausführlich erörtert ders., Maximilian I. Bayerns großer Kurfürst, Graz/Wien/Köln 1990, S. 312–320, die Schäden dieses großen Krieges im Kurfürstentum Bayern. Kraus nimmt hier die Verlustzahlen für ganz Bayern etwas zurück, und zwar auf 30 bis 40 Prozent, gemessen am Vorkriegsstand (S. 317 f.). 64 Dietmar Stutzer, Geschichte des Bauernstandes in Bayern, München 1988, S. 112. 65 Ebd. 66 Dieter Albrecht, Das konfessionelle Zeitalter, in: Hdb. d. Bay. Geschichte, hg. von Max Spindler, Bd. 2, München 21977, S. 409. 67 A. Layer, Von der Gegenreformation bis zur Eingliederung in Bayern 1555 bis 1802/10, in: Hdb. d. Bay. Geschichte, Bd. 3/2, München 1971, S. 932 f.

39

40

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 68 Friedrich-Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd.  1: 800 bis 1750, Paderborn u. a. 1979, S.  227. Nach Karl Georg Zinn, Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Opladen 1989, S. 144 f., fiel die Ertragsrelation der wichtigsten Getreidearten nach 1500 steil ab, bei Roggen um 32 Prozent, bei Weizen um 8 Prozent, bei Gerste und Hafer um je 27 Prozent. 69 Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, Hamburg/Berlin 31978, S. 162. 70 Jean-Noel Biraben, Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens, Bd. 1, Paris 1975, S. 124 Abb. 5 und 6. 71 Lorenzo Del Panta, Le epidemie nella storico demografica italiana (secoli XIV–XIX), Turin o. J., bes. S. 158–166. 72 Siehe Johann Peter Süssmilch, Die göttliche Ordnung …, Bd. 1, Berlin 1765, Ndr. Göttingen/Augsburg 1988, S. 333. 73 Roeck, Als wollt die Welt … (wie Anm. 56), S. 299. 74 Christof Dipper, Deutsche Geschichte 1648–1789, Frankfurt/M. 1991, S. 43, Tab. 2 auf S. 44. 75 Volker Press, Kriege und Krise. Deutschland 1600–1715 (Deutsche Geschichte 5), München 1991, S. 269–271, Tab. auf S. 270. 76 Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1992, S. 236. 77 Johannes Burkhardt, Schlußkommentar und Ausblick, in: Benigna von Krusenstjern / Hans Medick (Hg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999, S. 595–600, hier S. 595. Siehe dazu auch E. A. Beller, Recent Studies on the Thirty Years’ War, in: Journal of Modern History 3 (1931), S. 73–83; Fritz Kaphahn, »1648 und 1919«. Ein historischer Vergleich, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 15 (1919), S.  252–267; John Theibault, The Demography of the Thirty Years’ War Revisited: Günther Franz and his Critics, in: German History 15 (1997), S. 1–21; Hartmut Lehmann, Die Krisen des 17. Jahrhunderts als Problem der Forschung, in: Krisen des 17. Jahrhunderts, hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen, Göttingen 1999, S. 13–24. 78 Wolfgang Behringer, Von Krieg zu Krieg. Neue Perspektiven auf das Buch von Günther Franz »Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk« (1940), in: von Krusenstjern / Medick (Hg.), Alltag und Katastrophe (wie Anm. 77), S. 543–591, hier S. 590. 79 Alfred Perrenout, Le biologique et l’humain dans le déclin séculaire de la mortalité, in: Annales ESC 40 (1985), S. 113–135, hier S. 113–115. 80 Pierre Chaunu, La civilisation de l’Europe des Lumières, Paris 1982, S. 52–54. Siehe auch Ilja Mieck, Wirtschaft und Gesellschaft Europas von 1650 bis 1850, in: ders. (Hg.), Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jhs. bis zur Mitte des 19. Jhs., Stuttgart 1993, S. 56 Tab. 12. 81 Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, London 1988, S. 149. 82 Manfred Rauh, Die bayerische Bevölkerungsentwicklung vor 1800. Ausnahme oder Regelfall?, in: ZBLG 51/2 (1988), S. 471–601, hier S. 480 f.; Heinz

Ist Tod gleich Tod?

83 84 85 86 87 88 89 90 91 92

Duchhardt, Europa am Vorabend der Moderne (Hdb. der Geschichte Europas 6), Stuttgart 2003, S. 83, nennt folgende Zahlen für ganz Europa: 1700 etwa 118 Mio, um 1800 185 bis 190 Mio. – Zum Vergleich: Die französische Bevölkerung wuchs zwischen 1670 und 1780 von ungefähr 20 auf 27, bis zum Jahr 1800 sogar auf knapp 30 Millionen. Noch etwas schneller wuchsen zuletzt die Getreidepreise. Jack A. Goldstone, Demography, in: The Oxford Handbook of the Ancien Régime, hg. von William Doyle, Oxford 2012, S. 201–218, hier S. 205 Tab. 12.1 und S. 207. Siehe auch Joachim Whaley, Germany and the Holy Roman Empire, Bd. 2: From the Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648–1806, Oxford 2012, S. 454. Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 28), München 1994, S.  10 Tab. 1, S. 18. Heinz Schilling, Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763 (Siedler Deutsche Geschichte), Berlin 1989, S. 80 f., 84. Karl Heinrich Kaufhold, Deutschland 1650–1850, in: Hdb. der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4., hg. von Ilja Mieck, Stuttgart 1993, S. 432. Pfister, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 83), S. 10 Tab. 1, S. 18. Vierhaus, Deutschland (wie Anm. 43), S. 28. Vgl. Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 83), S. 14–18; Dipper, Deutsche Geschichte (wie Anm. 74), S. 44 Tab. 2. Geoffrey Parker, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1987, S. 211 ff. Schormann, Krieg (wie Anm. 29), S. 119. Gerhard Schormann, Dreißigjähriger Krieg 1618–1649, in: Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte Stuttgart 102001, S. 207–279, hier S. 269. Ebd. Wilhelm Abel, Landwirtschaft 1648–1800, in: Hdb. d. Dt. Wirtsch.- u. Sozgesch., hg. von H. Aubin u. W. Zorn, Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 511.

41

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution Eine Kausalkette aus Wetter, Armut, Hunger und Gewalt Seit dem 16.  Jahrhundert mussten die Europäer selbst in gewöhnlichen Erntejahren für den Erwerb einer bestimmten Menge Getreide mehr Arbeitsstunden aufwenden als ein Jahrhundert früher, im ausgehenden Mittelalter.1 Die Zahl der Hungersnöte scheint in der Frühen Neuzeit zugenommen zu haben, und gerade die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war erfüllt von Hungerjahren und hoher Sterblichkeit.2 Damals begann das Zeitalter der Massenarmut – nicht von ungefähr stand am Ende dieses Jahrhunderts, 1789, eine große Revolution. Über die Hungersnot von 1770/72 sind in den letzten Jahren mehrere Studien erschienen, dabei zeigte sich, dass die Geschichtswissenschaft Naturkatastrophen samt ihren sozialen Folgen in der Regel wohl eher unterschätzt,3 selbst große Naturkatastrophen hat sie meist nur am Rande zur Kenntnis genommen.4 Viele solcher Hungersnöte erstreckten sich über große Räume, denn sie waren eine Folge von kalter, nasser Witterung, auf die schlechte Ernten folgten.

44

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Der steigende Druck einer wachsenden Bevölkerung Im 18.  Jahrhundert wuchs die Bevölkerung ziemlich schnell, sie könnte sich in Europa in diesem Zeitraum verdoppelt haben.5 Nach der Jahrhundertmitte häuften sich die Notzeiten, weil die Bevölkerung immer größer wurde und folglich immer mehr Nahrung verzehrte, während die landwirtschaftlichen Erträge längst nicht im gleichen Maße zunahmen. Die Bevölkerung Deutschlands war um das Jahr 1700 wohl etwas kleiner als anno 1600; aber im Jahr 1800 war sie um mehr als die Hälfte größer als hundert Jahre davor. Es dürfte zutreffend sein, dass um 1750 die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges wieder behoben waren und das Alte Reich fortan mehr Einwohner zählte als zu Beginn dieses Krieges, 1618. Die deutsche Gesamtbevölkerung erreichte wohl »zwischen 1720 und 1750 mit 15 bis 17 Millionen wieder den Stand vom Beginn des 17. Jahrhunderts«.6 Zwischen 1648 und 1800 hat sich die Bevölkerung in Deutschland mehr als verdoppelt, indes die landwirtschaftlich bebaute Fläche nur um etwa 60 Prozent zunahm, dank Veränderungen im Anbau stieg der Ertrag je Flächeneinheit um 20 Prozent  – die Ernährungssituation der deutschen Bevölkerung verschlechterte sich also pro Kopf.7 Die Ernten verteilten sich auf immer mehr Münder, die Getreideproduktion konnte nicht mehr mithalten.8 Die Methoden der landwirtschaftlichen Produktion, des Verkehrs, des Warenaustausches und der Umweltbeherrschung erwiesen sich angesichts einer wachsenden Bevölkerung als so unzulänglich, dass es bei mehreren aufeinanderfolgenden Missernten zu Hungersnöten und einem sprunghaften Ansteigen der Sterblichkeit bei gleichzeitigem Rückgang der Geburten kam. Die letzten derartigen Katastrophen der vorindustriellen Zeit, die fast ganz Europa betrafen, ereigneten sich zwischen 1770 und 1772, weniger ausgeprägt in den Jahren 1787 bis 1789, 1816/17 und 1846/47.9 Diese »Krisen älteren Typs«10, wie französische Wirtschaftshistoriker sie genannt haben, waren nicht endogenen wirtschaftlichen Ursachen zuzuschreiben, sondern der Witterung. Sie waren die Folgen von verhängnisvollen Naturereignissen, die daher meist auch große Räume berührten und die Nahrungsmittelnot noch viel

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

bedrückender machten. Die Getreidepreise zeigten nach 1750 bis gegen 1820 tendenziell deutlich nach oben.11 »Die natürlichen Ursachen der Teuerung [der Jahre 1770/72, M. V.] sind unumstritten.«12 Sie sind in einer zu kalten, nassen Witterung zu suchen, die den Pflanzenwuchs drosselte. Kultivierbare Gräser wie das Getreide benötigen eine bestimmte Menge an Wärme und Feuchtigkeit; wenn das Frühjahr zuviel Kälte und Regen mit sich bringt, nehmen die Ernteerträge ab. Historiker haben die Witterung bislang nur selten mitbedacht, selbst bei der Betrachtung von Hungerkrisen. Vielleicht wird man eines Tages den Historikern beipflichten, die, wie M. Morineau,13 »im Wetter den schlechthin entscheidenden Faktor auch für die längerfristigen Getreidepreise sehen«.14 Höhepunkt der »Kleinen Eiszeit« Das 18. Jahrhundert fiel in das Zeitalter der »Kleinen Eiszeit«. Einige Klimahistoriker und Geographen ziehen sachlichere, umständlichere Begriffe vor und sprechen von einer »Gletscherhochstandsphase der Neuzeit«, denn an den Gletschern zeigte sich die Abkühlung am deutlichsten, hier ist sie am leichtesten nachzuweisen. Im 18. Jahrhundert besaßen die Gletscher der Alpen beträchtliche Ausmaße, nach 1770 nahmen sie noch an Mächtigkeit zu.15 Sie schwollen an und flossen weit ins Tal hinab, bis unter 1000 m NN, ganz besonders in den Jahren 1767 bis 1771. Am genauesten ist diesbezüglich der Grindelwaldgletscher untersucht, er erreichte die Maxima seiner Ausdehnung zwischen 1593 und 1640 und dann wieder um 1776.16 In Süddeutschland wurde das Klima seit der zweiten Hälfte der 1750erJahre insgesamt deutlich schlechter, die Durchschnittstemperaturen erreichten einen Tiefstand; diese Entwicklung kulminierte »in der Hungerkatastrophe von 1771/72«.17 Seit dem schweren Erdbeben von Lissabon (1755) waren mehrmals höchst ungewöhnliche Naturerscheinungen aufgetreten. Die späten 1760er-Jahre waren ziemlich kalt und nass, »die heißhungrigen Siebzigerjahre« (Ulrich Bräker) brachten mehrere schlechte Ernten und tödliche Seuchen. Es gab »seit dem Jahre 1760. in unsern Gegenden kein recht volles Jahr mehr«, schreibt dieser Schweizer

45

46

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Zeitgenosse. »Die J[ahre 17]68. und 69. fehlten gar und gänzlich; hatten nasse Sommer, kalte und lange Winter, grossen Schnee, so dass viel Frucht darunter verfaulte […] Ao. [17]68. und [17]69. da mir der Hagel zwei Jahre nacheinander alles in meinem Garten zu Boden schlug, und ich und die Meinigen so mit grosser Wehmut zuschauten.«18 Die Ursache dieser schlechten Ernten war die nasskalte Witterung, wodurch wurde sie verursacht? Das lässt sich für dieses kleinräumige, zerklüftete Europa nicht so leicht sagen; es könnte aber sehr wohl sein, dass eine regere Vulkantätigkeit niedrigere Temperaturen herbeiführte: Jüngere meteorologische Studien haben gezeigt, dass bei großen Eruptionen magmatische Gase und Ascheteilchen sehr hoch in die Stratosphäre emporgeschleudert werden. Sie bilden dort durch photochemische Prozesse winzige Partikel, die äußerst langsam zur Erde herabfallen. Die sulphatischen Partikel reichern sich in einer im Durchschnitt 20 bis 22 km hoch gelegenen Schicht an und behindern die Einstrahlung der Sonne auf die Erdoberfläche, die Sonnenstrahlen werden einfach reflektiert. Daher folgen einem solchen Ausbruch meist ein, zwei kalte Winter und kühle, nasskalte Sommer.19 Auf Europas vulkanreichster Insel, Island, waren in diesen Jahren einige besonders aktiv: der Laki brachte 1766 einen seiner verheerendsten Ausbrüche hervor, und auch die italienischen Vulkane Ätna und Vesuv zeigten eine rege Tätigkeit: Der Vesuv spie zwischen 1764 und 1767 große Massen Lava aus, von Anfang 1766 bis Oktober 1767 brodelte er ständig und war auch in den 1770er-Jahren ziemlich aktiv.20 Der Ätna brach 1763, 1764 und 1766 mehrmals aus und dann erneut in den 1780er-Jahren.21 Es scheinen aber darüber hinaus, wenn tatsächlich Vulkanausbrüche die Ursache waren, auch weiter entfernte, vielleicht indonesische Vulkane ausgebrochen zu sein, denn weit im Osten der nördlichen Hemisphäre, in Indien, trat die verheerende Hungersnot bereits in den Jahren 1769 und 1770 in Erscheinung. Große Eruptionen ferner Vulkane können die Witterung in Europa eine Zeitlang nachhaltig beeinflussen: 1816, das legendäre »Jahr ohne Sommer«, war in der gesamten nördlichen Erdhemisphäre ein äußerst nasskaltes Jahr, ihm folgte eine sehr schlechte Ernte, dies war die

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

Folge eines gewaltigen Vulkanausbruchs in der ersten Aprilhälfte 1815, auf der indonesischen Insel Sumbawa.22 Die Unbilden der Witterung Ein Zeitgenosse in Augsburg, Johann Georg Bullmann, berichtete, dass es schon in den Jahren 1768 und 1769 merkwürdige Naturerscheinungen gegeben habe, unerwartete Erderschütterungen in Gegenden, in denen sonst dergleichen nicht zu beobachten war.23 Die Witterungsunbilden dieser Jahre um 1770 betrafen weite Teile des nördlichen Europa. Vielerorts wurden Aufzeichnungen über das Wetter vorgenommen, weil es den Zeitgenossen so »merkwürdig« vorkam.24 »Der Frühling des Jahres 1770 war so kalt, dass Ende März die Temperatur bis minus 9 Grad F [d. h. minus 11,25° Celsius, M. V.] fiel und die gesamte Wintersaat erfror. Auch die Sommersaat wurde durch Kälte, Regengüsse und Überschwemmungen sehr beeinträchtigt.«25 Für Nürnberg liegen ziemlich genaue Aufzeichnungen für die Witterung der frühen 1770er-Jahre vor.26 Ein Ansbacher Ratsangehöriger schrieb über dieses kalte, nasse Jahr 1770: »Dann medio Martii [1770] fiel ein tiefer Schnee, welcher bis ultimo Aprilis liegen blieb.« Die Folge des unwirtlichen Frühjahrs war eine Missernte. Im September 1770 war kein Korn aufzutreiben, der Preis stieg bis über 30 Gulden. Es bestand in Ansbach Ausfuhrverbot für Getreide, also machten es die anderen Regierungen ebenso. Man sandte Boten aus nach Rothenburg ob der Tauber und Würzburg, um dort Getreide zu kaufen.27 In Nürnberg hat eine Tageszeitung, der »Friedens- und KriegsCourier«, mehrmals über das Witterungsgeschehen und die Hungersnot berichtet. Diese Zeitung erschien montags bis samstags, vier Seiten stark zumeist, fast nur aus Nachrichten aus aller Welt bestehend, die oft einige Wochen alt waren. Sie erfreute sich einer großen Verbreitung und war daher ziemlich preiswert.28 Sie berichtete im Januar 1770 über große Überschwemmungen an der Oder, da waren Dämme gebrochen, »Häuser und Scheunen weggerissen, Früchte und Vieh weggeschwemmt«29. Ende Februar gab es Schneefälle in Neapel, was ganz ungewöhnlich war (22. März 1770). Die Witterung

47

48

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

in Deutschland war kalt und rau (27. März 1770). In Hamburg herrschte am 20. März strenge Kälte, es trieb viel Eis auf der Elbe (29. März 1770). Aus Skandinavien wurde im März von großer Kälte berichtet (4. April 1770). Im April schien ein großer Ausbruch des Vesuv bevorzustehen (19. April), er erfolgte dann am 24. April 1770. Aus Stockholm war unter dem 1.  Mai zu vernehmen: »Bey Menschen-Gedenken hat sich der Frühling nicht so späte, als diesmal eingestellet, und unser Land ist noch immer unter Schneebergen vergraben« (24. Mai 1770). In Toulouse herrschte noch Ende April strenge Kälte; man fürchtete, die Maulbeerbäume könnten Schaden nehmen (18. Mai 1770). In Frankreich stellte sich schon Mitte Mai eine starke Teuerung des Brotes ein (31. Mai 1770). In Messina bebte Mitte Juni die Erde (21. Juli 1770). Aus Lindau war unter dem 6.  Juli zu lesen: »Dazu seit einigen Wochen anhaltender ständiger Regen.« Der Bodensee war seit 1644 niemals »zu einer solchen Höhe gekommen«.30 Diese Zeitung erwähnt auch eine Reihe von ungewöhnlichen Naturerscheinungen, die für die Witterung nach 1770 ursächlich von Bedeutung sein könnten. In Süditalien wurde Ende Juli 1770 von Erdbeben berichtet. »Die Stösse sind so häufig gewesen, daß kein Innwohner sich in die Stadt zurück zu kommen getraut, weil alle Häuser den Einsturz drohten.« (24. August) Aus der Karibik, von der Insel Hispaniola, wurde im Juli von einem schweren Vulkanausbruch berichtet (22. August, 10. September 1770). Aus Polen kam in diesem Sommer die Nachricht von einer ansteckenden Krankheit, einer »Contagion« (10. August), die Bewohner flohen in die Wälder (27. August). »Die herumschleichende Pest machet uns im Lande sehr viel Unruhe.« (28. August, 1. September 1770.) In Nürnbergs Schwesterstadt Fürth traten seit dem 21.  Januar 1770 große Überschwemmungen auf, die bald einige Menschenleben kosteten. »Dem Mißwachs waren bereits zwei sehr feuchte Jahre vorausgegangen; in den Jahren 1769 und 1770 hatte der häufige und anhaltende Regen und starke Schneefall gegen dreißig Ueberschwemmungen zur Folge gehabt, wodurch Samengetreide und Wiesenbau vollkommen zu Grunde gerichtet wurden. Dazu kamen die traurigen Zollschranken, die Ausfuhrverbote der benachbarten Ländchen, endlich ein großartiger Wucher«, schrieb ein

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

Fürther Chronist. Sechs Monate später, Ende Juli 1770, wurde erneut über große Wasser geklagt. Die Not erschien einem Fürther Medailleur so bedeutend, dass er eine Gedenkmünze anfertigte.31 Missernten, Nahrungsmangel, Teuerung Die Ernte des Jahres 1770 war schlecht, sie soll in Mitteleuropa um etwa ein Drittel geringer gewesen sein als in gewöhnlichen Jahren.32 Getreidepreise sind nach unten kaum elastisch, wohl aber nach oben: Wenn dieses Gut knapp wird, steigen bei gleichbleibender Nachfrage die Preise unverhältnismäßig an. Brot war das wichtigste Nahrungsmittel, davon verzehrte ein Erwachsener annähernd 200 Kilogramm pro Jahr.33 Die Ernährung verschlang bei den meisten mehr als die Hälfte des Einkommens,34 davon wurde ein gut Teil für Brot ausgegeben.35 In Bayern, das von den Importmärkten im Osten ziemlich abgeschnitten lag, verlief der Anstieg der Getreidepreise steiler als irgendwo sonst in Deutschland.36 Gegenüber dem Durchschnitt der Jahre 1764/76 verdoppelte sich 1771 der Preis für Getreide, 1772 stieg er um weitere knapp zehn Prozent an.37 Setzt man die Getreidepreise in den mährischen Städten Brünn und Datschitz für die – eher schlechten Erntejahre – 1769 bis 1774 gleich 100, dann standen die Preise für Weizen im Januar 1772 bei 216, im Juli bei 226, die für Roggen im Januar 1772 bei 258, ja sogar bei 287 im Juli, für Gerste bei 233 bzw. 301.38 Die Preise für Grundnahrungsmittel schossen auch in Norddeutschland kräftig in die Höhe.39 Aus vielen süddeutschen Städten liegen genaue Angaben vor, sie ähneln sich so stark, dass man sie nicht im Einzelnen wiederzugeben braucht. Im Erzstift Salzburg verdoppelten sich die Nahrungsmittelpreise innerhalb von zwölf Monaten: Der Preis für Weizen stieg (1770/71) von 28 auf 50–55 Gulden, der von Roggen von 24 auf 40–45 Gulden. Spekulanten hielten Getreide zurück, um später höhere Preise zu erzielen.40 Die Not wurde so groß, dass die Menschen in Böhmen neben Gras auch Kräuter und Brot aus Gras und Kleie aßen, ja sogar verendete Pferde und Schafe. Der Habsburger Reformkaiser Joseph II. reiste im Herbst 1771 nach Prag, seine Aufzeichnungen enthalten »erschütternde Beweise der in Böhmen herrschenden Not«.41

49

50

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

In Augsburg schrieb Johann Georg Bullmann: »Das Schaf[f] Getraid stieg auf 40 Gulden, der Waizen auf 44 und mehrere Gulden, die Gerste auf 38 f. […], und so stieg alles andere auf einen unerschwinglichen Preiß, daß dahero nichts als Kummer, Elend, Noth und Mangel, Hunger und Dürftigkeit entstanden, zumahl da auch noch zu diesem Uebel der Verringerung und ein betrübter Stillstand der Arbeit« zu verspüren war.42 Nicht nur landwirtschaftliche Produkte wurden stark nachgefragt, sondern auch Bauernhöfe, am stärksten kleine Höfe, allein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verdreifachte sich ihr Preis.43 In Nürnberg hat ein gelehrter Zeitgenosse, der Altdorfer Professor Georg Andreas Will (1727–1798),44 über diese Teuerung sorgfältig Buch geführt. Vor der Krise, im Januar 1770, schreibt er, kostete das Scheffel Korn in Nürnberg 12 Gulden, im Juni 1771, unmittelbar vor der Ernte, aber schon 56 fl.45 Im Frühsommer 1772 stand es immer noch über 50 fl.46 Die Preissteigerungen für Getreide und Brot dehnten sich bald auch auf andere Nahrungsmittel aus, die als Ersatz herangezogen wurden. »Die Getreidtheurung verursacht aber auch, daß die andern Viktualien an Hülsenfrüchten und Bier viermal so theuer als sonsten zu stehen kamen«, heißt es in einer anderen Quelle aus Nürnberg.47 Vielerorts in Süddeutschland verdreifachten sich die Getreidepreise.48 Fast ebenso stark stieg der Preis für Brot. Brot besteht zu drei Vierteln aus Mehl, für den Bäcker bildete es den wichtigsten Kostenfaktor. Bei den meisten Produkten waren seinerzeit die dafür eingesetzten Rohstoffe sehr viel teurer als der Arbeitslohn.49 Das Brot wurde nominell nicht teurer, wohl aber je Gewichtseinheit. Der Brotpreis wurde nämlich nicht angehoben, das Brot wurde einfach – gemäß der örtlichen Brottaxe oder Raitung50 – um einen von der Obrigkeit festgelegten Satz kleiner gebacken.51 Brot wurde für viele nahezu unerschwinglich, Hunger breitete sich aus. Wahrnehmbare Gewichtsverluste waren die Folge, langfristig sogar eine Verminderung der Körpergröße. »Diejenigen, die in wohlfeilen Zeiten mit Fressen und Saufen im Überfluß gelebet, sich einen dicken und starken Körper zugeleget, […] gehen, sage ich, daher wie ein Schatten, so daß man viele nicht mehr kennet«,52 schrieb ein Zeitgenosse aus Ansbach. »Die Epidemie von 1771. und 1772. hat

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

Wenn die Getreidepreise stark stiegen, wie in den Jahren 1771/72, dann erlaubte die Obrigkeit den Bäckern, die Brote kleiner zu backen. Ein Nürnberger Bürger hat die Größe des schrittweise schrumpfenden Brotes anno 1771 in seiner Privatchronik eingezeichnet.

51

52

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

den hiesigen Pöbel sehr dünn gemacht«, berichtete ein Nürnberger Chronist. »Und da die Arbeiten, womit er sich nährt, izt bei weitem das nicht mehr einbringen, was sie vorher trugen, so hat sich auch sein Muth und seine Ausgelassenheit um ein Merkliches vermindert.«53 Die Stimmung in der Stadt Nürnberg war deprimierend. Die Zeitgenossen wussten, dass dieser Mangel an Nährbarem wie auch eine todbringende Epidemie weite Teile Europas erfasst hatte. »Das Brod war so selten geworden, daß man gerne den Soldaten der Garnison ihr Commisbrod abkaufte; Reis war eher zu bekommen als Mehl«,54 schreibt Ernst Wilhelm Martius (geb. 1756), der unweit von Bayreuth seine Kindheit verbrachte. »Die Leuthe haben weegwarten Bren Eßeln, Kimmelwürzel und waidtkraut anstatt des Gemüßes gekocht geeßen, die dan die Menschen aufgeschwollen und Viele gestorben, als dan hat es sich eine Seuche und Kranckheit eingefunden da so wohl reich und Armmen Viele 100 gestorben, kein Medicus hat ergründten können wie dem Zu wieder stehen. Sie hat sich mit Hauptwehe angefangen und dan mit Hiz und Frost«,55 schrieb ein Fürther Chronist. In solchen Zeiten allgemeiner Not blieb kein Geld übrig, um andere Dinge zu kaufen als Nahrungsmittel, die Nachfrage nach anderen Gütern stagnierte also, Arbeitslosigkeit war die Folge. In einem zeitgenössischen Kalender gibt ein Bauer eine »Beschreibung des Theurungszustandes, 1773«: »Die Bürger haben sich zu Theil so verzehret, daß wirklich viele Handwerker ganz darnieder liegen, welche nichts mehr arbeiten können, man gebe ihnen denn einen Geldvorschuß zum Einkaufen.« Das Nürnberger »Historischdiplomatische Magazin« schrieb, »der Mittel- und gemeine Mann [habe] seine Spahrpfennige angegriffen, all sein Schazgeld und Kostbarkeiten hingegeben, seinen Hausrath und Handwerkszeuch, seine Kleider und Betten verpfändet, und war zu unmuthig und unkräftig, als daß er etwas verdienen, oder eine schwere Arbeit unternehmen konnte.«56 Es kam bald zu einem steilen Anstieg der Sterblichkeit, was allerdings nicht die Folge des Hungerns war, sondern dem Ausbruch von Infektionskrankheiten zuzuschreiben war. In vielen Regionen Deutschlands traten seit 1771 ein »epidemisches Hitziges Faulfieber« und andere Krankheiten auf und rafften viele hinweg.57

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

Maßnahmen gegen die allgemeine Not Die Regierenden waren gehalten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas gegen die Not und den Hunger zu unternehmen, wenn sie nichts taten, büßten sie ihre Legitimität ein. Ihre Tätigkeit war ziemlich einförmig, sie wurde inzwischen für viele Regionen untersucht, vor allem für die Gebiete der alten Donaumonarchie.58 Im Hochstift Salzburg wurde eine zur Bekämpfung des Notstandes eingesetzte Getreidekonferenz beauftragt, sich ein Bild von der allgemeinen Notlage zu machen, sie ordnete am 17. November 1770 eine Erfassung der im Land verbliebenen Getreidebestände an. Außerdem wurde die Bevölkerung erfasst, und die Universität erhielt den Auftrag, das Studienjahr zu verkürzen.59 Im Königreich Preußen richteten sich viele Bitten um eine Unterstützung an den König, vor allem von den Manufakturarbeitern, die die hohen Nahrungsmittelpreise nicht mehr bezahlen konnten. König Friedrich II. ließ die für das Heer bestimmten Magazine öffnen und Getreide auf den Markt bringen, um dadurch die Preise zu drücken. Der Monarch hielt sich auf seine Lagerhaltung viel zugute, er habe mit seinen Maßnahmen seine Bevölkerung vor dem Hungertod bewahrt, schrieb er.60 »Diese weisen Vorkehrungen beschützten das Volk vor der drohenden Hungersnot (1771).« Ebenso brachte das folgende Jahr (1772) eine Missernte; aber wenn der Scheffel Weizen im preußischen Staate auf 2 Taler und einige Groschen stieg, so war das Elend bei den Nachbarn noch viel größer: »in Sachsen und Böhmen wurde er mit 5 Talern bezahlt«,61 schrieb König Friedrich.62 Trotzdem konnten viele Weber in Schlesien kaum Brot kaufen von ihrem geringen Verdienst.63 In Preußen stieg die Sterblichkeit 1772 insgesamt nur gering an, doch »Sachsen verlor über 100 000 Einwohner, die teils verhungerten, teils auswanderten«, schrieb der preußische König. »Böhmen verlor wenigstens 180 000 Seelen. Über 20 000 böhmische und sächsische Bauern suchten in Preußen Zuflucht.«64 Die Regierungen bemühten sich, aus den traditionellen Getreideüberschussgebieten im Osten Brotgetreide zu importieren, doch scheint in diesen Jahren weniger Getreide aus Danzig in Richtung Westen ausgeführt worden zu sein als in den Jahren davor.

53

54

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Die Menge an eingeführtem Getreide aus Ostmitteleuropa scheint 1770/71 nicht gestiegen zu sein. Süddeutschland war von den Preissteigerungen für Nahrungsmittel stärker betroffen als Deutschlands Norden, denn es war von den Importquellen im Osten stärker abgeschnitten als Niederdeutschland.65 Angesichts der Getreideknappheit wurde vielerorts zeitweise verboten, Getreide zu exportieren, so zum Beispiel im südlichen Oberbayern seit dem Herbst 1770. Als die Ernährungslage 1771 noch schlimmer wurde und nur Tirol und Italien angeblich keinen Mangel litten, führte Bayern aus Italien Getreide ein.66 »Noch denken wir mit Schrecken an diese Theurung, die wie eine Fluth hereinbrach, ohne daß man sie vermuthete, und daß die sorgfältigsten Obrigkeiten und Hausväter Vorkehr dagegen hätten treffen können«, heißt es in einem Bericht eines Anonymus aus Nürnberg. »Es war kein Krieg zu Lande und wir hatten auch keinen eigentlichen Miswachs. Ein paar nasse Jahre giengen vorher, und die Frucht war nicht so gut und häufig, als sie in dem Mitteljahr zu seyn pflegt. Ein Mensch von 60. Jahren hat dieses öfter erlebet, aber nie eine dergleichen darauf folgende und bis zu den fürchterlichsten Grad anwachsende Getraidtheurung.«67 In Nürnberg war seinerzeit etwa jeder zehnte Gewerbetätige ständig auf Almosen angewiesen, in Krisenzeiten nahm ihre Zahl gewöhnlich stark zu.68 »In diesem Herbst (1770) ward alles von Tag zu Tag teurer, […] und der Jammer wurde immer größer. Da fingen die Herren an und ließen von ihrem Korn durch die Becken Brot backen, und wurde bei St. Lorenzen an dem Springbrunnen in einem Kram Dienstag, Donnerstag und Samstag ausgeteilt. […] Als aber die Not immer größer und der Leute immer mehr wurden, daß sie sich die Kleider vom Leib rissen und einander halbtot schlugen, wurden keine Zeichen [Berechtigungskarten für Brot] mehr ausgeben.« Wie in allen Notzeiten, so wurden auch jetzt in den Kirchen Bittgottesdienste abgehalten.69 Die Menge des vom Magistrat der Stadt Nürnberg tatsächlich importierten und finanzierten Getreides scheint gering gewesen zu sein, »nur für 163 000 fl.«70 Das eingeführte Getreide kam aus verschiedenen Regionen, der oben erwähnte Professor Will vermutete, von dort stamme »denn auch eine Hauptursach der so gewaltig um

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

sich reißenden Epidemie«.71 Es gingen nämlich bald epidemische Infektionskrankheiten um, und die Zeitgenossen verstanden, dass man solche Krankheiten gleichfalls von außen einführen konnte. Aus diesem Grund haben einzelne Örtlichkeiten wie der kurbayerische Marktflecken Erding sehr früh versucht, den Kontakt zur Außenwelt einzuschränken.72 Anfang Juli 1770 eröffnete in Nürnberg, wohl auf Veranlassung des Rates der Stadt, ein neues Spital seine Pforten, das erstmals den Namen ›Krankenhauß‹ führte. Ein Krankenhaus war damals eine neuartige Einrichtung, dieser Name erhob nämlich den Anspruch, akut erkrankte ältere Menschen aufzunehmen und als geheilt zu entlassen  – anders als das alte ›Spital‹, das gewöhnlich chronisch Kranke aufnahm und sie bis zu ihrem Ableben betreute. Nürnberg benötigte ein neues Spital, denn die anderen Spitäler befanden sich »in dem jämmerlichsten Zustande, von dem man sich gar keinen Begriff machen kann«.73 Die epidemisch auftretenden Infektionskrankheiten von 1770/72 In den Jahren nach 1770 grassierten in Mitteleuropa epidemische Infektionskrankheiten, die zusammen mit der allgemeinen Hungersnot die Bevölkerung dezimierten. Hungersnöte, die nicht von Epidemien begleitet wurden, trieben die Sterblichkeit in der Regel nicht sehr stark in die Höhe, sie drosselten eher die Fortpflanzung: Infolge des Nahrungsmangels sanken die Anzahl der Heiraten und die Natalität, dies eine Folge des Hungers. In schweren Hungerzeiten sind Frauen zeitweise unfruchtbar, die Monatsblutung bleibt aus; aber es wurden in Alt-Europa in Notzeiten auch weniger Ehen geschlossen. Die Sterblichkeit nahm 1770/72 stark zu, dies wurde in erster Linie von einer Seuche verursacht, die man oft als »Hungertyphus« bezeichnete. Die Zeitgenossen waren von dieser Hungersnot und dem ihr folgenden Anstieg der Sterblichkeit stark beeindruckt. Der Medizinstudent Leonhard Ludwig Finke (1747–1837), der seit April 1769 in Halle studierte, schloss sein Studium 1772 mit einer Dissertation zu dem Thema »Über die Heilsamkeit des Fiebers bei chronischen Krankheiten« ab; darin behandelte er die jüngst aufgetretene Seuche.74

55

56

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Andere Studenten widmeten ihre Doktorarbeit dem Verlauf der Epidemie an einem bestimmten Ort.75 Um welche Infektionskrankheiten handelte es sich? Historische, retrospektive Diagnosen sind problematisch, denn die Zeitgenossen verwendeten bei ihren Beschreibungen andere Kriterien als die spätere Medizin, und von bakteriologischen Befunden wussten sie noch nichts. Aber es gibt andere Kriterien, Infektionskrankheiten auf die Spur zu kommen, wenn man den Zeitpunkt ihres Auftretens weiß und welche Anteile einer Bevölkerung und welche soziale Schicht, welches Geschlecht und welches Lebensalter sie besonders hart trafen. Die Sterblichkeit stieg in verschiedenen Teilen Deutschlands zu einem etwas unterschiedlichen Zeitpunkt an, denn es brauchte Zeit, die Erreger zu verbreiten. Je abgelegener eine Region, desto später trafen die pathogenen Erreger dort ein. In Nürnberg begann der Anstieg ab Mai 1771, das lässt sich in den Kirchenbüchern der beiden große Friedhöfe St. Rochus und St. Johannis nachweisen, zunächst noch langsam, seit Oktober rascher.76 Sie blieb dann auf ziemlich hohem Niveau und fiel erst ab Mai 1772 deutlich ab. In anderen Orten fand der Anstieg zu einem anderen Zeitpunkt statt, in Münnerstadt in Unterfranken z. B. im Januar 1772.77 Sehr ausführlich und kenntnisreich hat ein zeitgenössischer Arzt namens F. J. Arand die Symptome und den Verlauf der Seuche in einem mehr als 200 Druckseiten umfassenden Buch dargestellt. Er stützte sich dabei vor allem auf seine Beobachtungen im mittleren Deutschland. Im Eichsfeld, schreibt er, trat die Krankheit seit August 1771 auf, dann auch noch später im Jahr; wenn einer erkrankte, dann traf es bald die gesamte Familie.78 Das ist ein zuverlässiger Hinweis darauf, dass die Krankheit übertragbar war. Die Symptome, die er dann schildert, sind etwas zu allgemein und daher wenig hilfreich: Fieber, das drei Wochen lang anhielt, Unwohlsein, Nasenbluten, Krampfanfall.79 Er erwähnt den stinkenden Atem der Kranken. Bei einigen Kranken trat eine »Geschwulst« auf, vermutlich ein angeschwollener Lymphknoten. Arand zufolge kamen »die häufigsten Rückfälle im Hornung«,80 also im Februar. Dies spricht für das Fleckfieber, denn das Fleckfieber ist gewöhnlich eine Krankheit des Spätwinters. Wenn Arand allerdings unter »Rückfälle« eine Zweiterkran-

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

kung meint, dann scheidet das Fleckfieber als Ursache aus, denn eine Fleckfiebererkrankung hinterlässt eine lebenslange Immunität.81 Wer von den Erkrankten das sechzigste Lebensjahr überschritten hatte, der starb zumeist, schreibt Arand.82 Das könnte ein Hinweis auf das Fleckfieber sein, bei dem die Sterblichkeit nach dem Lebensalter gestaffelt in Erscheinung tritt: Sie steigt kontinuierlich mit dem Alter des Erkrankten an, sehr junge Menschen sterben an einer Fleckfieberinfektion selten, bei Menschen ab 45 Jahren erreicht die Sterblichkeit bereits 60 Prozent, und bei sehr alten Menschen erreicht die Mortalität fast hundert Prozent.83 Diese Eigentümlichkeit des Fleckfiebers erleichtert es, rückblickend eine Diagnose zu stellen, falls man über eine Epidemie nur wenig erfährt, aber doch die Sterblichkeit überliefert wurde. Der Fleckfiebererreger, die Rickettsie prowazeki, ein bakterienähnlicher Mikroorganismus, wird von Kleiderläusen übertragen  – ähnlich wie die Fiebermücke Anopheles das Malariaplasmodium übermittelt –, und Kleiderläuse halten sich beim Menschen in größer Zahl dann auf, wenn er viel Kleidung trägt. Die Krankheit wird leicht übertragen, wenn Menschen auf andere treffen, die gleichfalls ungewaschen längere Zeit dieselbe verschmutzte Kleidung tragen.84 Das Fleckfieber wurde damals oft als »Hungertyphus« oder als »Faulfieber« bezeichnet, weil es oft im Gefolge einer Hungersnot auftrat; der Begriff ›Typhus‹ deutet auf ein wichtiges Leitsymptom hin: typhos (griech. Nebel) erinnert daran, dass die Kranken umnebelt waren, verwirrt. Arand erwähnt bei den Kranken eine »kleine Taubheit«.85 Bei Fleckfieber verstopfen die Erreger die Blutgefäße, auch die im Kopf, dies führt zu starken Kopfschmerzen und zu Taubheit. Die Sterblichkeit war hoch, schreibt er, von 370 Erkrankten starben an einem Ort 62. Aderlass half den Kranken nicht, sagt er, er erwies sich als »offenbare Mordthat«.86 Nur ein wichtiges Symptom erwähnt Arand selten: den Kopfschmerz. Das Fleckfieber offenbart sich vor allem in starken Kopfschmerzen, weswegen es in ferner Vergangenheit auch als Haupt- oder Heubtkrankheit bezeichnet wurde. Als Ursachen nennt Arand die kalte Witterung der Jahre 1770 und 1771 und die »aeussere Noth, indem die ausgehungerte alte Leute endlich mit dem Vieh einerley nehmen lerneten«, dies die

57

58

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Folge von »drey Jahre andauerenden gänzlichen Misswachs«.87 Er nennt die Krankheit eine »Plage der Armuth«, sie sei »anfangs [!] lediglich bei der Armuth wahrgenommen worden«, schreibt er, später auch bei »Bemittelte[n] […] als sie mit jenen einen Umgang hatten«88. Die Krankheit war hochansteckend: In den Haushalten, in denen sie auftrat, blieb keiner verschont, alle erkrankten, ob jung oder alt, Mann oder Frau, auch die Ärzte. Verschiedene soziale Schichten wurden von der Seuche dennoch in unterschiedlicher Weise betroffen. »Standes- und Dicasterialpersonen [vermutlich meint er Juristen ganz allgemein, M. V.], die eine reiche Nahrung genossen, und […] die keinen Umgang mit Kranken hatten, sind frey geblieben« von der Krankheit.89 Arand zitiert zustimmend einen Arzt, der meinte: »Es entstehen dergleichen Fieber mehrentheils von allgemeiner Noth, wo besonders arme Leute […] mit roher, harter, wol auch gar verdorbenen Speisen sich erhalten […] und wegen der erhöhten Preise des Biers und Brandeweins diese Getränke entbehren müssen, welches ihnen somit auch zur Verdauung ihrer schlechten und geringen Speisen dienlich wären.«90 Es ist anzunehmen, dass in diesen Jahren in Deutschland das Fleckfieber grassierte, vielleicht neben weiteren Infektionskrankheiten wie der Grippe. Der große Physiker Lichtenberg schreibt in einem Brief am 11. März 1772: »Es herrscht jetzo Hier eine Krankheit, woran die Leute gemeinglich nur zwei Tage krank sind, den dritten gehn sie gewöhnlich wieder aus.«91 Von weiteren Infektionskrankheiten war damals die Rede, namentlich vom Typhus abdominalis, von Ruhr und anderen Dysenterien und von den Pocken,92 die vor allem jungen Menschen gefährlich wurden, denn wer sie durchgemacht hat, der ist in der Regel dagegen immun. Auch der Ergotismus scheint damals massenhaft in Erscheinung getreten zu sein, eine Krankheit, die man auch als »Kriebelkrankheit« bezeichnete. Diese Krankheit, die Vergiftung mit Mutterkorn, tritt dann auf, wenn Roggenmehl gegessen wird, das von einem Pilz (Secale cornutum, Claviceps purpurea)  verunreinigt ist, der ErgotAlkaloide enthält.93 Diese Kranken zeigen »die schreklichsten Contractionen unter heftigen Schmerzen und Beklemmungen in der Herzgrube, welche den Kranken bald alle Besinnung raubten, und sie innerhalb weniger Tage hinwegrafften, nachher aber wurden in

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

einem mehr chronischen Verlauf, unter Zufällen [d. h. Symptomen], die schon bey der bloßn Beschreibung als eins der erbarmenswerthesten Bilder menschlichen Elends erscheinen, die Unglücklichen Monate lang gequält«, schreibt ein zeitgenössischer Arzt.94 Der Anstieg der Sterblichkeit Die deutsche Bevölkerung schrumpfte in diesen Jahren. Verschiedene Landesteile und Städte waren sehr unterschiedlich betroffen. In der preußischen Residenzstadt Berlin stieg die Sterblichkeit im Verlauf der Hungersnot sprunghaft an, von 29,2 Promille (1769) auf 43,7 (1771) und 66,0 Promille (1772).95 Als Todesursache wurden in Berlin sehr häufig »Brustkrankheiten«, »Auszehrung«, »hitzige Fieber«, »Schwindsucht« und »Geschwulst« genannt.96 Arand beziffert auch die Sterblichkeit in einzelnen Ortschaften des Eichsfelds, wo die Sterblichkeit sich zwischen 1769 und 1771 nahezu verdoppelte und in einzelnen Ortschaften noch dramatischer anstieg. An einem Ort, Küllstatt, starben 1769 16 Personen, 1770 waren es 26, 1771 aber 145. Arand führt sechs Ortschaften im Eichsfeld namentlich an, in denen 1769 insgesamt 113 Menschen verstarben, 1772 wurden hier 1032 Tote gezählt.97 In Sachsen starben 1772 doppelt so viele Menschen wie in den Jahren davor, 68,5 Promille seiner 1,63 Millionen Einwohner. Im Erzgebirge und im Vogtland lagen die Verluste bei 93 bzw. 83 Promille.98 Auch im Nachbarland Böhmen könnte 1770/72 etwa ein Zehntel der Bevölkerung dem Hunger und den Seuchen erlegen sein. »Die meisten Todesfälle sind aller Wahrscheinlichkeit nach dem Flecktyphus anzulasten.«99 Natürlich sanken in dieser Zeit auch die Geburten und vergrößerten somit den Bevölkerungsrückgang. Der Augsburger Johann Georg Bullmann spricht davon, dass die Seuche in seiner Heimatstadt »in einer kurzen Zeitfrist viele hundert Menschen in das Grab niederstreckte«. Zwischen 1770 und 1772 sollen allein in Augsburg »eine Anzahl von beynahe 3000. erblasster, meistentheils durch diese epidemische Seuche dahingerafft« worden sein,100 also fast zehn Prozent seiner Bevölkerung. Die historische Forschung nennt allerdings etwas niedrigere Zahlen, demnach starben 1770 in Augsburg 1424 Menschen, im Jahr darauf 1740 und 2611

59

60

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

im Jahr 1772. Das wäre ein Anstieg (1770/72) um 76 Prozent. Die Zahl der Eheschließungen fiel von 1770 bis 1771 von 260 auf 174, also um ein Drittel, die der Geburten von 1065 (1770) auf 734 (1772).101 Auch im Kurfürstentum Bayern stieg die Sterblichkeit stark an, mancherorts verdoppelte sie sich.102 In den 1770er-Jahren nahm die bayerische Bevölkerung deutlich ab.103 In Erding, einem Marktflecken mit rund 1700 Einwohnern, starben 1770 bereits 98 Menschen, die Sterblichkeit war mit 57 Promille sehr hoch. Aber sie stieg dann noch mehr an: 1772 starben 180 Erdinger, in diesem einen Jahr also mehr als zehn Prozent der Einwohnerschaft.104 In der Stadt Erlangen trat 1771 gleichfalls der »Hungertyphus« in Erscheinung. 1770 waren in Erlangen 355 Menschen gestorben, 1771 waren es 578 und im folgenden Jahr über 600.105 In Nürnberg war die Sterblichkeit in den Jahren 1771 und 1772 gleichfalls deutlich höher, die Gebürtlichkeit niedriger als in den Jahren davor. Im Verlauf der großen Krise nach 1770 fiel in Nürnberg die Zahl der Neugeborenen von 1070 (1770) auf 855 (1771) und weiter auf 602 (1772). Die Zahl der Verstorbenen stieg von 1106 (1770) auf 1833 (1771) und 1889 (1772).106 Der Anstieg der Sterblichkeit setzte im Mai ein und erreichte seinen Höhepunkt im Dezember.107 Ganz ähnlich verteilten sich die Bestattungen auf dem Kirchhof von St. Johannis.108 Der Anteil der Kinder unter den Verstorbenen war 1771/72 mit 30 Prozent außerordentlich niedrig, er hatte 1767 bis 1769 stets über 50 Prozent gelegen und davor nur wenig darunter.109 Die Seuchen trafen also hauptsächlich erwachsene Personen. Hunger und Infektionskrankheiten kosteten die Stadt Nürnberg rund 1500 zusätzliche Tote. »In den Jahren 1771. und 1772 wüthete ein epidemisch-hitziges Faulfieber auf das höchste«, so faßte der Nürnberger Historiker K. S.  Kiefhaber (1762–1837)110 die Situation zusammen, »und raffte in diesen beyden Jahren allein in der Stadt 3722 Personen von allen Altern und aus allen Ständen hinweg; besonders aber wurden viele Geistliche, in der Stadt und auf dem Lande, traurige Opfer dieser grausamen Seuche.«111 Der Nürnberger Pfarrer und Chronist Georg Ernst Waldau (1745–1817)112 nennt einige Zahlen: Nürnberg, die Stadt samt ihrem sehr großen Landgebiet, zählte »47 Stadtgeistliche«, davon verschieden zwischen 1765 und 1790 insgesamt 108,

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

also im Durchschnitt vier pro Jahr.113 1770 starben aus diesem Kreis nur zwei Personen, 1771 waren es elf, 1772 weitere neun.114 Auch der Umstand, dass so viele Geistliche starben, unterstreicht den kontagiösen Charakter der Krankheit. Die Geistlichen kamen viel herum, sie besuchten Kranke und zogen sich hier die Erreger zu. Im Jahr 1772 war die Sterblichkeit in Nürnberg noch etwas höher als im Jahr davor; als Ursachen wurden dieselben Krankheiten genannt wie 1771. Die Sterblichkeit war in den ersten fünf Monaten noch stark erhöht, seit Juni fiel sie langsam ab. Die Größe von Nürnbergs Bevölkerung ist für diese Zeit nicht genau bekannt, sie dürfte 1770 wenig über 30 000 gelegen haben. Vor 1770 wurden in Nürnberg im längeren Durchschnitt 1046,8 Kinder pro Jahr geboren, in den folgenden dreißig Jahren nur noch 941,7 pro Jahr. Ähnlich war der Rückgang bei den Verstorbenen: Vor 1770 starben jährlich 1213,8 Personen, danach 1105,8 pro Jahr.115 Der Rückgang betrug also bei der Sterblichkeit wie bei der Gebürtlichkeit fast zehn Prozent. Da man weder von einer nachlassenden Natalität noch von einer sinkenden Mortalität ausgehen kann, ist zu vermuten, dass die Nürnberger Bevölkerung in diesem Zeitraum um etwa ein Zehntel zurückgegangen ist. Bei Nürnbergs Übergang an das Königreich Bayern (1806) ergab eine Zählung 25 176 Einwohner. Die epidemisch auftretenden Infektionskrankheiten dieser Zeit vermochten nicht zu allen Dörfern und Marktflecken vorzudringen, vor allem entlegene Regionen blieben verschont. In dem sehr gründlich erforschten Ort Laichingen auf der Schwäbischen Alb war kein Anstieg der Sterblichkeit zu verzeichnen.116 Trotzdem liegt die Vermutung nahe, dass die Territorien, die später dem Deutschen Bund angehörten, einen gewaltigen Aderlass erlitten, fast ein Zehntel der deutschen Bevölkerung könnte der Krise der Jahre 1770/72 zum Opfer gefallen sein. Andere Auswirkungen der Hungersnot Die Hungersnot von 1770/72 zeitigte auch bedeutende soziale und individuelle Folgen. Die geringen Ernteerträge erhöhten den Anteil, den der Einzelne von seinem Lohn für Nahrungsmittel ausgeben musste. Die Unterschichten wuchsen in der zweiten Hälfte

61

62

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

des 18.  Jahrhunderts stark an,117 indes der einzelne Mensch an Größe und Körpergewicht verlor. Wohlhabende bekamen Ende des 18. Jahrhunderts sehr viel mehr und bessere Kost als Arme.118 Nach der Jahrhundertmitte (1750) wurden die Menschen nicht mehr so groß wie die Generation davor. Über den Hunger kann man keine quantifizierenden Aussagen machen, wohl aber über Körperhöhe.119 Für Teile der k. u. k. Monarchie liegen Daten über Rekrutenmessungen vor: In Galizien nahm die Körperhöhe der zwischen 1750 und 1820 rekrutierten Soldaten um zehn Zentimeter ab, von 168,9 auf 158,8 cm.120 Für Süddeutschland gibt es für so lange Beobachtungszeiträume keine Untersuchungen; aber zwischen den Jahrfünften 1765/69 und 1770/74 stellt Jörg Baten einen Rückgang der Größe der Rekruten um 1,1 cm fest.121 Die Zahl der Menschen in Europa nahm zu, doch der Einzelne blieb jetzt kleiner und schmächtiger – es könnte scheinen, als ob die Biomasse Mensch nicht mehr zunahm. In den Jahren des Hungers schwollen die Bettlerheere an, viele zogen in äußerst dürftiger Bekleidung umher.122 Mehr als die Hälfte der Bevölkerung galt in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts als unterbäuerlich, also auf Lohnarbeit oder Almosen angewiesen. Diese Armen waren in Franken und Schwaben reichlicher anzutreffen als in Kurbayern. In Bayern waren 6,3 Prozent um diese Zeit ständig auf Armenfürsorge angewiesen, viele lebten auf der Straße. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machte die landlose Unterschicht rund ein Siebtel der Bevölkerung aus.123 Die Zahl der Räuber und Vaganten nahm schreckliche Ausmaße 124 an. »Man sieht ganze Scharen von Bettlern, die an den Beinen geschwollen sind und im Gesicht verdorrt. Sie ziehen durch die Gassen und bitten fußfällig und flehentlich um einen Bissen Brot, und an wie viele Häuser kamen sie nicht, ehe sie eins finden«, heißt es in einer Quelle aus Sachsen.125 Das Bandenwesen, vor allem in den großen Wäldern der deutschen Mittelgebirge, scheint um diese Zeit »seinen Höhepunkt erreicht zu haben«.126 Zwischen den Bettlerscharen und den Epidemien bestand vermutlich eine kausale Beziehung: Umherziehende Menschen auf der Suche nach Almosen oder Arbeit schleppten die Keime umher und breiteten die Seuchen aus.127 Nicht zuletzt aus diesem Grund wur-

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

den die Bettler in ihrer unsauberen Kleidung von den Obrigkeiten so ungern in ihre Territorien eingelassen. Viele Territorialgewalten wiesen die Bettlerheere einfach ab. Hat der Hunger die Menschen anfälliger gemacht für Infektionskrankheiten? Für einzelne Krankheiten trifft dies zu, bei anderen – auch bei den seinerzeit so stark verbreiteten Pocken – nur wenig, sie treten auch in normalen Zeiten sehr aggressiv auf und verursachen eine hohe Sterblichkeit.128 Die vermehrten Ausgaben für Nahrungsmittel verursachten auch den öffentlichen Kassen ein Defizit. Im Kurfürstentum Bayern war 1773 die Situation noch immer durch Missernten und Kornknappheit gezeichnet; der bayerische Staat musste weitere Gelder aufnehmen und sich noch mehr verschulden. In den zehn Jahren seit 1763 waren die Staatsschulden in Bayern um 4,1 Millionen angewachsen, die Privatschulden des Kurfürsten um 3 Millionen. Das Kurfürstentum Bayern beabsichtigte, seine Armee aufzustocken, dies wurde durch die Finanznöte verhindert.129 Bald kam Bayern auf die Idee, »einen drohenden Staatskonkurs vorzutäuschen.«130 »Die Folge dieser das ganze 18. Jahrhundert herrschenden Zerrüttung der Finanzen in Bayern war ein erheblicher Rückgang der Bevölkerung.«131 Die Armut war weit verbreitet. Die Landbevölkerung lief barfuß, einzelne auch im Winter. Im Nachbarland Österreich war die Not nicht weniger groß.132 Kaiser Joseph II. nahm diese Not zum Anlass, nach dem Tod seiner frommen Mutter Maria Theresia (Nov. 1780) die Säkularisation geistlicher Besitzungen vorzunehmen: In den vier Jahren nach 1783 wurden mehr als 700 Klöster aufgehoben, fast alle Orden waren davon betroffen. Joseph II. wollte später noch weitere 450 Klöster aufheben lassen, einzig und allein sein Tod (1790) verhinderte dies.133 Die öffentliche Hand verarmte immer mehr, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden lediglich drei neue Universitäten gegründet,134 es mangelte an Studenten. Immer weniger junge Menschen konnten es sich leisten, mehrere Jahre an einer Universität zu studieren. Der Anteil der Studierenden in Deutschland sank im Verlauf dieses Saeculums von 2,19 auf 0,75 Prozent der Bevölkerung.135 Wirtschaftliche Not begünstigt gesellschaftliche Spannungen, in solchen Zeiten gingen Regierungen und Einzelne vermehrt gegen

63

64

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Randgruppen vor, und im 18. Jahrhundert waren dies nicht selten Menschen, die man als Hexen bezeichnete.136 Zwar hatte schon in den Jahrzehnten davor die Aufklärung diese Form von Aberglauben scharf bekämpft, wie diese Geistesrichtung überhaupt bemüht war, den sozialen Umgang auf eine rationalere Basis zu stellen, doch im Gefolge der Notzeiten der 1770er-Jahre kam es noch einmal zu einer Verurteilung einer Hexe, im Jahr 1775 in Kempten. Das 18. Jahrhundert schuf prächtige Barockbauwerke, die herrlichsten Schlösser und Kirchen, sie stehen im Kontrast zur allgemeinen Armut; doch ließ die Baufreude gegen Ende des Jahrhunderts merklich nach, die bedeutendsten Bauwerke waren um 1770 vollendet. Die weltweiten Folgen der schweren Notzeiten Die Jahre 1770/72 brachten »die wohl größte kontinentaleuropäische Hungerkatastrophe«,137 sie berührte offenbar weite Teile der nördlichen Hemisphäre. Von einer Hungersnot in Bengalen, die Millionen von Menschen den Tod brachte, wussten bereits die Gelehrten des 18.  Jahrhunderts.138 Der Nürnberger »Friedens- und Kriegs-Courier« berichtete unter dem 8. Mai 1771 davon, dass in Indien seit zehn Monaten eine Hungersnot herrschte. Englische Geschichtswerke nennen heute für die in Indien Verhungerten sehr unterschiedliche Zahlen, einige sprechen von fünf Millionen Todesopfern.139 In Indien starb angeblich sogar ein Drittel der Bevölkerung infolge von »serious crop failures for two successive seasons […] largely from starvation«.140 Die in Deutschlands Nachbarland Polen grassierende Seuche wurde in diesen Jahren immer wieder im Nürnberger »Friedensund Kriegs-Courier« erwähnt, denn solche Epidemien können sich ausbreiten und auch die Nachbarländer bedrohen, ja die Seuche in Polen diente sogar der ersten polnischen Teilung als Vorwand.141 Über die mit hoher Sterblichkeit einhergehende Epidemie berichtete diese Tageszeitung erstmals im August 1770. Die Redaktion meinte, die Sterblichkeit rühre eher »von Hunger und Elend her« (2.  Oktober 1770). Trotzdem wurde ein Cordon sanitaire gezogen, hieß es im Oktober.142 In diesem Monat reiste Prinz Heinrich, der

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

Bruder des Preußenkönigs Friedrichs II., nach St. Petersburg, »um dort die Teilung Polens einzufädeln«.143 Die Epidemie in Osteuropa nahm auch 1771 in dieser Zeitung einen großen Platz ein. Ende März 1771 hieß es aus Warschau, dass »die Pest an allen Orten nachgelassen« habe (15.  April 1771). In Nürnberg bestanden seit Jahresanfang »Verfügungen wegen der in einigen Provinzen des Königreiches Pohlen und andern angränzenden Ländern eingerissenen leidigen Contagion von ansteckenden Seuchen«.144 Im Mai 1771 tauchten in Hamburg erstmals Gerüchte von einer »Pest« in Moskau auf. In Warschau kam es im Oktober 1771 zu Unruhen wegen der »Pest« in Polen, in Moldau und anderen Gegenden (7. Nov. 1771). Die Nürnberger Tageszeitung spielte die in Deutschland grassierenden Seuchen eher herunter, berichtete aber häufig über ansteckende Krankheiten anderswo. In Straßburg richtet derweil die »rothe Ruhr« große Verwüstungen an (16. Okt. 1771). Auch in weiten Teilen des Osmanischen Reiches wütete der Tod, in der Hauptstadt »Constantinopel« seien mehr als 40 000 Menschen gestorben, hieß es (6. Nov. 1770). »Die Pest greift erschröcklich in dieser Stadt um sich«, schrieb der Nürnberger »Friedens- und Kriegs-Courier« aus Smyrna (24. Aug. 1771), sie greift noch »immer mehr um sich«.145 In Konstantinopel gab es einen Fall von Pest im Palast des französischen Botschafters (10. Jan. 1772). Das Osmanische und das Russische Reich standen seit 1768 im Krieg gegeneinander, die umherziehenden Heere breiteten die Seuche leicht aus.146 Aus Moskau wurde bald gemeldet, dass »die leidige Seuche der Pest in der Stadt so gewaltig um sich gerissen habe, daß in Zeit von 10.  Tägen bey 12.000 Menschen gestorben« (9.  Dez.  1771). Aus Russlands Hauptstadt, St.  Petersburg, war von »Theurung« und Getreidemangel zu lesen (22. Okt. 1771). Die in Osteuropa wie in Russland grassierende schwere Seuche wird gewöhnlich als »Pest« bezeichnet.147 Ob es sich tatsächlich um die von dem Bakterium Yersinia pestis verursachte epidemische Infektionskrankheit handelte, sei dahingestellt, immerhin fehlte in Moskau eine wichtige Begleiterscheinung der Pest, das Rattensterben,148 und die Sterblichkeit war so hoch, dass die Diagnose Pest gleichfalls fraglich erscheint. Schon die Zeitgenossen bezweifelten,

65

66

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

dass es tatsächlich die Pest war, schließlich war dieses Übel seit langer Zeit in Moskau nicht mehr aufgetreten, was zugleich bedeutete, dass die Ärzte damit nicht vertraut waren. Der Leitende Moskauer Stadtarzt, Dr. Franz Andreas Rinder, bezweifelte, dass in Moskau tatsächlich die Pest regierte; er dachte eher an Fleckfieber.149 Der wichtigste Infektionsherd in Moskau war eine alte Wollmanufaktur, wo seit März 1771 unter den Arbeitern immer wieder ungeklärte Todesfälle auftraten. Von den 730 Arbeitern waren bis Mitte März 90 gestorben. Vorsichtshalber ließ die Polizei eine Absperrung errichten. Der April 1771 war in Moskau empfindlich kalt, und auch in den ersten Maitagen herrschte strenger Frost. Im ersten Quartal 1771 berichtete der Klerus von Moskau von 1614 Toten in der ganzen Stadt, 17 pro Tag. Nur 26 davon waren »plötzlich« verstorben. Seit April stieg die monatliche Sterblichkeit an, sie betrug 778 im April, 878 im Mai, 1099 Tote im Juni. Die tägliche Sterblichkeit stieg im Juni von 17 bis auf 70 an.150 Anfang August schoss die Sterblichkeit plötzlich in die Höhe, von 17 auf 50 Tote pro Tag, bald sogar auf mehr als 200. Die Sterblichkeitskurve stieg atemberaubend empor, in der zweiten Augusthälfte in der Stadt Moskau auf 300 und Ende August sogar auf 470  Tote pro Tag. Jetzt starben auch viele Dienstboten aus fürstlichen Häusern, deren Herrschaft sich längst auf ihre Landgüter zurückgezogen hatte. In Moskau blieb es warm in diesen Tagen, ja sogar heiß. Immer mehr Menschen flüchteten aus der Stadt. Und die Sterblichkeit stieg noch immer, Anfang September machte sie einen weiteren Ruck nach oben, auf 500 am Tag und gegen Monatsmitte gar auf 900. Die Menschen waren von Angst erfüllt. Sie empfanden ohnmächtige Wut darüber, dass die Großkaufleute und die Wohlhabenden die Stadt verlassen oder sich in ihren Palästen eingeigelt hatten, während auf den Straßen der Tod regierte. Die Reichen zogen sich die Pest nicht zu, vermuteten sie, weil ihre Wohnhäuser aus Stein gebaut waren. Die Seuche tötete die kleinen Leute. Dies verstärkte den Argwohn der breiten Massen. Den Ärzten trauten sie nicht, denn sie waren Ausländer, und sie waren hilflos. Die städtische Polizei war unterbesetzt, es gab in Moskau zu Beginn der Seuche 427 Polizisten, davon starb die Hälfte noch vor Jahresende.

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

Mitte September als die Sterblichkeit mit über 900 Toten pro Tag auf dem Höhepunkt stand, erhob sich die Moskauer Bevölkerung. Ihr Grimm richtete sich zuerst gegen die Kirchenoberen, deren Verbindungen zu den jenseitigen Mächten offenbar nicht eng genug waren, dass sie hätten die Sterblichkeit anhalten können. Einige Klöster wurden von den Aufständischen gestürmt und geplündert, die Mönche misshandelt, einzelne getötet. Die Aufständischen töteten auch den Erzbischof von Moskau. In St. Petersburg erfuhr Zarin Katharina von diesem Aufstand am 18. September 1771. Die Zarin folgerte aus allem, was sie erfuhr, dass der Aufstand blind erfolgt war, spontan, unbedacht, ohne große Überlegungen oder Ziele. Die meisten der Aufständischen kamen aus der Schicht der leibeigenen Dienstpersonen.151 Im Oktober 1771, als es kühler wurde, ließ auch die Sterblichkeit in Moskau nach, sie stand aber immer noch zwischen 600 und 700  Toten pro Tag. In der Nacht vom 20.  zum 21.  Oktober fiel in Moskau der erste Schnee und erstickte die tödliche Seuche. In der Stadt Moskau stieg die Anzahl der Verstorbenen von 16 700 bzw. 15 500 in den Jahren davor auf über 52 800 im Jahr 1771 an, also fast auf das Dreieinhalbfache. Allein an der Seuche dürften rund 37 000 Menschen gestorben sein. Wenn in Moskau in dieser Zeit tatsächlich nur noch 150 000 – statt üblicherweise 250 000 – Einwohner lebten, dann hieße das, dass jeder vierte Moskauer gestorben wäre. Einen ähnlichen Anstieg der Sterblichkeit wie in Moskau gab es allerdings nirgendwo sonst in den Städten ringsumher, die zum Bezirk Moskau gehörten. In Jaroslawl stieg die Sterblichkeit auf mehr als das Doppelte, in Wladimir auf knapp das Doppelte, in Kostroma war die Sterblichkeit 1771 etwa um die Hälfte höher als sonst, in Kaluga zeigte sich überhaupt keine Zunahme, in der Klosterstadt Susdal war sie gering. Im gesamten Bezirk war die Sterblichkeit 1771 mit insgesamt 95 000 Toten in diesem, gegenüber 42 500 Toten im Vorjahr, weit mehr als doppelt so hoch wie 1770.152 An der unteren Wolga kam es im Herbst 1773 im Gefolge der Seuche und wohl auch des Hungers zu einem großen Bauernaufstand. Er breitete sich in dem Gebiet zwischen Ural und Wolga großräumig aus, sein Anführer war der Kosake Jemeljan Pugatschow. Viele Un-

67

68

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

zufriedene waren daran beteiligt. Der Anführer wurde im folgenden Jahr gefangengesetzt und grausam hingerichtet.153 Die Auswirkungen des Hungers und der Not waren auch auf der englischen Insel zu spüren, sie äußerten sich hier, wie in Mitteleuropa, in Missernten und hohen Getreidepreisen; innerhalb von drei Jahren verdoppelte oder verdreifachte sich in Schottland der Preis für Hochlandrinder.154 Die Pachtgebühren für Bauernhöfe verdoppelten sich.155 Die Sterblichkeit stieg an, die Bevölkerungszahl sank.156 In Schottland fiel sehr viel Schnee, viele Rinder starben aus Mangel an Futter. »In the year [seventeen-]seventy-one they had a severe season, remembered by the name of Black Spring, from which the Island has not yet recovered«,157 schrieb der englische Dichter Samuel Johnson, der im Frühjahr 1773 das Hochland bereiste. In der schottischen Hauptstadt Edinburgh wurden in diesem Jahr viele Bettler gesehen, proportional nicht weniger als in London.158 Niemand verlässt seine Heimat gerne, schrieb Johnson; aber jetzt kehrten viele Schotten dem Hochland den Rücken, zwischen 1763 und 1775 wanderten 20 000 aus dem Hochland und andere Inselbewohner aus.159 Sie zogen in die Neue Welt, auf der Suche nach einem besseren Leben. Das Bruttosozialprodukt in England und Wales schrumpfte. Im Jahr 1770 belief es sich noch auf 17,5 Pfund pro Kopf der Bevölkerung, 1775 stand es bei 13 Pfund. Es fiel dann erneut in der zweiten Hälfte der 1780er-Jahre von 15,6 (1785) auf 12,5 Pfund (1790).160 Auch Skandinavien war von der Hungersnot und der erhöhten Sterblichkeit betroffen. In Dänemark nahm die Bevölkerung seit 1769 »ziemlich stetig ab«.161 Noch stärker waren die demographischen Verluste in Norwegen und Schweden, die von der Seuchensterblichkeit sogar sehr stark erreicht wurden, allerdings erst etwas später, nämlich 1773. In Norwegen starben in den späten 1760ern und 1772 meist zwischen 16 000 und 20 000 Menschen, 1773 waren es 35 362.162 Selbst die Neue Welt blieb nicht frei von den Übeln. In der Karibik wurde zur Jahresmitte 1771 erneut von lang anhaltenden Erdstößen berichtet.163 Der Winter 1772/73 war an der amerikanischen Ostküste sehr kalt, in der Stadt New York fror der East River zu, so

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

dass man auf dem Eis nach Brooklyn hinüberlaufen konnte. Die Lage der Armen in der Stadt wird als verzweifelt geschildert.164 Und Seuchen grassierten gleichfalls in Nordamerika.165 Infolge der Hungersnot zogen viele Menschen vom alten Kontinent in die Neue Welt, wo für jeden Einzelnen viel größere Agrarflächen zur Verfügung standen. Der vermehrte Zustrom von Auswanderern zeitigte auch Folgen für das Bewusstsein der Bewohner in den britischen Kolonien in Nordamerika: Die Bevölkerung in den 13 britischen Kolonien wuchs in diesen Jahren schneller als sonst, von 1 850 000 im Jahr 1765 auf mehr als 2 500 000 im Jahr der Unabhängigkeitserklärung (1776), sie nahm also in elf Jahren um mehr als ein Drittel zu. Vor allem zwischen 1770 und 1773 »immigrants arrived in especially large numbers. […] The sharp increase in population […] lent support to arguments, especially popular after 1774, that Americans would some day outnumber Englishmen, and that there was ›something absurd in supposing a continent [sc. Nordamerika] to be perpetually governed by an island‹«.166 Offenbar waren in den 1770er-Jahren weite Teile der nördlichen Hemisphäre von der schlechten Witterung betroffen. Die östlichsten Teile der Alten Welt, der japanische Archipel, scheint von den Verwüstungen – vor allem aber von einer erhöhten Sterblichkeit infolge von Seuchen – verschont geblieben zu sein. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn Japan lag sehr weit im Osten und war seinerzeit, vom 17.  bis in die Mitte des 19.  Jahrhunderts, für den Westen fast völlig verschlossen. In Japan, einem Land mit einer, für eine vormoderne Nation, erstaunlich niedrigen Sterblichkeit, spielten Seuchen damals offenbar eine geringere Rolle.167 Auch anderswo scheinen die Unbilden der 1770er-Jahre ihre Spuren hinterlassen zu haben. Der deutsche Weltreisende Georg Forster, der damals als Gefährte von James Cook an einer Weltumsegelung teilnahm, schreibt in seinem Reisebericht: »Als wir im Jahr 1775. auf unserer Rückkehr nach England wieder an das Vorgebürge der guten Hoffnung kamen, erzählte man uns, daß diese Inseln in den beyden vorhergehenden Jahren von einer allgemeinen Hungersnoth betroffen worden wären.«168

69

70

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Reformbegehren und politische Opposition Der Lebensstandard im Ancien Régime war extrem niedrig, nur ein zynischer – oder ein naiver – Angehöriger der kleinen Oberschicht konnte im verklärten Rückblick von der »douceur de vivre« (Fürst Talleyrand, geb. 1754) sprechen.169 Das Nettosozialprodukt pro Kopf (in Preisen von 1913) für das Jahr 1780 wird für Deutschland auf 240 Mark pro Kopf geschätzt, das war ein Viertel von dem von 1913.170 Nach der Hungersnot von 1770/72 waren die öffentlichen Kassen leer, auch die meisten privaten, es herrschte Auftragsmangel und Arbeitslosigkeit. In den späteren 1770er-Jahren begann eine lang anhaltende wirtschaftliche Depression.171 »Spätestens seit den 1770er Jahren« gab es in der europäischen Wirtschaft den Pauperismus, eine Erscheinung, »die von da an bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eine düstere Konstante des Wirtschaftslebens blieb«.172 Es mehrten sich im letzten Viertel des Jahrhunderts die politischen Proteste, die mit Verlangen nach Veränderung einhergingen.173 Schon im Jahrzehnt nach 1770 nahmen, und keineswegs nur in den Städten, die Krawalle und Zusammenstöße mit den Kräften der Obrigkeit zu, gerade »in den meisten Reichsstädten herrschte lebhafte Unzufriedenheit über die Höhe der Abgaben und über das selbstherrliche Gebaren der Ratsgeschlechter, die häufig auf Kosten der Bürger lebten.«174 In den dann folgenden Jahrzehnten wuchsen Proteste und Streikbewegungen noch mehr an. Gerade seit den 1770er-Jahren entstanden in Mitteleuropa Geheimgesellschaften, sie waren meist Ausdruck der Unzufriedenheit mit den öffentlichen Zuständen,175 die wiederum die Folge der allgemeinen Not waren. Vielerorts bildeten sich Lesegesellschaften, deren Ziel es war, politische Themen zu erörtern: Vor 1770 waren es nur ein Dutzend, in den folgenden dreißig Jahren, bis zum Ende des Jahrhunderts, sind schon an die 430 Lesegesellschaften nachweisbar,176 die von den Behörden in vielen deutschen Staaten bald unterdrückt wurden, denn sie galten der Obrigkeit als subversiv. Es entstanden Salons und politische Stammtische, Zusammenkünfte in Gastwirtschaften und Cafés – Vorläufer der politischen Parteien.177 Seit den 1770er- und 1780er-Jahren nahm die Zensurtätigkeit gegenüber dieser Publizistik der Unzufriedenen und den neuen Formen

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

politischer Organisation zu. Vermehrt traten nun »Strömungen zutage, die im Sinne der Aufklärung den Ideen des Fortschritts auch auf politischem Gebiet Geltung zu verschaffen suchten«.178 Bald trat sozialistisches Gedankengut in Erscheinung.179 Da und dort gab es gewaltsame Erhebungen, Anzeichen großer Unzufriedenheit mit den Herrschenden. Krawalle, Hungerunruhen, Aufstände gab es vielerorts, selbst östlich des Rheins, allerdings scheinen sie hier »zahlenmäßig viel geringer« ausgefallen zu sein als in Frankreich oder England;180 aber es fanden auch in Deutschland und den Niederlanden mehrere »lokale Erhebungen und Unruhen« statt.181 Im Königreich Böhmen, wo zwischen 1771 und 1773 ein bedeutender Anteil der Bevölkerung in völlige Verelendung geraten oder gestorben war, kam es 1774 zu einem großen Aufstand der Leibeigenen.182 Da und dort in Alt-Europa begehrten die Bauern auf, es kam zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.183 Die Bevölkerung verlangte Neuerungen nicht nur von ihrer Obrigkeit, sie legte auch selbst Hand an, vor allem in der Landwirtschaft. Der Hunger blieb, denn die Ernten am Ende des 18. Jahrhunderts waren kärglich, die Witterung kühl. Hunger und Not nahmen bedrohliche Formen an, die Landwirtschaft musste erneuert werden, denn sie lieferte das tägliche Brot. Die Anzahl an landwirtschaftlichen Schriften nahm explosionsartig zu.184 Einzelne Regierungen trieben jetzt vermehrt den Anbau neuer Pflanzen voran, z. B. den der Kartoffel, um dadurch den Energiehaushalt zu steigern. Der Kartoffelanbau bekam von der Hungersnot der frühen 1770er-Jahre und  – mehr noch, von der späteren, von 1816/17 – einen starken Impuls.185 In England wüteten in diesem unruhigen Zeitalter, zu Beginn der 1780er-Jahre, die Gordon Riots. Diese Aufstände hielten lange an und kosteten mehrere Hundert Menschenleben. Dabei ging es in erster Linie nicht um wirtschaftliche Nöte, sondern um religiöse und politische Belange, doch erscheint es fraglich, ob es in weniger unruhigen Zeiten zu derartigen irrationalen und gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen wäre. In Großbritannien fand man die überzeugendste Antwort auf diese Krise: die Industrialisierung. Sie wurde etwa in diesen Jahren begonnen und hob innerhalb weniger Jahrzehnte den Nahrungsspielraum und die Tragfähigkeit der Britischen Inseln stark an.

71

72

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Kritische Zuspitzungen Es kamen weitere böse Jahre für den größten Teil des Kontinents. Es häuften sich in dieser Zeit die kalten Winter und die nassen Sommer mit unergiebigen Ernten. Der Winter von 1775/76 war in Süddeutschland unerhört kalt, in der Nähe von Fürth fielen »Krähen und andere Vögel […] todt aus der Luft und in den Waldungen hatte man Hirsche und anderes Wild erfroren gefunden«.186 Seit Mitte der 1770er-Jahre waren auf dem gesamten Kontinent Anzeichen einer allgemeinen Stagnation zu beobachten. »Die gewerblichen Märkte erholten sich nicht mehr von der Zerrüttung der zurückliegenden Hungerzeit, der bescheidene Massenwohlstand der früheren Jahrzehnte ging ebenso zurück wie die Massennachfrage nach entbehrlichen Gütern […] Seit 1778 entwickelte sich eine langdauernde Rezession.«187 Die frühen 1780er-Jahre brachten weiten Teilen des Kontinents weitere Schrecken. Im Winter 1781/82 wütete in Mitteleuropa eine schwere Grippeepidemie,188 die mit hoher Sterblichkeit einherging, in der Stadt Nürnberg stieg die Zahl der Verstorbenen um 28 Prozent an189 – denselben prozentualen Anstieg der Mortalität erlebte das Deutsche Reich erst wieder mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 1914. Es folgten in Kontinentaleuropa zwei sehr kalte, lange Winter, 1783/84 und 1784/85. Ihre Ursache ist in einem Ausbruch isländischer und zugleich italienischer Vulkane zu suchen, die seit Jahresmitte 1783 kräftig spien.190 Der isländische Vulkan Laki warf im Verlauf von mehreren Monaten mehr als zwölf Kubikkilometer Lava aus.191 Der Ausgangspunkt dieser Naturkatastrophe, Island, wurde 1783 und 1784 von schweren Verwüstungen heimgesucht. Abertausende von Tieren verhungerten, viele Isländer starben: Die Sterblichkeit stieg von knapp 30 auf 114 Promille im Jahr 1784 und auf 134 Promille im folgenden Jahr.192 Dem kalten Winter von 1783/84 folgten in weiten Teilen große Überschwemmungen, die nicht nur entlang der großen Ströme, sondern auch im Umkreis der meisten Flüsse beträchtliche Schäden anrichteten.193 Da und dort kam es zu »schreckliche[n] Verheerungen«194. In Süddeutschland waren die Ernten davon nicht sehr stark beeinträchtigt; doch »gab es auch wieder Striche, in welchen

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

die Geld- und Garten-Gewächse ausdorrten und kaum den vierten Theil ihrs gewöhnlichen Umfangs erreichten«.195 Schluss »Regenten sind verpflichtet, alle ihre Kräfte und Bemühungen dahin zu richten, ihre Unterthanen glückselig zu machen, ihre Heerden zu schützen und zu weiden, damit sie gegen feindliche Anfälle gesichert seyn, und daß es ihnen weder an Unterhalt noch einer sonst nöthigen Bedürfniß fehlen möge«, schrieb ein Zeitgenosse, der protestantische Feldprediger Johann Peter Süßmilch.196 Und weiter: »Nichts kann auch mehr Menschen tödten, und Länder verwüsten, als der Hunger.«197 Nach 1770 hatten offenbar immer weniger Menschen in Europa den Eindruck, dass die Regenten dieser Pflicht nachkamen. Die Jahre nach 1770 bedeuten politisch wie auch sozial eine Wasserscheide, »um 1770 beginnt eine neue Epoche« (Werner K. Blessing).198 Die Armut wurde zum Verfassungsproblem, es drohte der Bürgerkrieg. Einem Diktum Fernand Braudels zufolge bekam der Landmann die Launen der Witterung härter zu spüren als die Willkür der Fürsten. Die Witterung war unabänderlich, doch gegen die Willkür der Obrigkeit konnte man sich zur Wehr setzen, leichter und wirkungsvoller als gegen die Naturgewalten. Das französische Königreich, das kurz zuvor, am Ende des Siebenjährigen Krieges, von England seiner nordamerikanischen Besitzungen beraubt worden war, rächte sich an Großbritannien, indem es die Unabhängigkeitsbewegung der englischen Kolonien in Nordamerika tatkräftig unterstützte. Dieser Krieg kostete Frankreich noch einmal beträchtliche Summen.199 1783 erkannte London die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika an, kurz darauf steckte Frankreich selbst in der Krise. »Die Finanzkrise des [französischen] Staates wurde zur direkten Ursache der Revolution.«200 Die 1780er-Jahre waren nicht besser als das Jahrzehnt davor, die wirtschaftliche Krise verstärkte sich noch, bedingt durch schlechte Witterung. Nach dem kalten Winter von 1784/85 gab es eine verhängnisvolle Trockenperiode, sie ließ die Futtermittel verknappen und die Viehzüchter verzweifeln. In Frankreich erreichte der Anstieg der

73

74

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Brotpreise bedrohliche Ausmaße, von einem »Mehlkrieg« war die Rede. 1787 und 1788 brachten regennasse, feuchte Witterung und erneut schlechte Ernten.201 Diese beiden Jahre spielen für den Ausbruch der großen Umwälzungen im Folgejahr eine »bedeutende Rolle«.202 Im Königreich Frankreich, wo man über die Bevölkerungsgröße sehr früh Buch führte und daher über ihre Größe gut Bescheid weiß, wuchs die Bevölkerung in den gut hundert Jahren zwischen 1670 und 1780 von ungefähr 20 auf 27 Millionen – noch etwas schneller freilich wuchsen die Getreidepreise: Die französische Landwirtschaft produzierte im Jahr 1780 pro Kopf der Bevölkerung 4,3 % weniger als im Jahr 1700; die Steuern hingegen sollen im selben Zeitraum um 95 % gestiegen sein.203 »Von den europäischen Monarchien erwies sich die französische als am wenigsten reformbereit und reformfähig.«204 Der französische Staat war am Ende, die Kassen waren leer. Am Oberrhein vernahm ein Reisender, der junge Fürst Karl August von Hardenberg, schon Ende Oktober 1772 im Gespräch mit einer Markgräfin Triset, dass sich die Schlösser von Versailles und Louvre in einem miserablen Zustand befänden, »der König fühle den Geldmangel so sehr, daß er kaum seine eigenen Wohn Zimmer kann repariren lassen«.205 Schon beim Tod Ludwigs XV. (1774) war von Staatsbankrott die Rede. In diesen Jahren büßten einige der älteren, noch im 17.  Jahrhundert so mächtigen Staaten viel von ihrer Legitimität ein und gingen unter, und zwar gerade solche einstmals »bedeutender Staaten, die keine absoluten Monarchien waren und daher im 18. Jahrhundert wegen des Widerstandes der sie beherrschenden Oligarchien sich als unfähig für Reformen erwiesen, politisch und wirtschaftlich stagnierten und schließlich ihre Unabhängigkeit verloren«  – dazu zählten auch Venedig und die polnische Wahlmonarchie, alte deutsche Reichsstädte wie Nürnberg und viele andere.206 Die Getreidepreise in Frankreich waren schon 1785/86 ziemlich hoch, sie stiegen nach 1786 noch weiter an.207 »Die ökonomische Krise vereint die oppositionellen Kräfte gegen die Regierung, während sie gleichzeitig die Kräfte der Regierung zersplittert. Aber sie trägt zur Entstehung der politischen Krise lediglich bei, so entscheidend sie für die Erklärung des revolutionären Ausbruchs auch erscheinen mag.«208

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

In Frankreich brach im Frühjahr 1789, kurz bevor die neue Ernte eingebracht wurde, eine große Revolution aus, deren Ursache auch in den hohen Preisen für Nahrungsmittel lag, der Brotpreis war das empfindlichste Kriterium für die Zufriedenheit der breiten Volksmassen, viel wichtiger als der Arbeitslohn.209 Die Revolution erlangte ihre Schubkraft nur durch die »Mitwirkung großer Teile der Bevölkerung«, und diese hofften »auf Besserung ihrer materiellen Verhältnisse«. Auch noch während der Revolution waren »Teuerung und Hunger […] wesentliche Bestandteile des Lebens«.210 Die Kriminalität nahm zu, vor allem die Zahl der Eigentumsdelikte.211 Vor der Industriellen Revolution war der Mensch sehr stark von den Naturgewalten abhängig – da ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Niedergang von Staatswesen stark beeinflusst wurde von Vorgängen in der Natur. Der Hunger- und Sterblichkeitskrise von 1770/72 lagen, wie den meisten dieser »Krisen älteren Typs«, nicht eigentlich wirtschaftliche Ursachen zugrunde, sie war die Folge von verhängnisvollen Naturereignissen,212 die weiträumige Gebiete berührten und das Nahrungsmittelangebot bestimmten. So sind die Witterungsunbilden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ganz gewiss nicht ohne weitreichende gesellschaftliche Folgen geblieben.213 Vermutlich haben Hunger, Arbeitsmangel und Aussichtslosigkeit mehr zum Hinwegfegen des Ancien Régime beigetragen als die intellektuelle Kritik der Aufklärer.214 1 2

3

Vgl. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Bd. 1: Der Alltag, München 1985, S. 136. Alfred W. Crosby, Germs, Seeds and Animals. Studies in Ecological History, New York/London 1994, S. 150 f.; Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des Deutschen Volkes. Studien 2: 1650–1810, Berlin(-Ost) 1981, S. 271. Eine chronologische Auflistung der Hungersnöte und Seuchen gibt der Arzt Friedrich Schnurrer, Chronik der Seuchen in Verbindung mit den gleichzeitigen Vorgängen in der physischen Welt und in der Geschichte der Menschen, 2 Bde., Tübingen 1823/25. Vgl. Ulrich im Hof, Das Europa der Aufklärung, München 1993, S. 73. Britta Schneider: Wo der getreidt-Mangel Tag für Tag grösser, und bedenklicher werden will. Die Teuerung der Jahre 1770 bis 1772 im Hochstift Bamberg, in: Bamberger Historische Studien, hg. von Mark Häberlein u. a., Bd. 1, Bamberg 2008, S. 261–291. Walter Demel, Reich, Reformation und sozialer Wandel 1763–1806 (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 12), Stuttgart 102005, S. 80 f.,

75

76

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

4 5 6

7 8

9 10

11

12

13 14 15

bes. Anm. 3 und 6, erwähnt diese Hungersnot kursorisch wie auch die ihr folgende Seuchensterblichkeit in einigen Regionen. Siehe Mike Davis, Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World, London/New York 2001, S. 6 f. Pierre Chaunu, La Civilisation de l’Europe des Lumières, Paris 1982, S. 54. Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648–1763) (Deutsche Geschichte, hg. von Joachim Leuschner, Bd. 6), Göttingen 1978, S.  28. Vgl. Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1500–1800 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 28), München 1994, S. 14–18; Christof Dipper, Deutsche Geschichte 1648–1789 (Neue Historische Bibliothek, hg. von Hans-Ulrich Wehler), Frankfurt/M. 1991, S. 44 Tab. 2. Vierhaus, Deutschland (wie Anm. 6), S. 36. Diedrich Saalfeld, Bevölkerungswachstum und Hungerkatastrophen im vorindustriellen Europa, in: Eckart Ehlers (Hg.), Ernährung und Gesellschaft, Stuttgart/Frankfurt a. M. 1983, S.  55–71; Josef Mooser, Unterschichten in Deutschland 1770–1820, in: Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, hg. von Helmut Berding / Etienne François / Hans-Peter Ullmann, Frankfurt a. M. 1989, S. 317–338, bes. S. 333. Die Ernteerträge machten bei Roggen noch im ausgehenden 18. Jh. im Durchschnitt nur das Viereinhalbfache der Aussaat aus. Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993, S. 61 Tab. 3. Vgl. Eberhard Weis, Der Durchbruch des Bürgertums 1776–1847 (Propyläen Geschichte Europas, Bd. 4), Frankfurt u. a. 1982, S. 47. Siehe bes. Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg/Berlin 1974, S. 302–309; HansUlrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815– 1845/49, München 1987, S. 27–31; Werner Freitag, Krisen vom »Type Ancien«. Eine Fallstudie: Die Grafschaft Lippe 1770–1773, in: Lippische Mitteilungen 55 (1986), S. 97–139. Vgl. Abel, Massenarmut (wie Anm. 10), S. 197 Abb. 45, S. 145 ff.; Manfred Botzenhart, Reform, Restauration, Krise. Deutschland 1789–1847, Frankfurt/M. 1985, S.  96; Christopher Clark, Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia 1600–1947, Harmondsworth 2007, S. 455. Georg Schmidt, Die frühneuzeitlichen Hungerrevolten, in: Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991), S.  257–280, hier S.  268. Meine Hervorhebung. Siehe Joseph von Sonnenfels, Von der Theurung in großen Städten und dem Mittel, derselben abzuhelfen, Wien 1770. Des métaux précieux américains au XVIIe et XVIIIe siécles et de leur influence, in: Bulletin de la Societé d’historie moderne 76 (1977), S. 24, 30. Volker Hunecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut im vorindustriellen Europa, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1982), S. 480–512, hier S. 487. Emmanuel LeRoy Ladurie, Histoire du climat depuis l’an mil, Paris 1967, S. 185 f.

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution 16 Hermann Flohn, Das Problem der Klimaänderungen in Vergangenheit und Zukunft, Darmstadt 1985, S. 125. 17 Saalfeld, Bevölkerungswachstum (wie Anm. 8), S. 68; Karl Vocelka, Glanz und Untergang der Höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im Habsburgischen Vielvölkerstaat (Österreichische Geschichte, 1699–1815, hg. von Herwig Wolfram), Wien 2001, S. 329, bezeichnet sie als die »größte Hungersnot des [18.] Jahrhunderts«. Vgl. Christian Pfister, Climate and Economy in Eighteenth-Century Switzerland, in: Journal of Interdisciplinary History 21 (1978), S. 29–62; ders., Klimageschichte der Schweiz 1525–1860. Das Klima der Schweiz von 1525–1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, Bern/Stuttgart 31988, S. 130; Jörg Baten, Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung in Bayern (1730–1880). (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 82), Stuttgart 1999, S. 87. 18 Ulrich Bräker, Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg, hg. von Samuel Voellmy, Zürich 1981, S. 223–225. In Frankreich stieg der Preis für Roggen zwischen 1763 und 1770 um 128 %, schreibt Hubert Méthivier, Le Siècle de Louis XV, Paris 31972, S.  21. Siehe auch Wilhelm Abel, Landwirtschaft 1648–1800, in: HDSWG, Bd. 1, S. 524. 19 Flohn, Klimaänderungen (wie Anm. 16), S. 35 f. 20 Giovanni Maria della Torre, Geschichte und Naturbegebenheiten des Vesuvs von den ältesten Zeiten bis zum Jahr 1779, Altenburg 1783, S.  XXXVI; Giovanni B. Alfano / I. Friedlaender, Die Geschichte des Vesuv, Berlin 1929, S. 39–42. 21 Wolfgang Sartorius von Waltershausen, Der Ätna, Bd.  1, Leipzig 1860, S.  272–277. Die Ausbrüche des Ätna sind seit dem 13. Jh. gut überliefert. – Als Ursache der Witterung um 1770 nennt auch Hubert H. Lamb, Klima und Kulturgeschichte. Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte, Reinbek 1989, S. 270, vulkanische Eruptionen. 22 Über diese fortgesetzten Vulkanausbrüche gibt es ausgezeichnete anschauliche Beschreibungen bei Thomas Stamford Raffles, Die Vulkane auf Java, o. O. 1825, S. 25–41. Siehe auch Heinrich Zollinger, Besteigung des Vulkanes Tambora auf der Insel Sumbawa und Schilderung der Erupzion desselben im Jahr 1815, Winterthur 1855, S. 13–18. Die weltweiten Folgen dieses Ausbruchs erörtert John D. Post, The Last Great Subsistence Crisis in the Western World, Baltimore 1977. 23 Johann Georg Bullmann, Merkwürdige Abbildung der Trübsaljahre und der Noth und Theurung, womit sowohl Augsburg als ganz Deutschland in den Jahren 1770, 1771, 1772 heimgesuchet worden, Augsburg 1772, unpaginiert. 24 Joh. Georg Rabe, Gustav Hellmann. Die Entwicklung der meteorologischen Beobachtungen in Deutschland von den ersten Anfängen bis zur Einrichtung staatlicher Beobachtungsnetze, Berlin 1926, S.  17 f. Zur Witterung im Jahr 1770 siehe auch Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S.  179–181, Graphiken. 25 Karl Kißkalt, Hungersnöte und Seuchen, in: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 78 (1914), S. 535.

77

78

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 26 Für Nürnberg: NN, Witterungsbeobachtungen über einen jeden Tag der drei Jahre 1770, 1771 und 1772 als im Jahr vor, im und nach der letzten merkwürdigen Theurung, Nürnberg 1817. Diese zeitgenössischen Aufzeichnungen wurden erst 1817 veröffentlicht. Zur Witterungsgeschichte, vor allem zu den Niederschlägen, ausführlich Curt Weikinn, Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitenwende bis zum Jahr 1850, Teil 5: Quellensammlung zur Hydrographie und Meteorologie 1750–1800, hg. von Michael Börngen / Gerd Tetzlaff, Berlin/Stuttgart 2000, S. 147–247. Siehe auch Rudolf Brázdil / Hubert Valášek / Jürg Lauterbacher / Jarmila Macková, Die Hungerjahre 1770–1772 in den böhmischen Ländern. Verlauf, meteorologische Ursachen und Auswirkungen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 12/2 (2001), S.  44–78. Für den Hinweis auf diesen Aufsatz habe ich Reinhold Reith (Universität Salzburg) zu danken. 27 R. Schmitt, Die Hungerjahre 1770–1773 in Rothenburg, in: Die Linde 65/9 (1983), bes. S. 62, 66 f., kommt zu dem Ergebnis, dass die Ernteerträge 1770/72 im Raum Rothenburg ob der Tauber weniger gefallen waren. 28 Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. 1, Berlin/Stettin 1783, S. 313, nennt sie »vielleicht die wohlfeilste Zeitung in Deutschland«. 29 Nürnberger Friedens- und Kriegs-Courier, 26. Januar 1770. Aus dieser Zeitung stammen auch die folgenden Zitate (mit den Daten der Veröffentlichung). 30 Nürnberger Friedens- und Kriegs-Courier, 23. Juli 1770. 31 Dr. Fronmüller sen., Chronik der Stadt Fürth, Fürth 1887, Ndr. Neustadt/A. 1985, S. 167 f. 32 Freitag, Krisen (wie Anm. 10), S. 108; Getreidepreise: S. 110 f. Markus Mattmüller, Die Hungersnot der Jahre 1770/71 in der Basler Landschaft, in: Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Ulrich Im Hof, hg. von Nicolau Bernau / Quirin Reichen, Bern 1982, S. 271–291, zufolge war sie in der Schweiz nur um 17 bis 25 Prozent unter dem Durchschnitt, S. 273. Vgl. Dipper, Geschichte (wie Anm. 6), S. 61 f. 33 Joseph Kumpfmüller, Die Hungersnot von 1770 bis 1773 in Österreich, phil. Diss. Wien 1969, S. 15–21; H. Glatzel, Das Brot in der heutigen Ernährung (Schriftenreihe des deutschen Brotmuseums 2), Ulm 1961, S. 9 ff. In der Literatur werden sehr unterschiedliche Mengen genannt. 34 Siehe Friedrich-Wilhelm Henning, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd. 1: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1991, S. 946. 35 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära, 1700–1815, München 1987, S. 80, hebt das starke Schwanken der Mittelpreise eines Scheffels Korn hervor. Dieser betrug 1763: 3 Taler, 18 Groschen, im Jahr darauf: 1 Taler, 18 Groschen, im November 1771 hingegen 8 bis 24 Taler, 1774 nur noch 1 Taler, 22 Groschen. 36 Helmut Rankl, Die bayerische Politik in der europäischen Hungerkrise 1770–1773, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 68/1–2 (2005), S.  745–779; Saalfeld, Bevölkerungswachstum (wie Anm.  8), S.  55–71; John

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

37

38 39

40 41

42

43 44

45

D. Post, Nutritional Status and Mortality in Eighteenth-Century Europe, in: Lucile F. Newman (Hg.), Hunger in History. Food Shortage, Poverty and Deprivation, Cambridge/Mass. 1990, S. 241–280. Vgl. Michael Stürmer, Herbst des Alten Handwerks, München 1979, S. 161. Setzt man die Jahre 1764–1776=100, so ergibt sich für 1771 ein Wert von 204 und für 1772 von 218. Post, Nutritional Status (wie Anm.  36), S.  241–280. Für die Getreidepreise in Bayern, und ihre gewaltigen Steigerungen in den 1770er-Jahren, siehe Friederike Hausmann, Die Agrarpolitik der Regierung Montgelas. Untersuchungen zum gesellschaftlichen Strukturwandel Bayerns um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1975, S. 58 f.; Albert Wild, Bewegung der Getreidepreise des Königreichs Bayern vom Jahre 1750 bis auf unsere Zeit, München o. J. [1857]; für Nürnberg: Johannes Scharrer, Bildliche Darlegung des einhundertjährigen Standes und Ganges der Kornpreise in der Stadt Nürnberg vom Jahre 1744 bis 1843, Nürnberg 1843; Paul Sander, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, Leipzig 1902, S. 920, nennt auch die Brotgewichte der Jahre 1769 bis 1772. Brázdil u. a., Hungerjahre (wie Anm. 26), S. 62. Vgl. Klaus Schwarz, Die Lage der Handwerksgesellen in Bremen während des 18.  Jahrhunderts, Bremen 1975; Getreidepreissteigerungen in Bremen: S. 58 f. Einen Preisindex für Europa insgesamt gibt John D. Post, The Mortality Crisis of the Early 1770 s and European Demographic Trends, in: Journal of Interdisciplinary History 12/1 (1990), S. 29–62. Preisindex (1764/78=100), S. 40. Diesem Index zufolge lagen die Getreidepreise in Deutschland 1769: 69; 1771: 193; 1772: 199. Antonie Wartburg, Die große Getreideteurung von 1770–1774, Diss. o. O. o. J., S. 12 f. Erika Weinzierl-Fischer, Die Bekämpfung der Hungersnot in Böhmen 1770–1772 durch Maria Theresia und Joseph II., in: Mitt. des Österr. Staatsarchivs 7 (1954), S. 497 f., 500. Zu Josephs Reise siehe auch Derek Beales, Joseph II, Bd. 1: In the shadow of Maria Theresia 1741–1780, Cambridge u. a. 1987, S. 339–342. Bullmann, Trübsaljahre (wie Anm.  23), unpaginiert. Zit. nach Reinhold Reith, Arbeits- und Lebensweise im städtischen Handwerk. Zur Sozialgeschichte Augsburger Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert (1700–1806) (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 14), Göttingen 1988, S. 92. Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe IX, Bd. 26), Neustadt/A. 1983, S. 40. Zu seiner Person Christine Sauer, Georg Andreas Will, in: Stadtlexikon Nürnberg, hg. von Michael Diefenbacher / Rudolf Endres, Nürnberg 1999, S.  1181 f. Siehe ferner Friedrich Bock, Georg Andreas Will. Ein Lebensbild aus der Spätzeit der Universität Altdorf, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 41 (1950), S. 404–427. Georg Andreas Will, Wie das Korn, nach hiesiger Nürnberger Raitung von Monat zu Monat auf denen hiesigen Getraid-Märkten, verkauft worden, von

79

80

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

46 47 48 49

50

51 52 53 54 55 56 57

Anno 1644 biß Anno 1771, in: Ders., Historisch-diplomatisches Magazin 2, Nürnberg 1782, S. 368 f., stieg der Preis für Korn für 1 Sr. (= Sümmer) von 12 fl. (am 27.1.1770) auf 56 ½ fl. (1.6.1771). Ein 6-kr.-Laib wog noch 2.2 (= 82) am 13.1.1770, fiel bis auf -.21 (27.7.1771). Den Verlauf der Hungersnot in Nürnberg hat der Agrarhistoriker Wilhelm Abel, Massenarmut (wie Anm.  10), S. 200–266, ausführlich dargestellt. Will, Korn (wie Anm. 45), S. 368. Stadtarchiv Nürnberg, F 1 (Chroniken) Nr. 63, S. 41–43, Preistafel im Frühjahr 1771 für Victualien. Vgl. Sander, Haushaltung (wie Anm. 37), S. 920. Kumpfmüller, Hungersnot (wie Anm. 33), S. 128. Reinhold Reith, Technische Innovationen im Handwerk der Frühen Neuzeit. Traditionen, Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Staat und Handwerk in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Karl Heinrich Kaufhold / Wilfried Reininghaus, Köln u. a. 2000, S. 55. Siehe auch Bernd Roeck, Bäcker, Brot und Getreide in Augsburg. Zur Geschichte des Bäckerhandwerks und zur Versorgungspolitik der Reichsstadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Sigmaringen 1987, bes. S. 136–151, 194 f. Über Erlangen hieß es: »Der halbe Ort Laib i. e. 7 ½ Kr. wog 3 Pfund 22 Lot den 7. Juni 1770, 2 Pf. 24 Lot den 8. August und 2 Pf. 1 Lot den 31. Oktober 1770.« Hunger. Quellen zu einem Alltagsproblem in Europa und der Dritten Welt, 17. bis 20. Jahrhundert, hg. von Ulrich-Christian Pallach, München 1986, S. 53 f. Vgl. Chronik des Nürnberger Bäckerhandwerks 1302–1982, hg. von der Nürnberger Bäckerinnung, München o. J. [1982], S. 88 f. Siehe auch Wilhelm Roscher, Ein Beitrag zur Geschichte der Kornpreise und Bäckertaxen, in: Zs. für die gesamte Staatswissenschaft 13 (1857), bes. S. 30. Ein Nürnberger Chronist trug in seiner handgeschriebenen Chronik die Größe des Brotes ein, das immer kleiner wurde. Stadtarchiv Nürnberg F 1, Chronik Nr. 70. Zit. nach Abel, Massenarmut (wie Anm. 10), S. 412. Michael Truckenbrot, Nachrichten zur Geschichte der Stadt Nürnberg, Nürnberg 1785, S. 146. Martius, Erinnerungen aus meinem neunzigjährigen Leben, Leipzig 1847, S. 13. Fronmüller, Chronik (wie Anm. 31), S. 169. Zit. nach Ekkehard Wiest, Die Entwicklung des Nürnberger Gewerbes zwischen 1648 und 1806 (Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 12), Stuttgart 1968, S. 27 f. Anm. 87. Siehe Justus Friedrich Hecker, Geschichte der neueren Heilkunde, Bd. 1: Die Volkskrankheiten 1770, Berlin 1839, S. 153–163; ferner Johann Nepomuk Anton Leuthner, Beobachtungen und general sowohl als spezial Kurmethoden hitziger Gall- und Faulfieber, Nürnberg 1776, Symptome: S. 93–230; Joseph Zollner, Nachricht an das Publicum … bei den jetzt herrschenden faulenden Fiebern, Regensburg 1772, S.  3. Zeitgenössische Schriften über die seinerzeit grassierenden Epidemien: Bernhard Joseph Schleiß, Kurze Anweisung wie die dermalen an so vielen Orten Deutschlands graßirenden bösartigen Fieber am besten zu heilen seyen, Nürnberg 1772: zu den »Flecken«:

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

58

59 60 61 62 63 64 65

66 67 68

69 70

71 72

S. 32 f., 53; ferner Christoph Heinrich Schobelts Beschreibung der Epidemien in der Altmark, Berlin 1773; Friedrich L. Keßler, Beobachtungen über die epidemischen Faulfieber in den Jahren 1771 und 1772, Hamburg 1773; Wilhelm Heinrich Bucholz, Nachrichten von dem herrschenden Fleck- und Frieselfieber, Weimar 21773. Fritz Blaich, Die wirtschaftspolitische Tätigkeit der Kommission zur Bekämpfung der Hungersnot in Böhmen und Mähren (1771–1772), in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56 (1969), S.  310–336; Weinzierl, Bekämpfung (wie Anm.  41). Siehe auch Elisabeth Vogt, Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der fürstbischöflichen Regierung in Würzburg gegen die Getreideteuerung der Jahre 1770–72, staatswiss. Diss. (masch.) Würzburg 1921. Wartburg, Getreideteurung (wie Anm. 40), S. 12. Zit. nach Rolf Gehrmann, Bevölkerungsgeschichte Norddeutschlands zwischen Aufklärung und Vormärz (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für die Geschichte Preußens, Bd. 1), Berlin 2000, S. 111. Die Werke Friedrichs des Großen, Bd. 5: Altersgeschichte, Staats- und Flugschriften, hg. Gustav Berthold Volz, Berlin 1913, S. 63. Siehe auch Post, Nutritional Status (wie Anm. 36), S. 254 f. Ingrid Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Köln 1980, S. 159. Die Werke Friedrichs (wie Anm. 61), S. 63. Saalfeld, Bevölkerungswachstum (wie Anm. 8), S. 65. Siehe Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg/Berlin 1978, Graphik S. 182. Heinz Schelle, Chronik eines Bauernlebens vor zweihundert Jahren, Rosenheim 1988, S. 125. NN, Theurung zu Nürnberg in den Jahren 1770. 1771. und 1772, Nürnberg 1773, S. 357–375, hier S. 357. Wiest, Gewerbe (wie Anm. 56), S. 164 ff.; Rudolf Endres, Das Armenproblem im Zeitalter des Absolutismus, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Bd.  34/35 (Festschrift für Gerhard Pfeiffer), 1974/75, S.  1003–1020, hier S. 1009 Anm. 40 a. Abel, Massenarmut (wie Anm. 10), S. 414 f.; siehe auch ebd., S. 214. Sander, Haushaltung (wie Anm. 37), S. 870. Vgl. Ingrid Bátori, Augsburg im 18. Jahrhundert. Verfassung, Finanzen, Reformversuche (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 22), Göttingen 1969, S. 96 Anm. 91. Siehe H. Bingold, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs während und nach dem Siebenjährigen Krieg, Diss. Erlangen 1911, S. 56. Will, Wie das Korn, nach hiesiger Nürnberger Raitung von Monat zu Monat auf denen hiesigen Getraid-Märkten, verkauft worden, von Anno 1644 biß Anno 1771, Nürnberg 1773, S. 358. Volker Press, Die europäischen Hungerjahre 1770–1773, in: Organisationskomitee 750 Jahre Stadt Erding (Hg.), Stadt Erding, Altenerding 1980, S. 203–209, hier S. 206 f.

81

82

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 73 Zit. nach Ernst Mummenhoff, Die öffentliche Gesundheits- und Krankenpflege im alten Nürnberg, Nürnberg 1898, Ndr. Neustadt/A. 1986, S. 113. 74 Karl-Josef Nick, Dr. Leonhard Ludwig Finke (1747–1837). Arzt und Professor der Medizin am Akademischen Gymnasium in Lingen, in: Jahrbuch des Ermländischen Heimatbundes, Bd. 48 (2002), S. 53–63. 75 So z. B. Ignatius Reder, Epidemia ut Mellerstadii se exhibuit, Diss. med. Erfurt 1773. 76 Landeskirchliches Archiv Nürnberg, Sterberegister auf St. Rochus Ao 1766 bis 1772. 77 Rudolf Virchow, Die Hunger-Epidemie von 1771–1772 in Unterfranken, in: Ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der Öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 1, Berlin 1879, S. 416 f. 78 F. J. Arand, Abhandlung von drei Krankheiten unter dem Volke im Jahre 1771. und 1772. nebst den mit denselben eingedrungenen Vorurteilen und den dabey angewendeten Heilungsarten, Göttingen 1773, S. 3. 79 Ebd., S. 26. 80 Ebd., S. 92. Siehe auch Mattmüller, Hungersnot (wie Anm. 32), bes. S. 281 f. 81 W. Mohr, Rickettsia-Infektionen, in: Hdb. der Inneren Erkrankungen, hg. Gerhard Brüschke, Bd. 5: Infektionskrankheiten, Jena 1983, S. 772–779, hier S. 773. 82 Arand, Abhandlung (wie Anm. 78), S. 4–7. 83 Mohr, Rickettsia-Infektionen (wie Anm. 81), bes. S. 773. 84 Vgl. William M. Ord, Murchison, in: Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege 11 (1879), S. 668–671. 85 Arand, Abhandlung (wie Anm. 78), S. 12. 86 Ebd., S. 13. 87 Ebd., S. 30, 33. 88 Ebd., S. 109 f. 89 Ebd., S. 35. 90 Ebd., S. 92. 91 Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. 4, München 1968, S. 49. 92 Post, Mortality Crisis (wie Anm. 39), S. 42; Franz und Therese Schmölz, Die Sterblichkeit in Landsberg am Lech von 1585 bis 1875, in: Archiv für Hygiene und Bakteriologie 136 (1952), S. 538. 93 Siehe Irmtraud Sahmland, Ergotismus, in: Enzyklopädie Medizingeschichte, hg. von Werner E. Gerabek u. a., Berlin 2004, S. 367 f. 94 Schnurrer, Chronik (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 353 f. Dazu ausführlich Hecker, Volkskrankheiten (wie Anm. 57), S. 278–349. 95 Karl Kißkalt, Die Sterblichkeit im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 76 (1913), S. 438–511, hier S. 456. 96 Kißkalt, Hungersnöte (wie Anm. 25), S. 537 Tab. VII. 97 Arand, Abhandlung (wie Anm. 78), S. 231. 98 Karlheinz Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur Industriellen Revolution, Weimar 1967, S. 126–129. Vgl. Karl Biedermann, Deutschland im 18. Jahrhundert, hg. und eingel. von Wolfgang Emmerich, Frankfurt a. M./ Berlin/Wien 1979, S. 269 f.

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution 99 Brázdil u. a., Hungerjahre (wie Anm. 26), S. 63 f. 100 Bullmann, Trübsalsjahre (wie Anm. 23), unpaginiert. 101 Aloys Schreiber, Die Entwicklung der Augsburger Bevölkerung vom Ende des 14. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Hygiene und Bakteriologie 123 (1940), S. 90–177, hier S. 120 f. 102 Rankl, Politik (wie Anm. 36), S. 754. 103 Walter G. Rödel, Die demographische Entwicklung in Deutschland 1770– 1820, in: Deutschland und Frankreich (wie Anm. 8), S. 21–41, hier S. 26. Rödel stützt sich dabei auf die umstrittenen Zahlen von W. Robert Lee, Zur Bevölkerungsgeschichte Bayerns 1750–1850. Britische Forschungsergebnisse, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 62 (1975), S. 309–338, statt auf Manfred Rauh, Die bayerische Bevölkerungsentwicklung vor 1800. Ausnahme oder Regelfall?, in: Zs. für bay. Landesgeschichte 51/2 (1988), S. 471–601. Rauh, S. 477, beziffert die Bevölkerung Altbayerns 1771 mit 875 000, 1779 mit 842 000, das ist ein Rückgang um fast 4 %, obwohl die bayerische Bevölkerung nach 1773 sicherlich wieder gewachsen war. In den 16 Jahren 1779–1795 konstatiert er einen Anstieg von 842 000 auf 924 000, das ist ein Anstieg um fast 10 %. Siehe auch Katharina Kellner, Pesthauch über Regensburg. Seuchenbekämpfung und Hygiene im 18. Jahrhundert (Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesen), Regensburg 2005, S. 19 f., ferner Rankl, Politik (wie Anm. 36), S. 778. 104 Harald Potempa, Getreideschrannen in Bayern. Anmerkungen zu einer städtischen Institution am Beispiel Erding, in: Oberbayerisches Archiv 115 (1991), S. 7–136, hier S. 66. 105 Ernst Schubert, Erlangen als Fabrikstadt des 18. Jahrhunderts, in: Erlangen. Von der Strumpfer- zur Siemens-Stadt. Beiträge zur Geschichte Erlangens vom 18. zum 20. Jahrhundert, hg. von Jürgen Sandweg, Erlangen 1982, S. 39 f. 106 Walter Jungkunz, Die Sterblichkeit in Nürnberg 1714–1850, zugleich ein Beitrag zur Seuchengeschichte der Stadt, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 42 (1951), S.  289–353, hier S.  305. Die Nürnberger Sterblichkeit in den Jahren 1771 und 1772 gibt der Berliner Reisende Nicolai, Beschreibung, Bd. 1 (wie Anm. 28), Beylage XI.3, S. 106, mit den gleichen Zahlen wieder. Um einiges höher sind die Zahlen, die Bingold, Haushaltung (wie Anm. 70), S. 10, nennt, nämlich 2031 für 1771 (1854 in der Stadt Nürnberg, 177 in der Vorstadt Wöhrd). 107 Landeskirchliches Archiv Nürnberg, Sterberegister auf St. Rochus Ao 1766 bis 1772. 108 Landeskirchliches Archiv Nürnberg, Sterberegister auf Sct. Johannis der Ao 1769 bis 1779. 109 Jungkunz, Sterblichkeit (wie Anm. 106), S. 312. 110 Zu seiner Person Georg Seiderer, Kiefhaber, in: Stadtlexikon (wie Anm. 44), S. 532 f. 111 Johann Carl Sigmund Kiefhaber, Historisch-chronologisches Verzeichnis der seit dem Anfang dieses Jahrhunderts bis jetzt in der Reichsstadt Nürnberg und deren Gebiet herrschend gewesenen Epidemien unter den Menschen

83

84

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

112 113 114

115

116

117 118 119

120

und Thieren, Nürnberg 1796, S. 12 f., erwähnt für die Jahre 1771/72 »Theurung und Hungersnoth«. Dr. Ziehl, Über Seuchen, welche in früheren Jahrhunderten in Nürnberg geherrscht haben, Nürnberg 1856, beschränkt sich auf frühere Seuchen, auf die Jahre 1771/72 geht er nicht mehr ein. Siehe auch G. E. Waldau, Neure Beyträge zur Geschichte der Stadt Nürnberg, 1791, Bd. 8/2, S. 325–333. Zu seiner Person Christoph von Brandenstein, Waldau, in: Stadtlexikon (wie Anm. 44), S. 1154. Waldau, Mortalität der Nürnbergischen Geistlichkeit in einem Zeitraum von 25 Jahren, in: Neue Beyträge, 1791, S. 325 f. Ebd. Etwas andere Zahlen nennt StadtAN F 1 (Nürnberger Chroniken) Nr. 70, S. 131 f. Dieser handschriftlichen Chronik zufolge war 1772 in Nürnberg »ein großer Sterb«, dabei »sind in Nürnberg in 2 Jahren gestorben 4814«  – »in Nürnberg gestorben 4 Pfarrherrn und 5 auf dem Lande«, »… und sind in Nürnberg [1771] gestorben 16 Pfarrherrn und 2 auf dem Land«. Errechnet nach Jungkunz, Sterblichkeit (wie Anm. 106), S. 305 f. Die fehlenden Jahre 1737 und 1739 wurden jeweils mit 1200 Toten ergänzt. Vgl. Rainer Gömmel, Vorindustrielle Bauwirtschaft in der Reichsstadt Nürnberg und ihrem Umland (16.–18. Jh.) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 30), Stuttgart 1985, bes. S. 15 f. Anm. 3. Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 126), Göttingen 1996, S. 310–312. Auch in der Schweiz stieg die Sterblichkeit insgesamt nicht sehr stark an, von einem Indexwert von 100 (1760/69) auf 106 (1771). Mattmüller, Hungersnot (wie Anm. 32), S. 279. Wolfram Fischer, Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der »Sozialen Frage« in Europa seit dem Mittelalter, Göttingen 1982, S. 52 f. John Komlos, Height and Social Status in Eighteenth Century Germany, in: Journal of Interdisciplinary History 20 (1990), S. 607–621, hier S. 610. Vgl. Roderick Floud, The Height of Europeans since 1750: A New Source for European Economic History, in: John Komlos (Hg.), Stature, Living Standards, and Economic Development. Essays in Anthropometric History, Chicago/London 1994, S. 10–24, hier S. 12 f. Diese Zahlen gibt sehr übersichtlich wieder: Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte, hg. von Herwig Wolfram), Wien 1995, S. 157. Siehe auch J. M. Tanner, in: John Komlos (Hg.), Height (wie Anm. 118), S. 1–6; ferner Hubert Ch. Ehalt, Über den Wandel des Termins der Geschlechtsreife in Europa und dessen Ursachen, in: Saeculum 36 (1985), S.  201–251; Helmut Wurm, Vorarbeiten zu einer interdisziplinären Untersuchung über die Körperhöhenverhältnisse der Deutschen im 19.  Jahrhundert, in: Gegenbaurs morphologisches Jahrbuch 136/4 (1990), S. 405–429, 136/5 (1990), S. 503–524; ders. / Manfred Nimax, Ernährungseinflüsse auf historische Körperhöhen. Ein Beitrag zur Problematik einer

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution

121 122

123

124 125 126

127 128 129 130 131 132

angewandten Ernährungsgeschichte, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 17 (1998), S. 507–523; John Komlos, Stature and Nutrition in the Habsburg Monarchy. The Standard of Living and Economic Development in the Eighteenth Century, in: American Historical Review 90 (1985), S. 1149–1161; ders., Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung unter Maria Theresia und Joseph II. Eine anthropometrische Geschichte der Industriellen Revolution in der Habsburgermonarchie, St. Katharinen 1994, S. 51. Baten, Ernährung (wie Anm.  17), S.  64. Siehe auch Rankl, Politik (wie Anm. 36), S. 754. Carsten Küther, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 1976, S. 21 f.; Die Memoiren des Karl Heinrich Ritters von Lang (Bibliotheca Franconica, hg. von Hans Baier, Bd.  10), Ndr. Erlangen 1984, S.  20. Vgl. Friedrich Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1952, S. 274; Vierhaus, Deutschland (wie Anm. 6), S. 77. Gerhard Ammerer, Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien 29), Wien 2003, bes. die Seiten zu Anm. 122, 124, 127. Zur Gesundheit der Vaganten, ebd., S. 348–355. Küther, Räuber (wie Anm. 122), S. 18 f., 38, 57, 70, 101, schätzt, dass in Franken etwa 10 Prozent der Bevölkerung auf der Straße lebte, aber das ist sicher weit überzogen. Siehe auch Carsten Küther, Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1983. E. J. Hobsbawm, Bandits, Harmondsworth 1985, S.  20–22, 67. Siehe auch Leben und Ende des berüchtigten Anführers einer Wildschützenbande, Mathias Klostermayers, oder des sog. Bayerischen Hiesels, Augsburg 1772. Zit. nach Abel, Massenarmut (wie Anm. 10), S. 256. Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815 (1951), Ndr. Kronberg/Ts. 1978, S. 210. Siehe Esther-Beate Körber, Die Zeit der Aufklärung. Eine Geschichte des 18.  Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 255–257. Kißkalt, Hungersnöte (wie Anm. 25), S. 537; ders., Sterblichkeit (wie Anm. 95), S. 438 ff. Vgl. Post, Nutritional Status (wie Anm. 36), S. 242–245. Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich, Bd. 3: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745–1806), Stuttgart 1997, S. 182. Karl Otmar von Aretin, Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714–1818, München 1976, S. 34 f. Ebd., S. 54 f. Der österreichische Staatskanzler Wenzel Anton Fürst Kaunitz verfasste am 14.  April 1773 eine 250seitige Denkschrift für Maria Theresia, in der er schrieb: »Wenn man den Zustand der deutschen Erblande nur einigermassen einsiehet, so fallet allzu überzeugend in die Augen, daß selbige bey weitem nicht in dem blühenden Stande, worinnen sie seyn könnten, sich befinden, und einige etwas mehr, andere etwas weniger, aber alle entkräftet und so zusagen mit der Auszährung behaftet sind. Das Volk ist fast

85

86

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148

149

durchgängig arm, unterdrückt und mühseelig, die Landstädte sind öde, mit Schulden überhäuft und in ihren Bewohnern vermindert. Der NahrungsStand, die Fabriken und überhaupt die Industrie nebst dem Commercio […] gerathen immer mehr in Verfall.« Zit. nach Deutsche Geschichte in Quellen, Bd. 5: Zeitalter des Absolutismus, 1648–1789, hg. von Helmut Neuhaus, Stuttgart 1997, S. 415. Vocelka, Glanz und Untergang (wie Anm. 17), S. 378. Heinz Duchhardt, Europa am Vorabend der Moderne 1650–1800 (Handbuch der Geschichte Europas 6, hg. von Peter Blickle), Stuttgart 2003, S. 169. Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert (Neue Historische Bibliothek), Frankfurt/M. 1986, S. 242. Vgl. Wolfgang Behringer, Weather, Hunger and Fear. The Origins of the European Witch Persecution in Climate, Society and Mentalité, in: German History 13 (1995), S. 1–27, bes S. 12. Saalfeld, Bevölkerungswachstum (wie Anm. 8), S. 68. Hecker, Volkskrankheiten (wie Anm. 57), S. 110. Niall Ferguson, Empire. How Britain Made the Modern World, London 2003, S. 47 f.; Amartya Sen, Poverty and Famines, Oxford 1982, bes. S. 199, 203–209. Eine weitere schwere Hungersnot trat in Indien bereits 1783/84 auf. S. Bhattacharya / B. Chaudhuri, Regional Economy (1757–1857). Eastern India, in: The Cambridge Economic History of India (c. 1757–c. 1970), hg. v. Dharma Kumar, Cambridge u. a. 1983, S. 299 f. Michael G. Müller, Die Teilungen Polens, München 1984, S. 37 f. Vgl. Die Werke Friedrichs (wie Anm. 61), S. 25. Vgl. Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004, S. 489. Nürnberger Friedens- und Kriegs-Courier, 6. und 10.10.1770. Aretin, Das Alte Reich (wie Anm. 129), S. 178. Kiefhaber, Verzeichnis (wie Anm. 111), S. 9. Nürnberger Friedens- und Kriegs-Courier, 4. Sept. 1771. Auch die folgenden datierten Fakten stammen aus dieser Tageszeitung. Stanford J. Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. 1: Empire of the Gazis. The Rise and Decline of the Ottoman Empire 1280–1808, Cambridge u. a. 1986, S. 246–248. John T. Alexander, Bubonic Plague in Early Modern Russia. Public Health and Urban Disaster, Baltimore/London 1980. Robert Koch, Über die Verbreitung der Bubonenpest, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. von Julius Schwalbe, Bd. 2.1, Berlin 1912, S. 648–650, der die Pest 1897 in Indien und in Südafrika studierte, nennt es eine »sehr wichtige Tatsache, über welche merkwürdigerweise in keinem der Pestberichte aus früheren Zeiten etwas erwähnt ist, daß nämlich die Ratten so außerordentlich empfänglich für die Pest sind und daß diese Tiere an der Ausbreitung der Pest ganz wesentlich beteiligt sind. […] Oft geht die Rattenpest der Menschenpest vorher. Den Eingeborenen […] ist dieses Kennzeichen der beginnenden Pest so bekannt, daß sie sofort aus ihren Hütten flüchten, wenn die Ratten zu sterben beginnen.« Alexander, Bubonic Plague (wie Anm. 147), S. 119–121.

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160

161

162

163 164

165

166

Ebd., S. 105. Ebd., S. 198. Ebd., S. 235. Nicholas V. Riasanovsky, A History of Russia, New York 31977, S. 287 f. Siehe auch Die Werke Friedrichs (wie Anm. 61), S. 50. Samuel Johnson / James Boswell, A Journey to the Western Islands of Scotland and The Journal of A Tour to the Hebrides, Harmondsworth 1984, S. 25, 128. Ebd., S. 131. Post, Mortality Crises (wie Anm. 39), S. 33 Tab. 2. Johnson / Boswell, Journey (wie Anm. 154), S. 89. Ebd., S. 41. Siehe auch Margaret I. Adam, The Highland Emigration of 1770, in: Scottish Historical Review 16 (1919). Johnson / Boswell, Journey (wie Anm. 154), S. 58 f. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Aus dem Englischen übertragen von Horst Claus Recktenwald, München 1974, S.  825. Die letztgenannte Zahl bezieht sich nicht allein auf England und Wales, sondern auf das gesamte Vereinigte Königreich. Adam Smith arbeitete an dem Manuskript zu diesem Buch seit 1766, 1773 war es abgeschlossen. Vagn Dybdahl, Dänemark 1650–1850, in: Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, hg. von Ilja Mieck, Stuttgart 1993, S. 284. Auch in Dänemark zeigte sich seit etwa 1770 eine stark reformerische Tendenz in der Landwirtschaft. Wilhelm Treue, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, Bd. 1: 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973, S. 312, 316. Post, Nutritional Status (wie Anm.  36), bes. S.  248 Tab. 9.2., 256 f.; ders., Mortality Crisis (wie Anm. 39), S. 48–57. Oscar Albert Johnsen, Norwegische Wirtschaftsgeschichte, Jena 1939, S. 414 f.; M. Drake, Population and Society in Norway, Cambridge 1969, S. 66 f., 165, 174 f. Friedens- und Kriegs-Courier, 4.7.1771. Edwin G. Burrows / Mike Wallace, Gotham. A History of New York to 1898, New York/Oxford 1999, S. 213. Die amerikanischen Kolonien standen damals bereits im Kampf gegen London, daher verweigerten sie 1769 Importe von dort; 1771 waren die Importe dreimal so hoch wie 1769. Es ist nicht im Einzelnen herauszufinden, was den Boykotten und was der Witterung zuzuschreiben ist. Siehe Harold Underwood Faulkner, American Economic History, New York 81960, S. 116 f. Hecker, Volkskrankheiten (wie Anm.  57). In Philadelphia (ca. 27 000 E.) stieg die Sterblichkeit von 31,5 (1770) auf 41,0 (1772) und auf 43,8 (1773) Promille an. Billy G. Smith, Death and Life in a Colonial Immigrant City: A Demographic Analysis of Philadelphia, in: Journal of Economic History 37/4 (1977), S. 863–889, hier S. 871. Clinton Rossiter, The First American Revolution. The American Colonies on the Eve of Independence, New York 1953, 1956, S. 235.

87

88

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 167 Siehe Ann Bowman Jannetta, Epidemics and Mortality in Early Modern Japan, Princeton 1987. Die Sterblichkeit in Japan stieg in der zweiten Hälfte der 1770er-Jahre etwas an, von 17,7 Promille (1750/74) auf 20,3 (1775/99), S. 11, 15. Ältere europäische Infektionskrankheiten, namentlich Beulenpest und Fleckfieber, scheinen in Japan vor dem 19. Jahrhundert unbekannt gewesen zu sein. 168 Georg Forster, Reise um die Erde, hg. von Gerhard Steiner, Ndr. Frankfurt/M. 1967, S. 69. 169 François Furet / Denis Richet, La Révolution française, Paris 1965, S. 60. 170 Jürgen Kocka, Das lange 19.  Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 13), Stuttgart 102001, S. 45, Tab. 1. Siehe auch Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt, Berlin 2005, bes. S. 42–44. 171 Stürmer, Herbst (wie Anm. 36), S. 277. 172 Karl Heinrich Kaufhold, Deutschland 1650–1850, in: Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4 (wie Anm. 161), S. 552. 173 Vgl. Elke Schlenkrich / Helmut Bräuer, Armut, Verarmung und ihre öffentliche Wahrnehmung. Das sächsische Handwerk des ausgehenden 17.  und 18. Jahrhunderts, in: Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4 (wie Anm. 161), S. 93–118; M. Gailus / H. Volkmann (Hg.), Nahrungsmangel, Hunger und Protest in Deutschland 1750–1950, Opladen 1992; Ulrich Kluge, Hunger, Armut und soziale Devianz im 18.  Jahrhundert, in: Freiburger Universitätsblätter 96 (1987), S. 61–91, beschränkt sich auf Preußen. 174 Valjavec, Strömungen (wie Anm. 126), S. 75. Vgl. Reinhold Reith / Andreas Grießinger / Petra Eggers, Streikbewegungen deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert (Materialien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des städtischen Handwerks 1700–1806), Göttingen 1992, bes. S. 37 Tab. 1. 175 Valjavec, Strömungen (wie Anm. 126), S. 231–233. Siehe auch Georg Seiderer, Aufklärung in Nürnberg, in: Vom Adler zum Löwen. Die Region Nürnberg wird bayrisch 1775–1835 (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg, hg. von Michael Diefenbacher / Gerhard Rechter), Nürnberg 2006, S. 77–89, hier S. 80–84. 176 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.  1 (wie Anm.  35), S.  320. Für Nürnberg: Susanne Schepp, Nürnbergs Lesegesellschaften an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 17 (1992), S. 109–151. 177 Valjavec, Strömungen (wie Anm. 126), S. 231–233, 238. 178 Ebd., S. 11. Auch in der Publizistik zeigt sich »um das Jahr 1770 eine Zäsur in der Entwicklung der politischen Auffassungen« (ebd., S. 96). 179 Ebd., S. 213. 180 Schmidt, Hungerrevolten (wie Anm.  12), S.  280, sie fehlten auch in Altbayern. Rankl, Politik (wie Anm. 36), 758. Dies wurde östlich des Rheines auch während der Hungersnot von 1816/17 beobachtet. 181 Weis, Durchbruch (wie Anm. 9), S. 201. 182 Brázdil u. a., Hungerjahre (wie Anm. 26), S. 68 f.

Von der kleinen Eiszeit zur Französischen Revolution 183 184 185 186 187 188

189 190 191 192 193

194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206

C. B. A. Behrens, The Ancien Régime, London 1967, S. 26. Achilles, Deutsche Agrargeschichte (wie Anm. 8), S. 163. Abel, Landwirtschaft (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 520. Fronmüller, Chronik (wie Anm. 31), S. 174. Stürmer, Herbst (wie Anm. 36), S. 277. Philipp Ludwig Wittwer, Ueber den jüngsten epidemischen Katarr, Nürnberg 1782. Siehe Martius, Erinnerungen (wie Anm. 54), S. 51. In Nürnberg stieg die Zahl der Verstorbenen von 923 (1779) bzw. 953 (1780) auf 1229 im Jahr 1781. Jungkunz, Sterblichkeit (wie Anm. 106), S. 305. Ebd. Schnurrer, Chronik (wie Anm.  2), Bd.  2, S.  376 f. Für England: Richard Hamblyn, The Invention of Clouds: How An Amateur Meteorologist Forged the Language of the Skies, London 2002, bes. S. 46–50. Karl Sapper, Vulkanausbrüche, Breslau 1930, S. 18 f. Arthur E. Imhof, Einführung in die Historische Demographie, München 1977, S. 41. Georg Andreas Will, Von der neulich größten Ueberschwemmung  …, Nürnberg 1784 (mit Karte des Überschwemmungsgebietes in der Nürnberger Altstadt). Dazu ausführlich Manfred Vasold, Die Eruptionen des Laki von 1783/84 und die Überschwemmungen vom Februar 1784 im fränkischen Raum, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 64 (2004), S. 131–143. Christian G. Müller, Kurze Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg. Ein Handbuch für Einheimische und Fremde, zunächst aber für Reisende, Nürnberg 1793, S. 153. Vgl. Kellner, Pesthauch (wie Anm. 103), S. 180 f. Schnurrer, Chronik (wie Anm. 2), S. 381. Johann Peter Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, Bd. 1, Berlin 31765, S. 396. Ebd., S. 355. Werner K. Blessing, Gedrängte Evolution: Bemerkungen zum Erfahrungsund Verhaltenswandel in Deutschland um 1800, in: Deutschland und Frankreich (wie Anm. 8), S. 426–451, hier S. 448. Jean Meyer, Frankreich im Zeitalter des Absolutismus 1515–1789 (Geschichte Frankreichs 3, hg. von Jean Favier), Stuttgart 1990, S. 488. Jean Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolution 1789–1851 (Geschichte Frankreichs 4, hg. von Jean Favier), Stuttgart 1989, S. 41. Ebd., S. 38. Weis, Durchbruch (wie Anm. 9), S. 78. Jack A. Goldstone, Demography, in: The Oxford Handbook of the Ancien Régime, hg. von William Doyle, Oxford 2012, S. 201–218, hier S. 205 Tab. 12.1, S. 207. Ebd. Karl Obser, Aufzeichnungen des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg über seinen Aufenthalt am Oberrhein im Jahre 1772, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 22 (1907), S. 145–172, hier S. 160. Weis, Durchbruch (wie Anm. 9), S. 39.

89

90

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 207 François-Georges Dreyfus, Le prix du froment en France au temps de la monnaie stable, Paris 1970, Grafik S. XIV f. 208 Ernest Labrousse, 1848, 1830, 1789. Wie Revolutionen entstehen, in: Geburt der bürgerlichen Gesellschaft: 1789, hg. von Irmgard A. Hartig, Frankfurt a. M. 1979. Siehe ders., Origines et aspects économiques et sociaux de la Révolution française (1774–1791), Paris o. J., bes. S. 54–58. Lt. Labrousse stieg das mittlere Preisniveau in Frankreich zwischen 1726 und 1789 um 65 %  – bei Weizen betrug der Anstieg 66 %, bei Roggen 71 %. Zit. nach Méthivier, Siècle (wie Anm. 18), S. 17. 209 Edward P. Thompson. The Making of the English Working Class, Harmondsworth 1968, S. 68. 210 Pallach, Hunger (wie Anm. 50), S. 246, 248. 211 Gérard Gayot, Die städtischen Unterschichten in Frankreich 1770–1820, in: Deutschland und Frankreich (wie Anm. 8), S. 339–369, hier S. 348 f. Abb. 1 und Tab. 1 a und 1 b. 212 Vgl. Weis, Durchbruch (wie Anm. 9), S. 47. 213 Der Geologe Rolf Schick, Erdbeben und Vulkane, München 1997, S.  102, schreibt stark vereinfachend: »Die kalten Sommer der Jahre nach 1783 und um 1815/16 ergaben Mißernten und Hungersnöte. In Frankreich führten sie zur Revolution.« Siehe auch Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007, S. 215 f. 214 Stürmer, Herbst (wie Anm. 36), S. 283.

Daher besitzen alle – und das bei dieser gewaltigen Bevölkerungszahl! – dasselbe körperliche Aussehen: trotzige, blaue Augen, rotblondes Haar und große Leiber … Tacitus, Germania

Der vermessene Mensch Über den Einfluss der Ernährung auf Wachstum und Lebenszeit während der Industrialisierung Der berühmte schottische Nationalökonom Adam Smith (1723–1790) erwähnte in seinen historischen Betrachtungen nur zwei Stufen der menschlichen Ernährung: Die Gesellschaft der Jäger und Sammler, so schrieb er, habe in grauer Vorzeit über viel Raum verfügt, denn die Besiedlungsdichte war gering; die Menschen konnten frei umherstreifen, Tiere jagen oder weiden und hatten beträchtliche Mengen an Nahrung, vor allem an Fleisch. Ganz anders die sesshafte Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Sie musste ihre Jagdleidenschaft zügeln und die verschwenderische Weidewirtschaft einstellen und stattdessen zu flächenintensivem Getreidebau übergehen. Im ausgehenden 18.  Jahrhundert saßen die Menschen dicht auf dem Boden, die Erträge der Landwirtschaft waren gering, und die Bevölkerung wuchs jetzt schneller denn je. Eine dritte Stufe der Ernährung hat Adam Smith nicht mehr kennengelernt, obwohl ihre Anfänge, die Agrarrevolution und die ihr folgende industrielle Revolution, in England gerade zu seinen Lebzeiten einzusetzen begannen.

92

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Der allgemeine Nahrungsmangel Die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) waren hundert Jahre nach dessen Ende wohl mehr als ausgeglichen, und die Bevölkerung Zentraleuropas nahm weiterhin zu. Auf dem europäischen Kontinent war der Tiefststand der Ernährungslage gegen 1820 oder 1830 erreicht. Eine noch immer vormoderne Landwirtschaft musste mehr hungrige Münder stopfen als je zuvor, allzu viele. Die Reallöhne nahmen in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts ab.1 Die Kinder des Jahrgangs 1820 blieben kleiner als die von 1750. Aber bald setzte auch hier die Revolutionierung der Landwirtschaft ein, gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Folgen dieser wirtschaftlich-technischen Umwälzung sichtbar, und nun ging auch hier diese zweite Ernährungsstufe langsam zu Ende. Seither herrscht in Mitteleuropa eine dritte Stufe vor: die Veredelungswirtschaft, so genannt, »weil der Ackerbau, der auf der zweiten Stufe unmittelbar der Ernährung diente, mit Getreide und anderen Früchten in den Dienst der Viehhaltung tritt«, schreibt der Agrarhistoriker Wilhelm Abel.2 Diesen Stufen der Ernährung entsprachen weitgehend auch die Stufen der körperlichen Reife und des Wachstums der Jungen. Die durchschnittliche Körpergröße einer Bevölkerung hat mit der Ernährungssituation in der Zeit des Heranreifens der Jungen mehr zu tun als mit genetischen Faktoren.3 Im Spätmittelalter waren die Menschen westlich der Weichsel kleiner als fünfhundert Jahre früher, als es für jeden noch sehr viel Raum und weniger Nachfrage nach Nahrung gab: Im nördlichen Deutschland maßen die Männer im 15. Jahrhundert im Durchschnitt etwa 170 Zentimeter, in Süddeutschland etwas weniger, so zwischen 165 und 170 Zentimeter. Noch etwas größer war in der Regel die wohlhabende städtische Oberschicht, die genügend zu essen bekam. Der Fleischverbrauch war im Spätmittelalter relativ hoch, allerdings wurde seine Höhe lange Zeit überschätzt: Er lag wohl so an die fünfzig Kilogramm im Jahr pro Person4 – aber mit großen sozialen Unterschieden. Die hochwertigen Nahrungsmittel waren teuer und daher sehr ungleich verteilt. Der Mangel an Nahrung, vor allem an hochwertigem Eiweiß, ist wohl der wichtigste Grund, warum die Menschen in den hundert

Der vermessene Mensch

Jahren zwischen der Mitte des 18.  und Mitte des 19.  Jahrhunderts so klein blieben. Sie wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht einmal mehr so groß wie zuvor, soweit es überhaupt zuverlässige, halbwegs repräsentative Daten dazu gibt. Dies zu ermitteln ist nicht einfach, denn wo wurden Menschen gemessen und wer wurde gemessen? Am ehesten noch beim Militär, aber selbst die hier gelieferten Daten sind mit Vorsicht aufzunehmen, denn es waren – vor der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht  – sicherlich die unteren Volksschichten allzu zahlreich vertreten. Aber im Großen und Ganzen war niemand, nicht einmal die Ärzte, über den Gesundheitszustand und die körperliche Tauglichkeit der jungen Bewohner in Stadt und Land besser im Bilde als die Musterungsleute. Das Messen und Wägen von Menschen Die Vorstellung, Menschen zu messen, zu vermessen, war schon im Zeitalter der Renaissance aufgekommen. Der Maler Albrecht Dürer (1471–1528) beispielsweise hat Menschen vermessen, er hat darüber sogar ein Buch geschrieben. Er machte sich allerdings mehr Gedanken über die Proportionen einzelner Teile des menschlichen Körpers zueinander als über absolute Größen. Wissenschaftliches Interesse an Größenwachstum und körperlicher Reife setzte erst später ein. Den Begriff ›Anthropometrie‹ prägte bereits im 17. Jahrhundert der brandenburgische Arzt Johann Sigismund Elsholtz, er war später Leib- und Regimentsarzt der kurfürstlichen Garde. Er scheint überhaupt der erste Arzt gewesen zu sein, der den menschlichen Körper vermaß. Seine Dissertation trug in der ersten Auflage den Titel »Anthropometria« (Padua 1654). Im 18. Jahrhundert beginnt mit dem Arzt Johann Augustin Stoeller (auch Stöller oder Steller) aus dem fränkischen Windsheim eine neue Epoche des Interesses für die menschlichen Maße. Dieser Augustin Stoeller, ein älterer Bruder des berühmten Sibirienreisenden Georg Wilhelm Stoeller (1709–1746) verfasste 1729 das erste Lehrbuch über menschliches Wachstum. Er begann damit, Embryonen und Foeten zu messen: Ein Embryo wiegt soviel wie ein Gerstenkorn, sagt er, und wenn er neun Monate alt ist, also zum Zeitpunkt seiner Geburt, knapp 5 ½ Pfund.5

93

94

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Untersuchungen über die Größe und das Gewicht von älteren Kindern nahm um diese Zeit auch G. E. Hamberger (1697–1755) vor. Hamberger kam aus Jena, er war der Sohn eines Professors für Mathematik und Physik, und folgte seinem Vater auf dessen Lehrstuhl. Er veröffentlichte Tabellen über die Körpergröße von Kindern im Alter von anderthalb, viereinhalb, dreizehneinhalb und achtzehn Jahren. Auch bei seinen Messungen wird die späte Reifung der Jungen deutlich: Das viereinhalbjährige Kind, das er vermaß, würde heute in dieser Altersgruppe zu den kleinsten fünf Prozent gehören; und die von ihm gemessenen Dreizehneinhalb- und Achtzehnjährigen wären heute nur normal in den Altersgruppen von zehn beziehungsweise dreizehn Jahre alten Kindern. In Frankreich beschäftigte sich im 18. Jahrhundert der berühmte Zoologe Georges Louis Leclerc Buffon (1707–1788) gleichfalls mit Fragen der menschlichen Körpergröße oder Körperhöhe. Er stellte fest, dass ein ausgetragenes Neugeborenes zur Zeit der Geburt 18 Daumen maß, knapp 49 Zentimeter. Heute gelten 50 bis 52 Zentimeter als Normalmaß eines Neugeborenen. Buffon bemerkte bereits, dass es von Bedeutung war, ob ein junger Mensch später in der Stadt lebte oder auf dem flachen Land; auf dem Lande reiften die Kinder später heran. Johann Georg Roederer begann gleichfalls sehr früh, Neugeborene zu messen und zu wiegen. Roederer hatte an seinem Geburtsort Straßburg studiert. Seine Untersuchungen erfolgten bald nach denen von Buffon. Er wurde 1751 nach Göttingen berufen und zum Leiter der Gebäranstalt ernannt. Zwischen 1751 und 1762 war er an 232 Geburten beteiligt. Die ausgetragenen Leibesfrüchte, die er auf die Waage legte, wogen bei ihrer Geburt durchschnittlich 2800 Gramm, sie waren also nach heutigen Vorstellungen eher klein und untergewichtig. Neugeborene zu wiegen, blieb noch lange die Ausnahme. Es scheinen zuerst die Pathologen gewesen zu sein, die, vor allem zu gerichtsmedizinischen Zwecken, die Leichen von Neugeborenen auf die Waage legten, um Geburtsgewicht und Reifezustand zu ermitteln, wenn es beispielsweise um die Frage ging, ob die Mutter dem Leben eines lebensfähigen Kindes ein Ende bereitet hatte, etwa durch Ersticken. Einen solchen Fall hatte im Jahr 1854 der in Würzburg praktizierende Pathologe Rudolf Virchow zu untersuchen. »Das

Der vermessene Mensch

Kind war entweder ganz oder doch nahezu ausgetragen«, hielt er in seinem Sektionsbericht fest. »Freilich war es leicht (3 Pfd. 30 Lth. bayr.) und klein (18 ½ Zoll bayr. im Durchmesser.)« Das bayerische Pfund wog 560 Gramm, das Lot 17,5 Gramm – dieses Kind demnach gut 2200 Gramm –, damit sei es lebensfähig gewesen, meinte Virchow, der die Mutter aber ausdrücklich von jeder Schuld freisprach.6 Lange Zeit wusste man auch nicht, dass das Geburtsgewicht eines Neugeborenen von Bedeutung ist. Säuglinge wurden nicht gewogen, – nicht einmal der im Januar 1859 geborene künftige Kaiser Wilhelm II.7 Frühgeburten, so weiß man heute, sind weniger gefährdet als Kinder, die nach normaler neunmonatiger Schwangerschaft stark untergewichtig zur Welt kommen. Regelmäßig gewogen wurden Neugeborene erst nach 1860, und auch dann fing das nur ganz langsam an. Die Rekrutierung Im frühen 18.  Jahrhundert, diesem Zeitalter immerwährender Kriege, begann das preußische Militär systematisch seine Rekruten zu messen: Seinerzeit wurde hier eine Körpergröße von 5 Fuß 5 Zoll als Mindestmaß vorgeschrieben, zuvor scheint man junge Menschen jeder Körpergröße angenommen zu haben. Es gab damals einzelne Monarchen, die für ihre Armeen ausgesprochen großgewachsene junge Männer bevorzugten. Sicherlich waren große Soldaten im Allgemeinen physisch stärker, sie waren im Großen und Ganzen ausdauernder im Marschieren, im Kampf mit dem Bajonett besaßen sie eine größere Reichweite, und sie konnten auch die Vorderlader besser bedienen als die kleinwüchsigen Burschen. Der Größte, der unter dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. bei den »Langen Kerls« diente, war ein Schmied aus Norwegen, 194 Zentimeter groß. Der Preußenkönig soll von körperlicher Größe geradezu besessen gewesen sein. Er glaubte offenbar den alten Geschichten eines Tacitus oder eines Julius Cäsar über die sagenhafte Größe der alten Germanen. Einzelne Anstalten für Militärzöglinge haben gleichfalls Aufzeichnungen über Körpermaße hinterlassen. Eine davon ist die berühmte Stuttgarter Karlsschule, das Steckenpferd des württember-

95

96

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

gischen Herzogs Carl Eugen (1728–1794). Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, nach der großen Hungersnot von 1770/72, begann er damit, die Schüler dieser Anstalt regelmäßig messen zu lassen, zwei bis drei Mal im Jahr. Dabei wurden jedes Mal das zuletzt ermittelte und das neue Maß festgehalten; später fügte man sogar noch explizit die Differenz hinzu. Auf diese Weise konnte der Herzog nicht nur die absolute Größe erfahren, sondern auch das Wachstum seiner Rekruten zu einer bestimmten Lebenszeit, ein sehr wichtiger Maßstab für den Reifeprozess. An dieser Differenz lässt sich ablesen, wann die Zeit des raschesten Wachstums, die Akzeleration, erfolgte.8 In dieser Anstalt wurde auch nach der sozialen Herkunft der Kadetten unterschieden, und dies aus gutem Grund. Zwischen den adligen und den bürgerlichen Kindern zeigte sich eine beträchtliche Größen- und Wachstumsdifferenz: Die zehn- bis zwölfährigen Adelskinder waren im Durchschnitt bereits um 2,5 Zentimeter, die fünfzehnjährigen sogar fast um sieben Zentimeter größer als die niedriggeborenen Knaben. Allerdings waren sie im Alter von 20 oder 21 Jahren ihren bürgerlichen Mitzöglingen nur noch um etwa einen Zentimeter überlegen. Ihr raschestes Wachstum erreichten sie im Durchschnitt mit genau 16 Jahren. Diese Phase setzte bei beiden, den Kindern des Bürgertums und wohl auch bei denen des Adels, etwas später ein als bei heutigen Kindern, und zwar 18 bis 24 Monate später. Und sie erreichten auch nur eine Körpergröße, die deutlich mehr als zehn Zentimeter unter der heutigen liegt. Die Adligen erreichten im Durchschnitt 168,8 Zentimeter Körperhöhe, die nichtadligen blieben gut einen Zentimeter darunter bei 167,6 Zentimeter.9 Der berühmteste Schüler dieser Anstalt war der Dichter und Arzt Friedrich Schiller (1759–1805). Von ihm ist bekannt, dass er zwar ziemlich spät heranreifte, aber doch, all seiner chronischen Gebresten zum Trotz, eine beträchtliche Körperhöhe erreichte. Mit Fragen der Aushebung von Rekruten für die Armee und der Ermittlung ihrer Körperhöhe musste sich auch Johann Wolfgang von Goethe beschäftigen, der am Weimarer Hof ein Ministeramt bekleidete. Goethe war u. a. für die Aushebung von Soldaten zuständig. Es gibt eine Skizze von seiner Hand, die den Vorgang des Maßnehmens zeigte, angefertigt im Jahr 1779. Die Messung sollte stets zum selben Zeitpunkt und unter denselben Umständen erfolgen: am besten

Der vermessene Mensch

Johann Wolfgang von Goethe: »Rekrutenaushebung in Apolda« 1779.

stehend, und zwar morgens, denn am Abend ist der Mensch etwas kleiner,10 was sich zum größten Teil  aus der Nachgiebigkeit der Bandscheiben erklärt. Rekrutenausheben sei »kein sonderlich Vergnügen«, schrieb Goethe am 6. März 1779 an die Frau von Stein, »da die Krüpels gerne dienten und die schönen Leute meist Ehehafften [d. h. eine Ehefrau] haben wollen«. »Alle Krüppels wollen zum Militär gerufen werden und die mit geraden Gliedern wollen Befreiungszertifikate«, klagte er.

97

98

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Wie waren Menschen anderswo beschaffen? Der Begriff des Ancien Régime entstammt der politischen Geschichte Europas, er bezeichnet die Zeit vor der Französischen Revolution, die im Jahr 1789 begann. Aber dieses Zeitalter hatte auch eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Dimension. Die ökonomischen und sozialen Verhältnisse Alteuropas ähnelten einander, daher sollte es auch erlaubt sein, einen Blick auf die Bewohner anderer europäischer Länder zu werfen; es ist anzunehmen, dass die Bewohner der verschiedenen Länder in ihren körperlichen Erscheinungen nicht allzu sehr voneinander abwichen. Für das 18. Jahrhundert weiß man am besten Bescheid über junge Männer in Norwegen, denn hier sind die Rekrutierungsunterlagen seit 1741 erhalten geblieben. Seit diesem Jahr wurden norwegische Rekruten nach einer einheitlich vorgeschriebenen Methode gemessen, und zwar stehend, barfuß, der Einheitlichkeit und Genauigkeit wegen. Sie erreichten die Phase raschesten Wachstums zwischen 17 und 18 Jahren, also reichlich spät. Und sie blieben auch ziemlich klein: Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts maß der 16jährige Norweger 148,2 Zentimeter, der 18jährige 157,7, der 20jährige 164,2 und der 21jährige 165,6 Zentimeter. Die Söhne von Kleinbauern waren in den Jahren 1818 bis 1823 um vier Zentimeter kleiner als die Kinder von wohlhabenderen Bauern. Allerdings nahm dieser Unterschied in den nächsten Jahrzehnten rasch ab.11 Aus norwegischen Untersuchungen geht ferner hervor, dass dort im Jahr 1830 die Erwachsenen nur geringfügig größer waren als 1750. Dies ist nicht weiter erstaunlich, denn in weiten Teilen Europas, so scheint es, nahm die Menge an Ernährung für den Einzelnen unmittelbar nach 1750 eher noch etwas ab. Im östlichen Mitteleuropa war die später geborene Generation, also nach 1800, kleiner als die frühere von 1750. Zuverlässige Quellen aus England zeigen »ein allgemeines Absinken der Körpergröße in weiten Teilen Europas bis zirka 1850 und große soziale Unterschiede: In England gab es 1800 Größenunterschiede von bis zu 20 Zentimeter zwischen Jungen aus den Slums und solchen aus der Oberschicht«.12 In dem halben Jahrhundert nach 1815 verbesserte sich die Ernährungslage in England nicht, in dieser Zeit scheint die allgemeine Ernäh-

Der vermessene Mensch

rungslage in Schottland und Irland sogar besser gewesen zu sein als in England.13 Erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts begann die durchschnittliche Körpergröße in Europa langsam wieder zuzunehmen, um anderthalb Zentimeter, also um drei Millimeter pro Jahrzehnt, zwischen 1875 und 1935 um weitere vier Zentimeter. Festzuhalten bleibt auch, dass das Wachstum noch bis ins frühe 20. Jahrhundert vielfach erst gegen Mitte zwanzig abgeschlossen war. So wuchsen junge Norweger gegen 1813 noch zwischen dem 20. und dem 26. Lebensjahr um dreieinhalb Zentimeter, in Großbritannien gegen 1880 noch um zwei Zentimeter, in Schweden um 1900 noch um einen. Heute hingegen ist der männliche Jugendliche in den bessergestellten Bevölkerungsschichten Westeuropas im Alter von 18 Jahren vollkommen ausgewachsen, der Wachstumsprozess ist bei ihm abgeschlossen. Junge Menschen sind heute deutlich früher körperlich erwachsen als vor hundert oder hundertfünfzigJahren.14 In Frankreich ging der Arzt Louis-René Villermé (1782–1863) bereits der Frage nach, welche Einflüsse Nahrungsmittel allgemein, vor allem aber Hungersnöte, auf das körperliche Wachstum und die Gesundheit haben. Er schrieb darüber seine Doktorarbeit. Als Grundlage für seine Studien dienten ihm die nordspanischen Regionen, die nach 1808 von Napoleons Truppen verwüstet worden waren. Villermé fand heraus, dass in den Jahren 1816/17 nur 45 Prozent der spanischen Rekruten größer waren als 165 Zentimeter; ein paar Jahre später war es dann schon die Hälfte. Er nennt die Größen von Rekruten in Bouches-de-la-Meuse in den Jahren 1808 bis 1810, sie betrug 167,7 Zentimeter. In Chiavari waren sie gar um gut elf Zentimeter kleiner (156 cm). Bestimmt waren die Frauen in diesen Orten noch einmal deutlich kleiner.15 Villermé wusste den Grund für die geringe Körperhöhe: Menschen werden größer und das Wachstum findet schneller statt, je reicher ein Land und je weiter verbreitet ein gewisser Wohlstand ist. Neben dem sozialen Unterschied fand er auch einen Größenunterschied zwischen den Menschen in der Stadt und denen auf dem Land.16 In Belgien hat sich Lambert Adolphe Quetelet (1796–1874) ausgiebig mit Fragen des menschlichen Größenwachstums beschäftigt. Er veröffentlichte 1830 einen Aufsatz »Sur la taille moyenne

99

100

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

de l’homme dans les villes et dans les campagnes, et sur l’âge ou la croissance est complètement achevée« [Über die mittlere Größe des Menschen in den Städten und auf dem Lande und über das Alter, in dem das Wachstum völlig beendet ist]. Im Jahr darauf erschienen seine Recherches sur la croissance de l’homme [Untersuchungen über das Wachstum des Menschen]. Es folgten im Jahr 1833 die Recherches sur le poids de l’homme aux differents âges [Untersuchungen über das Körpergewicht von Menschen verschiedenen Alters]. Quetelet nahm auch Vermessungen an Kindern aus dem Brüsseler Findelhaus vor, an je fünfzig männlichen und weiblichen Insassen dieser Anstalt. Seine Ergebnisse zeigen für die zehnjährigen Knaben eine Körpergröße von 128 Zentimeter (Mädchen 125,6), für die Zwölfjährigen 138,4 (136) cm, für die 14jährigen 148,9 (147,5) cm, die 16jährigen 160 (151,8) cm, für 19jährige 166,5 (157) cm und für junge Erwachsene von 25 Jahren schließlich 168,4 (157,9) Zentimeter. Junge Frauen mit diesem sozialen Hintergrund blieben also um gut zehn Zentimeter kleiner als junge Männer. Quetelet untersuchte 1830 die Vermessungen der Rekrutierungslisten von Brüssel um 1815 und fand heraus, dass die mittlere Höhe der 19jährigen 166,5 Zentimeter betrug, die 25jährigen maßen 167,5 und die 30jährigen 168,4 Zentimeter.17 Das Größenwachstum hörte offenbar erst nach dem 25. Lebensjahr auf, folgerte er. Er fand auch heraus, dass die ländlichen Bewohner Belgiens damals kleiner waren als die Jungen in den Städten. Quetelet kam »mit Blick auf die Bewohner von Brabant zu dem gleichen Ergebnis«.18 Ein Freund und Weggefährte von Karl Marx, der junge Friedrich Engels (1820–1895), Fabrikantenspross aus Barmen, legte in seiner klassischen Studie über »Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen« (1845) über das Höhenwachstum junger Menschen in Großbritannien etwas andere Zahlen vor. Allerdings beziehen sich diese nur auf einzelne Städte Großbritanniens und auf eine besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppe, nämlich auf Fabrikarbeiter, und sind daher nicht für die englische Bevölkerung insgesamt repräsentativ. »Nach der Angabe eines rekrutierenden Unteroffiziers sind die Leute in Birmingham kleiner als irgendwo anders, meist 5 Fuß 4 bis 5 Zoll groß (1 Fuß = 30,48 cm), und aus 613 angeworbenen Re-

Der vermessene Mensch

kruten wurden nur 238 tauglich befunden«, schreibt der junge Engels. »Ein Rekrutierungslieutenant sagt aus, daß die Fabrikarbeiter sich wenig für den Militärdienst eignen; sie sähen dünn und schwächlich aus und würden oft von den Ärzten als untauglich zurückgewiesen. In Manchester könne er kaum Leute von 5 Fuß 8 Zoll (172 cm) bekommen, die Leute hätten fast alle nur 6 (167 cm) bis 7 Zoll (170 cm), während in den Ackerbaudistrikten die meisten Rekruten 8 Zoll hätten.«19 Engels vermittelt die Erkenntnis, dass seinerzeit in England die Landbewohner namentlich in den Jahrzehnten davor, kräftiger und größer gewesen sind als ihre Zeitgenossen in den Städten. Über die werktätige Bevölkerung einer früheren Generation schreibt Engels: »ihre materielle Stellung war bei weitem besser als die ihrer Nachfolger; sie brauchten sich nicht zu überarbeiten, sie machten nicht mehr, als sie Lust hatten, und verdienten doch, was sie brauchten, sie hatten Muße für gesunde Arbeit in ihrem Garten oder Felde. […] Sie waren meist starke, wohlgebaute Leute, in deren Körperbildung wenig oder gar kein Unterschied von ihren bäurischen Nachbarn zu entdecken war. Ihre Kinder wuchsen in der freien Landluft auf, und wenn sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen konnten, so kam dies doch nur dann und wann vor, und von einer zwölfstündigen täglichen Arbeitszeit war keine Rede.«20 Die Lebensumstände waren unter dem Ancien Régime und während der industriellen Revolution radikal unterschiedlich und ungleich, die Angehörigen der Oberschicht  – »die Großkopfeten«  – waren deutlich größer als die der unteren Volksschichten. Noch im Jahr 1815 war der Durchschnittsarbeiter in Großbritannien um rund zwölf Zentimeter kleiner als ein Angehöriger der Oberschicht. Die Kadetten der Sandhurst Academy waren um zwanzig Zentimeter größer als gleichaltrige Buben aus den Londoner Slums. Kinder aus der Unterschicht waren deutlich kleiner als sechzig Jahre davor, die Unterschiede zur Oberschicht hatten zugenommen.21 Die körperlichen Unterschiede zwischen den sozialen Schichten blieben in Alteuropa auffallend groß: So war im Jahr 1862 der durchschnittliche Strafgefangene im Gefängnis zu Liverpool, 18jährig, einen Kopf kleiner als der Student an der Universität Edinburgh. Zwischen Volksschülern und Gymnasiasten zeigten sich ebenfalls deutliche Unterschiede. Noch in den 1870er-Jahren waren Kinder von

101

102

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Fabrikarbeitern kleiner als andere Kinder. Bei 12jährigen machte der Unterschied vier Zentimeter aus, und sie waren um zwei Kilogramm leichter.22 Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, so könnte man zusammenfassen, herrschten sehr unterschiedliche Körpergrößen vor, die Unterschichten waren deutlich kleiner als die Angehörigen der Mittel- oder Oberschicht. Nicht weniger wichtig als die absolute Körpergröße war jedoch der Zeitraum des raschesten Wachstums, der Akzeleration. Er setzte in der Vergangenheit viel später ein als heute, wenngleich sich auch hier individuelle und soziale Erscheinungen abzeichnen. Von einigen großen Komponisten weiß man das Alter, in dem sie aus einem Knabenchor ausscheiden mussten: Joseph Haydn (1732–1809) mit 18 Jahren, Franz Schubert (1797–1828) mit 16, Anton Bruckner (1824–1896) bereits mit 15 Jahren. Im 20. Jahrhundert mussten viele schon mit 13 oder 14 Jahren den Knabenchor verlassen, weil bei ihnen der Stimmbruch einsetzte, und die sozialen Unterschiede von einst waren so gut wie verschwunden. Wir sind es heute gewohnt, dass es – zumindest in den Industriestaaten – beständig »aufwärts geht«. Die jungen Menschen um uns herum sind größer als die Zeitgenossen vor fünfzig oder hundert Jahren, sie sind besser genährt, haben mehr Freizeit und eine deutlich höhere Lebenserwartung. Wir haben uns an diese Art Fortschritt gewöhnt. In der Vergangenheit verlief diese Entwicklung häufig andersherum, soll heißen: Da ging es einer Generation durchaus schlechter als der Generation ihrer Eltern.23 Auf dem europäischen Kontinent verstärkten sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts viele Erscheinungen, die auf allgemeine Not und Elend hinweisen. Die Körperhöhe nahm ab. 16jährige deutsche Buben aus der Unterschicht maßen in den 1790er-Jahren gerade einmal 151,1 cm, während gleichaltrige Amerikaner um genau sieben Zentimeter größer waren.24 Die Zahl der Menschen wuchs; der Einzelne blieb klein, die Lebenserwartung niedrig.25 Ganz ähnlich sah es in anderen Teilen des vorindustriellen Europa aus.

Der vermessene Mensch

In der Vergangenheit war die durchschnittliche Körpergröße Schwankungen unterworfen. In wirtschaftlich guten Zeiten wurden die Menschen größer, in schlechten Zeiten blieben sie kleiner.

Körperhöhen im Deutschen Bund Deutschland bestand in dem halben Jahrhundert nach 1815 aus einer Vielzahl von Staaten – insgesamt waren es fast vierzig – und für einzelne deutsche Gliedstaaten liegen Aufzeichnungen über die Größe der Rekruten vor. Die Angaben aus dem Großherzogtum Baden für die Jahre 1840 bis 1864 beziehen sich auf eine große Anzahl von Rekruten, es wurden immerhin zwei von neun Einwohnern männlichen Geschlechts gemessen. Erstaunlicherweise zeigt die Verteilung der Körpergrößen bei 20jährigen Rekruten nicht die Gestalt einer Glocke, mit einer einzigen Spitze nahe der Mitte, wie sie der Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777–1855) ermittelt hat und wie sie seither als »Gauß’sche Normalverteilungskurve« bekannt ist. Diese Kurve wies nicht einen Höhepunkt in der Mitte auf, sondern sie hatte zwei Spitzen. Bildet man Gruppen, die höchstens um drei Zentimeter voneinander abweichen, so waren 23,3 Prozent der Rekruten etwa 1,60 Meter groß, 21,1 Prozent fielen in die Kategorie um 1,69 Meter; die anderen Personen waren kleiner. Ähnliches hatten Offiziere im französischen Jura bemerkt: Dort lagen die beiden Spitzenwerte bei 5 Fuß und bei 5 Fuß 2 Zoll. Im Badischen kamen die kleineren Rekruten aus dem mittleren Schwarzwald und dem

103

104

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Neckargebiet, die größeren aus dem Bodenseeraum und aus der Rheinebene. Die mittlere Höhe eines 20jährigen badischen Rekruten betrug damals 1,64 Meter, wobei man bedenken muss, dass ein 20jähriger seinerzeit noch nicht vollkommen ausgewachsen war.26 Ziemlich genau die gleichen Werte erhält man einige Jahre später aus dem Königreich Württemberg, wo Jahr für Jahr gewöhnlich 37 700 bis 40 000 Militärpflichtige im Alter von 20 bis 21 Jahren gemustert wurden. Das kleinste vorgeschriebene Maß betrug hier 5 Fuß 5 Zoll württembergisches Dezimalmaß, das entspricht einer Körpergröße von 158 Zentimetern. Bei den in den Jahren 1829 bis 1833 Gemusterten zeigt sich Folgendes: »Die Meisten hatten eine Größe von 5' 8". Die mittlere Größe sämmtlicher gemessener Individuen beträgt 5 Schuh 8 ¼ württembergische Decimalzolle, oder näher 58,25 württembergische Decimalzolle = 61,64 pariser Duodecimalzollen«, heißt es in der Dissertation von Johann Jakob Riedle.27 Diese alten Maßeinheiten, bis 1868 offiziell in Gebrauch, besagen, dass in den um 1830 gemessenen Personen am häufigsten die Körperhöhe von 1,64 Metern vertreten war. Der Mediandurchschnitt lag etwas höher, bei 1,67 Meter, weil offenbar einige sehr große Burschen diesen Durchschnitt nach oben zogen. Die Zahl der als klein oder gebrechlich Eingestuften war bedeutend: Von den zwischen 1829 und 1833 Gemusterten wurde mehr als die Hälfte infolge zu geringer Größe oder infolge körperlicher Gebrechlichkeit vom Militärdienst freigestellt. Die nicht für tauglich Befundenen kamen häufiger aus dem Donautal oder von der Schwäbischen Alb, aus den Oberämtern Ulm, Blaubeuren, Waiblingen, Münsingen, aus Regionen, wo übrigens auch die Säuglingsund Kleinkindersterblichkeit sehr hoch war. Kleinwüchsigkeit, Gebrechlichkeit und hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit häuften sich in einigen Gebieten. So waren zum Beispiel in den Oberämtern Rottweil, Wangen, Reutlingen von tausend Gemessenen weit mehr als ein Drittel, zwischen 356 und 382 Rekruten, 1,72 Meter groß oder größer – in den Oberämtern Marbach, Meresheim und Maulbronn hingegen nur halb so viel, nämlich zwischen 145 und 158. Von tausend Gemessenen aus den Oberämtern Marbach und Weinsberg war fast ein Viertel kleiner als 1,58 Meter, hingegen war es in Spaichingen, Biberach und Waldsee nur einer von zwanzig. Unter

Der vermessene Mensch

tausend Gemusterten aus Cannstatt, Gaildorf und Waiblingen war weit mehr als die Hälfte gebrechlich, in Biberach, Ravensburg und Mergentheim hingegen nur jeder vierte.28 Ganz ähnlich war das Bild im Königreich Bayern. Von den in Franken gemusterten jungen Männern war im Jahr 1815 nicht einmal die Hälfte tauglich, obwohl die Musterungsoffiziere sicherlich nicht allzu wählerisch waren. Wenn man die Tauglichkeit auf Berufsgruppen bezieht, heißt das: Die Rekruten aus den nahrungsmittelbereitenden Berufen – wie Metzger und Bäcker – waren ungleich kräftiger als die Schneider oder Schuster. Schneider waren meist schwach – so erklärt sich auch das Paradox vom »tapferen Schneiderlein«: Einige Städte stellten ihre Schneider beim Wachdienst auf der Stadtmauer an die Stellen, wo nicht mit einem feindlichen Angriff gerechnet werden musste. Von den ins bayerische Heer einberufenen Jungmännern kamen die Soldaten mit dem geringsten Gewicht aus Nürnberg, schreibt der in staatlichen Diensten stehende Arzt Ferdinand Escherich und nennt auch ihre Körpergröße und ihr Gewicht: Im Durchschnitt waren sie 164 Zentimeter groß und knapp 116 Pfund schwer, wobei hier vielleicht noch das alte bayerische Pfund Verwendung fand, das 560 Gramm entsprach. Im Durchschnitt noch etwas kleiner waren Rekruten aus Fürth, hier zog der relativ hohe Anteil von Juden den Durchschnitt nach unten, denn die Fürther Juden waren kleiner als die christlichen Jungmänner. »In noch ungünstigerem Verhältnisse war der Bruchteil der Tauglichen, indem von 100 christlichen Conscribirten 41 und von 100 israelitischen Conscribirten nur 31 für militärdiensttauglich erkannt wurden.« Auch in Erlangen und Schwabach lag die Körperhöhe der meisten Jungen unter dem Durchschnitt.29 Mitte des 19. Jahrhunderts, als in Deutschland die Industrialisierung im vollen Gange war, war die Landbevölkerung häufiger militärtauglich als die Jungen in den Städten. Auch im Königreich Sachsen, das sich sehr früh zu industrialisieren begann, waren die Städter häufiger untauglich  – und kleiner  – als die Landbevölkerung.30 In Sachsen lag der Anteil der Tauglichen zwischen 1826 und 1854 bei 70 Prozent, 31 Prozent der Gestellten wiesen eine allgemeine Schwächlichkeit auf.

105

106

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Es wäre interessant, Steckbriefe des ausgehenden 18. oder frühen 19. Jahrhunderts als Grundlage einer solchen Untersuchung heranzuziehen; die Körpergröße des Gesuchten war in der Regel vermerkt. Steckbriefe gab es seinerzeit genug, denn eine Vielzahl von Menschen zog als Vaganten umher, Menschen ohne festes Zuhause.31 Sehr viel später, kurz nach 1870, wertete jemand ältere Steckbriefe aus, allerdings mit einer ganz anderen Absicht: Er protestierte gegen die kurz zuvor eingeführten metrischen Maße, die er für »unpraktisch« hielt, und führte an, dass »selbst die Behörden sich genöthigt (sehen), auf die alten Masse zurückzugreifen, wie man denn in den meisten Steckbriefen, statt (Grösse:) 166 ½ Centimeter, heute wieder 5 Fuss 4 Zoll liest«. Auch für die steckbrieflich Gesuchten dürfte zutreffen, dass sie wohl eher zu den Kleinwüchsigen zählten. Für Teile der k. u. k. Monarchie liegen gleichfalls Daten über Rekrutenmessungen vor: In Böhmen waren die Rekruten im Jahr 1790 nur 160,8 Zentimeter groß. In Galizien nahm die Körpergröße der Rekruten zwischen 1750 und 1820 um gut zehn Zentimeter ab, von 168,9 cm auf 158,8 Zentimeter, und auch in Ungarn erreichte die Größe der Rekruten erst gegen 1820  – mit durchschnittlich 163,7 Zentimetern – einen Tiefststand.32 Körperhöhe von 23jährigen Soldaten in Ländern der Donaumonarchie (in cm)33 Geburtsjahr

Ungarn

Galizien

Böhmen

1750

170,1*

168,9

164,4

1780

163,3

164,2

163,8

1820

163,7

158,8

k. A.

*1740 k. A. = keine Angaben

Der vermessene Mensch

Aus den Anfängen der industriellen Revolution und wie es davor war In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, um das Jahr 1770, setzte in England die industrielle Revolution ein. Die Anfänge der Industrialisierung brachten zunächst der breiten Bevölkerung einen sinkenden Lebensstandard. Aber das alte Wirtschaftssystem, das den größten Teil des Volkes in der Landwirtschaft band, vermochte die wachsende Zahl von Hungrigen nicht mehr zu ernähren. Die Reallöhne nahmen in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts ab. Die Kinder des Jahrgangs 1820 waren kleiner als die um 1780 geborenen. Die Industrialisierung war hart, die Arbeitsstunden nahmen zu, die Lebensumstände verschlechterten sich. Aber welche Alternative hätte es gegeben? Im ausgehenden 18.  Jahrhundert waren die sozialen Zustände schrecklich, auf dem Land wie in den Städten. Es gab viele Waisen- und Findlingshäuser, in denen arme, barfußlaufende, unterernährte, ungezieferbehaftete, bresthafte kleinwüchsige Kinder ihr Dasein fristeten. In den Jahrzehnten vor 1820 herrschte in Europa schreckliche Armut, Schriften über die »allgemeine Povertät« waren Legion. »Am Ende des Ancien régime [d. h. kurz vor 1800] lebte die Mehrzahl der deutschen Familien an der Grenze des Existenzminimums.«34 Die meisten Haushalte gaben mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus, viele sogar sehr viel mehr. Am Vorabend der Industrialisierung waren die Menschen in Europa ziemlich klein und schwächlich. Der amerikanische Sozialhistoriker Robert Fogel, Nobelpreisträger für Nationalökonomie (1993), nimmt an, dass vor dem Jahr 1800 zehn Prozent der europäischen Bevölkerung infolge Energiemangels in ihrer Mobilität eingeschränkt und weitere zehn Prozent nicht voll arbeitsfähig waren. Die Unterschichten bekamen zu wenig zu essen, in Frankreich erhielten sie im Jahr 1785, vier Jahre vor Ausbruch der Revolution, nur etwa 1848 Kilokalorien täglich.35 In England setzte im letzten Drittel des 18.  Jahrhunderts eine Entwicklung ein, die man als industrielle Revolution bezeichnet. Wie lange zuvor die neolithische Revolution, hat sie das menschliche Leben grundlegend verändert: Die neolithische Revolution

107

108

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

machte aus Jägern und Sammlern sesshafte Bauern; die industrielle Revolution bescherte den Nachlebenden unvorstellbaren Wohlstand und Verbesserungen der Lebensqualität. Erst diese zweite große Umwälzung brachte es mit sich, dass in den Industriestaaten die Menschen heute größer und gesünder sind, viel länger leben, dass sie weniger lange arbeiten, besser wohnen und sich sehr viel besserer Lebensbedingungen erfreuen. Als ›industrielle Revolution‹ bezeichnet man den Gesamtkomplex von technischen Neuerungen, die den Übergang vom alten Handwerk zum Fabrikwesen markieren und eine neue Wirtschaftsform hervorbrachten. Was zuvor menschliche Hände gefertigt hatten, das machten neuerdings Maschinen; statt tierischer Energie wurden jetzt unbelebte Energieträger wie Kohle eingesetzt; und es kam zu Verbesserungen im Transport und im Verarbeiten von Rohstoffen. Eine wichtige Folge der industriellen Revolution bestand darin, dass die Wirtschaft fortan viel schneller wuchs und sehr viel mehr Produkte viel schneller und viel billiger erzeugte als zuvor. Die industrielle Revolution zählt zu den bedeutendsten Ereignissen der Menschheitsgeschichte, sie stellte – in den Industriegesellschaften – das Leben vollkommen um. Aber der Aufbau der Industrie, der so viel körperliche Kraft erforderte, wurde nicht etwa von großen, starken Menschen geleistet – nein, in den Jahrzehnten nach 1830 waren in Deutschland die meisten Arbeiter um neun Prozent kleiner als heute und schon daher körperlich weniger leistungsfähig. Sie waren kleiner und schwächer, hausten in ärmlichen Verhältnissen, sie arbeiteten Jahr für Jahr doppelt so lange wie wir heute, und ihre Lebenserwartung war nur halb so hoch wie unsere. Die Unterschichten waren deutlich kleiner als die Mittel- oder Oberschicht, und dieser Unterschied nahm in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch einmal zu. Infolge von Nahrungsmangel, vor allem an hochwertigem Eiweiß, und den hohen Arbeitsbelastungen blieben die Menschen aus der Unterschicht klein. Großbritannien war dabei der Vorreiter. Schon der Beginn der industriellen Revolution führte hier zu einem beständigen, sich selbst tragenden (self-sustaining) Wachstum der Produktion. Das jährliche Wirtschaftswachstum lag anfangs, zwischen 1800 und 1830, noch bei 0,5 Prozent, in den dann folgenden sechzig Jahren aber bei

Der vermessene Mensch

1,4 Prozent. Die industrielle Revolution erzeugte rasch wachsenden Volkswohlstand; doch sie vertiefte die alte Ungleichheit der Wohlstandsverteilung. Der neu erworbene Wohlstand konzentrierte sich mehr und mehr in den Händen der Fabrikherren. Es dauerte seine Zeit, ehe auch die Arbeiter daran beteiligt wurden. Arbeitszeiten in der jungen Industrie Die industrielle Revolution bedeutete zunächst einmal ein Mehr an Arbeit, denn es mussten die Fabrik- und Maschinenanlagen aufgebaut werden. Die Industrie bot viel Arbeit an. Landarbeiter zogen in die Städte und verdingten sich als Fabrikarbeiter. Im Verlauf der industriellen Revolution nahm der Anteil des sekundären Sektors rasch zu. Am Ende des 18. Jahrhunderts waren noch rund drei Viertel der Deutschen im primären Sektor beschäftigt; aber schon im Jahr der Reichsgründung, 1871, war nur noch die Hälfte der Deutschen in der Landwirtschaft tätig, die andere Hälfte im sekundären (Industrie) oder tertiären Wirtschaftssektor (Dienstleistung). Die Industrialisierung brachte es mit sich, dass in den Jahrzehnten zwischen 1840 und 1880 länger gearbeitet wurde als davor. Die tägliche Arbeitszeit in der Industrie belief sich auf 12 bis 15 Stunden; die wöchentliche bis 1860 auf 80 bis 85 Stunden. In vielen Fabriken wurde auch sonntags gearbeitet. Nach 1870 betrug die Wochenarbeitszeit noch immer 72, in den 1880er-Jahren 66 Stunden.36 Die meisten arbeiteten 52 Wochen im Jahr, denn bezahlten Urlaub gab es für Arbeiter nicht.37 Die Jahresarbeitszeit erreichte im Deutschen Reich gegen 1880 mit über 3300 Stunden ihren Höhepunkt – heute sind es weniger als 1600 Stunden. Ein erwachsener Arbeiter verbrachte seinerzeit beinahe die Hälfte seiner Zeit an seinem Arbeitsplatz, die  – oft sehr langen  – Wege zur Arbeit noch gar nicht berücksichtigt. Wirkliche Freizeit und Zeit zum Erholen blieb da kaum. Die Arbeiter verwendeten eigentlich ihre gesamte freie Zeit dazu, ihre Arbeitskraft wiederherzustellen. Bis etwa 1875 war Freizeit also äußerst knapp bemessen, und die körperlichen Kräfte des Einzelnen waren rasch erschöpft.38 Erst nach 1880 nahmen die Lebensarbeitszeit ab und die Lebenserwartung sowie das Einkommen deutlich zu. Noch um das Jahr

109

110

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

1900 verbrachte ein Arbeiter in Deutschland ein Drittel seines Lebens am Arbeitsplatz. Für die Zeitgenossen brachte die industrielle Revolution unglaubliche Härten mit sich, vor allem große körperliche Anstrengungen und einen niedrigen Lebensstandard. Die Säuglingssterblichkeit stieg in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland noch einmal an; 1866, im Jahr des preußisch-österreichischen Bruderkriegs, als überdies noch eine tödliche Seuche umging, die Cholera asiatica, überstieg die allgemeine Sterblichkeit in Deutschland noch einmal die 30 Promille-Grenze (30,8), nachdem sie zuvor meist unter 28 Promille gelegen hatte.39 Die Lebenserwartung lag bis 1880 in Preußen, nimmt man beide Geschlechter zusammen, deutlich unter 40 Jahren, nur fünf von hundert Deutschen waren damals älter als 60 Jahre. In den folgenden einhundertzwanzig Jahren, bis 2000, verdoppelte sie sich. Die hohen körperlichen Belastungen, denen die Zeitgenossen ausgesetzt waren, lassen sich am deutlichsten an der Säuglingssterblichkeit ablesen. Die Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit war im 19.  Jahrhundert in ganz Deutschland sehr hoch, vor allem im Süden. Sie war in Deutschland höher als in anderen europäischen Ländern, zeitweise sogar höher als in Russland, und sie stieg noch an und erreichte erst in den 1860er-Jahren ihren Höhepunkt.40 Die Säuglingssterblichkeit nahm also in Preußen in diesem Zeitraum um 22 Prozent zu, in Bayern um knapp 15 Prozent – die Erklärung dafür könnte darin bestehen, dass in Preußen die Industrialisierung rascher erfolgte und daher viel schärfer ausfiel. Die Säuglinge waren die schwächsten Glieder dieser Gesellschaft, sie zahlten für den Aufbau der Industrie mit dem Leben. Die körperliche Beschaffenheit und Leistungskraft der Zeitgenossen Wie waren die Menschen beschaffen, die in den Jahrzehnten nach 1830 in Deutschland die Industrie aufbauten? Wie leistungsfähig waren sie körperlich? Am besten Bescheid wissen wir aus den Erhebungen der Militärärzte von Rekruten, denn sie wurden gemessen und ärztlich begutachtet. Die Körperhöhe eines Menschen bildet eine Art Ersatz-Information, ein Proxy, das den biologischen Lebensstandard einer Bevölkerung anzeigt. An der Körperhöhe lässt

Der vermessene Mensch

sich, zumindest grob, der biologische Lebensstandard einer Bevölkerung ablesen.41 Die durchschnittliche Körperhöhe einer Bevölkerung hat mit der Ernährungssituation in der Zeit des Heranreifens mehr zu tun als mit genetischen Faktoren. Selbst Kinder von sehr großen Eltern bleiben relativ klein, wenn sie in Zeiten der Not heranwachsen. »Aus der Zusammenstellung ihrer Lebens-Verhältnisse erklärt sich, warum ihr Gesundheits-Zustand, ihre Lebensdauer im Allgemeinen möglichst schlecht bestellt sind«, schrieb ein zeitgenössischer Arzt. »Die Kinder theilen grossentheils schon von Geburt an diesen Fluch, mangelhaft genährt und auferzogen, schon in zarter Jugend mit übermässiger Arbeit belastet, ausgebeutet von der Gewinnsucht der Fabrikherren und der Armuth der Eltern. Ihr Wuchs ist meistens unter der mittleren Grösse, der Körper schwächlich, zart, schlecht genährt, von kränkelnder Blässe, ihre Constitution meist eine lymphatische, blutarme, wo nicht cachektische, das geistigsittliche Wesen nicht minder schlaff, häufig mehr oder weniger gesunken, oft von Grund auf corrumpirt. Von Krankheiten ist die Fabrik-Bevölkerung allüberall am häufigsten gewissen Störungen im Ernährungs-Prozesse, im Stoff-Umsatz des Körpers, unterworfen. Aus allem dem erklärt sich zur Genüge, wie die mittlere Lebensdauer der Fabrikarbeiter und dergleichen unendlich kürzer ausfällt, als bei irgend einer anderen Klasse der Bevölkerung.«42 Während des Aufbaus der Industrie waren die englischen Arbeiter ziemlich klein, sie waren etwas kleiner und vermutlich schwächlicher als gleichaltrige schwarze Sklaven in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort wurden bei Sklavenkindern im Alter von 14 Jahren für Knaben 146,5 und für Mädchen 148,9 Zentimeter ermittelt, für 16jährige 158,8 und 156,6 cm, für 18jährige 166 und 159,2 cm und für 21jährige 171,1 bzw. 159,2 Zentimeter. Erwachsene schwarze Sklaven auf den Plantagen im Süden der USA waren den englischen Arbeitern in ihrer Körperhöhe überlegen, sie waren im Durchschnitt 1,70 Meter groß. Die amerikanischen Sklaven übertrafen die englischen Arbeiter übrigens auch in ihrer Lebenserwartung: 40 Jahre bei der Geburt.43 Im Verlauf der industriellen Revolution ging in vielen Ländern, selbst in den USA, die Körperhöhe der Unterschichten zurück.44

111

112

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Einige Ärzte erkannten bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass zwischen Sterblichkeit, Körperhöhe und Lebenserwartung ein Zusammenhang besteht. Wo die allgemeine Bevölkerung am größten und schwersten war, da war auch die Lebenserwartung höher – im Großen und Ganzen war sie freilich noch immer niedrig, ein sehr hohes Alter erreichten die allerwenigsten. Von denen, die ihren zwanzigsten Geburtstag erlebten, starb etwa die Hälfte vor ihrem sechzigsten. Die Sterblichkeit war von Region zu Region ziemlich unterschiedlich: »Von 100 Verstorbenen über 20 Jahren, waren über 60 Jahre alt in Schwaben 55,09, in der Pfalz 44,22. Nächst der Pfalz hatten nach derselben Berechnung den kleinsten Bruchtheil von Leichen im Alter über 60 Jahren Oberfranken mit 49,79 und Unterfranken mit 50,11 %.«45 Von den in der Stadt Nürnberg im Jahr 1869 verstorbenen Personen waren lediglich 9,26 Prozent über siebzig Jahre alt, 15,45 Prozent waren zwischen 50 und 70 – weit mehr als ein Drittel, 35,74 Prozent, hatten das erste Lebensjahr noch nicht vollendet.46 Menschen in der Fabrik Im frühen 19.  Jahrhundert kamen dann weitere Gründe hinzu, warum man die Körpergröße und das Gewicht vor allem von jungen Menschen wissen wollte: Es waren in erster Linie Sozialreformer, die die Nöte ihrer Zeit erkannten und dem Einzelnen helfen wollten, ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Für sie war der Hinweis auf die geringen Körpermaße der Zeitgenossen gleichsam ein Appell an die Menschlichkeit. Aber es gab weitere Argumente gegen die Ausbeutung und die Kleinwüchsigkeit junger Menschen: Nach Beschwerden eines Generals von Horn im Jahr 1828, dass infolge der nächtlichen Fabrikarbeit der Kinder der Ersatz für die Armee unzureichend ausfalle, begann man die Dauer der Arbeitszeit für Kinder gesetzlich zu begrenzen. Auch der Fabrikgesetzgebung dienten diese Messungen als Grundlage. Die Frage nach der Körpergröße und der physischen Leistungskraft wurde bald auch von anderer Seite gestellt, nämlich von den Fabrikherren. Sie lautete unausgesprochen: Wie groß und stark muss ein Kind sein, bevor es in meiner Fabrik arbeiten kann? Welche Leistung erbringt so ein kleinwüchsiges, unterernährtes Arbei-

Der vermessene Mensch

terkind? Seine schwächlichen Arme ließen kaum produktive Arbeit zu, seine Produktivität war mithin gering – es lohnte sich also kaum, dieses Kind auszubeuten. Tatsächlich waren in Alteuropa die Unterschiede in den körperlichen Erscheinungen zwischen den sozialen Schichten auffallend groß. Noch in den 1870er-Jahren waren Kinder, die von Leuten abstammten, die gleichfalls Fabrikarbeiter waren und selbst bereits in einer Fabrik arbeiteten, kleiner als andere Kinder. Bei 12jährigen machte der Unterschied vier Zentimeter aus, und sie waren um zwei Kilogramm leichter. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, im Verlauf der Hochindustrialisierung, als mit 3300 jährlichen Arbeitsstunden in der Industrie mehr als doppelt so lange gearbeitet wurde wie hundert Jahre später,47 kam ein neues Interesse an der Körpergröße auf: Die seit 1888 in Hamburg erscheinende »Zeitschrift für Schulgesundheitspflege« interessierte sich für derlei Fragen. Jetzt kümmerten sich sozial denkende Ärzte um die Schulen und Schüler. Auch eine zweite Gruppe zeigte jetzt Interesse für körperliche Maße, und zwar die Anthropologen: Nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 hatte ein französischer Gelehrter die Deutschen als Nachkommen der dunklen mongolischen Rasse bezeichnet. Das nahm die deutsche Anthropologie zum Anlass, rund sieben Millionen Schulkinder zu vermessen, wobei es allerdings weniger um Körpergröße und Wachstumsphasen ging, sondern eher um ethnische Charakteristika wie die Farbe der Augen und der Haare, Lang- und Breitschädeligkeit.48 In Deutschland hat Julius H. W. Lehmann (1800–1863) Untersuchungen vorgenommen, die sich vor allem auf den Zeitraum des schnellsten körperlichen Wachstums junger Menschen beziehen. Er fand alte Häuser, wo an den Türrahmen zu den Zimmern die Körpergröße von Kindern und ihr genaues Lebensalter markiert waren. Lehmann hat auch seine eigenen Körpermaße – im Alter von »9,934 bis 23,822« Jahren, wie er schreibt – festgehalten. Er wusste, dass sich bei einigen Knaben, vor allem auf dem Lande, die Akzelerationsphase, die schon zwischen zehn und sechzehn Jahren beginnen kann, erst mit achtzehn oder achtzehneinhalb Jahren einsetzte. Heute setzt der pubertäre Wachstumsschub bei Knaben meist zwischen dreizehn und fünfzehneinhalb Jahren ein, er bewirkt eine

113

114

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Größenzunahme um etwa zwanzig Zentimeter und eine Gewichtszunahme von rund zwanzig Kilogramm. Die durchschnittliche Körpergröße der 20jährigen hat zwischen 1955 und 1990 um sechs Zentimeter zugenommen, von 1,74 auf 1,80 Meter. Und sie steigt weiter. Die körperliche Reifung junger Frauen Über die körperliche Reife der jungen Männer in Mitteleuropa sind wir weitaus besser im Bilde als über die des weiblichen Geschlechts. Mädchen und Frauen wurden seltener gemessen, denn sie mussten nicht zum Militär. Aber es gibt Durchschnittswerte: Anthropologen sagen, dass Frauen im Durchschnitt um sechs oder sieben Prozent kleiner sind als Männer.49 Demnach dürften Frauen Mitte des 19. Jahrhunderts im Durchschnitt nur etwa 1,55 Meter groß gewesen sein. Es gibt einige andere, samt und sonders jedoch schwieriger zu erfassende objektive Kriterien der menschlichen Reifung: die Proportion verschiedener Körperteile zueinander, der Zustand des Milchgebisses, die Verknöcherung der Handwurzelknochen und andere. Aber sie entziehen sich, bezogen auf die Menschen von einst, der Kenntnis des Historikers. Frauen haben eine Eigentümlichkeit, die sich trotz ihres intimen Charakters gut heranziehen lässt, die Monatsblutung. Ihr Einsetzen, die Menarche, ist ein guter Maßstab für den Eintritt der Pubertät. Für die Einschätzung der körperlichen Reifung junger Frauen in der ferneren Vergangenheit ist daher die Menarche ein brauchbarer Maßstab. Menarche und allgemeine körperliche Reifung hängen eng zusammen, auch lässt sich am Eintrittsalter der Menarche der Ernährungszustand ablesen: Je besser die Ernährung, desto früher setzt sie ein. Hingegen ist der Einfluss von Klima und ethnischer Zugehörigkeit sehr viel kleiner als gemeinhin vermutet wird. Das Eintreten der Monatsblutung wird von sensiblen Mädchen als ein so einschneidendes Erlebnis verstanden, dass viele junge Tagebuchschreiberinnen dieses Ereignis in ihren Aufzeichnungen festhielten. So schreibt Anne Frank, damals 14 ½ Jahre alt, unter dem 5.  Januar 1944 in ihrem »Tagebuch«: »Jedesmal, wenn ich unwohl bin – und das ist bis jetzt dreimal gewesen –, habe ich das Gefühl, trotz der Schmerzen, des Unangenehmen und Ekligen, ein süßes

Der vermessene Mensch

Geheimnis mit mir zu tragen. Trotz aller Beschwerden freue ich mich auf die Zeit, in der ich es von neuem fühle. Sis Heyster sagt, daß junge Mädchen meines Alters noch unsicher sind, aber dann zu der Erkenntnis kommen mit selbständigen Ideen, Gedanken und Gewohnheiten. Ich bin hierher ins Hinterhaus gekommen, als ich eben dreizehn Jahre alt war, und so habe ich vielleicht schon früher als andere Mädchen angefangen, über alles nachzudenken und mich als Menschen zu empfinden, der für sich selbst einstehen will. Mitunter kann ich es Abends nicht unterlassen, meine Brüste zu betasten und zu hören, daß mein Herz sicher und ruhig schlägt.« Außerdem können sich viele erwachsene Frauen ziemlich genau daran erinnern; es ist also möglich, zuverlässige Angaben darüber zu bekommen. Was wissen wir über ihr Auftreten bei den Frauen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit? Wenig genug. Ältere Zeugnisse deuten an, dass die erste Monatsblutung bei jungen Mädchen etwa im Alter von 14 Jahren auftrat. Mit 13 Jahren, heißt es in dem Buch »De Secretis Mulierum«, das Albertus Magnus zugeschrieben wird. Und Hildegard von Bingen, die als erste deutsche Frau im 12. Jahrhundert davon berichtet, nennt für ihre eigene Person das 15. Lebensjahr.50 In der Vergangenheit wurden, viel mehr als heute, die jungen Menschen in unterschiedlichen Jahren körperlich reif, es war dies stark von ihrer Schichtenzugehörigkeit abhängig, und das hieß zugleich: von ihrem Ernährungszustand. Der italienische Arzt Guarinoni veröffentlichte 1610 ein Buch mit dem Titel »Die grewel der Verwüstung menschlichen Geschlechts«. Guarinoni wusste, dass in Deutschland die Töchter von Bürgern und Adligen bedeutend früher körperlich reif waren als etwa die einfachen Bauernmädchen. In seinem Buch schreibt er: »Im 20. Jahr werden die Jünglich starck, rauch ums das Maul und Leib, die Mägdlein frucht- und mannbar. [… Sie] bekommen ihre Blumen.« Bei den Bauernmädchen aus dieser Landschaft beginnt die monatliche Blutung im Allgemeinen viel später als bei den Töchtern der Stadtleute oder der Aristokratie, selten vor dem 17., 18. oder sogar dem 20. Jahr. Aus diesem Grund leben sie auch viel länger als die Stadtleute und die Kinder der Adligen und werden nicht so früh alt, schreibt er weiter.51

115

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

17,0

Norwegen Finnland

16,0 Menarchealter in Jahren

116

Schweden 15,0

14,0

Dänemark

13,0

12,0 1840

England

1860

1880 1900 1920 1940 Kalenderjahr der Menarche

1960

1980

Eintrittsalter der ersten Menstruation. Vor 1840 trat die Menarche zu sehr unterschiedlichen Zeiten ein, abhängig von der sozialen Zugehörigkeit einer Frau. Ähnlich wie bei den hier erwähnten Ländern verlief die Entwicklung in Deutschland. Im 20. Jahrhundert zeigte sich in den wohlhabenden Ländern eine ziemlich gleichförmige Entwicklung, das Menarchealter nahm ab.

Sehr weit und erstaunlich früh breitete sich die Vorstellung aus, bei den Bewohnerinnen südlicher Breiten würde die Menstruation früher einsetzen. Ein Student in Montpellier, Demol mit Namen, schrieb 1731, in Frankreich und den gemäßigten Breiten trete die monatliche Reinigung mit 12, 13 oder 14 Jahren auf, wohingegen in jenen, wo die Sonnenstrahlen zuerst eintreffen und wo es wärmer ist, wie in Spanien, der Türkei, Persien, Libyen und dem »östlichen Reich«, schon mit neun, zehn, elf oder zwölf. Christian Friedrich Jampert, auch er ein Sohn des 18. Jahrhunderts, hat sich gleichfalls mit derlei Dingen beschäftigt. Er wurde darin gefördert von H. Leon Alberti, seinem Doktorvater, der dreißig Jahre zuvor Stoeller betreut hatte. Er hat auch über das Alter der Menarche geforscht. »Die Zeit wenn der erste Fluß erscheint, fällt gewöhnlich zwischen 12 und 20 Jahre; um genauer zu sein, er kommt früher bei gutgenährten Mädchen (succulentibus virginibus), die ein sittsames Leben führen mit reichlich Nahrung in bequemer Umgebung; er

Der vermessene Mensch

stellt sich später ein bei mageren Mädchen, die schwere Arbeit verrichten und knappe, trockene und gehaltreiche (crassus) Nahrung zu sich nehmen.«52 In Deutschland scheint F. B. Osiander der Erste gewesen zu sein, der erwachsene Frauen nach dem Zeitpunkt ihrer Menarche befragte und diese Aussagen veröffentlichte. Er führte mehrere Lebensjahre auf, aus denen sich ein durchschnittliches Alter von 16,6 Jahren ergibt, und nannte auch die Gründe, warum die Menarche früher eintreten könnte: südliches Klima, sanguinisches Temperament, daher schnelles Wachstum des Körpers. Eine etwas später, im Jahr 1808, gleichfalls von Osiander durchgeführte Untersuchung ergab ein Durchschnittsalter von 16,8 Jahren.53 Im 20. Jahrhundert reiften junge Menschen immer früher, körperliche Erscheinungen wie die erste Monatsblutung traten um Jahre früher auf. Nicht so im frühen 19. Jahrhundert, da ging es genau umgekehrt, die körperliche Reifung verzögerte sich infolge schlechter Ernährung. Sehr viel deutlicher ist der zeitliche Unterschied, wenn man sich diese Reifung im frühen 19.  Jahrhundert und heute betrachtet: Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts lag die Menarche in Deutschland bei den meisten jungen Frauen, lässt man die soziale Schichtung beiseite, bei 16,8 Jahren – im Jahr 1981 lag sie um mehr als vier Jahre früher, bei 12,5 Jahren. Angaben über das Eintreten der Menarche in der Vergangenheit, die ohne Berücksichtigung der sozialen Schichtenzugehörigkeit vorgenommen wurden, sind wenig ergiebig; doch zeigen auch sie bereits, dass die Menarche am Vorabend der industriellen Revolution und erst recht im Zeitalter der Hochindustrialisierung deutlich später eintrat als heute. Für Göttinger Arbeiterinnen ermittelte 1785 der erwähnte Osiander ein durchschnittliches Alter von 16,6 Jahren, für Berlin ermittelten andere Wissenschaftler etwas später (1850) 16,4 Jahre, für München (Hecker, 1850) 16,8 Jahre und für ganz Bayern (1865) 16,6 Jahre, Berlin (1895) 16,2 Jahre.54 Niedriger war das Lebensalter beim Eintritt der Menarche in der Mittelschicht: Aus Deutschland liegen wenige Zahlen vor, aber für Norwegen wurde (1820) ein Durchschnittsalter von genau 15 Jahren ermittelt, für Manchester (1835) 14,3 Jahre, für Kopenhagen (1835) 14,4 Jahre. Eine Untersuchung innerhalb der Wiener Stadtbevöl-

117

118

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

kerung im Jahr 1857 ergab gleichfalls deutliche schichtenspezifische Unterschiede. Im mittleren Bürgertum lag der Zeitpunkt der Menarche im Durchschnitt bei 15,7 Jahren, bei Handarbeiterinnen ein halbes Jahr höher.55 Mangelernährung in der Kindheit verzögert Wachstum und Reifung der Jungen. Daher zeigen sich zwischen den Kindern aus sozial und wirtschaftlich verschiedenen Bevölkerungsgruppen auch Unterschiede in der Körpergröße und der Entwicklung. Da im 19. Jahrhundert die sozialen Unterschiede in Westeuropa bedeutend größer waren als heute, trat auch die Menarche zu einem sehr unterschiedlichen Zeitpunkt auf. Sie unterschritt in der Vergangenheit gelegentlich das 12. Lebensjahr, konnte aber auch erst nach dem 20. auftreten. In Mittel- und Osteuropa war die wirtschaftliche Entwicklung gegenüber den westeuropäischen Ländern deutlich zurückgeblieben, und den gleichen Befund bieten die Menschen aus diesem Raum, wenn man sie mit ihren westeuropäischen Nachbarn vergleicht. Der Entwicklungsrückstand wurde allerdings in der Folge eingeholt, im Wesentlichen noch im 19. Jahrhundert. Dabei sind soziale Unterschiede bedeutend wichtiger als ethnische: Ob ein Mädchen bei armen oder reichen Leuten aufwächst, ist mit Blick auf den Reifungsprozess wichtiger als die Frage, ob sie in Nigeria oder Deutschland zu Hause ist. Eine Untersuchung im Los Angeles City College im Jahr 1940 ergab, dass bei Amerikanerinnen europäischer Abstammung die Menarche im Alter von 12,9 Jahren eintrat, bei Mädchen mit japanischer Abstammung mit 13,1, bei Schwarzen gleichfalls mit 13,1 und bei jungen Chinesinnen mit 13,9 Jahren. Die Mädchen lagen also damals (1940) noch immer um ein Jahr auseinander.56 Die Reifung findet heute bei beiden Geschlechtern früher statt, bei Mädchen liegt der Wachstumsschub ungefähr zwei Jahre früher, also zwischen elf und dreizehneinhalb Jahren, er ist allerdings nicht so ausgeprägt wie bei Knaben, er bringt ihre Größe im Jahr nur um acht Zentimeter voran. »In den letzten hundert Jahren ist deutlich geworden, daß die Pubertät, erkennbar an der Menarche und dem Wachstumsschub, in immer früherem Lebensalter einsetzt«, schreibt der englische Fachmann für Fragen des körperlichen Wachstums in der Vergangenheit, James M. Tanner.57 Ergänzen könnte man: In

Der vermessene Mensch

unseren Breiten, aber nicht nur hier  – sondern auch überall dort, wo infolge der Revolutionierung der Wirtschaft der Wohlstand zugenommen hat und daher die Ernährung besser geworden ist. Die Bedeutung der Ernährung Die Körperhöhe und die körperliche Reifung eines Menschen werden von verschiedenen Faktoren bestimmt, von genetischen wie von solchen der äußeren Umwelt. Die Ernährung eines heranreifenden Menschen ist dabei sehr wichtig, auch die Arbeitsbelastung in der Jugendzeit, Krankheiten und einige andere Faktoren. Auch das Klima spielt dabei eine Rolle, lang anhaltende Kälte und Reizklima regen den Appetit an; andererseits wird in kalten Zonen auch mehr Energie für die Erwärmung des Körpers verbraucht. Von sehr großer Bedeutung ist die Nahrung, und zwar die Menge kaum weniger als die Qualität der Speisen. Für die Beschleunigung des körperlichen Wachstums in der Jugend erscheint vor allem der Konsum von Fleisch, Fett, Zucker, Obst und Gemüse wichtig. Nun darf man freilich nicht glauben, dass alle neuen und nahrhaften Dinge – wie Obst, Südfrüchte oder auch Milch – sofort von allen sozialen Schichten gleichermaßen verspeist wurden. Es gab vielerlei Vorurteile, zum Beispiel gegen Obst, vor allem in den Unterschichten  – und vom Bauern sagt man, dass er nicht isst, was er nicht kennt.58 Jahresverbrauch verschiedener Lebensmittel pro Kopf (in kg), in den Jahren vor 191459 Kartoffeln1 Obst1 Cerealien2 Fleisch3 Fisch1 Alkohol4 Belgien

206,5

k. A.

135,0

29,5

k. A.

k. A.

Frankreich

176,0

13,4

185,0

33,6

k. A.

22,4

Deutschland

199,0

23,6

127,7

48,3

7,7

9,5

27,8

23,7

149,0

17,5

2,8

14,1

127,0

k. A.

102,8

54,2

2,1

k. A.

97,0

33,0

95,0

60,2

19,4

10,55

Italien Schweiz Großbritannien

k. A. = keine Angaben; 1 1910–1914; 2 1914; 3 1903–1911; 4 in l, reiner Alkohol; 5 GB und Irland

119

120

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Die Landwirtschaft war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor der Industrialisierung, in einem schlimmen Zustand – ein »Überbleibsel eines finsteren Zeitalters« nannte sie ein kenntnisreicher Zeitgenosse, der ostpreußische Oberpräsident Theodor von Schön.60 Sie war äußerst rückständig, die Erträge niedrig. Agrargeschichtlich betrachtet sind diese Jahre tatsächlich immer noch ferne Vergangenheit, und die Märchen der Brüder Grimm, die in dieser Zeit, zwischen 1812 und 1822, erschienen und von bitterer Armut berichten, sind in sozialgeschichtlicher Hinsicht keineswegs Märchen, sondern buchstäblich zu verstehen, denn sie waren Realität. Wenn es da am Beginn eines der beliebtesten deutschen Märchen heißt: »Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er auch das tägliche Brot nicht mehr schaffen«, dann war das für viele einfach der Alltag. Dass die Landwirtschaft nun besser zu werden begann, hat mit den Reformen zu tun, und zwar nur zu einem kleineren Teil mit denen, die man gemeinhin mit dem Freiherrn Karl vom Stein zu verbinden pflegt, sehr viel mehr mit späteren Verbesserungen. Unmittelbar nach den Steinschen Reformen machte die Ackerfläche in Preußen nur 26,5 Prozent des Landes aus. Aber nun begann man die landwirtschaftliche Nutzfläche auszuweiten, die Brache einzuengen – 1849 lag ihr Anteil schon bei 45,2 Prozent. Der Anteil des Ödlandes ging im selben Zeitraum von 40,3 auf 19,0 Prozent zurück.61 Die Kartoffel wird Grundnahrungsmittel Nicht nur die Ackerfläche nahm zu, man begann jetzt auch vermehrt ergiebigere Früchte anzubauen. Von den vier amerikanischen Kulturpflanzen, die im 16.  Jahrhundert nach den großen Entdeckungen nach Europa kamen, gewann die Kartoffel nun in Deutschland die größte Bedeutung und wurde hierzulande eine wichtige Speisefrucht. Bekannt wurde sie in Zentraleuropa zwar schon gut vierhundert Jahre früher; aber ein Grundnahrungsmittel der breiten Massen wurde sie erst, ganz allmählich, nach den Hungersnöten von 1770/72 und 1816/17.

Der vermessene Mensch

Die Kartoffel begann im 17. Jahrhundert als Zierpflanze in einigen ausgesuchten Gärten zu blühen, bis über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus war sie eher eine Kuriosität. Es waren zunächst fürstliche Tafeln, an denen von dieser Knolle zaghaft gekostet wurde. Ihren Weg auf bäuerliche Felder fand die Pflanze schließlich im 18.  Jahrhundert. Das große »Oeconomisch-Technologische Lexicon« von Johann Georg Krünitz widmet der Kartoffel  – erstmals unter diesem Namen, bis 1742 nannte man diese Knolle in Deutschland ›Tartuffel‹  – einen langen Eintrag. »Der allgemeine Anbau und Gebrauch derselben aber wurde doch erst vor ungefähr 50 bis 60 Jahren mit mehrerem Eifer eingeführt«, heißt es da. »In verschiedenen Ländern wurde sie erst zu unseren Zeiten, ja, in einigen erst seit dem in den Jahren 1771 und 1772 entstandenen Kornmangel zu pflanzen begonnen.« Die Landwirtschaft fand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr Aufmerksamkeit. Ein neuer Zweig von Druckerzeugnissen breitete sich aus, die Hausväterliteratur, die sich mit der Frage beschäftigte, wie man die Landwirtschaft verbessern könnte. »Alle Welt las sie, mit Ausnahme der Bauern«, witzelte Voltaire. Noch bevor die Erträge auf den Feldern deutlich zu steigen begannen, wuchsen erst einmal die Bestände der landwirtschaftlichen Bibliotheken merklich an. Fürstliche Akademien und landwirtschaftliche Institute schrieben Preisfragen aus: »Ist der Vorwurf begründet, daß der übermächtige Kartoffelbau den Verfall des Ackerbaues und den Ruin der Mühlen nach sich ziehe?« »Kann man ein gesundes und etliche Wochen haltbares Brod aus Tartüffeln backen?« »Kann man ein haltbares Mehl daraus bereiten?« »Hat der Erdäpfelbau den Kornbau vermindert oder nicht?« Die Hungersnöte von 1770/72 und, mehr noch, die von 1816/17, haben weitaus mehr für die Ausbreitung dieser Frucht getan als alle Erlasse König Friedrichs des Großen. Nach diesen Agrar- und Hungerkrisen hörte sie auf, ein Gartengewächs zu sein und wurde feldmäßig angebaut. Die Anbaufläche für Kartoffeln wurde für die Zeit um das Jahr 1800 auf etwa 300 000 Hektar geschätzt, fünfzig Jahre später bereits auf 1,4 Millionen Hektar und gegen Ende des 19.  Jahrhunderts auf mehr als drei Millionen Hektar. Das bedeutet eine Verzehnfachung der Anbaufläche innerhalb eines Jahrhun-

121

122

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

derts. Außerdem nahmen auch die Erträge pro Hektar in dieser Zeit zu.62 Im Jahr 1800 machte die Kartoffel an der pflanzlichen Gesamtproduktion Preußens nur drei Prozent aus; aber 1840 lag ihr Anteil achtmal so hoch, bei 24 Prozent. Nicht ganz so rasch erfolgte die Ausbreitung in ganz Deutschland in dem genannten Zeitraum: Es erfolgte eine Steigerung von 2,3 auf knapp 10 Prozent. Die Zunahme des Kartoffelkonsums bedeutete eine gewaltige Steigerung im Kalorienhaushalt der Deutschen: Ein Hektar Ackerland mit Getreide brachte seinerzeit einen Ertrag von acht Doppelzentnern, ein Hektar Kartoffelland brachte achtzig Doppelzentner  – und diese achtzig Doppelzentner Kartoffeln enthielten das 3,6fache an Kalorien.63 Bald wurde zur Wirklichkeit, was der englische Nationalökonom Adam Smith in seinem wegweisenden Werk »Über den Wohlstand der Nationen« 1776 verkündet hatte: »Sollte die Knolle jemals irgendwo in Europa zur bevorzugten Massennahrung werden, so wie Reis in einzelnen Ländern, und damit gleichviel bebauten Boden beanspruchen wie heute der Anbau von Weizen oder anderen Getreidesorten für die menschliche Ernährung, so würde man mit der gleichen Nutzfläche weit mehr Menschen ernähren können.«64 Weitaus mehr Menschen oder dieselbe Anzahl von Menschen weit besser. Die Kartoffel revolutionierte die Landwirtschaft und die Ernährung von Mensch und Tier. Man hörte auf, Schweine in die Eichenwälder zu treiben; die Stallfütterung setzte sich endgültig durch. »Den Schweinen sind die Kartoffeln angenehm, zuträglich und überaus nährend. Der Speck von den damit gemästeten Schweinen übertrifft an Härte den Eichelspeck weit«, schreibt Krünitz in seiner großen »Encyclopädie«. Auch in der menschlichen Ernährung stellte sich nun die Kartoffel an die Seite des Brotes. Unendlich vieles entsteht aus der Kartoffel: Brot und Kuchen, kleine Klöße und Branntwein, selbst Kaffee. Das 19. Jahrhundert wird zum Zeitalter der Kartoffel: In guten Jahren verspeisten die Deutschen Kopf für Kopf fast zweihundert Kilogramm, in schlechten Jahren nur neunzig Kilo.67 Heute fällt bei steigendem Einkommen der Kartoffelverbrauch, der Fleischverzehr steigt, zumindest bis vor wenigen Jahren war das so. Damals war das noch ganz anders, da fiel in schlechten Zeiten der Kartoffelkonsum, in guten stieg er – dann

Der vermessene Mensch

konnte man sich wenigstens mit Kartoffeln satt essen. Bis über die Mitte des 19.  Jahrhundert hinaus gab die durchschnittliche vierköpfige Arbeiterfamilie weit mehr als fünf Prozent ihres Einkommens alleine für Kartoffeln aus, für Kartoffeln und Brot zusammen rund ein Zehntel. Deutschland wurde sogar zum klassischen Kartoffelland, in dem sich bald nicht wenige so ernährten, wie es der große Nationalökonom Friedrich List einmal beschrieben hat: »Ich habe Reviere gesehen, wo ein Hering an einen an der Zimmerdecke befestigten Faden mitten über dem Tisch hängend, unter den Kartoffelessern von Hand zu Hand herumging, um jeden zu befähigen, durch Reiben an dem gemeinsamen Tafelgut seiner Kartoffel Würze und Geschmack zu geben.«68 Die Kartoffel wurde zum großen Sattmacher und Kraftspender der Deutschen. In einzelnen Regionen, vor allem in armen Waldgebieten, war sie die beliebteste, bisweilen sogar die einzige Speise. »Gewöhnlich heißt es bei den Oberschlesiern, […] daß sie sich einzig und allein von Kartoffeln ernähren«, schrieb der Arzt Rudolf Virchow 1848 in seinem berühmten Sozialbericht. »Die Beschreibungen von der Quantität von Kartoffeln, die der Einzelne zu sich genommen haben soll, grenzen an’s Unglaublich […]. Fleischgenuß gehörte zu den größten Ausnahmen.«69 Der Fleischverbrauch Fleisch war lange Zeit die Speise der Begüterten und der Städter, viel weniger die der Bauern. Der Anbau der Kartoffel und die Verbesserung der Landwirtschaft förderten aber auch den Fleischkonsum. Unterschiedlich hoch war er noch lange, verschieden in Stadt und Land, auch von Region zu Region. Um das Jahr 1800 lag der durchschnittliche Fleischverbrauch bei 16,5 Kilogramm, während der Hungersnot von 1816 fiel er pro Kopf auf 14,4 Kilogramm, aber auch im Jahr 1849 stand er nur bei 22,1 Kilogramm pro Kopf.70 Nun aßen die Wohlhabenden damals sicherlich nicht weniger Fleisch als die Menschen von heute; folglich blieb den ärmeren Schichten deutlich weniger. Der Fleischkonsum war außerdem in den Städten stets viel höher als auf dem Land, in den Oberschichten viel höher als unten. Das Höchstmaß an Muskelkraft wurde spät erreicht.71

123

124

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

In Hamburg wurde 1848 der wöchentliche Lebensmittelbedarf einer fünfköpfigen Familie folgendermaßen festgesetzt: 27 Kilogramm Brot und die gleiche Menge an Kartoffeln, ein halbes Pfund Butter oder Schmalz, ein Pfund Speck, ein halbes Pfund Ochsenfleisch oder drei Heringe, ein Kilo Zucker, Salz, Milch sowie 75 Gramm Tee. Im benachbarten Altona nahmen die Stadtväter an, dass die Normalfamilie – Vater, Mutter und drei Kinder – jährlich mindestens 500 Mark verbrauche und davon 377 Mark, also fast vier Fünftel, für Lebensmittel ausgebe. Bei diesem geringen Betrag bestand dann das Mittagessen aus Graupen oder Buchweizen- bzw. Hafergrütze, Erbsen, Bohnen, Kartoffeln, Kohl, Steckrüben, Reis, Mehl, ganz selten aus einem halben Pfund Fleisch oder Speck oder Fischen.72 Der durchschnittliche preußische Arbeiterhaushalt musste um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zu Beginn der Hochindustrialisierung, noch 58 Prozent für Nahrungsmittel ausgeben, 1913 aber nur noch ein Drittel des Arbeitslohnes.73 Heute sind es rund zehn Prozent des Einkommens, die für Nahrungsmittel aufgewendet werden, wobei die Qualität der Speisen natürlich zugenommen hat. Der Fleischkonsum auf dem Land war lange Zeit sehr gering. Was ein Zeitgenosse um 1800 von einem oberbayerischen Dorf schreibt, könnte für die Dörfer überhaupt gelten: Fleisch gab es da für das Gesinde nur an Feiertagen wie Neujahr und an Dreikönig – »doch ist dieses keine Schuldigkeit«, hieß es –, dann am Fastnachtssonntag und am Faschingsdienstag, an Ostern, an Weihnachten und zur Kirchweih. An den anderen Tagen aß man hauptsächlich Brot und Nudeln, Suppe, Knödel, Gemüse und Brei. Es war dies eigentlich die traditionelle Kost des Landmenschen und seines Gesindes.74 Fleisch war ein teures Nahrungsmittel, unökonomisch in seiner Produktion, denn der Landwirt musste ein Vielfaches an Kalorien aus Getreide oder Kartoffeln an Tiere verfüttern, um dann als Gegenwert eine Kalorie Fleisch zu erhalten.75 Etwa seit 1860 begann die Ernährungswissenschaft ihre Erkenntnisse auszubreiten, sie wurde bald fast zu einer Mode. Selbst die Städte waren um diese Zeit mit Nahrungsmitteln nicht mehr so gut versorgt wie zuvor. Die Wende in der Versorgung mit Nahrungsmitteln, vor allem mit Fleisch, kam erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.76

Der vermessene Mensch

Nach 1860 stieg der Fleischverbrauch in den deutschen Städten, er konnte in einzelnen Städten sogar ziemlich hoch sein: in Bonn 46 Kilogramm, in Berlin 54, in München angeblich sogar mehr als doppelt so hoch.77 Erstaunlich hoch war damals der Fleischverbrauch in einigen großstädtischen Krankenhäusern. Im Nürnberger Allgemeinen Krankenhaus sollte ein Kranker mit Voll- oder Normalkost täglich ein halbes Pfund Fleisch bekommen. Die täglichen Mahlzeiten waren im Krankenhaus stets eine sehr wichtige Frage.78 Das Krankenhaus betrachtete Fleisch außerdem noch als einen Teil der Therapie: Gegen Ende des Jahrhunderts bekamen die Kranken im sog. Genesungshaus täglich 400 bis 500 Gramm Fleisch pro Tag, dies sei notwendig für die Blutbildung, befand der zuständige Arzt.79 Wie viel Fleisch der einzelne Städter oder Landbewohner im Durchschnitt tatsächlich aß, ist eigentlich nur schwer zu ermitteln. Man wird dabei Folgendes bedenken müssen: In der allgemeinen Bevölkerung war der durchschnittliche Fleischverbrauch lange Zeit niedrig, gegen 1850 lag er bei 23 Kilogramm. Aber der Anteil der Kinder und Kleinkinder, die vermutlich so gut wie überhaupt kein Fleisch bekamen, war hoch. Das hob den Anteil der Erwachsenen, vor allem den der Männer. Andererseits war der Fleischverbrauch in einigen süddeutschen Städten durchaus hoch. Auch war der Geschmack im Zeitalter der Hochindustrialisierung ein anderer als später. Als die Arbeitszeiten außerordentlich lang waren und die Menschen kräftig zupacken mussten, um die Industrie aufzubauen, bevorzugten sie fettes, kalorienreiches Fleisch. Schweinefleisch enthielt mehr Fett, daher war es damals um zwanzig oder dreißig Prozent teurer als Rindfleisch. In Norddeutschland ließ die Nachfrage nach fettem Fleisch schon um die Mitte des 19.  Jahrhunderts nach.80 Ein Göttinger Schlachter berichtete um 1880, dass sich die Preise der einzelnen Fleischstücke sehr verschieden entwickelt hatten: fettarmes Fleisch war seit 1850 um 40 bis 140 Prozent gestiegen, hingegen waren die Preise für Fett, Schmalz und Unschlitt ständig gefallen; nur die ärmeren Schichten zogen noch das fettreiche vor, und zwar inzwischen mehr Rind- als Kalboder Schweinefleisch.81 Für die Jahre unmittelbar nach 1900 wird der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch für ganz Deutschland unterschiedlich angegeben, er dürfte bei etwas über 40 Kilogramm gele-

125

126

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

gen haben.82 Der kenntnisreiche Zeitgenosse Max Rubner, Hygieniker und führender Nahrungsphysiologe Deutschlands, behauptete noch um die Jahrhundertwende (1900), Fleisch sei in erster Linie ein Teil der Kost des Städters. Die Angaben über den durchschnittlichen Fleischkonsum lagen in den Städten etwa doppelt so hoch wie auf dem Lande.83 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Fleischverbrauch in Deutschland im Verlauf des 19. Jahrhunderts stark zunahm und sich, gesellschaftlich betrachtet, langsam von oben nach unten ausbreitete. Fleisch war lange Zeit eher eine Speise der Städter. Dabei nahm der Anteil des fetteren Schweinefleisches anfangs zu, von etwa einem Viertel um 1816 auf sechzig Prozent zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1907). Der Anteil von Kalb- und Hammelfleisch ging stark zurück. Das alles hat auch mit den Folgen der Agrarrevolution zu tun, es stiegen nämlich die Viehbestände und zugleich das Schlachtgewicht der Tiere, der Anteil der verschiedenen Tiere veränderte sich stark; der Anteil der Schafe nahm nach 1850 rasch ab, die Zahl der Schweine stieg.84 Der Wandel der Ernährungsgewohnheiten Es begann aber auch, etwa seit der Reichsgründung (1871), eine Zunahme im Verbrauch anderer Nahrungs- und Genussmittel. Gerade in den Jahrzehnten nach 1870 stieg der Nahrungsmittelverbrauch gewaltig an. Vieles wurde jetzt eingeführt, was zuvor fast unbekannt gewesen war. Dank des vermehrten Anbaus von Zuckerrüben verdreifachte sich innerhalb von dreißig Jahren der Zuckerverbrauch nahezu, er stieg pro Kopf von 6 auf 17,1 Kilogramm. Ähnlich stark nahm der Genuss von Kaffee und ausländischen Gewürzen zu. Der Verzehr von Reis stieg in den siebzig Jahren nach 1836/40 auf das 14fache an.85 1872/73 wurden pro Einwohner 78 Liter Bier getrunken, zur Jahrhundertwende (1900) bereits 123,4 Liter, wobei Bayern den Reichsdurchschnitt damals um mehr als das Doppelte übertraf. Von der Mitte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts stieg der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch zwar deutlich an, insgesamt jedoch weniger stark als der von anderen Nahrungsmitteln. Zwischen 1850 und 1974 erhöhte sich der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch

Der vermessene Mensch

von Zucker auf das 18fache, von 2 auf 36 Kilogramm, der von Eiern auf das 6,5fache; bei Fleisch und Fisch hingegen nur auf das knapp Drei- oder Vierfache, von 22 auf etwa 64 Kilogramm, bei Fisch von 2,7 auf 10,9 Kilogramm. Der Kartoffelverzehr fiel in diesem Zeitraum von 138 auf 92 Kilogramm, der von Getreide von 90,1 auf 66,3 Kilogramm.86 Noch einmal, im Verlauf und vor allem gegen Ende des Ersten Weltkrieges, litten die Deutschen Hunger und Not. Mit der englischen Seeblockade bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs kehrte sich plötzlich der Trend wieder um, in Deutschland herrschte mehrere Jahre lang Mangelernährung, Hunger. Der Fleischverbrauch fiel im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges, 1918, noch einmal auf wenig über 10 Kilogramm.87 Während des Ersten Weltkriegs waren im Deutschen Reich Gewichtsverluste von einem Fünftel sehr häufig.88 Sozialgeschichtlich betrachtet ließe sich behaupten, dass die beiden Weltkriege nur von einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum unterbrochen wurden, in dem ähnliche Zustände herrschten wie während der Kriege, nämlich Hunger und Chaos. Wo nach 1939 deutsche Soldaten als Besatzer auftraten, raubten sie diese Länder aus und brachten vor allem Nahrungsmittel aus den Ursprungsländern nach Deutschland: Während des Zweiten Weltkrieges hungerten die Nachbarn der Deutschen, vor allem in Osteuropa, aber selbst die im Westen. Auch in Frankreich bestand eine Folge der Mangelernährung unter der deutschen Besatzung darin, dass die Kinder, die in diesen Jahren aufwuchsen, um sieben bis elf Zentimeter kleiner waren als die Generation davor.89 Und auch im Deutschen Reich war die Ernährungssituation wenigstens seit 1943 keineswegs rosig.90 Der »säkulare Trend« Seit der industriellen Revolution hat sich viel verändert. Im 20. Jahrhundert nahm die Körperhöhe stark zu: 1955 maßen die ersten Rekruten der Bundeswehr im medianen Durchschnitt 1,74 m. In den folgenden Jahren (2008/10) stieg dieser Wert an auf über 1,80 m. ›Otto Normalverbraucher‹ legte aber nicht nur in der Körperhöhe zu, sondern auch im Umfang von Brust und Bund um etwa 4 cm.91

127

128

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Seit der industriellen Revolution haben sich die Menschen in Europa im Vergleich mit ihren Ahnen aus dem frühen 19. Jahrhundert stark verändert. In den 120 Jahren nach 1880 verdoppelte sich die Lebenserwartung der Deutschen, und die großen sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich sind zurückgegangen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 zogen jene Teile der Welt, die zuvor an den Segnungen der modernen Zivilisation am wenigsten teilgehabt hatten, den größten Gewinn aus diesen Verbesserungen. In dem halben Jahrhundert stieg die Lebenserwartung weltweit von 46,5 auf 65,4 Jahre. In Asien nahm sie in diesem Zeitraum gar um fünfundzwanzig Jahre von 41,3 auf 66,3 zu, in Afrika um knapp vierzehn von 37,8 auf 51,4 Jahre. In Europa, das bereits seit Langem von den Fortschritten der Zivilisation und der Heilkunst profitierte, wuchs sie nur um gut sieben Jahre, von 66,2 auf 73,3 Lebensjahre. Wissenschaftliche Demographen prognostizieren heute für die Zeit bis 2050  – für beide Geschlechter zusammen  – eine weitere Zunahme der Lebenserwartung auf 76,3 Jahre weltweit, wobei sie in Asien von 66,3 auf 77,2 und in Afrika von 51,4 auf 70,4 steigen soll, in Europa um weitere sieben Jahre auf 80,3 Jahre. In den späten 1990er-Jahren starben aus einer Weltbevölkerung von sechs Milliarden weltweit 51 Millionen Menschen, davon mehr als die Hälfte im Kindes- oder Jugendlichenalter. Mehr als zwölf Millionen der Verstorbenen waren keine fünf Jahre alt. Die häufigste Todesursache blieben – weltweit – Infektions- und Parasitenkrankheiten (16,4 Millionen). Herzleiden und zerebrovaskuläre Krankheiten plus Krebs waren zusammen für 15,7 Millionen Todesfälle verantwortlich. Die rohe Sterberate war weltweit mit 8,5 Promille sehr niedrig  – sie stand noch im 18.  Jahrhundert nicht selten bei über 30 oder 40 Promille. Die mittlere Lebenserwartung wächst, die Weltbevölkerung altert, ein »Methusalem-Komplex« stellt sich ein. Anno 1800 machten die 65jährigen und noch älteren Menschen, die das Erwerbsleben bereits hinter sich hatten, in den meisten Bevölkerungen weniger als fünf Prozent aus; im Jahr 2000 waren es rund fünfzehn Prozent, und in Deutschland noch viel mehr. 1997 betrug der Anteil der Menschen über sechzig (Senioren) knapp zehn Prozent der Weltbevölke-

Der vermessene Mensch

rung, der über 80 etwa 1,1 Prozent. Bis zum Jahr 2025 wird ein Anstieg auf zwei Prozent erwartet. Der Anstieg der Lebenserwartung bleibt indes nicht ohne Folgen, er führt zu einer Alterung der Gesellschaften, und allein aus diesem Grund verdient dieses Phänomen unsere Aufmerksamkeit, denn der Alterungsprozess verlangt Gegenmaßnahmen. Die deutsche Bevölkerung wird immer älter, der mediane Altersdurchschnitt der Deutschen beträgt heute 45 Jahre, d. h. die eine Hälfte aller Deutschen ist jünger, die andere älter als 45. Vor dem Ersten Weltkrieg (1914) lag dieser Durchschnitt bei 25 Jahren. Der Anteil der Deutschen, die sechzig Jahre oder älter sind, soll von derzeit rund 25 auf 35 Prozent im Jahr 2040 ansteigen. Das ist für jeden Einzelnen ein Gewinn, der aber zugleich ein wirtschaftliches und soziales Problem nach sich zieht, zumal die deutsche Bevölkerung insgesamt schrumpft, sodass der Anteil der Älteren noch mehr steigt. Innerhalb der OECD gehört Deutschland zu den Ländern mit der niedrigsten Fertilität. Die Spanne des Lebens ist für die meisten gewachsen. Wir können uns eines längeren Lebens erfreuen, obschon das Leben im Alter nicht nur Freuden mit sich bringt. Vor hundert und mehr Jahren geschah es in Deutschland sehr häufig, dass eine Mutter bei ihrem Tod ein paar unversorgte, unmündige Kinder zurückließ. Heute erleben die meisten deutschen Mütter ihre Enkelkinder noch im Erwachsenenalter. 1950 waren die über Sechzigjährigen in Deutschland eine Minderheit (14,6 Prozent), in zwanzig Jahren werden sie mehr als ein Drittel (34,4 Prozent) ausmachen. Der Anteil der Senioren und der Hochbetagten nimmt rasch zu. Wir haben im Verlauf des 20. Jahrhunderts viele Jahre dazugewonnen. Jeder der drei Lebensabschnitte – Ausbildung, Berufstätigkeit, Ruhestand – ist gewachsen, und da der erste Lebensabschnitt, die Ausbildung, stark zugenommen hat, muss auch die zweite Phase, die Berufstätigkeit, wachsen, um den dritten Teil finanziell leistbar zu machen. Immer weniger Erwerbstätige müssen für immer mehr Menschen im Ruhestand aufkommen. Wer sich länger ausbilden lässt und länger lebt als frühere Generationen, der muss auch länger arbeiten, das ist angesichts einer rasch alternden, schrumpfenden Bevölkerung die unausweichliche Einsicht.

129

130

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Die industrielle Revolution brachte der Menschheit viele Vorteile und einige Nachteile. Sie begünstigte das Bevölkerungswachstum, anfangs in den industrialisierten Ländern, später auch anderswo. Als sie auf dem europäischen Kontinent begann, sagen wir um das Jahr 1820, lebten weltweit rund eine Milliarde Menschen. Es dauerte mehr als hundert Jahre, bis 1930, bis daraus zwei Milliarden wurden. Dreißig Jahre später waren es drei Milliarden, 15 Jahre später bereits vier. Hat es sich gelohnt? Englische Sozialhistoriker haben in den vergangenen Jahrzehnten die Frage gestellt, ob sich die industrielle Revolution gelohnt habe. Einige haben diese Frage verneint.92 Wie auch immer, sie ist geschehen. Für die Zeitgenossen war sie eine ungeheure Belastung; doch den Nachkommen brachte sie viele Vorteile: weniger schwere Arbeit, viel mehr Freizeit, ein längeres und gesünderes Leben. Doch zeigt sie auch bedenkliche Seiten: Zivilisationskrankheiten und Übergewicht, die heute weitverbreitete Fettsucht. Energiezufuhr und Energieverbrauch weichen immer mehr voneinander ab: Wer heute täglich 3500 bis 4000 Kilokalorien zu sich nimmt, schafft es am Schreibtisch nicht, diese Menge an Energie zu verbrennen.93 Die Folgen sind bekannt. 1

2 3

4

Stephen Nicholas / Richard H.  Steckel, Heights and Living Standards of English Workers During the Early Years of Industrialization, 1770–1815, in: J. Komlos (Hg.), Classics in Anthropometric History, St. Katharinen 1998, S. 179–202, hier S. 197. Wilhelm Abel, Stufen der Ernährung. Eine historische Skizze, Göttingen 1981, S. 5–8. Helmut Wurm / Manfred Nimax, Ernährungseinflüsse auf historische Körperhöhen. Ein Beitrag zur Problematik einer angewandten Ernährungsgeschichte, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 17 (1998), S. 507–523. Siehe Helmut Rankl, Die bayerische Politik in der europäischen Hungerkrise 1770–1773, in: Zs. f. bayerische Landesgeschichte 68/1 (2005), S. 745–779. Die Überschätzung des mittelalterlichen Fleischverbrauchs scheint mit dem Nationalökonomen Gustav Schmoller, Die historische Entwicklung des Fleischconsums sowie der Vieh- und Fleischpreise in Deutschland, in: Zs. f. d. gesamten Staatswissenschaften 27 (1871), S. 284 ff., ihren Anfang genommen zu haben. Siehe Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985, S. 116 f.

Der vermessene Mensch 5 Vgl. T. E. Cone, De pondere infantum recens natorum. The History of Weighing the New-born Infant, in: Pediatrics 28 (1961), S. 490 ff. 6 Rudolf Virchow, Gesammelte Abhandlungen, 2 Bde., Berlin 1879. 7 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859–1888, München 1993, S. 32. 8 Vgl. Ursula Lehr, Berichte über den Stand des Akzelerationsproblems, in: Vita humana 3 (1960), S. 144. 9 Helmut Wurm, Wie groß waren Ritter und Landsknechte im 16. Jahrhundert? in: Waffen- und Kostümkunde Heft 2 (1984), S. 97–110; Heft 1 (1985), S. 49–74; Heft 1–2 (1989), S. 97–109. 10 Siehe Art.  Mensch, in: Meyers Lexikon, Bd.  8, Leipzig 71928, Sp.  239–244, bes. Sp. 243. 11 James M. Tanner, Wachstum und Reifung des Menschen, Stuttgart 1962, S. 161 f. 12 Sidney Pollard, Der Arbeiter, in: Der Mensch der Romantik, hg. von F. Furet, Essen 2004, S. 68–110, hier S. 101; vgl. Helmut Wurm, Die Abnahme der mittleren Körperhöhe und die Verrundung des Kopfes in Mitteleuropa vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 14 (1996), S. 325–358, bes. S. 330–333, 340. 13 Siehe Dietrich Saalfeld, Steigerung und Wandlung des Fleischverbrauchs in Deutschland 1800–1913, in: Zs. für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 25 (1977), S. 244–253, hier S. 253. 14 Vgl. Michael Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt a. M. 1986, S. 13 f. 15 M. P. Portmann, Louis-René Villermé (1782–1863) und sein Werk über die Lage der französischen Textilarbeiter, in: Praxis 51 (1962), S.  721 f.; Alain Corbin, Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben, Frankfurt a. M. 1999, S. 72 f., gibt die durchschnittliche Größe von Arbeiterinnen aus Saint-Martin-Du-Vieux-Bellême, 20 Jahre und älter, mit 155 cm an. 16 Hubert Ch. Ehalt, Über den Wandel des Termins der Geschlechtsreife in Europa und deren Ursachen, in: Saeculum 50 (1985), S. 215. 17 Ludwig Fleischmann, Ueber Ernährung und Körperwägungen der Neugebornen und Säuglinge, in: Wiener Klinik 3 (1877), S. 147–178. 18 Julius W. H. Lehmann, Bemerkungen bei Gelegenheit der Abhandlung von Quetelet: Über den Menschen und die Gesetze seiner Entwicklung, in: Jahrbuch für 1836, hg. von H. C. Schumacher; ders., Versuch das Wachstum junger Menschen männlichen Geschlechts, nach Höhe und Statur auf mathematische Gesetze zurückzuführen, in: Magazin für die gesammte Heilkunde 60 (1843), S. 3–95. 19 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: MarxEngels-Werke, Bd. 2, Berlin-Ost 1977, S. 382, 419. 20 Ebd., S. 238. Siehe auch Nicholas / Steckel, Heights (wie Anm. 1), S. 179–202. 21 John Komlos, Height and Social Status in Eighteenth Century Germany, in: Journal of Interdisciplinary History 20/4 (1990), S.  607–621, hier S. 610. 22 Wurm / Nimax, Ernährungseinflüsse (wie Anm. 3), S. 511 f.

131

132

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 23 Sidney Pollard, Der Arbeiter, in: Der Mensch der Romantik, hg. von F. Furet, Essen 2004, S. 68–110, hier S. 101. 24 Jörg Baten, Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung in Bayern (1739–1880), Stuttgart 1999, S. 64. Siehe auch Rankl, Politik (wie Anm. 3), S. 754. 25 George R. Boyer, The Convergence of Living Standards in the Atlantic Economy, 1870–1930, in: The New Comparative Economic History, hg. von Timothy J. Hatton u. a., Cambridge, Mass. 2007, S. 317–342, bes. S. 320 f., Tab. 13.1, 13.2. Nikola Koepke / Jörg Baten, The Biological Standard of Living in Europe During the Last Two Millennia, in: European Review of Economic History 6 (2006), S. 61–95. 26 Vgl. Otto Ammon, Zur Größenstatistik der Wehrpflichtigen Badens, in: Beiträge zur Statistik des Großherzogtums Baden 4 (1890), S. 3–27. Napoleon (1769–1821) war unwesentlich größer, 1,65 m. Jacques Bainville, Napoleon, Paris 1931, S. 51. 27 Ergebnisse der Militär-Conscription in Beziehung auf körperliche Beschaffenheit der Conscriptionspflichtigen nach den verschiedenen Oberamtsbezirken, in: Württembergische Jahrbücher für vaterländische Geschichte, Geographie, Statistik und Topographie, Jg. 1833, Stuttgart/Tübingen 1834, S. 369–393, hier S. 370 f. 28 Ebd. 29 Ferdinand Escherich, Körperbeschaffenheit und Volkskrankheiten, in: Bavaria. Landes- und Volkskunde des Königreiches Bayern, Bd. 3, 2. Abtheilung, München 1865, S. 1007–1010. Ferdinand Escherich war der Vater des Kinderarztes Theodor Escherich (1857–1911), nach dem das Bakterium Escherichia coli benannt ist. 30 R. Sorer, Militärtauglichkeit nach Stadt und Land, in: Wiener Arbeiten aus dem Gebiete der Sozialen Medizin, hg. von Ludwig Teleky, Wien/Leipzig 1910, S. 152–155; Ernst Engel, in: Zs. des kgl. sächsischen Ministeriums des Inneren 2/4–7 (1856). 31 Carsten Küther, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18.  und frühen 19.  Jahrhundert, Göttingen 1976, S.  21 f. Vgl. ders., Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1983. 32 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte, hg. von Herwig Wolfram), Wien 1995, S. 197. Siehe ders., Die Einführung der Kartoffeln in Österreich. Sozialgeschichtliche und volkskundliche Interpretationen, in: Wolfenbütteler Forschungen 19 (1982), S. 163–194. 33 Erstellt nach den Angaben von John Komlos, Stature and Nutrition in the Habsburg Monarchy. The Standard of Living and Economic Development in the Eighteenth Century, in: American Historical Review 90 (1985), S. 1149–1161; ders., Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung unter Maria Theresia und Joseph II. Eine anthropometrische Geschichte der Industriellen Revolution in der Habsburgermonarchie, St. Katharinen 1994, S. 51. Siehe auch Franz Mayer, Die wirtschaftlichen Zustände Böhmens um die Jahre

Der vermessene Mensch

34 35 36 37

38 39 40 41 42 43 44

45 46 47 48 49

1770, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen, 1876, S. 125–149. Dietrich Saalfeld, Lebensverhältnisse der Unterschichten Deutschlands im 19.  Jahrhundert, in: International Review of Social History 29 (1984), S. 215–253, hier S. 215. Robert William Fogel, The Escape from Hunger and Premature Death, 1700–2100. Europe, America, and the Third World, Cambridge 2004, S. 160. Ruth Meinert, Die Entwicklung der Arbeitszeit in der deutschen Industrie 1820–1956, Diss. rer. pol., Münster 1958, S. 3, 12 f. Hildegard Stemler / Erich Wiegand, Zur Entwicklung der Arbeitszeitgesetzgebung und der Arbeitszeit in Deutschland seit der Industrialisierung, in: Erich Wiegand / Wolfgang Zapf (Hg.), Wandel der Lebensbedingungen in Deutschland, Frankfurt a. M. 1982, S. 17–63, hier S. 44 f. Vgl. Roderick Floud u. a., The Changing Body. Health, Nutrition, and Human Development in the Western World since 1700, Cambridge 2011, bes. S. 1–20, 262, 269; Fogel, Escape (wie Anm. 35), S. 160. Wolfram Fischer u. a. (Hg.), Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch I. Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes 1815–1870, München 1982, S. 25. Ebd., S. 33. John Komlos, The Secular Trend in the Biological Standard of Living in the United Kingdom, 1730–1860, S. 129–159, in: ders. (Hg.), Classics in Anthropometric History, St. Katharinen 1998, S. 179–202, hier S. 197. Richard Oesterlen, Handbuch der Hygiene, Tübingen 1851, S. 762. R. Fogel / S. L. Engerman, Time on the Cross. The Economics of American Negro Slavery, New York/London 1974, S. 124 f. Richard H.  Steckel, Slave Height Profiles From Coastwise Manifests, in: Explorations in Economic History 16 (1979), S.  363 ff. Siehe Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 265; Sophia N. Twarog, Heights and Living Standards in Industrializing Germany. The Case of Wurttemberg, Diss. phil. Ohio State University 1993, bes. S.  165–169, 174–177, 315; J. Komlos / J. Baten, Height and the Standard of Living, in: Journal of Economic History 57 (1998), S.  866–870; J. Baten, Climate, Grain Production and Nutritional Status in Eighteenth Century Southern Germany, in: Journal of European Economic History 30 (2002), S. 9–47. Escherich, Körperbeschaffenheit (wie Anm. 29), S. 1011. Manfred Vasold, Die Sterblichkeit in Nürnberg im 19. Jahrhundert. Lebensumstände, Krankheit und Tod (um 1800 bis 1913), in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 25 (2006), S. 241–338, hier S. 319 Tab. 10. Colin Clark, Conditions of Economic Progress, London 31957, S.  132–141; Michael Balfour, The Kaiser and His Times, London 1964, S. 438. Rudolf Virchow, Sur la race brune et la Race blonde en Allemagne, in: Compte-rendu de Congrès internationale d’Anthropologie et d’Archéologie à Budapest 1876, Budapest 1876, S. 577–586. Jared Diamond, Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen, Frankfurt a. M. 1994, S. 91; Henri-V. Vallois, L’anthropologie physique,

133

134

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

50 51 52

53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65

66 67

68 69

in: Jean Poirier (Hg.), Ethnologie générale (Encyclopédie de la Pléiade), Paris 1968, S. 596–730, hier S. 618, 620 f. Darrel W. Amundsen / Carol Jean Diers, The Age of Menarche in Medieval Europe, in: Human Biology 45 (1973), S. 365. Zit. nach Ehalt Geschlechtsreife (wie Anm. 16), S. 211. Hans J. Teuteberg, Der Verzehr von Nahrungsmitteln in Deutschland pro Kopf und Jahr seit Beginn der Industrialisierung (1850–1975). Versuch einer quantitativen Langzeitanalyse, in: Archiv für Sozialgeschichte 19 (1979), S. 231–288, hier S. 250. E. Krieger, Die Menstruation. Eine gynäkologische Studie, Berlin 1869, S. 10, 25. Franz Xaver Schlichting, Statistisches über den Eintritt der ersten Menstruation und über Schwangerschaftsdauer, Diss. med. Leipzig 1880. J. M. Tanner, A History of the Study of Human Growth, Cambridge 1981, S. 293. Ebd. J. M. Tanner, Wachstum und Reifung des Menschen, Stuttgart 1962, S. 167. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 127. Erarbeitet nach den Angaben von Walter Minchington, Patterns of Demand 1750–1914, in: Carlo Cipolla (Hg.), Fontana Economic History of Europe, Bd. 3, Glasgow 1973, S. 77–186. Zit. nach Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, Bd. 2: Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 41. Reinhard Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert 1815–1871 (Deutsche Geschichte 8, hg. von Joachim Leuschner), Göttingen 1984, S. 54. Friedrich-Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2: 1750 bis 1976, Paderborn 1976, S. 76 f. Rürup, Deutschland (wie Anm. 61), S. 56 f. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, übers. von Claus Recktenwald, München 1974, S. 139 f. Ernst Moritz Arndt, Bruchstücke einer Reise von Baireuth bis Wien im Sommer 1798, Leipzig 1801, zit. nach der Faksimile-Ausgabe der Bibliotheca Franconica, Bd.  11, hg. von Hans Baier, Erlangen 1985, S.  61. Siehe Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts (Veröff. der Ges. für fränkische Geschichte, Reihe IX, Bd.  26), Neustadt/ A. 1983, S. 50 f. Generalbericht. Siehe ebd., S. 55. Dazu Redcliffe N. Salaman, The History and Social Influence of the Potato, Cambridge 1949. Siehe ferner Die Kartoffel. Geschichte und Zukunft einer Kulturpflanze, hg. von Helmut Ottenjann und Karl-Heinz Ziessow, Cloppenburg 1992, S. 4. Zit. nach H. J. Teuteberg / G. Wiegelmann, Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 137. Rudolf Virchow, Die Not im Spessart – Mitteilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, Ndr. (durchgehend paginiert) Darmstadt 1968, S. 79 f.

Der vermessene Mensch 70 Wolfram Fischer u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch I. Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes 1815–1870, München 1982, S. 173 f. 71 Mitterauer, Jugend (wie Anm. 14), S. 13. 72 Teuteberg / Wiegelmann, Wandel (wie Anm. 68), S. 138. 73 Ebd., S. 86 f. Nach den Untersuchungen von Adolf Braun, Haushaltsbücher städtischer Arbeiter, Nürnberg 1887, lag der Anteil der Ausgaben für Ernährung in Nürnberg gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwischen der Hälfte und zwei Drittel des Einkommens. 74 Vgl. Josef Scheidl, Bäuerliche Dienstbotenkost im 18. Jahrhundert im Dachauer Land, in: Bayerische Hefte für Volkskunde 4 (1917), S. 146–150. 75 Abel, Ernährung (wie Anm. 2), S. 66. 76 Vgl. E. Helwing, Ueber die Verschlechterung der physischen Beschaffenheit der Berliner Bevölkerung in neuerer Zeit, in: Mittheilungen des statistischen Bureau’s in Berlin 13 (1860), S. 153. 77 Ehalt, Geschlechtsreife (wie Anm. 16), S. 217. Siehe ferner Hunger. Quellen zu einem Alltagsproblem in Europa und der Dritten Welt, 17. bis 20. Jahrhundert, hg. von U.-Chr. Pallach, München 1986, S. 42 f. Siehe Diedrich Saalfeld, Steigerung und Wandlung des Fleischverbrauchs in Deutschland 1800–1913, in: Zs. für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 25 (1977), S. 244–253. 78 StadtAN C 23/I Nr. 24, 119, 120. 79 StadtAN C 23/I Nr. 40, 41. 80 Hubert Kiesewetter, Industrielle Revolution in Deutschland 1815–1914, Frankfurt a. M. 1989, S. 162 f. 81 Abel, Ernährung (wie Anm. 2), S. 68 f. 82 Gerd Hohorst u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, München 21975, S. 120. Für 1912 gibt Bumm den Fleischverbrauch mit 56 kg an: Franz Bumm (Hg.), Deutschlands Gesundheitsverhältnisse unter dem Einfluß des Weltkrieges, Bd.  2, Stuttgart 1928, S. 19. 83 Zit. nach Teuteberg / Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten (wie Anm. 68), S. 112. Siehe auch Helmut Wurm, Über die Schwankungen der durchschnittlichen Körperhöhe im Verlauf der deutschen Geschichte und die Einflüsse des Eiweißanteils der Kost, in: Homo 33 (1982), S. 21–42. 84 Teuteberg / Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten (wie Anm. 68), S. 132. 85 Kiesewetter, Industrielle Revolution (wie Anm. 80), S.110 f. 86 Vgl. Teuteberg / Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten (wie Anm. 68), S. 62; Roman Sandgruber, Die Anfänge der Konsumgesellschaft, in: Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 15 (1982), S. 134 ff. 87 P. Delfaud u. a., Nouvelle histoire économique, Bd.  2: Le XXe Siècle, Paris 1976, S. 19. 88 Ethel Cooper, Behind the Lines: One Woman’s War 1914–1918, London 1982, S.  267. Siehe Max Rubner, Der Gesundheitszustand im allgemeinen, in: Bumm, Gesundheitsverhältnisse (wie Anm.  82), S.  63–86, 71–73; Stephen G. Fritz, Frankfurt, in: Fred R. van Hartesveldt (Hg.), The 1918–1919 Pandemic of Influenza, Lewiston u. a. 1992, S. 13–32, hier S. 17; Alfred Grotjahn, Erlebtes und Erstrebtes, Berlin 1931.

135

136

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 89 David Pryce-Jones, Paris in the Third Reich, London 1981, S. 94. 90 Christoph Buchheim, Der Mythos vom »Wohlleben«. Der Lebensstandard der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Heft 3 (2010), S.  299–328, schreibt zusammenfassend: »Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, dass der materielle Lebensstandard der deutschen Zivilbevölkerung schon am Anfang des Krieges in mancherlei Hinsicht unter den der unmittelbaren Vorkriegszeit gedrückt wurde, obwohl dieser noch immer niedriger als am Ende der 1920er Jahre war. […] Im Frühjahr 1942 wurden die Rationen wichtiger Lebensmittel massiv gekürzt, sodass selbst in Arbeiterhaushalten, die ja häufig über Nahrungszulagen verfügen konnten, beispielsweise der Fleischkonsum auf nur noch etwa zwei Drittel des Vorkriegsstands sank. Ab der Jahreswende 1943/44 verschlechterte sich die Ernährungssituation dann schließlich relativ kontinuierlich weiter.« 91 SZ v. 14./15.8.2006, S. 20; telef. Auskunft des Bundesamtes für Wehrverwaltung v. 24.10.2012 (Dr. Thaler). 92 J. Williamson, Was the Industrial Revolution Worth It? in: Explorations in Economic History 19 (1982), S. 221–245. 93 FAZ v. 16.5.2012.

Als Gott Adam schuf, meinte die Laus, er habe es ihretwegen getan. Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920/23)

Ungeziefer, historisch betrachtet Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Ektoparasiten Wer die Heilige Schrift wörtlich nimmt, wird annehmen müssen, dass sich auf der Arche Noah neben einer Unzahl von großen Tieren auch zumindest je ein Pärchen Läuse, Flöhe und Wanzen befanden. »Nimm dir von allen reinen Tieren je sieben, Männchen und Weibchen, von den unreinen Tieren aber je ein Paar, ein Männchen und ein Weibchen, … damit auf der ganzen Erde Nachwuchs am Leben bleibe«, so soll Gottvater zu Noah gesprochen haben (1. Moses, 7.2–3). Ob dies nun zutrifft oder nicht, sei dahingestellt, das erwähnte Ungeziefer, allesamt Ektoparasiten, quält die Menschheit seit Langem. Es verdient jedoch festgehalten zu werden, dass die Fachleute etwa an »Ötzi«, dem Mann vom Hauslabjoch, der vor mehr als fünftausend Jahren in den Zentralalpen lebte, keine Spuren von derlei Getier fanden.1 Aber aus späterer Zeit, sagen wir: der altrömischen Republik, aber auch aus Zeiten davor, etwa dem ägyptischen Pharaonenreich, sind solche Tierchen wohlbekannt: Plinius der Ältere hat in seiner »Naturgeschichte« mehrmals blutsaugende Insekten erwähnt. Auch im christlichen Mittelalter war Europa von Ektoparasiten bevölkert. Das Leben war hart in diesen Tagen, die Menschen waren wenig empfindlich, man scheint den Floh oder die Laus nicht als

138

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

große Belästigung angesehen und darüber geklagt oder berichtet zu haben. Dazu waren diese Schmarotzer vermutlich viel zu alltäglich, und das wird wohl der Grund sein, warum sie so selten schriftliche Erwähnung fanden.2 Gelegentlich wurden sie als eine Strafe Gottes angesehen, zugleich aber als eine Möglichkeit, sich mit ihrer Hilfe zu kasteien: Als Gläubige an Weihnachten des Jahres 1170 die Leiche des erschlagenen Erzbischofs von Canterbury, Thomas Becket, entkleideten, waren sie ergriffen, als sie sahen, wie viele Läuse dieser heilige Märtyrer auf seinem Körper ertragen hatte. Sie deuteten seine Duldsamkeit als ein Zeichen heiligmäßigen Lebens.3 Auch wenn die Quellen in dieser Hinsicht nur spärlich fließen, muss man doch annehmen, dass es in der ferneren Vergangenheit genügend Läuse und Flöhe gab, sie waren während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte eine Landplage. »Flöhe und Läuse hatte jeder. Jeder kratzte sich, und auf jeder Stufe der gesellschaftlichen, freundschaftlichen und familiären Rangordnung war es üblich, einander die Flöhe abzulesen«, schreibt der französische Historiker Emmanuel LeRoy Ladurie, der die Archivalien eines PyrenäenDorfes aus dem 14.  Jahrhundert gründlich erforscht hat und den Alltag in solch einem mittelalterlichen Bergdorf wie kein anderer kennt.4 Der ach so beschwerliche Floh Im Großen und Ganzen berichtete man selten über derlei Ungeziefer – sei es, dass man sich seiner schämte, sei es, dass es so alltäglich war. Aber einige Vielschreiber im Zeitalter der Reformation und des Humanismus haben in ihren Werken auch ihre Körperbewohner nicht vergessen: Erasmus von Rotterdam schildert in seinen Briefen aus England lebhaft den Schmutz und das Ungeziefer; Martin Luther und Jean Calvin haben gleichfalls Läuse und Flöhe erwähnt, und der Dichter Johann Fischart hat ihrer in seinem Werk »Flohhatz, Weibertratz« (1573) rühmend gedacht. Es gibt andere Zeugnisse, überzeugendere und allgemeinere noch als schriftliche: Die Beulenpest, die seit ihrem Auftreten in Indien kurz vor dem Jahr 1900 gut erforscht ist, eine schwere Infektionskrankheit, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Gestalt des

Ungeziefer, historisch betrachtet

»Schwarzen Todes« erstmals wieder seit dem sechsten Jahrhundert nach Christus in Europa auftrat, später dann immer wieder, fast periodisch, Jahrhunderte lang, bis ins frühe 18.  Jahrhundert, in Südund Osteuropa sogar noch später,5 diese schwere Infektionskrankheit wird von Flöhen übertragen, zumeist wohl von Rattenflöhen. Die Beulenpestepidemien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind ein Beweis für das massenweise Auftreten von Flöhen in Mitteleuropa. Die längste Zeit unserer Geschichte, sicherlich während des gesamten Mittelalters, ja eigentlich wohl bis weit in das 19.  Jahrhundert hinein, waren vielerlei Insekten, zumindest als gelegentliche Gäste, hierzulande bestimmt keine Seltenheit. Das hat zum einen mit der mangelnden Sauberkeit zu tun, mit der Scheu vor dem Waschen, mit der Schwierigkeit des Wäschewechselns, mit den schlechten Wohnverhältnissen, dem Mangel an freier Zeit und mit der allgemeinen Armut.6 Das ist bei Licht besehen also nicht weiter erstaunlich, denn die menschliche Umwelt begünstigte diese Biester: Bis über die Mitte des 19.  Jahrhunderts hinaus verdiente die große Mehrheit der Deutschen ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, man lebte in enger Nachbarschaft mit dem Vieh, oft unter einem Dach. Die Fußböden in den Wohnhäusern bestanden, in Stadt und Land, aus hölzernen Dielen, in deren Ritzen Ungeziefer nisten konnte. In den Wohnräumen fehlte es an fließendem Wasser, und nach den Waschgewohnheiten ihrer Bewohner wollen wir gar nicht erst fragen. Man schlief auf Strohsäcken, dicht beieinander, nicht selten mehrere Personen in einem Bett. »Das schmutzige Geschäft des Hauses, dessen ganze Bewirtschaftung nur ein Zimmer in Anspruch nimmt, ein Zimmer, wie das ganze Haus meist nur aus Holz, in dessen Fugen Ungeziefer in Quantitäten nistet, das gewöhnlich nur durch einen schmalen Gang vom Viehstalle entfernt ist – nimmt den Kindern schon von allem Anfang an jeden Sinn für Ordnung und Reinlichkeit. […] Es ist allgemeiner Glaube, die Landwirtschaft lasse sich mit Reinlichkeit durchaus nicht treiben, und der Glaube eines Bauern ist nicht zu bewältigen«, schreibt ein Zeitgenosse Mitte des 19. Jahrhunderts, ein Kenner oberpfälzischer Verhältnisse.7 Was er sagt, traf seinerzeit nicht nur für die Oberpfalz zu, in dieser Hinsicht waren alle Landstriche Oberpfalz.

139

140

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Man darf nicht vergessen, dass es nicht einfach war, sich sauber und frei von Ungeziefer zu halten, solange dieses allgemein verbreitet war und die modernen Bekämpfungsmittel, Pestizide und Insektizide, fehlten. Wasser musste von den Brunnen herbeigetragen werden. Das gesamte Bettzeug war umständlich, sehr viel weniger leicht zu reinigen als in späterer Zeit. Strohsäcke waren die Regel, das gebrauchte Stroh wurde oft erst, wenn es verfault war und schwarz wurde, ausgewechselt; Pferdehaar-Matratzen waren noch lange Zeit eher die Ausnahme. »Sehr häufig begegnete man noch den Himmelbetten, deren Himmel in der Regel aus gewürfeltem Kattun bestand«, schreibt Otto Bähr in seinem Buch »Eine deutsche Stadt vor hundert Jahren«, welches das Leben im Biedermeier-Deutschland beschreibt. »Wo sich Hausungeziefer fand, war man auch damals schon bemüht, dasselbe energisch zu bekämpfen. Aber es fehlte das durchgreifende Mittel des persischen Insektenpulvers. Auch in dem Petroleum ist ein solches Mittel neu erstanden.«8 Aber auch das Petroleum war außerordentlich teuer und daher nur für eine Minderheit erschwinglich. Da konnten diese Tierchen nicht ausbleiben, mögen sie sich auch in den Quellen unserer Blicke entziehen – de normalibus non in actis, könnte man sagen, über die normalen Dinge des Lebens wird nicht berichtet. Nur da und dort hat ein Maler auf einem Bild festgehalten, wie ein Kind von der Mutter gelaust wird, derlei Fellpflege ist bei den Primaten üblich, unter Menschen in fernen Zonen bis zum heutigen Tag.9 Bezeichnend für die Verbreitung – und dafür, dass die große Masse der Menschen mit ihnen vertraut war – sind die Eintragungen in den großen Enzyklopädien, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts erschienen. Für sie sind die Laus und der Floh eine Selbstverständlichkeit: In Johann Heinrich Zedlers »Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste«, das noch vor der Mitte des 18. Jahrhunderts erschien, heißt es über ihre Verbreitung gleichsam entschuldigend: »Alle lebendige Geschöpfe, und nicht nur diejenigen, die auf dem Trockenen und in der Luft leben, von den Menschen an, bis auf die Stuben-Fliegen und noch kleineren, […] haben ihre Läuse.« Und die vielbändige »Technologische Encyclopädie« von Krünitz, die dann an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erschien, widmet der Laus samt ihrem Anhang nicht weniger als 33 Druckseiten.

Ungeziefer, historisch betrachtet

Indien, eine Mutter sucht das Haar ihrer Tochter nach Ungeziefer ab (1990er Jahre). Der Dichter Friedrich Schiller schrieb, ferne Nationen halten uns einen Spiegel vor, der uns »den verlornen Anfang unsres Geschlechts« vor Augen führt.

Flöhe bilden innerhalb der riesengroßen Ordnung der Insekten eine ziemlich kleine Gruppe. Der Entomologe Fritz Peus, ein ausgewiesener Flohexperte, fand in Deutschland am Ende der 1930er-Jahre an die sechzig Arten. Ausgewachsene Flöhe sind anderthalb bis drei Millimeter lang, die Männchen sind etwas kleiner als die Weibchen, auch sind ihre Fühler am Kopf anders gestaltet. Das chitinhaltige Außenskelett ist kräftig, daher bedarf es großen Drucks, einen Floh zu zerquetschen. Zwischen den Fingernägeln ist es möglich, beispielsweise;10 aber selbst eine Katze tut sich schwer, einen Floh mit den Zähnen zu fassen und zu zerbeißen. Flöhe besitzen keine Flügel; ihr Körper ist, wie bei allen Insekten, in drei Segmente gegliedert.

141

142

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Sie sind seitlich stark abgeflacht; dies und der kielförmige Kopf erleichtern es ihnen, sich durch dichtes Haarwerk hindurchzuzwängen. Sie schieben sich dabei kraftvoll mit ihren gut entwickelten Hinterbeinen voran. Wenn der Wirt nach ihnen greift oder beißt, sausen sie davon. Aus dem Blickwinkel eines Flohs ist das Fell eines Hundes oder das Kopfhaar eines Menschen wie ein Bambusdschungel. In diesem Dickicht springen die Flöhe nicht, hier laufen sie.11 Flöhe halten sich nur zeitweise auf ihrem Wirt auf, zeitweise verweilen sie auch in dessen Lager. Wenn sie es verlassen, dann geschieht dies in gewaltigen Sprüngen. Flöhe besitzen ein feines Wärmeempfinden, und sobald ein Warmblüter sich vorbeibewegt, springen sie ihn an. Sie verfügen über ungewöhnlich starke Sprungbeine, diese haben sich aus den Schienbeinen entwickelt. Die Muskulatur für ihre Sprungbeine steckt allerdings an anderer Stelle, in den frei beweglichen Hüften, und zwar in deren hinteren Teilen. Die Verlagerung der Sprungmuskulatur in die Hüften ist, unter den springenden Insekten, eine Eigentümlichkeit der Flöhe. Flöhe können unglaublich weit und hoch springen: Manche Arten springen bis zu einem halben Meter weit, also fast das Zweihundertfache ihrer Körperlänge, und etwa 25 Zentimeter hoch, und dies mit gewaltiger Beschleunigung. Wer mit Flöhen vertraut ist, wird wissen, dass sie sich gern auf helle Unterlagen setzen und sich dort wie ein winziger dunkler Strich ausnehmen. Wenn man den Strich genau beobachtet, kann man den Eindruck bekommen, er zieht sich plötzlich in sich zusammen – und dann ist er auf einmal verschwunden, der Floh! Flöhe leben ausschließlich von strömendem Blut. Sie tragen am Kopf eine Reihe von Stechwerkzeugen, die sie beim Stechen abwechselnd durch die Haut des Wirtes vorantreiben.12 Zugleich geben sie Speichel ab, der Stoffe enthält, welche die Blutgerinnung verhindern, dem Wirt verursacht dies eine Quaddel und Juckreiz. Wenn der Floh Gelegenheit dazu hat, saugt er mehrmals am Tag Blut. Wird er dabei gestört, dann flieht er, um an anderer Stelle erneut zuzustechen. Während des Saugens spritzt er Rückstände der letzten Blutmahlzeit aus. Diese bluthaltigen festen Kotklümpchen sind zunächst dunkel, später werden sie weicher und rötlich. Während eines längeren Saugaktes fallen zehn bis zwanzig kleine Portionen Kot neben

Ungeziefer, historisch betrachtet

die Einstichstelle auf die Haut des Wirtes. Flöhe können, wenn sie nicht gestört werden, lange Zeit saugen, eine halbe Stunde und länger. Aber sie können auch lange Zeit ohne Nahrung auskommen: Wenn sie nichts zu fressen bekommen, gehen sie in unseren Breiten bei sommerlichen Temperaturen nach zwei bis drei Wochen ein. Flöhe bevorzugen einen bestimmten Wirt, der Rattenfloh (Xenopsylla cheopis) die Ratte. Aber die meisten Floharten wechseln in Notzeiten durchaus die Wirtsart, und so nimmt der Rattenfloh auch einmal mit einem anderen Warmblüter vorlieb, wenn er hungrig ist und gerade keine Ratte vorbeikommt. Eine Eigentümlichkeit des Rattenflohs besteht darin, dass er im Verdauungstrakt oberhalb seines Magens einen Vormagen (Proventriculus) besitzt. Wenn nun dieser Floh von einem pestkranken Tier oder Menschen Blut saugt, nimmt er den Pesterreger in seinen Verdauungstrakt auf. Sticht er sodann einen Menschen, so überträgt er diesem die Krankheit. Aber nicht nur der Rattenfloh vermag die Pest zu verbreiten, auch der Menschenfloh (Pulex irritans) ist dazu in der Lage, obwohl er einen solchen Vormagen nicht besitzt: Er scheidet nämlich den Erreger in seinem Blut-Kot aus, und der Gestochene reibt ihn sich dann in die juckende kleine Wunde. Gerade das machte den Floh einst so gefährlich: Er übertrug die Pestbakterien, sofern er sie in seinem Inneren beherbergte.13 Kleinere Pestepidemien waren auch im 20. Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Flöhe durchlaufen verschiedene Reifestadien. Der weibliche Floh legt etwa einen Tag nach der Begattung Eier ab, bei vielen Arten sind es nur vier bis acht, beim Menschenfloh können es bis zu vierhundert sein. Die Eiablage kann sich allerdings über etliche Wochen hinziehen. Diese Eier sind im Vergleich zum ausgereiften Tier recht groß, etwa einen halben Millimeter lang, elliptisch geformt. Aus diesen Eiern bilden sich Larven: madenförmige Gebilde von gelblicher oder weißlicher Farbe. Schon diese Larven bewegen sich eigenständig fort, kriechend, ähnlich wie die Schmetterlingsraupen. Ihre Nahrung besteht aus allerlei organischen Stoffen, wie sie im Lager ihres Wirtes üblicherweise vorkommen. Auf das Larvenstadium folgt das der Puppe, es dauert – abhängig von der Außentemperatur und der Luftfeuchtigkeit – meist ein bis zwei Wochen. Für den Menschenfloh werden sieben Tage als kür-

143

144

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

zester Zeitraum geschildert, 239 Tage als längster. Am Ende dieser Zeit platzt die Puppenhaut vorne auf, der Floh kommt heraus, mit dem Kopfe voran, mit den Beinen schiebt er nach; die Hülle bleibt liegen. Er ist hungrig zu diesem Zeitpunkt und befällt den erstbesten Wirt, der vorbeikommt. Die gesamte Entwicklungsdauer eines Menschenflohs beansprucht mithin von der Eiablage bis zum Schlüpfen des reifen Tieres in unseren Breiten wenigstens zwanzig Tage im Sommer und an die sechs Wochen und mehr im Winter. Flöhe haben ein unglaublich zähes Leben; aber um ihre Tätigkeit voll zu entfalten, benötigen sie hohe Außentemperaturen, am besten so um die 27 Grad Celsius, und es darf nicht zu trocken sein. Sie sind sehr widerstandsfähig gegen Kälte: Sie können ohne Weiteres viele Stunden unter dem Gefrierpunkt zubringen, aber sie können sich dann nicht bewegen. Ein lebenslustiger, gesunder Floh hat eine Lebenserwartung von vielen Monaten, von einem Jahr und mehr. »Niemand schämt sich zu bekennen, daß er Flöhe habe; Läuse hingegen darf kein Mensch von Erziehung mit sich führen, und doch ist beides Ungeziefer und an Geselligkeit geben die letzteren den ersteren nichts nach«, schrieb 1788 der Freiherr von Knigge in seinem Buch »Über den Umgang mit Menschen«.14 Das mag so gewesen sein, unter dem größten Teil der Bevölkerung. Trotzdem ist anzunehmen, dass die Flöhe, wie auch anderes Ungeziefer, in den verschiedenen Volksschichten unterschiedlich häufig anzutreffen waren: Bei den Unterschichten gab es vermutlich mehr von ihnen, denn diese Leute hatten andere Sorgen: Es herrschte Armut, und man hatte wenig Muße und kein Personal, das einem bei der Jagd behilflich sein konnte. Aber Flöhe waren auch der Oberschicht nicht ganz unbekannt. Im 17.  und 18.  Jahrhundert bedienten sich diese Kreise ausgeklügelter Flohfallen. Die Preise für eine solche Falle waren nicht eben niedrig: In den 1780er-Jahren zahlte man für eine Flohfalle 18 Kreuzer; das lässt uns glauben, dass diese Fallen vor allem bei den Wohlhabenderen Verwendung fanden.15 Die Zeit schritt voran, das Christentum verlor im Zeitalter der Aufklärung ein wenig von seiner Überzeugungskraft; neue Vorstellungen von Sauberkeit und Gesundheit fingen langsam an sich durchzusetzen. Die schöne Literatur beginnt sich nun ganz entspannt, ja fast liebevoll dieses Tieres anzunehmen: Goethe gedenkt

Ungeziefer, historisch betrachtet

in seinem »Faust« eines solch possierlichen Insekts, in der Szene in Auerbachs Keller in Leipzig singt Mephisto dieses Liedchen: Es war einmal ein König, / Der hatt’ einen großen Floh. / Den liebt er gar nicht wenig, / Als wie seinen eigenen Sohn.« / Da rief er seinen Schneider, / Der Schneider kam heran: / Da, miß dem Junker Kleider / Und miß ihm Hosen an! / Zu Goethes Lebzeiten (1749–1832) war derlei Ungeziefer keine Seltenheit, und man hat Goethe, einem promovierten Juristen, sogar eine Dissertation über Flöhe angedichtet. Ein jüngerer Zeitgenosse Goethes, der Dichter Clemens von Brentano (1778–1842), schreibt in seinem »Märchen von dem Baron von Hüpfenstich« gleichfalls von einem König und seinem Floh, und der Romancier E. T. A. Hoffmann (1776–1822) widmete ihm mit seinem »Meister Floh« ein ganzes Buch, dessentwegen er übrigens bei der Zensur gewaltig aneckte. Und die Brüder Grimm, die im frühen 19. Jahrhundert ihre Volksmärchen sammelten, schrieben ein Märchen mit dem Titel »Läuschen und Flöhchen«. In dieser Zeit gab es für das schöne Geschlecht etliche Kosenamen, in denen der Begriff ›Floh‹ vorkam. Aber es gab die Flöhe nicht nur in der schönen Literatur, es gab sie auch in der Wirklichkeit, in den Wohnungen der Armen, vor allem der Landbevölkerung. Ein berühmter Maler des 19.  Jahrhunderts, der Romantiker Ludwig Richter, hat Mitte der 1830er-Jahre die Rhön durchstreift, er schreibt in seinen Tagebuchnotizen aus dem Jahr 1837: »Die Schenkstube in Steinach wurde am Morgen mit der Harke gereinigt, es fanden sich auch früh schon einige Bauern ein […]. Mich hatte des Nachts der Durst und eine Unzahl Flöhe geplagt, so daß ich wenig geschlafen hatte.« Ähnliches konnte man in vielen Reiseberichten lesen. So empfiehlt Heinrich Heine in seiner »Reise von München nach Genua« über die beste Reisezeit für Italien: »Aber reise nur nicht im Anfang August, wo man des Tags von der Sonne gebraten und des Nachts von den Flöhen verzehrt wird.«

145

146

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Ungeziefer, historisch betrachtet

Ungeziefer gab es in den Wohnungen zuhauf – dabei konnte schon ein einzelner Floh so störend sein.

147

148

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Die Neigung, den Floh als einen fröhlichen Springer und munteren Gesellen zu betrachten, setzte sich noch im ausgehenden 19. Jahrhundert in den liebevoll-ironischen Gedichten und Zeichnungen eines Wilhelm Busch (1832–1908) fort. In den deutschen Städten begannen noch vor der Mitte des 19.  Jahrhunderts die ersten »Flohzirkusse« damit, diese Tierchen vorzuführen, und zwar Menschenflöhe. Wozu ihretwegen einen Zirkus aufsuchen, solange man sie als ständigen Gast bei sich zu Hause hatte? Auch dies mag man als ein Zeichen dafür werten, dass Flöhe nun als Haustiere seltener geworden waren. Besonders viele von diesen Plagegeistern gab es natürlich dort, wo die Menschen arm waren und wo es große Mühe kostete, den Lebensunterhalt zu verdienen. Dies traf, innerhalb Deutschlands, ganz besonders für die Waldgebirge zu. Es ist anzunehmen, dass die Menschen dort auch weniger gut Bescheid wussten über die Gefahren, die von diesem Ungeziefer ausgingen. Als der Arzt Rudolf Virchow 1852 im Auftrag der bayerischen Regierung durch den Spessart reiste, weil dort eine tödliche Epidemie wütete, schrieb er über den Besuch bei einer Kranken: »Wenn man das Deckbett aufhob, so sprangen die Flöhe so dicht umher, dass man im ersten Augenblick nur die Wahrnehmung des Flimmerns vor Augen hatte.« Der junge Arzt aus Würzburg war sich nicht sicher, ob der »Hautausschlag«, den er bei den Kranken sah, tatsächlich ein aus dem Körperinneren kommendes Exanthem war oder einfach Flohstiche von außen.16 Noch in den medizinischen Lehrbüchern des 19.  Jahrhunderts ist oft von »flohstichartigen Exanthemen« die Rede, auch das ist ein Indiz dafür, dass man glaubte, nicht nur der Autor, sondern auch der Leser sei damit vertraut. Ungeziefer gab es nicht nur im Deutschen Reich. In den Jahren nach 1870 sandte das englische Parlament Fachleute in die Fabriken, um dort nach dem Rechten zu sehen, vor allem den Gesundheitszustand der Arbeiter zu begutachten. Diese Experten stellten dabei fest, dass von den Arbeitern »sehr wenige frei von Ungeziefer« waren; die meisten Arbeiter samt ihrer Familien trugen Flohstiche auf der Haut. »Die persönlichen Gewohnheiten der Reinlichkeit der Fabrikkinder waren im Vergleich zu denen in den landwirtschaftlichen Distrikten schlecht«, heißt es.17 Ähnliches hat auch Friedrich

Ungeziefer, historisch betrachtet

Engels berichtet, der allerdings seine Kenntnisse viel mehr aus der Literatur nahm als aus eigenen Beobachtungen. Man fand Flöhe und Läuse in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wohl häufiger auf den Dörfern als in den Städten, aber man fand sie auch hier, denn gerade erst war die ländliche Bevölkerung in großen Scharen in die Städte gezogen, und sie brachten alles mit, was sie zuvor in ihrem Zuhause besessen hatten, auch ihr Ungeziefer. Über die Wohnverhältnisse – und das Ungeziefer – in der Altstadt von Heidelberg, wo gerade in diesen Jahren der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert (1871–1925) heranwuchs, schreibt ein Arzt, der in Heidelberg praktiziert hatte: »Heidelberg hatte ausgesprochene Proletarierviertel; in einem Hause […] hatte ich täglich zu tun; es umschloss im Vorderhaus und Hinterhäusern gegen hundert Kinder; man konnte sich vorstellen, wie es dort in der Sommerhitze zur Zeit der Brechdurchfälle herging. Die uralten Häuser beherbergten eine erschreckende Menge von Ungeziefer. […] Die Flöhe, die wir uns auch durch besondere, doppelt lange ›poliklinische Hörrohre‹ nicht vom Leibe halten konnten, waren wirklich eine Plage, wegen der wir von den sauberen klinischen Assistenten ausgelacht wurden. Mein Freund Blochmann, der Zoologe, brauchte einmal Flöhe für einen Kurs; er […] bat mich, ihm Exemplare abzutreten. Ich gab einer meiner poliklinischen Familien den Auftrag, mir einige zu fangen – das Stück zu einem Pfennig; am nächsten Morgen überreichte man mir eine Flasche, in der es schwarz wimmelte, im Wert von zwei Mark. […] Ich habe nie wieder, wie dort alle Tage, Fälle von FlohPurpura gesehen – die ganze Haut von oben bis unten rot getupft wie bei einer Mirabelle und weißgelb infolge der ewigen Saugverluste.«18 Lausejungen und ihre Brut Man war Flöhen gegenüber nachsichtiger, so scheint es, um ihre munteren Sprünge zu beobachten, suchte man noch lange den Flohzirkus auf. Läuse hingegen wurden verabscheut: ›Laus-‹ als Vorsilbe bedeutet meist nichts Gutes; und es ist fraglich, ob heute die Besucher eines Flohmarktes auch einen Lausmarkt aufsuchen würden. Läuse waren hierzulande weit verbreitet, bis weit ins 19. und selbst ins 20. Jahrhundert hinein, und dies nicht nur hierzulande.

149

150

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Fest steht, dass es auch in der Vergangenheit, beispielsweise im 18. Jahrhundert, an Läusen keinen Mangel gab. Die ältere Schwester des preußischen Königs Friedrich II., Wilhelmine (1709–1758), Gemahlin des Markgrafen von Bayreuth, schreibt in ihren Erinnerungen über ihre Zeit- und Standesgenossen: »Sie hatten ihre Haare in Gestalt von Perücken zugesetzt, in welchen Läuse, welche ihren Stammbaum wenigstens so weit wie sie selbst hinaufführen konnten, ihren Sitz aufgeschlagen hatten.« Vermutlich war das Ungeziefer im Lauf der Geschichte in allen Schichten verbreitet; aber im 19. Jahrhundert scheint Ungeziefer bei den Unterschichten sehr viel häufiger anzutreffen gewesen zu sein, und es könnte sein, dass der etwas einseitige Ungezieferbefall die sozialen Spannungen noch vertiefte. Die gesellschaftlichen Gruppen schotteten sich voneinander ab; die ungezieferfreien mieden die läusebehafteten Schichten. Nun zeigte sich der unterschiedliche Befall auch beim Auftreten einzelner Seuchen, vor allem solcher, die wie das Fleckfieber von Insekten übertragen werden. Ein Arzt schrieb 1814 angesichts einer schweren Fleckfieberepidemie, die von Napoleons Soldaten aus Russland mitgebracht worden war und sich im folgenden Jahr in Deutschland ausbreitete: »Bei den höheren Ständen war die Krankheit seltner; größere Reinlichkeit, Vorsicht vor der Ansteckung, geringere Anhäufung von Menschen in einem Hause, minderer Zulauf aus den niederern Klassen und größere Entfernung von dem Militär schützte sie. Wurden Dienstboten in solchen Häusern krank, so wurden sie häufig außer Haus gebracht und anderwärts gepflegt.«19 Das Fleckfieber, das man damals häufig als Typhus oder Flecktyphus bezeichnete, ist eine gefährliche Infektionskrankheit, die von Kleiderläusen oder seltener von Flöhen übertragen wird. Zuvor waren die Quellen nicht sehr reichlich geflossen; im 19. Jahrhundert beginnen sie gänzlich zu versiegen. Man schrieb nur ungern über Ungeziefer, verständlicherweise, denn es kompromittierte den Schreiber, nährte den Verdacht, er sei selber ein lausiger Zeitgenosse. Die wenigsten waren so mutig wie der schottische Dichter Robert Burns (1759–1796), gleichfalls ein Goethe-Zeitgenosse, der sogar eine Ode »To  a Louse« schrieb. Und der französische Dichter Arthur Rimbaud (1854–1891), ein nicht weniger verfemter Außenseiter als Burns, der überdies noch den Orient aus

Ungeziefer, historisch betrachtet

eigener Anschauung gut kannte, schrieb ein hübsches erotisches Gedicht »Die Läusesucherinnen«. Aber das waren die Ausnahmen. Anders war es, wenn man sich an einem fremden Ort befand und dort auf diese Tierchen stieß – dann konnte man mit einer gewissen Entrüstung über sie berichten. Im Jahr 1812, als Napoleons Soldaten nach Moskau auszogen, lebten auch deutsche Emigranten in Russland und machten hier ihre Erfahrungen mit ihnen. »Es wimmelten nämlich die Häuser von Flöhen, freilich keine Tiere von der großen italienischen Zucht, doch bei all ihrer Kleinheit schlimm genug, um einen fast zur Verzweiflung zu bringen«, schreibt einer von ihnen, der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt, über sein Gastgeberland.20 »Wirklich hatten wir auf einigen Posthalten so viele dieser Zwicker und Knicker aufgelesen, daß wir an dem ersten besten Wäldchen oder Büschchen stillhalten ließen, uns fast bis zur völligen Natürlichkeit entkleideten und unsere Kleider einige Minuten im Winde hin und her schwenkten und ausstäubten, um das stechende und zwickende Gesindel in die weite Welt zu schicken.« Man darf annehmen, dass Ungeziefer im fernen Osten der Landmasse Eurasien weiter verbreitet war als an den westlichen Randzonen.21 Der Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821–1881) hat sich in seinen »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« sehr lebhaft zu den Läusen Sibiriens und zur Jagd auf diese geäußert: »Besonders widerlich waren mir die Läuse, die ich hin und wieder in diesen Schlafröcken aufstöberte, große und beachtlich fette Biester. Die Gefangenen machten ihnen mit wahrer Wollust den Garaus, und wenn so ein Untier unter dem dicken, plumpen Nagel eines Gefangenen knackte, konnte man allein am Gesicht des Jägers ablesen, welches Vergnügen ihm das bereitete. Auch bei uns konnte man diese Läuse auf den Tod nicht ausstehen, und zuweilen eröffnete der ganze Saal an einem langen, öden Winterabend einen Vernichtungsfeldzug gegen sie.« Läuse waren Plagegeister  – und mehr als das, gerade die mit Läusen vertrauten Russen wussten, dass sie einigen gefährlichen Krankheitserregern als Überträger dienen. »Wer Läuse bekommt, der wird bald krank«, schreibt Maxim Gorki in seiner Autobiographie »Meine Kindheit«. Läuse können, wenn sie in sehr großer Zahl eine Person befallen, ein Krankheitsbild verursachen, das die Mediziner als Pedicu-

151

152

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

losis bezeichnen: Der Kranke verspürt so allgemeine Symptome wie Mattigkeit, Reizbarkeit und denkt vielleicht an einen grippalen Infekt; er hat einen Ausschlag, der an Masern erinnert; der chronische Blutentzug verursacht eine blasse Hautfarbe. Bisweilen kamen Kranke mit diesen Erscheinungen sogar ins Krankenhaus. In den Akten des Nürnberger allgemeinen Krankenhauses taucht die Diagnose Pediculosis erstmals im Jahr 1876 auf – es ist leicht möglich, dass die älteren Diagnosen »Verkratzungen« oder »Juckausschlag« das gleiche bedeuten. In diesem Jahr wiesen in diesem Krankenhaus 13 Patienten diese Diagnose auf, 7 Männer und 6 Frauen. Später traf man dann noch die Unterscheidung zwischen dem Befall mit Kopf-, Kleider- oder Filzläusen.22 Höchstwahrscheinlich bekamen die Hausärzte, vor allem die auf dem Lande, seinerzeit weitaus mehr Fälle davon zu Gesicht. Läuse gehören zur Medizingeschichte, und zwar in doppelter Hinsicht: Sie können, wenn sie in sehr großer Zahl auftreten, den Befallenen durch Blutverlust schädigen; und sie können außerdem gefährliche Infektionskrankheiten übertragen. Dies wurde zwar schon seit Langem vermutet, war aber keine gesicherte Erkenntnis. Als im Winter 1847/48 in Oberschlesien eine schwere Seuche grassierte, sandte die preußische Regierung den klugen jungen Arzt Rudolf Virchow in diese Gegend. Virchow schrieb später ein Buch über diese Reise, darin gibt er eine ausführliche Schilderung von den Lebensumständen und der persönlichen Hygiene der Bewohner. »Der Oberschlesier wäscht sich im Allgemeinen gar nicht, sondern überläßt es der Fürsorge des Himmels, seinen Leib zuweilen durch einen tüchtigen Regenguß von den darauf angehäuften Schmutzkrusten zu befreien. Ungeziefer aller Art, insbesondere Läuse, sind fast stehende Gäste auf seinem Körper.«23 In solchen Äußerungen haben Historiker  – und Historikerinnen  – in jüngster Zeit gern ärztliche Überheblichkeit gesehen.24 Richtig ist sicherlich soviel: Ungeziefer war in den Häusern Oberschlesiens seinerzeit weit verbreitet, denn sonst wäre das Fleckfieber nicht epidemisch aufgetreten. Ohne Parasiten keine Fleckfieberepidemie! Ganz bestimmt ließ Virchow sich nicht von nationalen oder Standesvorurteilen zu diesen Worten verleiten, er schilderte einfach, was er gesehen hatte.

Ungeziefer, historisch betrachtet

Das ist hier der springende Punkt: Läuse und Flöhe und diese schlimme Seuche traten zusammen auf, mehr als das, sie tragen die Ursache dieser Krankheit in sich. Und weil Ungeziefer, zumindest bei den unteren Volksschichten, nicht selten war, erkannte der junge Virchow den Zusammenhang nicht. Beide Tierchen, Läuse und Flöhe, können das Fleckfieber übertragen. Ziemlich genau zur selben Zeit beschrieb ein junger Berliner Arzt, Bernhard Naunyn, das Patientengut der Charité. Er nannte an erster Stelle die angehenden Handwerker, an zweiter die Armen und an dritter »Erkrankte aus Gefängnissen, aus dem städtischen Arbeitshaus, in den Herbergen und Absteigequartieren«. Von diesem Kreis sagte er sodann: »Dies war ein gefährliches Material, sie brachten uns Pocken, ansteckenden Typhus und Rückfallfieber.«25 Mit ›ansteckendem Typhus‹ bezeichnet Naunyn hier das Fleckfieber, das ebenso wie das Rückfallfieber von Kleiderläusen, seltener von Flöhen übertragen wird. Bald begann man den Zusammenhang zu ahnen. Im Jahr 1870 hieß es in der »Deutschen Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege«: »Die in neuer Zeit vielfach gemachte Beobachtung, dass Herbergen, in welchen Reisende und Einheimische aus den ärmsten und verkommensten Schichten des Volkes einzukehren und zu übernachten pflegen, die hauptsächlichsten Verbreitungsund selbst Entwickelungs-Herde des Flecktyphus und des ihm so nahe verwandten Typhus recurrens abgeben, hat sich auch in der 1868 bis 1869, in Berlin aufgetretenen Epidemie der letztern Krankheit bestätigt.«26 Derlei Tierchen waren in solchen Herbergen und billigen Gasthäusern nicht selten. Das hatte schon hundert Jahre früher LouisSébastien Mércier von den Hotels in Paris geschrieben.27 Wilhelm von Kügelgen berichtete von manch einem, der nach Paris und London reiste, um sich dort zu vergnügen, und enttäuscht zurückkehrte, weil er »wohl Hitze, Unbequemlichkeit und Flöhe, aber nicht das gefunden hatte, was er suchte, nämlich das Vergnügen«.28 Die Laus kann, wie auch der Floh, Krankheitserreger von Mensch zu Mensch übertragen, genau dies verleiht ihr ihre historische Bedeutung. Das Fleckfieber wird ausschließlich durch Kleiderläuse oder Flöhe weitergegeben. Sein Erreger, die Rickettsie prowazeki, gehört der Gattung der Rickettsien an, das ist eine Sammelbezeich-

153

154

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

nung für bakterienähnliche Kleinstlebewesen; benannt sind sie nach dem amerikanischen Pathologen Howard Taylor Ricketts, der 1910 in Mexico City an ebendieser Krankheit starb, und auch Stanislaus von Prowazek (1875–1915) starb im Februar 1915 an Fleckfieber. Das wirft ein Licht auf seine Bösartigkeit und seine leichte Übertragbarkeit. Man bezeichnet die Krankheit heute im Deutschen im Allgemeinen als Fleckfieber, seltener als Flecktyphus. Die Rolle der Kleiderlaus als Überträger des Fleckfiebers wurde erst im Jahr 1909 von dem französischen Bakteriologen Charles Nicolle entdeckt. Er kam dahinter, dass die Kleiderlaus und der Floh das Fleckfieber übertragen wie die Anophelesmücke die Malaria oder Zecken bestimmte Formen der Encephalitis oder der Floh die Beulenpest. Für diese Entdeckung erhielt er 1928 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie.29 Man sollte sich diese Tierchen ein wenig genauer ansehen.30 Keine Angst, Läuse können nicht springen wie Flöhe; Läuse krabbeln und klettern, wiewohl auch ein Windstoß sie durchaus von einer Person zur andern befördern kann. Und natürlich können sie auch in der Garderobe von einem Mantel zum nächsten klettern. Dreierlei Arten von Läusen waren es, mit denen die Europäer in der Vergangenheit gemeinhin zu tun hatten: Kopf-, Filz- und Kleiderläuse. Heute richtet sich die Aufregung zumeist gegen Kopfläuse, wenn diese beispielsweise eine Schulklasse terrorisieren. Keine Angst, sie sind in der Regel harmlos, und Kinder sind erfahrungsgemäß für die Aufnahme anfälliger als Erwachsene. Vor allem im Winter, wenn die Überkleidung übereinander hängt, wandert das Viehzeug gern umher. Anders ist es mit der Filzlaus bestellt, sie befällt meist Erwachsene, wird aber längst nicht so freimütig weitergegeben wie die Kopflaus, da sie sich am liebsten an dicht behaarten Körperstellen aufhält. Aber wo Schamhaar an Schamhaar reibt, kann auch ihr der Übersprung gelingen. Heute sind Filzläuse seltener geworden, selbst große Hautkliniken bekommen oft lange Zeit keinen einzigen Fall zu Gesicht. Von wahrhaft historischer Bedeutung hingegen ist die Kleiderlaus (Pediculus humanus vestimenti). Der lateinische Name Pediculus (von lat. pes, der Fuß, pediculus, das Füßchen) rührt von ihren kurzen Beinchen her, deren sie sechs besitzt. Läuse gehören zu den flü-

Ungeziefer, historisch betrachtet

gellosen Insekten. Kleiderläuse sind etwas größer als Kopfläuse, die Männchen erreichen drei bis dreieinhalb Millimeter, die Weibchen mehr als vier Millimeter Länge. Diese sind von grauweißer Farbe; ihre Männchen etwas dunkler, gelblich mit braunen Querstreifen, ihr Hinterteil ist gerundet, das der Weibchen wirkt wie gezackt. Kleiderläuse ernähren sich ausschließlich von strömendem menschlichen Blut. Sie beißen nicht, sie stechen – da das englische Verb ›to bite‹ mit ›beißen‹ oder ›stechen‹ wiedergegeben werden kann, liest man neuerdings nicht selten von ›Flohbissen‹. Für gewöhnlich halten sie ihren Stachel versteckt. Erst unmittelbar vor dem Zustechen holt die Laus ihren röhrenförmigen Rüssel hervor, durchsticht die Haut bis in die tieferen, blutführenden Schichten und nimmt Blut auf. Wenn man sie beim Saugen stört, etwa durch Kratzen, ist sie ziemlich unempfindlich; aber sonst lässt sie sich leicht vertreiben. Wenn es ihr Wirt erlaubt, greift die Kleiderlaus zweimal täglich zu, bei jeder Mahlzeit nimmt sie zwischen 0,6 und einem Kubikmillimeter Blut zu sich. Auf sehr stark verlausten Personen hat man drei- bis viertausend Läuse gefunden, dies ist allerdings eine Seltenheit.31 Wer einer solchen Vielzahl von Läusen täglich zwei Blutmahlzeiten zugesteht, verliert etwa ebensoviel Blut, als ob er mehrmals im Jahr Blutspenden geht – das ist entschieden zuviel. Läuse sind widerstandsfähig. Sie können durchaus zehn Tage lang ohne Blut leben; und wer sie und ihre Brut auszuhungern gedenkt, muss sich rund sechs Wochen in Geduld üben. Läuse können mehrere Tage lang bei Temperaturen von minus vier bis sechs Grad Celsius aushalten; man kann sie 24 Stunden lang unter Wasser halten – es hilft nichts. Sie sind allerdings ziemlich hitzeempfindlich: eine Temperatur von 55 bis 60 Grad Celsius, eine halbe Stunde lang, genügt sie abzutöten. Die Kleiderlaus lebt in der Kleidung, möglichst körpernah. Sie mag Wolle oder raue Stoffe viel lieber als Seidenzeug oder glatte Leinenwäsche. Die Lebenserwartung einer Laus liegt bei fünfzig Tagen. Im Laufe dieser Zeit legt eine Kleiderlaus an die zwei- bis dreihundert Eier (Nissen), die Kopflaus nur halb soviel oder noch weniger. Die Kleiderlaus legt ihre Eier am liebsten in Nähten oder Falten ab, auch in Körpergegenden wie der Scham- oder Afterregion. Kleiderläuse können sich aber auch in der nächsten Umgebung einer stark

155

156

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

verlausten Person halten, beispielsweise im Stroh, auf dem einer schläft, oder in den Ritzen des hölzernen Fußbodens. Die Nissen der Kleiderlaus entwickeln sich am schnellsten bei menschlicher Körpertemperatur: Bei 37 Grad Celsius benötigen sie fünf Tage, bei 25 Grad aber schon sechzehn Tage, und unter 20 Grad wird ihre Reifung überhaupt unsicher. Auf das Ei-Stadium folgt noch ein Larven-Stadium. Bei Ausschlüpfen ist die Larve knapp einen Millimeter groß und von gelblicher Farbe. Um geschlechtsreif zu werden, muss sie erst drei Häutungen durchmachen, deren Schnelligkeit wiederum von der Außentemperatur und der Ernährung abhängt; im günstigsten Falle braucht sie dazu acht Tage. Nach der dritten Häutung beginnt die Larve selbst zu kopulieren. Ein, zwei Tage später legt sie die ersten Nissen ab, zunächst zwei bis vier, später sogar fünf bis sieben, dann sinkt diese Zahl wieder. Wie geht nun die Übertragung des Fleckfiebers vor sich? Ganz einfach: Mit ihren Stechwerkzeugen sticht die Laus zu und saugt dann das Blut, zugleich gibt sie in perlkettenartigen Schnüren hellroten bis schwärzlichen Kot ab: verdautes Blut, mit dem sie zugleich den Erreger ausscheidet, sofern sie ihn in sich trägt. Um die Einstichstelle der Laus bildet sich bald eine Quaddel, es beginnt den Wirt an dieser Stelle zu jucken, er kratzt und reibt sich dabei den blutigen Läusekot samt dem Fleckfiebererreger in die Blutbahn. Nach einer Inkubationszeit von zehn, zwölf Tagen bricht bei ihm die Krankheit aus. Gefährlich ist aber auch der eingetrocknete Läusekot, sofern die Laus mit dem Fleckfiebererreger infiziert war. Der eingetrocknete Läusekot kann durch die Luft auf die Schleimhäute der Nase oder des Mundes eines Menschen gelangen und ihm das Fleckfieber bringen. Die Quellen berichten nur selten von Läusen, haben wir oben erfahren; aber die Erkenntnis, dass es ohne Kleiderlaus (oder Floh) kein Fleckfieber gibt, hilft uns nun weiter, denn jeder Fall von Fleckfieber lässt auf das Vorkommen von Läusen schließen. Fleckfieberepidemien wurden festgehalten  – ihr Ausmaß, ihre Sterblichkeit, ihre vernichtende Kraft gegenüber der Bevölkerung. Die Toten des Dreißigjährigen Krieges  – rund fünf Millionen Deutsche  – waren zum allergrößten Teil Seuchenopfer, Opfer der Pest und des Fleckfiebers, mithin Opfer von Laus und Floh. Die Grande Armée Kaiser

Ungeziefer, historisch betrachtet

Napoleons I. fiel in Russland infizierten Kleiderläusen in die Hände, und die Soldaten starben zu Hunderttausenden. In der langen Friedensperiode nach 1815 ließ das Fleckfieber in Deutschland wieder nach; aber einzelne Fälle und begrenzte Epidemien gab es immer wieder. In einer großen Stadt wie Nürnberg waren gegen Mitte des 19.  Jahrhunderts, als die Stadt gut 50 000 Einwohner zählte, in einzelnen Jahren im Krankenhaus mehr als hundert Fleckfieberkranke, und sicherlich blieben sehr viele Erkrankte bei sich zu Hause auf ihren verdreckten Strohsäcken. In Wien erkrankten im Winter 1858/59 mehrere Tausend Einwohner daran. Die letzten größeren ländlichen Epidemien fanden in Deutschland in den 1880er-Jahren statt, in den Waldgebirgen und in Ostpreußen. Gerade damals, nach 1880, begann die organisierte Jagd auf die Tierchen. Persönliche Hygiene wurde jetzt großgeschrieben. Die chemische Industrie begann Pestizide und Insektizide herzustellen; die deutschen Städte richteten in den 1880er-Jahren öffentliche Desinfektionsanstalten ein, und größere Betriebe besaßen bald Waschplätze für ihre Mitarbeiter. Bei Beginn des Ersten Weltkriegs, 1914, zeigte sich, dass deutsche Ärzte unter fünfzig in der Regel keinen einzigen Fall von Fleckfieber mehr gesehen hatten. Die Kriege des 20.  Jahrhunderts halfen auch den Läusen noch einmal auf die Sprünge. Im Ersten Weltkrieg war die Verlausung der Soldaten groß, vor allem im Osten. Das österreichische Heer verlor bereits 1915 einige Zehntausend seiner Soldaten an das Fleckfieber. Von den sehr wenigen veröffentlichten Tagebüchern von Frontsoldaten ist das des Elsässers Dominik Richert in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich.32 Vor allem im Osten waren die Läuse ein schweres Problem. Die militärische Führung wusste das, sie errichtete einen Cordon sanitaire in Gestalt von Entlausungsstationen, um dem Problem Herr zu werden. »Ohne den Entlausungsschein durfte kein Soldat in Deutschland einfahren«, schreibt Richert und schildert sodann den Betrieb in einer solchen Anstalt: »Alles mußte aussteigen, antreten, dann ging es in die Entlausungsanstalt. Diese war so groß wie ein kleines Dorf. Jeden Tag wurden dort Tausende von Soldaten von ihren Läusen befreit. Wir kamen dort alle zuerst in einen großen, er-

157

158

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

wärmten Raum, wo wir uns ausziehen mußten. Alles befand sich im Adamskostüm; die meisten Soldaten waren derart abgemagert, daß sie aussahen wie ein Knochengestell. Nun ging es in den Baderaum. Von oben spritzte das Wasser in mehr als 200 Strahlen hernieder. Jeder stellte sich unter die Brause. […] Jeder bekam ein neues Hemd, Unterhosen sowie Strümpfe. Unsere Uniformen waren inzwischen in großen, eisernen Röhren aufgehangen worden, die nun bis zu 90 Grad erhitzt wurden. Die Hitze tötete Läuse und Nissen.«33 Obwohl die Entlausungsstationen an der Front im Osten gut und wirksam arbeiteten, kamen doch etliche Stämme von Läusen ins Deutsche Reich.34 So kamen Läuse auch im Deutschen Reich vor. Bei Kriegsende hieß es von einzelnen großstädtischen Schulen, selbst in der Reichshauptstadt, »daß die Schulkinder bis zur Hälfte verlaust sind«. Man darf nicht vergessen, dass während dieses Krieges, und zwar schon sehr bald, Seife streng rationiert war; es gab fünfzig Gramm pro Kopf im Monat, mehr nicht, und sie war von schlechter Qualität. Es folgten einzelne Fälle von Fleckfieber – das allerdings niemals Ausmaße erreichte wie in Russland: Dort starben im Verlauf des Bürgerkriegs (1918–1922) zwei bis drei Millionen Menschen am Fleckfieber.35 Eine weitere Fleckfieberepidemie wütete dort zu Beginn der 1930er-Jahre. In Deutschland bekam man das Problem bald wieder in den Griff. Nur besonders exponierte Örtlichkeiten  – Gefängnisse, Obdachlosenasyle, Schiffe – blieben mit dem Problem noch länger vertraut. In einer Dienstanweisung aus dem Nürnberger Städtischen Krankenhaus von 1924 heißt es ausdrücklich: »Nach dem Kämmen von Kranken ist der Kamm und zwar nach jeder Benützung sorgfältig zu reinigen; wird Ungeziefer vorgefunden, so ist der Kamm wegzulegen, um gründlich desinfiziert zu werden.« In der Ausbildung der Pflegepersonen war ausdrücklich angeordnet, dass die Referenten die angehenden Pflegepersonen »über die Möglichkeit der Krankheitsübertragung durch Läuse und die Bekämpfung der Läuse zu belehren« hatten.36 Schule und Wehrmacht verstanden sich in der Zwischenkriegszeit auch als Vermittler von Hygiene. Hier hatte man alle Angehörigen des Volkes vor sich, auch die unteren Schichten; hier konnte

Ungeziefer, historisch betrachtet

man die Geheimnisse der persönlichen Reinlichkeit exerzieren. In den Schulen stand »Sauberkeit als Erziehungsziel obenan«, schreibt die Publizisten Edda Neumann, die damals eine Schule in München-Bogenhausen besuchte. »Wir Kinder wurden zum Duschen geführt, nicht etwa nach der Turnstunde, sondern zu einer Art Wasch- und Sauberkeitsunterricht, wie denn überhaupt unsere Lehrerin fast täglich die Sauberkeit von Händen und Fingernägeln nachprüfte, sogar einmal wöchentlich mit festem Griff in jeden Haarschopf fuhr, um nach Kopfläusen zu suchen. Und sie wurde da immer wieder fündig, selbst in diesem Wohnviertel der Gutsituierten, vor den Kriegszeiten.«37 Im Bett: Die Wanze Die Bettwanze nahm möglicherweise erst im 19. Jahrhundert einen großen Platz ein, davor findet man in historischen Quellen weniger über sie. Sie war damals das, was zuvor der Floh gewesen war – allerdings ist es ist schwierig das zu sagen, denn es fehlen uns die Quellen. Man muss jedoch annehmen, dass sie viel zahlreicher waren als die schriftlichen Quellen heute glauben lassen. Einzelne Zeugnisse zumindest erwecken diesen Verdacht. Ein Hamburger Wohnungspflegegesetz von 1898 beispielsweise verlangte erstmals eine regelmäßige Überprüfung der hygienischen und sanitären Bedingungen im Hamburger Gängeviertel und anderen Arbeiterbezirken und sprach davon, dass diese von Fliegen, Milben, Wanzen, Läusen und Käfern schwer verseucht seien. »Die Wohnung war völlig verwanzt. Außerdem wimmelte es in der Küche von Kakerlaken, […] vor allem die Betten wurden von den Wanzen befallen. Besonders lebendig war es in der Nähe der aufgehängten Bilder, denn hinter den Tapeten saßen ganze Wanzennester.« Bettwanzen (Familie Cimicidae) zählen wie Läuse und Flöhe zu den Insekten. Auch sie ernähren sich von strömendem Blut. Die echten Bettwanzen (Cimex lectuarius) ereichen eine Körperlänge von fünf bis sechs Millimeter. Sie besitzen Stechborsten, mit denen sie mehrmals hintereinander zustechen; der Stich wird meist nicht bemerkt, erst der Juckreiz, den der eingespritzte Speichel verursacht  – die Wanze ist inzwischen meist in ihr Versteck zurück-

159

160

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

gekehrt. Bei Zimmertemperatur sticht eine Wanze etwa wöchentlich einmal, um Blut zu saugen, bei höheren Temperaturen öfter. Eine Wanze kann ein Jahr alt werden, sie kann bis zu einem halben Jahr hungern. Das Weibchen legt im Laufe seines Lebens ein- bis zweihundert Eier, aber ausnahmsweise auch über fünfhundert. Im Verlauf von ein bis zwei Monaten reifen die Tiere heran, bei weniger als fünfzehn Grad Celsius unterbleibt die Entwicklung. Tagsüber halten sich die Tiere in Ritzen oder den Spalten hölzerner Fußböden, hinter Bildern und Tapeten versteckt. Wanzen belästigen den Menschen seit langer Zeit. Vermutlich waren vor allem solche Schlafstätten betroffen, die immer wieder von Fremden aufgesucht wurden, von Reisenden. In den ersten Jahrzehnten nach der Erfindung der Buchdruckkunst verfasste ein erfahrener Reisender einen Sprachführer für Pilger, die die Ewige Stadt besuchen wollten. Dieser Sprachführer betet, auf deutsch und italienisch, dem Reisenden wichtige Phrasen vor, die er bei seiner Romreise verwenden kann. Da gibt es auch eine Klage, gerichtet an den Herbergsvater eines Pilgerhospizes, dass in seinem Haus Wanzen den Gast belästigen.38 In den alten Städten gab es Wanzen noch bis in die Zwischenkriegszeit hinein; allerdings haben Wanzen nicht die gleiche Bedeutung als Krankheitsüberträger, daher wissen wir vielleicht über ihre Verbreitung eher noch weniger als über anderes Ungeziefer. Nur bisweilen gibt jemand seine Kenntnisse von diesen Insekten preis. Jakob Wassermann schreibt in seinem Roman »Der Fall Maurizius«: »… längs des Bettes zeigte die Mauer verdächtige Blutspritzer, die er eine Weile fragend betrachtete, bis ihm einfiel, daß sie auf eine Wanzensiedlung deuteten.«39 Er hatte recht, und er hatte damit seine Sachkundigkeit bewiesen.40 Die Nationalsozialisten hatten eine ganz eigene Beziehung zu Ungeziefer: Sie sprachen gern von Flöhen, Wanzen und von Bakterien und verglichen sie mit Menschengruppen, die sie vernichten wollten. Ihr Führer, Adolf Hitler, hat schon als junger Mensch, in prägenden Jahren, in seiner Wiener Zeit vor allem mit Wanzen Erfahrungen gemacht. Einiges davon kann man in den Erinnerungen seines Jugendfreundes August Kubizek nachlesen. »Da war die breite Masse der kleinen Leute, die oft nicht genug zu essen hat-

Ungeziefer, historisch betrachtet

ten und in elenden Wohnungen ohne Licht und Sonne dahinvegetierten. Wir rechneten uns nach unserer damaligen Lebensweise voll und ganz dazu«, schreibt Kubizek in seinem Buch. »Es war für uns nicht nötig, dieses soziale Massenelend der Stadt zu studieren. Es kam von selbst zu uns. Wir brauchten nur an die feuchten, abbröckelnden Wände unserer Wohnung, an die verwanzten Möbel, an den üblen Petroleumgeruch zu denken, um uns in das Milieu zu versetzen, in dem Hunderttausende in dieser Stadt lebten.« In diesem Elend lebten die beiden, er und Hitler. »Mehr noch als unter Hunger litt er unter der mangelnden Reinlichkeit«, schreibt Kubizek weiter. »Adolf war ja allem Körperlichen gegenüber von einer geradezu krankhaften Empfindlichkeit. Mit allen Mitteln hielt er sich wenigstens in bezug auf Wäsche und Kleidung sauber. Wer diesen stets sorgfältig gekleideten jungen Menschen auf der Straße sah, hätte niemals gedacht, daß er täglich hungern mußte und in einem hoffnungslos verwanzten Hinterhaus des 6. Bezirkes wohnte. Weniger vom Hunger als von der ihm zwangsweise auferlegten Unsauberkeit der Umgebung, in der er leben mußte, kam sein innerster Protest gegen diese sozialen Mißstände. Die alte Kaiserstadt mit ihrer Atmosphäre von falschem Glanz und verlogenem Pathos, mit ihrer kaum mehr zu verhüllenden inneren Verwesung war der Boden, auf dem sich seine sozialen und politischen Absichten formten.«41 Soweit Kubizek, dass er damit nicht irrte, hat Hitler selbst zugegeben: Einmal, im Sommer 1908, berichtete er seinem Freund schriftlich über das Leben in Wien, das Wetter und die Wanzen.42 »Fast trüber noch waren die Wohnungsverhältnisse. Das Wohnungselend des Wiener Hilfsarbeiters war ein entsetzliches. Mich schaudert noch heute, wenn ich an diese jammervollen Wohnhöhlen denke, an Herberge und Massenquartier, an diese düsteren Bilder von Unrat, widerlichem Schmutz und Ärgerem«, schrieb Hitler später in seinem Buch.43 Es gibt keinen Grund, der sachlichen Richtigkeit dieser Äußerung zu misstrauen. Unsauberkeit, das war ein Anstoß für den jungen Hitler, über Wohnbedingungen nachzudenken, er wollte sie verbessern. Er hielt sie seinem Freund Kubizek vor Augen: »Das Wasser – ein einziger Auslaufhahn draußen am Flur, zu dem acht Parteien mit Kübeln und Eimern hinlaufen müssen. Das für das ganze Stockwerk ge-

161

162

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

meinsame, höchst unhygienische Klosett, für das man um es zu benützen, beinahe eine turnusmäßige Einteilung braucht. Und dazu überall – die Wanzen! […] Ich erinnere mich deshalb so genau, weil diese Zeichnungen wochenlang an die Wand geheftet blieben und Adolf immer von neuem darauf zu sprechen kam. Mir wurde angesichts unseres luft- und lichtarmen Untermieterdaseins der Kontrast zwischen unserer eigenen Umgebung und diesen anmutigen, im Freien liegenden Wohnhäusern besonders deutlich, denn sobald der Blick von der hübschen Zeichnung abglitt, fiel er auf die abbröckelnde, schlecht getünchte Wand, an der man noch die Spuren unserer allnächtlichen Jagd auf Wanzen bemerken konnte.«44 Hitler machte als Soldat im Ersten Weltkrieg vermutlich auch Bekanntschaft mit Läusen. In späteren Jahren war er in unvorstellbarem Ausmaß besessen vom Gedanken an Ungeziefer. Was man nach der Eroberung Russlands zu tun gedenke, wurde einmal in Hitlers Gegenwart gefragt. »Läuse fangen«, sagte er. Immer wieder haben sich Hitler Assoziationen mit Ektoparasiten aufgedrängt. »Wenn an der Front die Besten fielen, dann konnte man zu Hause wenigstens das Ungeziefer vertilgen«, schreibt er in »Mein Kampf« mit Blick auf den Umstand, dass Juden und Marxisten angeblich in der Heimat ihr Unwesen trieben, während »Arier« an der Front standen. Später scheint Hitler eine krankhafte Furcht vor Ungeziefer gehabt zu haben. »Jede Persönlichkeit, die direkt mit dem Führer in Verbindung kommt oder in seiner näheren Umgebung zu tun hat, muss sich gewissenhaft prüfen, ob sie frei von Krankheitserregern (vor allem Ungeziefer) ist«, schrieb sein Wehrmachtsadjutant Schmundt Ende Juli 1942 in einem Aktenvermerk. Und weiter: »In Zweifelsfällen stehen Ärzte zur Untersuchung sowie Reinigungsmöglichkeiten jeder Art im Führerhauptquartier zur Verfügung. Die Erhaltung der Gesundheit des Führers muss jedem höchstes Gebot sein.«45 Auch Läuse waren für Hitler allgegenwärtig. Um dies begreifen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass er selbst viele Erfahrungen mit diesen Lebewesen gemacht hatte und zu einer Zeit aufgewachsen war, als die Bakteriologie gerade ihre großen Triumphe feierte, am Ende des 19. Jahrhunderts. Hitlers Weltanschauung war daher von biologistischem Gedankengut stark durchsetzt; viele

Ungeziefer, historisch betrachtet

seiner Metaphern stammten aus der Bakteriologie und der Hygiene. Hitler empfand eine krankhafte Angst vor Ungeziefer, vor Parasiten, seine Sprache war angereichert mit Begriffen aus dem Wortschatz der Bakteriologie und Parasitologie; vor allem für Juden verwendete er diesen Wortschatz, er sprach vom »jüdischen Bazillus«, der »Weltpest«. Sich selbst bezeichnete er einmal – im tödlichen Gegensatz dazu – als den »Robert Koch in der Politik«46. Das war im Juli 1941, um diese Zeit scheint bei ihm der Entschluss zum millionenfachen Mord an den Juden gefallen zu sein. In den deutschen Vernichtungslagern wurden Menschen mit demselben Giftgas getötet, das zuvor zur Ungezieferbekämpfung verwendet wurde: Zyklon B.47 Der Zweite Weltkrieg, Hitlers Krieg, brachte noch einmal größere Massen von Ungeziefer nach Mitteleuropa. Krankenschwestern, die mit Flüchtlingen zu tun hatten, berichteten entsetzt über die »fetten Biester« von Läusen, die sie bei ihnen gesehen hatten. Je dünner die Menschen, desto fetter ihr Ungeziefer. Die Nürnberger Desinfektionsanstalt befreite in den drei Jahren nach 1945 mehr als 2400 Menschen von Kleiderläusen – 1949 waren es dann nur noch 85. Daneben gab es noch in diesen Jahren mehr als 41 000 Fälle von Kopflausbefall in Nürnberg.48 Den Pestiziden und Insektiziden des 20. Jahrhunderts gelang es schließlich, diese Tiere zurückzudrängen, vermutlich nicht nur in unseren Breiten. Und der Rückgang von Flöhen, Läusen und Wanzen hatte Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung. Viele der alten Seuchen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts Mitteleuropa heimgesucht hatten, traten nun nicht mehr auf. Diese Tiere und die von ihnen schmarotzenden Lebewesen waren geschichtsmächtige Kräfte, ohne Zweifel, und so werden am Ende auch die Worte des Zoologen H.-A. Freye verständlich, der über sie sagte. »Mäuse und Ratten haben zusammen mit Flöhen, Läusen, Wanzen, Mücken, Fliegen und – in ihrem Gefolge – Viren, Bakterien und einzelligen Schmarotzern die Schicksale der Völker weit mehr bestimmt als Pfeil und Bogen, Schwerter und vielleicht auch mehr als Maschinengewehre und Dynamit.«49 Dann begannen die Zeiten des allgemeinen Wohlstands und der Sauberkeit, es begannen die Zeiten, in denen der schon als Schwein galt, wer nicht jeden Tag wenigstens einmal duschte. Nur auf ihren

163

164

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

weiten Reisen lernten Deutsche noch diese Welt von Kleintieren kennen, von denen es in einem alten Vers heißt: Er reiste in vielen Ländern, / Er schlief in so manchem Haus; / Da hatte er drei Gefährten: / Den Floh, die Wanze, die Laus. 1 Die SZ schrieb am 14./15.3.1992: »Der Gletschermann starb verlaust.« Spätere Untersuchungen ergaben jedoch, dass dies nicht zutraf. H. Aspöck / H. Auer, Zur parasitologischen Untersuchung des Mannes vom Hauslabjoch, in: F. Höpfel u. a., Der Mann im Eis, Bd.1 (Veröffentlichungen der Universität Innsbruck 187), Innsbruck 1992, S. 214 f. 2 Dazu ausführlich Hans Zinsser, Ratten, Flöhe und die Weltgeschichte, Stuttgart 1949, passim (Original: Rats, Lice, and History, 1945). 3 English Historical Documents, Bd. 2: 1042–1189, London 1953, S. 769. 4 Emmanuel LeRoy Ladurie, Montaillou, Berlin 1978, S.  40 (Frz. Original: Montaillou. Village occitan de 1294 à 1324, Paris 1975, S. 33 f.). 5 Selbst europäische Länder, wie Griechenland, hatten während des Ersten Weltkriegs und auch noch in den frühen 1920er-Jahren viele Fälle von Beulenpest. Siehe auch Manfred Vasold, Die »Pest« in Europa, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59/4 (2008), S. 96–106. 6 Felix von Bormann, Das Vorkommen des Läuse-Fleckfiebers auf der Erde, 1920–1955, in: Welt-Seuchenatlas, Bd. 3, hg. von Ernst Rodenwaldt und Helmut J. Jusatz, Hamburg 1961, S.  67 f.: »Ein seltener Wechsel der Leib- und Bettwäsche, soweit überhaupt vorhanden, und fehlende Säuberung der Kleider fördern die Verlausung. Schon ein nur alle 4 Wochen vorgenommener Wechsel der Leibwäsche genügt, um die Bevölkerung frei von Kleiderläusen zu halten.« 7 Wilhelm Brenner-Schäffer, Darstellung der sanitätlichen Volkssitten und des medicinischen Aberglaubens im nordöstlichen Theile der Oberpfalz, Amberg 1861, S. 54. 8 Otto Bähr, Eine deutsche Stadt vor hundert Jahren, Berlin 1926, S. 28. 9 Einige bedeutende Maler des 17. Jahrhunderts, wie Murillo, aber auch einige Niederländer, haben Bilder mit solchen Motiven hinterlassen. 10 In manchen Kulturen wurden Flöhe daher mit den Zähnen zerbissen. Wenn es sich um pestinfizierte Flöhe handelte, begannen die Pestsymptome sich bei den Menschen in der Umgebung des Halses mit gewaltigen Schwellungen der Lymphknoten zu zeigen. 11 Fritz Peus, Die Flöhe, Berlin 1938, passim. 12 Siehe Werner Peters, Medizinische Entomologie, in: Konrad Dettner / Werner Peters (Hg.), Lehrbuch der Entomologie, Heidelberg/Berlin 22003, bes. S. 651–655.

Ungeziefer, historisch betrachtet 13 Zur Verbreitung der Beulenpest um 1900 siehe G. Zirolia, Der Pestbacillus im Organismus der Flöhe, in: Centralblatt für Bakteriologie, Parasitenkunde und Infektionskrankheiten 31(1902), S. 687 f. 14 Adolph von Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Ndr. Frankfurt a. M. 1977, S. 400. 15 G. Schiedlausky, Wie man Flöhe fängt, in: Kunst & Antiquitäten 1987, S. 26–38. 16 Rudolf Virchow, Die Not im Spessart – Mitteilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, Ndr. (durchgehend paginiert) Darmstadt 1968, S. 51. 17 James M. Tanner, Wachstum und Reifung des Menschen, Stuttgart 1962, S. 191. 18 Alfred E. Hoche, Jahresringe. Innenansicht eines Menschenlebens, München 1958, S. 100 f. – »Flöhe halten Heidelberger Grundschule besetzt«, schrieb die SZ am 28.5.1992. Solche Schlagzeilen waren in den 1990er-Jahren nicht selten; aber es handelte sich dabei nicht um Flöhe und auch nicht um Kleiderläuse, die mit dem Fleckfiebererreger behaftet waren, sondern nur um Kopfläuse. 19 Dr. J. H.  Kopp, Beobachtungen über den ansteckenden Typhus, welcher im Jahre 1813/14 in Hanau epidemisch war, in: Hufeland’s Journal 31.5.1814, S. 1–40, Zitat S. 13 f. 20 Zit. nach Rudolf W. Lang, Reisen anno dazumal, München 1979, S. 276. 21 Eine solche Verallgemeinerung ist nicht leicht zu beweisen, am ehesten noch durch den Hinweis auf die Anzahl von Fleckfieberepidemien und ihre vielen Toten in Russland. – »Der Schmutz in den Wohnungen [der Stadt Prag im Winter 1857/58] war erheblich. Ich hatte ein eigenes Café Geschirr. Am ersten Morgen sassen 3 Wanzen in meiner Café Tasse. Entsetzt wollte ich sofort wieder ausziehen, wurde aber von den Collegen ausgelacht und dahin beraten, ruhig wohnen zu bleiben, da in einer anderen Wohnung wahrscheinlich 6 solche Gäste in der Tasse sein würden«, schreibt der Medizinstudent Gottlieb Merkel in seinen Lebenserinnerungen (StadtAN E 14, Familienarchiv Merkel, Nr. 748 b, S. 45 f.) – Über einen Besuch in Halle, 1855/56, schreibt er: »… ich logirte mich ein bei dem Küster der Neumarkter Kirche in der .. straße. Dort gab es Unmassen von Wanzen.« Ebd., S. 33. 22 Ärztliches Jahrbuch [für das Städt. Krankenhaus Nürnberg] 1876, o. O. o. J. (vermutlich Nürnberg 1877), S. 12. 23 Virchow, Oberschlesien (wie Anm. 16), S. 65. 24 Vgl. Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770–1880, Göttingen 1984, bes. S. 140 ff. 25 Bernhard Naunyn, Erinnerungen, Gedanken und Meinungen, München 1925, S. 112 f. 26 NN, Fleckfieber, in: Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege 2 (1870), S. 156 f. 27 »Dreißig Betten sind jede Nacht belegt von denen, die Vergeßlichkeit oder Verspätung ihrer gewohnten Lagerstatt beraubt haben. Aber ach! Wie soll man nur schlafen? Myriaden von Flöhen und Wanzen haben seit der Regierungszeit Ludwigs XIII. in den Vorhängen und Kopfpfühlen dieser verderblichen Lager ihre Republik errichtet. Und nach einer Viertelstunde schreit

165

166

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

28 29 30

31

32

33 34

35

36

man auf, man ruft, verlangt nach Licht und steht wieder auf, von Kopf bis Fuß gezeichnet.« Louis-Sébastien Mercier, Tableau de Paris, Ndr. Zürich 1990, S. 151. Wilhelm von Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes, Ndr. Zürich 31988, S. 122. Dazu Fritz H. Kayser u. a., Medizinische Mikrobiologie, Stuttgart/New York 8 1993, bes. S. 255–260. Albrecht Hase, Ungeziefer, in: Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, hg. von Otto von Schjerning, Bd. 7: Hygiene, hg. von Wilhelm Hoffmann, Leipzig 1922, S. 308 ff. Siehe auch Richard Otto, Fleckfieber, in: ebd., S. 410 ff.; ferner A. Hase, Die Bekämpfung der Läuse, Wanzen und anderen Parasiten; insbesondere die Bekämpfung mittels Blausäure, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für angewandte Entomologie auf der ersten Jahresversammlung zu Würzburg vom 21. bis 24. Oktober 1913, Berlin 1914, S. 88–105; ders., Die Zoologie und ihre Leistungen im Kriege 1914/1918. Zugleich ein Beitrag zur Frage der angewandten Zoologie in Deutschland, in: Die Naturwissenschaften 7 (1919), S. 105–112. James C. Riley, Insects and the European Mortality Decline, in: American Historical Review (1986), S. 849. Vgl. Erich Martini, Verbreitung von Krankheiten durch Insekten, in: Ergebnisse der Hygiene, Bakteriologie, Immunforschung und experimentellen Therapie 7 (1925), S. 295 ff. »Schon in der Nacht wurde ich durch das Beißen wach, wußte aber nicht, daß es Läuse waren, da ich vorher noch nie keine hatte«, schreibt der Soldat. »Am Morgen gingen wir wieder zu unserer Truppe. Unterwegs biß es mich ganz gewaltig, auf der Brust, ich kratzte drauflos. Aber bald biß es noch mehr. Ich knöpfte nun Mantel, Rock, Unterjacke, Hemd und Finet [Unterhemd] auf und sah nun die Urheber des Kratzens: Drei Läuse, ganz vollgesogen, saßen auf meiner Brust. Nun zwischen die Nägel, und knacks, hin waren sie. Nun fing es mich an zu beißen: auf dem Rücken, an den Beinen und noch an sonstigen gewissen Körperteilen. Doch das war nur ein ganz kleines Vorspiel von dem, was noch kommen sollte.« Dominik Richert, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914–1918, München 1989, S. 96. Ebd., S. 185. Vgl. W. Camerer, Zur Läusebekämpfung, in: Münchner Medizinische Wochenschrift 50 (1919), S. 158. Es gab viele ähnliche Beiträge auch in anderen medizinischen Periodika. Nicht von ungefähr erschien während des Großen Krieges die Monographie von J. Müller, Zur Naturgeschichte der Kleiderlaus, Wien 1915. Paul Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe, 1890–1945, Oxford 2000, S. 19, 41, 48 und passim. Siehe P. Mühlens, Die russische Hungerund Seuchenkatastrophe in den Jahren 1921–1922, in: Zs. für Hygiene und Infektionskrankheiten 99 (1923), S. 1–45, ferner Arthur Holitscher, Stromab die Hungerwolga, Berlin 1921. StadtAN, C 7/I Nr. 7689 (20.9.1924). Vgl. H. Sikora, Beiträge zur Anatomie der Kleiderlaus, in: Archiv für Schiffshygiene 20 (1916). – Diese Krankenhausakten sind in dieser Hinsicht aufschlussreich, denn sie enthalten auch

Ungeziefer, historisch betrachtet

37 38 39 40

41 42 43 44 45

46 47 48 49

Werbematerial von Firmen, die Insektizide herstellten. Diese Firmen boten ihre Produkte mit viel Phantasie und Realitätssinn an: Da gab es Nissotax, graue und weiße Salbe sowie grüne Seife, alles Mittel gegen Ungeziefer. In ihren Werbebroschüren wiesen die Herstellerfirmen gern auf ihre glänzenden Erfolge mit ihren Präparaten hin. Edda Gisela Neumann, Dunkle Tage, in: Lebensbilder. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags, hg. von der Landeshauptstadt München, München 1989, S. 125. Arnold Esch, Wege nach Rom. Annäherungen aus zehn Jahrhunderten, München 2003, S. 16. Jakob Wassermann, Der Fall Maurizius, Reinbek 1975, S. 156. »Verwanzungen wurden in 176 Fällen dem Gesundheitsamt gemeldet; in 146 Fällen wurden bei der Nachschau Wanzen festgestellt und die Wohnungen desinfiziert«, heißt es in einem Bericht der Desinfektionsanstalt der Stadt Nürnberg am Ende der 1920er-Jahre. Adolf Kubizek, Adolf Hitler. Mein Jugendfreund, Graz/Göttingen 1953, S. 202 f. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996, S. 195. Vgl. ebd., S. 35 f., 126, 216, 415 f. Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1935, S. 28. Kubizek (wie Anm. 41), S. 210 f. Zit. nach Helmut Heiber (Hg.), Die Rückseite des Spiegels. Absonderlichkeiten aus den Akten des Dritten Reiches, München 1990, S. 96. Zu dem Komplex Ungeziefer und Holocaust siehe Weindling, Epidemics (wie Anm. 35), passim. Zit. nach Martin Broszat, Nach Hitler. Der Umgang mit unserer Geschichte, München 1988, S. 58. Vgl. Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber, 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, bes. S. 373–380. StadtAN, C 23/I Nr. 401, Bd. 1. Ebd. Nr. 205 (4.11.1924); C 23/I Nr. 402. H.-A. Freye, Die Nagetiere, in: Grzimeks Tierleben, Bd.  11 (=Säugetiere, Bd. 2), 1970, Ndr. München 1979, S. 204.

167

Die Kunst zu heilen kann viel Leiden lindern, Doch schön ist auch die Kunst, die es versteht, Die Leiden im Entstehen schon zu hindern. Was man von Gott und Heil’gen sonst erfleht Als Pest – und schwarzen Todes Überwindern, Das nimmt nun Hygiene ins Gebet. Sie strebt der Übel Wurzeln auszurotten Und geht dabei ans Werk trotz Zweifelei und Spotten. Max Pettenkofer (1818–1901)

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust« Zur Ausbreitung der Unterhose im 19. Jahrhundert Die Geschichtswissenschaft hat den Dingen des Alltags lange Zeit wenig Beachtung geschenkt. Die kleinen Leute gingen namenlos unter und mit ihnen alles, was sie auf dem Leib trugen. Unterwäsche gehört, wie manches andere aus dem Alltag, zu der Gruppe von Sachzeugen, die nur wenige Spuren hinterlassen haben.1 Selbst heimatgeschichtliche Museen zeigen nur selten Unterwäsche. »Aufgehoben wurden ›merkwürdige‹ Gegenstände wie zum Beispiel die Reifröcke und Schnürbrüste des 18. oder die Krinolinen des 19. Jahrhunderts. Unterhemden und Unterhosen, Wollwäsche, Strümpfe und so weiter fehlen weitgehend«, heißt es im Katalog einer Ausstellung »Zur Geschichte der Unterwäsche 1700–1960«.2 Unterhosen und Unterhemden fehlen dort wohl aber auch, weil sie lange Zeit nicht zu den täglichen Kleidungsstücken der Unterschicht gehörten.3 Am ehesten nahm sich noch die Volkskunde der Unterwäsche an.4 Aber auch die schriftlichen Quellen über die tatsächliche Verwendung von Unterwäsche sind spärlich. Tagebücher nach Unterwäsche zu befragen, wäre wohl nur äußerst selten ergiebig und nicht einmal für den Zeitraum sinnvoll, in dem die Unterhose allgemeine Verwendung fand, wenn man von einigen glücklichen Beispielen absieht. Die Quellenlage ist also höchst unzulänglich,5 und der

170

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Historiker ist auf glückliche Funde angewiesen, von denen man kaum wissen kann, ob und inwieweit er sie verallgemeinern darf. Von einzelnen prominenten Personen aus dem 19. Jahrhundert weiß man eher zufällig, dass sie an einem bestimmten Tag eine Unterhose trugen. Kaspar Hauser, der zu Pfingsten 1828 in Nürnberg aufgetauchte Junge, das »Findelkind Europas«, hatte, als er im Dezember 1833 im Ansbacher Schlossgarten einen tödlichen Messerstich empfing, eine Unterhose an.6 Aber was heißt das schon? Kaspar verkehrte nach seinem Erscheinen in Nürnberg im gehobenen Bürgertum, das wird seine Bekleidungsgewohnheiten geprägt haben; viel aufschlussreicher wäre es daher zu wissen, ob er auch bei seinem ersten Erscheinen, Pfingsten 1828, eine Unterhose anhatte. Von der späteren Kaiserin Elisabeth von Österreich, einer Tochter des wittelsbachischen Herzogs in Bayern, heißt es, sie habe als Teil ihrer Aussteuer anlässlich einer Reise nach Wien anno 1854 zur Vermählung »zwölf Dutzend […] Hemden« mitgebracht, ferner »vierzehn Dutzend Strümpfe […] 24 Nachthalstücher und sechs Dutzend Unterröcke [… sowie] fünf Dutzend ›Beinkleider‹«. Elisabeth soll später, um ihre schlanke Taille zu unterstreichen, nur »dünne ›Beinkleider‹ aus feinstem Wildleder« getragen haben.7 Man darf ein solches Faktum, das sich auf eine Einzelperson bezieht, nicht überbewerten. Neben einigen eher zufälligen Lesefrüchten sollen im Folgenden vor allem drei Gattungen von schriftlichen Quellen herangezogen werden, aus denen man am ehesten zuverlässige Informationen über die Verbreitung von Unterhosen schöpfen kann, nämlich 1. militärische Handbücher, 2.  Medizinaltopographien und 3.  Krankenhausakten8 aus den Jahren zwischen 1830 und 1900. Ihre Aussagen werden nacheinander dargestellt. Diese Quellengattungen sagen, anders etwa als Werbung, nicht nur über die – angeregte und erwartete  – Anschaffung von Leibwäsche etwas aus, sondern auch über deren tatsächliche Verwendung, und darauf kommt es hier an. Werbung für Leibwäsche gab es auch im 19. Jahrhundert; aber sie vermittelt keine zuverlässige Information über die Häufigkeit des tatsächlichen Gebrauchs von Unterwäsche. De normalibus non in actis, sagen die Historiker – über das Normale findet sich in den Akten nichts.9 Dies trifft allerdings nur für

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

einige Sachverhalte und Quellengattungen zu. Man würde in einer Zeit, als Unterhosen allgemeine Verwendung fanden, nicht erwarten, dass ein Tagebuchschreiber dieses Kleidungsstück erwähnt, außer vielleicht ein so penibler Alltagschronist wie Thomas Mann. Aber für einige Quellen trifft genau das Gegenteil zu: In vielerlei Aktenstücken aus der Vergangenheit wird gerade das Normale festgehalten, das Alltagsgeschehen. So liefern zum Beispiel die Akten eines städtischen Krankenhauses aus dem 19.  Jahrhundert durchaus ein brauchbares Bild vom gewöhnlichen Alltag in einem solchen Krankenhaus.10 Richtig ist natürlich auch, dass das Krankenhaus des 19. Jahrhunderts nicht repräsentativ war für die gesamte Bevölkerung – das allgemeine Krankenhaus war zu dieser Zeit eine Örtlichkeit, in der man neben den ledigen Arbeitern in erster Linie die Menschen aus den Unterschichten antraf, und das heißt zugleich: die Mehrheit des Volkes. Doch ist dies genau der Bevölkerungsteil, um den es hier vor allem gehen soll. Hemd statt Unterhose In unseren Breiten war das Hemd lange Zeit beides, Ober- und Unterbekleidung. »Hemd ist die Bekleidung des Leibes, so die Menschen über die blosse Haut zu ziehen pflegen«, definierte Heinrich Zedler ganz richtig in seinem Lexikon.11 Hemden zeigten hinsichtlich ihrer Verwendung und auch ihrer Ausstattung erstaunlich große Vielfalt: Die Oberschicht prunkte seit jeher mit prächtigen, reich gefältelten, bestickten Hemden, die man aus den Ärmeln und aus dem Ausschnitt der Oberkleidung hervorschauen ließ. Das Hemd diente als Zier, die Spitzen eines Damenhemdes bis zum heutigen Tag. Das Hemd war das wichtigste Kleidungsstück, das Mann und Frau auf dem Leib trugen, und zwar lange Zeit. Es fand, von der Wiege bis zur Bahre, als Kleidungsstück am häufigsten Verwendung: Es bedeckte den Täufling ebenso wie den Sterbenden auf seinem Totenbett. Schon im Mittelalter trugen Einzelne unter diesem Oberhemd ein zweites Hemd, wie ein Unterhemd, dafür nahm man am liebsten ein einfacheres Hemd her oder ein beschädigtes älteres Exemplar. Wie auch Frauen, die Tracht trugen, mehrere Röcke übereinander

171

172

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

anzogen, um sich gegen die Unbilden der Witterung zu schützen; Trachtenträgerinnen machen das noch heute. Über- und Unterrock sind bei ihnen kaum zu unterscheiden. Unter dem Hemd trug man in der ferneren Vergangenheit in der Regel nichts. »Ich hatte Gelegenheit, die im Besitz des Bayerischen National-Museums befindlichen Puppen auf ihre Unterkleidung hin zu untersuchen und habe dabei festgestellt, daß alle weiblichen Puppen vom Ende des 17. Jahrhunderts an als unterstes Kleidungsstück weiße, ziemlich grobe Leinenhemden trugen, männliche Ankleidepuppen befinden sich nicht im Besitze des National-Museums«, schrieb der Hygieniker Helmut Jäger.12 Die von ihm untersuchten Puppen trugen also keine Unterhosen. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass derlei Wäsche in dieser Zeit nicht allgemein in Gebrauch war, sonst wären diese Puppen damit bekleidet gewesen. Eine Unterhose wurde während des 19. Jahrhunderts von vielen nicht als notwendig empfunden, denn das Hemd war lang, es reichte weit hinab und ersetzte somit die Unterhose. Das Hemd lag dem Körper am nächsten, es war rasch verschwitzt, gelegentlich auch mit Ungeziefer behaftet, schon aus diesem Grund war der häufige Wechsel dieses Kleidungsstücks anzuraten. Es war zumeist aus Leinen, von feinerer oder gröber Qualität, und wer es sich leisten konnte, wechselte sein Hemd regelmäßig.13 Es ist allerdings anzunehmen, dass Hemden, vor allem solche aus Leinen, das sich sehr angenehm tragen lässt und auch die körperlichen Ausdünstungen eher abweist als sie anzieht, ziemlich lange getragen wurden.14 Unterhosen – wozu? Die moderne Trikotunterhose kam schon vor 1800 auf,15 doch erst im 19. Jahrhundert vermochte sie sich hierzulande bei den breiten Massen wirklich durchzusetzen. Die Unterhose, wie Hosen überhaupt, war im christlichen Alteuropa zunächst den Männern vorbehalten. Frauen, die Hosen trugen, galten als schamlos, als unweiblich. Frauen trugen auch noch sehr viel später in unseren Breiten keine Hosen unter ihrem Kleid, sieht man von einigen eher berüchtigten Beispielen ab: Maria von Medici soll – zumindest gelegentlich, beispielsweise auf Reisen  – unter ihrem langen Kleid Beinkleider

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

getragen haben. Aber vor dem Zeitalter der Eisenbahn verreisten die allerwenigsten, Frauen noch seltener als Männer. »Man sagt, wer damals Berlin zu besuchen Willens gewesen sei, der habe zuvor sein Testament gemacht, und wer die Reise dorthin zurückgelegt habe, sei als eine merkwürdige Person betrachtet worden«, schreibt der Königsberger Hirnforscher Karl Friedrich Burdach (1776–1847).16 Hosen zu tragen war für Frauen beispielsweise in Byzanz üblich, nicht jedoch in Europa. Hier hielt man sich an die Worte aus dem fünften Buch Mose, wo es heißt: »Ein Weib soll nicht Männertracht tragen, und ein Mann soll nicht Frauenkleider anziehen; denn ein Greuel ist dem Herrn, deinem Gott, ein jeder, der solches tut.« (Deuteronomium 22,5) Es gab wirklich nur einige wenige weibliche Verrichtungen, bei denen Frauen sich vor 1800 Hosen unter ihre Röcke anzogen. Diese waren dann den Trikotunterhosen der Männer ähnlich. In den Niederlanden trugen Frauen zum Fensterputzen eine Hose, und auch die spanischen Tänzerinnen, die für ihre gewagten Sprünge bekannt waren, sollen sich Beinkleider angezogen haben. Aber in der Regel trugen Frauen keine Hosen unter ihrer Oberbekleidung – bei den Volkstrachten hat sich dieser Brauch am längsten gehalten. Frauen trugen auch hierzulande keine Unterhose, und nicht einmal der Reifrock, dieses gewagte Bekleidungsstück des frühen 18. Jahrhunderts, vermochte dies zu ändern, obwohl doch jetzt eine gewisse Notwendigkeit gegeben war, darunter etwas anzuziehen. Der Reifrock half nämlich einerseits, die Schwangerschaften zu verbergen; doch was er oben verdeckte, gab er unten preis: Wenn er ins Schwingen geriet, erlaubte er den Blick auf die Fesseln, ja bisweilen sogar auf die Waden oder ein Knie der Trägerin. Unterhosen blieben weiterhin die Ausnahme, noch lange Zeit, und zwar für beide Geschlechter. Die Unterhose war vor Beginn des 19. Jahrhunderts ein ziemlich ungewöhnliches Kleidungsstück. In Johann Bernhard Basedows Buch »Elementarwerk. Ein geordneter Vorrath aller nöthigen Erkenntniß« von 1774 sind auf einer Wäscheleine sämtliche »nöthigen« Bekleidungsstücke säuberlich aneinandergereiht, links für Frauen, rechts für Männer, und ein Bub darf die einzelnen Stücke benennen. Unterwäsche findet sich nicht darunter.17

173

174

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Casanova und die Unterhose Es gab Ausnahmen, und zwar vor allem unter ungewöhnlichen Bedingungen. Einzelne Frauen, die vielleicht eine größere Reise machten, scheinen sich unter ihre Röcke durchaus etwas angezogen zu haben. So berichtet der venezianische Abenteurer Giacomo Casanova (1725–1798) in seinen Memoiren mehrmals von Leibwäsche und ihren Trägerinnen, denen er auf seinen Reisen begegnet war. Seine Erinnerungen behandeln einen Zeitraum, der sich über rund vierzig Jahre erstreckt, von den 1730er-Jahren bis 1774; sie umfassen weit mehr als viertausend Seiten, also rund hundert Seiten pro Jahr. Dieser Giacomo Casanova ist ein wichtiger Zeuge für dieses Zeitalter. Er hat sein Leben auf Reisen verbracht, er hat viel gesehen und viel erlebt und er hat sich nicht gescheut, es aufzuschreiben. Wichtiger ist für uns heute, dass bei ihm so häufig und so unbefangen von intimen Dingen die Rede ist: von Leibwäsche, von Krankheiten wie den Pocken und der Syphilis, von schönen Frauen und von Kondomen, von Flöhen und vielen anderen Dingen des Alltags mehr. Über Geschlechtskrankheiten schreibt er ganz offen, er habe die eine Hälfte seines Lebens damit zugebracht, sich zu infizieren, die andere, sich wieder von dem Übel zu befreien.18 Damit ist viel gesagt. In seinen Memoiren hat Casanova mehrmals Unterhosen erwähnt, da und dort hat er auch ausdrücklich gesagt, dass jemand keine Unterhose anhatte. Einmal besuchte er mit einem Bekannten in Paris das Theater, es wird dort auf der Bühne auch getanzt. Sagt der andere zu Casanova über eine der Tänzerinnen: »Bewunderungswürdig aber ist, daß sie keine Unterhosen [caleçon] trägt.« Darauf Casanova: »Verzeih, ich sah …« Casanova verwendet hier den Begriff »caleçon«, der eigentlich die Unterhose für den Mann bezeichnet. Der Freund unterbricht ihn: »Was hast du gesehen? Das war ihre Haut.« Sie kamen dann auf eine andere Tänzerin zu sprechen, von der man sich erzählte, man habe bei ihren tollen Sprüngen niemals ihre Schenkel gesehen, obgleich sie mit nackten Beinen tanzte.19 Viel häufiger schreibt Casanova in späteren Jahren von Unterhosen. Er schreibt von Mägden, die auf Leitern standen und die Mauern

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

abwuschen. »Da diese Mädchen große Reifröcke trugen, mußten sie darunter eine Hose [culotte] anziehen, denn sonst hätten sich die neugierigen Vorübergehenden allzusehr für sie interessiert.«20 Das ist aufschlussreich, sie trugen also unter ihren Röcken eine Hose, aber eben nur ausnahmsweise, speziell für diese Aufgabe, und die »Culotte« war nicht das, was man sich als Unterhose im herkömmlichen Sinne vorstellen darf. Ein andermal geht es ums Schlittschuhlaufen, Casanova befand sich damals gerade in den Niederlanden. »Die Damen trugen kurze Röcke und zum Schutz gegen gewisse Unfälle schwarze Hosen aus schwarzem Samt [culottées en velours noir]«, schreibt er.21 Dann erwähnt er einen Verkäufer für allerhand Galanterien, den er aufsuchte, um für eine junge Schönheit etwas einzukaufen. »Er hatte Westen, Strümpfe, Unterhosen aus gewirkter Seide [pantalons de tricot de soie].«22 Casanova konnte sich nicht entscheiden. Eines Tages wollte er für sich eine Hose kaufen, beim Anprobieren war ihm die Verkäuferin behilflich, und der alte Schwerenöter schreibt: »Nachdem ich meine Schuhe abgelegt hatte, ließ ich mir von ihr die Hosen ausziehen, behielt jedoch meine Unterhosen [caleçon] an, um ihre Schamhaftigkeit nicht zu sehr zu verletzen.«23 Er, Casanova, dieser Mann von Welt trug also eine Unterhose. Nirgendwo war davon die Rede, dass es die Unterhose noch nicht gab – nur davon, dass sie bei bestimmten sozialen Schichten nicht in Gebrauch war. Ein andermal wollte, wie er glaubte, eine junge Schöne ihn reizen. Casanova hielt sich damals gerade in Savoyen auf, in Chambéry. Als die junge Dame ihr Strumpfband befestigte, zeigte sie »mir dabei ein tadellos geformtes Bein; hierauf trat sie auf den anderen Fuß und verschaffte mir einen halben Blick auf Schönheiten, die verführerischer waren als Evas Apfel.«24 Man könnte annehmen, dass sie keine Unterhose trug. Dann ist wieder einmal vom Einkaufen die Rede, in einer Hafenstadt am Mittelmeer. Der große Charmeur hatte eine neue Flamme, eine 15jährige Freundin, und für sie kaufte er, da er sie ordentlich ausstaffieren wollte, ein paar Kleidungsstücke. »Der Diener brachte ihr in einem kleinen Koffer zwei Kleider, Hauben, Unterröcke, Schnupftücher, Handschuhe, Mützen, ein Paar Pantoffeln, einen Fächer, einen

175

176

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Arbeitsbeutel und ein Mäntelchen.«25 Das ist eine ziemlich vollständige Beschreibung der damaligen Bekleidungsstücke einer jungen Frau, von einer Unterhose ist da hier nicht die Rede. Er geht ins Theater, in einer italienischen Stadt im Piemont. Er freute sich schon, weil er einen Platz weit vorne hatte, und im Gespräch mit einem Schauspieler schwärmte er, er werde nun die Unterhose (caleçon) einer bestimmten Schauspielerin sehen. »Das wäre schwierig«, sagte der Schauspieler; »sie trägt keine.«26 Casanova hat auch gelegentlich Wäschestücke aufgezählt, ohne dabei freilich auf Vollständigkeit zu achten – er konnte ja nicht wissen, dass eines fernen Tages ein Historiker sich dafür interessieren würde. So betrat er einmal das Zimmer einer Dame in einem römischen Gasthof an der Piazza di Spagna. »Dies war der beste Gasthof in Rom«, schreibt er. »Auf allen Stühlen lagen, Röcke, Unterröcke oder Hemden.«27 Keine Unterhosen. Bei anderer Gelegenheit, im nördlichen Italien, sah er wieder alles, was die Frau zum Kleiden brauchte. »Nichts fehlte: Hemden, Schuhe, »Mieder, Unterröcke, Kleid, Busentuch, Fächer, Arbeitstasche, Schminkdöschen, Masken, Handschuhe, Strumpfbänder«, alles war da.28 Aber wo war die Unterhose? Am selben Ort fand ein Wettlauf statt, an dem auch Frauen teilnahmen. Einige von ihnen waren als Läufer verkleidet, sie »trugen enge Hosen, kurze, festanliegende Westen, offene Jäckchen, Strumpfbänder mit silbernen Fransen«.29 Dann erwähnt er eine Frau, eine Italienerin, die eine sehr eng anliegende Hose trug, die ihr zu eng war. Diese »verdammte Hose« (maudite culotte), sagte sie, muss sehr unbequem sein. Da wird sie von Casanova daran erinnert, dass Männer »anders gebaut« (différemment construits) sind als Frauen.30 Seine eigene Kleidung hat der große Reisende mit folgenden Worten beschrieben: »Ich brauche jeden Tag ein Hemd, eine Halsbinde, ein Kamisol, eine Unterhose [caleçon], ein Paar Strümpfe, zwei Taschentücher«.31 Wenig später beschreibt er, was eine Frau so alles am Körper trägt: »denn während sie ihr Mieder schnürte, ihre Schuhe anzog und ihre Strumpfbänder oberhalb der Knie befestigte, sah ich Schönheiten aufblitzen«.32 In seinem letzten Band behandelt Casanova seine Erlebnisse in den Jahren nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), zwischen

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

1763 und 1774. Casanova reiste in dieser Zeit nach Spanien, nach Madrid. Von einer seiner Reisen Mitte der 1760er-Jahre von Lyon nach Paris berichtet er, dass unterwegs ein Vater mit seiner Tochter zugestiegen sei. Casanova stieg als erster ein und half der jungen Frau von innen beim Einsteigen in die Kutsche, der Vater von der rückwärtigen Seite. »Adele kletterte nach mir in den Wagen«, schreibt Casanova, »und ich reichte ihr die Hand, um ihr über die große Stufe heraufzuhelfen, denn diese Wagen hatten keine Trittbretter. So war Adele gezwungen, genau vor meinen Augen ihre Röcke zu raffen und das Bein sehr hoch zu heben; dabei erblickte ich schwarze Kniehosen, an Stelle ihrer weißen Schenkel. Dieser Anblick mißfiel mir; ich sagte zu ihrem Vater, der ihr von rückwärts half: ›Monsieur Moreau, Adele trägt ja eine schwarze Hose (une culotte noir). Adele errötete, und ihr Vater erwiderte lachend, glücklicherweise habe sie nur ihre Hosen sehen lassen.« Der alte Wüstling tat nun so, als sei er nicht deswegen verstört, weil er hier nichts zu sehen bekam, sondern weil ein anständiges Mädchen, wie er meinte, aus Gründen der Schicklichkeit keine Hose tragen sollte. »J’ai toujours eu de l’horreur pour les femmes culottées, mais surtout pour une culotte noire«, schreibt Casanova weiter.33 (Ich habe immer einen Horror gehabt vor Frauen mit Unterhosen, vor allem aber vor einer schwarzen Unterhose.) In Spanien geht er wieder ins Theater. Da ist wieder von Unterhosen die Rede, wieder handelt es sich um eine Frau auf der Bühne. Diese Tänzerin hatte bei ihren »schamlosen« Sprüngen ihre Unterhose sehen lassen. »Nun muß man wissen«, schreibt Casanova, »daß jede Tänzerin, die auf der Bühne dem Publikum ihre Unterhosen [culotte] zeigt, zu einem Taler Strafe verurteilt wird.«34 Diese Tänzerin wollte dieser Strafe entgehen, indem sie ohne eine Unterziehhose tanzte. »Dies erregte im Parkett eine so stürmische Heiterkeit, wie man sie in Barcelona noch niemals erlebt hatte.« Der Vizekönig drohte ihr daraufhin, falls wie noch einmal ohne eine Hose tanzte, »einen Monat bei Wasser und Brot im Gefängnis« an.35 Casanovas Memoiren zeigen deutlich, dass Frauen – zumindest in den von ihm bereisten romanischen Ländern – für gewöhnlich keine Unterwäsche trugen, dass dies jedoch, für einige Tätigkeiten, auch die des Reisens, als unpraktisch empfunden wurde.

177

178

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Das Erwachen der Hygiene Im Zeitalter der Aufklärung forderten einzelne fortschrittlich gesinnte Männer, vor allem Ärzte, Frauen sollten dieses praktische Kleidungsstück regelmäßig anziehen, wenigstens auf Reisen. Man darf nicht vergessen, dass die Reise in der Kutsche auch noch zu Beginn des 19.  Jahrhunderts eine höchst mühevolle und strapaziöse Angelegenheit war. Der Arzt Gottfried Wilhelm Becker klagte 1803: »Warum kann man unsere Frauen so schwer dahin bringen, sich der Beinkleider zu bedienen; sie, die deren doch aus so manchen Gründen am Ende noch benöthigter wären, als wir Männer? Wie manche wollüstige Regung würde vermieden werden, wenn die nackten Schenkel nicht so über einander geschlagen werden dürften. […] Wie mancher beschämende Auftritt würde für sie vermieden, wie manche unverschämte Beleidigung unmöglich werden! […] Wie oft versetzt nicht das Kriechen einer Wespe, einer Maus, einer Katze, usw. unter die Röcke ein Mädchen in die beschämendste aller Verlegenheiten. […] Wie manchemal muß sie beim Umwerfen eines Wagens, eines Schlittens ihren Begleiter, ihren Geliebten Reize sehen lassen, die sie ihm kaum nach der Hochzeitsnacht zum Beschauen überlassen hätte.«36 Gegen Ende des Ancien Régime, also noch vor dem Ausbruch der Französischen Revolution (1789) und dem Beginn der Industrialisierung, begann sich ein Wandel anzubahnen: Ein neues Gesundheitsbewusstsein erwachte, das nicht zuletzt in der Bekleidung seinen Ausdruck fand. Von England ausgehend kam ein neuer Kleidungsstil auf den Kontinent. Auch Herren von Stand fingen jetzt an weite Hosen zu tragen, lässig und bequem geschnitten, mit viel Platz darin; diese Hosen lösen die engen Kniehosen ab, die man in Frankreich als »Culottes« bezeichnete und die zuvor bei der französischen Oberschicht in Mode waren. Die Unterschichten trugen solche engen Hosen nicht, sie gingen ohne, sie waren ganz buchstäblich »Sansculottes«. Das neuerwachte Gesundheitsbewusstsein förderte auch die persönliche Sauberkeit. Zuvor war dies kein allgemein gehegtes Ideal. Doch nun bemerkte man, wie schwer es war, ohne leicht wechselbare Leibwäsche sauber zu bleiben, auch frei von lästigem Un-

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

geziefer. Ein Ratgeber in Sachen Hygiene, anno 1778 erschienen, schrieb seinen Lesern nicht etwa das Baden oder das tägliche Waschen vor, wohl aber den häufigeren Wechsel der Wäsche: »Wer in Ansehung der Wäsche gleichgültig ist, sie mag weiß, glatt und ganz seyn oder nicht, der verändert solche auch nicht zu gehöriger Zeit, und die nächste Strafe des in der Wäsche unordentlichen oder unsaubern Menschen sind die Läuse. Und wer will gern lausichte Hausgenossen um und neben sich haben?«37 Wer Unterwäsche trug, konnte sich leichter frei halten von Ungeziefer, denn die Leibwäsche war einfacher zu waschen. Unterwäsche erleichterte den Wechsel von Tag- und Nachtwäsche. Ungewaschene oder nur selten gewaschene Kleidung konnte umgekehrt zu einem Reservoir von Krankheitskeimen werden. Johann Georg Krünitz schrieb in seinem langen Eintrag ›Kleid‹ im vierzigsten Band seiner riesigen Encyclopädie, die um die Wende vom 18.  zum 19.  Jahrhundert in vielen Bänden erschien, dass »Kleider bey den Menschen eines der gewöhnlichsten Mittel zur Fortpflanzung ansteckender Krankheiten geworden«38 seien. Er hatte ganz recht. Wenn ein Mensch verstarb, vielleicht an einer Infektionskrankheit, was sehr häufig vorkam, blieb fast immer eines übrig: seine Kleidung, oft genug nichts weiter, und in der Kleidung steckte oftmals noch die Krankheit des Verstorbenen in Gestalt der Krankheitserreger. Aber Kleidung war teuer, trotzdem in unseren Breiten unverzichtbar, daher spielten das Vererben von Kleidung und der Kleidertrödel mit der Kleidung von Fremden eine große Rolle. Vielerorts wurde Kleidertrödel in der Zeit großer Epidemien  – vor allem dann, wenn die Pest umging  – verboten.39 Man ahnte ganz richtig, dass der »Pestzunder« in den Textilien verborgen war, sei es, dass sie noch das Ungeziefer beherbergten, sei es, dass nur das Bakterium an ihnen haftete. Individuelle Sauberkeit ist wichtig, sie zählt zu den Grundvoraussetzungen jeder wirkungsvollen Gesundheitspflege. Aber es war nicht zu allen Zeiten einfach, ein hohes Maß an Sauberkeit zu erreichen. Solange die Industrie, diese Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, den Mitteleuropäer nicht mit billigen Baumwollprodukten überschwemmte, war es um saubere Leibwäsche ziemlich schlecht bestellt. In den Jahrhunderten vor der Industrialisie-

179

180

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

rung war Leibwäsche sehr teuer, für viele kostete eine Unterhose damals weit mehr als einen Tageslohn. Dies ist vielleicht der wichtigste Grund, warum viele so lange auf diesen scheinbaren Luxus verzichteten. Vom Leinen zur Baumwolle »Unter allen spinnbaren Stoffen läßt sich Baumwolle am leichtesten in einen feinen und gleichförmigen Faden verwandeln«, schrieb der Brockhaus 1837. »Allein erst seit in England 1775 die Spinnmaschine erfunden wurde, ist durch die Wohlfeilheit und Güte der dadurch erhaltenen Garne oder Twiste, sowie durch wichtige Verbesserungen der Webstühle die jetzt fast über die ganze Erde verbreitete Verfertigung baumwollener Stoffe oder die Baumwollenmanufactur zu dem ungeheuern Umfang und der Wichtigkeit gelangt, die sie gegenwärtig behauptet. Durch die früher unerhörte Wohlfeilheit der schönsten Gewebe wurden viele wollene, leinene und selbst seidene Stoffe von ihnen verdrängt.« Der Verbrauch an Baumwolle war in Westeuropa lange Zeit außerordentlich niedrig, denn Baumwolle war teuer. Einfache Maschinen zur Verarbeitung von Baumwolle gab es schon früher; aber erst mit der Erfindung der Baumwollentkernungsmaschine, 1793, durch den Amerikaner Eli Whitney war die industrielle und daher billige Massenproduktion von Baumwolle möglich. Baumwolle ist dank ihrer gleichförmigen Länge, des sog. Stapels, für die mechanische Verarbeitung durch Maschinen hervorragend geeignet.40 Dieser Erfindung folgte überaus rasch die Zunahme des Anbaus und des Konsums in den USA, wenig später auch im Orient. »Kein anderer Industriezweig durchlief eine so explosionsartige Entwicklung wie die Baumwolle.«41 Die Vereinigten Staaten von Amerika produzierten im Jahr 1810 nicht einmal 23 000 Tonnen Baumwolle. Die Produktion stieg dann bis zum Jahr 1860 auf über 900 000 Tonnen an. Ein Jahr später, 1861, als in den USA der Bürgerkrieg ausbrach, war Baumwolle zum wichtigsten Welthandelsgut geworden und mehr als vier Fünftel davon kam aus den USA.42 Während des Bürgerkriegs drosselte die Blockade der Südstaaten durch den Norden eine Zeitlang den Export,

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

was wiederum den Baumwollanbau und den Export in anderen Teilen der Welt begünstigte. Auch in Ägypten gedieh in dieser Zeit die Baumwolle prächtig. Ägypten produzierte seit 1821 die Baumwolle im Großen. 1824 exportierte es schon mehr als 11 000 Tonnen, etwa die Hälfte der ägyptischen Ausfuhr bestand aus Baumwolle. Der ägyptische Vizekönig Mehmed Ali förderte in den 1840er-Jahren die Baumwolle noch einmal gewaltig.43 Lange Zeit war England innerhalb Europas der größte Abnehmer von Baumwolle. Zu Beginn der 1770er-Jahre führte Großbritannien im jährlichen Durchschnitt nur bescheidene Mengen an Baumwolle ein und das Endprodukt  – billige, weil maschinell gefertigte Textilien – wieder aus. Erst die von Napoleon I. 1806 verhängte Kontinentalsperre brachte die britische Baumwollindustrie richtig in Schwung, die englische Stadt Manchester wurde bald zum wichtigsten Sitz der Textilverarbeitung, zum Weltzentrum der Baumwollverarbeitung. Als die Handelsbeschränkungen am Ende der napoleonischen Ära aufgehoben wurden, strömten aus England massenhaft Baumwollprodukte nach Westeuropa. Zwischen 1800 und 1830 verdoppelte sich die Zahl der Beschäftigten in der englischen Baumwollverarbeitung. Bis 1841 war die englische Ein- und Ausfuhr um mehr als das Hundertfache angewachsen.44 In Deutschland war die Baumwollverarbeitung vor dem Jahr 1800 sehr gering, sie lag bei 1800 Tonnen im Jahr. Aber auch sie nahm zu, 1834 stand sie schon bei über 11 000 Tonnen, 1843 überschritt sie erstmals die 30 000 Tonnen, seit 1853 gar die 50 000 Tonnen und nach der Reichsgründung (1871) waren es über 100 000 Tonnen. Nach 1850 nahm der Bestand an Spindeln in Deutschland sprunghaft zu.45 Der Grad der Selbstversorgung mit Baumwolle war in den einzelnen Gliedstaaten des Deutschen Reiches unterschiedlich groß, er lag im Großherzogtum Baden schon früh bei 95 Prozent, hingegen war er im Königreich Preußen sehr niedrig.46 Baumwolle war billiger und leichter als Wolle, sie war dekorativer, da sie leichter zu färben war, und viel einfacher zu reinigen und daher zu wechseln. Für Leibwäsche war sie hervorragend geeignet. Die Leibwäsche kommt unmittelbar mit dem Körper in Berührung

181

182

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

und verschmutzt daher ziemlich schnell. Man musste sie häufiger waschen, aber das Waschen war auch viel einfacher. Seitdem es preiswerte Baumwolle als Grundstoff von Leibwäsche gab, kamen neue Verhaltensweisen auf, man konnte nun sehr viel mehr Baumwolle verbrauchen. Da die Preise für Baumwollwäsche viel niedriger waren als die für Leinen, konnte man sich leichter einen größeren Bestand an Wäsche zulegen. Allerdings war sie auch von geringerer Lebensdauer als Leinen. Dies hatte zur Folge, dass der Konsum an Baumwolle in Mittel- und Westeuropa gewaltig anstieg: In Österreich versechs- oder versiebenfachte sich die verarbeitete Menge an Baumwolle zwischen 1825 und 1845.47 In Frankreich stieg der durchschnittliche Verbrauch an Baumwolle pro Kopf der Bevölkerung zwischen 1830 und 1920 auf das Zehnfache.48 Die sinkenden Preise für Baumwollprodukte brachten auch die Unterhose voran. Bislang trug von den Erwachsenen nur eine gesellschaftliche Minderheit dieses Kleidungsstück, und zwar zunächst die Menschen aus der Oberschicht.49 Einzelne, vielleicht wohlhabendere, gebildetere, vielleicht empfindlichere oder mehr auf Sauberkeit bedachte Männer gingen darin voran. Unterstützt wurde diese Neigung zu mehr Hygiene fraglos von dem Bestreben nach mehr Gesundheit, das im Zeitalter der Aufklärung zu spüren war. Der unaufhaltsame Aufstieg der Unterhose Die einfache männliche Stadtbevölkerung trug um das Jahr 1800 in der Regel noch keine Unterwäsche, allenfalls die Oberschicht war damit vertraut. Es gab jedoch um diese Zeit auch bei ihr noch viele Ausnahmen: Der Dresdener Maler Wilhelm von Kügelgen nahm offenbar an, dass ein Mann von Stand Unterhosen anhaben sollte, denn er schreibt über einen adligen Zeitgenossen aus seiner Kindheit, den Fürsten Putjatin: »Übrigens war es nur wenigen bekannt, daß man unter dem langen Überrock des Fürsten vergeblich nach Beinkleidern gesucht haben würde. Putjatin nannte besagtes Kleidungsstück die unlautere Ursache vielfacher Unlust. Es wäre ihm nicht unwahrscheinlich, sagte er, daß sowohl Römer als auch Bergschotten ihre bekannte Mannhaftigkeit nur der Sansculotterie zu danken hätten. […] Auch ging seine Durchlaucht hierin

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

Wer in der kalten Jahreszeit in Spanien eine Reise unternahm, zog sich warme wollene Wäsche unter die Hose.

183

184

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

allen mit gutem Beispiel vor, indem er sich begnügte, beide Beine von oben bis unten gleich Wickelkindern mit Leinwandstreifen zu umwickeln. Diese Art von Toilette […] gleicht einem geschienten Knochenbruche und flößte uns Kindern Entsetzen ein.«50 Fürst Putjatin war offenbar der Meinung, dass die Sansculotterie, also die vollkommene und buchstäbliche Hosenlosigkeit, besonders männlich sei. Auch heute drückt sich diese Vermutung bisweilen in der meist spaßig gemeinten Frage aus: Was trägt ein echter Schotte unter seinem Kilt? Die Antwort, die dann in der Regel gegeben wird, lautet: Wenn er ein echter Schotte ist – gar nichts. Das ist historisch vermutlich richtig. Es ist anzunehmen, dass die schottischen Männer unter ihren Kilts keine Unterhose anhatten, solange sich diese nicht allgemein durchgesetzt hatte; aber heute tragen Schotten unter ihrem Kilt im Allgemeinen sehr wohl eine Unterhose, und zwar am häufigsten etwas Sportliches, versichern kenntnisreiche Schottinnen.51 Zu Beginn des 19.  Jahrhunderts begannen die Unterhosen sich auch bei den Erwachsenen langsam durchzusetzen, zuvor hatten fast nur kleine Kinder Unterwäsche getragen. Aber es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sämtliche Bevölkerungsschichten ergriffen, und bei den Frauen dauerte es noch länger als bei den Männern. In der »Zeitung für die elegante Welt« schrieb ein Zeitgenosse anno 1802 ein kleines Gedicht »Auf die Pantalons der Damen«. Darin reimte er: »Wie sie zu diesem Vorrecht einst schlau gekommen sind, / Begreift in dem beherrschten Haus’ ein jedes Kind. / Ob sie mit allen Folgen es zurück einst geben; / Wird Knab’ und Jüngling, Mann und Greis wohl nicht – erleben.«52 Unterwäsche, persönliche Hygiene und Infektionskrankheiten In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat dann eine ganz neue Infektionskrankheit die persönliche Hygiene – und somit auch die Ausbreitung von Leibwäsche  – begünstigt, und zwar war das die Cholera asiatica. Diese häufig tödlich verlaufende Infektionskrankheit kam erstmals zu Beginn der 1830er-Jahre nach Europa und löste hier viele Epidemien aus, zuletzt 1892 in Hamburg. Die Erreger dieser Krankheit werden aus dem Wasser aufgenommen, sie vermeh-

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

ren sich im Intestinaltrakt eines Infizierten explosionsartig und werden über den Darm in riesengroßen Mengen ausgeschieden, sodann gelangen sie meist wieder zurück ins Grundwasser. »Die beste Gelegenheit zur Übertragung bot der gemeinsame Abort, wo der Kontakt mit Unrat dadurch begünstigt wurde, daß es kein Toilettenpapier und keine waschbare Unterkleidung gab«, schreibt der amerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes. »Das Hauptprodukt der neuen technischen Entwicklung, die wir als Industrielle Revolution bezeichnen, war billige, leicht waschbare Baumwolle«, fährt er fort. »Zum ersten Mal konnten sich die einfachen Leute Unterkleidung leisten, Leibwäsche, wie man damals sagte, weil dies der waschbare Textilstoff war, den die Wohlhabenden direkt auf der Haut trugen. […] Die Hygiene des einzelnen wandelte sich nachdrücklich, so daß im ausgehenden neunzehnten und im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert gewöhnliche Menschen oft reinlicher lebten als ein Jahrhundert früher Könige und Königinnen.«53 Ein Zweites wird man hier noch erwähnen müssen, den Umstand nämlich, dass die Industrialisierung, die ja mit der mechanischen Verarbeitung der Baumwolle begonnen hatte, nun erstmals wirklich billige Baumwolle in großen Mengen zur Verfügung stellte. Zweifellos hat die Cholera das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit für Gesundheitsmaßnahmen gewaltig gestärkt.54 In vielen deutschen Städten wurden in den 1830er-Jahren unter dem Eindruck der Choleraepidemien Sammlungen durchgeführt, um Gelder für den Erwerb von Leibbinden zu erhalten.55 Der Erreger dieser neuen Krankheit, der Cholera asiatica, das Vibrio cholerae, war lange Zeit nicht bekannt. Den Körper warm zu halten wurde allenthalben zur Vorbeugung gegen die Cholera empfohlen.56 Die wiederholten Ausbrüche der Cholera förderten die Verwendung von Unterwäsche, denn die Ärzte rieten, sich unter allen Umständen am Körper warm zu halten. Ob ein weiteres Argument zugunsten von Unterhosen, die Reinlichkeit nämlich, damals schon zu überzeugen vermochte, sei dahingestellt. Eine zweite schwere Infektionskrankheit könnte in dieser Zeit die Verbreitung der Unterhose begünstigt haben, das Fleckfieber, das von Kleiderläusen (Pediculus humanus vestimenti) übertragen wird. Von derlei Ungeziefer vermochte sich man sich erst dann frei-

185

186

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

zuhalten, wenn man die Leibwäsche häufig wechselte, vor allem aber, wenn man zwischen Tag- und Nachtwäsche deutlich unterschied. Diese schwere Infektionskrankheit hört um das Jahr 1880 im Deutschen Reich auf – ein sicheres Indiz für mehr allgemeine Sauberkeit und eine bessere persönliche Hygiene. Unterhose beim Militär Die Armeen mit ihren Hunderttausenden von Soldaten wurden in dieser Zeit zu Vorkämpfern der Unterhose. Für die Soldaten waren baumwollene Unterhosen schon deshalb nützlich, weil sie hautschonend wirkten: Wer eine Unterhose aus Schafswolle trug, rieb sich damit beim Marschieren leicht wund, und diese Gefahr war vor allem bei den berittenen Abteilungen groß. Außerdem war es beim Militär für die Vorgesetzten einfach, den Soldaten den Gebrauch von Unterhosen vorzuschreiben, und solange sie in der Armee dienten, wurden sie damit vertraut. Die Soldaten sind dabei in doppelter Hinsicht wichtig: Die bis heute erhaltenen Handbücher aus dem Militärbereich erwähnen den Zeitpunkt der Anschaffung und die Verwendung der Unterwäsche, und man kann sich darauf verlassen, dass diese Vorschriften eingehalten wurden. Es ist auch anzunehmen, dass die Armeen mit ihrem großen Bedarf an Bekleidung großen Einfluss auf die Normierung der Kleidergrößen ausübten. Darüber hinaus darf man annehmen, dass die Soldaten, die erstmals beim Militär mit diesem Bekleidungsstück vertraut gemacht wurden, auch später, im zivilen Leben, dies beibehielten und somit auch auf die Bekleidungsgewohnheiten der Bevölkerung einwirkten. Allerdings begann die Unterhose sich in den deutschen Armeen erst deutlich nach 1850 wirklich durchzusetzen. Im »Handbuch der Bayerischen Militärökonomie« von 1830 war von Unterhosen noch nicht die Rede. Etwa um diese Zeit, eher noch etwas später, führten die Armeen in den Gliedstaaten des 1815 gegründeten Deutschen Bundes allmählich die Unterhose als vorschriftsmäßigen Bestandteil der Soldatenbekleidung ein. In der österreichischen k. u. k. Armee waren Unterhosen vorläufig allerdings nur im Winter verbindlich vorgesehen. »Bei den Truppen und Heeresteilanstalten müssen für den vollen Kriegsstand Unterhosen aus gewirktem Baumwollstoff

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

vorrätig sein. Sie gehören nicht zu der normalen Bekleidung des Mannes, erfolgt eine Mobilisierung in kalter Jahreszeit, so ist jeder Mann mit einer Unterhose aus gewirktem Baumwollstoffe zu betheilen«, hieß es in einer der späteren amtlichen Verlautbarungen.57 Selbst bei den führenden Militärs hielt sich die Begeisterung für Unterhosen in Grenzen. Im preußischen Heer wurden Unterhosen dem gemeinen Mann erst nach dem Krieg Preußens gegen Österreich von 1866, der infolge eines Ausbruchs der Cholera so rasch zum Waffenstillstand von Nicolsburg führte, vorgeschrieben. Die preußische Armee verlor in diesem Krieg zum letzten Mal mehr Soldaten an eine Infektionskrankheit, die Cholera, als an die Gewalt der Waffen. Trotzdem brachte die höchste preußische Obrigkeit, der König, diesem scheinbar neuen Kleidungsstück anfangs wenig Zuneigung entgegen. Der preußische Quartiermeister Albrecht von Stosch erzählte in seinen Erinnerungen anschaulich, welchen Widerstand König Wilhelm  I. seinem Kriegsminister, Albrecht Graf von Roon, leistete, als dieser sich für die Einführung der Unterhose in der preußischen Armee stark machte. »Das schlägt in Ihr Ressort«, sagte der Kriegsminister zum Quartiermeister bei dieser Gelegenheit, »versuchen Sie, dem König Unterhosen abzudrücken, ich darf ihm nicht wieder damit kommen; er hat sich’s ein für allemal verbeten.« »Bei einer Gelegenheit einer Vorstellung von Leuten mit neuem Gepäck versuchte ich mein Heil«, schreibt von Stosch weiter. »Der König erwies sich als lebhafter Gegner der Unterhosen, ich verteidigte meine Sache vergeblich. Dann trat der König an die zwölf von den Gardeinfanterieregimentern gestellten Leute heran und besichtigte genau das Gepäck und den Sitz der Kleider. ›Hast du Unterhosen an?‹  – ›Zu Befehl Euer Majestät.‹  – ›Woher hast du sie?‹ – ›Die habe ich mir gekauft.‹ Der zweite trug sie und hatte sie von der Kompanie geschenkt bekommen, der dritte ebenso, und so ging es weiter. Alle zwölf trugen welche. Da sagte der König mit Fassung: ›Ich habe mein Leben lang Unterhosen für überflüssig gehalten. Ich sehe wohl, daß das jetzt anders ist. Ich habe nichts mehr gegen die Einführung.‹«58 Auf diese Weise gelangte also die Unterhose im Jahr 1867, im Jahr nach der verheerenden Cholera-Epidemie von 1866/67, die

187

188

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Preußen mehr als 120 000 Choleratote abverlangte, als verbindliches Kleidungsstück in die preußische Armee. Im »Lehrbuch der Militärhygiene« von 1869 heißt es dann wie selbstverständlich: »Unterbeinkleider sind schon aus Reinlichkeitsgründen kaum zu entbehren.  […] Unterhosen müssen gut über den Leib schließen, genügend weit sein, bis an die Knöchel reichen und hier durch Bänder befestigt werden; wollene tragen wesentlich zum Warmhalten des Unterleibs bei und machen Leibbinden unnötig, im Sommer bestehen sie zweckmäßig aus Baumwolle oder Merino.«59 Zwei Begriffe bedürfen an dieser Stelle der Klärung: nämlich die Begriffe ›Beinkleider‹ und ›Leibbinde‹. ›Beinkleider‹ ist nicht ganz eindeutig, es kann die Hose oder die Unterhose bezeichnen, für die eigentlich die Bezeichnung Unterbeinkleider zutreffender wäre. Der Begriff ›Unterhose‹ wurde nämlich lange Zeit vermieden; in der schicklichen Sprache sagte man zumeist Unterbeinkleider oder, im frühen 19. Jahrhundert, auch: die Unaussprechlichen.60 Das war eine Entlehnung aus den westeuropäischen Nachbarländern, wo man gleichfalls, in Frankreich wie in England, von »inexpressibles« sprach.61 Der andere erläuterungsbedürftige Begriff ist die Leibbinde. Sie war ein typisches Kleidungsstück des 19.  Jahrhunderts, das aber auch noch später anzutreffen war. Ihre Verwendung setzt spätestens mit den ersten Epidemien der Cholera asiatica in Deutschland ein, also gleich nach 1830. Damals rieten die Ärzte dem Publikum, sich zur Vorbeugung unter allen Umständen den Leib warmzuhalten, und die Presse gab diese Empfehlung weiter. Man riet nicht zu Unterhosen, sondern zu Leibbinden. Diese Leibbinden waren breite Tücher aus Schafwolltuch oder Flanell, 34 cm mal 101 cm im Geviert, mit vier Zwirnbändern versehen. Man legte sich dieses Stück Tuch unterhalb der Achselhöhlen um den Körper und befestigte es vorne mit den Bändern, es reichte dann etwa bis unter das Gesäß hinab. »Eine Leibbinde wird am besten aus doppelten Lagen von Flanell gemacht und muss den ganzen Unterleib bis zur Herzgrube hinauf vollständig bedecken, am Rücken aneinanderstossen und mit starken Bändern zum Zubinden versehen sein. […] Der Ersatz der Leibbinden durch hoch hinaufreichende Unterbeinkleider und lange wollene Hemden ist nur in kalter Jahreszeit zu raten, wo über-

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

haupt noch eine wärmere Kleidung angelegt wird«, hieß es in einem Militärhandbuch noch 1872.62 Vermutlich ist es kein Zufall, dass in der bayerischen Armee die Leibbinde ausgerechnet seit dem Jahr 1831 verbindlich und bis ins Einzelne vorgeschrieben wurde – 1831, das war das Jahr der großen Cholerafurcht und ihres ersten Ausbruchs im nördlichen Deutschland. Über die Leibbinde heißt es weiter: »Die Benützung derselben im Frieden zur Winterszeit bei strenger Kälte, besonders im Wachdienste oder bei Epidemien und aus sonstigen Sanitätsrücksichten erfolgt auf specielle Anordnung der Corps-Commandanten. Die Leibbinde ist, sobald deren Benützung in der Absicht angeordnet wird, um gegen drohende oder bereits aufgetretene Krankheitszustände zu schützen, auf dem bloßen Leibe, sonst aber, wenn es sich bloß um vermehrten Schutz gegen Kälte handelt, über dem Hemde zu tragen«, hieß es im offiziellen »Handbuch der Militärökonomie«. Und dann im »Zusatz: Die Leibbinden sind, ohne Rücksicht auf die bestehende Witterung, zu allen Übungen mitzunehmen, zu welchen die Truppen ihre ständigen Garnisonen verlassen. Bezüglich der Fortbringung der nicht in Benützung befindlichen Leibbinde von den Bandagenträgern und Officiersdienern der Infanterie- und Jägertruppe in einem der beiden Brotsäcke zu verwahren ist.«63 Die Leibbinde war zu dieser Zeit, also schon vor der Jahrhundertmitte, weit verbreitet, sie diente dem gleichen Zweck wie die Unterhose, und dies nicht nur in Mitteleuropa: »Leibbinden sind fast allgemein im Gebrauch«, schrieb Friedrich Engels 1845 aus seiner englischen Wahlheimat.64 Leibbinden fanden noch lange Zeit Verwendung: Ein gutes halbes Jahrhundert später packte Hermann Hesse gleichfalls Leibbinden ein, als er zu einer Reise in den Osten aufbrach; sie leistete ihm in Hinterindien gute Dienste: »Wir schliefen unterm Mückennetz auf unseren guten Matratzen am Boden, jeder mit dem Talisman der wollenen Leibbinde versehen«, schreibt er.65 Noch in der Zwischenkriegszeit war es nicht ungewöhnlich, dass jemand eine Leibbinde trug.66 Sie war nichts anderes als eine Art Ersatz für die Unterhose. Dass in der Zivilbevölkerung das Verlangen nach Unterhosen anfangs nicht sehr groß war, hat sicherlich auch damit zu tun, dass das gewöhnliche Männerhemd nach wie vor sehr lang war, dass es

189

190

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

bis weit auf die Oberschenkel reichte, in jedem Fall also über das Gesäß. Der protestantische Theologe Paul Göhre, der Ende des 19.  Jahrhunderts als Student vorübergehend in Fabriken arbeitete, um Geld zu verdienen und zugleich das Leben der Arbeiter kennenzulernen, und daher auch in den städtischen Herbergen der Armen nächtigte, schrieb über die Bekleidung seiner Arbeitskollegen: »Unterbeinkleider trug man selten, dagegen meist wollene Strümpfe und wollene bunte Hemden.«67 In Teilen Süddeutschlands nannten sich Männer noch lange Zeit spaßhaft »Hemadmaler« – das ist eine Anspielung auf die im Hemd sichtbaren Spuren des Tragens. Und in Norddeutschland sagt man heute noch: »Mach dir man bloß nicht ins Hemde.« Auch diese Redewendung dürfte zu Zeiten entstanden sein, als die meisten Männer aus den unteren Schichten unter ihrer Hose einfach nur ein Hemd anhatten. Unterhosen im Spiegel der bayerischen Medizinaltopographien In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als einzelne Städte rasch zu wachsen begannen, scheint die Unterhose zumindest in den Städten ganz langsam ihren Siegeszeug angetreten zu haben. Eine gute, zuverlässige Quelle über die tatsächliche Verwendung von Unterhosen in der deutschen Zivilbevölkerung bilden die Medizinaltopographien, auch ›Physikatsbericht‹ genannt. Medizinaltopographien, in denen die Lebensweise der Bevölkerung, individuelle Hygiene, eigentümliche Krankheiten und vieles mehr aus einer bestimmten Region festgehalten wurden, auch Fauna und Flora, gab es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in großer Zahl.68 Innerhalb Bayerns kann man zwei Typen von Medizinaltopographien unterscheiden: Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfassten Medizinaltopographien, entsprangen einfach dem Wunsch ihrer Autoren, die Umstände des Alltags in einer Region zu beschreiben. Sie verfuhren dabei ziemlich regellos, sie ließen sich offenbar von älteren Beschreibungen dieser Art aus anderen Landesteilen inspirieren. Die zweite Art kam später auf, zwischen 1858 und 1862, nachdem das Bayerische Ministerium des Innern unter König Maximilian II. im Jahr 1858 verlangt hatte, dass für alle bayerischen Städte und Distrikte solche Beschreibungen ausgearbeitet werden

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

sollten. Diese späteren Medizinaltopographien sind nach einem einheitlichen Schema aufgebaut, ihr erster Teil beschäftigt sich – als Teil A: Topographie – mit den naturräumlichen Gegebenheiten der Region, Teil  B behandelt »Ethnographisches«, darin befindet sich auch ein Kapitel über die Grundbedürfnisse des Menschen: Wohnung, Kleidung und Ernährungsweise. Aber auch in diesem Erlass hieß es bezüglich der Kleidung lediglich: »Kleidungsweise nach Verschiedenheit von Geschlecht, Stand, Alter und Jahreszeit; Stoff und Mode in Kleidung« – das war alles, von Unterbekleidung war nicht ausdrücklich die Rede.69 Einige wenige solcher Medizinaltopographien, meist über ziemlich abgelegene Regionen, erschienen erst Jahre später, um 1880, und hielten sich gleichfalls an dieses Schema; sie erwähnen Unterwäsche vielleicht etwas häufiger als die früheren, vermutlich deswegen, weil sie nun weiter verbreitet waren. Diese Medizinaltopographien fielen von Ort zu Ort noch immer sehr unterschiedlich aus, und nur die allerwenigsten ihrer Autoren, das waren amtlich bestallte Ärzte, damals als »Gerichtsärzte« bezeichnet, erwähnten die Unterbekleidung der jeweiligen Bevölkerung. In den allermeisten Medizinaltopographien aus dem Königreich Bayern, die 1858 oder etwas später vorgelegt wurden und heute in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt werden, findet sich über Kleidung nur sehr wenig und über Unterbekleidung meist gar nichts.70 Eine Vielzahl dieser Medizinaltopographien liegt heute gedruckt vor, sie unterscheiden sich inhaltlich nicht von den ungedruckten, und auch sie sagen über Unterwäsche in der Regel nichts.71 Bisweilen erwähnen diese Medizinaltopographien auch nur das Erstaunliche oder die Veränderung gegenüber der Vergangenheit. So heißt es in der  – sehr frühen  – Medizinaltopographie über Würzburg aus dem Jahr 1805 unter dem Stichwort ›Die Kleidung unserer Frauenzimmer‹: »Die schädlichen Schnürbrüste sind abgeschafft.«72 Manche Medizinaltopographien beschränken sich auf einen einzigen Satz, dann wiederum häufiger die Oberkleidung betreffend, etwa: »Die Kleidung der Katholiken und Protestanten ist verschieden, aber im Allgemeinen zweckmäßig.«73 Auf die unterschiedliche Bekleidung von Katholiken und Protestanten wird übrigens nicht selten hingewiesen; die Katholiken gingen überall

191

192

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

in bunteren Farben, die Protestanten in dunkleren Gewändern.74 »Wo sich die Landtracht noch bemerklich macht, ist eine ziemlich auffallende Unterschiedlichkeit nach den Religionsbekenntnissen wahrzunehmen«, schreibt der Verfasser der Medizinaltopographie von Donauwörth-Land.75 In einigen Medizinaltopographien wird die Oberkleidung sehr ausführlich beschrieben, vor allem die ländlichen Trachten, und in der Regel finden zum Beispiel Halsbinden eine ausführliche Beschreibung. Die für die Kleidung verwendeten Stoffe wurden gleichfalls meist ausführlich kommentiert, wie es den Verfassern vorgeschrieben war. Bisweilen wird Leibwäsche ohne nähere Bezeichnung erwähnt, als handele es sich um etwas Selbstverständliches, z. B. in der Medizinaltopographie von Eschenbach in der Oberpfalz, wo es über die »Weiber« heißt: »Sogar in Bezug auf Leibwäsche tritt die Baumwoll-Leinwand immer mehr in Gebrauch und macht sich durch hübscheres Aussehn und größere Wohlfeilheit beliebt.« Erstaunliches, ja Unglaubliches findet sich in der Medizinaltopographie von Forchheim in Oberfranken, nämlich eine ausführliche Behandlung der Bekleidung der Männer. Über sie heißt es: »um den Hals eine schwarze meist wollene Binde, an den Schenkeln kurze schwarzlederne Beinkleider, die Strümpfe meist von schwarzer Wolle.« Und über die einheimischen Frauen: »Unter diesem Rocke wurde bei kalter Witterung ein Koller von dunkelblau braunem Tuch getragen, mit kleinen überspannenen Knöpfen nach seiner Länge besetzt, reichte bis zur Mitte der Oberschenkel, während dessen Taschen quer über die Schenkel angebracht waren. Die kurzen Beinkleider waren meist von gelbem, aber auch von schwarzem Leder.«76 Der Verfasser der Medizinaltopographie von Rothenburg ob der Tauber – das war der Arzt Dr. Beichhold – macht mit Blick auf die Bekleidung der Männer und der der Frauen gleich eine doppelte Unterscheidung, er behandelt nämlich die Kleidung der beiden Geschlechter in der Stadt Rothenburg und dem die Stadt umgebenden Landgebiet. Über die Männer in der Stadt Rothenburg schreibt er 1861: »Zur Zeit kleidet sich der Städter und der gebildete Mann, wie es eben die Mode mit sich bringt; er trägt lange Beinkleider von verschiedenen Stoffen, meist Wollenstoffen, Tuch, im Sommer von leichterem, im Winter von dichterem Zeuge, mit Unterho-

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

sen, Stiefel, und meist im Sommer Stiefeletten, Weste mit Chemiset und Hemde, Crawatte oder seidene Binde.« Dann über die Frauen: »Die Frauenzimmer aus den gebildeten Ständen tragen lange Kleider von Seide, Wolle, Baumwolle, mit vielen Unterkleidern und der unvermeidlichen entstellenden Crinoline; sie tragen dünne baumwollene, selten wollene weiße Strümpfe, im Winter auch graue und schwarze.«77 Unterhosen erwähnt er bei den städtischen Frauen an dieser Stelle nicht. Dann geht er über zur Tracht der männlichen Landbevölkerung und beendet diesen Absatz mit den Worten: »Unterhosen und Unterjacken sind fast allgemein.«78 Worauf bezieht sich diese Aussage? Auf alle vier Kategorien  – Stadtbevölkerung und Landbewohner, männlich wie weiblich? Dass beide Geschlechter in Stadt und Land um diese Zeit bereits Unterwäsche trugen, ist wenig glaubhaft, weil Rothenburg ob der Tauber im Jahr 1861 eine sehr arme, rückständige und schmutzige Stadt war, am äußersten westlichen Rand des Königsreiches Bayern gelegen, durch eine Grenze vom Königreich Württemberg abgetrennt, ohne modernes Verkehrsmittel: Der Eisenbahnanschluss nach Ansbach und Würzburg kam erst ein Dutzend Jahre später. Die Sterblichkeit in Rothenburg war noch immer sehr hoch, sie lag über 30 Promille, fast ein Drittel der Neugeborenen starb damals noch im ersten Lebensjahr.79 Dass gerade eine solche Provinzstadt dieses Verlangen nach mehr Körperhygiene so früh vollzogen haben soll, ist schwer zu glauben, zumal auch der Hinweis auf die Crinoline zeigt, dass Rothenburg in puncto Bekleidung eher traditonalistisch war. Viel glaubwürdiger erscheint die Beschreibung, die der Münchner Arzt Carl Wibmer in seiner dreibändigen Medizinaltopographie Münchens niedergelegt hat. Darin heißt es über die Bewohnerinnen dieser Stadt um das Jahr 1860: »Diese kleidet das Hemd über Rock, dem unvermeidlichen Schnürleib, dem Unterrock und häufig auch Beinkleidern (die in neurer Zeit löblicher Weise immer mehr in Aufnahme kommen) in ein langes Kleid von Wollen- oder Seidenzeug«, schreibt er, ohne ausdrücklich auf eine soziale Schicht hinzuweisen.80 Die große Mehrzahl der Verfasser beschränkte sich indes nicht auf die reine Beschreibung; die meisten Autoren klagten beispielsweise über die »Putzsucht« ihrer Bevölkerung und über die Unter-

193

194

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

werfung unter die zeitgenössische Mode. Es gibt auch einige Klagen darüber, dass die Bevölkerung – vor allem die Frauen – zu leicht bekleidet sei: In der in handschriftlicher Fassung vorliegenden Medizinaltopographie von Aschaffenburg heißt es: »Beinkleider beim weiblichen Geschlecht sehr selten, daher vielfach bei Arbeiten im Freien am frühen Morgen und späten Abend zu Erkältungen Anlaß gebend«.81 Auch der Arzt Ludwig Anton Hug, der sich relativ spät, nämlich 1870, in seiner Doktorarbeit über die Bekleidung der Bewohner der Stadt Freising äußert, schreibt: »Der hiesige Altbayer vom Lande trägt auf blossem Leibe ein Hemd aus grober Leinwand und eine eng anschliessende Unterhose, darüber eine schwarze lederne Hose.«82 Er fährt dann fort mit der Schilderung der Kleidung des weiblichen Geschlechts, erwähnt die unterschiedliche Bekleidung der altbayerischen und der Dachauer Tracht, doch über Unterwäsche schreibt er nichts, er erwähnt lediglich, dass »beim Landvolke die Crinoline keinen Eingang gefunden, eine Menge Unterröcke die Hüftengegend bedecken, sodass jene einen unförmlichen Wall um die Lenden bilden«.83 Andere Autoren lassen Unklarheit bestehen, ob sie tatsächlich von Unterbeinkleidern oder einfach von Beinkleidern sprechen. So heißt es in der Medizinaltopographie von Weiler aus dem Jahr 1861: »In Oberbayern, wo auch der weibliche Theil der Bevölkerung Beinkleider bei der Feldarbeit anzieht, ist man in dieser Beziehung weit praktischer.«84 In einigen Medizinaltopographien klagen die ärztlichen Verfasser ausdrücklich über die fehlende Unterbekleidung: »Ein Mangel in der gewöhnlichen Kleidung im Winter sind kurze warme Unterbeinkleider. Dieselben sind beinahe ganz unbekannt. Daher kommen aber auch [im] besondern bei Mädchen der ersten Entwicklung zur Zeit des Eintrittes der Periode häufig Suppressionen und Retentionen des Menstruationsflusses und darauf abzuleitende Krankheiten vor.«85 Auch ein in der Rhön tätiger Arzt schreibt in seiner Medizinaltopographie, sich dabei auf seine Erfahrungen in den 1870er-Jahren berufend: »daß Beinkleider beim weiblichen Geschlecht so gut wie unbekannt sind, ob dies vielleicht ein Grund ist für die ausserordentliche Häufigkeit, in der hier Menstruationsund Uterinleiden vorkommen, ferner dafür, dass Magendarmlei-

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

den beim weiblichen Geschlecht unendlich viel häufiger sind als bei Männern«.86 Er schreibt weiter: »Reinlichkeit ist auf der Rhön nicht weit verbreitet, Hautkultur unbekannt und bei der Schule Entwachsenen trifft der Arzt in sehr vielen Fällen an den von Kleidern bedeckten Hautparthien wahre Schmutzhüllen, mit Seife wird sehr sparsam umgegangen, Bäder sind unbekannt.«87 Sehr ausführlich schildert die Medizinaltopographie von Neuburg an der Donau die Unterbekleidung. Sie erwähnt das bei Männern verbreitete »Leibl (Gilet)« und hebt die Bedeutung der Kleiderfarben hervor. Über das weibliche Geschlecht heißt es da: »Ein Unterbeinkleid wird bei den Eingeborenen des Bezirks nicht gefunden. Es kommt nur bei den Frauen höherer Stände und auf ärztliche Anordnung oder zuweilen bei fremden Eisenbahnarbeiterinnen vor.«88 Diese Aussage ist aufschlussreich, denn sie sagt nicht nur, dass die einheimischen Frauen im Allgemeinen keine Unterhose trugen, sondern außerdem auch noch, welche Schicht solche Unterhosen trug und auf wessen Rat hin dies geschah. In der zusammenfassenden Topographie für die gesamte Oberpfalz heißt es: »Die Leibwäsche von Leinen oder Baumwoll-Leinwand« werde in »einigen Distrikten« der Oberpfalz »immer heimischer, die Unterbeinkleider sind besonders im Winter bei der ärmeren Bevölkerung der nördlichen Gegenden häufig von hanfenen Tuch«.89 Aber weder die zusammenfassende Medizinaltopographie von Schwaben noch die von Oberfranken erwähnen Unterwäsche.90 Nicht selten ähneln sich die Formulierungen in den Physikatsberichten auffallend. Es ist anzunehmen, dass die Verfasser der zuletzt genannten Physikatsberichte sich gegenseitig verständigten oder voneinander abschrieben. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Verfasser dieser Medizinaltopographien hatten zwar offenbar die Weisung, über die Bekleidung der Bewohner ihres Kreises zu berichten, doch scheint ihnen nicht ausdrücklich aufgetragen worden zu sein, auch über die Unterbekleidung zu schreiben. Die meisten von ihnen erwähnten Unterkleidung überhaupt nicht, betrachteten sie wohl nicht als Teil der Kleidung; und man wird daraus keineswegs folgern dürfen, dass Unterwäsche etwa gar wie etwas Selbstverständliches von jedermann getragen wurde. Das war sicherlich nicht der Fall. Einige Autoren

195

196

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

beklagten ausdrücklich, dass Unterhosen viel zu selten getragenen werden; einige andere erwähnen Unterkleidung und implizieren, dass sie inzwischen mehr oder weniger angenommen war. Woher wussten die Ärzte so gut Bescheid? Besuchten etwa alle Personen in Krankheitstagen einen Arzt? Keineswegs, in der Mitte des 19. Jahrhunderts waren Ärzte äußerst dünn gesät, und in Süddeutschland suchte nur etwa die Hälfte der ernstlich Erkrankten einen Arzt auf.91 Und wer zum Arzt ging, der mag sich eigens aus diesem Grund eine Unterhose angezogen haben, aber sehr weit verbreitet war Unterwäsche seinerzeit sicherlich noch nicht. Die Einsichten aus den Krankenhausakten Die allerwenigsten sozialgeschichtlichen Quellen geben wirklich zuverlässig Auskunft über die Verbreitung der Unterhose, und ganz bestimmt wird auch heute noch bei Umfragen über die persönliche Reinlichkeit nicht selten gelogen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Akten von Krankenanstalten, denn ein Krankenhaus muss ein Mensch oft ganz unerwartet aufsuchen, ohne Vorbereitung, beispielsweise nach einem Unfall. Krankenhausakten geben über viele soziale Erscheinungen Auskunft, auch im Hinblick auf die individuelle Sauberkeit. Im ganzen 19.  Jahrhundert gab es in den deutschen Krankenhäusern unzählige Fälle von Krätze – dies ein deutlicher Ausdruck von Unsauberkeit und seltenem Wechsel von Leibwäsche. Auch vielerlei Ungeziefer war weit verbreitet.92 Patienten kamen mit der Diagnose »Pediculosis« ins Krankenhaus – so nannte man das Krankheitsbild bei schwerem Läusebefall. Aber das Krankenhaus zeigte auch Kleidungsgewohnheiten, denn die großen Krankenhäuser erwarben für ihre Kranken gerade solche Wäschestücke, wie sie den Patienten aus ihrem Alltag vertraut waren. Und sie informieren auch darüber, welche Bekleidung der einzelne Krankenhauspatient bei seinem Eintritt mitbrachte. Vor dem Jahr 1800 gab es in den Städten nur selten Krankenhäuser, die vor allem akut erkrankte Menschen aufnahmen, um sie später geheilt zu entlassen. Es gab Spitäler: Sie nahmen alte sieche Menschen auf, hinfällige und ernstlich erkrankte ältere Men-

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

schen, die in der Regel das Spital nicht als geheilt verließen, sondern in einem Sarg. Das Krankenhaus war um das Jahr 1800 also etwas Neues. In der Stadt Nürnberg gab es seit 1813 ein frühes modernes Krankenhaus, das sog. Krankeninstitut, eigentlich war es nur eine einzige Krankenstation, die im Obergeschoß des berühmten HeiligGeist-Spitals untergebracht war, und die ausdrücklich den Kranken mit akuten, aber heilbaren Krankheiten vorbehalten war. Seit 1841 bestanden hier Aufnahmebücher, in denen im Einzelnen vermerkt wurde, was der neueingetretene Kranke am Leib trug und was er der Pflegeperson bei seinem Eintritt zur Verwahrung übergab. Meist steht da zu lesen: Wollener Kittel, Weste, Halsbinde – sie fehlt so gut wie niemals –, dann: Stiefel, Socken, »Hembd«, Haube, Hosenträger, Chemisette – und siehe da, in einem Falle plötzlich, anno 1841 erstmals: »1 Paar Unterhosen.« Ein Geselle, 21jährig, gibt Unterhosen ab! Aber das war noch für lange Zeit die Ausnahme. 1845 gaben von 207 neu zugegangenen Kranken nur zwei eine Unterhose ab.93 Aufschlussreich sind auch die Anschaffungen dieses Krankenhauses, denn sie sollten doch annähernd zuverlässig widerspiegeln, was die einfache Bevölkerung Tag für Tag am Leibe trug, die Klientel dieses Krankenhauses eben. Im Jahr 1844 bereitete dieses Krankeninstitut seinen Umzug vor; im Jahr darauf wurde das erste Allgemeine Krankenhaus in Nürnberg eröffnet, ein großes neues Krankenhaus, das anfangs 268 Krankenbetten beherbergte. Für die männlichen Patienten, die damals in der Regel zwei Drittel der Krankenhauspatienten ausmachten, waren laut einer offiziellen Aufstellung folgende Kleidungsstücke vorhanden: Schlafröcke, Hemden, Beinkleider von Leintuch für diejenigen, »welche sich außer dem Bette aufhalten«, sodann »Unterhosen, ebenfalls von Leintuch für die, welche das Bette hüten müssen«. Ferner gab es Socken, Bettmützen aus Wolle, Halsbinden, Sacktücher, Pantoffeln, Hosenträger. Für die weiblichen Kranken gab es 1844 noch keine Unterhosen. Als das neuerrichtete Krankenhaus (seit 1845) einige Jahre später seine Bestände inventarisierte, zeigte sich, dass für die männlichen Kranken insgesamt 151 »Paar« Unterhosen zur Verfügung standen.94 Selbst über die Preise dieser Kleidungsstücke sind wir, aus derselben Quelle, gut im Bilde: Seit dem Jahr 1865 kaufte dieses große städtische Krankenhaus jährlich hundert Stück Herrenunterhosen

197

198

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

zum Preis von 1 fl. 12 kr. bis 1 fl. 15 kr., also ein Gulden, 12 Kreuzer bzw. ein Gulden und 15 Kreuzer. Der in Süddeutschland bis zum Jahr 1876 gebräuchliche Gulden oder florin (fl.) war 60 Kreuzer wert, der Kreuzer wiederum vier Pfennig. Das Anfertigen einer solchen – vermutlich langen, leinenen – Unterhose kostete also einen und den vierten Teil eines Guldens. Welche Kaufkraft würde ein Kreuzer heute besitzen? Das ist unmöglich zu sagen, da muss man erst festlegen, was man kaufen wollte, denn einige Dinge – wie Nahrungsmittel – waren teuer, andere  – in denen viel menschliche Arbeit steckte  – vergleichsweise billig. Zum Vergleich: Ein Tag Aufenthalt in diesem Krankenhaus kostete damals nur halb soviel wie eine solche Unterhose, nämlich 36 Kreuzer. Ein Krankenhaustag in einem großstädtischen Klinikum kostet heute an die 400 Euro, und es heißt, diese Summe sei nicht in jedem Falle kostendeckend. Andererseits kostete allein das Essen in einem Krankenhaus pro Tag 19 Kreuzer, das heute – unsubventioniert – für wenig mehr als sechs Euro zu bekommen ist. Eine Fabrikarbeiterin verdiente damals in Nürnberg bei einer täglichen Arbeitszeit von 12 bis 14 Stunden 30 bis 36 Kreuzer am Tag. Sie hätte davon einen Tag im Krankenhaus bezahlen können – nicht aber eine Unterhose. Sie verdiente in einer Woche nur etwa den Gegenwert von zwei solchen Unterhosen. Was Wunder, dass in der städtischen Unterschicht in den 1870erJahren die Unterhose noch immer nicht sehr weit verbreitet war, zumindest nicht bei den Leuten, die ins Krankenhaus gingen, also den ledigen Handwerkern, Fabrikarbeitern und den Dienstboten. Nun wäre es immerhin denkbar, dass die Kranken ihre Unterwäsche nicht abgaben, sondern sie vielleicht im Nachtkästchen an ihrem Bett behielten. Dies ist kaum anzunehmen, denn der Raum neben dem Krankenbett war sehr begrenzt. Als unmittelbar nach der Reichsgründung, 1871 bis 1873, die letzte schwere Pockenepidemie das Deutsche Reich  – und später ganz Europa  – überzog und in Nürnbergs Pockennotspital etliche Pockentote zurückließ, wurden auch die Habseligkeiten dieser Toten Stück für Stück aufgelistet. Genau ein Viertel – fünf von zwanzig der hier verstorbenen Personen, die in diesem Verzeichnis aufgelistet sind – trug bei ihrem Eintritt in dieses Notspital Unterhosen.95

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

Welche Quellengattung ist mit Blick auf die tatsächliche Verwendung von Unterhosen am zuverlässigsten? Die Vorschriften des Militärs, wie sie sich in den Militärhandbüchern spiegeln, zeigen zwar Normen, aber man darf doch annehmen, dass diese Normen befolgt wurden  – allerdings nur von einer gesellschaftlichen Minderheit, jungen Männern, sie müssen also die nicht unbedingt für eine Mehrheit zutreffen. Aber fraglos haben die Armeen mit ihren Regeln auch der Zivilbevölkerung und ihrer Bekleidung wichtige Impulse gegeben. Auch die von Ärzten verfassten Medizinaltopographien machen vermutlich gute, zuverlässige Aussagen; und doch sind ihre Verfasser nicht objektiv und vollständig informiert, denn wer zum Arzt geht oder ihn ruft, der möchte sich vielleicht reinlicher zeigen als er in Wirklichkeit ist. Auch sahen die Ärzte lange Zeit von den Unterschichten eher wenig, sie wurden viel häufiger von wohlhabenderen Kreisen konsultiert. Außerordentlich zuverlässig erscheinen die Krankenhausakten, denn es ist anzunehmen, dass hier Menschen ohne große Vorüberlegungen  – oftmals buchstäblich von der Straße – erschienen und ihre Kleidung ausziehen mussten; hier wurde die gesamte Kleidung aufgezeichnet und in einem Kleidersack verwahrt. Auch die Tatsache, dass das Nürnberger Allgemeine Krankenhaus nach 1865 regelmäßig Unterhosen für seine männlichen Kranken anschaffte, ist ein Indiz dafür, dass derlei Wäsche in einer Großstadt bereits bekannt war und auch – zumindest von einigen Städtern – verwendet wurde, mehr nicht. Das schöne Geschlecht in Unterhosen »Die Unterhose ist von erwachsenen Frauen und auch von größeren Mädchen erstaunlich spät angenommen worden, während kleinere Mädchen in bürgerlichen Verhältnissen mit großer Selbstverständlichkeit schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ›Beinkleider‹, trugen«, heißt es in dem Katalog zur Geschichte der Unterwäsche im Historischen Museum der Stadt Frankfurt am Main.96 Erst in dessen zweiter Hälfte bürgerte sich bei diesem Personenkreis langsam die Unterhose ein, zunächst bei der städtischen Bewohnerschaft. Auf dem Lande, und vor allem in den ländlichen Regionen, wo man noch Trachten trug, wurde die Unterhose in der

199

200

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Frauenwelt nicht sehr viel angenommen. Selbst in der Zwischenkriegszeit war sie noch lange nicht Allgemeingut. Das war im Süden Deutschlands nicht anders als im Norden.97 Es ist zuverlässig verbürgt und es gibt immer noch Zeitgenossen, die davon berichten können, wie auf dem Dorf namentlich ältere Frauen sich breitbeinig hinstellten und ihre Blase entleerten.98 Sie trugen in der Regel keine Unterhose – allerdings gab es auch Schlüpfer, die im Schritt geschlitzt waren. Die niederbayerische Bauersfrau Anna Wimschneider erzählt in ihren Erinnerungen »Herbstmilch«, wie sie erst dann ihre erste Unterhose erhielt  – das dürfte Ende der zwanziger Jahre gewesen sein –, als sie zugleich von ihrem Vater ein Fahrrad geschenkt bekam. »Wenn du fleißig bist«, sagte der Vater zu ihr, »kriegst du ein Radl, und eine neue Hose kaufe ich dir auch, so eine mußt du dann ja haben. Wenn du schnell fährst, reißt dir der Wind den Kittel in die Höhe, da sieht man ja sonst alles.«99 Die Unterhose – heute eine Selbstverständlichkeit Am Ende des 19.  Jahrhunderts wurden die Schäden der Industrialisierung und der allzu rasch erfolgten Urbanisierung jedermann sichtbar vor Augen geführt. Die Sterblichkeit in den Städten war hoch, vor allem die Säuglingssterblichkeit. Um diese Zeit erwachte ein neues Bewusstsein für Sauberkeit und Gesundheit, es stützte sich teils auf die Erfolge der Industrialisierung, vor allem auf die Chemie. Einige Großstädte veranstalteten Hygieneausstellungen und lockten die breiten Massen damit an. Sauberkeit kam geradezu in Mode: »Das kostbarste Kapital der Staaten und der Gesellschaft ist der Mensch«, hieß es 1887 auf der Wiener Hygieneausstellung.100 Um diese Zeit wurden Unterhosen in der städtischen Bevölkerung etwas Selbstverständliches, etwas später auch bei der ländlichen. In den Städten mit ihrem steten Informationsfluss vermittels der Zeitungen breiteten sich Gewohnheiten rasch aus. Was der eine machte und sinnvoll erschien, das übernahm bald auch ein anderer. Eine breite Reformbewegung setzte ein und machte sich für gesunde Leibwäsche stark.101 Eine neue Sportlichkeit kam auf, sie erfasste beide Geschlechter. Auch die Jugendbewegung mit ihrer

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

Sehnsucht nach Wandern und Zelten, nach Nächtigen in Herbergen und Scheunen oder gar draußen im Freien half der Unterhose ein Stück weiter. Diese Bewegungen und die Einführung der Unterhose durch das weibliche Geschlecht gingen sozusagen Hand in Hand. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde sehr lebhaft darüber diskutiert, welche Art von Gewebe man für Unterwäsche verwenden sollte  – in Bayern hatte sich schon hundert Jahre früher ein Außenseiter und zeitweiliger Minister, Graf Rumford, ein gebürtiger Amerikaner, darüber Gedanken gemacht; er hatte sogar mit technischen Apparaturen den Luftgehalt und die Durchlässigkeit von Geweben getestet.102 Jetzt nahm sich auch das neue medizinische Lehrfach Hygiene der Leibwäsche an. Die erste deutsche Hochschule, die einen eigenen Lehrstuhl für öffentliche Hygiene einrichtete, war die Universität München, das war im Jahr 1865; der erste Inhaber dieses neuen Lehrstuhls war Max Pettenkofer, ihm haben wir die verkürzte Schreibweise von ›Hygiene‹ – statt zuvor ›Hygieine‹ – zu verdanken. Auch Pettenkofer untersuchte verschiedene Textilgewebe auf ihre Fähigkeit, den Körper warm zu halten, Feuchtigkeit weiterzuleiten beziehungsweise abzuweisen, sowie auf weitere Eigenschaften von Stoffen.103 In seinem Aufsatz »Ueber die Funktion der Kleider« zeigte Pettenkofer, dass die Mediziner der menschlichen Ober- und Unterbekleidung eine immer größere Bedeutung beimaßen.104 Für seine Verdienste um die öffentliche Gesundheit, vor allem die Versorgung mit sauberem Trinkwasser der Stadt München, wurde Max Pettenkofer später geadelt. Auch der Hygieniker Max Rubner, ein Pettenkofer-Schüler aus München, der 1891 Robert Koch auf dessen Berliner Lehrstuhl für Hygiene folgte,105 beschäftigte sich als Wissenschaftler mit Fragen der Bekleidung und veröffentlichte darüber einige Aufsätze.106 Diese Schriften zeigen deutlich, dass fortschrittliche Menschen um 1900, vor allem heilkundige Personen, die Verwendung von Unterwäsche als etwas Selbstverständliches ansahen. Es waren nach wie vor in erster Linie Ärzte, etwas später auch reformbewusste Frauen, die hier mit Blick auf die zu verwendenden Textilien Ratschläge erteilten. Pfarrer Sebastian Kneipp, der Wasserapostel, ein Mann aus der Vergangenheit, schwor nach wie vor auf Leinen.107 Aber: »Wer weise, wählt Wolle«, meinte der Arzt Gustav Jäger damals, zu einer Zeit, da Wolle in der Öffentlich-

201

202

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

keit eine neue Aufwertung erfuhr. Und Heinrich Lahmann, auch er Arzt, sprach sich nicht weniger missionarisch für Baumwolle aus.108 Unterhosen wurden jetzt etwas Selbstverständliches. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass sie selbst an der Jahrhundertwende, also um 1900, noch als etwas Neues, Ungewohntes, ja sogar als etwas Ulkiges angesehen wurden. Den Umstand, dass Christian Morgenstern (1871–1914) noch um die Jahrhundertwende (1900) unter dem Titel »Die Unterhose« ein spaßiges Gedicht verfasste, könnte man als ein Indiz dafür werten, dass die Unterhose damals noch etwas Neues und Wunderliches war. Der Leipziger Bürgerschreck und Dramatiker Carl Sternheim schrieb 1911 eine Komödie »Die Hose«; sie handelt davon, wie eine Frau auf der Straße ihre Hose  – genauer: ihre Unterhose – verliert. Auch dieses Lustspiel bezeugt das Neue und Komische, Lustige dieses Kleidungsstücks, zumindest für die breite Masse. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Kreisen der Reformbewegung und der Gesundheitsapostel erneut für Unterwäsche geworben. Neue Arten von Reformwäsche kamen auf den Markt, eine davon war die Hemdhose, eine Kombination von Unterhemd und Unterhose. Sie bürgerte sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Mitteleuropa ein und wurde für diese Zeit sogar ein ziemlich typisches Kleidungsstück.109 Sie war lose geschnitten, mit schmalen Schulterträgern, und hatte eine Klappe im Schritt, die mit Knöpfen zu verschließen war. In den USA setzte sich dieses Kleidungsstück durch, in Deutschland sehr viel weniger; die Hemdhose wurde hierzulande als ein etwas umständliches Stück Leibwäsche empfunden. Aber sie hat vermutlich mitgeholfen, die Männerunterhose zu kürzen, sie übers Knie zu raffen, denn erst jetzt gelangte die kurze Männerunterhose zum Durchbruch: der Slip mit Beinansatz und verdecktem Eingriff. Die Notzeit der Weltkriege warf die Deutschen auch in Sachen Unterhosen noch einmal ein Stück zurück. In den bitterarmen Nachkriegsjahren strickte so manche Mutter die Unterhosen für sich und ihre Lieben wieder selbst, und wenn damals irgendwo von »Selbergestrickten« die Rede war, dann ist da meist zu ergänzen: Unterhosen.

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust« 1

2

3

4

5

6

Es gibt nur selten zuverlässige Informationen darüber, ob ein Mensch Unterwäsche trug. Von einem im Jahr 1805 gestorbenen Deggendorfer Kaufmann namens Duß ist zufällig bekannt, dass er zwar viele Hemden besaß – diese waren stets ein Gegenstand des Luxus, daher auch allenthalben vermerkt –, nicht jedoch Unterhosen, nicht eine einzige. Von einem Würzburger Bürger ist, wiederum per Zufall, bekannt, dass er anno 1829 außer ein paar leinenen Hemden auch seidene Halstücher besaß sowie »ein paar kurze Unterhosen, am rechten Knie [!] ausgebessert«. Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland 1760–1860, Göttingen 1997, S. 213. Siehe auch Robert Reiter / Gudrun Zwingelberg, Alte Wäsche und Kleidung aus dem Bestand des Gerätemuseums, in: Robert Reiter (Hg.), Waschen und Wäschepflege im Coburger Land, Coburg o. J. (1995), S.  61–78. Unergiebig ist hinsichtlich von Unterhosen auch das Lexikon der Mode, hg. von Ruth Klein, Berlin 1950. Rainer Koch, Vorwort, in: Almut Junker / Eva Stille (Hg.), Zur Geschichte der Unterwäsche 1700–1960, Frankfurt a. M. 1979, S. 8. Eine ähnliche Ausstellung zum Thema Unterwäsche fand 1991 unter dem Titel »Kleider und Leute« vom 11.  Mai bis 27.  Oktober 1991 als Vorarlberger Landesausstellung in Hohenems statt, eine weitere  – unter dem Titel »Gedächtnis des Körpers  – sowjetische Unterwäsche von 1917 bis 1999« in Moskau. Siehe Thomas Avenarius, Real existierende Unterhosen, in: SZ vom 9.5.2001. Siehe z. B. Wolfgang Seidenspinner, Unterschiedliche Alltagskleidung. Steckbriefe als Quelle zur Kleidung und zum Kleidungsverhalten der vagierenden Bevölkerung, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1991, S. 185–215, mit umfangreicher weiterführender Literatur; ders., Jaunertracht. Zur Kleidung der Vagierenden (nach Steckbriefen), in: Schurke oder Held? Historische Räuber und Räuberbanden, hg. von Harald Siebenmorgen, Sigmaringen 1995, S.  47–56; Walter Artelt, Kleidungshygiene im 19.  Jahrhundert, in: Ders. / Walter Rüegg (Hg.), Städte-, Wohnungs- und Kleidungshygiene des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1969, S. 119–134. Eine gute neuere Bibliographie findet sich in: Gerhard Jaritz, Kleidung und Prestige-Konkurrenz, in: Saeculum 44 (1993), S.  8–30. Siehe auch die Oekonomisch-technologische Encyclopädie von Johannes Krünitz, Stichwort ›Kleid‹, Bd.  40, Berlin 1787, S.  1–212.  – In dem »Grosse[n] Vollständige[n] Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste« von Johann Heinrich Zedler, Bd. 52, Berlin 1747, Sp. 503–506, ist ein knapper Eintrag unter ›Wäsche‹ zu finden, bezieht sich aber ausschließlich auf Bettwäsche, nicht auf Leibwäsche. Siehe François Piponnier, Linge de main et linge de corps au Moyen Age, in: Ethnologie française 16 (1986), S.  239–248; Bernward Deneke, Aspekte der Modernisierung städtischer und ländlicher Kleidung zwischen 1770 und 1830, in: G. Wiegelmann (Hg.), Wandel der Alltagskultur seit dem Mittelalter, Münster 1987, S. 161–177. Die Frage, ob Kaspar tatsächlich von einem fremden Attentäter niedergestochen wurde oder ob er sich die Stichverletzung selbst zufügte, ist noch im-

203

204

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

7 8

9 10 11 12

13

14

mer nicht völlig befriedigend geklärt. Kaspars Unterhose wurde bei dem »Attentat« im Dezember 1833 mit seinem Blut besudelt; das Blut aus diesem Wäschestück diente 1996 dem Labor Dr. Eisenmenger, München, als Grundlage für eine DNA-Untersuchung, die über eine etwaige Verwandtschaft zwischen dem badischen Fürstenhaus und Kaspar Hauser Klarheit schaffen sollte. Das Ergebnis dieser Untersuchung war negativ. Ein Photo, das diese Unterhose zum Teil zeigt, befindet sich in der Stadtbibliothek Nürnberg. Bilder zur Kaspar-Hauser-Geschichte, o. O. o. J., S. XXI, Photo 7 (Stadtbibliothek Nürnberg, Signatur Nor. H. 1640). Brigitte Hamann, Elisabeth. Kaiserin wider Willen, München 1981, 1997, S. 54, 199 f. Eine wichtige Quellengattung wurde hier nicht berücksichtigt, und zwar die Aussteuerverzeichnisse von bürgerlichen Frauen, in denen auch – in der Regel mit Monogrammen versehene – Leibwäsche auftauchte. Dass das städtische Bürgertum schon im 18. Jahrhundert Unterwäsche besaß und auch trug, steht außer Zweifel. Auf eine Auswertung wurde verzichtet, weil diese Quellengattung nur bei einer sozialen Minderheit zu finden ist, von der ohnehin bekannt ist, dass sie derlei Wäschestücke verwendete. Siehe dazu Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte, 1750–1850 (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 14), Göttingen 2000, S. 55 Anm. 101. Siehe auch die Aufstellung von Kleidungsstücken bei Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 126), Göttingen 1996, S. 410, 413, 418 f., darin finden sich Unterhosen nicht erwähnt. Kurt Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18.  Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Bd. 26), Neustadt/A. 1983, S. 8. Vgl. Manfred Vasold, Geschichte des ersten Nürnberger Allgemeinen Krankenhauses (1845–1933), in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 16 (1997), S. 313–400, bes. S. 327. Zedler, Universal-Lexikon (wie Anm. 4), Sp. 503. Helmut Jäger, Entstehung, Entwicklung und Wandlungsformen der menschlichen Unterkleidung bei den verschiedenen Völkern der Erde. Ein Beitrag zur Bekleidungshygiene, in: Archiv für Hygiene und Bakteriologie 123 (1940), S. 247–282, Zit. S. 267. Frey, Der reinliche Bürger (wie Anm. 1), 76 f. – »Ein seltener Wechsel der Leib- und Bettwäsche, soweit überhaupt vorhanden, und fehlende Säuberung der Kleider fördern die Verlausung. Schon ein nur alle 4 Wochen vorgenommener Wechsel der Leibwäsche genügt, um die Bevölkerung frei von Kleiderläusen zu halten«, schreibt Felix von Bormann. Das Vorkommen des Läuse-Fleckfiebers auf der Erde, 1920–1955, in: Welt-Seuchenatlas, Bd. 3, hg. von Ernst Rodenwaldt und Helmut J. Jusatz, Hamburg 1961, S. 67 f. Louis-Sébastien Mercier, Tableau de Paris, Ndr. Zürich 1990, S. 180, schreibt über Paris am Ende des 18. Jahrhunderts.: »Das Hemd des armen Arbeiters, eines Hauslehrers oder Kommis kommt alle vierzehn Tage unter die Bürste und den Waschbleuel; und die acht oder zehn Hemden des armen Teu-

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust«

15 16 17 18

19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

40 41 42 43 44

fels sind bald abgewetzt, durchlöchert, zerrissen, und verschwinden in den Papiermanufakturen.« Jäger, Unterkleidung (wie Anm. 12), S. 267. Karl Friedrich Burdach, Rückblick auf mein Leben, Leipzig 1848, S. 317. Johann Bernhard Basedow, Elementarwerk. Ein geordneter Versuch aller nöthigen Erkenntniß, Bd. 1, Berlin/Dessau 1774, Tafel 3. Giacomo Casanova, Mémoires, Bd.  1: 1725–1756, Paris 1958 (Éd. Pléiade), S. 710. Künftig wird bei Zitaten aus Casanovas Werken hinter der Seitenzahl der französischen Ausgabe, in Klammer, die Seitenzahl der deutschen Ausgabe genannt: Casanova, Memoiren, vollständig übertragen von Heinrich Conrad, Stuttgart/Zürich/Salzburg o. J. (etwa 1960); die deutsche Ausgabe umfasst gleichfalls drei Bände. Casanova, Mémoires, Bd. 1: 1756–1763, S. 659 (831 f.). Ebd., Bd. 2: 1756–1763, Paris 1970, S. 134 (131). Ebd., S. 145 (144). Ebd., S. 251 (275). Ebd., S. 254 (277). Ebd., S. 574 (673). Ebd., S. 641 (760). Ebd., S. 658 (781). Ebd., S. 735 (877). Ebd., S. 1058 (1276). Ebd. Ebd., S. 1060 (1279). Ebd., S. 1080 (1304). Ebd., S. 1094 (1322). Giacomo Casanova, Mémoires. Bd. 3: 1763–1774, Paris 1960, S. 125 (147). Ebd., S. 775 (970) Ebd. Gottfried Wilhelm Becker, Die monatliche Reinigung, Pirna 1803, S. 68 f. Christian Friedrich Germershausen, Die Hausmutter in allen ihren Geschäften, Bd. 3, Leipzig 1779, S. 455 f. Krünitz, Lexikon (wie Anm. 4), S. 216. Vgl. ebd., S. 305 f. Ernst Rodenwaldt, Die Pest inVenedig 1575–1577. Ein Beitrag zur Frage der Infektkette bei den Pestepidemien West-Europas (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Math.-naturwiss. Klasse, Jg. 1952), Heidelberg 1953, S. 52, 66, 93 ff., 153. Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk. In vier Bänden, Erster Band: A-E, Leipzig 1837, S. 202. Samuel Lilley, Technological Progress and the Industrial Revolution 1700– 1914, in: The Fontana Economic History of Europe, hg. von Carlo M. Cipolla, Bd. 3, London 1973, S. 197. Henry Hobhouse, Fünf Pflanzen verändern die Welt, Stuttgart 1987, S. 242. Denis Chaigne, Le Cotonet l’industrie cotonnière, Paris 1961, S. 29 f. Frey, Der reinliche Bürger (wie Anm. 1), S. 212 f.; Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500

205

206

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

45

46 47

48 49 50 51 52 53

54

55 56

to 2000, London 1988, S. 168. Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014, S. 55, 58, 77, 84 f., 95, 114, 201. Günter Kirchhain, Das Wachstum der deutschen Baumwollindustrie im 19. Jahrhundert. Eine historische Modellstudie zur empirischen Wachstumsforschung, Diss. rer. pol. Münster 1973, S. 29–39. Siehe Wolfram Fischer, Ansätze zur Industrialisierung in Baden 1770–1870, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 358–392, bes. S. 363, 366, 371, 376. Kirchhain, Wachstum (wie Anm. 45), S. 32. Vgl. David Landes, The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, Cambridge 1972, S. 143 f. John Komlos, Die Habsburgermonarchie als Zollunion. Die Wirtschaftsentwicklung Österreichs im 19. Jahrhundert, Wien 1986, S. 66, 69, 191 f. Siehe Almut Bohnsack, Spinnen und Weben. Entwicklung von Technik und Arbeit im Textilgewerbe, München 1981, S. 216. J.-A. Lesourd / Cl. Gérard, Nouvelle Histoire économique, Bd.  1: Le XIXe Siècle, Paris 1976, S. 158 f. Vgl. Otto Borst, Alltagsleben im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1983, S.  126: »Selbst beim Adel hatten sich im 13. Jahrhundert Unterkleid und Unterhemd noch nicht überall durchgesetzt.« Wilhelm von Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes, Berlin 1879, Ndr. Zürich 31988, S. 212 f. Für diese Information habe ich Mrs. Muriel Mackinnon (Edinburgh) zu danken. Zit. nach Junker / Stille (wie Anm. 2), S. 79. David Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999, S. 14. Bereits Heinrich Heine stellt eine Verbindung zwischen Textilien und Cholera her: »Wir leben ja nicht mehr in den alten Helm- und Harnischzeiten des kriegerischen Rittertums, sondern in der friedlichen Bürgerzeit der warmen Leibbinden und Unterjacken«, schreibt er in seinem Buch über »Französische Zustände«, und zwar genau in dem Teil, in dem es um den ersten Ausbruch der Cholera in Paris geht, 1831. »Wir leben nicht mehr im eisernen Zeitalter, sondern im flanellenen. Flanell ist wirklich jetzt der beste Panzer gegen die Angriffe des schlimmsten Feindes, gegen die Cholera. ›Venus würde heutzutage‹, sagt Figaro, ›einen Gürtel von Flanell tragen.‹ Ich selbst stecke bis am Halse in Flanell und dünke mich dadurch cholerafest. Auch der König trägt jetzt eine Leibbinde vom besten Bürgerflanell.« Heines Werke in fünf Bänden, Vierter Band, Berlin (Ost)/Weimar 151978, S. 103. Frey, Der reinliche Bürger (wie Anm. 1), S. 261–285. In den deutschen Großstädten wirkte die Cholera »wie eine Peitsche« (Nipperdey) und trieb zu Reformen an, vor allem zur Kanalisation. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 159. StadtAN C 7/I Nr. 7939 Bl. 47; C 23/I Nr. 188. Vgl. Norman Howard-Jones, Cholera Therapy in the Nineteenth Century, in: Journal of the History of Medicine 27 (1972), S. 373–395.

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust« 57 Lehrbuch der Militärhygiene, München 1860, S. 517 (§ 1211). 58 Albrecht von Stosch, Denkwürdigkeiten, Briefe und Tagebuchblätter, Stuttgart 1904, S. 119 f. 59 Lehrbuch der Militärhygiene (wie Anm. 57). 60 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 1970, S. 73. Zweigs Schilderung der Unterbekleidung einer Dame ist sehr ausführlich und kenntnisreich – er besaß große Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht –, ja sogar amüsant; doch beschränkt sie sich auf die Wiener Oberschicht und ist allzu stark schematisiert, um als eine faktische Schilderung verstanden zu werden. 61 Vgl. Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 1997, S. 322 f. 62 Handbuch der Militärgesundheitspflege, hg. von Wilhelm Roth, Bd. 3, Berlin 1872, S. 84. 63 Handbuch der Bayerischen Militärökonomie, Bd. 3, München 1869, S. 207. 64 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 2, Berlin (Ost) 1977, S. 298. 65 Hermann Hesse, Aus Indien. Aufzeichnungen, Tagebücher, Gedichte, Betrachtungen und Erzählungen, Frankfurt a. M. 1980, S. 36. Siehe ebd., S. 114. 66 Peter Merseburger, Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 21995, S. 172, zufolge rückte Schumacher mit Leibbinde zu einer KZ-Haft ein. 67 Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, Leipzig 1891, S. 27. 68 Zur Medizinaltopographie allgemein siehe F. X. Mezler, Versuch eines Leitfadens zur Abfassung zweckmäßiger medizinischer Topographien, Freyburg 21822; H. Zeiss, Medizinische Topographien als volkskundliche Quellen, in: Archiv für Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungspolitik 5 (1935), S. 175–182; K. P. Brandlmeier, Medizinische Ortsbeschreibungen des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, in: Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 38 (1942); H. J. Jusatz, Die Bedeutung der medizinischen Ortsbeschreibung des 19.  Jahrhunderts für die Entwicklung der Hygiene, in: W. Artelt / W. Rüegg (Hg.), Der Arzt und der Kranke in der Gesellschaft des 19.  Jahrhunderts, Stuttgart 1967, S. 179–200; J. Brügelmann, Der Blick des Arztes auf die Krankheit des Alltags 1779–1850. Medizinische Topographien als Quelle für die Sozialgeschichte des Gesundheitswesens, Diss. phil. Berlin 1982; W. Zorn, Medizinische Volkskunde als sozialgeschichtliche Quelle. Die bayerische BezirksärzteLandesbeschreibung von 1860/62, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 69 (1982), S. 219–231; ders., Amtsärzte und soziale Stadtvolkskunde in Bayern um 1860. Beobachtungen der Physikatsberichte über Nürnberg und Augsburg über Zustand und Wandel, in: Forschungen zur historischen Volkskunde, München 1989, S. 297–308. – Einige Bevölkerungswissenschaftler und Mediziner – wie Helmut Jusatz und Ernst Rodenwaldt – haben die Medizinaltopographie bereits in den 1930er-Jahren als historische Quelle entdeckt und ausgewertet – die deutschen Historiker in den späten 1970er-Jahren.

207

208

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 69 Diese Verordnung vom 21. April 1858 ist abgedruckt in: Eberhard J. Wormer, Alltag und Lebenszyklus der Oberpfälzer im 19. Jahrhundert. Rekonstruktion ländlichen Lebens nach den Physikatsberichten der Landgerichtsärzte 1858–1861 (Miscellanea Bavarica Monacensia 114), München 1988, S. 134. 70 Diese Generalisierung bezieht sich auf folgende in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek zu München unter der Signatur Codex germanicus (= Cgm) 6874–6880 aufbewahrten, handschriftlich verfassten Medizinaltopographien: Gerichtsbezirk Abensberg (Nr. 1); Altdorf (Nr. 2,2); Stadt Amberg (Nr. 4), Kleidung: S. 70 f.; Landgericht Amberg (Nr. 5), Kleidung: S. 135–141; Dinkelsbühl (Nr. 33); Dürkheim/Pfalz (Nr. 36), bes. Bl. 8–9; Ebermannstadt (Nr. 37); Stadt Erlangen (Nr. 43): Kleidung § 3, Bl. 42 v; Landgerichtsbezirk Erlangen (Nr. 44), S. 327–341; Fürth (Nr. 50,1 u. 50,2); Frankenthal (von 1887) (Nr. 49); Kulmbach (Nr. 92), Bl. 28–29 v; Kusel (Nr. 93); Landau an der Isar (Nr. 94); Landau in der Pfalz (Nr. 95); Landshut/Stadt (Nr. 96); Landshut Land (Nr. 97); Marktbreit (Nr. 108, Bl. 21 r–22 r); Marktheidenfeld (Nr. 108); Marktsteft (Nr. 108); Markt Erlbach Bl. 57 v–59 r (10); Memmingen (Nr. 110); Mitterfels (Nr. 112); Neustadt an der Aisch (Nr. 119), bes. S. 35 f.; Neumarkt/Opf. Bl. 84 v–91 r; Neuburg an der Donau (Nr. 117), bes. Bl. 17 v–19 r, (Nr. 118); Wassertrüdingen (Nr. 190); Wegscheid (Nr. 191); Weiden (Nr. 192); Weidenberg, S. 86 f. (Nr. 193). Medicinische Topographie der Oberpfalz, Signatur: Cgm 6875. 71 Die hier genannten Berichte sind alle abgedruckt in: Oberbayerisches Archiv 122 (1998). Johannes Fuchs, Die Physikatsberichte für das Landgericht Friedberg für die Jahre 1857–1861, in: ebd., S. 267–291; Horst Gehringer, Der Physikatsbericht für das Landgericht Werdenfels (1857/58), S. 293–334., bes. S. 316. 72 Philipp J. Horsch, Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg, Arnstadt/ Rudolstadt 1805, S. 122. 73 Anton Heidenschreider, Versuch einer medizinischen Topographie des Landgerichtsbezirkes Herrieden, Diss. med. Erlangen 1854, S. 94. 74 »Wir Geschwister wurden alle […] streng reformirt erzogen, […] und von Katholiken, die aus dem eine Stunde weit entlegenen Salmünster oft durchreisten, gemeinlich aber schon an ihrer bunteren Tracht zu erkennen waren, machte ich wohl mir scheue, seltsame Begriffe«, schreibt der Dichter Jacob Grimm in seiner Selbstbiographie, in: ders., Selbstbiographie. Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen, hg. von Ulrich Wyss, München 1984, S. 23. 75 Medizinaltopographie von Donauwörth Land, Bayerische Staatsbibliothek, Signatur: Cgm 6874 (Nr. 35), S. 61. 76 Medizinaltopographie von Forchheim, ebd. (Nr. 48), Bl. 87 r–93 r, Zitat Bl. 88 r. 77 Dr. Robert Beichhold, Medicinische Topographie und Ethnographie des Physicatsbezirks Rothenburg o. d. T. (1861), abgedruckt in: 1898–1998. AltRothenburg zum 100jährigen Jubiläum, hg. vom Verlag des Vereins Alt-Rothenburg, Rothenburg 1998, S. 203–264, hier S. 238 f. 78 Ebd., S. 239. 79 Errechnet nach den Zahlen ebd., S. 258–261.

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust« 80 Carl Wibmer, Medicinal-Topographie der k. Haupt- und Residenzstadt München, Bd.  2, München 1863, S.  232. Wenige Jahre zuvor hatte Eduard Fentsch, Bavaria. Land und Leute im 19. Jahrhundert. Die kgl. Haupt- und Residenzstadt München, hg. von Ernst Rattelmüller, Ndr. München 1989, S. 139–142, ausführlich über die Bekleidung der Münchner geschrieben, Unterbekleidung jedoch nicht erwähnt. 81 Physikatsbericht Unterfranken und Aschaffenburg (Bay. Staatsbibliothek, München, Signatur: Cgm 6874 Nr. 3), S. 40 f. 82 Ludwig Anton Hug, Medicinische Topographie des kgl. Stadt- und Landgerichtsbezirkes Freysing, Diss. med. Erlangen 1870, S. 22. 83 Ebd. 84 Medicinische Topographie von Weiler (Cgm 6874 Nr. 194), unpag. 85 Bernhard Schäfer, Der Physikatsbericht für das Landgericht Ebersberg aus dem Jahre 1861, in: Oberbayerisches Archiv 122 (1998), S. 335–438, Zit. S. 415. 86 K. H. Lübben, Beiträge zur Kenntnis der Rhön in medizinischer Hinsicht, Weimar 1881, S. 46. 87 Ebd., S. 76. 88 Medizinaltopographie von Neuburg, Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: Cgm 6874 (Nr. 119), Bl. 19 r. Ganz ähnlich lautet die Formulierung in: Medicinische Topographie der Oberpfalz (Signatur: Cgm 6875). 89 Medicinische Topographie der Oberpfalz, Signatur: Cgm 6875. 90 Medicinische Topographie und Ethnographie des Kreises Ober-Franken (Cgm 6877), unpaginiert. 91 Vgl. Michael Stolberg, Heilkunde zwischen Staat und Bevölkerung. Angebot und Annahme medizinischer Versorgung in Oberfranken im frühen 19. Jahrhundert, Diss. med. München 1986, S. 39 ff. und passim. 92 Der altbayerische Arzt Otto Schreyer schreibt in seiner Doktorarbeit, Bericht über mein zweijähriges Wirken als chirurg. Arzt der chirurg. Abtheilung des Krankenhauses Landshut 1867 & 1868, Diss. med. München 1868, S. 11: »Das weitaus grösste Kontingent [der Krätzekranken] stellen die vacirenden Handwerksgesellen, die mit ungenügender Leibwäsche versehen, in unreinen Betten, oft mehreren auf demselben Lager übernachten, was bei Frauenspersonen natürlich viel weniger der Fall ist.« 93 StadtAN C 23/I (= Krankenhausakten, Allgemein) Nr.  20 (= Hauptbuch, 1841), lfd. Nr. 608; ebd., Nr. 18 lfd. Nr. 398, 482, 583; ebd., Nr. 21 lfd. Nr. 85, 205. Siehe auch Frey (wie Anm. 1), S. 214. 94 StadtAN, C 23/I Nr. 47, Bl. 89; ebd., Nr. 46. 95 StadtAN, C 23/I Nr. 74. 96 Junker / Stille (wie Anm. 2), S. 168. 97 »In dem schweren Wollrock, unter dem ein ebenso schwerer wollener Unterrock getragen wurde, war im Sommer ein starkes Schwitzen nicht zu vermeiden, während der Winter viele Unterleibserkältungen brachte, da Unterhosen so gut wie überhaupt nicht getragen wurden«, so umreißt Brepohl, Bäuerliche Heilkunde in einem Dorf des Mindener Landes um die Jahrhundertwende, o. O. 1950, S.  9 f., die Situation um 1900 im südlichen Niedersachsen bzw. im östlichen Westfalen.

209

210

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 98 Über die bäuerliche Bevölkerung in den Eifeldörfern am Westwall schreibt der Gefreite Joseph Vahrenkamph in seinem unveröffentlichten Tagebuch Anfang September 1939: »Die Leute waren noch ganz primitiv, fluchten kräftig und spuckten mit solcher Zielgenauigkeit über unsere Schultern hinweg, daß wir nicht aus dem Staunen kamen. Auch machte es älteren Frauen nichts aus, angesichts der schmunzelnden Feldgrauen ihre Röcke hochzuheben und ihre Bedürfnisse zu verrichten.« Zit. nach: Dokumentation Westwall in der Eifel (Geschichtlicher Arbeitskreis Bitburger Land. Beiträge zur Geschichte des Bitburger Landes, 14), Bitburg 1994, S. 47. Ähnlich schreibt ein deutscher Reisender, der Arzt und Dichter Alfred Döblin, über eine Frau in der polnischen Stadt Lublin: »Eine Bäuerin […] stellt sich hin, macht die Füße breit auseinander, zieht den Rock voran: ein dampfender Wasserstrahl prallt zwischen den Füßen, die rasch breiter auseinander treten, auf die Steine.« Alfred Döblin, Reise in Polen, München 21993, S. 168 f. 99 Anna Wimschneider, Herbstmilch, München 1987, S. 49. Die Autorin weist ausdrücklich darauf hin, dass die Buben in ihrem Dorf damals bereits Unterhosen trugen (ebd., S. 21). 100 Brigitte Hamann, Rudolf. Kronprinz und Rebell, Wien/München 1978, S. 215. 101 Siehe dazu Paul Schultze-Naumburg, Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung, Leipzig 1903; Brigitte Stamm, Das Reformkleid in Deutschland, Berlin 1976; Susanne Kühl, Durch Gesundheit zur Schönheit. Reformversuche in der Frauenkleidung um 1900, in: Der neuen Welt ein neuer Rock. Studien zu Kleidung, Körper und Mode an Beispielen aus Württemberg, hg. von C. Köhle-Hezinger und G. Mentes, Stuttgart 1993, S. 102–111. – Das Handbuch der Deutschen Reformbewegungen 1880–1993, hg. von Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke, Wuppertal 1998, enthält zwar einen Beitrag über Kleidungsreform von Karen Ellwanger und Elisabeth Meyer-Renschhausen, S. 87–102, dieser erwähnt jedoch Unterwäsche nicht. 102 Artelt, Kleidungshygiene (wie Anm. 3), S. 124 f. Über die Person Rumfords siehe Bärbl Pöhlmann, Graf Rumford in bayerischen Diensten (1784–1798), in: Zs. für Bay. Landesgeschichte 54 (1991), S. 369–433. 103 Vgl. Max Pettenkofer, Beziehung der Luft zu Kleidung, Wohnung und Boden (Populäre Vorträge 1), Braunschweig 1877. 104 In: Zs. für Biologie, Bd. 1, München 1865, bes. S. 192. Siehe auch Max Rubner, Zur Vorgeschichte der modernen Hygiene. Rede am Geburtstage … des Kaisers, Berlin 1905, bes. S.  22 f.; ferner: Dr. Nocht, Vergleichende Untersuchungen über verschiedene, zu Unterkleidern verwendeten Stoffe, in: Zs. für Hygiene und Infektionskrankheiten 5 (1889), S. 73–97; ferner: W. Artelt, Kleidungshygiene (wie Anm. 3), S. 119–134. Siehe auch Robert Koch, Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Nocht, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. von J. Schwalbe, Bd. 1, Leipzig 1912, S. 427. Die von Robert Koch und Carl von Flügge hg. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten brachte eine Reihe von – meist kurzen – Aufsätzen über die Hygiene von Unterbekleidung. Siehe z. B. Felix Buttersack, Über Hosenträger, in: ebd. 16 (1893), S. 73–77. 105 Vgl. Bernhard Möllers, Robert Koch. Persönlichkeit und Lebenswerk 1843– 1910, Hannover 1951, S. 209–211.

»Die unlautere Ursache vielfacher Unlust« 106 Vgl. Max Rubner, Vergleich des Wärmestrahlungsvermögens trockener Kleiderstoffe, in: Archiv für Hygiene 16 (1893), S. 107; ders., Bekleidungsreform und Wollsystem, in: Zs. für diätetische und physikalische Therapie, Bd. 2, 1898, S. 1–9; Krey, Die Frauenkleidung unter der Kritik des Ingenieurs, in: Blätter für Volksgesundheitspflege 2 (1902), S. 265–268. 107 Vgl. John de Greef, Männermode. Wäsche, München 1989, S. 23; Nipperdey, 1866–1918 (wie Anm. 54), S. 135 f. 108 Der berühmte badische Internist Adolf Kussmaul (1822–1902) schreibt in seinen Erinnerungen eines alten Arztes, Berlin 161936, S. 515: »Bekanntlich stehen die ›normal-wollenen‹ Herren von der hygienischen Industrie in heftiger Fehde mit den ›normal-Baumwollenen‹ und den ›normal-leinenen‹.« 109 »An Stelle der doppelten Schicht, die in der Gegend des Gesässes und der Geschlechtsteile durch Hemd und Unterbeinkleid bedingt wird, sollte auch beim Manne die bei der Frau so beliebte ›Kombination‹ von Hemd und Unterhose treten«, schreibt Ernst Friedeberger, Zur Hygiene der Kleidung insbesondere der Männerkleidung im Sommer, in: Münchner Medizinische Wochenschrift 72 (1925), S. 1409–1411, hier S. 1410.

211

Erster schöner Tag. Joh. Wolfgang von Goethe, Tagebucheintrag vom 29. Juni 1816

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.« Der Ausbruch des Mt. Tambora als Ursache der Hungersnot 1816 Im Jahr 1815 ging ein unruhiges Zeitalter zu Ende. Begonnen hatte es ein Vierteljahrhundert vorher mit der Revolution in Frankreich, in deren Gefolge das revolutionäre Frankreich einige seiner Nachbarländer mit Kriegen und Okkupation überzog. Dann kam Napoleon und mit ihm eine Epoche der Kriege und der Zerstörungen. Diese martialische Ära nahm nun ein Ende. Das Blutvergießen hörte auf; aber die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen dieses langen kriegerischen Zeitalters mussten erst noch behoben werden. Napoleon wurde 1815 endgültig niedergeworfen; doch der Kontinent, den er zurückließ, war schwer geschädigt: Hunderttausende von jungen Menschen waren tot oder schwer verletzt, Getreidefelder verwüstet, Pferde, die man zu Feldarbeiten als Zugtiere einsetzen wollte, dahingeschlachtet zu Abertausenden. Die Produktion ziviler Güter lag danieder. Die Getreidevorräte waren dank der Säkularisation und der unruhigen Jahre mit ihren – vor allem witterungsbedingt – schlechten Ernten aufgebraucht. Die deutschen Staaten waren zwar infolge der Napoleonischen Flurbereinigung zu mittelgroßen, modernen Staaten herangewachsen, doch waren sie nun hoch verschuldet.1 In den beiden folgenden Jahren, 1816 und 1817, machte Mitteleuropa die vorletzte der »Krisen älteren Typs«2 durch, die vorläufig

214

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

letzte Agrarkrise dieser Art kam Mitte der 1840er-Jahre. Diese alten Krisen waren die Folge landwirtschaftlicher Mangelproduktion, ausgelöst waren sie zumeist vom Witterungsgeschehen. Gerade ein Menschenalter davor, in den 1770er- und 1780er-Jahren, war diese Art von Krise häufig; hingegen traten sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum mehr auf. Die späteren Wirtschaftskrisen, etwa 1857 oder 1873, waren industriell bedingte Stockungsspannen, die mit Absatzflauten der industriell gefertigten Waren einhergingen.3 Die Krisen älteren Typs hingegen, wie französische Wirtschaftshistoriker sie genannt haben, hatten nicht innerwirtschaftliche Ursachen, sie waren die Folgen von verhängnisvollen Naturereignissen. Für die meisten Bauern in Deutschland bedeuteten diese Agrarkrisen schwere Einkommensverluste, und die bäuerliche Bevölkerung machte zu Beginn des 19.  Jahrhunderts in Mitteleuropa noch immer fast drei Viertel der Bevölkerung aus. Es schossen zwar in diesen Jahren die Preise ihrer Produkte gewaltig in die Höhe; aber die Ernteüberschüsse waren bei den meisten Bauern so klein, dass sie kaum Nahrungsmittel auf den Markt bringen konnten4 und der Verkaufserlös insgesamt niedriger ausfiel als in anderen Zeiten. Viel folgenschwerer wirkten sich die Missernten auf die städtischen Haushaltungen aus, denn die meisten Familien gaben mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Ernährung aus, die Armen sogar vier Fünftel. Weil die höheren Nahrungsmittelpreise wenig Geld übrig ließen für andere Anschaffungen, fiel die Nachfrage nach gewerblichen Gütern. Der zurückgehenden Nachfrage nach Gütern folgten ein Absinken der Produktion und eine Zunahme der Arbeitslosigkeit. Erst wenn wieder eine gute Ernte eingebracht wurde, gelang es, die Rezession zu überwinden.5 Forschungs- und Quellenlage Die schweren Hungersnöte des 18.  und 19.  Jahrhunderts haben durchaus das Interesse der älteren Geschichtswissenschaft gefunden. Die Hungerjahre von 1816/17 werden in den großen Darstellungen über das 19. Jahrhundert6 und in den meisten Wirtschaftsgeschichten zumeist kursorisch erwähnt.7 Sie trat noch einmal ins

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

Bewusstsein der Nachwelt,8 als genau hundert Jahre später, 1916/17, Mitteleuropa im Verlauf des Ersten Weltkrieges erneut unter Hunger zu leiden hatte. In der Vergangenheit haben also Historiker durchaus über die Witterung des Jahres 1816 und ihre Folgen – die Missernte und die Hungersnot – geforscht und darüber geschrieben, ohne jedoch nach den Ursachen der katastrophalen Witterung im Frühjahr und Sommer 1816 zu fragen.9 Dies trifft auch für die umfangreichste Monographie über die Not von 1816/17 in Düsseldorf zu, die Dissertation von Wilhelm Sandkaulen.10 Die Ursachen von Not und Teuerung sind in der Frühen Neuzeit, und noch in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts, am häufigsten in der Witterung zu suchen. Große Aufmerksamkeit fanden daher mehrere Aufsätze und später auch ein Buch des amerikanischen Historikers John D. Post.11 Dessen Hypothesen fanden weite Verbreitung durch einen Aufsatz in der populärwissenschaftlichen amerikanischen Zeitschrift »Scientific American« im Jahr 1979, der im gleichen Jahr in deutscher Sprache im ersten Heft der Zeitschrift »Spektrum der Wissenschaft« veröffentlicht wurde.12 Seither sind einige kleinere Arbeiten erschienen, die sich mit dem Verlauf dieser Hungerkrise an einzelnen Orten beschäftigen.13 Selbst der amerikanische Vizepräsident Al Gore (1993–2001) hat sich in einem Buch ausgiebig über die klimatischen Ursachen dieser Hungerjahre geäußert.14 Dennoch gibt es bis heute nur eine größere Monographie – in englischer Sprache – über den Verlauf dieser Agrarkrise in Europa.15 In neueren regionalgeschichtlichen deutschen Handbüchern findet sie meist kurze Erwähnung.16 Der Verlauf dieser Hungerkrise von 1816/17 wird neuerdings in zwei neueren umfassenderen Darstellungen ausführlich gewürdigt, und zwar in einer Monographie des Göttinger Agrarhistorikers Wilhelm Abel,17 etwas weniger detailreich in einer Erlanger Dissertation, die sich mit einem bedeutenden Nürnberger Zeitgenossen beschäftigt: mit Johannes Scharrer,18 der zwar 1816/17 noch kein Amt in Nürnberg bekleidete, der aber von 1818 bis 1823 Gemeindebevollmächtigter und von 1823 bis 1829 Zweiter Bürgermeister in Nürnberg war.19 Einige Jahre später erschien eine Dissertation, die sich ausschließlich mit dieser Hungernot von 1816/17 beschäftigt.20 Eine um-

215

216

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

fangreiche Monographie über den Verlauf dieser schweren Agrarkrise in der Schweiz, der eine Hungersnot folgte, veröffentlichte der Schweizer Historiker Daniel Krämer unter dem Titel »Menschen grasten nun mit dem Vieh.« Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17 (Basel 2015). Die Quellenlage zu diesem Thema ist keineswegs schlecht,21 allerdings ist sie sehr viel aufschlussreicher mit Blick auf die wirtschaftlichen als auf die sozialen Auswirkungen. Einige Zeitgenossen haben unter dem gewaltigen Eindruck dieser Hungersnot in ihren Memoiren und persönlichen Erinnerungen viele Seiten dieser schweren Hungersnot gewidmet,22 die bislang noch nicht ausgewertet wurden. Auch einige Archivalien und Predigten, die in diesen Notjahren so reichlich gehalten wurden – viele wurden auch gedruckt – fanden in dem vorliegenden Aufsatz Verwendung. Auch gibt es durchaus zeitgenössische Literatur und Klimaaufzeichnungen zu diesem Thema,23 welche bislang noch nicht untersucht wurden. Auch einige Chroniken anderer fränkischer Städte wurden herangezogen.24 Über die Ursache der Hungersnot, die Teuerung für Nahrungsmittel, liegen reichliche Dokumente vor, hingegen fließen die Quellen über die Witterung in diesen Jahren nur spärlich. Trotzdem ist es möglich, sich vom Klima dieser Jahre ein ziemlich gutes Bild zu machen, denn für Regensburg im Südosten, die Schwäbische Alb im Südwesten und auch für das bayerisch-thüringische Grenzgebiet liegen zuverlässige Schilderungen der damaligen Witterung vor. Vulkanismus und Klimageschehen Die Sommer der Jahre nach 1811 verdienen diesen Namen nicht, sie waren kühl und regnerisch. Die Felder sahen sehr mitgenommen aus, Folge der Kriege und der Heeresdurchzüge. Das Frühjahr 1815 kam spät. Es war kalt, die Ernte entsprechend unergiebig, und es blieb im Herbst wenig Saatgut übrig für die Aussaat. Die Nahrungsmittelspreise stiegen kräftig. Schon im Winter 1815/16 kam es da und dort im Land zu Versorgungsengpässen. Die Krisen älteren Typs konnten örtlich begrenzt auftreten, wenn sie beispielsweise von einem schweren Hagelschlag oder einem Erd-

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

beben in der Nähe ausgelöst waren.25 Aber die Hungerkrise von 1816/17 dehnte sich über weite Teile der nördlichen Hemisphäre aus, denn der auslösende Faktor dieser schweren Missernte war in der oberen Stratosphäre zu suchen und berührte die nördliche Erdhälfte insgesamt: Die in den Jahren 1816 und 1817 vorherrschende Hungerkrise war, so vermuten Vulkanologen und Klimatologen, eine Folge eines gewaltigen Vulkanausbruchs26 auf dem indonesischen Archipel im Stillen Ozean. Während in Wien noch immer der Kongress tagte, dessen Aufgabe es war, die Nachkriegsordnung festzulegen, und während Napoleon gerade noch ein letztes Mal mit seinem Abenteuer der hundert Tage Europa in Atem hielt, bevor er dann am 18. Juni 1815 auf dem Schlachtfeld von Waterloo endgültig zu Boden geworfen wurde, brach 8 Grad südlich des Äquators ein hoher Vulkan aus, der Mount Tambora, mit derart lautem Knallen, dass ein hoher englischer Militär, Sir Thomas Stamford Raffles, in einer Entfernung von knapp fünfhundert Kilometern dies hörte und dabei an fernes Kriegsgeschehen denken musste. Es folgten, an mehreren Tagen, Mitte April 1815, einige gewaltige Vulkanausbrüche.27 Nie zuvor hat jemand einen heftigeren Vulkanausbruch beschrieben als den des Mount Tambora im Jahr 1815. Im Folgenden Auszüge aus zeitgenössischen Beschreibungen von dieser Eruption im April 1815. »Die ersten Detonazionen […] wurden auf [Java] am 5ten April Abends vernommen. Man schrieb dieselben im ersten Augenblick allgemein entfernten Kanonenschüssen zu, und diess mit solcher Ueberzeugung, dass eine Truppenabtheilung von Djocjocarta [sc. Jakarta] aufbrach, weil man befürchtete, ein benachbarter Militairposten wäre angegriffen worden. […] Ein schwacher Aschenregen, welcher am folgenden Morgen fiel, entfernte jedoch schnell alle Zweifel über die Ursache jener Detonazionen. […]. Am 6ten fieng die Sonne an verdunkelt zu werden; sie hatte überall das Ansehen, als ob sie in einen dichten Nebel gehüllt wäre. Das Wetter war schwül, der Himmel überzogen, immer noch war die Sonne ohne Strahlen und die allgemeine Stille, so wie die Schwere der Atmosphäre schien ein Erdbeben anzukündigen. Dieser Zustand dauerte mehrere Tage. […] Vulkanische Aschenregen begannen sich zu zei-

217

218

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

gen […]. Dieser Zustand der Atmosphäre dauerte, mit wenigen Veränderungen, bis zum 10. April.«27 »Es verbreitete derselbe fühlbare Spuren seiner Wirksamkeit über den ganzen Bereich der molukkischen Inseln, über Java, über einen bedeutenden Theil der Inseln Celebes, Sumatra und Borneo, kurz in einem Umfang von tausend guten Meilen vom Mittelpunkte derselben aus, und zwar durch zitternde Bewegungen des Bodens und durch das Getöse des Ausbruchs, während er in dem näheren Kreise seiner unmittelbaren Thätigkeit, der etwa einen Raum von dreihundert Meilen umfasste, die erstaunenswürdigsten Wirkungen hervorbrachte, und die beunruhigendsten Besorgnisse erregte«, heißt es in einer zeitgenössischen Beschreibung des Ausbruchs. Den Bewohnern von Java, das dreihundert Meilen entfernt liegt von Sumbawa und dem eruptierenden Vulkan, erschien er bedrohlich nahe, sie fühlten sich bedroht von ihm. »Der Himmel war um Mittag von Aschenwolken überzogen, und die Sonne mit einer Atmosphäre umhüllt, deren greifbare Dichtigkeit ihr es unmöglich machte, mit ihren Strahlen durchzudringen. Regenströme von Asche bedeckten mehrere Zoll hoch Dächer, Strassen und Felder, und bei dieser Dunkelheit der Nacht hörte man von Zeit zu Zeit ein heftiges Knallen, das dem Abfeuern des schweren Geschützes, oder dem Brüllen eines entfernten Donners zu gleichen schien. Die Aehnlichkeit dieses Getöses mit dem Abfeueren des schweren Geschützes machte auf die Gemüther vieler englischen Offiziere einen so bestimmten Eindruck, dass sie befürchtete, es möchten Seeräuber auf der Küste gelandet seyn, und Schiffe absendeten, um der bedrohten Stelle zu Hülfe zu kommen. Von der anderen Seite übte der Aberglaube auf die Gemüther der Eingeborenen eine solche Wirkung, und erzeugte den Glauben, dass jenes Getöse von anderem Geschütz, als jenem der Seeräuber herrühre.« »Alle waren indessen überzeugt, dass die beobachteten Erscheinungen möglicher Weise mit dem Ausbruche eines der zahlreichen Vulkane der Insel zusammenhängen könne; dass aber die Aschenregen, welche den Himmel verdunkelten, und in den östlichen Bezirken Java’s den Boden bedeckten, aus einem mehrere hundert Meilen entfernten Berge der Insel Sumbawa ausgeworfen würden, das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«28

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

Es war der Mount Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa,29 der mit dieser Eruption seine Umgebung verwüstete und darüber hinaus so weitreichende Auswirkungen verursachte.30 Nach dieser Eruption war der Berg um etwa 1400 Meter niedriger als zuvor, nur noch 2850 Meter hoch. Die Schuttmassen und Ascheteilchen, die er bei diesen Eruptionen verspritzte, betrugen nach Schätzungen von Fachleuten hundertfünfzig Kubikkilometer.31 Den Vulkanologen ist in historischer Zeit kein gewaltigerer Vulkanausbruch bekannt als dieser: Die Eruption des Mount Tambora war um ein Vielfaches größer als die des Krakatao im Jahr 1883;32 sie zog den größten Ascheregen nach sich, der in der Neuzeit auf die Erde herabkam, und den dichtesten Dunstschleier.33 Solche Vulkanausbrüche können eine ein- oder sogar mehrjährige Abkühlung der Atmosphäre herbeiführen.34 Raffles verstand sofort, »daß eine ausführliche Zusammenstellung aller der Beobachtungen, welche über ein so ausserordentliches und wundervolles Ereigniss aufzutreiben seyn mögen, so lange letzteres noch frisch und jeder Erinnerung gegenwärtig blieb, von grossem Interesse und Nutzen seyn müsse, und forderte deshalb in einem Rundschreiben sämmtliche Residenten auf, dem Gouvernement eine genaue Beschreibung aller Thatsachen und der damit verknüpften Umstände mitzutheilen.« Aus diesen Berichten fertigte dann ein Offizier namens Assey eine zusammenfassende Darstellung an, die in den »Batavian Transactions« abgedruckt wurde. Darin heißt es: »Die ersten Detonazionen des Ausbruchs wurden auf dieser Insel (Java)  am 5.  April Abends vernommen. […] Ein schwacher Aschenregen, welcher am folgenden Morgen fiel, entfernte jedoch schnell alle Zweifel über die Ursache jener Detonazionen; wobei es merkwürdig bleibt, dass während der Dauer des Ausbruchs das erwähnte Getöse so sehr in der Nähe zu seyn schien, dass man in jedem Bezirk es in seiner Nachbarschaft suchen zu müssen glaubte, und dass die allgemeine Meinung dahinging, der Ausbruch finde entweder aus den Bergen Merapi, Klut, oder aus dem Berge Bromo Statt. Am 6ten fieng die Sonne an verdunkelt zu werden; sie hatte überall das Ansehen, als ob sie in einen dichten Nebel gehüllt wäre. Das Wetter war schwül, der Himmel überzogen, imer noch

219

220

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

war die Sonne ohne Strahlen und die allgemeine Stille, so wie die Schwere der Atmosphäre schien ein Erdbeben anzukündigen. Dieser Zustand dauerte mehrere Tage. Das knallende Getöse wiederholte sich von Zeit zu Zeit, doch war es weniger heftig, und nicht so aufeinanderfolgend, wie anfangs. Vulkanische Aschenregen begannen sich zu zeigen, die Asche war jedoch nicht häufig und so dünn, dass sie in den westlichen Bezirken kaum bemerkt werden konnte. Dieser Zustand der Atmosphäre dauerte, mit wenigen Veränderungen, bis zum 10. April, und es scheint nicht, dass bis dahin der Vulkan eine besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte, oder dass man dem Ausbruche eine grössere Wichtigkeit beigemessen hätte, als denjenigen, die früher wohl schon auf Java Statt gefunden hatten.« »Am Abende des 10ten [April 1815] wurden die Schläge lauter und häufiger; die Luft östlich von Cheribon wurde von der fallenden Asche ganz schwarz: die Sonne war fast ganz verfinstert und auf verschiedenen Punkten, besonders zu Sole und Rembang wollten Viele eine zitternde Bewegung des Erdbodens verspüren. In den mehr östlich gelegenen Theilen der Insel war das Getöse wahrhaft Schrecken erregend, es wiederholte sich häufig den 11ten hindurch und zwar mit solcher Heftigkeit, dass die Gebäude sichtbar erschüttert wurden. Eine ungewöhnlich dichte Dunkelheit zeichnete sich die folgende Nacht aus und den grössten Theil des kommenden Tages. Am 12then musste man zu Sole schon um 4 Uhr Nachmittags Lichter anzünden; zu Magelan in Kédu konnte man nun in einer Entfernung von dreihundert Ellen keine Gegenstände mehre erkennen. Zu Grésik und in anderen östlicher liegenden Bezirken war es den grössten Theil des Tages, am 12ten, so dunkel, wie bei Nacht. Diese Dunkelheit verlor sich allmählig, wie die Aschenwolke vorüber und sich auf ihrem Wege zu entladen fortfuhr, während zu Banyuwangi die Asche acht Zoll tief gefallen war, betrug ihre Tiefe zu Súmenap nur zwei Zoll, und zu Grésik noch weniger; westlich von Semàrang scheint die Sonne gar nicht verfinstert gewesen zu seyn.« »Nicht einmal die ältesten der Eingebornen konnten sich erinnern, eine so heftige Eruption jemals erlebt zu haben. Es habe zwar, so war zu vernehmen, vor sieben Jahre eine ähnliche Erschei-

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

nungen aufgetreten, jedoch nicht in solchem Ausmaße. Die Eingeborenen auf Bali schrieben dieses Ereignis einer neuerlichen Zwistigkeit zwischen den beiden Rajahs von … zu.« »Die Verdüsterung und Schwüle der Atmosphäre und die hin und wieder fallenden Aschenregen dauerte fort bis zum 14then, und in einigen Bezirken der Insel sogar bis zum 17. April. Sie verschwanden plötzlich nach einem starken Regenguss, wodurch die Luft klar und abgekühlt wurde. Man darf wohl annehmen, dass diese Erquickungen zur rechten Zeit kam und bedeutenden Schaden von der Erndte abwendete, und zugleich die Anfänge einer epidemischen Krankheit […] erstickte. […] Übrigens ist gewiss, dass ausser dem Bezirk von Banyuwangi kein materieller Schaden geschehen ist. Die Landbauer waren überall so vorsichtig, die fallende Asche von den jungen Reispflanzen abzustäuben, und der bald eintretende Regen beseitigte die allgemeine Besorgniss, dass sich wegen der anhaltenden Bodenbedeckung durch die Asche an den Wurzeln der Pflanzen schädliche Insekten erzeugen mögten.« »In Rembang, wo es erst am 17then regnete, und die Asche stärker gefallen war, hat die Erndte einigermassen gelitten, in Banyuwang aber, als dem jenigem Theile der Insel, auf welchem die Aschenwolke ihre ganze Gewalt entladen hat, war der Schaden weit beträchtlicher. Ein grosser Theil der Reiserndte wurde ganz zerstört, und alle Pflanzungen fanden sich mehr oder weniger beschädigt. Einhundert sechs und zwanzig Stück Pferde und sechs und achtzig Stück Hornvieh kamen innerhalb eines Monates, vom Anfang der Erupzion an, hauptsächlich aus Mangel an Futter um.« »Von Sumbáva bis zu demjenigen Punkte auf Sumatras, wo man das Getöse noch vernehmen konnte, sind in gerader Linie ungefähr neunhundert siebenzig geographische Meilen. Von Sumbàva nach Temate ist die Entfernung etwa siebenhundert zwanzig Meilen. Die Strecken welche die ausgeworfene Asche bedeckte, indem sie mit solcher Schnelle fortgeschleudert wurde, dass sie eine vollkommene Finsterniss erzeugte, wurde genau ermittelt, dieselbe reichte bis auf die Insel Celebes und bis in die Bezirke von Grésik auf Java. Erster ist von dem Heerde des Vulkans zweihundert siebenzig Seemeilen, letzter mehr als dreihundert geographische Meilen in grader Linie entfernt.«

221

222

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Dem Bericht eines Leutnants namens Owen Phillips zufolge fand Folgendes statt: »Auf einem Ausfluge in die westlichen Gegenden dieser Insel durchstreifte ich fast das ganze Gebiet von Dompo, und einen beträchtlichen Theil jenes von Bima. Es ist traurig anzusehen, in welchem Zustand des Elends die Bewohner derselben, gebracht sind. Noch immer stiess man auf Leichen, die längs der Strasse auf den Feldern liegen, und auf Hügel, unter denen viele andere verscharrt waren: die Dörfer zeigten sich ganz verlassen, die Häuser in Schutt verfallen, und die Menschen irrten umher, um sich Nahrung zu suchen.« Der Rajah berichtete ihm von der großen Hungersnot seines Volkes.« Ein einheimischer Rajah berichtete Folgendes: »Gegen sieben Uhr, am Abend des zehnten Aprils – brachen drei gesonderte Flammensäulen nahe bei dem Gipfel des Bergs Tomboro hervor  […], jede derselben erhob sich für sich zu einer beträchtlichen Höhe, wo alsdann ihre Spitzen sich in der Luft vereinigten und auf eine außerordentliche Weise zusammenflossen. Wenige Minuten nachher schien sich der ganze Berg auf der Seite nach Sang’ir in eine Masse flüssigen Feuers zu verwandeln und nach allen Richtungen auszudehnen. Dieses Feuer, und die Flammensäulen tobten mit ungeschwächter Wuth bis um acht Uhr die Gluth von der Masse der ausgeworfenen Gegenstände ganz verfinstert wurde. Es fielen um diese Zeit zu Sang’ir sehr dicke Steine, einige von der Stärke einer Faust, doch bei weitem die meisten nur von der Grösse einer Baumnuss. Zwischen neun und zehn Uhr fieng es an Asche zu regnen, und gleich darauf erhob sich ein fürchterlicher Wirbelwind, welcher fast alle Wohnungen in Sang’ir niederstürzte, und die Zimmer, so wie alle leichteren Theile mit sich davonführte. Noch heftiger wüthete er in demjenigen Theile des Bezirks von Seng’ir, der dem Tomboro am nächsten war; denn hier riss er die stärksten Bäume mit der Wurzel aus, und führte sie, so wie Menschen, Pferde, Ochsen, und was sonst in seine Gewalt kam, mit sich in den Lüften dahin. (Dieser Umstand erklärt denn auch die unendliche Menge von Treibholz womit das Meer bedeckt gesehen wurde.) Das Meer stieg beinahe zwölf Schuh höher, als man es jemals steigen gesehen hatte, entführte die Reispflanzen von den wenigen Feldern, wo in Sang’ir der Bau derselben getrieben wird, und schwemmte Häuser und alles, was die Fluth er-

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

reichen konnte, hinweg. Dieser Sturm dauerte fast eine Stunde; so lang er wüthete, wurde kein Krachen des Vulkans vernommen. Von 11 Uhr Abends aber bis zum Abend des kommenden Tages vernahm man die Schläge ohne Unterbrechung: nach diesem Zeitpunkt liessen sie allmälich an Heftigkeit nach, und erfolgten nur noch Zwischenräumen, aber die Ausbrüche währten noch bis zum 15then Juli. Von allen Dörfern des Bezirks Tomboro ist Tempo, mit etwa vierzig Bewohnern, das einzige übrig gebliebene. In Pekate ist nicht die Spur eines Hauses mehr vorhanden. […] Die genauesten Nachforschungen haben mich in Stand gesetzt, mit Bestimmtheit versichern zu können, dass in Tomboro und Pakale zur Zeit des Ausbruchs nicht weniger als zwölftausend Menschen anwesend warn, von denen nur fünf bis sechs Individuen übrig geblieben sind.« Was hat ein Vulkanausbruch im fernen Indonesien mit dem Wetter – und den landwirtschaftlichen Erträgen – in Mitteleuropa zu tun?35 Jüngere meteorologische Studien haben gezeigt, dass bei großen Vulkanausbrüchen die magmatischen Gase bis in die Stratosphäre gelangen. Diese Gase bilden dort durch photochemische Prozesse zahlreiche winzige Partikel, deren Fallgeschwindigkeit sehr gering ist.36 Nicht die Kohlestaubpartikel, sondern das bei solchen Ausbrüchen in großen Mengen freigesetzte Schwefeldioxyd verursacht das Problem: Die Kohlepartikel schweben nämlich nur relativ kurze Zeit in der Atmosphäre und schirmen die Sonnenstrahlen ab; das Schwefeldioxid hingegen oxydiert zu Sulfaten, die als Sulfataerosole lange in der Stratosphäre wirksam bleiben.37 Diese sulfatischen Partikel reichern sich in einer im Durchschnitt 20 bis 22 km hoch gelegenen Sulfatschicht an. Infolgedessen vermindert sich insgesamt die Einstrahlung der Sonne auf die Erdoberfläche, es kommt für einige Zeit zu einem »umgekehrten Treibhauseffekt«, denn die Sonneneinstrahlung wird einfach reflektiert. Daher folgen einem solchen Ausbruch meist ein, zwei kalte Winter und kühle, nasse Sommer.38 Neuere Forschungen haben gezeigt, dass nach größeren Vulkanausbrüchen die Mitteltemperatur der Nordhemisphäre, besonders in den hohen Breiten (60 bis 85 Grad N), in den ersten drei bis zwölf Monaten um ein halbes bis ein ganzes Grad Celsius absank.39 In Europa zeigten sich noch im gleichen Jahr Folgen dieses gewaltigen Vulkanausbruches: Am Himmel erschienen eigenartige Strei-

223

224

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

fen, ein langandauerndes Dämmerlicht und glutrote Sonnenuntergänge – nicht von ungefähr haben einige zeitgenössische Maler, wie Caspar David Friedrich und William Turner, in diesen Jahren Bilder mit solchen Erscheinungen gemalt. Die Witterung im Jahr 1816 Die klimatischen Folgen dieses Vulkanausbruchs waren in allen Teilen West- und Mitteleuropas zu spüren, später auch die wirtschaftlichen.40 Die mittleren Jahrestemperaturen für das folgende Jahr, 1816, sind von einigen Orten bekannt: Die langfristige Durchschnittstemperatur dieses Jahres wich im westlichen Mitteleuropa um 1,4 Grad Celsius von der mittleren Temperatur nach unten ab; in Österreich waren es 1,24 Grad und im nördlichen Deutschland sowie in den Niederlanden 1,18 Grad.41 1816 war also keineswegs das Jahr mit den absolut niedrigsten Temperaturen überhaupt; aber es war, längerfristig betrachtet, das Jahr mit den niedrigsten Durchschnittstemperaturen, die in Europa gemessen und aufgezeichnet wurden. Das heißt nicht, dass es in diesem Jahr, 1816, ständig kalt war. Der Winter war durchaus mild.42 Der gesamte Winter 1815 auf 1816 war eher von mäßiger Kälte, aber ziemlich nass. Ungewöhnlich kalt und nass waren dann auch das Frühjahr 1816 und der folgende Sommer.43 Ganz Mittel- und Westeuropa, so scheint es, waren von dieser Witterung betroffen. Für einzelne Regionen liegen Aufzeichnungen über das Klimageschehen vor: In London betrug die Durchschnittstemperatur in diesem Jahr 9 Grad Celsius, das war der niedrigste Mittelwert, der seit 1764 gemessen worden war.44 Auch Italien war von dieser nasskalten Witterung betroffen. In der Schweiz war der Sommer von 1816 sogar der kälteste seit dem Jahr 1753, damals waren zum ersten Mal Messungen dieser Art vorgenommen worden. Man glaubte in diesem Land beobachtet zu haben, dass die Niederschlagsmenge seit den 1760er-Jahren niemals höher gewesen sei als in diesem Jahr, und dass die Alpengletscher wuchsen.45 Vielerorts wurden damals noch keine Temperaturmessungen vorgenommen; aber es gibt untrügliche Anzeichen dafür, dass die sommerlichen Temperaturen 1816 niedrig waren: Es verschob sich

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

nämlich die Weinernte deutlich nach hinten. Sie lag in Lausanne in den Jahren nach 1820 zumeist Anfang oder Mitte Oktober, gelegentlich sogar im September46  – 1816 hingegen fand sie erst Mitte November statt. In Argenteuil (Oise) in Frankreich erntet man den Wein im längerfristigen Durchschnitt am 28. September, wobei die Lese sich in den 230 Jahren davor um je 25 Tage nach »vorne« oder »hinten« verschoben hat, also auf die Zeit zwischen dem 3. September und dem 23. Oktober. 1816 fand sie jedoch erst am 23. Oktober statt, später denn je. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser schlechten Ernten waren schrecklich.47 Etwas weniger stark scheinen Skandinavien und das östliche Europa von den Witterungsunbilden in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. In Russland fiel die Ernte 1816 anscheinend normal aus, die Preise für Nahrungsmittel zeigten zumindest für diesen Zeitraum keine stärker ansteigende Tendenz. Sehr viel weiter östlich hingegen, in Japan, waren die Ernten schlechter als sonst.48 Über die Witterung in Südasien ist nichts bekannt. In Hinterindien brach um diese Zeit eine schwere Choleraepidemie aus, sie scheint allerdings bereits vor diesem Vulkanausbruch die ersten Opfer gefordert zu haben und daher nicht in ursächlicher Beziehung zu ihm zu stehen.49 Für Teile Deutschlands können wir auf gute Beschreibungen des Wetters zurückgreifen, auch wenn sie von Privatleuten aufgezeichnet wurden und vielleicht persönliche Färbungen tragen.50 In Regensburg fertigte ein Professor P. Placidus Heinrich in diesen Jahren systematische Aufzeichnungen und tabellarische Übersichten über das Wetter an. Über den Juni 1816 listete er auf: »heitere Tage 0, windige 14, Tage mit Nebel 5, Tage mit Regen 12, Tage mit Hagel 1, Tage mit Gewitter 3; heitere Nächte 4, schöne Nächte 2, vermischte Nächte 9, trübe Nächte 15, windige Nächte 4, Nächte mit Nebel 5, Nächte mit Regen 5; Betrag des Regens 34 Linien.« Über diesen Monat sagte er zusammenfassend: »Die Sonne schien nie ohne Flecken. Merkwürdiger Monat wegen der vielen Wolkenbrüche und Ueberschwemmungen: wegen der zerstörenden Hagelwetter und wegen der Kälte beym höchsten Stande der Sonne: alles diese durch das ganze südliche, zwischen 20 und 30 Grad gelegene Europa verbreitet; und wie ich nicht zweifle, nach Asien und America unter derselben Breite sich herstreckend.«51

225

226

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Am 2. August 1816 war in Lindau am Bodensee die Rebenblüte noch nicht beendet. Das war seit 1628 nicht mehr vorgekommen.52 Aus dem Königreich Württemberg ist zu erfahren: »Mai und Juni [1816] fast täglich Regen und Gewitter, so daß die Äcker versoffen und Weinberge rutschten. Großer Hagelschlag und Überschwemmungen. Der Scheffel Dinkel, den man noch um Pfingsten um 5–6 Gulden kaufte, kostete im Juli […] schon 12–15 Gulden. Den 31.  [Juli 1816] schneite es auf der Alb. […] Die Wintersaat mußte man zum Theil in den Schnee säen«53. Im Königreich Württemberg zählte man in den Monaten Mai bis einschließlich September, also an insgesamt rund 150 Tagen, nicht weniger als 95 Regentage.54 Wissenschaftlich geschulte Zeitgenossen haben nicht nur tagtägliche Aufzeichnungen vom Witterungsgeschehen überliefert, sondern auch zusammenfassende, systematische Berechnungen. Das Frühjahr 1816 war überall äußerst wetterwendisch und nass. Am Niederrhein fielen 1816 mehr als 32 Zoll Regen, gegenüber 5 Zoll im Jahr 1814. Der durchschnittliche Wasserstand des Rheins bei Düsseldorf betrug 1816 mehr als 10 Fuß gegenüber knapp 4,7 Fuß im Jahr 1814.55 Es gab riesige Überschwemmungen, die nicht nur Tage und Wochen, sondern fast fünf Monate hindurch anhielten. Sie waren größer als alle bisher vorgekommenen Überschwemmungen.56 Dies hatte zur Folge, dass ein großer Teil  der Wintersaat vernichtet wurde. Die Folge der Überschwemmungen war eine äußerst unergiebige Ernte; die Ernte war nur wenig größer als die Aussaat.57 Dies zog wiederum gewaltige Preissteigerungen für Nahrungsmittel nach sich. Ähnlich schlecht war das Wetter auch etwas weiter nördlich, in Franken und Thüringen. Anfang Juni 1816 lag auf den Gipfeln der Rhön noch immer Schnee.58 Winde aus dem Norden brachten kalte Regen- und Graupelschauer. »Die Nacht vom 5. auf den 6. Juni war durch Blitze und Regen fürchterlich; es war viel Schnee gefallen und noch um die Mittagsstunde zeigte die Rhöne den umliegenden Dörfern ihr beschneites Haupt. Die Streu und andere Bergwasser waren ausgetreten und haben dem Wieswachs vielen Schaden gethan.« Ein paar Tage später, Mitte Juni, kommt es im Bambergischen zu schweren Regengüssen, Häuser stürzen ein und begraben fünfzehn Menschen tot unter sich.59

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

Über die Höhe der Niederschläge und den Wasserstand am Rhein wurde von den angrenzenden Kommunen sorgfältig Buch geführt.

Auch im fränkischen Rezatkreis war die Witterung 1816 schlecht.60 Erlangen hatte bereits 1815 ein ziemlich regenreiches Jahr. Das »Mißverhältnis zwischen Wärme und Kälte, zwischen Trockenheit und Feuchtigkeit« nahm im folgenden Jahr noch mehr zu. Die Jahre 1816 und 1817 waren so regenreich, dass es häufig zu Überschwemmungen kam.61 Fast Tag für Tag strömten Regen oder Hagel nieder, ihm folgten Verwüstungen schweren Ausmaßes.62 Anfang August 1816 zog ein schweres Unwetter auf, Hagelschauer verwüsteten die Getreideernte in weiten Teilen zwischen dem Rhein und Sachsen, auch

227

228

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

in Franken. Die Ernte fiel schlecht aus in diesem Jahr, und sie wurde spät eingebracht. Witterung und Ernteerträge Die Durchschnittstemperaturen lagen vor der Mitte des 19.  Jahrhunderts zwar nur um wenig mehr als ein Grad Celsius niedriger als hundert oder hundertfünfzig Jahre später; aber man unterschätze diese scheinbar geringe Differenz nicht: Ein Absinken der mittleren Jahrestemperatur um ein Grad Celsius ist beträchtlich, sie zieht in unseren Breiten eine Verkürzung der Vegetationsperiode um einige Wochen nach sich, und dies zeitigt schwere Folgen für die landwirtschaftlichen Erträge. Während der »Kleinen Eiszeit«, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts reichte, war in Mittelengland die Vegetationsperiode um fünf bis sechs Wochen kürzer als um 1950, und dies verursachte der Landwirtschaft beträchtliche Verluste. Als Phänologie bezeichnet man die wissenschaftliche Teildisziplin, die einzelne Erscheinungen der Biologie – vor allem den Pflanzenwuchs, die Wanderungsbewegungen von Tieren u. ä. – in Beziehung setzt zum Witterungsgeschehen.63 Der Pflanzenwuchs hat eine starke Aussagekraft über die Witterung, denn er hängt von Sonnenscheindauer, Wärme, Luftfeuchtigkeit, Niederschlagsmenge und den Zeiten des Niederschlags ab. So kann die Botanik einerseits guten Nachweis geben von den Klimaveränderungen in der Vergangenheit, zugleich aber auch von Nahrungsmittelüberfluss oder von deren Knappheit. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts lebten die Menschen in Mitteleuropa in größter Dichte zusammen. Die Landwirtschaft befand sich noch immer in einem »mittelalterlichen« Zustand, die Ernteerträge waren so niedrig wie Jahrhunderte früher. »Am Ende des Ancien Régime lebte die Mehrzahl der deutschen Familien an der Grenze des Existenzminimums.«64 Die Mehrheit der Deutschen musste um das Jahr 1800 mehr als die Hälfte ihres Einkommens allein für Nahrungsmittel ausgeben. Als im Spätsommer 1816 die Ernte eingebracht wurde, sehr spät, mussten die Bauern feststellen, dass das Getreide kaum ausgereift war: Die Getreidekörner waren nicht voll gefüllt, die Kartoffeln gar

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

im Erdreich verfault. Als der Drusch begann, »krazte der Landmann gar jämmerlich hinter den Ohren«, schreibt der bayerische Staatsmann und Statistiker Joseph von Hazzi. »Das rastlose Regnen, die verspätete Zeit erlaubten ihm kaum das Winterfeld zu bestellen. […] Ans Dreschen ging es nur für den Samen; aber noch wunderlicher ward ihm zu Muthe, sehend, daß er im Korn meist nur leeres Stroh gedroschen, also um 2 drittheil Aerndte zurückgesetzt und auch in seinem Futtervorrath sehr getäuscht sich fand  […]. Endlich konnten ihm auch die Felder wenig gefallen. Schnecken, Mäuse, Ungeziefer und Unkraut kamen wie 1570, 1770 und 1771 zahllos zum Vorschein.«65 Getreide wurde damals in Hohlmaßen gemessen. Will man vom Hohlmaß einer gewissen Menge Getreide, zum Beispiel von Weizen, auf sein Gewicht umrechnen, muss man das Hohlmaß in Milliliter mit 0,773 multiplizieren, einfacher gesagt: ein Liter Weizen wiegt gemeinhin 0,773 Kilogramm. Doch der Weizen von 1816 war von so schlechter Qualität, dass ein Liter nur 0,55 Kilogramm wog, denn die Körner waren schlecht gefüllt. Die Bauern droschen also fast leeres Stroh. Es gab weniger Getreide in diesem Jahr. Die an der Schranne zu Nürnberg gehandelten wichtigsten Arten von Brotgetreide waren gegenüber der im Jahr 1811/12 gehandelten Menge fast um ein Drittel niedriger.66 Wie verhielt sich nun der Preis dieses Getreides, um welchen Anteil stieg er an? Die Preise für Grundnahrungsmittel, vor allem die Preise für Brotgetreide, sind nach unten wenig elastisch, denn die Bevölkerung kann zwar in guten Zeiten mehr nachfragen und essen, aber sie kann in schlechten Jahren auf ein Minimum an Kalorienzufuhr nicht verzichten. Ein prozentual geringer Ernteausfall kann daher bereits kräftige Preissteigerungen zur Folge haben: So wurde z. B. in England um das Jahr 1800 beobachtet, »daß die Kornpreise Englands um 100 bis 200 Procent in die Höhe gingen, wenn der Ernteertrag nur 1/6 bis 1/3 unter dem Durchschnitte gewesen war, und fremde Zufuhr auch noch dieses Minus gemildert hatte«. Der englische Nationalökonom Gregory King will schon im 17. Jahrhundert beobachtet haben, dass ein Ausfall um 30 Prozent einen Preisanstieg von 160 Prozent nach sich zieht, ein Ausfall um 40 Prozent aber bereits um 280 Prozent.67

229

230

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Bevor 1816 die Ernte eingebracht wurde, schnellte der Getreidepreis für einen Scheffel Weizen von 15 auf 26 Gulden empor, im folgenden Jahr kostete er über 65 Gulden. Der Scheffel entsprach normalerweise einem Gewicht von circa 170 Kilogramm, das war etwa die Menge, die ein Erwachsener in Mitteleuropa in einem Jahr verspeiste.68 Das Gewicht des Schwarzbrotes sank in Erlangen pro Laib zu 7 ½ Kreuzer von 2 ½ auf ¾ Pfund – oder anders gesagt: Der Brotpreis verdreifachte sich pro Gewichtseinheit. Auch die anderen Lebensmittelpreise stiegen, wiewohl nicht im gleichen Maße,69 am wenigsten veränderten sich die Preise für die normalerweise kaum erschwinglichen Lebensmittel wie Fleisch. Vielerorts wurden in diesen Jahren die Getreidepreise genau festgehalten und in Tabellen überliefert, denn so hoch wie 1816/17 waren sie seit Menschengedenken nicht gewesen. In Nürnberg legte Johannes Scharrer eine Graphik an, um den schwindelerregenden Anstieg der Getreidepreise seit 1744 sichtbar zu machen. Während in den – bereits schlechten – Erntejahren unmittelbar vor 1816 die Getreidepreise sich in der Regel bei etwa 10 Gulden pro Scheffel eingependelt hatten, lagen sie 1816 schon bei 35 Gulden, also etwa ebenso hoch wie im Hungerjahr 1771, als dieser Preis 36,5 Gulden betragen hatte. Aber im folgenden Jahr, kurz vor der Ernte von 1817, stieg der Preis bis auf 43 Gulden,70 in Rothenburg ob der Tauber sogar auf über 62 Gulden.71 Die Getreidepreise erreichten, am Einkommen gemessen, nach 1817 niemals mehr diese Höhe, nicht einmal in den beinahe sprichwörtlichen »hungrigen vierziger Jahren«. Einkommen und Lebenshaltungskosten72 Jahr

Index der Lebenshaltungskosten (1913 = 100)

Realeinkommen (1913 = 100)

1810

45

58

1812

51

53

1814

50

52

1816

67

39

1817

95

27

1818

66

41

1820

42

64

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

Heute würde man in einer solchen Agrarkrise mit einer Verdreifachung der Getreidepreise die Preise für Nahrungsmittel entsprechend anheben; aber im 19.  Jahrhundert hat man das Brot, das meist den Namen von Münzen trug, kleiner gemacht. In Nürnberg wog z. B. das Sechs-Kreuzer-Brot im Jahr 1817 nur noch 26 Lot, also ca. 470 Gramm.73 Aus diesem Grund findet man in vielen deutschen Städten noch immer in der Öffentlichkeit leicht sichtbare Hinweise auf die Größe des Brotes während einer Hungerkrise. In Nürnberg hat der Chronist Georg Paul Amberger74 die Größe der Wecken in seine Chronik der Stadt eingezeichnet, um sie der Nachwelt vor Augen zu führen.75 Zur Hungersituation von 1816/17 in Nürnberg Nürnberg war gerade zehn Jahre zuvor, im September 1806, mitsamt seinem weitläufigen Landgebiet zum Königreich Bayern gekommen. In Nürnberg galten seither die bayerischen Gesetze, denn Nürnberg war nun bayerisch und unterstand dem bayerischen Kommissar Graf Thürheim. Innerhalb dieser königlich-bayerischen Stadt traf aber auch die städtische Obrigkeit – und das hieß in der »Ära Wurm« zuallererst: Polizeidirektor Christian Wurm persönlich – ihre Verfügungen.76 Die Folgen dieser unergiebigen Ernte des Jahres 1816 zeigten sich bald in der Stadt Nürnberg. Gewöhnlich fielen die Preise für Brot und Getreide im August, also unmittelbar nach der Ernte; doch in diesem Jahr stiegen sie weiter an: Hatte das Scheffel Weizen im Frühjahr 1816 noch bei elf oder zwölf Gulden gelegen, das Scheffel Roggen bei neun oder zehn,77 so standen diese Preise im September 1816 bei 28 ½ Gulden für den Weizen und 23 ¾ Gulden für Roggen. Sie stiegen von da an noch immer weiter und erreichten noch vor der Jahreswende Werte von 31 ½ Gulden für Korn und 45 Gulden für Weizen.78 Die Preise für Nahrungsmittel stiegen auch im südlichen Bayern stark an, und aus München kam bald die Kunde, es breiteten sich Hungertumulte aus. Schon sprach man davon, dass die Französische Revolution keineswegs vorüber sei.79 In Nürnberg war davon wenig zu spüren. Dabei hatte diese Stadt eine insgesamt weitaus

231

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

ärmere Bevölkerung als die königliche Residenzstadt München. Sicherlich traf für beide Städte zu, dass ein beträchtlicher Teil der Einwohnerschaft – in Nürnberg an die zehn Prozent – als Dienstboten in Haushalten tätig waren, und sofern diese Haushalte über Vorräte verfügten oder genügend wohlhabend waren, gab es vermutlich auch für das Personal genug zu essen.80 Die städtische Obrigkeit richtete ein wachsames Auge auf die Bäcker und ihre Tätigkeit, davon zeugen die großen Aktenbestände im Stadtarchiv Nürnberg.81 Sie verfügte nun, dass jeweils sechs Bäcker auf der südlichen Lorenzer und der nördlichen Sebalder Seite der Stadt »vom 4. bis zum 10. November inclusive das größere schwarze 4 Mezen-Brod zu backen« haben.82 Die Bäcker waren seit November 1816 auch gehalten, ihre Mehlvorräte im Einzelnen aufzuführen und diese Listen der städtischen Obrigkeit vorzulegen.83 Die Abgabe von warmem, also frisch gebackenen Brot – es ist deutlich schwerer als Brot, das viele Stunden gelagert wurde – war ab Dezember 1816 verboten.84 Wurm machte zugleich im »Allgemeinen Intelligenz-Blatt der Stadt Nürnberg« in erster Linie »Wucher und Spekulation« für die Teuerung verantwortlich. Angeblich gab es genügend Gemüse und Brot in Nürnberg.85 Die Nürnberger Obrigkeit in Gestalt des Polizeidirektors Wurm regte Anfang November 1816 die Bildung eines Wohlfahrtsausschusses an. Da »die gewöhnlichen Einkünfte der Armenkasse die von der Theurung veranlaßten Mehrausgaben nicht decken, so muß man die Wohlthätigkeit der Armenfreunde ansprechen, damit sie mit ergiebigen Zuschüßen die Noth ihrer Mitbürger lindern«,86 hieß es. Polizeidirektor Wurm stand fortan in engem Kontakt zu diesem Kreis.87 Dieser Ausschuss begann sogleich fieberhaft danach zu suchen, »aus entfernten Gegenden« Getreide zu kaufen; doch stellte sich bald heraus, dass Getreide jetzt überall teuer war.88 Wurm versuchte im Winter 1816/17, im Ausland Getreide für die Stadtgemeinde Nürnberg und auf deren Rechnung zu kaufen.89 ◀ Nürnbergs zweiter Bürgermeister, Johannes Scharrer (1785–1844), der sich in den 1830er Jahren um die Eisenbahnverbindung NürnbergFürth verdient machte, fertigte eine Graphik der Getreidepreise an. Sie zeigt die Höhepunkte der Hungerkrise von 1771/72 und 1816/17.

233

234

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Der Wohlfahrtsauschuss, dem unter anderem Pfarrer Gotthold Emmanuel Friedrich Seidel,90 ein Freiherr von Löffelholz, Senator von Welser, der Kaufmann Johann Merkel und der Armenarzt Dr. Schramm angehörten, erörterte sogleich »Maasregeln zur Unterstützung der Armen bei gegenwärtiger Theuerung«.91 Er verfügte, dass die finanziellen und anderen Beihilfen zum Großteil an die Handwerker der Stadt und einige Bedürftige Zünfte gingen, vor allem an 191 Rotschmiede, an 125 Schneider, 71 Heftleinsmacher und 36 Flaschner, sie standen an der Spitze. Allerdings erhielten auch andere Berufszweige verbilligtes Brot, die Nürnberger Polizei etwa von ihren Dienststellen.92 Außerdem wurden noch rund 2300 Laib Brot zu zwei Pfund und fast 100 Klafter Holz für Bedürftige abgegeben, denn die Obrigkeit wusste, dass die Ärmeren nun ihre gesamten Einkünfte allein für Brot ausgaben, so dass ihnen wenig Geld für Heizmittel und andere Dinge übrig blieb.93 Durchziehende Handwerker erhielten 47 Gulden ausbezahlt.94 Wenigstens seit November 1816 begann die Stadtverwaltung damit, in der Rumfordschen Suppenanstalt verbilligte oder kostenlose Portionen von Suppe abzugeben. Eine solche Anstalt bestand seit dem Jahr 1801 auf der Sebalder Seite, seit 1806 eine weitere auf der Lorenzer. Diese Suppenanstalten wurden seit 1806 auch vom Nürnberger Polizei-Kommissariat bezuschusst, meist mit mehreren hundert Gulden im Jahr. Im Dezember 1816 waren es mehr als 14 400 Portionen dieser nahrhaften Speise, die kostenlos oder verbilligt, nämlich für anderthalb Kreuzer die Portion, abgegeben wurden.95 Woraus bestand diese Suppe? Es ist anzunehmen, dass ein solches Gericht in einer Zeit mit so geringer Kommunikation im Lande nach unterschiedlichen Rezepten gekocht wurde. Um die Zutaten der in Nürnberg verfertigten Rumfordsuppe zu erfahren, blickt man am besten eine der »Berechnungen über die von der Gesellschaft zur Beförderung vaterländischer Industrie errichtete Rumfordische Suppenanstalt« an.96 Dort werden als Zutaten aufgelistet: Erbsen, Gerste, Salz, Reis, Schmalz, Butter, Brot, Gemüse, Nieren, Pfeffer und Ingwer, Erdäpfel.97 Von der bayerischen Regierung erging am 28.  November 1816 ein Reskript, das sich sehr ausführlich mit dem Thema Betteln beschäftigte.98 Ganz ohne Zweifel war die Not am Jahresende 1816 groß

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

und deutlich sichtbar. Vermutlich gab es auch in Nürnberg bereits am Ende dieses Jahres angesichts der stark angestiegenen Preise für Brotgetreide viele Menschen, die andere um Geld angingen. Pfarrer Seidel hielt am letzten Tag dieses Jahres in der Kirche St. Egidien eine Predigt, in der er seine Zuhörer um Barmherzigkeit für die Armen bat: »Wer von Euch ferner nicht mit ängstlichen Sorgen der Nahrung zu kämpfen versucht ward, wer den Kummer der Armuth nicht fühlte, o der richte voll bescheidenen Sinnes seine Blicke nach den Tausenden seiner armen Mitbrüder, und bekenne dankbar; wer hat dich vorgezogen?«, fragte dieser sozial denkende Geistliche. Und weiter: Viele »seufzten im Stillen unter verhaltenen, verschämten Thränen, denn schwer lag die Sorge der Nahrung auf ihrem Herzen und […] zehrte an ihnen der nagende Kummer. Das vergangene Jahr, karger an der nährenden Frucht, als seine Vorgänger seit geraumer Zeit […] verhieng über ganze Land eine wahre Theurung, und mit ihr über viele Tausende Sorgen und Anliegen mannigfacher Art.«99 Das neue Jahr 1817 Das Jahr 1817 begann in großer Sorge.100 Am Neujahrstag hielt Pfarrer Seidel wieder eine Ansprache, diesmal beschwor er bessere Zeiten herauf: »Herr der Natur, allmächtiger, ewig reicher Gott, lasse freundlich, wenn sie ausgeschlummert haben die Ruhe des Winters, deine Sonne leuchten über unsere Fluren, erwecke zum Leben die köstlichen Keime unserer Nahrung, laß sie gedeihen und reifen zu seiner Zeit, daß das Brod aus der Erde kommen und der Jubel der Erndter dich preise.«101 Nach der Jahreswende wurde das Brotgetreide immer knapper und das Brot immer teurer, also immer kleiner. Ein Laib Brot für 12 Kreuzer wog jetzt nur noch ein Pfund 16 Lot und 1 ½ Quentgen.102 Bei anderen Nahrungsmitteln wurden die Preise angehoben: Am 16. Januar 1817 wurde der Schankpreis für die Maß Weizenbier auf 5 ½ Kreuzer erhöht.103 Die Taxe für eine Maß braunes Winterbier wurde am 8. Februar 1817 auf 7 Kreuzer festgesetzt,104 und der Schankpreis für die Maß braunen Sommerbiers stand seit Anfang Mai 1817 bei 8 ½ Kreuzer.105

235

236

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Der Nürnberger Wohltätigkeitsausschuss legte am 10. Januar 1817 fest, dass »3000 Familienväter ausschließlich der ärmeren Claße der hiesigen Einwohner« verbilligtes Brot erhalten sollten.106 Polizeidirektor Wurm verfasste Mitte Januar eine Verfügung, dass künftig auch »an die Mittelklaße der Einwohner aller Stände um die Hälfte des laufenden Preißes« Brot abzugeben sei.107 Die Not nahm im Verlauf des Winters immer schlimmere Ausmaße an. Im Januar und Februar 1817 wurden erneut 12 720 Portionen Suppe mit etlichem Brot abgegeben, trotzdem waren noch immer einige Tausend Familien in Nürnberg vom Hunger bedroht.108 Der Getreidepreis stieg weiterhin an, und das Brot folgte ihm, da konnte auch Polizeidirektor Wurm nichts ändern. Aber er konnte die Bewohner der Stadt auffordern, gegenüber den Armen wohltätig zu sein. Der Nürnberger Handelsvorstand beschloss am 18. Februar 1817, nach Zustimmung Wurms, eine Anleihe über 80 000 Gulden aufzunehmen, rückzahlbar in drei Jahren, wobei die Summe »in halbjährigen Zeiträumen verzinßt« werden sollte, zu fünf Prozent.109 Als diese Gelder zur Verfügung standen, bat der Wohltätigkeitsausschuss die königliche Polizeidirektion mehrmals, für diese Summe Geld im Ausland Getreide zu kaufen.110 Eine weitere Sammlung für die Armen der Stadt wurde veranstaltet, wobei die Kaufmannschaft 68 500 Gulden spendete, der Nürnberger »Adelsstand«, also das alte Patriziat der vormaligen Reichsstadt, 9000 Gulden, die Geistlichkeit brachte weitere 2500 Gulden auf.111 Die »Gesellschaft zur Beförderung vaterländischer Industrie« gab bis 21. Januar 1817 an 650 bis 700 bedürftige Menschen etwa tausend Metzen Kartoffeln verbilligt ab.112 Im Frühjahr 1817 veranstaltete der Nürnberger Wohlfahrtsausschuss eine weitere Kollekte zugunsten Bedürftiger. Sie erbrachte noch einmal 3660 Gulden und 25 Kreuzer.113 Als der Wohltätigkeitsausschuss Anfang April 1817 eine »Summarische Übersicht aller Einnahmen der Wohltätigkeit in Nürnberg vom 1. Oktober 1816 bis letzten März 1817« anfertigte, kam er auf beinahe 22 000 Gulden, die auf diese Weise aufgebracht worden waren.114 Getreide war ein äußerst knappes und daher teures Gut in diesem Winter. Die Berufsgruppe, die am meisten damit Umgang hatte, die Bäcker, waren sicherlich versucht, sich daran zu bereichern: In Nürnberg lebten seinerzeit etwa 24 000 Einwohner, sie wurden

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

von knapp siebzig Bäckermeistern versorgt; aber allein in der ersten Hälfte des Etatjahres 1816/17 wurden in Nürnberg insgesamt 89 Bäcker bestraft, manche davon offenbar mehr als einmal, weil sie sich irgendwelcher Vergehen schuldig gemacht hatten, die mit dem Brotbacken zu tun hatten.115 Die Obrigkeit wachte darüber, dass das von ihr festgelegte Brotgewicht tatsächlich eingehalten und auch nicht auf andere Weise Unterschleif begangen wurde. Die Oberschicht war skeptisch, dass tatsächlich der Mangel an Getreide die Preise derart in die Höhe trieb. Die Kaufmannschaft äußerte die Auffassung, nicht die Missernte sei die Ursache der Teuerung sei, sondern Wucher,116 und auch die Behörden, die deutlich sahen, dass sich der Preis für Brotgetreide zwischen Juni 1816 und Juni 1817 vervierfacht hatte, sahen für diese Steigerung keinen Grund.117 Gleichviel, es ist nicht einzusehen, wie der Preis für Getreide und Brot in dieser Zeit einer sehr schlechten Ernte nicht ansteigen sollte. Eine im April 1817 angefertigte Übersicht zeigt ganz deutlich, dass im ersten Quartal des Jahres 1817 an der Nürnberger Schranne viel weniger Getreide zugeführt worden war als in den ersten Quartalen der beiden Vorjahre.118 Im Juli 1817 wurden an der Nürnberger Schranne bis zu 85 Gulden für das Scheffel Weizen bezahlt; der Preis für Roggen betrug im Juni zwischen 54 und 61 ½ Gulden.119 Der Sechs-Kreuzer-Laib Roggenbrot wog seit dem 1. Juli 1817 nur noch 17 Lot und 3 Quentgen, der 3-Kreuzer-Laib halb soviel; beim Weizenbrot wog der Sechs-Kreuzer-Laib noch 13 Lot 2 Quentgen.120 Das »Allgemeine Nürnberger Intelligenzblatt« erwähnt auch die an der Nürnberger Schranne gehandelten Getreidemengen: An den meisten Handelstagen blieben zwar Reste übrig, die offenbar nicht abgesetzt werden konnten, zumindest nicht zu dem geforderten Preis. Immer wieder wurden auch etliche Scheffel Getreide an Meistbietende versteigert.121 Allerdings wurde 1817, vermutlich aber auch in den Jahren davor, einige weitere Hundert Scheffel Weizen und Korn im Jahr außerhalb der Schranne verkauft.122 Verzehrt wurden in Nürnberg zwischen Anfang Oktober 1816 und Ende April 1817, also innerhalb von sieben Monaten, 7441 Scheffel Korn und 12 761 Scheffel Weizen, außerdem 3275 Scheffel Gerste und 9099 Scheffel Hafer.123 Aus Stiftungsvorräten wurden bis Ende Mai mehrere Hundert Scheffel Getreide unentgeltlich abgeben, einige weitere gegen Bezahlung.124

237

238

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Die Stadtväter erließen schon im April 1817 ein Verbot: Künftig durften die Bäcker an Auswärtige kein Brot mehr verkaufen; nur Fremde, die in Nürnberg arbeiteten, waren berechtigt, einen Laib Brot mit nach Hause zu nehmen. Trotzdem hielten die Klagen an, dass Stadtfremde den Einheimischen das Brot wegkauften.125 Mitte Juni wird das Schwarzbrot rationiert, das schon zuvor durch Zusätze in seiner Güte vermindert und gestreckt worden war; es wird künftig nur noch gegen Empfangskarten an Minderbegüterte abgegeben – »Handwerkerbrot« nennt man es jetzt. Wurm lässt einzelne Bäcker namentlich anweisen, täglich eine bestimmte Menge »12 kr. Laib schwarzes Brod zu backen« und an Bedürftige abzugeben, die sich durch entsprechende Billette ausweisen können.126 Ein knappes Drittel der Einwohnerschaft, etwa 1640 Familien, kommt in den Genuss dieses verbilligten Brotes. Die Erzeugung von Weißbrot wurde in diesem Frühjahr stark gedrosselt, nur zwölf Nürnberger Bäcker waren abwechselnd berechtigt, aus Weizenmehl Weißbrot zu backen. Seit Juli 1817 war den Bäckern die Herstellung von Milchbrot verboten.127 Auch die Bäcker mussten in dieser Zeit Einbußen hinnehmen, denn sie wurden verpflichtet, das Brot zu festgesetzten Höchstpreisen abzugeben, während sie selbst das Mehl zu stark erhöhten Marktpreisen einkauften.128 Allerdings bekamen auch Nürnberger Bäcker aus städtischen Mitteln subventioniertes Getreide, damit sie Brot für die ärmere Bevölkerung billiger abgeben konnten.129 Die Stadtobrigkeit ließ auch eine größere Menge Kartoffeln, im Wert von 3163 Gulden, verteilen.130 Der Brotpreis war unter dem Ancien Régime auch in Deutschland ein Politikum, und er blieb es auch noch in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. Aber auch andere Nahrungsmittel wurden überwacht. Es bestand weiterhin eine Fleischtaxe,131 doch hatte sie nicht die gleiche Bedeutung, denn Fleisch war gerade angesichts der allgemeinen Not so teuer, für die große Bevölkerung geradezu unerschwinglich, dass es weniger nachgefragt wurde und daher sein Preis prozentual sehr viel weniger anstieg. Der Fleischkonsum war 1816/17 extrem niedrig, er wird auf 13 bis 14 Kilogramm pro Kopf der deutschen Bevölkerung geschätzt.132 Der Preis für das Pfund Rindfleisch lag seit September 1817 wieder bei 13 Kreuzer.133 Aller-

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

dings blieb Schaffleisch auch im Herbst 1817 ziemlich teuer  – elf Kreuzer das Pfund –, weil sehr viele Tiere im Winter 1816/17 infolge der nassen Witterung umgekommen waren.134 Wie konnte der Einzelne sich helfen, um sein Los in den Zeiten der Not zu erleichtern? Er konnte versuchen, mehr zu arbeiten und höheren Lohn zu bekommen – allein, wer vergab Arbeit in dieser schlechten Zeit? Und wer besaß die Kraft, mehr zu arbeiten, wenn die stärkenden Nahrungsmittel so knapp und teuer waren? Kredite waren kaum zu bekommen, der Zinsfuß war hoch.135 Man konnte Randale veranstalten, um der Obrigkeit zu zeigen, dass sie es versäumt hatte, Daseinsvorsorge zu treffen, schließlich besaß die Kommune in reichsstädtischer Zeit beträchtliche Mengen an Brotgetreide in ihren Lagerhäusern.136 Das war nicht ungefährlich, trotzdem versuchten es einige.137 Wie konnte man der Not entkommen? Man konnte auswandern. Im Frühjahr 1817 wählten mehr Deutsche als je zuvor diesen Weg. Aus dem Jahr 1817 liegen viele Hinweise auf Auswanderer vor; vor allem an den großen Flüssen wurden die Zahlen wahrgenommen. Die Auswanderung erfolgte häufiger aus dem deutschen Südwesten; aber auch im Königreich Bayern mehrten sich 1817 die Hinweise darauf, dass viele seiner Einwohner ihre Heimat verlassen wollten.138 Für die Stadt Nürnberg fehlen genaue Angaben  – auf jeden Fall nahm die Nürnberger Bevölkerung in diesem Zeitraum infolge der Hungerkrise ab. Die Bevölkerung erfuhr von der Not der Auswanderer, denn die Zeitungen schrieben darüber. Ende April stand in der in Nürnberg erscheinenden Tageszeitung »Nürnberger Friedens- und KriegsKurier« zu lesen: »Aus Süddeutschland erhält man neuerdings die Nachricht, daß hier und da die Auswanderungssucht nach Rußland rege wird und daß Einzelne sowohl als ganze Familien ihren angebauten heimathlichen Wohnort gegen noch wüste Steppen zu vertauschen Lust in sich fühlen. Obgleich diese Lust vorzüglich bei armen Familien, und bei verunglückten Müßiggängern sich zeigt, so soll sie doch, wenn schon nur selten, auch bei noch nicht ganz ins Abwesen gerathenen Leuten verspürt werden. Es scheinen hier nicht sowohl freie Entschlüsse als vielmehr schädliche Umtriebe Statt zu finden, auf welche aufmerksam zu machen die Pflicht jedes

239

240

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Menschenfreundes ist. Nach mehrern Angaben schleichen nemlich unter allerlei Masken, Betrüger und Uebelgesinnte umher, die der Leichtgläubigkeit reizende Bilder von dem fernen Rußland entwerfen, durch schöne Vorspielungen eines anständigern gemächlichern Lebens auf ausländischen Fluren die Einbildungskraft erhitzen, und dadurch Leichtsinnige zum Auswandern verführen. Diese Verführer bekümmert aber das Wohl ihrer Mitmenschen nichts, sie wollen sich nur auf Kosten Anderer mästen und bereichern.«139 Im Juni 1817 berichtete der »Nürnberger Friedens- und KriegsKurier« davon, dass fünftausend Württemberger auf ihrem Weg ins Zarenreich bei Neuburg an der Donau übernachtet hatten. Der Rhein und der Weg nach Amerika wurden damals noch seltener eingeschlagen; häufiger zogen Auswanderer nach Osten. Auf der Donau ziehen die Flüchtlinge in großer Zahl in Richtung Ungarn, Siebenbürgen oder Russland. Besonders kläglich ergeht es denen, die infolge ihrer Notlage die Reise nicht fortsetzen können. Als die Not gegen Jahresmitte ihren Höchststand erreichte, ließen die Stadtväter noch einmal die jetzt noch bestehenden Vorräte an Brotgetreide registrieren. Es zeigte sich, dass z. B. 26 Familien – die Namen weisen auf das alte Stadtpatriziat hin  – noch immer 436 Scheffel Korn in ihren Speichern hatten.140 Wie groß zu diesem Zeitpunkt die Vorräte im städtischen Getreidemagazin waren, lässt sich nicht sagen.141 In der zweiten Junihälfte ließ der bayerische König die Getreidehändler auffordern, ihre restlichen Vorräte dem Publikum anzubieten.142 Mitte Juli 1817 erreichte die Not ihren Höhepunkt. Nun ließ der Rat an alle Einwohner der Stadt Brotkarten austeilen, auf denen vermerkt stand, wie viele Laib Brot jede Familie vom nächstgelegenen Bäckergeschäft täglich zu bekommen hat. Wohltätige Privatpersonen und Stiftungen luden Kinder zum Essen ein. Die »Gesellschaft zur Beförderung vaterländischer Industrie« ließ weiterhin Rumfordsuppe an Bedürftige austeilen. Die Not traf alle, am schlimmsten waren die von den Weltmeeren abgeschnitten Schweizer betroffen. Eine zeitgenössische Quelle schildert die Armut in dem Dorf Schwandi im Glarus: »Drei bis vier Haushaltungen mit zahlreichen Kindern leben in einer Stube zusammen gepreßt, in farbenlosen Lumpen, halb nackt,

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

ganz nackt. Tische, Stühle, Bettstätten, Bettzeuge sind schon längst verschwunden. Wurzeln, Kräuter, auch hervorgescharrte Hefe sind ihre Nahrung. Sterbende ermangeln eines Tröpfchens blauer Milch. Alle liegen Sommer und Winter auf dem harten Boden in ihren Fetzen; wer ein Vorrecht durch Alter oder Krankheit hat, auf dem Ofen. Nicht Wenige gleichen aus Gräbern hervorgescharrten Todtengerippen, und der Säugling, dessen sich die Welt freuen sollte, tritt wie eine Leiche aus der Mutter Schoos.«143 Weitere Maßnahmen der deutschen Regierungen Welche Maßnahmen ergriffen die staatlichen Regierungen in Deutschland noch, um der allgemeinen Kümmernis abzuhelfen? Eine starke deutsche Zentralregierung bestand noch nicht, es gab seit 1815 in Frankfurt am Main die Regierung des Deutschen Bundes, aber sie war kurz zuvor entstanden, der Deutsche Bund war noch ganz neu. Aber was können die Regierungen überhaupt tun? Die Getreidelager waren leer in dieser Zeit, dies eine Folge der Säkularisation der Klöster, der langen Kriege und der Besetzungen. Als der bayerische König im Juni 1816 die Registrierung der Getreidevorräte von Privatpersonen verlangte, war es schon zu spät.144 Die staatlichen Versuche, die Handelshemmnisse zwischen den deutschen Staaten abzubauen, blieben weitgehend erfolglos. Das Königreich Bayern, seit dem Ende der Napoleonischen Kriege hochverschuldet, erließ im Mai 1817 eine Entschließung des Königs, die Einfuhrzölle auf Getreide zu senken, zugleich aber die Ausfuhrzölle drastisch anzuheben, damit kein Getreide das Königreich verließ. Allerdings sollte von dieser Maßnahme die Schweiz ausgenommen sein, »weil die Schweiz als deutscher Nachbarstaat stets in den innigsten Verkehrsverhältnissen mit Baiern steht, und weil dort wegen gänzlichem Mangel eigener Erzeugnisse die Hungersnoth bereits einen so furchtbaren Grad erreicht hatte, daß die Versagung einer augenblicklichen Hülfe den Gesetzen des Christenthums und des Völkerrechts entgegengelaufen wäre«. In Bayern wachte die Regierung über den Kauf von Getreide, auch zwischen Privaten. Außerdem ließ König Maximilian I. Joseph staatliche Mittel bereitstellen und mit ihnen ausländisches Getreide aufkaufen.

241

242

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Zugleich wurden die Behörden der bayerischen Städte angehalten, auf Unruhestifter ein wachsames Auge zu richten.145 Die tatsächlich praktizierte Handelspolitik dieser Zeit146 scheint weitgehend darin bestanden zu haben, auswärtiges Getreide ungehindert ins Land zu lassen, aber die Durch- und Ausfuhr mit einem Zoll zu belegen, sofern auch der Empfängerstaat, im Sinne einer handelspolitischen Reziprozität, in dieser Form Bayern gegenüber auftrat.147 Die bayerische Regierung wiederholte in dieser Stunde der Not ältere Verfügungen, die den Vorkauf von Getreide auf dem Halm bzw. auf der Wurzel oder auf dem Felde verboten.148 Das Königreich Württemberg erließ ab Mai 1817 ein generelles Ausfuhrverbot für Getreide, Kartoffeln und die daraus gefertigten Erzeugnisse. »Die erste im Oktober 1816 erlassene Verordnung versuchte im wesentlichen, den Getreidepreis durch die Zufuhr des in öffentlichen Speichern lagernden und zusätzlich im Ausland aufgekauften Getreides zu drücken.«149 Vielerorts ergingen Aufforderungen, die Spatzen zu töten, um wenigstens diesen Konkurrenten um das Getreide zu beseitigen; für die getöteten Tiere wurden Kopfprämien gezahlt.150 Die Bundesversammlung in Frankfurt legte Mitte Juni einen Entwurf vor, in dem sie darlegte, wie sie der Not abzuhelfen gedachte. Sie beabsichtigte, innerhalb der Staaten des Deutschen Bundes freien Handelsverkehr mit allen Arten von Getreide, Hülsenfrüchten, Kartoffeln sowie mit Schlachtvieh zuzulassen. Dies war auch der Wunsch des österreichischen Staatskanzlers Fürst von Metternich. Aber Kaiser Franz I. erhob dagegen Einspruch: In Österreich war die Not dank der Zufuhr von Nahrungsmitteln aus den östlichen Reichsteilen weniger groß, Teile Böhmens und das habsburgische Italien waren von den Missernten nicht im gleichen Ausmaß getroffen worden. Österreich wollte von seinen Gütern nichts abgeben, daher wandte es sich gegen den freien Warenverkehr. In Süddeutschland kam es zu einem regelrechten Zollkrieg. Auch Bayern weigerte sich, aller Beteuerungen zugunsten eines freien Handels zum Trotz Nahrungsmittel ausführen zu lassen. Dies ging so weit, dass die Bundesgesandten in Frankfurt am Main ihre Pferde nicht mehr ordentlich füttern konnten und Graf Buol sich namens seiner Kollegen an die bayerische Krone wenden musste mit der

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

Bitte, eine Sendung Hafer, die bei Wertheim auf dem Main lag, nach Frankfurt durchzulassen.151 Es gab da und dort sinnvolle Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die erklärtermaßen zwei Zwecke verfolgten: Durch Vergabe öffentlicher Aufgaben die Kaufkraft zu stärken und zugleich beispielsweise die Verkehrswege zu verbessern, damit ausländisches Getreide leichter herangeschafft werden konnte. Derlei Arbeiten wurden nun vergeben. Die bayerische Regierung ließ jetzt im südlichen Oberfranken, zwischen Bamberg und Forchheim, die Regnitz begradigen, und zwar mit dem erklärten Ziel, nicht nur die Schiffbarkeit dieses Flusses zu ermöglichen, sondern auch »bei der herrschenden Noth eine Menge Armer zu beschäftigen«.152 Die bayerische Regierung, wie auch die Nürnberger Obrigkeit,153 erteilten Ratschläge, wie sich der Einzelne mit den vorhandenen Speisen besser selber helfen konnte. Sie empfahl, Roggenmehl mit Kohlrabi in einer Relation von drei zu eins zu mischen und daraus ein »wohlschmeckendes, nahrhaftes Brot« zu bereiten. Es wurde damals überhaupt mit vielerlei neuartigen Nahrungsmitteln experimentiert: Landauf, landab bot man Krähenfuß, Disteln und Brennnesseln feil, sie ließen sich zu wohlschmeckenden Gemüsen oder Salaten verarbeiten. Vermehrt aß man in diesen Jahren Silberdisteln. In entlegenen Bergdörfern in der Eifel aßen Verzweifelte sogar Heu und Stroh wie das Vieh – bei Verhungerten, deren Leichen nach ihrem Tod geöffnet wurden, fand man Klee im Verdauungstrakt. Dass Menschen buchstäblich verhungern ist eher selten, sie sterben sehr viel häufiger infolge des Verzehrs von unverdaulichen gefährlichen Dingen. Die Ernte 1817 Am 21.  Juli rollten in Nürnberg die ersten Erntewagen durch den Vorort St.  Johannis, begleitet von fröhlichen Schulkindern. Am 25. Juli 1817 »fuhr man den ersten Erndtewagen unter dem ansehlichen Feierlichkeiten und dem Geläute der Glocken in Wöhrd ein.«154 Die Volkskunst hat sich dieser Ernte liebevoll angenommen, vielerorts gibt es Bilder und andere Erinnerungen an diese »Ersten Erntewagen 1817«, unzählige Predigten erinnern an sie.155 Pfarrer

243

244

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Johann Friedrich Häcker hielt dazu eine Rede: »Ach, wie sehnten wir uns schon lange nach einer solchen Erndte, und mit ihr nach sorgenfreiern Tagen«, sagte er. »Wie drückend war der Mangel, der uns seit einiger Zeit unser Leben erschwerte: Wie düster die Aussichten als uns im vergangenen Winter und noch im Frühjahr die Besorgniß beunruhigte, daß wieder ein Mißjahr eintreten, die Theurung sich in Hungersnoth verwandeln, und der Jammer grenzenlos werden könnte! Wie schmachtete der arme, kraftlose Greis, die dürftige, verlassene Wittwe mit ihren vaterlosen Waisen – wie blickte so manche darbende Mutter in der Stille mit Thränen im Auge hinauf zu Gott, und dann auf ihren Säugling, dem ihre Brust keine Nahrung mehr geben konnte!«156 Auch Pfarrer Seidel hielt anlässlich des Erntefestes 1817 eine Rede. »Mit ängstlicher Erwartung schauten wir nach dem Himmel, mit sorglichen Blicken betrachteten wir die Felder, mit gespannter Aufmerksamkeit lauschten wir auf jede Kunde, die uns nah oder ferne kam […]. Um uns her die Gutachten des Mangels und der Noth. […] O vielleicht seit vielen Jahren wurde nicht von so vielen so ernstlich gebetet: Unser tägliches Brod gieb uns heute!«157 Die Überwindung der Krise hatte auch Folgen für die Empfindungen der Nürnberger Bürgerschaft gegenüber dem bayerischen Staat, dem sie nun angehörte. Als die Stadt 1806 an das Königreich Bayern gekommen war, hatte es in der patrizischen Nürnberger Führungsschicht Tränen gegeben; 1817 hingegen empfand Nürnberg sehr viel Dankbarkeit für die königliche Hilfe. Überschwenglich dankten die Zünfte der Münchner Regierung.158 Und natürlich richtete sich Dank auch an höhere Instanzen. Allerdings war diese Ernte von 1817 keineswegs überreichlich,159 so dass der Wohltätigkeitsausschuss seine Tätigkeit fortsetzte.160 Im November 1817, also kurz nach der Ernte, stand der Preis für Weizen in Nürnberg noch immer zwischen 35 und 43 Gulden pro Scheffel.161 Die Kommune wiederholte daher ihre Ermahnungen, die Flugtauben eingesperrt zu halten, damit sie nicht die junge Saat auffraßen.162 Auch wurde oder blieb es verboten, Kartoffeln zu Schnaps zu brennen.163 Erst im Jahr 1818 konnte die Kommune die städtischen Getreidemagazine wieder auffüllen.164

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

Am letzten Tag dieses denkwürdigen Jahres 1817 beschuldigte Pfarrer Seidel in seiner Pfarrkirche St. Egidien einseitig die Handelshemmnisse zwischen den Staaten für die Teuerung: »Wir klagen über nahrungslose Zeiten. Woher rühren sie? Die Völker ziehen feindselig Schranken um sich her, und verweigern sich Austausch dessen, was die milde Natur ihnen freundlich verschiedentlich dargegeben hat, oder was ihnen Kunst oder Fleiß gewähren. Hat ein solches Gefängnißleben der Herr der Natur gewollt?« Die unmittelbaren Folgen des Hungers für Geburt, Krankheit und Tod Welche Veränderungen zeigten sich im generativen Verhalten der Bevölkerung angesichts der Hungerkrise? Nahmen Krankheit und Tod sogleich sichtbar zu? Die Zahl der Erkrankten in der Stadt Nürnberg stieg nicht sehr stark an. Die erkrankten Hausarmen waren oft jahrelang bei einem öffentlich besoldeten Armenarzt »in Kur«, wie es hieß; manche von ihnen wurden täglich besucht. Der Arzt konnte auch eine Einweisung ins Krankenhaus verfügen, wenn ihm dies notwendig erschien, meist erfolgte sie ins Sebastianspital oder ins Schauhaus.165 Diese Einweisungen geschahen allerdings selten, die große Mehrzahl der Hausarmen blieb zu Hause. In einem Bericht des für Nürnberg zuständigen bayerischen Medizinalrates Dr. von Hoven vom 8. April 1817 heißt es: »Nach dem vorliegenden ärztlichen Verzeichnissen beläuft sich die Anzahl dieser Art von Kranken [sc. der Hauskranken] jährlich auf 900–1000.«166 In der zweiten Jahreshälfte 1817 mussten die Armenärzte doppelt so viele Kranke daheim versorgen wie in den Spitälern: Im Oktober 1817 befanden sich 323 Kranke in ihrer Obhut, während in den Nürnberger Spitälern nur 155 Kranke lagen.167 Der niedergelassene Nürnberger Arzt Johann Carl Osterhausen, der sich mit der Geschichte der Stadt Nürnberg ausgiebig beschäftigt hat, verfasste eine Art Stadtführer, der 1819 unter dem Titel »Neues Taschenbuch von Nürnberg. Enthaltend eine topographisch-statistische Beschreibung der Stadt« in Nürnberg erschien. Von ihm ist zu erfahren, dass in Nürnberg zwischen 1808 und 1817 die Mortalität noch immer deutlich höher war als die Natalität: 692 Geburten pro

245

246

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Jahr standen durchschnittlich 856 Todesfälle gegenüber. Ohne den Zuzug von außen wäre die Stadt also geschrumpft. Den Aufzeichnungen Osterhausens zufolge zählte Nürnberg im Jahr 1812 rund 24 600 Einwohner – die Bevölkerung war seit 1806 noch etwas geschrumpft –, die sich auf knapp 7200 Familien verteilten, jede Familie zählte also nur drei bis vier Mitglieder.168 Die Zahl der Eheschließungen ging während der Hungerkrise zurück, das entspricht alten europäischen Traditionen, dass in Krisenzeiten weniger geheiratet wird: 1816 wurden in Nürnberg 286 Ehen geschlossen, im Jahr darauf um ein Drittel weniger (196). Die Zahlen der Neugeborenen und die der Verstorbenen hielten sich in den ersten Monaten des Jahres 1817 noch die Waage, doch je näher man der Jahresmitte rückte, im Sommer also, desto größer wurde die Anzahl der Toten. Dass es in diesem Jahr mehr Verstorbene als Neugeborene gab,169 war nicht ungewöhnlich. Beides, die Zahl der Neugebornen wie die der Verstorbenen, war gegenüber den Vorjahren verschoben, stärker allerdings waren die Veränderungen auf der Geburtenseite: 1815 wurden in Nürnberg 834 Kinder geboren, 1816 waren es 779 und im folgenden Jahr 766, 1818 nur noch 672.170 Es ist nicht möglich zu sagen, ob die Zeitgenossen angesichts der Not vermehrt eine Form der Empfängnisverhütung praktizierten, oder ob nicht wenige Frauen im gebärfähigen Alter von einer Hungeramenorrhoe betroffen waren: In schweren Hungerzeiten bleibt die Periode aus, die Frauen werden zeitweise unfruchtbar. Die Zahl der Verstorbenen belief sich im Jahr 1815 auf 838, im Jahr darauf auf 902 und anno 1817 auf 956 Tote, dann fiel sie wieder ab.171 Das bedeutete einen Anstieg der Sterblichkeit um 13 Prozent innerhalb von zwei Jahren. Anders als in den Hungerjahren von 1770/72 zeigte diese Agrarkrise keinen allzu starken Anstieg der Sterblichkeit.172 Die längerfristigen Folgen der Hungersnot Was waren die längerfristigen Folgen dieser Hungersnot? Sie sind weitreichender Natur und betreffen keineswegs nur einzelne Städte oder eine Region, sie betreffen das ganze Land, eigentlich wohl den ganzen Kontinent: Da ist zunächst als unmittelbare Folge die private und öffentliche Armut, die Verschuldung der öffentlichen Hand,

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

denn die Krise von 1816/17 hat noch einmal ein gewaltiges Loch in die Kassen von Kommunen und Regierungen gerissen. Viele Projekte, die geplant – oder wenigstens erhofft – waren, mussten nun liegen bleiben. Der in Nürnberg waltende bayerische Medizinalrat Dr. von Hoven, der so lange darauf hingearbeitet hatte, dass Nürnberg ein modernes Krankenhaus bekam, das nicht sieche, alte Menschen, sondern akut Erkrankte mit heilbaren Prognosen aufnehmen sollte, wurde enttäuscht: Nach der schweren Hungersnot von 1816/17 war an die Errichtung eines neuen Allgemeinen Krankenhauses nicht mehr zu denken, denn »erstlich fehlte es zu seiner Ausführung an der Hauptsache, an Geld, und zweitens an Gebäuden, die zu Krankenhäusern hätten eingerichtet werden können«, schreibt er in seinen Erinnerungen, »so daß nun nichts weiter zu thun war, als in den bestehenden Krankenhäusern zu verbessern, soviel als möglich war.«173 Eine weitere Folge der Not war die Auswanderung. Seit 1817 fand die erste Auswanderung großen Stils aus Deutschland statt, schätzungsweise 20 000 Deutsche kehrten damals ihrer Heimat den Rücken, knapp ein Promille der deutschen Bevölkerung. Das ist nicht viel, aber doch ein erster Anfang. Auch die zweite große Auswanderungswelle, die in der Mitte der 1840er-Jahre einsetzte, war die Folge einer Hungersnot.174 Die politische Emigration begann erst nach dem Scheitern der Revolution von 1848. Auch die politische Reaktion und Repression, die kurz nach dem Ende dieser Hungersnot einsetzte, 1819 mit den Karlsbader Beschlüssen, dürfte eine mittelbare Folge der Hungersnot von 1816/17 gewesen sein. Die Hungerjahre mit ihren Bettlerheeren riefen bei den oberen Gesellschaftsschichten Unsicherheit hervor; der Anblick hungernder, verzweifelter Menschen flößte ihnen Angst ein. Ein, zwei Jahre nach dieser Hungersnot, im Sommer 1819, kam es in weiten Teilen Deutschlands zu antijüdischen Ausschreitungen, den Hep-Hep-Krawallen.175 Sind auch sie eine späte Folge der Notjahre? Hat manch ein Bauer seinerzeit sein Vieh unter Druck an einen jüdischen Händler verkauft, war das der Grund für die Ausschreitungen? Warum kamen dann diese Animositäten nicht bereits 1817 oder 1818 zum Tragen? Tatsächlich berichtete das Ansbacher Polizeikommissariat damals, dass »nicht ein einziges jüdisches Individuum […] hier« an dem »schändlichen Getreidewucher« beteiligt

247

248

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

gewesen sei.176 Die Nationalsozialisten haben die Notjahre 1816/17 mit den Juden in Verbindung gebracht, vollkommen zu Unrecht;177 die sog. Laichinger Hungerchronik, die nachzuweisen versucht, wie in Laichingen auf der Schwäbischen Alb jüdische Händler die Notlage der christlichen Bauern ausnutzten, erwies sich als eine Fälschung der NS-Zeit.178 Eine weitere Folge war die Kleinwüchsigkeit der europäischen Bevölkerung infolge der Unterernährung in den Jahren und Jahrzehnten nach 1810. Wer in dieser Zeit in die Akzelerationsphase eintrat, blieb klein, die Deutschen waren zwischen 1820 und 1850 deutlich kleiner als die Generation ihrer Väter. Zu den längerfristigen Folgen gehören auch die Reformen, die nach und infolge dieser Hungersnot durchgeführt wurden: Die Entwicklung der Landwirtschaft nahm nach 1817 einen neuen Aufschwung, weil große Geister erkannt hatten, dass sie vonnöten und möglich war. Die hohe Schule der Landwirtschaft in Weihenstephan bestand bereits seit einigen Jahren, aber die von Hohenheim (bei Stuttgart) nahm ihren Anfang infolge dieser Missernte. In der Landwirtschaft gab es nach 1817 eine Reihe von Veränderungen: Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche, Verkürzung der Brache, Übergang zu Intensivkulturen. Die Hungersnot beförderte den Anbau von nützlichen Pflanzen: Auch der Kartoffelanbau wurde von dieser Hungersnot befördert, sogar beträchtlich. Zwar gab es schon vor 1816 Anreize zu landwirtschaftlichen Reformen, die Bauernbefreiung in Preußen war eine davon, aber sie bekam von der Hungerkrise erneut einen kräftigen Impuls. 1815 machte die Ackerfläche in Preußen nur 26,5 Prozent der Gesamtfläche des Landes aus, 1849 waren es 45,2 Prozent. Im gleichen Zeitraum fiel der Anteil des Ödlandes von 40,3 auf 19,0 Prozent.179 Aber nicht nur die landwirtschaftliche Nutzfläche wurde ausgeweitet, es wurden jetzt auch vermehrt andere Früchte angebaut, nämlich ergiebigere. Den großen Vorteil der Kartoffel hatte spätestens nach der Hungersnot von 1770/72 schon Adam Smith erkannt.180 Nach 1817 stieg der Anbau von Kartoffeln in Deutschland rasch an.181 Im Jahr 1800 machte sie an der pflanzlichen Gesamtproduktion Preußens nur drei Prozent aus, aber 1840 lag dieser Anteil knapp unter 18 Prozent. Dies bedeutete eine gewaltige Stei-

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

gerung des Kalorienhaushalts der Deutschen, denn während ein Hektar mit Weizen nur acht Doppelzentner Ertrag bringt, schafft es die Kartoffel auf das Zehnfache, achtzig Doppelzentner, und der Gehalt an Kalorien beträgt das 3,6fache.182 Die Kartoffel trug ganz entscheidend dazu bei, dass die Anzahl und die Intensität der Hungersnöte nun zurückgingen. Mitte des 19. Jahrhunderts waren rund zehn Prozent der Anbaufläche Bayerns mit Kartoffeln bestanden, in der Pfalz fast die Hälfte der Wirtschaftsfläche.183 Nach 1817 fanden etliche handels- und verkehrspolitische Reformen statt, die von der Hungerkrise nachhaltig begünstigt wurden. »Ein wichtiges Motiv für die Zollvereinsbestrebungen seit 1818 ist die schwere Ernährungs- und Absatzkrise 1816/17 gewesen. […] Diese gleichermaßen aus wirtschaftlichen wie aus politischen Gründen empfahlen der Nationalökonom Friedrich List und der von ihm 1819 gegründete Deutsche Handels- und Gewerbeverein, die wirtschaftspolitischen Schranken innerhalb ganz Deutschlands zu beseitigen.«184 Einen weiteren Reformimpuls bekamen der Straßenbau und der Binnenhandel in Deutschland. Im Verlauf dieser Notjahre wurde schmerzlich erkannt, wie schlecht die Straßen waren. Infolge der nassen Witterung waren sie aufgeweicht, und selbst mit vielen Pferden als Vorspann gab es vielerorts kein Durchkommen, die Zugtiere versanken samt ihrer Ladung im Morast. 1816/17 rächte es sich, dass die Regierungen Mitteleuropas den Straßenbau bisher so kläglich vernachlässigt hatten und man noch immer kaum schneller reiste als zu Zeiten Julius Cäsars. Einige absolutistische Staaten hatten zwar schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts damit begonnen, ihre Straßen zu verbessern, sie zu »Chausseen« auszubauen, zu Kunststraßen mit einem festen Untergrund aus Schotter, breit genug, den Gegenverkehr vorbeizulassen. Sie hatten zugleich versucht, diese neuen Straßen witterungsbeständiger zu machen, indem sie an den Seiten Gräben anlegen ließen. Allein, selbst Preußen unterhielt im Jahr 1816 Chausseen in einer Länge von gerade knapp 4000 (3938) Kilometern.185 In Süddeutschland war diesbezüglich noch viel zu wenig geschehen. Die Straßen befanden sich auch nach 1815 noch in einem jämmerlichen Zustand, und das war auch ein wichtiger Grund, warum das meeresferne Oberdeutschland so

249

250

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

viel heftiger von der Hungersnot betroffen war als Niederdeutschland, denn der Norden hatte dank der Verkehrswege und Flüsse besseren Zugang zu den Getreidemärkten in Osteuropa und in Übersee. Oberdeutschland war viel mehr abgeschnitten. Auf den neuen Straßen in Westeuropa konnten hingegen fünf Pferde ebensoviel Last befördern wie vordem 15 oder gar 25.186 Die Revolution im Transportwesen, die 1835 in der Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahn kulminierte, ermöglichte den schnellen Transport von Nahrungsmitteln, so dass Agrarkrisen sich nicht mehr als so verhängnisvoll erweisen konnten. Unmittelbar nach der Hungersnot von 1817 hob das Königreich Preußen seine Binnenzölle auf und wurde somit zu einem einheitlichen Zollgebiet. Fünfzehn Jahre später vereinigten sich die meisten deutschen Staaten im Zollverein. Eine der politischen Folgen war der Niedergang des politischen Zentralismus in Bayern. Das neue Königreich hatte unter seinem allmächtigen Herrn Maximilian von Montgelas die Zentrale gewaltig gestärkt; doch in der Krise erkannte die politische Zentrale, dass es nur gut wäre, wenn auch die Peripherie mithelfen würde, die Notlage zu überwinden. Die Hungersnot begünstigte wohl auch den Sturz des ersten bayerischen Ministers, des Grafen von Montgelas, der im Februar 1817 seine Ämter abgeben musste. Die Hungerkrise half im folgenden Jahr 1818 die kommunale Selbstverwaltung wiederherzustellen.187 Der subjektiv empfundene Hunger ist von der Geschichtsschreibung kaum zu erfassen, und selbst die Nahrungsmittelpreise können nur als ein oberflächlicher Indikator gedeutet werden. Doch gibt es heute Untersuchungen und Schätzungen über das Realeinkommen der Deutschen – also das Einkommen gemessen an dem, was man dafür kaufen konnte. Nimmt man das letzte Jahr vor dem Ersten Weltkrieg als Maßstab (1913 = 100), dann ergibt sich, dass das Realeinkommen im Jahr 1817 wenig mehr als ein Viertel von dem von 1913 betrug (1817 = 27).188 Oder etwas anschaulicher gesagt: Die vierköpfige Familie, mit einem Arbeiter oder Kleinbauern als Oberhaupt  – wie es sie in allen Teilen Deutschlands in so großer Zahl gab –, die 1913 am Abend zwei Bratheringe und einen Haufen Kartoffeln verspeiste, musste sich 1817 mit einem halben Brathering und einer deutlich kleineren Kartoffelmenge begnügen. Und nicht jede

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

arme Familie konnte sich im Jahr 1913 am Abend zwei Bratheringe leisten. Das äußerst niedrige Einkommensniveau von 1817 wurde im 19. Jahrhundert nicht wieder erreicht, auch nicht annähernd. In den 1840er-Jahren, den legendären Hungerjahren, als die Dinge schlecht genug standen und ganz Europa auf eine Revolution zutrieb, fiel dieser Indexwert niemals unter 46 (1846). Anders gesagt: Selbst in den schweren Notzeiten der 1840er-Jahre war das Realeinkommen fast doppelt so hoch wie 1817. Was Gesellschafts- und Kunstgeschichte so verklärend als »Biedermeier« bezeichnen,189 war in Wirklichkeit ein Zeitalter der Massenarmut. Die Zeitgenossen waren sich dessen bewusst, Hunger war ihnen wohlvertraut.190 Die Worte aus dem »Vaterunser«: »Unser tägliches Brot gib uns heute« hatten für sie eine sehr reale Bedeutung, denn sie wussten nur zu gut, wie sehr sie von den Naturgewalten abhängig waren.

1

2

3 4

5

So stiegen z. B. die Schulden Bayerns im Zeitraum 1801 bis 1815 von ca. 30 auf rund 200 Millionen Gulden. Wolfgang Zorn, Die wirtschaftliche Entwicklung Bayerns unter Max I. Joseph, 1799–1825, in: Hubert Glaser (Hg.), Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat. Beiträge zur bayerischen Geschichte und Kunst 1799–1825 (Wittelsbach und Bayern 3/1), München 1980, S.  282 f. Vgl. Manfred Botzenhart, Reform, Restauration, Krise. Deutschland 1789–1847 (Neue Historische Bibliothek NF 252), Frankfurt a. M. 1985, S. 96. Die Literatur dazu ist umfangreich, siehe bes. Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Massenarmut im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg/Berlin 1974, S.  302–309; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen Deutschen Doppelrevolution 1815–1845/49, München 1987, S. 27–31, 794 f. Anm. 4. Vgl. Hans Rosenberg, Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, Göttingen 1974, S. XVIII. Der im nördlichen Böhmen aufgewachsene Mediziner Carl (von) Rokitansky (1804–1878) schreibt in seinen Lebenserinnerungen, Zur Erinnerung an die Feier des siebzigsten Geburtstages Professors Carl Rokitansky’s am 18. Februar 1874, Wien 1874, S.  15, er habe »die Theuerungsjahre 1817 und 1818 erlebt, und dabey Manches vom Übermuthe des reichen Bauers gesehen«. Aber solche Stimmen bilden die Ausnahme. Vgl. Wilhelm Abel, Landwirtschaft 1350–1500, in: HDWSG, hg. von Hermann Aubin / Wolfgang Zorn (künftig: HDWSG), Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 312 f.

251

252

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 6 So z. B. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Zweiter Teil: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen, Ndr. Königstein/ Ts. 1981, S. 172–174; Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 2: Monarchie und Volkssouveränität, Ndr. München 1987, S. 217; Reinhard Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, 1815–1871 (Deutsche Geschichte 8, hg. von Joachim Leuschner), Göttingen 1984, S. 54; Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 7), Stuttgart 31981, S. 132 f., 136, 299, 322. 7 Siehe z. B. G. v. Gülich, Geschichtliche Darstellung des Handels, der Gewerbe und des Ackerbaus, Bd.  2, Jena 1830, S.  357; Sartorius von Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Jena 21923, S. 35–38. 8 So z. B. Adolf Spamer, Bairische Denkmale aus der »Theueren Zeit« vor hundert Jahren, in: Bayerische Hefte für Volkskunde 1916, S. 195–260; Ludwig Eisen, Ein Erntefest vor 100 Jahren, in: MVGN 22 (1918), S. 298–302; Ernst Mummenhoff, Erntefest in Wöhrd und anderswo im Jahre 1817, in: ebd., S.  302 f.; Vom Teuerungs- und Notjahr 1817, in: Jahrbuch des Vereins AltRothenburg 1917–1919, Rothenburg 1919, S.  18–29; Max Heuwieser, Eine Volksspeiseanstalt in Passau vor hundert Jahren, in: Niederbayerische Monatsschrift 6 (1917), S. 81–84. 9 Siehe Hugo Weidenhaupt, Von der französischen zur preußischen Zeit (1806–1856), in: Düsseldorf. Geschichte von den Ursprüngen bis ins 20. Jahrhundert, Bd. 2: Von der Residenzstadt zur Beamtenstadt (1614–1900), Düsseldorf 1988, S. 350. 10 Vgl. Wilhelm Sandkaulen, Das Notjahr 1816/17 mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse am Niederrhein, Diss. phil. Düsseldorf 1927. 11 John D. Post, The Economic Crisis of 1816/17 and its Social and Economic Consequences, in: Journal of Economic History 30 (1970), S. 248–250; ders., A Study in Meteorological and Trade Cycle History. The Economic Crisis following the Napoleonic Wars, in: Journal of Economic History 34/2 (1974), S. 317–325. 12 Henry u. Elizabeth Stommel, The Year without  a Summer, in: Scientific American, Juni 1979, S. 134–140, in dt. Sprache abgedruckt in: Vulkanismus. Naturgewalt, Klimafaktor und kosmische Formkraft, mit einer Einführung von Hans Pickler, Heidelberg 21988, S. 128–135. 13 So z. B. Hartmut Steger, Das Hungerjahr 1817 im Ries, in: Rieser Kulturtage, hg. vom Verein Rieser Kulturtage, Bd. 7/I (1988), S. 294–316; Rainer Wirtz, Der »ohnehin« notleidende Odenwald, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 15 (1985), S. 39–44. 14 Al Gore, Wege zum Gleichgewicht. Ein Marshallplan für die Erde, Frankfurt a. M. 41992, S. 72–87. 15 John D. Post, The Last Great Subsistence Crisis in the Western World, Baltimore 1977. 16 Vgl. Wolfgang von Hippel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1800 bis 1918, in: Handbuch der Geschichte Baden-Württembergs, Bd.  3: Vom Ende des

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

17 18 19 20 21

22

23

24

25 26

Alten Reiches bis zum Ende der Monarchien, hg. von Hansmartin Schwarzmaier, Stuttgart 1992, S. 502, 508, 517, 531, 609, 611 Anm. 94. Abel, Massenarmut (wie Anm. 2), bes. S. 33–42. Rainer Mertens, Johannes Scharrer. Profil eines Reformers in Nürnberg zwischen Aufklärung und Romantik (Nürnberger Werkstücke 57), Nürnberg 1996, bes. S. 74–81. So z. B. in Rudolf Endres / Martina Fleischmann, Nürnbergs Weg in die Moderne. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Nürnberg 1996, S. 17. Gerald Müller, Hunger in Bayern 1816–1818. Politik und Gesellschaft in einer Staatskrise des frühen 19.  Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften), Frankfurt a. M. 1998. So insbes. aus dem Stadtarchiv Nürnberg (künftig: StadtAN) C 1 (=Lokalkommissariat), C 2 (=Polizeidirektion), C 8 (=Burgfrieden), C 23/I (=Krankenhausakten, allgemeine), E 18 (Familienarchiv Merkel), F 2 (= Amberger Stadtchronik). Siehe z. B. Die Memoiren des Karl Heinrich Ritters von Lang (Bibliotheca Franconica, Bd. 10), Bd. 2, Ndr. Erlangen 1984, S. 273–275; oder die Autobiographie des berühmten Nürnberger Theologen Gottlieb Adolf Harless, Bruchstücke aus dem Leben eines süddeutschen Theologen, Bielefeld/Leipzig 1872. So z. B. die Witterungsaufzeichnungen »Auszüge des meteorologischen Tagebuches vom Professor [P. Placidus] Heinrich in Regensburg«, abgedruckt im Journal für Chemie und Physik, Bd. 16 bis 18, Nürnberg 1816/17, und das Buch des Rothenburger Landrichters Lic. Franz Haecker, Ueber die Getreide Theuerung in den Jahren 1816 und 1817 und die dagegen in Vorschlag und Anwendung gebrachten Mittel, Nürnberg 1818. Dieser nennt, ganz zutreffend, drei Ursachen der Teuerung: 1. Mangel an Vorräten (dank Krieg und anderer Wirren), 2. die Witterung, also den Hagel und die übergroße Nässe des Jahres 1816, 3.  übermäßiger Verbrauch an Getreide und Kartoffeln für Branntweinbrennen (ebd., S. 27). Diesem zufolge wurde seinerzeit in normalen Jahren 1/24 der Getreide- (bzw. Korn-)Ernte und 1/10 der Kartoffelernte für Branntwein verwendet. Infolge des langen Krieges und der Truppendurchmärsche war bis 1815 der Branntwein aufgebraucht. (Ebd., S.  35.) Er wusste auch, dass zumindest Italien, Österreich, ganz Deutschland, Frankreich und Spanien gleichermaßen von der Teuerung betroffen waren. So z. B. Leo Günther, Würzburger Chronik. Personen und Ereignisse von 1802–1819, Bd. 3, Würzburg 1925, S. 331–333. Siehe auch das Buch des späteren Würzburger Ersten Bürgermeisters Wilhelm Joseph Behr, Das Recht und die Pflicht der Regierungen in Beziehung auf die gegenwärtige Theurungsangelegenheit, Würzburg 1817, bes. 22 f. Vgl. Heinz Gollwitzer, König Ludwig I. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, München 1986, S. 232. Siehe Jan de Vries, Measuring the Impact of Climate on History. The Search for Appropriate Methodologies, in: Journal of Interdisciplinary History 10 (1980), S. 599–630. Weltweit gibt es etwa 550 tätige Vulkane, die im Verlauf der Frühen Neuzeit das Klima verändert haben könnten. Einer von ihnen, der Ätna, der höchste

253

254

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

27

28 29

30 31

32

33

34

35

Vulkan Europas, brachte im 17. Jahrhundert mehr Ausbrüche hervor als in jedem anderen Zeitalter. Zwischen 1603 und 1620 brodelte er ständig, gegen Jahresmitte 1669 kam es zum verheerendsten aller bisher bekannten Ausbrüche, und im Jahr 1693 brach er neuerlich aus und zerstörte in diesem einen Jahr 54 Städte und 300 Dörfer und tötete mehr als 60 000 Menschen. Ilja Mieck, Wirtschaft und Gesellschaft Europas von 1650 bis 1850, in: Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4, hg. von Ilja Mieck, Stuttgart 1993, S. 12–41. Thomas Stamford Raffels, Die Vulkane auf Java, Elberfeld 1825, S.  25–41. Siehe auch Heinrich Zollinger, Die Besteigung des Vulkanes Tambora auf der Insel Sumbawa und Schilderung der Erupzion desselben im Jahr 1815, Winterthur 1855, S. 13–18. Raffles, Vulkane (wie Anm. 27), S. 25–32. Siehe Kay Heyckendorf / Dieter Jung, Tambora Volcano, Sumbawa Island, Indonesia. A Comparison of Ancient and Modern Volcanic Products, in: Mitteilungen des Geologisch-Paläontol. Instituts der Universität Hamburg, Heft 73 (Hamburg Dez. 1992), bes. S. 4–10. Dazu H. H. Lamb, Klima und Kulturgeschehen. Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte, Reinbek 1989, S. 330 f. Stommel, The Year without  a Summer (wie Anm.  12), S.  128, schreiben von 150 Kubikkilometern. Desgleichen Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 23 (1987), S. 191, unter dem Eintrag: »Tambora«. Diese Angabe bestätigte die Redaktion des Bibliographischen Instituts zu Mannheim (W. Reimer) in einem Brief vom 19.9.1985 an den Verf. Dazu Peter Francis / Stephen Self, Der Ausbruch des Krakatau, in: Vulkanismus (wie Anm. 12), S. 56–69. Siehe auch Post, The Economic Crisis (wie Anm. 11), und Post, A Study in Meteorological and Trade Cycle History (wie Anm.  11), S.  317 ff. Über die Hungerkrise von 1816/17 berichtet umfassend Post, The Last Great Subsistence Crisis (wie Anm. 15). Der Mt. Tambora schleuderte 1815 fünfmal soviel Gestein und Asche in die Luft wie der Krakatau 1883, schreibt Edward O. Wilson, Der Wert der Vielfalt. Die Bedrohung des Artenreichtums und das Überleben des Menschen, München/Zürich 1992, S.  37. Siehe auch Post, The Economic Crisis (wie Anm. 11), und Post, A Study in Meteorological and Trade Cycle History (wie Anm.  11), S.  317 ff. Vgl. Hans-Ulrich Schmincke, Vulkanismus, Darmstadt 3 2010, bes. S. 40–44, 221. Vgl. C. D. Schönwiese, Klimaschwankungen, Berlin/Heidelberg/New York 1979, S. 130 f.; David M. Pyle, How Did the Summer Go? in: Nature 393 (Juni 1998), S. 415 f.; K. R. Briffa u. a., Influence of Volcanic Eruptions on Northern Hemisphere Summer Temperature Over the Past 600 Years, in: Nature 393 (Juni 1998), S. 450–454; Shanaka L. de Silva / Gregory A. Zielinski, Global Influence of the AD 1600 eruption in Huaynaputina, Peru, in: Nature 393 (Juni 1998), S. 455–458; Horst Rademacher, Der kälteste Sommer der Neuzeit, in: FAZ v. 1.7.1998. Unter dem Begriff ›Schmetterlingseffekt‹ erörtert man seit Kurzem in den Naturwissenschaften die Frage, ob der Flügelschlag eines Schmetterlings in

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

36 37 38 39

40 41 42 43 44

45

46

Ostasien theoretisch der auslösende Impuls für einen Wirbelsturm in der Karibik sein könnte. Brigitte Röthlein, Mare Tranquillitatis, 20. Juli 1969. Die wissenschaftlich-technische Revolution (20 Tage im 20. Jahrhundert, hg. von Norbert Frei / Klaus-Dietmar Henke / Hans Woller), München 1997, S. 23. Hermann Flohn, Das Problem der Klimaänderungen in Vergangenheit und Zukunft, Darmstadt 1985, S. 35. Vulkanausbrüche können Klima abkühlen, in: FAZ v. 15.6.1999. Clifford Mass / Stephen H. Schneider, Statistical Evidence on the Influence of Sunspots and Volcanic Dust on Long-term Temperature Records, in: Journal of Atmospheric Sciences 34 (1977), S. 1995–2004. Auf den Zusammenhang zwischen Vulkanausbrüchen und kalter Witterung hat schon vor gut zweihundert Jahren, nach der großen Witterungskrise von 1770/72, der Amateurphysiker und Naturforscher, Staatsmann und Diplomat Benjamin Franklin hingewiesen. Es haben sich vor allem seit den 1780er-Jahren die Anzeichen dafür gehäuft, dass ein solcher Zusammenhang besteht, dabei sind freilich auch noch andere kausale Faktoren zu berücksichtigen. Vgl. Friedrich Schnurrer, Chronik der Seuchen in Verbindung mit den gleichzeitigen Vorgängen in der physischen Welt und in der Geschichte der Menschen, Theil 2, Tübingen 1825, S. 527 f. Walter Köppen, Ueber mehrjährige Perioden der Witterung, in: Zeitschrift der österreichischen Gesellschaft für Meteorologie 8 (1873), S. 260. Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier vom 10.2.1817, S. 3. Post, A Study in Meteorological and Trade Cycle History (wie Anm.  11), S. 325. Trotzdem waren die Folgen der schlechten Ernte für Großbritannien weniger verheerend als für den Kontinent, denn England besaß gute Beziehungen nach Übersee, die Meere standen ihm frei, und es konnte bereits mit industriell gefertigten Waren für die Lebensmitteleinfuhren bezahlen. Auch die Verteilung im Inneren bereitete weniger Schwierigkeiten, denn England besaß bereits ein gutausgebautes Netz von Kanälen und befestigten Straßen. Vgl. Stommel, Das Jahr ohne Sommer (wie Anm. 12), S. 128–135. »Mailand, den 5 Juni. […] Gletscher wachsen, fortschreitende Erkaltung der Erde glaubt man zu beobachten. Zunahme der Niederschlagsmengen seit 1764–84 = 31 Zoll auf 38 Zoll für 1800–1814. Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier v. 24.6.1816. Christian Pfister, Veränderungen der Sommerwitterung im südlichen Mitteleuropa von 1270–1400 als Auftakt zum Gletscherhochstand der Neuzeit, in: Geographica Helvetica Nr. 4 (1985), S. 191. An den Gletschern zeigte sich die Abkühlung am deutlichsten, hier ist sie am leichtesten nachzuweisen. Sie wuchsen und flossen weit ins Tal hinab bis unter 1000 m, sodass die Hirten gezwungen waren, das Weidevieh abzutreiben, ganz besonders in den Jahren 1767 bis 1771 und zwischen 1813 und 1816. Am genauesten ist, vom Standpunkt des Klimahistorikers, der Grindelwaldgletscher untersucht; an ihm lagen die Maxima seiner Ausbreitung zwischen 1593 und 1640, dann in den Jahren um 1776, zwischen 1820 und 1856; Nebenmaxima wurden gegen 1669, 1719 und 1743 erreicht.

255

256

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 47 Zum Verlauf der Hungersnot in Frankreich siehe André Jardin / Albert J. Tudesq, La France des notables. L’évolution générale 1815–1848 (Nouvelle Historie de la France contemporaine 6), Paris 1973, S. 51–54; Maurice Flamant / Jeanne Singer-Kerel, Crises et récessons économiques, Paris 1974, S. 12–14. 48 Post, A Study in Meteorological and Trade Cycle History (wie Anm. 11), S. 331 f. 49 Jacob Jameson, Bericht über die Cholera-Seuche, welche das Gebiet der Präsidentschaft von Bengalen in den Jahren 1817, 1818 und 1819 heimgesucht hat, Stuttgart/Tübingen 1832, S. 9, 14. 50 Die Tochter des Nürnberger Marktvorstehers Paul Merkel berichtete aus München in ihren Briefen an ihre Mutter in Nürnberg gelegentlich über das Wetter. So heißt es in den Briefen aus München an ihre Mutter K. Merkel: »bey dem häßlichen naßkalten Wetter (Bf. v. 17.5.1816) StadtAN E 18 Nr. 1372, Bl.  23 r.; »Das jetzige Wetter ist nicht gut« (Bf. v. 31.5.1816), ebd. Bl.  24 r; »beständige schnelle Wechsel der Luft von Hitze zur Kälte« (16.6.1816), ebd. Bl. 27 r. 51 Auszug des meteorologischen Tagebuchs vom Professor Heinrich in Regensburg, in: Journal für Chemie und Physik, Bd.  17, Nürnberg 1816, S.  368.  – Über Nürnbergs Schwesterstadt heißt es in der Chronik der Stadt Fürth. Von Dr. Fronmüller, Fürth 1887, Ndr. Neustadt/A. 1985, S. 226: »Die große Nässe des Sommers 1816, der fast beständige Regen hatte allgemeinen Mißwachs zur Folge. Zuletzt kam noch ein Hagelschlag hinzu, der auch in nächster Nähe in Fürth die Fluren […] kurz vor der Ernte verwüstete.« 52 Pfister, Veränderungen der Sommerwitterung (wie Anm. 46), S. 191. 53 Günter Moltmann (Hg.), Aufbruch nach Amerika, Tübingen 1979, S. 47. 54 Die württembergische Weinernte nahm seit 1811 beständig ab: In diesem Jahre betrug sie noch 16 482 Eimer, 1813 nur ein Drittel davon, 1814 halbierte sie sich erneut, auf 2411 Eimer, 1815 machte sie 2097 Eimer aus und 1816 sage und schreibe 654 Eimer. Die Preise für Wein schnellten in die Höhe. Über die Weinerträge vgl. Hippel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1800 bis 1918, in: Handbuch der Geschichte Baden-Württembergs (wie Anm. 16), S. 502; Wilhelm Lauer / Peter Frankenberg, Zur Rekonstruktion des Klimas im Bereich der Rheinpfalz seit Mitte des 16. Jahrhunderts mit Hilfe von Zeitreihen der Weinquantität und Weinqualität, Stuttgart/New York 1986, bes. S. 19–22. 55 Sandkaulen, Notjahr (wie Anm. 10), S. 4. 56 Ebd., S. 5. 57 Ebd., S. 13 f. 58 »Würzburg, den 28. Junj. Aus den nördlichen Gegenden des Großherzogtums Würzburg gehen, wie aus vielen Ländern Deutschlands, traurige Nachrichten in Hinsicht der Witterung fortwährend ein. In den Thälern des Rhöngebirges verzögerten sich die Arbeiten der Felder und die Aussichten auf die Erndte bei Menschengedenken noch nicht so sehr als in diesem Jahre. Anfänglich fehlte es wegen des späten Frühlings an Futter, und das Vieh litt Mangel an gesunder Nahrung; nun läßt die fortdauernde Nässe Krankheiten für den Viehstand besorgen. Der Winterschnee liegt noch an vielen Orten auf dem Rhöngebirge: eine ungewöhnliche Erscheinung, bei anhaltendem Regen und Nordwind. Die Nacht vom 5. auf den 6. Juni war durch Blitze und

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

59 60

61 62 63 64 65 66

67 68 69 70

71

Regen fürchterlich; es war viel Schnee gefallen«. Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier v. Juni 1816. Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier v. Juni 1816. Journal für Chemie und Physik, hg. von J. G. Schweigger, Bd. 7, Nürnberg 1813. Goethe und Knebel machten Aufzeichnungen über das Wetter, bei Goethe heißt es unter dem 28. Juni 1816: »Erster schöner Tag.« Vgl. Erich Trunz, Ein Tag aus Goethes Leben. Acht Studien zu Leben und Werk, München 1999, S. 37 Anm. 60. Haecker, Ueber die Getreide Theuerung (wie Anm. 23), S. 31 f. Johannes Bischoff, Erlangen 1790 bis 1818, in: Erlangen. Von der Strumpferzur Siemens-Stadt. Beiträge zur Geschichte Erlangens vom 18. zum 20. Jahrhundert, hg. von Jürgen Sandweg, Erlangen 1982, S. 99. Vgl. Peter Fabian, Erwärmung läßt die Pflanzen sprießen, in: SZ v. 15.6.1998. Dietrich Saalfeld, Lebensverhältnisse der Unterschichten Deutschlands im 19.  Jahrhundert, in: International Review of Social History 29 (1984), S. 215–253, Zit. S. 215. Staatsrat [Joseph] von Hazzi, Betrachtungen über Theuerungen und Noth der Vergangenheit und Gegenwart, München 1818, S. 77. Neues Taschenbuch von Nürnberg. Enthaltend eine topographisch-statistische Beschreibung der Stadt, hg. von Carl Mainberger, Nürnberg 1819, S. 96 f. Die 1816/17 gehandelte Menge an Roggen fiel von 15 769 Scheffel (1811/12) auf 10 114 Scheffel, die an Weizen von 19 765 auf 16 697, die Gerste von 9515 auf 3400 Scheffel; Heidel (d. h. Buchweizen) fiel von 136 auf 27 Scheffel. Allerdings wurde 1816/17 mehr Hafer gehandelt: 16 338 Scheffel gegenüber 14 780. Wilhelm Roscher, Ueber Kornhandel und Theuerungspolitik, Stuttgart/Tübingen 31852, S. 3, 5. Siehe Bernd Roeck, Bäcker, Brot und Getreide in Augsburg. Zur Geschichte des Bäckerhandwerks und zur Versorgungspolitik der Reichsstadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Sigmaringen 1987, S. 75. Bischoff, Erlangen 1790 bis 1818 (wie Anm. 62), S. 99. Johannes Scharrer, Bildliche Darlegung des einhundertjährigen Standes und Ganges der Kornpreise in der Stadt Nürnberg vom Jahre 1744 bis 1843, Nürnberg 1843. Für ganz Bayern nennt John D. Post, Famine, Mortality, and Epidemic Disease in the Process of Modernization, in: Economic History Review 29 (1976), S. 16, Tab. 1, eine Steigerung der Getreidepreise (1815 = 100) auf 301 bzw. sogar auf 371 im Juni 1817, 17 Tab. 2. Zu weiteren Preisvergleichen siehe Moritz J. Elsas, Umriss einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, Teil B, Leiden 1949, bes. S. 127, 474. In Rothenburg ob der Tauber stiegen die Preise für Korn von 12 fl. 13 kr. im März 1816 auf 62 fl. 9 kr. im Juni 1817. Uebersicht über die Preisverhältnisse der Jahre 1816, 1817 und 1818, in: Vom Teuerungs- und Notjahr (wie Anm. 8), S. 28 f., nennt bezeichnenderweise etliche Lebensmittelpreise, nicht jedoch die für Kartoffeln. In München erreichte der Weizenpreis 1817 eine Höhe von 73 fl. 30 kr. Heinz Schelle, Chronik eines Bauernlebens vor zweihundert Jahren, Rosenheim 1988, S. 141.

257

258

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 72 Die Übersicht Nr. 21 von Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 28, zeigt, dass der Jahresdurchschnittspreis (1913 = 100) im Jahr 1817 mit 161,4 am höchsten liegt, 1816 lag er bei 108,8. Der Preis betrug reichsweit 1817 für Roggen 158, Weizen 189, Gerste 167, Hafer 110. In den 1840er-Jahren erreichte der Gesamtdurchschnitt der Getreidepreise in Deutschland hingegen nur einen Wert von 124,6 (1847), war also um fast ein Viertel niedriger als 1817. Weniger steil verlief der Anstieg der Preise für Kartoffeln; allerdings waren Kartoffeln 1816 noch nicht sehr weit verbreitet. Zu den Lebenshaltungskosten siehe auch Rainer Gömmel, Realeinkommen in Deutschland. Ein internationaler Vergleich (1810–1914) (Vorträge zur Wirtschaftsgeschichte, hg. von Hermann Kellenbenz u. a., Bd. 4), Nürnberg 1979, S. 27. 73 Mertens, Johannes Scharrer (wie Anm. 18), S. 74. Zu den Gewichten in Nürnberg, S. 356 f. 74 Zu seiner Person siehe Christine Sauer, ›Amberger, Georg Paul‹, in: Stadtlexikon Nürnberg, hg. von Michael Diefenbacher / Rudolf Endres, Nürnberg 1999, S. 67. 75 StadtAN F 2 (Amberger Chronik), Bd. 1, 106: »Die höchste Theurung Ao 1817 war in der Mitte Juli, wo das 2 Xr [Kreuzer] Wecklein 2 Loth 1 Quint und der 12 Xr. Laib Brot 1 lb. 3 Loth gewogen hat.« Zum Vergleich: Im Oktober 1809 wog die 4-Kreuzer-Wecke in Lauf 18 Lot. StadtAN C 2 Nr. 757 (30.9.1809). 76 Vgl. Gerhard Hirschmann, Die ›Ära Wurm‹ (1806–1818), in: Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, hg. von Gerhard Pfeiffer, München 1971, S. 359–366. 77 Haecker, Ueber die Getreide Theuerung (wie Anm. 23), S. 24. 78 StadtAN F 2, Bd. 1, zwischen 106 und 107 eingeklebt. 79 Walter Demel, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08–1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära der ersten Phase des Königreiches Bayern, München 1983, S. 82–84. 80 Der berühmte Theologe Gottlieb Adolf v. Harless, der im November 1806 in einem großbürgerlichen Nürnberger Haus geboren wurde und dort aufwuchs, schreibt in seiner Autobiographie, Bruchstücke aus dem Leben eines süddeutschen Theologen (wie Anm. 22), S. 15, über einen Bediensteten, es sei das Gerücht im Hause umgegangen, »daß er nämlich in der theuren Zeit 1816/17 zur Stillung seines Hungers altes Leder gesotten und verspeist habe. Dies hielt ich jedoch nur für Spott auf seinen sehr beträchtlichen Appetit, denn wir hatten zu jener Zeit genug russisches Getreide im Hause, und die Großmutter ließ niemand hungern«. 81 Insgesamt unterlagen die Viktualien seinerzeit einer strengen Kontrolle der Obrigkeiten. Vgl. StadtAN C 2 Nr. 724. 82 StadtAN C 2 Nr.  297, Bl.  19. Vgl. Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 18.10.1816, 995; StadtAN C 2 Nr. 765. 83 StadtAN C 2 Nr. 741 (29.11.1816). 84 StadtAN C 2 Nr. 741 Bl. 100 (12.12.1816). 85 StadtAN C 2 Nr. 297, Bl. 46; abgedruckt in: Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 1816, S. 1090.

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.« 86 87 88 89 90 91 92 93

94 95 96

97

98 99

100

101 102

StadtAN C 2 Nr. 297 (2.11.1816). Vgl. StadtAN C 2 Nr. 741, Bl. 34. StadtAN C 2 Nr. 297, Bl. 46–48. StadtAN C 2 Nr. 297 (20.1.1817). G. E. F. Seidel war seit 1802 Diakon in St. Egidien, 1817 wurde er hier Pfarrer. Seidel war ein sozial engagierter Geistlicher, er gründete 1813 die Maximilians-Heilungsanstalt für arme Augenkranke. StadtAN C 2 Nr. 297, Bl. 20–23. StadtAN C 2 Nr. 754, Bl. 4; Nr. 745 Bl. 1. StadtAN C 2 Nr. 333 (o. D.). Holz war in Nürnberg das wichtigste Heizmittel bis über die Jahrhundertmitte hinaus, im Allgemeinen Krankenhaus Nürnberg wurde bis 1864 mit Holz geheizt. Vgl. StadtAN C 23/I Nr. 114, Bl. 8; Lorenz Geist, Das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Nürnberg in den ersten zwanzig Jahren seines Bestehens 1845/46 mit 1864/65. Vom statistischen Standpunkt dargestellt, Nürnberg 1866, S. 7 f. Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 1817, S. 23. StadtAN C 2 Nr. 350 (o. D.). Dazu Renate Reichel, Die Gesellschaft zur Beförderung vaterländischer Industrie. Eine patriotische Gesellschaft in Nürnberg, Zulassungsarbeit Universität Erlangen-Nürnberg 1963; Erich Pilatz, Das Armenwesen der Stadt Nürnberg von 1806–1869, Diss. rer. pol. Universität Erlangen 1923, bes. S. 74–77; Gesellschaft zur Beförderung der vaterländischen Industrie (Hg.), Die Feier des fünfundzwanzigsten Stiftungstages der Gesellschaft für vaterländische Industrie, veranstaltet am 25. August 1817, Nürnberg 1817. Siehe Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Bd. 26), Neustadt/A. 1983, S. 181. StadtAN C 2 Nr. 350 (o. D.). Ein etwas anderes Rezept der Rumfordsuppe, vermutlich aus einem anderen Ort, ist abgedruckt in der kleinen Biographie von Egon Larsen, Graf Rumford. Ein Amerikaner in München, München 1961, S. 91. Siehe auch Bärbl Pöhlmann, Graf Rumford in bayerischen Diensten (1784–1798), in: Zs. f. bay. Landesgesch. 54 (1991), S. 369–433. Abel, Massenarmut (wie Anm. 2), S. 322. Kanzelrede gehalten am letzten Abend des Jahres 1816 in der Stadtpfarrkirche zu St. Aegidien in Nürnberg von M. Gotthold Emmanuel Friedrich Seidel, Nürnberg 21817, S. 8 f. – Kanzelpredigten wurden damals nicht selten gedruckt, damit die Gläubigen sie – in dieser Zeit des intensiven Lesens – zuhause nachlesen konnten. Der schwäbische Dichter Ludwig Uhland verfasste einen »Neujahrsgruß 1817«: »Wer redlich hält zu seinem Volke, / Der wünsch ihm ein gesegnet Jahr, / Vor Mißwachs, Frost und Hagelwolke / Behüt uns aller Engel Schar.« Kanzelrede (wie Anm. 99), S. 15. Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 1817, 9. Auch in den folgenden Ausgaben des Nürnberger Intelligenzblattes sind immer wieder die Gewichte der verschiedenen Brotsorten vermerkt.

259

260

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128

129 130 131 132

Ebd., S. 55. Ebd., S. 127. Ebd., S. 459. StadtAN C 2 Nr. 1597. Siehe auch ebd., Nr. 297, Schreiben Wurm an Lokalkommissariat vom 15.1.1817. StadtAN C 2 Nr. 297 (unpaginiert, o. D.). Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 1817, S. 100. StadtAN C 2 Nr. 297 (unpaginiert). StadtAN C 2 Nr. 297 (22.1.1817). StadtAN C 2 Nr. 299 (o. D.). StadtAN C 2 Nr. 297 (21.1.1817). Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 1817, S. 441. StadtAN C 2 Nr. 299 (8.4.1817). Ebd., S. 371 f. StadtAN C 2 Nr. 765, Bl. 29. Mertens, Johannes Scharrer (wie Anm. 18), S. 77. StadtAN C 2 Nr. 743, Bl. 1. Im ersten Quartal 1815 wurden mehr als 8000 Scheffel zugeführt, 1816 sogar rund 9500 Scheffel, 1817 hingegen nur rund 6600 Scheffel. StadtAN C 2 Nr. 299 (13.4.1817). StadtAN C 2 Nr. 298 (o. D.). Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 1817, S. 635. Ebd., S. 166, 177. Vgl. StadtAN C 2 Nr. 299 (13.4.1817). StadtAN C 2 Nr. 299 (1.5.1817). StadtAN C 2 Nr. 331 (o. D.). StadtAN C 2 Nr. 300 (13.6.1817). StadtAN C 2 Nr. 300 (13.6.1817). StadtAN C 2 Nr. 300 (5.7.1817). Chronik des Nürnberger Bäckerhandwerks 1302–1982, hg. von der Bäckerinnung Nürnberg, Nürnberg o. J., S. 91. – Zufälligerweise reiste der Ohrenzeuge des Vulkanausbruchs auf Sumbawa, Sir Stamford Raffles, im Hungerjahr 1817 durch Westeuropa, über Basel schreibt jemand aus seinem Reisegefolge: »Als wir nach Weißbrot fragten, hieß es, die Regierung erlaube nur schwarzes, wegen der schlechten Ernte. Jemand von unserer Gruppe erkundigte sich nach dem Theater. Es gebe keins im Moment, war die Antwort. Der Staat verbiete jede öffentliche Unterhaltung. Die Menschen sollten ihr Geld nicht für Vergnügungen ausgeben, wenn manche nicht genug hätten, Brot zu kaufen. Zit. nach. Susanne Knecht, Lady Sophia Raffles auf Sumatra. Ein wagemutiges Leben, Hamburg 22000, S. 75 f. StadtAN C 2 Nr. 300, Bl. 176–177. StadtAN C 2 Nr. 299 (5.6.1817). StadtAN C 2 Nr. 771, Bl. 149. Für Nürnberg sind für diese frühe Zeit keine Zahlen darüber zu erhalten, diese 13–14 kg Fleisch beziehen sich auf Preußen bzw. ganz Deutschland. Hermann Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd.  2: Vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, München

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

133 134 135 136

137

138

139

140 141 142 143 144 145 146 147 148 149

1981, S.  69; Hubert Walter, Sexual- und Entwicklungsbiologie des Menschen, Stuttgart 1978, S. 204; Ulrich-Christian Pallach, Einleitung, zu: Ders. (Hg.), Hunger. Quellen zu einem Alltagsproblem in Europa und der Dritten Welt 17. bis 20. Jahrhundert, München 1986, S. 42. StadtAN C 2 Nr. 771, Bl. 149. StadtAN C 2 Nr. 771, Bl. 150. Post, The Last Great Subsistence Crisis (wie Anm. 15), S. 341, nimmt an, dass mehr als die Hälfte der Schafe eingingen. Siehe Alain Corbin, Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben, Frankfurt a. M. 1999, S. 158. Vgl. Wilhelm Abel, Hausse und Krisis der europäischen Getreidemärkte um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, in: Mélanges en l’honneur de Fernand Braudel 1, Paris 1973, S. 29. Ihm zufolge hatte Nürnberg z. B. anno 1628 Lagerbestände, welche die Nürnberger Bevölkerung etwa ein Jahr lang ernähren konnten. In Frankreich kam es sehr viel häufiger als in Deutschland zu Hungerrevolten, bei denen sogar das Militär eingesetzt wurde, in Deutschland so gut wie nicht. Als Grund dafür führten bereits Zeitgenossen das »unverwüstlich gute Naturell der deutschen Volkes« an. Abel, Massenarmut (wie Anm. 2), S. 324. Vgl. Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 14, hg. von Neithard Bulst), Göttingen 2000, S. 51 Anm. 85. StadtAN C 2 Nr. 241 (12.2.1817). August Jegel, Ernährungsfürsorge des Altnürnberger Rates, in: MVGN 37 (1940), behandelt nur den Zeitraum 15. bis 17. Jahrhundert, und zwar weniger die städtische Vorratshaltung, mehr die städtische Überwachung der Lebensmittel. Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier vom 30.4.1817, S. 1. Aus Mainz berichtete der »Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier« Anfang Mai 1817: »Täglich sehen wir deutsche Auswanderer durch unsere Stadt gehen. In diesem Frühjahre übersteigt die Menge derselben, die zu Wasser passirten, die Zahl von 10 000, ohne die nicht unbeträchtliche Zahl derer zu rechnen, die mit ausgelaugten Pferden einen kleinen Wagen voll Kinder langsam vorbeitreiben. Alle versichern, daß Nahrungsmittellosigkeit und unerschwingliche Steuern die Ursache ihrer Auswanderung sey. […] Vergebens glauben viele dieser Unglücklichen, dem Hungertode zu entfliehen, er folgt ihnen und erreicht sie an der Grenze Europas, oder mitten auf dem Ocean.« StadtAN C 2 Nr. 743, Bl. 5–6 (17.6.1817). StadtAN C 2 Nr. 300, Bl. 72. StadtAN C 2 Nr. 743, Bl. 13. Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier v. 3.12.1816, S. 2. Vgl. StadtAN C 2 Nr. 743, Bl. 10. Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier v. 16.5.1817, S. 1. Vgl. Abel, Massenarmut (wie Anm. 2), S. 340. Vgl. StadtAN C 2 Nr.  298 (13.9.1817). Über Spatzenverzehr in Nürnberg Jegel, Ernährungsfürsorge (wie Anm. 138), S. 95. StadtAN C 2 Nr. 735 (3.2.1810). Mertens, Johannes Scharrer (wie Anm. 18), S. 74.

261

262

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 150 Vgl. Nicholas Boyle, Goethe, der Dichter in seiner Zeit, Bd. 1: 1749–1790, München 1997, S. 293. Siehe Christoph Gasser, Vogelschutz zwischen Ökonomie und Ökologie. Das Beispiel der Sperlingsverfolgungen (17.–20. Jh.), in: Mensch und Tier (Hess. Bll. f. Volks- und Kulturforschung NF 27), Marburg 1991, S.  42. Noch im 20.  Jahrhundert haben Regierungen, in China während einer Hungersnot der 1950er-Jahre, das Gleiche vorgeschlagen. 151 Vgl. Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815– 1866 (Die Deutschen und ihre Nation), Berlin 1985, S. 76. 152 Der Vorschlag dazu wurde lange zuvor schon von Friedrich Fick, Mein letzter Versuch für die Flöß- und Schiffbarmachung der schönen Regnitz in Franken, Erlangen 1816, gemacht. 153 Abel, Massenarmut (wie Anm. 2), S. 332. 154 Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 1817, S. 1010. 155 In der Nürnberger St.-Johannis-Kirche sind noch Ähren aus der Ernte von 1817 zu sehen. Viele solche Erinnerungsstücke zeigt Spamer, Bairische Denkmale (wie Anm. 8), passim. 156 Johann Friedrich Häcker, Rede bey der feierlichen Einführung des ersten Erndtewagens zu Wöhrd den 25. July 1817, S. 3 f. 157 Kanzelrede (wie Anm. 99), S. 3–6. 158 Siehe Abel, Massenarmut (wie Anm. 2), S. 414 f. 159 Die Witterung war auch im Frühjahr 1817 keineswegs sehr günstig. Über den Mai 1817 sagt Heinrich zusammenfassend: »die mittlere Lufttemperatur [war] um 2 ½ Gr. [vermutlich Grad Réaumur, das entspricht gut 3 Grad nach Celsius] unter dem eigentlichen Mittel – also kühle Mai – die mittlere Lufttrockne etwas größer als sonst. Die vielen Gewitter durch ganz Deutschland: und die zu Ende des Monats erfolgten Ueberschwemmungen verdienen bemerkt zu werden.« Auszug des meteorologischen Tagebuchs vom Professor Heinrich in Regensburg, in: Journal (wie Anm. 23), Bd. 20, Nürnberg 1818, S. 112. 160 StadtAN C 2 Nr. 755. 161 StadtAN C 2 Nr. 298 (16.11.1817). 162 Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 1817, S. 1011 f. 163 StadtAN C 2 Nr. 298 (12.11.1817). 164 StadtAN C 2 Nr. 756. Vgl. Nr. 298 (5.1.1818). 165 Das Sebastiansspital lag außerhalb der Stadtmauern, westlich der Hallerwiese, das Schauhaus in der Lorenzer Altstadt. 166 StadtAN C 23/I Nr. 4, Bl. 9 f. 167 StadtAN C 23/I Nr. 28. 168 Neues Taschenbuch von Nürnberg (wie Anm.  66), S.  106. Etwas andere Zahlen nennt das Statistische Jahrbuch für die Stadt Nürnberg, Bd. 1 (1909), Tab. 31: nämlich 26 854 E. für das Jahr 1818. Vgl. Endres / Fleischmann, Nürnbergs Weg (wie Anm. 19), S. 17. 169 Allgemeines Nürnberger Intelligenzblatt 1817, S. 46. 170 StadtAN F 2 (Stadtchronik Amberger), Bd. 2, S. 80. 171 Walter Jungkunz, Die Sterblichkeit in Nürnberg 1714–1850, zugleich ein Beitrag zur Seuchengeschichte der Stadt, in: MVGN 52 (1951), S. 309. Einen re-

»… das hätte sich keiner, selbst im Traume nicht einfallen lassen.«

172

173 174

175

176 177 178 179

lativ starken Anstieg der Sterblichkeit erfuhren 1817 einige Staaten in Südeuropa: In Apulien stieg die Sterblichkeit von 31,5 Promille 1815 auf 58,6 im Jahr 1817, allerdings trat hier zur Hungersnot eine Seuche hinzu. In der Toskana stieg sie von 40,2 auf 67,9; in der Schweiz von 16,9 (1815) auf 26,4 (1817). In Süditalien gab es allerdings in dieser Zeit, seit 1815, die letzte größere Pestepidemie. Vgl. Schnurrer, Chronik der Seuchen (wie Anm. 40), S.  555; Lorenzo del Panta, Le epidemie nella storia demografica italiana (secoli XIV–XIX), Turin 1980, S. 195–219; Alfonso Corradi, Annali delle epidemie, Bd. 3, Bologna o. J., S. 135–291. Wenig aussagekräftig sind daher die Zahlen von Werner Conze, Sozialgeschichte 1800–1850, in: HDWSG 2, S. 451, in Dietramszell habe 1817 die Kindersterblichkeit 78,5 Prozent betragen. Für ein einzelnes Jahr  – und einen kleinen Ort  – besagt dies nicht viel, in kleinen Dörfern mit wenigen Geburten war dies keine Seltenheit. Die Säuglingssterblichkeit betrug in Bayern in den Jahren 1801–1810: 37,5 Prozent, 1811–1820: 39,4 Prozent. W. Robert Lee, Zur Bevölkerungsgeschichte Bayerns 1750–1850. Britische Forschungsergebnisse, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 62 (1975), S. 309–338. Biographie des Doctor Friedrich Wilhelm von Hoven. Von ihm selbst geschrieben, Nürnberg 1840, S. 218. Weitgehend unbekannt geblieben sind die Notjahre nach 1854 mit ihren Folgen: Nach dem Index von Gömmel, Realeinkommen (wie Anm. 72), S. 27, sank das Realeinkommen ab zu einem Wert von 43, tiefer als in den 1840erJahren, als es nicht unter 46 fiel. Die Auswanderung war 1854 mit 7 Promille relativ höher als in jedem anderen Jahr der deutschen Geschichte. Dazu Jacob Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819 (Dokumente, Texte, Materialien 8, veröffentlicht vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin), Berlin 1994; Johann Ludwig Ewald, Der Geist des Christenthums und des ächten deutschen Volksthums, dargestellt, gegen die Feinde der Israeliten, 1817; ders., Einige Fragen und noch mehr unläugbare Wahrheiten, Juden- und Menschennatur, Judenund Menschenbildung betreffend (1820); ders., Beantwortung der Fragen: Was sollen die Juden jetzt, und was sollte der Staat für sie thun? (1821), Ndr. unter dem Titel: Projüdische Schriften aus den Jahren 1817–1821, hg. von Johann Anselm Steiger, Heidelberg 2000. Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner (wie Anm. 96), S. 167. Dazu die zeitgenössischen Schriften von Julius Voss, Die Hep-Hep in Franken, 1819. Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als Allgemeingeschichte (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 126), Göttingen 1996, S. 561–579. Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert 1815–1871 (wie Anm. 6), S. 54. Infolge vermehrten Kartoffelanbaus stieg der Anteil der aus Kartoffeln gewonnenen Kalorien pro Person von 8 (1800) auf 26 Prozent (1835). FriedrichWilhelm Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, Paderborn 1973, S. 53.

263

264

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 180 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen (engl. Original: The Wealth of Nations, 1776), München 1978, S. 140. Eine Einschätzung dieser Frucht vom Standpunkt der Botanik gibt Udelgard Körber-Grohne, Nutzpflanzen in Deutschland. Kulturgeschichte und Biologie, Stuttgart 31994, bes. S. 140–148. 181 Vgl. Günther Franz, Landwirtschaft 1800–1850, in: HDWSG, Bd. 2, S. 286 f., 305. Vgl. Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen (wie Anm. 151), S. 84, 115. 182 Friedrich-Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2: 1750 bis 1976, Paderborn 1976, S. 76 f. 183 Adolf Sandberger, Die Landwirtschaft, in: Hdb. d. Bay. Geschichte, hg. von Max Spindler, Bd. 4/2, München 1975, S. 732–748, hier S. 733. 184 Eberhard Weis, Der Durchbruch des Bürgertums 1776–1847 (Propyläen Geschichte Europas, Bd. 4), Berlin 1975, S. 400 f. 185 Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871 (Neue Deutsche Geschichte, Bd. 7), München 1995, S. 205; Wolfgang Weber, Verkürzung von Zeit und Raumtechniken ohne Balance zwischen 1840 und 1880, in: Propyläen Technikgeschichte Bd.  4: Netzwerke, Stahl und Strom 1840–1914, hg. von Wolfgang König / Wolfgang Weber, Berlin 1997, S. 209. 186 Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen (wie Anm. 151), S. 94. 187 Siehe Joseph Weiss, Die Integration der Gemeinden in dem modernen bayerischen Staat. Zur Entstehung der kommunalen Selbstverwaltung in Bayern (1799–1818), München 1986, S. 198. 188 Gömmel, Realeinkommen (wie Anm. 72), S. 27. – Für Göttingen wird der Arbeitslohn eines Maurermeisters in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts mit 101 Talern angegeben; wenn er fünf Gesellen beschäftigte, stieg es auf 173 Taler, seine Gesellen erhielten 71, ein Handlanger 43 Taler im Jahr. Der Reallohn war niedrig, ein Handwerkergeselle konnte für einen Tageslohn gerade etwas mehr als zwei Kilogramm Brot kaufen. Vgl. Friedrich Lenger, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800 (Neue Historische Bibliothek NF 532), Frankfurt a. M. 1988, S.  27; Abel, Massenarmut (wie Anm. 2), S. 320. 189 Vgl. Siemann, Vom Staatenbund (wie Anm. 185), S. 313. Siehe Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit (Neue Historische Bibliothek NF 284), Frankfurt a. M. 1986, S. 66. 190 Vgl. Corbin, Spuren (wie Anm. 135), S. 228.

Almost every class of artificers is subject to some peculiar infirmity occasioned by excessive application of their peculiar species of work. Adam Smith, Wealth of Nations (1776)

»… und erblicken in den Spiegeln mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.« Quecksilber- und Phosphorvergiftungen in der fränkischen Industrie im 19. Jahrhundert In der Vergangenheit gab es viele Arbeitsplätze, von denen gesundheitliche Gefahren ausgingen. Das hatte damit zu tun, dass die Arbeiter in den Fabriken häufiger giftigen Stoffen ausgesetzt waren, die ihre Körper angriffen. Aber oft genügte es schon, dass ein Arbeiter immer wieder die gleichen Handgriffe vornahm, die auf lange Sicht seine Gesundheit schädigten. Viele Tätigkeiten brachten Belastungen mit sich, die der Gesundheit des Einzelnen nicht zuträglich waren. Den Arbeitern ging es schlecht damals, sehr schlecht. Über das Berufsleben des Proletariers schreibt ein Hygieniker in der Mitte des 19. Jahrhunderts: »Seine Arbeit ist eine mehr oder weniger harte, anhaltende, oft durch 14 und 16 Stunden Tag für Tag, meist in menschenüberfüllten, engen sowie ungesunden Räumen, oder draussen in Wind und Wetter. Oft siezen 100 Mann Knie an Knie zusammengepresst in engen Sälen, oft voll Dunst und Rauch, Staub, und da wo Oefen benüzt werden, zuweilen in einer Hitze, die Talglichter schmelzen. […] Bei seinem meist so knapp zugemessen Erwerb lebt er ferner, oft mit Weib und Kind, vorzugsweise von Kartoffeln, ziemlich schlechtem Brod, Milch, Mehlspeisen, und einigen Gemüsen, da und dort etwas Fleisch.«1

266

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Einige Krankheiten lassen in die Lebens- und Umwelt der Menschen von damals blicken. Es gab Krankheiten, die bevorzugt bei Angehörigen bestimmter Berufe auftraten. So war etwa die Tuberkulose häufig eine Krankheit der unterernährten Berufsgruppen, z. B. der sprichwörtlich hungrigen Schneider. Noch sehr viel häufiger als die Schneider waren aber Porzellanarbeiter von der Tuberkulose betroffen, ihre Lungen waren vom langen Arbeiten mit Staub schwer geschädigt und daher sehr empfänglich für den Erreger der Tuberkulose. Im Frankenwald starben noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwei Drittel der Porzellanarbeiter an Tuberkulose, meist an Lungentuberkulose.2 Andere Berufe begünstigten andere Krankheitsformen, so waren bei Tünchern oft Bleivergiftungen anzutreffen.3 Und unter den Arbeiterinnen in Zündholzfabriken war die Nekrose des Unterkiefers infolge einer chronischen Vergiftung mit weißem Phosphor eine häufige ›Berufskrankheit‹. Auch die Nadelschleifer in Franken hatten ein kurzes Leben. Über die Schwabacher Nadelschleifer schreibt ein kenntnisreicher Autor: »In Schwabach starben vom Jahre 1822–57 131 Schleifer sowohl männlichen als weiblichen Geschlechts, darunter oft die rüstigsten und gesundesten Personen. Im Durchschnitt waren in dieser Zeit 39,4 Arbeiter beschäftigt, so dass jährlich 9,3 Prozent der Schleifer starben. In 10 Jahren war allemal eine Schleifergeneration aufgerieben. Nur wenige waren es, welche 20 bis 25 Jahre schliffen und in die vierziger Jahre es brachten.«4 Als man für diese gefährlichen Arbeiten keine Arbeiter mehr in Schwabach fand, wurden Zuchthäusler für derlei Arbeiten herangezogen, ihre Zuchthausstrafe ohne Gerichtsverfahren somit in eine Todesstrafe umgewandelt. Die Spiegelmacher und das gefährliche Quecksilber Unter den fränkischen Arbeitern gab es noch eine weitere Berufsgruppe, die unter den gesundheitlichen Folgen ihrer Tätigkeit litt: die Spiegelmacher. Im Mittelalter waren Spiegel »nur in den wenigsten Haushalten vorhanden«.5 Damals war Venedig der wichtigste Herstellungsort für Spiegel, genauer Murano, eine kleine Insel in der Lagune von Venedig, auf der sich die venezianische Glasindustrie angesiedelt hatte. Von dort übernahm die fränkische Handelsmetro-

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

pole Nürnberg, die im ausgehenden Mittelalter viele Kontakte nach Venedig pflegte, die Spiegelherstellung. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurde Nürnberg zur »Hochburg der Spiegelmacher« (Heinz-Peter Mielke). Spiegelfabriken gab es in Nürnberg und seiner Nachbarstadt Fürth6 in großer Zahl, und sie waren berühmt für ihre Spiegel. Zu Beginn des 19.  Jahrhunderts zählte Fürth, eine Kleinstadt mit gut 12 700 Einwohnern,7 fünfzehn Spiegelfabriken. Dann verlagerte sich die Spiegelherstellung immer mehr von Nürnberg nach Fürth und machte es zum Zentrum der bayerischen Spiegelindustrie. An die zweitausend Personen waren hier 1845 in Schleif- und Poliermühlen, Beleganstalten und Rahmenschreinereien beschäftigt, der Handelswert dieser Waren betrug jährlich über zwei Millionen Gulden. Nun waren Spiegel längst keine Luxusartikel mehr, sie kamen immer mehr in Gebrauch.8 Etwa drei Dutzend Spiegelfabrikanten waren in dieser stark arbeitsteiligen Industrie tätig.9 In den 1860er-Jahren gab es in Fürth bereits vierzig und in Nürnberg nur noch sechs Spiegelmanufakturen,10 1886 zählte Fürth noch 32 Spiegelbeleganstalten.11 Die Betriebe lagen hier in der Stadt, aber sehr viele der in Fürth beschäftigten Arbeiter stammten aus Orten in der Umgebung, aus Dörfern oder Märkten wie Zirndorf, Herzogenaurach und anderen. Die Spiegelproduktion brachte den Beschäftigten Lohn und Brot; aber die berufliche Tätigkeit in diesen Fabriken bedrohte auch ihre Gesundheit. Seit dem späten 14.  Jahrhundert fertigte man in Nürnberg, wie schon in der Republik Venedig, Spiegel unter Verwendung von Quecksilber.12 Noch bis ins 19.  Jahrhundert war das Belegen mit Quecksilber das einzige Verfahren in der Spiegelglasherstellung. Quecksilber war jedoch ein gefährliches Gift, und unter den Arbeitern in den fränkischen Spiegelfabriken zeigte sich sehr häufig eine Krankheit, eine Quecksilbervergiftung, der sogenannte Mercurialismus.13 Die Gefahren, die vom Umgang mit Quecksilber ausgingen, waren seit langer Zeit bekannt, die ersten Informationen über Quecksilbervergiftungen stammten aus Bergwerken, wo dieses Element im Großen gefördert wurde. Berühmt war schon in der Frühen Neuzeit das spanische Almadén, es war das größte und älteste Quecksilber-

267

268

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

bergwerk Europas. Die Spanier verwendeten das Quecksilber, um damit das Silber aus der Neuen Welt zu amalgamieren.14 Eine ähnliche Stellung wie Almadén in Spanien nahmen in Zentraleuropa die Quecksilbergruben von Idria ein.15 Die Handelsstadt Nürnberg, deren Handelstätigkeit sich buchstäblich in alle Himmelsrichtungen erstreckte, unterhielt auch Beziehungen nach Idria. So wurde Nürnberg »ein wichtiger Umschlagplatz für Quecksilber (und Zinnober) aus Idria«.16 Diese Gruben gehörten bis 1918 zu Österreich (heute Slowenien). Zur Geschichte der Quecksilbervergiftung Zur Herstellung von Spiegeln war Quecksilber lange Zeit unentbehrlich; aber auch einige andere Berufe arbeiteten mit diesem gefährlichen Stoff. Die Arbeiter in den Quecksilbergruben waren mit dieser Gefahr vertraut. Pier Andrea Mattiolie (1500–1577) beschrieb bereits im 16.  Jahrhundert, wie sich die Arbeiter von Idria Mund und Nase verhüllten, um sich gegen die Einatmung von Quecksilberdämpfen zu schützen. Dennoch kam es immer wieder zu Vergiftungen.17 Die Hüttenarbeiter und die Feuervergolder in Idria waren davon ebenso betroffen. In den Quecksilbergruben von Idria lag der Anteil der Quecksilbervergifteten vor 1890 bei zehn bis fünfzehn Prozent der Beschäftigten, danach stieg er auf über 50 Prozent, weil man das Prinzip des Arbeitswechsels aufgab. Zuvor hatte man einfach die Arbeitszeit der Quecksilberarbeiter kurz gehalten und für eine bessere Durchlüftung gesorgt. Die Quecksilberproduktion betrug in Idria im Jahr 1913 noch immer 4072 metrische Tonnen, 1943 waren es 8200.18 Die Gefahren, die von diesem Element ausgingen, waren in Europa lange bekannt. Der Leipziger Arzt Michael Ettmüller (1644– 1683) hatte sie schon im 17. Jahrhundert beobachtet und beschrieben. Der berühmte italienische Arzt Bernardino Ramazzini (1633–1714), der Begründer der Arbeitsmedizin, hat gleichfalls diese Gefahren geschildert. Er sammelte viele Jahre lang Material für sein großes Werk De morbis artificium, das im Jahr 1700 in Modena erstmals aufgelegt wurde und im Jahr 1713 in einer neu bearbeiteten,

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

verbesserten und stark erweiterten Fassung erschien – es war »die erste Langzeitstudie zu Berufskrankheiten«19. In der deutschen Ausgabe dieses Werkes schreibt Ramazzini: »Die Arbeiter, die das Blattzinn oder den Stanniol fertigen und auflegen, bekommen häufig Schmerzen in den Gelenken, Kopfweh und ein Zittern welches in den Händen anfängt, bald aber, besonders, wenn sie mehrere Jahre ihre Beschäftigung unausgesetzt treiben, sich über den ganzen Körper verbreitet. Das Gesicht wird blaß und hat den Ausdruck der Betrunkenheit. Unmerklich verringert sich ihr Fassungsvermögen und ihr Gedächtnis. Nach und nach werden sie ganz dumm, schleppen sich in diesem Zustand noch einige Jahre hin und bekommen gewöhnlich die Auszerrung oder sterben am Schlagflusse. Selten kann ein Arbeiter länger als acht, höchstens zwölf Jahre seine Profession treiben dann kommen gewöhnlich Krankheiten, die sie daran hindern.« Auch über die Vergiftungserscheinungen der Spiegelarbeiter äußerte Ramazzini sich im 7.  Kapitel seines Werkes: »Die Spiegelhandwerker werden durch die Bearbeitung des Quecksilbers gelähmt […] und erblicken so wider Willen in den Spiegeln mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend und verfluchen die Kunst, der sie sich verschrieben haben.«20 Im Jahr 1740 bestellte der österreichische Staat einen eigenen Arzt wegen der Berufserkrankung Quecksilbervergiftung. Inzwischen hatte man bemerkt, dass Vieh, das quecksilberhaltiges Wasser trank, erkrankte, es litt dann unter Zittern und Abzehrung. Es wurde auch bemerkt, dass Trinker unter den Quecksilberarbeitern stärker geschädigt wurden als Nichttrinker. Andere Wissenschaftler mit arbeitsmedizinischen Interessen setzten Ramazzinis Werk fort. Der französische Chemiker Antoine Lavoisier (1743–1794) veröffentlichte im Jahr 1783 eine Schrift über Berufskrankheiten. Sein Landsmann, François-Victor Merat (1780– 1851), verfasste ein Werk über »Das Zittern der Vergolder«. Und der Genfer Chemiker Henri-Albert Gosse (1753–1816) schrieb ein Buch unter dem Titel »Considérations générales sur les maladies des professions« (Allgemeine Betrachtungen über die Berufskrankheiten), darin forderte er für die Arbeiter, die mit Quecksilber hantierten, eine Maske, welche die Dämpfe abhielt. Ein Philibert Patissier

269

270

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

(1781–1863) brachte ein Buch über verschiedene Formen der Krankheiten der Handwerker heraus. In diesem Buch finden sich erstmals Statistiken über den Zusammenhang zwischen Krankheitshäufigkeit und bestimmten Berufen. Er erwähnt auch den belgischen Arzt Louis René Villermé (1782–1863), der sich die Kritik sozialer Missstände zur Aufgabe gemacht hatte. Obwohl Ramazzini bereits im 18.  Jahrhundert einige Berufskrankheiten klar als solche erkannte hatte, so auch die »Krankheit der Vergolder«, blieben die Berufskrankheiten weiterhin ein vernachlässigtes Feld, erst im Jahr 1906 wurde in Mailand der 1. Internationale Kongress für Arbeitshygiene abgehalten.21 Wie konnte man die Arbeiter vor diesem Übel schützen? Lange Zeit bestand die Vorbeugung darin, die gefährdeten Arbeiter nur für kürzere Zeit einzusetzen. Außerdem wurde ihnen empfohlen, die mit Quecksilberstaub durchsetzte Arbeitskleidung nicht außerhalb der Arbeitsstunden zu tragen. Schon der französische Gelehrte Antoine de Jussieu (1686–1758) kannte die Notwendigkeit des Kleiderwechsels aus Almadén. Ein antimerkurielles Spezifikum, das Jodkalium, wurde erst 1844 durch den Chemiker Melsens und den Arzt Guillot entdeckt und bekannt gemacht.22 Arbeitskräfte in Nürnberg und Fürth um 1860 Wie können wir uns die Menschen vorstellen, die in den Jahren um 1860 in Nürnberg oder Fürth lebten und dort ihrem Broterwerb nachgingen? Es gibt Beschreibungen von Ärzten, die den gesundheitlichen Zustand ihrer Zeitgenossen wohl am zuverlässigsten einschätzen konnten. Es war das Zeitalter der industriellen Revolution, sie zählt zu den bedeutendsten Ereignissen der Menschheitsgeschichte. Aber der Aufbau der Industrie, der so viel körperliche Kraft erforderte, wurde nicht etwa von großen, starken Menschen geleistet  – nein, in den fünfzig Jahren nach 1830 waren die deutschen Arbeiter deutlich kleiner als heute und schon daher körperlich weniger leistungsfähig, außerdem mussten sie Jahr für Jahr sehr viel mehr Arbeitsstunden leisten als Arbeiter in den Jahrhunderten davor oder danach. Ein Amtsarzt, der Verfasser der Nürnberger Medizinaltopographie, beschrieb die einheimische Bevölkerung so:

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

»Der eingeborene Nürnberger erhebt sich übrigens in seiner Statur nur wenig über Mittelgröße und ist von mehr zartem als robustem Bau und vorherrschender bleicher Gesichtsfarbe, wozu unstreitig die vielen engen, kein Sonnenlicht einlassenden Straßen wesentlich beitragen«, schrieb er. »Das weibliche Geschlecht ist meistens schön gewachsen, doch bietet ihr Äußeres (dem Gesagten zufolge) oft ein blaßes, der Frische ermangelndes Colorit.«23 Dass die Nürnberger damals körperlich keinen sehr robusten und gesunden Eindruck machten, bestätigen andere Quellen, auch in diesem Fall sind es wiederum die Aufzeichnungen eines bayerischen Amtsarztes, nämlich die des Ferdinand Escherich, der sich viel mit Fragen der Lebenserwartung der verschiedenen Berufsgruppen und des öffentlichen Gesundheitswesens beschäftigte.24 Von den ins bayerische Heer Einberufenen kämen die Soldaten mit dem geringsten Körpergewicht aus Nürnberg, schreibt er. Eine Körperhöhe von 1,64 m war in Süddeutschland um 1860 durchaus ein Normalmaß für junge Männer, das zeigen die Ergebnisse der militärischen Musterungen. In Fürth waren sie sogar noch etwas kleiner, hier zog der – große – jüdische Bevölkerungsanteil den Durchschnitt nach unten. Und die Frauen waren noch einmal um sieben Prozent kleiner als die Männer.26 Zur Zeit der Hochindustrialisierung, sagen wir in den drei Jahrzehnten nach 1848, waren die Arbeitszeiten in der fränkischen Industrie sehr lang. Nürnberg und Fürth waren Industriestädte, über die Arbeitszeit in den Fabriken ist da zu lesen: »Eine Stadt, in der das Streben nach Gewinn, sei es durch Handels- oder Gewerbeindustrie, so vorwiegend ist wie in Fürth, kennt eine Zeiteinteilung der Arbeit und Ruhe nicht. […] Die Arbeit beginnt in der Regel morgens bei kaum anbrechendem Tage und dauert bis nachts fort. Kaum wird Zeit zum mageren Mittagsmahle verwendet. So geht es fort, bis entweder der Körper verbraucht oder so viel gewonnen ist, um ruhigerer Beschäftigung oder behaglicher Ruhe sich hingeben zu können.«27 Noch im Jahr 1885 konnte der zuständige Fabrikinspektor berichten, dass die Spiegelglasschleifer im Nürnberg-Fürther Raum täglich 16 Stunden arbeiteten. Bezahlten Urlaub gab es für diese Arbeiter nicht. »Die Polierer sind sogar sechs Tage in der Woche un-

271

272

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

unterbrochen auf der Arbeitsstelle und kommen nur alle Sonntage zu einem richtigen Schlaf, während unter der Woche je zwei sich vor und nach Mitternacht ablösen, um 4–6 Stunden schlafen zu können, zu welchem Zwecke eine Bank oder ein schmutziger Strohsack in einer Ecke der Wohnstätte benützt wird«, schrieb die »Fränkische Tagespost« im Jahr 1886.28 In den Fürther Spiegelmanufakturen wurde mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage ständig gearbeitet. Die Arbeiter nahmen die langen Arbeitszeiten dankbar auf, denn der Arbeitslohn errechnete sich aus der gearbeiteten Zeit. Wenn nicht gearbeitet werden konnte – z. B. im Winter, wenn der Fluss, der der jungen Industrie die Energie lieferte, gefroren war, ging das auf Kosten der Arbeiter.29 Wie sahen die Arbeitsstätten dieser Spiegelhersteller aus? Brauchbare Beschreibungen aus der Zeit vor 1860 liegen nicht vor, und die Beschreibungen aus späterer Zeit, aus den 1880er-Jahren, als die Gefahren längst bekannt waren, sind bezeichnend für die Sorglosigkeit. Es waren Gewerbeärzte, die beschrieben, wie diese Arbeiten vor sich gingen und wie die Lokalitäten aussahen, in denen die Arbeiter viele Stunden tätig waren: »Der Belegraum selbst befindet sich unter dem Dache. Eine schmale, altersschwache Stiege, die unter jedem Fusstritt ächzt und knarrt, führt uns hinauf. Wir treten in die Dachkammer ein; die Thüre steht auf.« Trotz der empfindlichen Kälte sind die unteren Fensterflügel offen und die in den oberen Scheiben angebrachten Glasjalousien geöffnet.30 Als die Gefahr, die vom Quecksilber ausging, längst erkannt war und erste Schutzmaßnahmen von den Behörden angeordnet wurden, heißt es diesbezüglich: »Schon beim Eintritt legt sich dir das überall umhergestäubte Quecksilber auf die Zunge, du verspürst bald einen widerlichen metallischen Geschmack im Munde und sehnst dich hinaus in die frische Luft. Wo du gehst und stehst, wohin du blickst, wo du atmest in diesem Raume, Quecksilber. Quecksilber in flüssiger Gestalt, wie es silbern schimmernd die Holzschüsseln füllt, aus denen es zum Uebergiessen der Glastafeln geschöpft oder gegossen wird. Quecksilber fliesst auf dem Belegtisch in die Rinnen und Behälter, Quecksilber tröpfelt ab unter dem wuchtigen Druck der Steine, mit welchen die Wischerin die Tafeln presst. Quecksilber rinnt und rieselt aus der ›Lehne‹, in welche die Spiegel zum Ab-

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

laufen und Trocknen gestellt werden. Nach allen Seiten spritzen und rollen die Quecksilberkügelchen, sich theilend und vermehrend, sie huschen nach rechts und links, sie fliehen und vereinigen sich, sie verkriechen sich in die vielen Ritze und Fugen des bretternen Fussbodens, der schlecht gefugt ist und ein treffliches Versteck für die zahllosen kleinen Quecksilberpartikelchen bildet. […] Du findest Quecksilber in Luftform. Es verdunstet ja schon bei gewöhnlicher Temperatur, und seine Dämpfe erfüllen das gesamte Zimmer mit Myriaden von Quecksilberstaubatomen. Die Arbeiter atmen es ein, es dringt in die Poren der Haut, es setzt sich in die Falten der Kleider, der Wäsche […] es wird verschluckt. Der ganze Körper ist einem Quecksilberdampfbad ausgesetzt.«31 Erst in den 1880er-Jahren setzten sich in diesem Industriezweig allmählich Schutzmaßnahmen durch. Wie sah die Arbeit der Frauen aus, die täglich damit beschäftigt waren, das Glas mit Quecksilber zu belegen? Die Glasplatten mussten undurchsichtig gemacht werden, sie wurden »belegt«. Man verwendete damals eine dünne Zinnfolie und Quecksilber, das auf diese Folie gegossen wurde und dann mit dem Zinn amalgamierte. Dazu »schöpften die Arbeiterinnen flüssiges Quecksilber mit einer Kelle aus kleinen offenen Zubern, gossen es über die Folie und verteilten es mit der Hand oder mit einfachen Werkzeugen gleichmäßig über die Folie«32. Das war eine eher anspruchslose, ungelernte Arbeit, die oft von Frauen verrichtet wurde.33 Im Jahr 1857 waren z. B. in der Stadt Fürth 32 männliche und 57 weibliche Arbeiter in diesen Spiegelbelegen tätig.34 Die Nürnberger Spiegelmanufakturen befanden sich zumeist in Vororten  – in Orten wie Wöhrd, Gleißhammer, Röthenbach, Schniegling, Laufamholz und anderen,35 von denen viele im AltNürnberger Landgebiet angesiedelt waren. Diese Manufakturen waren nicht sehr groß, meist beschäftigten sie nur knapp 20 Arbeiter, selten sehr viel mehr.36 Das Belegen geschah in den Werkstätten, »in der Regel in den Häusern der Fabrikbesitzer. Da das Belegen nur bei gemäßigten Temperaturen – weder bei extremer Hitze noch bei extremer Kälte – und in trockenen Räumen erfolgen musste, lagen die Belegräume in den Wohnhäusern immer unter dem Dachboden. Diese Räume, die niemals geheizt wurden, waren mit gegen-

273

274

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

überliegenden, offenen Fenstern ausgestattet, um eine regelmäßige Durchlüftung sicherzustellen.« Durch diese Fenster ist die allernotwendigste Ventilation kümmerlich hergestellt; wollen die Arbeiter nicht in der Giftluft fast ersticken, so müssen die Fenster offen bleiben.«37 Die Arbeitsbedingungen in den Spiegelfabriken waren für die Gesundheit verheerend. Viele dieser Spiegelarbeiter litten häufig unter Erkältungen, Bronchitis, Lungenentzündung, an Lungentuberkulose und rheumatischen Erkrankungen. Besonders gesundheitsschädigend war die Arbeit in den Belegwerkstätten der Spiegelindustrien, wo die Arbeiter direkt mit Quecksilber in Berührung kamen. »Einzelne Arbeiter in den Fürther Spiegelfabriken werden schon in den ersten Tagen ihrer gefährlichen Arbeit ergriffen, die meisten erst nach längerer Zeit, wenig bleiben verschont.« »Schon minimale Spuren von Quecksilber können durch die Einatmung schließlich eine Vergiftung erzeugen.«38 Quecksilberkuren als Heilbehandlung Die Ärzte hatten in der Vergangenheit schon Erfahrungen mit Quecksilbervergiftungen, denn die – auch hierzulande damals weitverbreitete  – Syphilis wurde noch im 19.  Jahrhundert mit Quecksilber behandelt, und da kam es natürlich auch zu Überdosierungen und zu Vergiftungen. Die Ärzte in dieser Zeit wussten daher über die Gefahren des Quecksilbers gut Bescheid, denn es gab damals noch immer sehr viele Fälle von Syphilis.39 Quecksilbervergiftungen infolge einer venerischen Erkrankung waren also im 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Die Syphilis war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Druck der raschen Urbanisierung weit verbreitet, in den Krankenhäusern deutscher Großstädte war einer von zehn Patienten geschlechtskrank.40 Dort gab es sogar eigene vorgedruckte Formulare, auf denen eine Behörde damit drohte, ortsfremde Personen, die aufgegriffen und als syphiliskrank festgestellt wurden, an die Heimatbehörden abzuschieben, weil man die »Gefahr der Verbreitung des Uebels« fürchtete, wenn man diese Kranken wieder entließ.41 Auf einem Vordruck bat beispielsweise eine fremde Gemeinde darum, die »zu

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

Nürnberg aufgegriffene ledige … aus hier, wegen Syphilis, … diese vermögenslose äußerst liederliche Person so bald als nur möglich, und wo thunlich, sogleich, per Schub, oder sonst geeignete Weise auf der Eisenbahn anher liefern lassen zu wollen«.42 Die Syphilis war eine tückische Infektionskrankheit. Man bekämpfte sie mit Quecksilber, weil man dachte, den Mikro-Erreger dieser Krankheit durch dieses Gift abtöten zu können. Das Quecksilber schädigte zwar den Syphiliserreger (Spirochaeta pallida), aber es hatte schwerwiegende Nebenwirkungen43 und schädigte zugleich den Körper des Kranken. So mutmaßten Ärzte, zu denen ein Kranker Spiegelbeleger mit Quecksilbervergiftungen kam, nicht selten, er sei in Behandlung wegen Syphilis. Das große »Wundermittel« Salvarsan wurde von Paul Ehrlich erst in den Jahren nach 1900 entwickelt. Die »Mercurialkrankheit« (d. h. Quecksilbervergiftung) In der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts wurden die gesundheitlichen Umstände in den Spiegelfabriken von mehreren Medizinern untersucht. Eine sachkundige zeitgenössische Beschreibung dieser schweren Erkrankung verdanken wir dem berühmten badischen Internisten Adolph Kussmaul (1822–1902). Dieser war nach Abschluss seines Studiums zunächst als Arzt im Schwarzwald tätig gewesen; als sich diese Tätigkeit als zu anstrengend erwies, ging er zur Universität zurück nach Würzburg, um sich dort zu habilitieren. Kussmaul lehrte dann als junger Professor in der Mitte des 19.  Jahrhunderts einige Jahre an der Universität Erlangen.44 Als Arzt war Adolf Kussmaul niemals reiner Wissenschaftler, er war immer zuerst Praktiker. Ausdrücklich schrieb er einmal, dass eine Klinik für ihn dreierlei Bedeutung habe: sie sei in erster Linie Krankenanstalt, also die Örtlichkeit, wo kranke Menschen von ihrem Leiden befreit werden; dann in zweiter Instanz Lehranstalt für junge Mediziner und erst drittens ein wissenschaftliches Institut zur Erforschung von Krankheiten.45 Da sprach der Praktiker aus ihm, der Arzt und Menschenfreund, der in erster Linie an die ihm zur Heilung anvertrauten Menschen dachte. Kussmaul erwarb sich den Ruf, Deutschlands bedeutendster Kliniker zu sein.

275

276

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

In die Erlanger Jahre, die Jahre nach 1850, fallen Kussmauls Studien über Quecksilbervergiftungen. Das Patientengut für seine Untersuchungen bezog er aus den Spiegelfabriken der Städte Fürth und Erlangen.46 Elementares Quecksilber beginnt bereits bei Zimmertemperatur zu verdampfen. Die Vergiftung entsteht durch das Einatmen des Dampfes. Quecksilber ist ein Zell- und Protoplasmagift, das in der Leber, in den Nieren, der Milz und im Gehirn gespeichert und über die Nieren nur sehr langsam wieder ausgeschieden wird.47 Besonders gesundheitsschädigend war die Arbeit in den Belegwerkstätten, wo die Arbeiter mit Quecksilber unmittelbar in Berührung kamen. Die Lungen und die Außenhaut der Arbeiter waren am meisten betroffen. Menschen, die an einer Quecksilbervergiftung leiden, zeigen vermehrten Speichelfluss, Mundschleimhautentzündung, Magenschleimhautentzündung und später noch ernstere körperliche Symptome. Außerdem sind sie chronisch gereizt und daher oft aggressiv. Die in den Quecksilber-Fabriken beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen in Fürth wurden regelmäßig, ein Mal im Jahr, auf gesundheitliche Schäden untersucht.48 »Diejenigen Personen, deren Constitution nur mässig Noth leidet, werden zur Benützung warmer Bäder und Dampfbäder angehalten, jene aber, welche stärker angegriffen sind, aus den Belegräumen [der Fabriken] entfernt«, schreibt Kussmaul. »Zu sanitätspolizeilichen Zwecken genügt es, den Mund der Arbeiter zu besichtigen […] Die Mehrzahl derjenigen, welche sich längere Zeit mit Quecksilber beschäftigen, aber nicht alle, zittern bei der Untersuchung, wenn auch nur in leichtem Grade, an den Mundwinkeln, der Zunge und den Händen, und kommen schwer mit der Sprache fort. […] Uebler Geruch aus dem Munde, belegte Zunge mit Zahneindrücken an den Rändern, rothes, angeschwollenes Zahnfleisch, etwas vermehrtes Speicheln findet sich häufig auch schon bei solchen, die erst kurze Zeit mit Quecksilber handthieren. Bei den allermeisten, welche länger arbeiten, sind die Zähne schadhaft, locker, graulich missfarbig, cariös, ausgefallen, das Zahnfleisch besonders an den untern Schneidezähnen atrophiert, die Zahnhälse blos gelegt.«49 Es sei statistisch noch nicht bewiesen, schreibt Kussmaul weiter, aber es sei »doch ausgemacht, dass schwangere Belegerinnen (sie

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

Quecksilbervergiftungen führten zu starken Formen von Zittrigkeit.

selbst sind dieser Ansicht) leicht abortiren oder todte Kinder zur Welt bringen, und dass die lebend zur Welt kommenden gerne von Scrofeln, Rachitis, Ausschlägen und Zehrfieber heimgesucht werden«.50 Was Kussmaul hier über die Folgen von Quecksilbervergiftungen für Schwangere sagt, wird auch von anderen Ärzten bestätigt. Der gelehrte bayerische Arzt Joseph Kerschensteiner berichtet, dass Föten, die nicht spontan abgingen, oft mit Missbildungen zur Welt kamen, vor allem mit schweren Hirnveränderungen oder blind. Selbst gesunde Kinder dieser Arbeiter waren oftmals auf andere Weise betroffen, sie waren nämlich häufiger militäruntauglich als andere, was »vielleicht […] auf angeborne Schwäche in Folge chronischer Mercurialkachexie der Eltern zurückzuführen« war, schreibt Kerschensteiner.51 Auch der bekannte Arbeitsmediziner Ludwig Hirt berichtet, dass im Durchschnitt 65 Prozent der Kinder, deren Mütter in Fürth in Spiegelfabriken beschäftigt waren, vor Vollendung des ersten Lebensjahres starben.52 In den Jahren 1848 bis 1853 kamen »jährlich 13–14 Mercurialkranke in das städtische Hospital [in Fürth]. In den ersten 10 Monaten des laufenden Jahres waren nur 4 Arbeiterinnen an Quecksilbervergiftung erkrankt«, schreibt Kerschensteiner  weiter. »Die Mercurialkranken waren meist junge Menschen. Die Behandlungsdauer belief sich im Krankenhaus Fürth meist auf eine bis fünf Wochen.«53 Da die von den Spiegelfabriken ausgehenden Gefahren seit geraumer Zeit bekannt waren, gab es schon seit den 1820er-Jahren Versuche, diesen Gefahren vorzubeugen. Empfohlen wurden vor allem kürzere Arbeitszeiten in gefährdeten Räumen, gründliches Waschen und eine frühestmögliche Beobachtung der Symptome, falls

277

278

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

sie sich bei einem Arbeiter zeigten.54 Außerdem sollten die Arbeitgeber keine schwächlichen oder kranken Arbeiter einstellen, weil diese vermutlich eher erkrankten, und vor allem bei Frauen sollten sie diesbezüglich vorsichtig sein. Es sei zu achten auf gut ventilierte Räume; außerdem sollte in den Arbeitsräumen größte Reinlichkeit herrschen.55 In den 1880er-Jahren ging man dazu über, die Arbeiter ärztlich untersuchen zu lassen. In Fürth waren sie gehalten, regelmäßig das öffentliche Dampfbad aufzusuchen. Dafür wurden eigene Billette ausgegeben. Es wurde ein wöchentlicher Besuch empfohlen. Die Arbeiter sollten vor allem Mund- und Nasenhöhle gründlich reinigen, ihnen wurde ein häufiger Wäschewechsel empfohlen.56 Warum suchten Arbeiter trotz der Gefahren, welche die Quecksilberbelegung für die Gesundheit mit sich führt, eine Beschäftigung in einer der Spiegelfabriken? Die Antwort fällt nicht schwer: Die Menschen mussten arbeiten, denn sie mussten ihren Lebensunterhalt verdienen  – die Gesundheit war offenbar zweitrangig. Auch scheint die Bezahlung in der Spiegelindustrie etwas besser gewesen zu sein als in anderen Industriebetrieben. Die Arbeitgeber waren gehalten, nur gesunde Personen als Arbeiter einzustellen und sie über gesundheitliche Gefahren aufzuklären. Dies alles wurde anfangs nur sporadisch eingehalten. Der für Mittelfranken zuständige Fabrikinspektor berichtete noch im Jahr 1885 über die schlechten Arbeitsbedingungen in der Spiegelglasindustrie im Nürnberg-Fürther Raum. Um die Einhaltung der neuen Vorschriften zu gewährleisten, waren die Zuständigen in den Städten gehalten, diese Manufakturen künftig regelmäßigen Visitationen zu unterziehen. Die städtischen Bediensteten, die diese Visitationen durchführten, sollten darauf achten und darüber berichten, ob die Arbeiter einen gesunden Eindruck machten, ob sie zitterten und in welchem Maße dies geschah.57 Phosphorvergiftungen in der fränkischen Zündholzindustrie Bestimmte Berufe weisen, wie wir gesehen haben, immer wieder spezifische Krankheitsbilder auf. Ein weiteres Beispiel für eine Berufskrankheit in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die häufig bei Arbeitern der Zündholzfabriken auftretende Nekrose des Unter-

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

kiefers, die auf das ständige Hantieren mit weißem Phosphor zurückzuführen ist. Auch Zündholzfabriken gab es in Nürnberg und seiner Nachbarstadt Fürth damals in großer Zahl.58 Die Vergiftung mit Quecksilber in der Spiegelherstellung war eine altbekannte Geschichte – die Gefahren, die vom weißen Phosphor ausgingen, waren relativ neu.59 In den 1840er-Jahren trat unter den Arbeitern in den Zündholzfabriken immer wieder eine Krankheit auf, die den Unterkiefer nach und nach absterben ließ und damals in mehr als einem Drittel aller Fälle mit einem frühen Tod endete.60 Diese Krankheit wurde erstmals 1839 erkannt und diagnostiziert. Als Entdecker dieses Krankheitsbildes werden »in den meisten Nachschlagewerken  […] die Nürnberger Ärzte [!] Ernst Freiherr von Bibra (1806–1878) und Lorenz Geist (1807–1867) genannt«, schreibt der Arbeitsmediziner Heinrich Buess. Tatsächlich wurde die Krankheit schon einige Jahre früher beschrieben,61 Ernst von Bibra  – er war Chemiker aus der Nähe von Schweinfurt, der später in Nürnberg lebte – verfasste dabei den naturwissenschaftlichen Teil, der Nürnberger Arzt Lorenz Geist den medizinischen.62 Feuermachen in alter Zeit In der alten Welt, bevor die Industrialisierung alles von Grund auf veränderte, sagen wir vor dem Jahr 1800, waren viele alltägliche, heute sehr einfache Tätigkeiten aufwendig, zeitraubend und nicht selten auch gefährlich. Das Entfachen eines Feuers beispielsweise war so umständlich, dass in den Haushalten das Herdfeuer nur selten gelöscht wurde. Wie machte man denn damals Feuer? Das folgende Zitat ist nicht 2000 Jahre alt, sondern gerade einmal etwas mehr als 200! Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) schreibt in seinen »Prolegomena zu einer künftigen Physik«, der schottische Philosoph David Hume habe »einen Funken« geschlagen […] bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfindlichen Zunder getroffen hätte, dessen Glimmen sorgfältig wäre unterhalten und vergrößert worden« (Werke V, S. 115). Das ist eine knappe, zutreffende Beschreibung, wie man zu Kants Lebzeiten Feuer machte.

279

280

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Man benötigte dazu einen Feuerstein, Zunder und einen Span, mit dem man das Feuer auf den vorbereiteten Herd oder vielleicht auf eine Zigarre übertragen konnte. Feuerstein, auch Flint genannt, ein sehr hartes Mineral, gab es nicht überall, daher war er schon seit Urzeiten ein begehrtes Handelsgut. Er war bis in die Mitte des 19.  Jahrhunderts in Gebrauch. Zuerst schlug man mit dem Feuerstein an ein Stück hartes Metall und erzeugte einen Funken. Dabei musste man den Zunder in nächster Nähe halten, damit der springende Funke den Zunder zum Glimmen bringen konnte. In einem Lexikon aus dem 18. Jahrhundert heißt es: »Zunder wird diejenige Materie genennet, welche darauf gefallenen Funcken sich sogleich entzünden lässt. Der gemeinste wird aus Leinwand bereitet  […]. Feuer- oder Zunder-Schwämme wurden auch fungi-ignatii genannt, mit welchem man Feuer anzündet.«63 Der Zunderschwamm (Fomes fomentarius, Polyporum f.) ist ein Pilz, ein Porling, der an verschiedenen Laubbäumen wächst, vor allem an Birken und Buchen. Dieser Pilz ist ungenießbar; er ist knollig, konsolen- bis hufartig und ziemlich dick. Sein weich-faseriges Fruchtfleisch wurde durch Kochen und Klopfen weich gemacht, bisweilen auch mit Salpeter getränkt, um seine Glimmfähigkeit zu verbessern. Wenn der Zunder zu glimmen begann, blies man bis er glühte und konnte dann daran einen Span entzünden und hatte richtiges Feuer. Statt des Zunders wurden in der fernen Vergangenheit bisweilen auch andere Stoffe verwendet, namentlich Wollgras oder Holunder- und Binsenmark. Zündhölzer kamen in Deutschland erst ziemlich spät auf. Die Entwicklung dieser mit Phosphor bestückten Streichhölzchen erfolgte etwa im Jahr 1832. Zur Verfertigung dieser Zündhölzer verwendete man einige giftige Stoffe, vor allem weißen Phosphor und Bleidioxid, mitunter auch Schwefel, daher der Name Schwefelhölzer. Phosphor war 1669 von dem deutschen Alchimisten Hennig Brand entdeckt worden. Ein paar Jahre später verkauften Godfrey Haukwitz und Robert Boyle Papiere, die mit einem Gemisch aus weißem Phosphor und Schwefel bedeckt waren. Man musste ein Hölzchen über das Papier ziehen, dann entflammte nach ein paar Versuchen Feuer. Ein Wiener Chemiker, Anton Schrötter Ritter von Kristelli, entdeckte den »amorphen« Phosphor. Er entwickelte auch ein Streich-

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

holz, das allerdings noch wenig zuverlässig war und gleichfalls Anteile von weißem Phosphor enthielt. Dieser weiße Phosphor war so giftig, dass man sich damit das Leben nehmen konnte, wenn man einige solcher Zündholzköpfe schluckte; diese Methode war seinerzeit nicht ungewöhnlich für Selbstmörder.64 Der schlesische Romancier Gustav Freytag hat in seinem einst so beliebten Roman »Soll und Haben« (1855) einer Person die Worte in den Mund gelegt, »daß die Selbstmorde und andere Untaten seit Erfindung der Schwefelhölzer zugenommen haben«. Bedingt durch sein starkes Reduktionsvermögen hemmt weißer Phosphor die intrazelluläre Oxidation, beeinträchtigt also massiv den Stoffwechsel. Starke Phosphoreinwirkung führt zur Hemmung der Glykogenbildung und zur Schädigung bis hin zum Versagen der Leber. Bei kleineren Mengen über längere Zeit verabreicht kommt es zu Veränderungen im Endothel der Knochenblutgefäße und zur Thrombosebildung und Ernährungsstörung des Knochengewebes sowie zum Schwund der Osteoblasten, folglich zur Atrophie des Kiefers. Junge Menschen sind davon besonders betroffen.65 Die Ausbreitung des Rauchens im Verlauf des 19. Jahrhunderts erhöhte die Nachfrage nach Zündhölzern. Zuvor hatte man Zigarren an Öl- oder Gaslampen angezündet, oder man nahm sich einen glühenden Span direkt aus dem offenen Kamin, wenn man zuhause war. Mit den neuen Zündhölzern konnte man sich sogar auf der Straße eine Zigarette anzuzünden.66 Die fränkische Zündholzindustrie Mit der Nachfrage stieg auch die Produktion von Zündhölzern. In vielen deutschen Städten, so auch in Nürnberg und Fürth, entstanden etliche Betriebe, die sich auf die Fertigung von Zündhölzern spezialisierten.67 In diesen meist kleinen Fabriken, die nur wenige Mitarbeiter beschäftigten, waren gegen Jahrhundertmitte vor allem junge Frauen beschäftigt. Diese jungen Arbeiterinnen verdienten wöchentlich vier bis fünf Gulden. Viele kamen von weit her, aus Oberfranken, vielen von ihnen hatte der Arbeitgeber das Geld für die Reise von Bayreuth nach Nürnberg vorgestreckt. Diesen Betrag mussten sie dann abarbeiten.68

281

282

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Die Gefahren, die von dieser neuartigen Zündhölzchenfabrikation ausgingen, wurden bald bemerkt: »So muß der Arbeiter, weil die bei der Verfertigung entwickelten Dämpfe äußerst erstickend sind, Mund und Nase mit einem durch Seifenwasser naß gemachten Tuche verbinden; und die Werkstätte selbst, entfernt von menschlichen Wohnungen, muß so eingerichtet seyn, daß die Dünste durch angebrachte Züge schnell davon fliegen«, hieß es in einem populären Conversationslexikon von 1834. Die äußeren Umstände in diesen Betrieben griffen die Gesundheit der Arbeiterinnen an. In den Arbeitsräumen war die Luft stark mit Phosphordämpfen durchsetzt. Dort verbrachten sie 12 bis 13 Stunden »fast ununterbrochen«, sie nahmen dort auch ihre Mahlzeiten zu sich.69 Viele von ihnen erkrankten nach einiger Zeit. »Alle diese Kranken stimmen in der Aussage überein, seit ihrem Eintritt in die Fabrik von Husten befallen worden zu sein. Sie suchen meist dann erst Hilfe im Hospital, wenn der Husten habituell geworden, sich verschlimmert und mit allen Zeichen der acuten Bronchitis complizirt hat.«70 Einige Ärzte meinten, das Übel lasse sich mit besserer Ventilation in den Arbeitsräumen beseitigen. Schlimmer waren jedoch die Fälle von Kiefernekrose, die in diesen Werkstätten so häufig auftraten: »Wir sehen, dass dasselbe kein Geschlecht, kein Alter verschont, wenn gleich in ersterer Beziehung die männlichen Arbeiter seltener ergriffen werden, indem wir unter den 68 in angeführten Beobachtung nur 5 finden, welche männliche Individuen betreffen. Der Grund liegt in der überhaupt geringeren Anzahl männlicher Arbeiter in den Fabriken, so wie in der weniger gefährlichen Beschäftigungsweise derselben.«71 In einem sehr frühen Bericht vom 31. Juli 1843 aus Nürnberg heißt es, dass »einige junge Weibspersonen, welche in der Eckertschen Zündhölzchenfabrik zu Gostenhof arbeiten, so bedeutende Beschädigungen erlitten haben, daß ihnen durch Herrn Professor Dr. Dietz der Kiefer aus dem Mund herausgenommen werden mußte«.72

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

Die Phosphornekrose Schon früh hatten einige Ärzte damit begonnen, sich mit der Phosphorvergiftung und der Kiefernekrose zu beschäftigen. Einer der ersten war der österreichische Arzt Friedrich Wilhelm Lorinser (1817–1895). Er veröffentlichte 1845 einen Aufsatz über die »Necrose der Kieferknochen, in Folge der Einwirkung von Phosphordämpfen«. Er berichtete darin unter der Rubrik ›Brand‹ von einer »interessanten Beobachtung«, nämlich von »Mädchen mit necrotischer Zerstörung der Kieferknochen«. Er skizziert den Verlauf so: Beginn »mit Anschwellung und rothlaufartiger Röthe des Gesichts und heftigen tiefsitzenden Schmerzen, danach Abszessbildung nach außen und innen, Absterben des Knochens«. Es stellte sich heraus, dass alle diese Mädchen »Arbeiterinnen aus Zündholzfabriken« waren.«73 In den 1840er-Jahren wurde viel über diese neue Krankheit, die Phosphorvergiftung, geforscht und geschrieben.74 Im Jahr 1845 eröffnete die Stadt Nürnberg ein neues allgemeines Krankenhaus. Im Jahr darauf fand in Nürnberg die 23.  Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte statt. Bei dieser Gelegenheit referierte der Erlanger Arzt Dr. Johann Ferdinand Heyfelder »Ueber die Nekrose der Kieferknochen durch Phosphordämpfe«.75 Heyfelder schilderte die Arbeitsbedingungen und die Krankheitssymptome. Er hatte festgestellt, dass die Krankheit im Winter heftiger auftrat, weil dann die Durchlüftung der Arbeitsräume noch schlechter war als in der warmen Jahreszeit. Die Symptome beschrieb er folgendermaßen: »Erst ein fixer Zahnschmerz, der später über die ganze Kieferhälfte sich ausdehnte. Hiezu gesellte sich Entzündung des Zahnfleisches, Erysipelas der Wangen, Speichelfluss, Fieber, Störung der Verdauung. Die Zähne wurden locker und fielen aus, indess ein missfarbiger, übelriechender Eiter neben den Zähnen hervorquoll und Fisteln im Zahnfleisch und in der Wange bildete, durch die man mit der Sonde auf den Kieferknochen gelangte, der überall sich rau anfühlte. Endlich lösten sich die Weichtheile des Mundes, so dass die Kieferknochen in einem grössern oder geringern Umfange aller Weichtheile beraubt erschienen.« Als weitere Symptome nannte er: allgemeine Schwäche, Appetitlosigkeit, Husten, Fieber, Durchfälle, Herzklopfen.76

283

284

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Heyfelder berichtete über eine Nürnberger Patientin, die ihn aufgesucht hatte: »Diese Person hatte während mehrerer Jahre in dem Saale, in welchem die in Phosphormasse getauchten Zündhölzer getrocknet werden, die dort beschäftigten Arbeiterinnen surveillirt. Bei ihr war die linke Hälfte des Unterkiefers ergriffen und sie bot ein treues Bild der Krankheit, wie ich es so eben entworfen habe. Die kranke Unterkieferhälfte wurde weggenommen und schon nach 14 Tagen konnte die Operirte entlassen werden. Sie kehrte zu ihrer frühern Fabrikbeschäftigung zurück, welche sie fünf Monate fortsetzte. Dann aber wurde die rechte Unterkieferhälfte, etwas später der rechte Oberkieferknochen ergriffen. Ich schlug der Kranken umsonst die Excision der rechten Hälfte der Mandibula vor, welche sie damals zurückwies, später aber durch einen Nürnberger Arzt machen liess. Nach Verlauf von einiger Zeit ist sie an Consumtion der Kräfte gestorben und die Section soll ein ausgebreitetes Leiden des Oberkiefers und des Stirnbeins nachgewiesen haben. An beiden Hälften des Unterkieferknochens ist der Alveolarfortsatz necrotisch und sämmtliche Zähne fehlen, mit Ausnahme der hintersten Backenzähne, welche durchaus gesund erscheinen. Die äussere Fläche der Mandibula ist mit Ausnahme des Alveolarfortsatzes, des äussersten Randes vom hintern Aste, des Kronen- und des Gelenkfortsatzes mit einer dicken Schicht einer grauweissen, wurmstichigen, bimssteinartigen, neugebildeten Knochenmasse bedeckt, die dem cariösen Prozess unterworfen gewesen zu sein scheint. Die innere Fläche des Knochens ist auch mit einer neugebildeten Knochenmasse bedeckt, diese Schicht ist aber weniger dick, mehr weiss, nicht wurmstichig, nicht bimssteinähnlich und zeigt gesunde, ja selber zierliche und schöne Bildungen. […]« Der Verlauf der Krankheit konnte unterschiedlich sein. Zumeist war erst ein Kiefer ergriffen, es folgte der Zahnschmerz. »Derselbe beginnt nach einem Aufenthalt in der Fabrik von 6 Monaten bis zu 12 Jahren. […] In einzelnen Fällen tritt derselbe gleich nach Beginn der Arbeit auf, dauert ein Paar Wochen an, verlässt aber dann den Erkrankten für Monate und Jahre, kehrt nach dieser Zeit und noch mehrmals wieder, bis zuletzt das tiefere Leiden ausbricht.« Oft Juckreiz des Zahnfleisches, Blutspucken. Der Schmerz verbreitet sich dann auf die ganze Ober- oder Unterkieferhälfte, die lym-

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

phatischen Drüsen am Hals schwellen an, schmerzhaft, Zahnfleisch rötete sich und schwoll an, es bildeten sich Abszesse. Immer mehr, stinkender Eiter entleert sich, Zahnfleisch zieht sich immer mehr zurück, Fieber, die Kranken verlieren den Appetit, leiden an Durst und »Unordnungen in der Leibesöffnung«, meist an Verstopfung.77 »Prof. Dietz theilt mit, dass er bereits vor 3 Jahren über das in Nürnberg beobachtete und behandelte fragliche Leiden an die vorgesetzte Medicinalbehörde gutachterlichen Bericht zu erstatten veranlasst gewesen sey.« Am Ende dieses Referats stellten die Nürnberger Ärzte Dr. Dietz und Dr. Geist drei solche »Kranke vor, welche in ihrer Behandlung stehen und um so mehr Interesse erregten, als bei einer derselben vor zwei Jahren die kranke Unterkieferhälfte exartikulirt worden ist, und man dann an den zwei andern die ersten Stadien der Krankheit beobachten konnte, nachdem die vorgelegten theils resecirten, theils nach dem Tode herausgenommenen Unterkiefer in ihrer pathologischen Veränderung den Ausgang des örtlichen Leidens gezeigt hatten.«78 Dem Referat folgte eine lange Diskussion. Um eine wirkungsvolle schonende Therapie der Erkrankten war es in der Mitte des 19.  Jahrhunderts schlecht bestellt: Sehr oft bestand sie einfach darin, die befallenen Teile des Unterkiefers operativ zu entfernen. Schrecklich genug, aber man darf darüber nicht vergessen, dass zwar die Vollnarkose ziemlich genau zu dieser Zeit erstmals angewandt wurde, genau genommen 1846, jedoch in Nordamerika. In Deutschland wurde noch lange Zeit unter unbeschreiblichen Umständen operiert. Die Phosphornekrose war eine fürchterliche Erkrankung. Aber die Menschen, die unter so beklagenswerten Bedingungen ihre Gesundheit und sogar ihr Leben aufs Spiel setzten, taten dies gezwungenermaßen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Betriebliche Maßnahmen gegen die Phosphorvergiftungen Es gab eine Reihe von Vorschlägen, wie man diese betrieblich bedingten Erkrankungen künftig vermeiden könne: Es sollte für eine bessere Durchlüftung der Arbeitsräume gesorgt und am Arbeitsplatz Reinigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Es erging ein Verbot

285

286

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

der Nahrungsaufnahme am Arbeitsplatz, die Arbeitszeit wurde eingeschränkt und die Beschäftigen sollten auf die große Bedeutung des häufigen Kleiderwechsels hingewiesen werden. Zudem sollten nur noch völlig gesunde Arbeiter für derlei Arbeiten eingestellt werden. Und: Die Betriebe sollten regelmäßig von den Behörden überprüft werden.79 Bald gab es immer wieder Ermittlungen gegen Zündholzfabrikanten wegen Unterlassung von derartigen Reformen. 1858/59 wurde Klage erhoben wegen »vernachlässigter Beaufsichtigung seiner Arbeitsleute und Nichtbeachtung der sanitätspolizeilichen Vorschriften ihrer Zündholzfabiken«.80 In den letzten Jahren des 19.  Jahrhunderts gab es immer wieder lautstarke Forderungen, die Fertigung dieser phosphorgetränkten Zündhölzer gänzlich zu verbieten. Erst im Jahr 1907 wurden

»Susanna Huck, 19 Jahre alt, von mittlerer Grösse, zartem schwächlichen Körperbau, braunem Haar, weisser Haut, […] In ihrem 18. Jahre überstand sie ein Wochenbett, wonach sie zwar immer angegriffen, aber doch relativ gesund blieb. In der Phosphorzündholzfabrik arbeitete sie 6 Jahre und war mit dem Tunken und Zählen der Hölzchen beschäftigt. Bei theilweise schadhaften Zähnen litt sie während dieser Zeit viel an Zahnschmerzen ohne Geschwulst der Wange, und gebrauchte dagegen oft scharfe Zahntinkturen. Diese Schmerzen wurde indessen immer anhaltender, nach und nach mehrere Zähne ausgezogen, bis zuletzt auch das Zahnfleisch und die Wange anzuschwellen anfingen. Ausgang des Winters 1842/43 war die Geschwulst der linken Wange nach aussen aufgebrochen, aber erst im Juli 1843 suchte die Kranke ärztliche Hilfe. Am 26.  Juli 1843 wurde die partielle Resection der linken Kieferhälfte vorgenommen, indem der Knochen vorn am rechten Eckzahn, hinten hinter dem linken letzten Backzahn mit Zurücklassung der Gelenk- und Kronenfortsätze durchsägt wurde. Die Heilung der äussern Wunde erfolgte zwar ziemlich normal, jedoch blieben die Paar Fistelöffnungen zurück. Nach wenigen Wochen bemerkte man eine fortwährende Eiterabsonderung nach der Mundhöhle und nach aussen […]. Das nach der Operation grösstentheils gewichene Fieber erhob sich aufs Neue, […] dem die Kranke auch den 25. April 1844 erlag, nachdem am 22. April der völlig lose linke Gelenk- und Kronenfortsatz ohne Schwierigkeit mit der Kornzange waren ausgezogen worden.«81

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.«

diese Zündhölzer von der Berner Konvention verboten, sie durften fortan nicht mehr unter Verwendung von weißem Phosphor hergestellt werden.82 Künftig hießen sie Sicherheitshölzer. Sie wurden unter Verwendung des roten Phosphors hergestellt, der durch Erhitzen von weißem Phosphor unter Luftabschluss bei 240 bis 250 Grad Celsius entsteht und weit weniger gefährlich und gesundheitsschädlich ist.

1 Friedrich Oesterlen, Handbuch der Hygiene, Tübingen 21857, S. 743. 2 Siehe Franz Bogner, Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse bei den Porzellanarbeitern in Deutschland, insbes. im Bezirk Selb-Rehau, Diss. med. Jena/Braunschweig 1909, S. 1 f., 7, 31. 3 Lorenz Geist, Das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Nürnberg, Nürnberg 1866, S. 63. 4 Herbert Aargard, Gefahren und Schutz am Arbeitsplatz in historischer Perspektive. Am Beispiel des Nadelschleifens und Spiegelbelegens im 18. Jahrhundert, in: Technologie und Politik. Demokratische und autoritäre Technik. Beiträge zu einer anderen Technikgeschichte (Das Magazin zur Wachstumskrise, Bd. 16, hg. von Freimut Duve), Reinbek 1980, S. 155–179, hier S. 161. Siehe auch Georg Schanz, Zur Geschichte der Colonisation und Industrie in Franken (Bayerische Wirtschafts- und Verwaltungsstudien, 1. Heft), Erlangen 1884. 5 Ernst Schubert, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, Darmstadt 22012, S. 225. 6 Über die Fürther Spiegelindustrie wurde viel geforscht, siehe etwa Dr. Johann Beeg, Die Fürther Spiegelmanufaktur, Fürth in Mittelfranken 1856/57; J. K. Hohenberger, Die Fürther Spiegelindustrie und ihre geschichtliche Entwicklung, in: Diamant. Glas-Industrie-Zeitung, 50. Jahrgang; Bruno Schoenlank, Die Fürther Quecksilber-Spiegelbelegen und ihre Arbeiter. Wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen, Stuttgart 1888; Erhard Schraudolph, Vom Handwerkerort zur Industriemetropole. Industrialisierung in Fürth vor 1870 (Mittelfränkische Studien 9), Ansbach 1993. 7 Dr. Julius Sax, Das Hospital in Fürth, Fürth 1810, S. 13. 8 Vgl. Johann Ferdinand Roth, Geschichte des nürnbergischen Handels, Bd. 2, Leipzig 1800/1802, S. 271. 9 Siehe dazu Franz Sonnenberger / H. Schwarz, Johann Caspar Beeg, 1809–1867, Nürnberg 1989. 10 Ebd. 11 Vgl. StadtAN C 7/I Nr. 7111 Bl. 44–45, 70. Zur Anzahl der Spiegelfabriken in Nürnberg siehe StadtAN Adreßbuch 1850, S. 200. Siehe auch Wolfgang Zorn, Die Hochindustrialisierung, in: Gerhard Pfeiffer (Hg.), Nürnberg  – Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 402–414, hier S. 404 f.;

287

288

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

12

13

14

15

16 17 18 19 20 21 22 23

Schraudolph, Handwerkerort (wie Anm. 6), bes. S. 46–48. Schoenlank, Fürther (wie Anm. 6), S. 99 f. Gesa Büchert, Die mechanische Herstellung von Glasspiegeln im Landgebiet der Reichsstadt Nürnberg, in: MVGN 85 (1998), S. 51–140; Dirk Götschmann, Wirtschaftsgeschichte Bayerns 19. und 20. Jahrhundert, Regensburg 2010, S. 66 f. Siehe A. C. L. Halford, Entstehung, Verlauf und Behandlung der Krankheiten der Künstler und Gewerbetreibenden, Berlin 1845. In dem Unterkapitel »Gesundheit der Arbeit« (S. 59 f.) unterteilt Halford vier Klassen von Schädlichkeit, dabei fällt Quecksilberläuterer und Spiegelglasbeleger (2 von 4) in die schädlichste Kategorie. In die 2. Gruppe gehören auch Zündschwammund Zündholzverfertiger. Ebd., S.  60. Zu den Problemen des Mercurialismus gibt es reichlich Literatur, siehe dazu Erna Lesky (Hg.), Sozialmedizin. Entwicklung und Selbstverständnis, Darmstadt 1977; dies., Die Arbeiter und das Quecksilber, in: Ciba-Zs. Nr. 96, Bd. 8, Wehr/Baden 1959, Sp. 3191–3200; Ernst W. Baader (Hg.), Hdb. der gesamten Arbeitsmedizin, Bd.  2: Berufskrankheiten, 1. u. 2. Tbd, 1961. Quecksilbervergiftung: Bd. 2, 1. Tbd., Berlin/ München/Wien 1961, S. 159–176. Siehe Volker Schmidtchen, Technik am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zwischen 1350 und 1600, in: Propyläen Technikgeschichte, hg. von Wolfgang König, Bd. 2: Metalle und Macht 1000 bis 1600, Berlin 1997, S. 209–600, hier S. 231–235. Putzger – Historischer Weltatlas, Berlin 1032001, S. 92 f.: Karte Mitteleuropa im 16.  Jahrhundert (um 1550). Die Quecksilbergruben von Idria sind hier nicht namentlich genannt, sie werden lediglich durch ein Symbol  – einen gelben Kreis mit der Inschrift ›Hg‹ (= Quecksilber) nördlich der Stadt Triest – ausgewiesen. Siehe Johann Jacob Ferber, Beschreibung des Quecksilber-Bergwerks zu Idria in Mittel-Crayn, Berlin 1774. Friedrich Lütge, Der Handel Nürnbergs nach dem Osten im 15./16.  Jahrhundert, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Bd. 1, hg. vom StadtAN, Nürnberg 1967, S. 318–376, hier S. 354. Ebd. Lesky, Arbeiter (wie Anm. 13), Sp. 3191. Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 172. Zit. nach Julius H. G. von Schlegel, Die Krankheiten der Handwerker und Künstler, nach dem Lateinischen des Bernh. Ramazzini, 1823, S. 365. Gottlieb von Schlegel, 1772–1839, war Weimarer Hofmedicus. Franz Koelsch, Handbuch der Berufskrankheiten, Berlin 1953/54, S.  56 f.; Baader, Quecksilbervergiftung (wie Anm. 13), S. 158–176. Siehe auch Ludwig Teleky, Die gewerbliche Quecksilbervergiftung, Berlin 1912. Adolph Kussmaul, Untersuchungen über den constitutionellen Mercurialismus und sein Verhältnis zur constitutionellen Syphilis, Würzburg 1861, S. 402 f. Nürnberg vor 125 Jahren. Die Medizinal-Topographie von 1862, bearbeitet und eingeleitet von Jutta Seitz, hg. von Gerhard Hirschmann (Nürnberger Forschungen 24), Nürnberg 1987, S. 56.

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.« 24 Ferdinand Escherich, Körperbeschaffenheit und Volkskrankheiten, in: Bavaria. Landes- und Volkskunde des Königreiches Bayern, Bd. 3, 2. Abtheilung, München 1865, S. 1007–1010. 25 Ebd., S. 1009. 26 H.-V. Vallois, L’Anthropologie physique, in: Ethnologie générale; J. Poirier (Hg.), Encyclopédie de la Pléiade, Paris 1968, S. 596–730, hier S. 618, 620 f. 27 Fürth zu Beginn des Industriezeitalters. Geschichte, Lebensumstände und Bevölkerungsentwicklung, verfaßt von Dr. Adolf Mair 1861 als Bericht über die »Geschichte, Topo- und Ethnographie des Physikatsbezirks Fürth«, bearb. und eingeleitet von Hermann Ott, Fürth 1989, S. 60. 28 Fränkische Tagespost Nr. 146, v. 28.6.1886, zit. nach: Helmut Schwarz, Spiegelbilder  – Glasschleifereien und Polierwerke in Nürnberg, in: Schwarz, Merkurs Fluch. Technik und Gefahren der Spiegelproduktion, in: Jürgen Franzke (Hg.), Räder im Fluß, Nürnberg 1986, S. 275–281, hier S. 277. 29 Büchert, Glasspiegel (wie Anm. 12), S. 113 f. 30 Schoenlank, Fürther (wie Anm. 6), S. 134–137. 31 Ebd., S. 129–131, 135–137. 32 Ebd., S. 167. 33 Siehe dazu die Archivalien im StadtAF, Fach 78 Nr. 24, Bl. 79.88: Auflistung weiblicher Arbeiter aus der Spiegelbelege. 34 StadtAF Fach 78 Nr.  20: Verzeichnis der in der Stadt Fürth beschäftigten Spiegelbelegen nach dem Stand von Dezember 1857, Bl. 312. Im Stadtarchiv von Fürth finden sich viele Archivalien, die auf die gesundheitlichen Probleme der Spiegelglashersteller hinweisen. Siehe StadtAF Fach 78 Nr. 22: Belegen verlangt ärztliche Untersuchung 11.7.1860; ebd., Nr. 20: Die zu ergreifenden sanitätspolizeilichen Maßregeln gegen die schädlichen Folgen des Glasbelegens, 1847; ebd., Nr. 28: Die Errichtung eines Vereins für Glasbeleger zur Unterstützung merkurial-erkrankter Personen; ebd. Nr. 22: Bericht über die Entlassung einzelner Personen mit Merkurialkrankheit, 23.12.1857; ebd., Nr.  22: Fall von Merukurialkrankheit, April 1854, Katharina Schmid und weitere Fälle, 6.8.1854; ebd., Nr. 21; ebd., Nr. 24: Visitationsberichte aus den Spiegelbelegen, Bl. 61–63. 35 Büchert, Glasspiegel (wie Anm. 12), S. 65 f. 36 Vgl. ebd., S. 108, 132. Siehe auch Wilhelm Schwemmer, Röthenbach an der Pegnitz. Geschichte einer Industriestadt (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft, 30), Nürnberg 1982, bes. S. 40. 37 Schraudolph, Handwerkerort (wie Anm. 6), S. 97; Schoenlank, Fürther (wie Anm. 6), S. 134. 38 Dr. Wollner, Die Quecksilberspiegelbelegen in der Stadt Fürth, in: Deutsche Vierteljahrschrift für öff. Gesundheitspflege 1887, zit. nach Baader, Quecksilbervergiftung (wie Anm.  13), S.  162, 168 f.. Siehe auch Lutz Sauerteig, Quecksilberkur, in: Enzyklopädie Medizingeschichte, hg. von Werner E. Gerabek u. a., Berlin/New York 2005, S. 1209. 39 Siehe Dietrich Milles, Statt Gesundheit. Gewerbehygiene als ›Verpackungskunst‹, in: Jörg Vögele / Wolfgang Woelk (Hg.), Stadt, Krankheit und Tod. Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der epidemio-

289

290

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

40 41 42 43 44

45 46 47 48 49 50 51 52

53

54 55

logischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert), Berlin 2000, S. 367–397, hier S. 368, 376 f. Manfred Vasold, Geschichte des Nürnberger Allgemeinen Krankenhauses (1845–1933), in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 16 (1997), S. 313–400, hier S. 350. StadtAN C 23/I Nr. 117 (17.6.1864). Ebd. Bl. 9. Geist, Krankenhaus (wie Anm. 3), S. 23 f. Siehe Adolf Kussmaul, Jugenderinnerungen eines alten Arztes, Stuttgart 1899. Diese Erinnerungen erschienen im 20. Jahrhundert in vielen Auflagen. Siehe ferner StadtAN C 7 I//111: Das Auftreten der Mercurialkrankheit unter den Arbeitern in den Spiegelfabriken, die Bekämpfung derselben und die vorgenommenen Visitationen in diesen Betrieben, 1847–1892. Siehe Kussmaul, Untersuchungen (wie Anm. 22). Diese Monographie enthält eine ausführliche Geschichte der Erforschung der Quecksilbervergiftung. Ebd., über Fürth: S. 132–140; über Erlangen: S. 141–215. Siehe Art. Quecksilbervergiftung, in: Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Berlin 2581998, S. 1334 f. StadtAF Intelligenzblatt Fürth vom 2.2.1854, Bl. 96 v. Kussmaul, Untersuchungen (wie Anm. 22), S. 33. Ebd. Joseph Kerschensteiner, Die Fürther Industrie in ihrem Einflusse auf die Gesundheit der Arbeiter, München 1874, S. 21. Ludwig Hirt, Arbeiter-Schutz. Eine Anweisung für die Erkennung und Verhütung der Krankheiten der Arbeiter, Leipzig 1879, S. 154. Zur Person Hirts siehe Gabriel Oelsner, Ludwig Hirt (1844–1907) und sein Werk über die Krankheiten der Arbeiter, Diss. med. Zürich 1868. Hirt kam aus Schlesien, er habilitierte sich 1871 in Breslau im Fach Hygiene. Siehe auch den Art. ›Spiegelglasherstellung‹ in: Stadtlexikon Nürnberg, hg. von Michael Diefenbacher u. Rudolf Endres, Nürnberg 1999, S. 1005, ferner Ludwig Winkler, Die Spiegelglas-Industrie in Fürth, in: Kunst und Gewerbe, Fürth 1887, S. 363. StadtAF Fach 78 Nr. 24: Verzeichnis der von 1850 bis 1860 im Hospital Fürth behandelten Mercurialkranken, Bl. 147–154. Siehe auch ebd. 78 Nr. 22: Viele Dokumente sind unterzeichnet von Dr. Fronmüller, Einweisungen oder Hinweis auf Behandlung im Städt. Hospital. Es gab auch »Untersuchungen gegen Glasbelegen […] wegen Uebertretung der Verordnungen bzw. polizeiliche Vorschriften über das Glasbelegen«. Dr. Fronmüller sen. veröffentlichte 1871 eine »Chronik der Stadt Fürth«, Ndr. 21887 in Neustadt/A. o. J. Siehe auch Heinrich Aldinger, Zur Lehre vom Mercurialismus, nach Beobachtungen an Fürther Quecksilberarbeitern, Diss. med. Würzburg 1861. StadtAN C 7 I 7111 Das Auftreten der Mercurialkrankheit unter den Arbeitern in den Spiegelfabriken, die Bekämpfung derselben und die vorgenommenen Visitationen in diesen Betrieben, 1847–1892. Siehe StadtAF Fach 78 Nr. 20: die Vorschriften sind abgedruckt im Intelligenzblatt der Stadt Fürth Nr. 75, 1847, S. 321. Bed., Nr. 93, 1852, S. 398 (Bl. 38 r, Bl. 42).

»… und erblicken mit schrecklichen Augen ihr eigenes Elend.« 56 StadtAF Fach 78 Nr. 20: Satzungen der Aktien-Gesellschaft zur Errichtung einer Dampf-, Wasch- und Bade-Anstalt, Sommer 1856; Bl.  237–242; Ferner Instruktion zum Gebrauch der Dampfbäder für Arbeiter in den SpiegelGlasbelegen, Bl. 252. Siehe auch das Fürther Intelligenz-Blatt F Nr. 104, vom 27.12.1855, Bl. 175 r. 57 Schoenlank, Fürther (wie Anm. 6), S. 214–217. 58 Vgl. StadtAN C 7/I Nr.  7111 Bl.  44–45, 70.  – Im Vorläufer von Pschyrembels Klinischem Wörterbuch, dem »Wörterbuch der Klinischen Kunstausdrücke« von O. Dornblüth, Leipzig 1894, gab es einen Eintrag ›Kiefernekrose‹: Absterben des Kieferknochens nach fortgesetzter Einatmung von Phosphordämpfen (in Zündholzfabriken). 59 Vermutlich aus diesem Grund enthalten weder das Nürnberger »Stadtlexikon« (wie Anm. 52) noch das Lexikon »Fürth von A bis Z. Ein GeschichtsLexikon« von Adolf Schwammberger, Neustadt/A. 1968, einen eigenen Eintrag ›Schwefel- oder Zündholzfabriken‹; beide Nachschlagewerke weisen jedoch Einträge über die Spiegelglasherstellung auf. 60 Geist, Krankenhaus (wie Anm. 3), S. 63; ders., Ueber das Leiden der Kieferknochen durch Phosphordämpfe, in: Medicinisches Correspondenzblatt bayerischer Ärzte 7 (1846), S. 196–262, hier S. 199. 61 Karl-Heinz Karbe, Zur Frühgeschichte des Kampfes gegen die Phosphornekrose in Deutschland, in: Zs. für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 22 (1976), S. 447–454, hier S. 448. 62 Heinrich Buess, Geschichte der Erforschung der Berufskrankheiten, in: Baader, Handbuch (wie Anm. 13), S. 15–36, hier S. 33 f. 63 Johann Heinrich Zedler, Grosses Vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste …, Bd. 64, Sp. 46. 64 Richard Sobel, They Satisfy. The Cigarette in American Life, Garden City/ New York 1978, S. 68. 65 Werner Ehrhardt, Erkrankungen durch Phosphor und seine Verbindungen, in: Baader, Handbuch (wie Anm.  13), Bd.  2, Tbd. 1, S.  197–231, hier S. 200–202. 66 Siehe Jacqueline Krim, Friction at the Atomic Scale, in: Scientific American H. Oct. 1996, S. 48–56. 67 Nürnberg vor 125 Jahren. Die Medizinaltopographie von 1862, bearb. von Jutta Seitz, Nürnberg 1987, S. 75. Siehe StadtAN C 20 I Bauamt Nr. 144: Die dahier bestehenden Zündhölzchenfabriken betr. [1840]. 68 Hans-Joachim Jahn, Krankwerden – Gesundbleiben, in: Industriekultur in Nürnberg. Eine deutsche Stadt im Maschinenzeitalter, hg. von H. Glaser / W. Ruppert / N. Neudecker, München 1980, S. 229–238. 69 Wilhelm Lorinser (1817–1895), Die Necrose der Kieferknochen, in Folge der Einwirkung von Phosphordämpfen, in: Medicinische Jahrbücher des k. u. k. österreichischen Staates 51 (1845), Sp. 257–279, hier Sp. 263 f. 70 Kussmaul, Untersuchungen (wie Anm. 22), S. 104 ff. 71 Ebd., S. 237. 72 Zit. nach ebd. – Vgl. StadtAF Fach 78 Nr. 21: Maßregeln gegen die in Phosphorzündhölzchen vorkommende Kieferknochenkrankheit betr. 1849. Siehe

291

292

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

73 74 75

76 77 78 79

80

81 82

auch ebd., 78 Nr. 21: Die periodische Visitation der Zündholzverfertigung, 1849. Buess, Geschichte (wie Anm. 62), S. 33. Siehe z. B. Rudolf Virchow, Ueber einen Fall von Regeneration des Unterkiefers nach Phosphornekrose, in: Verhandlungen der Physikalisch-medicinischen Gesellschaft, Bd. 1, Würzburg 1849, S. 2–5. Johann Ferdinand Heyfelder, Ueber die Nekrose der Kieferknochen durch Phosphordämpfe, in: Joh. S. Dietz / Joh. Simon Ohm (Hg.), Amtlicher Bericht über die 23. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte, Nürnberg 1846, S. 222–225. Ebd., S. 222. Ebd. Ebd., S. 224 f. StadtAN C 7 I GR 7103 Bekanntmachungen und Beschlüsse der Regierung und des Stadtmagistrats, ferner Untersuchungen wegen den in den Zündholzfabriken vorkommenden Kieferknochenkrankheiten und die in den Fabriken vorgenommenen Visitationen, Bl. 42 – Bl. 152: Verzeichnis sämtlicher Arbeiter in der Zündholzfabrik J. N. Gekerck in Gostenhof; Bl.  160–162: Krankengeschichte Kiefernekrose. StadtAN C 7 I 7123 Untersuchung gegen den Zündholzfabrikanten Johann Nicolaus Eckerdt wegen vernachlässigter Beaufsichtigung seiner Arbeitsleute und Nichtbeachtung der sanitätspolizeilichen Vorschriften über Zündholzfabriken beziehungsweise Täuschung der Obrigkeit, 1858–1859. Lorenz Geist / Ernst v. Bibra, Die Krankheiten der Arbeiter in den Phosphorfabriken, insbesondere das Leiden der Kieferknochen durch Phosphordämpfe, Erlangen 1847, S. 186–188. Siehe Gustav Custer, Fort mit dem Gifte der Phosphor-Zündhölzchen, Zürich/Stuttgart 1887.

Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen« Säuglingssterblichkeit im 19. Jahrhundert Im heißen, trockenen Sommer des Jahres 1911 starben sehr viele Säuglinge. An die 350 000 Neugeborene erlagen im Deutschen Reich jedoch nicht etwa einem Hitzschlag sondern schweren Darminfektionen.1 Wie konnte es dazu kommen? Ein mörderischer Sommer Der Sommer 1911 war in Zentraleuropa ungewöhnlich heiß und trocken. Die mittlere Temperatur betrug in Berlin im Juli 1911 20,7 Grad Celsius, im August 21,6; in Hamburg 18,4 bzw. 19,6 Grad; in München 19,7 bzw. 19,0; in Mannheim 22,0 bzw. 22,3; in Nürnberg 21,9 bzw. 21,5; in Köln 21,1 bzw. 22,0.2 Über die Witterungsverhältnisse in Bayern sind wir durch ältere Studien gut unterrichtet.3 Der Sommer setzte 1911 spät ein, und er dauerte lange. In Nürnberg wurde am 28. Juli 1911 der höchste Tagesmittelwert ermittelt, fast 30 Grad Celsius. In den meisten Jahren erlebte Nürnberg seinen ersten Hochsommertag mit mehr als 25 Grad Celsius am 21. Juni, doch anno 1911 kam er deutlich später, am 22. Juli. Der letzte hochsommerliche Tag fiel gewöhnlich auf den 1. August, 1911 war es der 3. September.

294

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Dieser Sommer blieb vielen in Erinnerung. Über die Sommerhitze in Deutschland schreibt Marianne Weber, die Frau des berühmten Soziologen: »Der Sommer 1911 ist von besonderer Festlichkeit, herrlich heiß, ein Sonnenrausch ohnegleichen. Der Rasen verdorrt, Früchte fallen verschrumpft von den Bäumen. Aber den Menschen schenkt die leichte südliche Glut ein unwirklich glückhaftes Dasein.«4 Und der Dichter Hermann Hesse, der den Sommer 1911 in Italien verbrachte, berichtet von der großen Hitze. »Es war im Spätsommer des Jahres 1911, ich war in der weiß lodernden Hitze jenes brennenden Sommers an vielen ausgetrockneten Flussbetten vorbeigefahren, belästigt von der Hitze.«5 In Italien brach in diesem Sommer noch einmal die Cholera asiatica aus, eine Infektionskrankheit der warmen Jahreszeit, Thomas Mann hat sie in seiner Novelle »Der Tod in Venedig« (1912) geschildert. Der Sommer des Jahres 1911 war in Zentraleuropa extrem heiß, ungewöhnlich heiß und sehr trocken. Dies traf für ganz Deutschland zu und für weite Teile Europas. Üblicherweise gab es in Nürnberg in den Jahren davor 37 Hochsommertage; 1911 waren es 63, in München noch etwas mehr, nämlich 83. Als »warm« wurden in Nürnberg normalerweise 106 Tage pro Jahr eingestuft, 1911 waren es 171. Gewöhnlich fielen in Nürnberg an 217 Tagen Niederschläge, 1911 aber nur an 135 Tagen. In den Monaten Juli und August fielen hier nur 30 mm Regen, in den zwölf Monaten dieses Jahres 384 mm, das war wenig mehr als die Hälfte der normalen Niederschlagsmenge. Die Trockenheit und die Hitze hielten bis Mitte September an.6 Dies hatte schreckliche Folgen: In vielen deutschen Großstädten starben im dritten Quartal 1911 sehr viel mehr Säuglinge als im selben Zeitraum in den Jahren davor. Etwas geringer war dieser Anstieg der Säuglingssterblichkeit auf dem flachen Land. »Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen …« Die Säuglingssterblichkeit war in Deutschland auch in der fernen Vergangenheit sehr hoch, höher als in den anderen europäischen Ländern. Vor dem Jahr 1800 starb fast ein Drittel der Neugeborenen im Säuglingsalter, d. h. im ersten Lebensjahr, und nur eins von zwei Neugeborenen erreichte seinen 15. Geburtstag. Der Begründer der

Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen«

historischen Demographie in Deutschland, Johann Peter Süßmilch (1707–1767), schrieb, dass von 1000 Neugeborenen auf dem Lande 390 vor dem fünften Lebensjahr verstarben, in den großen Städten sogar 478.7 Im 19. Jahrhundert blieb die Säuglingssterblichkeit in den Ländern des Deutschen Bundes sehr hoch, ja sie stieg in der Jahrhundertmitte sogar noch einmal an. Dies war eine Folge der Industrialisierung, die für die große Mehrheit der Deutschen mit langen Arbeitszeiten und gewaltigen Härten verbunden war. Woran starben die Säuglinge? Mit Abstand die häufigste Todesursache der Säuglinge wurde seinerzeit genannt: »Abzehrung«, »Krämpfe«, »Fraisen«, »Convulsionen«  – damit bezeichneten die Ärzte Symptome, die dann auftraten, wenn eine falsche oder verdorbene Kost verabreicht wurde, bei diesen Krämpfen (oder Convulsionen) handelte es sich nämlich um Bauchkrämpfe. Die meisten Säuglinge starben also an Infektionen im Verdauungstrakt. Im 19.  Jahrhundert waren diese Symptome bei Säuglingen häufig anzutreffen, noch im Jahr 1877 machten gastro-intestinale Krankheiten bei den gestorbenen Säuglingen rund vier Fünftel aller Todesfälle aus, 1907 noch immer 64 Prozent.8 Die Säuglingssterblichkeit war im Süden Deutschlands sehr viel höher als im Norden. In Preußen lag die Säuglingssterblichkeit vor 1871 wenig über 20 Prozent;9 südlich der Donau war sie doppelt so hoch. Kuhmilch oder Muttermilch? Säugetiere ernähren ihre Nachkommen mit ihrer eigenen Milch. Auch die menschliche Muttermilch bietet den Neugeborenen eine ausgewogene Ernährung, die reich ist an Fetten, Zuckern, Proteinen, Mineralien und Vitaminen. Muttermilch ist, ernährungswissenschaftlich betrachtet, optimal zusammengesetzt; außerdem hilft sie dem Säugling, Immunität gegen eine Reihe von Krankheiten zu entwickeln, möglicherweise erhöht sie sogar die Intelligenz der Kinder.10 Die Milch gesunder Wöchnerinnen ist keimfrei und sie ist billig. Anders sieht es aus mit Kuhmilch, die oft verdünnt als Ersatz für die Muttermilch verwendet wurde. Säuglinge mit Kuhmilch zu füttern

295

296

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

war jedoch problematisch: Rohe, nicht abgekochte Milch bildet für vielerlei Arten von Mikroerregern – wie Campylobacter, Colibakterien, Salmonellen und Listerien – einen idealen Nährboden.11 Kuhmilch war für Säuglinge ein schlechter Ersatz, denn sie verdarb rasch, vor allem in der warmen Jahreszeit, weil sich dann die Bakterien in der Milch sehr schnell vermehrten. Solange es keine Kühlschränke gab, konnte man Kuhmilch nicht für längere Zeit aufbewahren. Der Berliner Pathologe Rudolf Virchow (1821–1902) fand heraus, dass in Berlin in den obersten Stockwerken von Wohnhäusern mehr Säuglinge starben als in den mittleren Etagen, weil hier im Sommer die Zimmertemperaturen besonders hoch waren. Wie löste man dieses Problem in anderen Ländern? Johann Carl Leuchs (1797–1877), ein reformerischer Nürnberger Kaufmann und Publizist, der weite Teile Europas bereist hatte, ein unermüdlicher Wanderer, klagte darüber, dass so viele junge Mütter ihre Kinder nicht stillten, sondern sie mit verdünnter Kuhmilch fütterten. Mit Interesse beobachtete er, dass in südlichen Ländern, in einigen Städten Italiens und Spaniens, »die Milch nicht in die Stadt gebracht [wird], sondern man treibt die Kühe und Ziegen in die Stadt und melkt sie vor jedem Haus«.12 Ähnliches kann man in »Brehms Tierleben« nachlesen, wo es heißt: »Hier und da, so in Süditalien, Ägypten, treibt man die Ziegen mit strotzendem Euter vor die Häuser der Milchkäufer und melkt die gewünschte Menge gleich vor der Tür. Der Käufer hat dadurch den Vorteil, lauwarme Milch zu erhalten, und der Verkäufer braucht nicht erst zu Künsteleien, namentlich zu der ihm oft als notwendig erscheinenden Verbesserung durch Wasser, seine Zuflucht zu nehmen. Man begegnet selbst in den Straßen großer Städte, wie z. B. Neapel, solchen Ziegenherden.«13 Hierzulande wurde die Kuhmilch zunächst vom Erzeuger in die Stadt gebracht, und zwar über beträchtliche Entfernungen. Die Bauern wollten sich mit ihrer Milch ein Zubrot aus der Stadt verdienen. Die Gefäße, in denen die Milch befördert wurde, waren meist unsauber. Und je rascher die Städte nach außen wuchsen, desto weiter wurde der Weg. Da vergingen in der Regel viele Stunden, ehe die Milch vom bäuerlichen Erzeuger zum Verbraucher kam. Außerdem konnte der eigentliche Milcherzeuger, die Kuh, z. B. an Tuberkulose leiden.14 Und schon die Bauern streckten manchmal die Milch mit

Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen«

Wasser ebenso wie die unwissenden Mütter in den Städten die Kuhmilch noch mit Wasser von fraglicher Qualität mischten. Noch im frühen 20. Jahrhundert kam es immer wieder zu Beschwerden über den hygienischen Zustand der gelieferten Milch. Allenthalben hörte man Klagen über »die häufige Verunreinigung der Milch mit Kuhkot«; es wurde versucht, dies mittels »Gebrauch von Seihtüchern« zu verhindern und mehr Milchkontrollen durchzuführen. Die städtische Bevölkerung wies immer wieder auf »die minderwertige Qualität der zum Verkauf gebrachten Milch hin.«15 Warum wurde so wenig gestillt? Im 19. Jahrhundert wurden südlich des Mains – und noch mehr südlich der Donau – die meisten Säuglinge überhaupt nicht oder nicht lange genug gestillt. Warum so wenige Frauen ihre Säuglinge stillten, ist schwer zu begreifen, schon das 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Aufklärung, hatte eine Kampagne zugunsten des Stillens geführt. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) hatte in seinem »Émile« von den Vorzügen des Säugens geschwärmt. Das preußische Allgemeine Landrecht (1794) verlangte ausdrücklich, dass Mütter ihre Kinder stillten: »Eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu stillen verpflichtet«, hieß es da (§ 67). Auch in anderen Kulturen wurde das Stillen gepredigt: Der Koran sah vor, dass Mütter ihre Kinder in den ersten zweieinhalb Jahren ihres jungen Lebens an die Brust legten. Die meisten Frauen aus den Unterschichten besaßen nicht die Zeit und waren nicht in der körperlichen Verfassung, ihre Kinder zu stillen, und sie waren sich offenbar auch nicht bewusst, welche Gefahren von den künstlichen Nahrungsmitteln für ihre Kleinkinder ausgingen. »Irrige Ansichten über den Nahrungswerth von Zuckerwasser und Fleischbrühe kommen bei Armen und Reichen nicht selten vor«, schrieb 1862 ein Nürnberger Amtsarzt. »Ältern glauben ihr Kind recht zweckmäßig zu ernähren, wenn sie ihm schon vom ersten Vierteljahr an 2–3 mal täglich Fleischsuppe geben, ja eine sonst sehr tüchtige aber allezeit zum Kuriren und Ordiniren bereite Hebamme kam auf den genialen Gedanken ein neugeborenes Kind mit Kuhmolke ernähren zu wollen. Im ersten Lebensjahr wird Bier nur aeusserst selten verabreicht.«16

297

298

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Muttermilch ist als Säuglingsnahrung sehr viel besser geeignet als Kuhmilch, das war schon vor 1870 bekannt.17 Aber nicht jede Mutter besaß genügend Milch, also musste sie zu Ersatzstoffen greifen. Viele ärztliche Berichte geben für die Jahrhundertmitte nur eine ungefähre Auskunft darüber, wie viele der Frauen ihre Kinder selbst stillten. Die meisten Mütter in Bayern und Württemberg stillten ihre Neugeborenen nicht oder nur sehr kurze Zeit; sie fütterten ihre Kleinen stattdessen mit einer Mischung aus Mehlbrei, Zuckerwasser und dergleichen, und es war nicht ungewöhnlich, dass eine Mutter den Schnuller ins Bier eintauchte  – oder Opium verabreichte  –, um es zu beruhigen. Gemeinhin wollte man vom Stillen nichts wissen. »Südlich von der Donau ist es beim Landvolk allgemeine Sitte, die Kinder nicht an der Brust, sondern auf künstliche Weise aufzuziehen. Die Bauersfrauen verwerfen das Säugen als eine Unbequemlichkeit, ja sogar als ein Geschäft, das unter ihrer Würde sei. An die Stelle der Muttermilch tritt hier die unpassendste Nahrung, nämlich ein Milchbrei von möglichster Dicke, der dem Kinde in großer Masse und oft auch in schlechter, saurer Qualität beigebracht wird«, schreibt der zeitgenössische Medizinhistoriker Wilhelm Stricker.18 Die Forschungen Theodor Escherichs In Bayern nahm sich ein junger Arzt dieser Frage an, Theodor Escherich (1857–1911). Sein Vater, Ferdinand, war gleichfalls Arzt gewesen, in Diensten des bayerischen Staates, er hatte sich mit der unterschiedlichen Lebenserwartung verschiedener Berufsgruppen beschäftigt und darüber ein Buch geschrieben. Sein Sohn Theodor betrieb zu Beginn seiner ärztlichen Laufbahn bakteriologische Forschungen – der besterforschte Bakterienstamm, Escherichia coli, trägt heute seinen Namen. Dann spezialisierte er sich auf Kinderkrankheiten. Er bemerkte, dass bei den ›Flaschenkindern‹ in München die Sterblichkeit vier- bis sechsmal, in den Sommermonaten sogar rund zehnmal höher war als bei den gestillten Säuglingen. Es sei »zur Evidenz erwiesen«, schrieb Escherich, »dass die ausserordentliche Häufigkeit der Erkrankungen des Digestionstraktus (und damit die hohe Kindersterblichkeit überhaupt) ihren Grund

Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen«

hat in der fehlerhaften Pflege und Ernährung der Säuglinge und zwar zunächst in der Entziehung der Mutterbrust.« Escherich begann nun die Mütter, die zu ihm kamen, zu befragen, ob und wie lange sie stillten. Er fand heraus, dass in München zwischen 1861 und 1886 83 Prozent der Mütter überhaupt nicht stillten. Mit großstädtischem Leben ließ sich das nicht erklären, denn selbst in Berlin und Wien wurden mehr Säuglinge gestillt als in München. Schlimmer noch, das Nichtstillen nahm in den Jahren nach 1880 sogar noch zu. Mit dem Anwachsen der Industrie ging das Stillen zurück. Die große Mehrzahl der von ihm befragten Frauen nannte als Grund für das Nichtstillen eine »mangelhafte Milchsecretion«. Viele dieser unterernährten, überarbeiteten Frauen besaßen einfach nicht genügend Muttermilch. Sehr oft ging eine Mutter einer Fabrikarbeit nach und hatte nicht genügend Zeit für ihre Kinder. Die Arbeitszeiten in den Fabriken waren lang, 12 bis 14 Stunden am Tag, mit mehr als 3200 Arbeitsstunden im Jahr waren sie gut doppelt so lang wie heute. Oder eine Mutter hatte größere Kinder, in deren Anwesenheit sie nicht stillen mochte  – beengte Wohnverhältnisse waren also ein weiterer Grund. Natürlich auch das Vorurteil von Frauen gegen eine Tätigkeit, die sie leicht mit Tieren in Verbindung brachten: »Das Stillen gelte [in Schwaben] bei der dort weit überwiegenden katholischen Bevölkerung für unanständig, für eine ›Schweinerei‹«, bekam er von einer Frau zu hören. Eine andere Frau sagte: »Keine Kaufmannsfrau säugt ihr Kind mehr, und die Adlichen sollen es thun?« Eine dritte: »Kühe und Bäuerinnen mögen ihre Jungen stillen, aber für Personen von Stand ist so eine viehische Gewohnheit Schande.«19 Nach Escherichs Ansicht gediehen Flaschenkinder auch deswegen so schlecht, weil sie mit unverdünnter Kuhmilch überfüttert wurden. Kuhmilch enthält doppelt so viele Anteile an Protein, mehr Mineralien aber weniger Zucker; und das in ihr enthaltene Kasein ist für Säuglinge schwer zu verdauen. Über das Thema Säuglingssterblichkeit in Süddeutschland wurde vor dem Münchner ärztlichen Verein oft gesprochen. »Mit seltener Einstimmigkeit erklärt die Wissenschaft die Muttermilch für die einzig zulässige Nahrung des Säuglings, Aerzte und Polikliniken predigen unablässig die Nothwendigkeit des Selbststillens«, schrieb

299

300

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Escherich. Er fühlte sich von seinen Erkenntnissen darin bestärkt, das Stillen der Mütter zu befürworten. Als junger Arzt in München machte er den Vorschlag, die Städte sollten die Sterilisation der Kuhmilch selbst in die Hand nehmen, was wenig später auch geschah: Viele deutsche Großstädte richteten um das Jahr 1900 Milchhöfe ein.

»Da meine Mutter durch eine gewöhnliche Vernachlässigung nach meiner Geburt an der Brust litt, und eine Amme damals in der Gegend etwas ungewöhnliches war, wurde ich mit Kuhmilch aufgezogen.« (Johann Gottfried Seume, Mein Leben, Nördlingen 1986, S. 8)

Wolfgang Amadeus Mozart schreibt in einem Brief an seinen Vater vom 18. Juni 1783 über seine Frau und ihr Neugeborenes: »Meine Frau, sei sie imstande oder nicht, sollte niemals ihr Kind stillen, das war immer mein fester Vorsatz!  – Allein, einer andern Milch sollte mein Kind auch nicht hineinschlucken!, sondern bei Wasser, wie meine Schwester und ich, will ich es aufziehen.« Am 19. August, starb der kleine Mozart. Seinem Erzeuger war dies eine kurze Notiz wert, unter dem 6. Dezember 1783 schrieb er an seinen Vater: »Wegen dem armen, dicken, fetten und lieben Buberl ist uns beiden recht leid.« (Mozarts Briefe, hg. von Willi Reich, Zürich 1986, S. 305, 313)

Elisa von der Recke, die kurz nach 1800 durch Süddeutschland reiste, berichtete über ihre Beobachtungen in der Nähe von Wasserburg: »Eine üble Gewohnheit scheint unter den wohlhabenden Bürgern einzureißen: die Mütter tränken ihre Kinder nicht mehr selbst; sie nähren sie mit Kuhmilch. An zwei Orten fand ich hübsche junge Postmeisterinnen, die ihren zarten Säuglingen die Brust entzogen. Ihre Kinder hatten ein bleiches, sehr kränkliches Ansehn, indeß die wohlgenährten Mütter in blühender Fülle umher wandelten, und behaupteten, daß die jetzigen Aerzte das Selbstsäugen für etwas den Weibern Nachtheiliges hielten. Wann werden die Menschen, der Natur getreu, das Leben genießen lernen, und Freuden und Pflichten zu vereinigen wissen? Wann werden sie lernen, schädliche Vorurtheile ablegen, und unbedachtsamer Neuerungssucht widerstehen!« (Elisa von der Recke, Tagebuch einer Reise durch einen Theil Deutschlands und durch Italien, in den Jahren 1804 bis 1806, Bd. 1, Berlin 1815, S. 20 f.)

Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen«

Zeit der städtischen Reformen Industrialisierung und Urbanisierung gingen im 19.  Jahrhundert Hand in Hand. Die Industrie schuf neue Arbeitsplätze, Bauernkinder zogen vom Land in die Stadt, um sie anzunehmen. Viele deutsche Industriestädte verdreifachten innerhalb von dreißig Jahren ihre Einwohnerzahl. Die Städte explodierten förmlich, die Lebensumstände in der Stadt verschlechterten sich – bis dann endlich in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts große Reformen durchgeführt wurden. Ohne sie wäre das Leben in den Städten unerträglich geworden. In den großen Arbeiter- oder Fabrikstädten standen sehr viele Frauen in einem Arbeitsverhältnis, die Mütter unter ihnen hatten also wenig Zeit für ihre Kinder. Während in einer Verwaltungsstadt wie Düsseldorf nur 31 Prozent der jungen Frauen (über 14 Jahre) am offiziellen Arbeitsmarkt teilnahmen, waren es in einer Arbeiterstadt wie Nürnberg deutlich mehr: 43,8 Prozent, viele davon in der Industrie.20 Die Berufstätigkeit der Mütter erwies sich für deren Kleinkinder als verhängnisvoll. Dies alles traf noch viel mehr zu für ledige Mütter, sie waren etwa dreimal so häufig berufstätig wie verheiratete, und der Anteil von schwerarbeitenden Fabrikarbeiterinnen war unter ihnen besonders hoch. Ledige Mütter brachten auch viel häufiger tote Kinder zur Welt als verheiratete Frauen, und die Sterblichkeit ihrer Säuglinge war besonders hoch. Im Jahr 1906, als die Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reich 18,5 Prozent aller Lebendgeborenen betrug, starben von den ehelich geborenen Kindern 17,5 Prozent im ersten Lebensjahr, von den unehelich geborenen 29,4 Prozent.21 Die Gründung des Norddeutschen Bundes (1867) führte zu vielerlei Reformen, auch in den Städten Süddeutschlands. Die Kommunen erkannten, dass sie an weitreichenden Reformen im Gesundheitswesen nicht vorbeikamen. Um Informationen zu sammeln, gründeten Ärzte und Ingenieure 1873 den Verein für öffentliche Gesundheitspflege, er wurde »zum Träger und Sprachrohr der Hygienebewegung«.22 Seit den 1880er-Jahren wurden in vielen deutschen Großstädten neuartige Morbiditätsstatistiken geführt, sie vermittelten wichtige Einsichten über die Häufigkeit von Krankheiten in

301

302

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

einer Stadt und sogar in einzelnen Stadtteilen. Bald veröffentlichten große Städte »Berichte über die Gesundheitsverhältnisse und Gesundheitsanstalten« ihrer Kommunen. Zu den wichtigsten und weitreichendsten städtischen Reformen des späten 19. Jahrhunderts, welche auch die Sterblichkeit zu drosseln halfen, zählen die Erneuerung der Wasserversorgung und die Kanalisation. Davor hatten sich Trinkwasser und Abwasser im Untergrund vermischt, mit verheerenden Folgen. Das Wasser in den öffentlichen Brunnen war in den Städten seit der Jahrhundertmitte schlechter geworden, die Folge waren vermehrt Typhusfälle und eine hohe Säuglingssterblichkeit.23 In den dreißig Jahren nach 1855 richteten viele Städte eine neue zentrale Wasserversorgung ein. Nicht weniger wichtig als die Wasserzufuhr war die Kanalisation, sie zählte gleichfalls zu den städtischen Neuerungen, die bald eine wohltuende Wirkung auf die Gesundheit der Stadtbewohner ausübten. Im Jahr 1907 besaßen dreißig von vierzig deutschen Großstädten eine Schwemmkanalisation, bis 1912 waren es schon vierunddreißig. Bis 1906 starben in Deutschland anteilmäßig mehr Kleinkinder in den Städten als auf dem Land, danach war es umgekehrt. Kurz vor 1900 begannen deutsche Großstädte verstärkt gegen die hohe Säuglingssterblichkeit vorzugehen. Sie richteten eigene Milchaufbereitungsanstalten ein, die den Müttern subventionierte und hygienisch einwandfreie Milch anboten. In München entwickelte der Nahrungsmittelchemiker Franz Soxhlet (1848–1927) 1886 einen Apparat, mit dem man die Milch in der Flasche sterilisieren konnte; allerdings war das Gerät anfangs teuer und ohne die Unterstützung der Kommunen für die ärmeren Schichten unerschwinglich. Auch nach 1900 blieb die Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reich ziemlich hoch. Das Jahr 1904, mit seinem warmen Sommer, kostete vielen Säuglingen das Leben. Nach 1906 waren die Sommer eher kühl, die Rate der Säuglingssterblichkeit fiel. Aber das Jahr 1911 mit seiner abnormen Sommerhitze trieb sie noch einmal hoch, allerdings nicht über die Spitzen der Jahre vor 1900 hinaus, die Reformen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten doch Einiges bewirkt.

Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen«

Der langsame Rückgang der Säuglingssterblichkeit In einzelnen Jahren nach 1900 verzeichnete das Deutsche Reich über zwei Millionen Geburten pro Jahr, und noch immer starb fast jedes fünfte Neugeborene im ersten Lebensjahr. Noch immer griffen viele Frauen zu künstlichen Nahrungsstoffen, um damit ihre Kleinkinder zu füttern. Jetzt gingen der Staat und die Kommunen vermehrt gegen den Säuglingstod vor, denn nach wie vor war keine andere Altersgruppe so sehr vom Tode bedroht wie die Neugeborenen und die Kleinkinder in ihren ersten Lebensjahren. Die Gesamtsterblichkeit zeigte in den meisten Jahren zwei deutliche Höhepunkte: Der eine lag im Februar, der andere im August. Im Februar starben mehrheitlich die älteren, im Hochsommer die jüngeren Menschen. Es starben also nach wie vor viel mehr Säuglinge in den Hochsommermonaten als zu anderen Jahreszeiten: Während der drei Sommermonate, also binnen eines Vierteljahres, lag meist ein Drittel der Todesfälle. Je kühler ein Sommer, desto mehr Säuglinge kamen durchs erste Lebensjahr. Dass die Säuglings- und Kindersterblichkeit nach 1866 langsam zu sinken begann, ist in erster Linie der besseren Wasserversorgung zuzuschreiben, weil der Säuglingsnahrung kein verunreinigtes Wasser mehr beigemengt wurde. Seit den 1880er-Jahren sank die Geburtenziffer, und auch das begünstigte das Überleben der Neugeborenen, denn die Mütter hatten fortan weniger Kleinkinder, um deren Überleben sie sich kümmern mussten. Im Deutschen Reich setzte dieser Geburtenrückgang zuerst bei den Oberschichten ein und pflanzte sich dann langsam nach unten fort24 – da aber in den Arbeiterstädten diese Oberschicht eher klein war, schlug auch dies nur wenig zu Buch. Der deutsche Staat sah die rückläufige Geburtenzahl nur ungern; aber fortschrittliche Ärzte wiesen darauf hin, dass trotz dieses Rückgangs mehr Säuglinge zu Erwachsenen heranreifen konnten, denn statistisch betrachtet starben bei Müttern mit drei Kindern im Deutschen Reich durchschnittlich etwas mehr als ein Fünftel (20,7 Prozent) der Säuglinge; hatten sie aber zwölf oder mehr Kinder, war die Säuglingssterblichkeit mehr als doppelt so hoch. Eine kleinere Zahl von Geburten bei einer höheren Überlebensquote der Neugeborenen schone zugleich die Mütter, sagten sie.

303

304

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Tab. 1: Säuglingssterblichkeit in einigen deutschen Großstädten (in Prozent)25 Berlin Düsseldorf Hamburg Köln München Nürnberg Dt. Reich 1877/ 1880

29,7

25,8

22,3

23,8

37,7

26,3

20,4

1881/ 1885

27,9

25,1

22,7

25,4

33,2

27,0

20,7

1886/ 1890

26,4

21,2

26,2

25,4

32,1

27,5

20,8

1891/ 1895

24,2

21,5

22,6

25,2

30,5

25,5

20,2

1896/ 1900

21,8

20,3

18,2

24,3

28,9

25,0

20,1

1901/ 1905

20,2

19,3

17,4

22,1

23,6

24,7

19,7

1906/ 1910

16,4

15,5

15,0

18,7

19,0

20,5

17,4

1911/ 1913

15,1

14,3

13,4

18,5

15,0

17,4

16,3

In den deutschen Großstädten ging zwischen 1871 und 1914 die Säuglingssterblichkeit zurück, am stärksten dort, wo sie zuvor sehr hoch gewesen war, in München beispielsweise von 1877/80 bis 1911/13 um rund 60 Prozent. In Berlin und Düsseldorf nahm sie im selben Zeitraum um 37 bzw. 44 Prozent ab, in der Hansestadt Hamburg26 um 42 Prozent. Am wenigsten fiel sie in den Industriestädten Nürnberg und Köln, hier fiel sie nur um 33 bzw. 22 Prozent. Im ersten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts nahm die Säuglingssterblichkeit in Deutschland weiter ab: von 20,7 Prozent (1901) auf 16,2 Prozent (1910). Der Sommer 1911 hinterließ in den städtischen Statistiken noch einmal einen Ausschlag: Die Säuglingssterblichkeit sprang hoch auf 19,21 Prozent.27 In Duisburg starben 1901 von 1000 Neugeborenen 182, zehn Jahre später aber 233. In einigen Großstädten, auch in Nürnberg, war der Gesamtanstieg von 1911 gegenüber 1910 nicht allzu hoch; wenn man jedoch die beiden Monate Juli und August isoliert betrachtet, zeigen sie gegenüber dem Vorjahr ein erschrecken-

Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen«

Nach 1900 nahm die Sommersterblichkeit der Säuglinge in den bayerischen Städten infolge von Reformmaßnahmen zunächst rasch ab, wie hier in Nürnberg; doch im heißen Sommer 1911 stieg sie noch einmal ruckartig an.

des Bild: Im Juli und August 1910 starben zusammen 330 Säuglinge, 1911 waren es 654.28 Obwohl die Säuglingssterblichkeit auch in Nürnberg seit 1908 spürbar zurückgegangen war, zeigte sich noch immer ein deutlicher Sommergipfel. Nun wurden vermehrt Anstrengungen unternommen, die hohe Säuglingssterblichkeit zu drosseln. Das Deutsche Reich sah sich im Wettstreit mit anderen Nationen und versuchte durch Volksbeleh-

305

306

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

rung und Gesetze das Leben von Mutter und Kind zu schützen. Ein Reichsgesetz von 1914 regelte die Frage des Stillgeldes. Während des Ersten Weltkriegs stillten bereits zwei Drittel aller deutschen Mütter ihre Kinder selbst, wenngleich die häufigste Stilldauer – zehn bis zwölf Wochen – noch immer ziemlich kurz war. Im Deutschen Reich wurden in den Jahren zwischen 1900 und 1910 jährlich etwa zwei Millionen Kinder lebend geboren. Zieht man von dieser Zahl alle Verstorbenen ab, dann bleibt ein Überschuss an Neugeborenen von rund 800 000 bis 900 000. Im Jahr 1911 war er deutlich geringer, er belief sich nur noch auf knapp 740 000. Die hohe Säuglingssterblichkeit dieses Jahres – und der von ihr verursachte geringere Bevölkerungsüberschuss – sollte politische Folgen haben: Seit 1911 wurde die rasche Alterung der deutschen Bevölkerung für deutsche Konservative ein Gegenstand der Sorge.29 Eine ungewöhnliche Sommerhitze kann selbst heute in Europa noch immer schlimme Folgen haben, jetzt allerdings vor allem für Ältere. In dem heißen Sommer 2003 starben außergewöhnlich viele alte Menschen. »Hitzewellen sind in Europa eine vernachlässigte Naturgefahr mit hohen Risiken besonders für gesundheitlich angeschlagene Menschen. Die Hitzewelle des Jahrhundertsommers 2003 war ein bisher äußerst seltenes und extremes meteorologisches Phänomen, das in Europa zur größten Naturkatastrophe der letzten Jahrhunderte geführt hat.«30 1 2 3 4 5 6 7 8

Walther Kaupe, Sommerhitze und Säuglingssterblichkeit, in: Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 31 (1912), S. 30–37, hier S. 35. W. Kruse, Was lehren uns die letzten Jahrzehnte und der heisse Sommer 1911 über die Säuglingssterblichkeit und ihre Bekämpfung, in: Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 31 (1912), 175–201, hier S. 185. Theodor Hölcke, Die Temperaturverhältnisse von Nürnberg 1879 bis 1958, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft e. V., Erlangen 1962, S. 245–265, hier S. 256. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, München/Zürich 1989, S. 480. Hermann Hesse, Italien, hg. von Volker Michels, Frankfurt a. M. 1958. Prof. Rudel, Das Wetter zu Nürnberg im Jahre 1911, Nürnberg 1912, S. 3. Johann Peter Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, Bd. 2, Berlin 31765, S. 313. Jörg Vögele, Sozialgeschichte städtischer Gesundheitsverhältnisse während der Urbanisierung, Berlin 2001, S. 200. Siehe auch Friedrich Prinzing, Die

Todesursache »Abzehrung«, »Fraisen« und »Convulsionen«

9

10 11 12 13 14 15

16 17 18 19 20 21 22 23 24

Entwickelung der Kindersterblichkeit in den europäischen Staaten, in: Jbb. für Nationalökonomie und Statistik 23 (1899), S. 577–635. Wolfram Fischer / Jochen Kriegel / Jutta Wietog, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch I: Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes 1815–1870 (Statistische Arbeitsbücher zur neueren deutschen Geschichte, hg. von Jürgen Kocka / Gerhard A. Ritter), München 1982, S. 33 Tab. 9. Rosmarie Beier, Die Geschichte der Muttermilch. Bilder und Deutungen eines »Körpersaftes«, in: Universitas 51/3 (1996), S. 252–265. Berit Uhlmann, Roh und riskant, in: SZ vom 6.7.2010, S. 16. Johann Carl Leuchs, Zehn Tausend Erfindungen und Ansichten aus einem Leben von 1797 bis 1897, 5 Bände, Nürnberg 1870, Bd. 2: 1820–1832, S. 8. Brehms Tierleben. Die Säugetiere von Alfred Brehm, neubearbeitet von Max Hilzheimer und Ludwig Heck, Bd. 4: Paarhufer – Halbaffen – Affen, Leipzig/ Wien 1916, S. 296 f. Sigrid Stöckel, Säuglingssterblichkeit in Berlin von 1870 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs (Berlin-Forschungen 1), Berlin 1986, S. 219–264, hier S. 250. Die Bayerische Milchversorgung. Eine Denkschrift über die Frischmilchversorgung der Stadt Nürnberg, die Entstehung, Entwicklung und Organisation des Unternehmens und die milchwirtschaftlichen Verhältnisse im Einzugsgebiet, hg. von Adam Pickel, o. O. o. J. (vermutlich Nürnberg 1940), S. 41, 30. Nürnberg vor 125 Jahren. Die Medizinal-Topographie von 1862, bearbeitet und eingeleitet von Jutta Seitz, hg. von Gerhard Hirschmann (Nürnberger Forschungen 24), Nürnberg 1987, S. 73. Hermann Wasserfuhr, Über die Sterblichkeit der Neugeborenen und Säuglinge in Deutschland, in: Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege 1 (1869), S. 533–552, hier S. 549. W. Stricker, Zur Kindersterblichkeit in Württemberg, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin 32 (1865), S. 390–392. Theodor Escherich, Die Ursachen und Folgen des Nichtstillens bei der Bevölkerung Münchens, in: Münchner Med. Wochenschrift 34 (1887), Nr. 13, S. 233–235, Nr. 18, S. 344–345. Jörg Vögele, Düsseldorf – Eine gesunde Stadt? in: Düsseldorfer Jahrbuch 69 (1998), S. 193–209, bes. S. 199. Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II. Materialen zur Statistik des Kaiserreiches 1870–1914, hg. von G. Hohorst u. a., München 21986, S. 36. Anne I. Hardy, Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19.  Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2005, S. 207. Martina Bauernfeind, Stadtentwicklung Nürnbergs und Erlangens unter Georg Ritter von Schuh (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 60), Nürnberg 1998, S. 207. Vgl. Reinhard Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981, S. 54–66.

307

308

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 25 Vögele, Sozialgeschichte (wie Anm. 8), S. 135. 26 Siehe Richard J. Evans, Death in Hamburg. Society and Politics in the Cholera Years 1830–1910, Harmondsworth 1987, bes. S. 1–179. 27 Franz Rothenbacher, Zur Entwicklung der Gesundheitsverhältnisse in Deutschland seit der Industrialisierung, in: Erich Wiegand / Wolfgang Zapf (Hg.), Wandel der Lebensbedingungen in Deutschland, Frankfurt a. M. 1982, S. 335–424, hier S. 397. 28 Berichte über Gesundheitsverhältnisse und Gesundheitsanstalten, Nürnberg 1911, S. 59. 29 Vgl. Thomas Bryant, Friedrich Burgdörfer (1890–1967). Eine diskursbiographische Studie zur deutschen Demographie im 20. Jahrhundert (Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 32), Stuttgart 2010, S. 47. 30 Richard Dikau / Juergen Weichselgartner, Der unruhige Planet, Darmstadt 2005, S. 39.

Die Spanische Grippe 1918/19 – eine Pandemie entscheidet den Krieg? Im April 1917 erklärten die Vereinigten Staaten von Amerika dem Deutschen Reich den Krieg. Die amerikanischen Streitkräfte waren zu diesem Zeitpunkt aber noch wenig vorbereitet auf einen Kriegseinsatz in Europa, erst im folgenden Jahr, 1918, trafen sie auf dem Kriegsschauplatz in Frankreich in großer Zahl ein. Kurz zuvor, im November 1917, war das zaristische Russland, von inneren Unruhen schwer erschüttert, im vierten Kriegsjahr zusammengebrochen. Am 3. März 1918 erfolgte der Friedensschluss von Brest-Litowsk mit Deutschland. Dieser brutale Sieg-Friede erlaubte es dem Deutschen Reich, aus dem Osten einige Divisionen abzuziehen und sie an die Westfront zu werfen und dort mit verstärkter Kraft gegen die Westmächte zu kämpfen, ja vielleicht sogar im Westen noch den Sieg zu erringen. Im Westen indes, an der Front in Frankreich, wurde die materielle Überlegenheit der alliierten und assoziierten Mächte immer erdrückender. Die Briten hatten im November 1917 in Nordfrankreich den ersten großen Panzerangriff mit fast fünfhundert Tanks unternommen. Immer mehr schwoll zugleich die Zahl junger amerikanischer Soldaten an, die aus den USA nun in Frankreich eintrafen. Im Frühjahr 1918 stand eine Million junger, unverbrauchter

310

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Amerikaner in Frankreich im Feld, weitere Hunderttausende warteten jenseits des Atlantiks auf ihren Einsatz. Das Deutsche Reich unternahm im Frühjahr 1918 einen letzten verzweifelten Versuch den Weltkrieg zu gewinnen. Am frühen Morgen des 21.  März 1918 setzte mit gewaltigen Artillerieschlägen ein deutscher Großangriff ein, das Unternehmen »Michael«. Binnen fünf Stunden wurden weit mehr als eine Million Granaten abgeschossen. »Es war so, als würde das Erdinnere explodieren«, sagte ein englischer Soldat. Die Deutschen machten kurzfristig noch einmal gewaltige Geländegewinne, bei sehr hohen Verlusten auf beiden Seiten.1 An der Heimatfront Der Weltkrieg brachte im Deutschen Reich schwere Versorgungsprobleme und Nöte mit sich. Die Ernte von 1916 war schlecht, es wurden nicht einmal halb so viele Kartoffeln eingebracht wie im Jahr davor: 25 gegenüber 54 Millionen Tonnen.2 Inzwischen waren in den privaten Haushalten, im Handel und beim Staat die Lager aufgebraucht. Im Deutschen Reich fiel die Versorgung mit Brot auf 60 Prozent des Vorkriegsstandes. 1917 betrug der Kalorienwert der Zuteilungen rein rechnerisch nicht einmal tausend Kilokalorien, und die Mehrheit der Bevölkerung erhielt nicht einmal diesen Durchschnittswert.3 Dabei waren die wöchentlichen Arbeitszeiten lang, Frauen arbeiteten 56 bis 57 Stunden die Woche. Da man bei leichter Arbeit rund 2300, bei mittelschwerer 3000 und bei sehr schwerer Arbeit täglich rund 4000 Kilokalorien verbraucht, bedeutete dies erhebliche Gewichtsverluste. In der Heimat waren die Lebensmittel knapp, das vermochte auch die von der Regierung verhängte Rationierung nicht zu ändern. Vor dem Krieg verbrauchte jeder Städter täglich rund 200 g Fett und Eiweiß. Während des Krieges wurde der Mindestverbrauch auf 50 g Fett und 80 g Eiweiß festgesetzt; doch im Dezember 1917 konnten nur noch 30 g Fett und 40 g Eiweiß pro Person abgegeben werden. Auf den Märkten war seit 1917 Fleisch kaum noch zu bekommen, in einigen Städten wurden Krähen und Eichhörnchen angeboten.4 Die Grundnahrungsmittel waren seit 1915 rationiert; aber wer ge-

Die Spanische Grippe 1918/19

Ob es sich tatsächlich lohnte, mit Seife sparsam umzugehen, sei dahingestellt. Seife half, sich sauber zu halten.

311

312

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

nügend Geld besaß, konnte auf dem Schwarzmarkt seine Ernährung aufstocken. Schätzungsweise ein Drittel aller Lebensmittel gelangte auf den Schwarzmarkt. Ein Pfund Fleisch kostete hier 1918 an die 2 Mark, für das Pfund Mehl zahlte man 26 Pfennig, zeitweise aber auch das Doppelte. Eine Rüstungsarbeiterin verdiente in der Stunde im Durchschnitt 50 Pfennig – davon konnte sie gerade anderthalb Liter Milch kaufen. Viele Frauen konnten nicht mehr stillen, was die Überlebensaussichten ihrer Säuglinge minderte.5 Viele Kinder blieben an kalten Tagen der Schule fern, weil es ihnen an Kleidung oder an Schuhwerk fehlte. Viele kamen ohne Frühstück. Immer wieder kam es vor, dass ein Schüler während des Unterrichts ohnmächtig auf das Pult niedersank. Die Kinder hörten auf zu wachsen, sie blieben kleinwüchsig ihr Leben lang. Die Hungrigen verloren an Körpergewicht und an Leistungsfähigkeit. Gewichtsverluste von einem Fünftel waren die Norm.6 Der in München lebende altbayerische Publizist Josef Hofmiller schreibt im Sommer 1918, er habe »seit 1915 um über 40 Pfund« abgenommen.7 Es fehlte nicht nur an Essen, es fehlte an allem Nötigen, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen: zu essen, sich zu kleiden, zu wohnen. Die Bekleidung der allermeisten war schadhaft und unzulänglich, die Behausungen schlecht oder gar nicht beheizt. »Das Schlimmste war die Kälte, denn Kohle gab es im weitesten Umkreis keine«, schreibt Stefan Zweig in seinem autobiographischen Werk »Die Welt von Gestern«. »Drei Monate lang habe ich meine Arbeiten fast nur im Bett mit blaugefrorenen Finger geschrieben, die ich nach jeder beendeten Seite zur Wärmung immer wieder unter die Decke zog.« Solange es ein hohes Maß an Siegeszuversicht gab, blieben die gesellschaftlichen Spannungen und Brüche überdeckt. Aber je länger der Krieg und die Not anhielt, desto mürber wurden die Menschen, die zu Hause und die an der Front. Die Folge der schweren Entbehrungen war eine allgemeine Kriegsmüdigkeit. »Die Leute wollen einfach nicht mehr, es sei ihnen alles gleichgültig. […] Die Leute seien unterernährt, abgearbeitet, verdrießlich. […] Jene, die scharfe Kriegsziele verfolgten, seien z. Z. in den Städten die Verhaßtesten«, sagte Nürnbergs Oberbürgermeister Otto Geßler auf einer Sitzung des Ernährungsbeirats schon im August 1917.8

Die Spanische Grippe 1918/19

Die Not war groß. Selbst Obstkerne sollten verwertet werden.

Die Friedensappelle der politischen Linken fielen jetzt in der deutschen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. 1917 verdoppelte sich die Zahl der Hungerkrawalle in Deutschland. Im Januar 1918 fanden in vielen Industriestädten große Streiks statt, die Januarstreiks gehörten zu den größten politischen Massenkundgebungen im Deutschen Reich. In der Woche vom 28.  Januar bis 3.  Februar 1918 streikten in Deutschland mehr als anderthalb Millionen Arbeiter. Revolutionsgerüchte verbreiteten sich. Im vierten Kriegsjahr kamen immer weniger Güter aus dem Ausland herein. Je mehr Deutschlands Aussichten auf einen Sieg schwanden, desto unerträglicher wurden die Härten des täglichen Lebens empfunden, die Sehnsucht nach Frieden wuchs. Kleine Hungerkrawalle hatten die bayerischen Großstädte bereits im Frühjahr 1917 erschüttert; im Januar 1918 fanden in München, wie auch in anderen Industriestädten, große Streiks statt. Im Januar 1918 kam es mehrmals zu Demonstrationen gegen den Krieg, an denen mehrere zehntausend Menschen beteiligt waren. Der Nürnberger Januarstreik war einer der größten im ganzen Reich. Ursache war der Krieg mit seinen schweren Entbehrungen,

313

314

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

die vor allem die Arbeiterschaft zu tragen hatte. Mitte Juni 1918 folgten in mehreren bayerischen Städten – vor allem in München, Erlangen und Hof – Lebensmittelkrawalle. Revolutionsgerüchte liefen um. Die Stimmung in der Bevölkerung war denkbar schlecht.9 Der Grippeausbruch Es herrscht heute weitgehende Übereinstimmung, dass das Grippevirus in den USA seinen Ursprung hatte, bevor es von dort über den Nordatlantik nach Europa gelangte und später von den Armeen rund um den Globus verbreitet wurde. Was war der Erreger dieser Seuche? Viele Jahre zuvor, nach der Influenzapandemie von 1891/92, hatte ein deutscher Bakteriologe namens Richard Pfeiffer einen Erreger entdeckt, den er für den Grippeerreger hielt. Dieses Bakterium trägt bis heute den Namen »Haemophilus influenzae«, obschon längst bekannt ist, dass es nicht der Grippeerreger ist. Die Grippe verursacht vielmehr ein Virus, das erst im Verlauf der Grippeepidemie von 1932/33 entdeckt wurde. Dieses Virus tritt in drei Typen auf, als Typus A, B und C, wobei Typus C für Epidemien die geringste Bedeutung hat. Influenza-AViren sind außerordentlich variabel, sie können rasch in einer Reihe von Subtypen auftreten, und jedes davon ist imstande, rasch weitere Varianten hervorzubringen. Da sich aber die Immunität nur gegen den jeweiligen Erreger richtet und ohnehin nur kurz anhält, spielt sie bei Grippeepidemien eine untergeordnete Rolle. Die Frage, wie und warum neue Erregervarianten entstehen, ob durch genetische Makromutation oder durch die Anpassung eines tiergetragenen Virus an den Menschen, ist noch immer umstritten. In den letzten Jahren ist es gelungen, das Influenzavirus näher zu bestimmen. Den Erreger der Spanischen Grippe von 1918/19 bezeichnet man heute als Grippevirus H1N1, wobei der Buchstabe H für Hämagglutinin steht, das N für Neuraminidase. Vom Hämagglutinin kennt man 13 Arten, von der Neuraminidase 9. Diese beiden Bestandteile des Virus können sich in vielerlei Kombinationen zusammentun, entsprechend hat man die Buchstaben- und Zahlenkombinationen variiert: H1N1, H2N1, H1N2 usw. Spätere Varianten erhalten höhere Zahlen. Beim Erreger der Vogelgrippe ist man mitt-

Die Spanische Grippe 1918/19

lerweile bei H5N1 angelangt. Die wissenschaftliche Namensgebung des Grippevirus beruht also auf diesen unterschiedlichen H- und N-Antigenen. Der häufige Wandel der Antigene führt dazu, dass es nur bedingt zu einer Immunisierung der Bevölkerung kommt. Bei jedem neuen Shift kann es zu einer weltweiten Pandemie kommen. Das Grippevirus dringt in eine Körperzelle ein und zerstört sie schließlich. Viren haben keinen eigenen Stoffwechsel, sie schmarotzen in der Wirtszelle. Sie bemächtigen sich des Zellkerns, der DNA, und vermehren sich dann mit atemberaubender Geschwindigkeit. Im Allgemeinen grassiert die Grippe in den kühlgemäßigten Zonen in den Sommermonaten weniger heftig als in der kalten Jahreszeit, denn sie bevorzugt trockene Luft und niedrige Temperaturen. Die Grippeviren schädigen sehr oft die Lungen; danach treten Bakterien in Aktion. Dies führt dazu, dass bei diesen Kranken der Gasaustausch gestört ist, die Patienten werden »blau«, zyanotisch. Wo die Zyanose 1918/19 sehr stark auftrat und Lippen, Ohren, Augen, Nase, Zunge, die Konjunktiven, Fingerspitzen, und bisweilen sogar den ganzen Körper bläulich verfärbte, war die Prognose schlecht. Viele Grippekranke zogen sich eine Lungenentzündung zu und starben nicht an der Grippe, sondern unter der Diagnose »Lungenentzündung«, daher wurde auf dem Leichenschein als Todesursache »Pneumonie« angegeben. Dies erschwert die Arbeit von Historikern, die diese Toten nicht unter Grippe erfassten, obwohl die Grippe eigentlich die Ausgangskrankheit war. Die Ausbreitung der Seuche Der Winter 1917/18 war überall in den Vereinigten Staaten sehr kalt. In den Kasernen drängten sich die Rekruten zusammen, einige Hunderttausend mussten in eiligst aufgestellten Zelten kampieren. An der Wende vom Februar zum März 1918 scheint der Grippeerreger aus dem bäuerlichen Umland ins Camp Funston, Kansas, gebracht worden zu sein. Am 4. März 1918 meldeten sich die ersten Soldaten krank.10 Innerhalb weniger Tage traten die ersten Fälle von Lungenentzündung auf. Die Seuche zeigte von Anfang an ein erschreckendes Krankheitsbild. Obwohl ihr Verlauf bei den meisten Befallenen ohne große

315

316

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Komplikationen verlief, kam es vor, dass die Krankheit gerade bei jungen Menschen dramatisch einsetzte und der Tod rasch eintrat. Die Amerikaner machten von Beginn an sehr unterschiedliche Erfahrungen mit dieser Grippe. Einige Erkrankte starben gleich am ersten oder zweiten Tag der Erkrankung. Es konnte geschehen, dass ein Mensch innerhalb von 24 Stunden nach dem Auftreten der ersten Symptome starb, weil eine massive Invasion von Viren einen größeren Teil des Lungengewebes zerstört hatte.11 Zwischen dem Ausbruch der Grippe im Mittleren Westen der USA und dem Kriegsende trafen aus den USA mehr als anderthalb Millionen Soldaten in Europa ein. Einen regeren Verkehr hatte es zwischen Neuer und Alter Welt niemals zuvor gegeben. Zur Zeit des Waffenstillstands im November 1918 standen 42 US-Divisionen im Feld, von denen 29 noch zum Einsatz gekommen waren. Die amerikanischen Streitkräfte waren insgesamt binnen 18 Monaten von 100 000 auf vier Millionen Mann angewachsen, davon hatten sie rund zwei Millionen Mann nach Übersee geschickt. Viele gingen in Brest an Land, einer Hafenstadt am Atlantik. Von hier breitete sich die Seuche in Windeseile über West- und Mitteleuropa aus. In Paris war dieser Frühling ungewöhnlich mild. Die ersten französischen Soldaten erkrankten hier am 10. April 1918, etwa zur gleichen Zeit gab es auch schon Grippefälle in Italien. Die Briten klagten gleichfalls seit Mitte April über eine neuartige Seuche. Im Mai hatte die British First Army in ihren Hospitälern eine sehr hohe Zahl an Neuzugängen. Im selben Monat konnte die britische Flotte drei Wochen lang nicht auslaufen, weil mehr als 10 000 Seeleute oder Soldaten krank waren.12 In diesem Frühjahr zeigte sich diese Seuche überall in Westeuropa. Dabei begünstigte das Wetter diese erste Grippewelle keineswegs: Das Frühjahr 1918 war westlich der Weichsel ungewöhnlich warm, das Thermometer stieg in Norddeutschland auf über 30 Grad. Auch der Frühsommer war warm und trocken. Für die Grippe war das keineswegs günstig, denn sie wütet in der Regel stärker bei niedrigen Temperaturen, wie sie in Mitteleuropa häufiger im Spätherbst anzutreffen sind. Viele glaubten, sie habe schon davor in Spanien gewütet, vielleicht weil die Erkrankung des spanischen Königs Alfons XIII. so rasch bekannt wurde. Die Nachrich-

Die Spanische Grippe 1918/19

tenagentur Reuters meldete am 27. Mai 1918, der spanische König sei an der Grippe erkrankt. Schon im folgenden Monat nannte man die Krankheit ganz allgemein »Spanische Grippe«.13 Die erste Grippewelle an der Westfront Die Seuche trat bald auf beiden Seiten der Front auf, obschon doch zwischen diesen verfeindeten Parteien kaum ein persönlicher Kontakt bestand, sieht man davon ab, dass natürlich immer wieder einzelne Soldaten, auch grippekranke, gefangengenommen wurden. Ziemlich selten sind uns Tagebücher von Soldaten aus dem Weltkrieg überliefert, die ausführlich über die Grippe berichten.14 Einen Glücksfall stellt das Tagebuch eines elsässischen Soldaten dar, Dominik Richert, der wenig später, wie so viele, desertierte. Er erwähnt darin auch die erste Grippewelle vom Frühjahr 1918. »Immer mehr Soldaten erkrankten und schlurften wie halbtot herum«, schreibt er. »Obwohl sie sich krank meldeten, kam kaum einer ins Lazarett, denn es hieß, es gebe keine Leichtkranken und Leichtverwundeten mehr, nur noch Schwerverwundete und Tote. Da die unterernährten, von den Strapazen entkräfteten Körper der Krankheit keinen Widerstand entgegensetzen konnten, war in wenigen Tagen die Hälfte der Mannschaft erkrankt. Von Pflege war keine Rede. Wir mußten mit dem elenden Feldküchenfraß vorliebnehmen.«15 Etwas später: »Ich meldete mich sofort krank, da die Grippe nun stärker auftrat und ich ganz heiser wurde. Vor dem Hause, in dem der Arzt die Untersuchung vornahm, standen so gegen 100 Mann, die sich fast alle wegen Grippe krank gemeldet hatten. Wir Unteroffiziere wurden zuerst untersucht. Eine Untersuchung war es eigentlich nicht. Man wurde gefragt, wo es fehlte. Als ich geantwortet hatte, mußte mir der Sanitätsunteroffizier eine etwa pfenniggroße Pfefferminztablette geben, wobei der Arzt sagte: ›Kochen Sie sich Tee! Der nächste.‹«16 Die Diagnose wurde also nach kurzer Betrachtung eines Mannes gestellt; die Therapie zeugt von der Hilflosigkeit der Medizin. Die Kämpfe gingen zu dieser Zeit weiter. Doch am 13. Juni blieb der deutsche Angriffsflügel vor Compiègnes stecken. Ein Ablenkungsangriff bei Reims scheiterte. »Die Grippe griff überall stark

317

318

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

um sich, ganz besonders schwer wurde die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht betroffen«, klagte Erich Ludendorff. »Es war für mich eine ernste Beschäftigung, jeden Morgen von den Chefs die großen Zahlen von Grippeausfällen zu hören und ihre Klagen über die Schwäche der Truppen, falls der Engländer nun doch angriffe. […] Auch die Grippefälle vergingen. Sie hinterließen oft eine größere Schwäche zurück, als ärztlicherseits angenommen wurde. […] Es stürmte jetzt sehr vieles auf den Geist der Truppen im Westen ein, die durch die Grippe geschwächt und durch einförmige Nahrung herabgestimmt waren.«17 Die Grippe breitete sich aus. Im Juli berichtete der bayerische Kronprinz Rupprecht: »Bei der 6. Armee hat die Grippe wieder zugenommen. 15 000 Mann sind zur Zeit in ärztlicher Behandlung, hauptsächlich Mannschaften von mobilen Divisionen. Auch bei den andern Armeen ist die Zahl der Erkrankungen eine sehr hohe. Sollte nicht bald eine Besserung eintreten, könnte dies einen Aufschub von ›Hagen‹ bedingen, was in jeder Hinsicht sehr mißlich wäre, denn je rascher ›Hagen‹ auf ›Reims‹ und ›Marneschutz‹ folgen kann, desto größer sind die Aussichten auf einen Erfolg. – Nach Aussagen von Gefangenen herrscht auch beim Gegner immer noch die Grippe, so daß schon aus diesem Grunde in der nächsten Zeit keine größeren feindlichen Angriffsunternehmungen wahrscheinlich sind.« Und weiter über seine eigene Erkrankung: »Ich meinesteils habe die Grippe nun überstanden, doch fühle ich mich noch immer sehr angespannt.«18 Mitte Juli 1918 eröffnete Marschall Foch eine Gegenoffensive. Die feindlichen Angriffe stießen tief in die deutsche Verteidigung hinein. Bevor die Oberste Heeresleitung recht zur Besinnung kam, erfolgte eine Reihe von heftigen Gegenschlägen. Von diesem Augenblick an lag die Initiative beim Feind. »Vom 8. August an gab es auf der deutschen Seite nichts mehr zu operieren, Schritt für Schritt, aber unaufhaltsam drängte der Feind, an entscheidender Stelle die unverbrauchten Amerikaner, unsere Front zurück.«19

Die Spanische Grippe 1918/19

Europa ist nichts weiter als ein Anhängsel des Doppelkontinents Eurasien. Im 19. Jahrhundert, wie schon davor, breiteten sich sehr oft Seuchen aus dem Inneren Asiens auf ihrem Weg nach Westen zuletzt in Europa aus.

319

320

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Die erste Grippewelle im rechtsrheinischen Bayern Die ersten Schlagzeilen über eine bösartige Grippe in Spanien erschienen in deutschen Zeitungen am 29.  Mai 1918. Der spätere Nürnberger Oberbürgermeister Luppe, der gerade in der Schweiz unterwegs war, berichtete in seinen Tagebüchern über die dort wütende schwere Seuche.20 Über die erste Grippewelle an der Westfront wurde in der Heimat nicht viel bekannt. Die Oberzensurstelle und das Kriegspresseamt in Berlin wachten darüber, dass derlei Informationen nicht veröffentlicht wurden. Die Zensur betraf nicht nur die Presse in der Heimat, sie untersagte es auch den Soldaten, über ihre gesundheitlichen Probleme zu berichten. Die Pressefreiheit war aufgehoben. Viele folgten einer freiwilligen Selbstzensur, alle Zeitungen riskierten, unter »Vorprüfung« gestellt zu werden, wenn sie Dinge, die geheim bleiben sollten, veröffentlichten. Das Frühjahr und der Frühsommer 1918 waren in Mitteleuropa ungewöhnlich heiß. In Nürnberg wurden am 22. Juni die Gesundheitsverhältnisse noch als insgesamt »günstig« beurteilt. Aber schon sechs Tage später meldeten einige Nürnberger Betriebe, dass bei ihnen die Grippe um sich greife. Die Seuche verlief bei einigen Erkrankten derart heftig, dass sie plötzlich auf der Straße zusammenbrachen. Am 29.  Juni 1918 schrieb der »Fränkische Kurier« fettgedruckt: »Es handelt sich nicht um eine neue Krankheit, sondern um die wohlbekannte echte Influenza.« Die Seuche breitete sich im Königreich Bayern rasend schnell aus. Schon am 2.  Juli 1918 berichtete in Rosenheim die Lokalzeitung unter »Verschiedene Nachrichten« über die Seuche: »Größeres Auftreten wird gemeldet aus Landshut, Regensburg, Passau, Ingolstadt und Nürnberg-Fürth«, hieß es da. »Die Apotheken werden im Sturm genommen, die Hospitäler sind überfüllt.«21 Die Übertragung der Grippe geschieht durch Sprechtröpfchen. Es konnte beispielsweise ein Soldat auf Urlaub noch scheinbar gesund in Frankreich in die Eisenbahn einsteigen und von dort ins rechtsrheinische Bayern fahren, zum Beispiel nach Augsburg. Unterwegs spürte er erste Anzeichen einer Grippe. Zu diesem Zeitpunkt versprühte er bereits den Erreger. Die Ausbreitung der Seuche erfolgte also rasch, wie dies bei der Grippe üblich ist. Unter dem 5. Juli 1918

Die Spanische Grippe 1918/19

schrieb einige Kilometer östlich des Rheines der Heidelberger Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte, Karl Hampe in sein Tagebuch: »Hier ist jetzt die ›spanische Krankheit‹ ziemlich verbreitet.«22 Werner Heisenberg, ein Schüler aus Würzburg, schrieb dieser Tage aus Oberbayern an seine Mutter. Als Entschuldigung für sein langes Schweigen nannte er die »Spanische Krankheit […], mit der ich seit Dienstag Mittag im Bett liege. Du brauchst aber nicht zu meinen, ich sei schwer krank, ich habe nur etwas Kopfweh, Husten, aber sonst geht es mir jetzt schon wieder gut. […] Heute hat sich bei uns der fünfte mit der ›Span[ischen]‹ ins Bett gelegt.«23 In München grassierte die Seuche kurz nach der Jahresmitte derart, dass bereits am 9. Juli 1918 der »Aerztliche Verein Münchens« eine Beratung darüber angesetzt hatte. Ein Professor Brasch vom Krankenhaus Schwabing, das für Infektionskrankheiten in München zuständig war, trug bei dieser Gelegenheit Folgendes vor: »Innerhalb von etwa 10 Tagen kamen 77 [Grippekranke] zur Beobachtung und ihre Mortalität war erschreckend gross. Sie betrug 24 und bemerkenswerterweise traf das traurige Schicksal zumeist jüngere kräftige Individuen. Warum die älteren Leute von dieser schweren Infektion grösstenteils verschont blieben, ist nicht genau klar. Möglicherweise waren sie durch früher überstandene Grippeerkrankungen bis zu einem gewissen Grade immunisiert.«24 In den bayerischen Städten erlahmte zur Jahresmitte das öffentliche Leben. In vielen Betrieben war ein Großteil der Mitarbeiter krank, auch und vor allem in den Krankenhäusern. »Ein paar hundert Pflegerinnen fielen jeden Tag allein in den Münchner Lazaretten aus und sollten ersetzt werden, der Straßenbahnverkehr wurde eingeschränkt, in den großen Industriebetrieben waren bis zu einem Drittel der Belegschaften ausgeschaltet: es war der erste der apokalyptischen Reiter«, schrieb der konservative Münchner Historiker Karl Alexander von Müller, der in diesen Tagen selbst das Bett hüten musste.25 Der Chemiker Richard Willstätter, später Nobelpreisträger, der in dieser Zeit in München tätig war, notierte unter dem 15. Juli 1918: »Während eine schwere Grippeepidemie München heimsuchte, der auch mein lieber Privatassistent Kurt Richmann erlag, verschärften sich die Unruhen.«26

321

322

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Oskar Maria Graf hat in seinem autobiographischen Werk »Das Leben meiner Mutter« vom Tod seiner Schwester berichtet, ohne jedoch die Grippe beim Namen zu nennen. Der junge Graf fieberte zu dieser Zeit bereits dem Umsturz entgegen. »Es war schon hoher Sommer, da kam ich einmal in den Friseurladen zu Anna«, schreibt er. »Sie hatte ein ernstes Gesicht. ›Die Emma ist schwer krank‹, sagte sie, ›Du hast doch Zeit jetzt, besuch sie doch!‹ In der brodelnden Hitze der Ereignisse hatte ich Mutter und Emma fast vergessen.« Graf fuhr nach Hause. »Es war schon zu spät, Emma lag im Aufkirchner Leichenhaus.«27 Das Scheitern der letzten Offensive Je mehr deutlich wurde, dass dieser Angriff zum Scheitern verurteilt war, desto größer war die Enttäuschung, ja Verzweiflung, aufseiten der Angreifer. In der deutschen Armee kam es nun zu einem »verdeckten Militärstreik« (Wilhelm Deist), der sich in der Erschlaffung des Kampfeswillens und vielen Fällen von Fahnenflucht äußerte. Enttäuscht und verbittert waren die ausgehungerten deutschen Soldaten auch dann, wenn sie feindliche Stellungen überrannten und dort reiche Lager an Lebensmitteln fanden, zumal sie doch wussten, dass ihre eigenen Bestände erschöpft waren. Die deutschen Armeen hatten hohe Verluste und hohe Ausfälle durch Grippe. Bis Juli war ihre Zahl auf wenig mehr als die Hälfte geschrumpft. Die deutsche Armee, vor allem die mobilen Teile und die Angriffsdivisionen, erlitten in den drei Offensiven 1918 extrem hohe Verluste, »dazu kamen ab Juni die nach Hunderttausenden zählenden Ausfälle infolge der Grippeepidemie«.28 Ludendorff klagte im Juli 1918 über die steigende Zahl der unerlaubten Entfernungen von der Truppe, von Feigheitsdelikten und Gehorsamsverweigerungen.29 Auch in der Heimat wussten die politisch Informierten schon im Juli 1918, dass der Angriff gescheitert und der Krieg verloren war. Schon vor dem legendären »schwarzen Tag«, dem 8.  August, war klar, dass das deutsche Heer am Ende war. »Die Offensive im Westen ist misglückt«, notierte Harry Graf Kessler unter dem 20. Juli 1918 in sein Tagebuch.30 Viele private Chronisten, auch Kessler und Thomas Mann, haben einzelne Grippeerkrankungen aus ihrer Nachbar-

Die Spanische Grippe 1918/19

schaft festgehalten, ohne indes den pandemischen Charakter dieser Seuche zu ahnen. Schon im Juli scheiterte also die große deutsche Frühjahrsoffensive. Die Siegeszuversicht nahm ab, immer mehr Soldaten verließen ohne Erlaubnis ihre Stellung. Kaiser Wilhelm II., gewöhnlich ein Optimist, meinte am 11. August 1918: »Wir sind an der Grenze unserer Leistungsfähigkeit«, so sagte er. »Der Krieg muß beendet werden.«31 Ein Verwandter des Kaisers, Prinz Max von Baden, klagte am 15. August 1918 in einem Brief an Wilhelm  II., dass man das deutsche Volk allzu lange in dem Glauben gewiegt habe, dieser Herbst werde den Frieden und den Sieg bringen, dabei kamen jetzt die großen Enttäuschungen.32 Der bayerische Kronprinz Rupprecht hatte Max von Baden in diesen Tagen mitgeteilt, es »hat sich unsere militärische Lage so rapide verschlechtert, daß ich nicht mehr glaube, daß wir über den Winter werden aushalten können, ja es kann sein, daß bereits früher eine Katastrophe eintritt«.33 Wer war schuld an diesem plötzlichen Defätismus in der obersten Führung und im Heer? Ludendorff sprach bei mehreren Gelegenheiten davon, dass Mangel an Kartoffeln und das Auftreten der Grippe zum Misserfolg dieses letzten Angriffs herbeigeführt hatten. Ludendorff nahm die Seuche sehr ernst. Die von ihm geplante Frühjahrsoffensive war Deutschlands letzter Versuch. Diese mit deutscher Überlegenheit geführte Großoffensive sollte den Feind friedensbereit machen, diese Hoffnung blieb nun unerfüllt. In einem Gespräch beim Reichskanzler am 3. Oktober 1918 nannte Ludendorff als Gründe für das Scheitern der Offensive: »Massenanwendung von Tanks [durch den Gegner], Grippe, Kartoffelmangel bei uns«.34 Auch Kronprinz Rupprecht äußerte sich in diesem Sinne: »Die schlechte Verpflegung, die großen Verluste und die stark aufgetretene Grippe beeinflußten die Stimmung der Mannschaften der III. Inf[antrie] Div[ision] höchst ungünstig«, urteilte Rupprecht am 3. August 1918.35 »Die Influenza könnte die deutsche Armee so geschwächt haben, daß ihre letzte Offensive scheiterte, weil es ihnen an gesunden Soldaten fehlte«, urteilt der amerikanische Historiker Alfred Crosby, der sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der Spanischen Grippe beschäftigt.36

323

324

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Grippe – das subjektive Erleben Die Grippe ist gewöhnlich keine sehr schwere Erkrankung; aber bei einer richtigen Influenza – die man keinesfalls mit einem grippalen Infekt oder gar einer Erkältung verwechseln darf – ist der Kranke einige Tage lang vollkommen abgeschlafft, müde, antriebslos. Die Grippe von 1918 war diesbezüglich besonders schlimm. Über ihre Erkrankung schreiben zwei namhafte Zeitgenossen in ihren Tagebüchern Folgendes: Der Romanist Victor Klemperer, der um diese Zeit in der bayerischen Hauptstadt lebte, hat eine lebendige Schilderung seiner eigenen Grippesymptome geliefert, obschon die Seuche ihn nicht in München selbst, sondern auf dem Weg dorthin am Beginn einer Eisenbahnfahrt überraschte: »Unterwegs wurde mir sehr übel, es war nicht nur Übermüdung und seelische Depression, sondern eine richtige irgendwo aufgegabelte Grippe mit Gliederschmerzen, Schüttelfrost und Hitze. […] und hockte zusammengekauert vor einem schauerlichen Rübenkaffee […]. Ich kaufte mir Aspirin, schleppte mich in ein schäbiges Hotel am Bahnhof und schlief von acht Uhr abends bis neun Uhr morgens. Sehr häufig habe ich am Geburtstag [sc. 9. Oktober] unerquickliche Erwägungen angestellt; aber unter meinen sechzig 9. Oktobern gehörte dieser […] zu den abscheulichsten«, schreibt er in seinem »Curriculum vitae«.37 Der andere war der badische Neurologe Willy Hellpach, auch er befand sich auf der Reise, als ihn die Seuche traf. Er bemerkte die Erkrankung unterwegs, in der Eisenbahn, auf dem Weg nach Berlin. »Ich habe auch wieder etwas geschlafen und war bei der Ankunft auf dem Anhalter Bahnhof so zerschlagen an allen Gliedern, daß ich am liebsten in meiner Schlafwagenkabine liegengeblieben wäre. Das ging ja nun nicht an, ich mußte wenigstens bis ins Hotel gelangen, es geschah frostklappernd, im ›Excelsior‹ legte ich mich sofort wieder zu Bett. Mein Reisebegleiter versorgte mich mit einem steifen Grog, ich schluckte noch mehr Aspirin, dann wollte er sich nach einem Arzt umtun. Das war freilich vergebliche Liebesmüh; die Riesenepidemie hielt alle Ärzte in Atem, die Krankenhäuser konnten keinen Zugang mehr aufnehmen, die Leute starben, wie der Portier tröstlich meinem Kollegen sagte, in den Hotels, ohne daß sie einen Doktor zu sehen gekriegt hätten.«38

Die Spanische Grippe 1918/19

Die Pandemie in Wellen Grippepandemien treten häufig in zwei oder drei Wellen auf. Die Spanische Grippe, deren erste Welle seit dem Frühjahr 1918 grassierte, ebbte im Sommer wieder ab. Eine zweite Welle setzte schon im September ein, noch viel heftiger als die erste. Sie hat sich rasch von ihrem Zentrum am Nordatlantik nach beiden Seiten ausgebreitet, in der Alten wie in der Neuen Welt. Einige Mediziner vertreten die Auffassung, der Erreger dieser zweiten Welle sei von einer mutierten Form des Grippevirus verursacht worden. Irgendwann im August habe der Erreger eine Mutation durchlaufen und habe dann mit noch höherer Virulenz die zweite Welle der Pandemie verursacht. Macfarlane Burnet, Nobelpreisträger für Medizin (1960), folgerte später, dass das Virus mehrere Generationen durchlaufen hatte, bevor es wirklich bösartig wurde.39 Im August 1918 ließ die erste Grippewelle wieder nach, sie war aber selbst Ende August noch nicht ganz erloschen. Einen Monat später brach die Grippe erneut aus. Zu dieser Zeit war vielen Wohlinformierten an der Front und in der Heimat klar, dass der Krieg für das Deutsche Reich und seine Verbündeten verloren war. Die Mittelmächte wurden von Woche zu Woche schwächer. Mit dem Zusammenbruch Bulgariens Ende September 1918, der Österreich-Ungarns Südostflanke aufriss, kam die Verteidigungsstellung der Mittelmächte ins Wanken, die Katastrophe war von da an kaum mehr abwendbar. Am 29.  September 1918 verlangte Ludendorff von der kaiserlichen Regierung die Eröffnung von Waffenstillstandsverhandlungen.40 Der Wahlmünchner Schriftsteller Thomas Mann führte fleißig Tagebuch, darin schenkte er dem Wetter mehr Aufmerksamkeit als der Seuche. »Warmes Sommerwetter«, schrieb Thomas Mann unter dem 16. September, und am Tag darauf wieder: »sehr warm«. Noch herrschten sommerliche Temperaturen, es war der letzte Sommer vor dem deutschen Zusammenbruch. Im Oktober schlug das Wetter um, es wurde kühler. In diesen Tagen setzte auch östlich des Rheines eine zweite Grippewelle ein. Es war die gleiche Krankheit wie im Sommer, die echte Grippe, mit den gleichen Symptomen wie zuvor. Gewöhnlich kann man den Verlauf einer Seuche auch geographisch gut verfolgen, denn sie benötigt

325

326

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Zeit zu ihrer Ausbreitung. Die Spanische Grippe indes kam so rasch voran, dass sie zumindest die deutschen Großstädte fast gleichzeitig heimsuchte und nicht nur die deutschen: Eine Anzahl von Örtlichkeiten, die rund um den Globus verstreut lagen, »registrierten die höchste Grippesterblichkeit in der Woche, die am 26. Oktober endete.«41 Von der Westfront schrieb Kronprinz Rupprecht am 28. Oktober 1918: »Höchst störend ist gerade im gegenwärtigen Moment die besonders stark um sich greifende Grippeepidemie. – In Deutschland sind augenblicklich 45 000 Leute des Eisenbahnpersonals an Grippe erkrankt, was zu bedenklichen Betriebsstörungen Anlaß gibt.«42 Dabei wurden die Armeen der Mittelmächte von der zweiten, heftigeren Welle weniger betroffen als von der ersten – vermutlich hatte ihnen das Überstehen der ersten Woge sogar ein Maß an Immunität gewährt. Es waren schwere Tage. »Mir geht in der gegenwärtigen Zeit so viel Schweres und Trübes durch den Kopf«, schrieb Wilhelm Groener, der kurz zuvor Ludendorffs Amt übernommen hatte. »Die nächsten Tage werden die Entscheidung bringen müssen, ob wir uns vor der Welt als besiegt erklären oder ob wir weiterkämpfen werden bis zum letzten Ende.«43 Ernst Röhm, der spätere SA-Führer, berichtete über seine Erkrankung Ende Oktober, als im deutschen Heer schon der Umsturz gärte. Röhm ließ sich am 21.  Oktober ins Feldlazarett schaffen. »Die Zeit im Lazarett war eine der qualvollsten meines Lebens«, schrieb Röhm. Die Sanitäter behandelten den Kranken anscheinend schlecht, und der Arzt konnte sich gegen das meuternde Pflegepersonal nicht durchsetzen, er fürchtete um Röhms Leben.44 Die zweite Grippewelle, die im Herbst 1918 umging, traf die bayerischen Städte sehr viel heftiger als die Front. Die »Augsburger Allgemeine« schrieb am 17. Oktober 1918: »Die Grippe in Augsburg bildete den Gegenstand eines längeren, vom Stadtschulrat […] Dr. Löweneck erstatteten Referats. Wie er ausführte, hat die Grippe namentlich in den unteren Klassen der Volksschulen starke Verbreitung gefunden und zwar sind in einzelnen Klassen bis zu fünfzig Prozent der Schüler und darüber erkrankt. Nach der Ansicht des Schulrats ist die Epidemie im Ansteigen begriffen. OberbürgerKalter Abend im Spätherbst. Das Grippevirus liegt in der Luft. ▶

328

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

meister von Wolfram hat den Eindruck, »daß selbst die Aerzte nicht wissen, was sie zu tun haben.«45 In Windeseile waren nicht nur die Großstädte betroffen, sondern auch die kleineren Städte und das flache Land. Über Rothenburg ob der Tauber berichtete das »Rothenburger Tageblatt« unter dem 19. Oktober: »Infolge der zahlreichen Erkrankungen an der Influenzaepidemie ist die Einbringung der Kartoffel- und Rübenernte im Stadtbezirk äußerst gefährdet, da in zahlreichen landwirtschaftlichen Betrieben es an jeglicher Arbeitskraft mangelt.«46 In der zweiten Oktoberhälfte erreichte die Grippesterblichkeit in Deutschland ihren Höhepunkt. Überall im Deutschen Reich herrschte mit Blick auf das sehnsüchtig erhoffte Kriegsende eine gewaltige nervliche Anspannung. Unter dem 20.  Oktober 1918 schrieb der in Heidelberg ansässige Karl Hampe in sein Tagebuch: »Die städtische Bevölkerung steht gegenwärtig noch mehr unter dem Eindruck der bösartigen Grippe als unter dem der großen Niederlagen. […] Frau Ranke mit ihren 3 Kindern ist ganz ohne Hülfe; sie selbst mit angehender Lungenentzündung, 2 Kinder an Grippe erkrankt. Dabei scheuen sich die meisten Menschen in solche Grippewohnungen zu gehen, als seien es Pesthöhlen.«47 Der Krieg war im öffentlichen Bewusstsein kurzzeitig in die zweite Reihe getreten. Die »Münchner Medizinische Wochenschrift«, eine ärztliche Fachzeitschrift, berichtete: »Aus allen Teilen Deutschlands werden zahlreiche Neuerkrankungen gemeldet, auch wieder Todesfälle. In München schätzte man die Zahl der Erkrankungen auf weit über zwanzigtausend; besonders ist hier die Schuljugend betroffen, so dass die Schliessungen sämtlicher Volksschulen und auch vieler Mittel- und Privatschulen angeordnet werden mußte.«48 Anfang November 1918 war in der »Münchner Medizinischen Wochenschrift« zu lesen: »Im Bayerischen Landtag haben Zentrumsabgeordnete folgende Interpellation eingebracht: ›Ist der Staatsregierung bekannt, dass die zurzeit epidemisch auftretende Grippe in vielen bayerischen Stadt- und Landgemeinden infolge des Aerztemangels nicht genügend bekämpft werden kann? Welche Schritte gedenkt sie zu tun, um dieser furchtbaren Gefahr, vor allem auch durch eine bessere ärztliche Versorgung wirksam zu begegnen?‹ [… der]

Die Spanische Grippe 1918/19

Kriegsminister ersucht wurde, die Aerzte der Orte, an denen die ärztliche Versorgung gefährdet erscheint, im Falle ihres Einverständnisses vom Heeresdienst wieder freizugeben, und im Falle einer drohenden Gefährdung von der Einberufung von Aerzten abzusehen.« Diese Epidemie brachte viele Schwierigkeiten mit sich. Nach vier Jahren Krieg fehlte es auch in den Großstädten an Fahrzeugen, welche die Ärzte zum Besuch der Kranken dringend benötigten. Allerdings darf man annehmen, dass die große Mehrzahl der Kranken bei sich zu Hause lag, und nicht jeder von ihnen wird den Besuch eines Arztes erwartet haben. Unter dem 4. November 1918 berichtete der Magistrat der Stadt Augsburg an das Garnisonskommando: »Die Grippe-Epidemie ist noch nicht in der Abnahme begriffen. Die Zahl der Sterbefälle wächst vielmehr täglich. Um eine rasche ärztliche Hilfe bei den Grippe-Erkrankungen zu ermöglichen, ist es dringend notwendig, bessere Fahrgelegenheiten für die Ärzte zu schaffen. Wir haben die hiesigen Lohnkutscher angehalten, mit ihrem Fuhrwerk in erster Linie die Ärzte zu befördern. Trotz etwaiger Bevorzugung der Ärzte werde jedoch […] diese Fahrgelegenheit nicht hinreichen. Wir ersuchen daher, ein Militärfahrzeug gefälligst umgehend für die Ärzte zur Verfügung zu stellen.«49 Unendlich viele Münchner hüteten in diesen Tagen grippekrank das Bett, auch der päpstliche Nuntius Eugenio Pacelli. »Eine starke Grippe mit hohem Fieber befiel Exzellenz, so daß es dem Hausarzt angebracht schien, den Patienten in seine Klinik zu überführen«, schrieb seine Haushälterin in ihren Erinnerungen.50 Jetzt stellte sich für die Beförderung der Ärzte zu den Kranken ein neues Problem, es fehlte an Treibstoff. Die Münchner Stadtverwaltung ließ den Ärzten Berechtigungsscheine aushändigen, damit sie bei der Benützung der rund fünfzig städtischen Kraftdroschken bevorzugt wurden. Naturgemäß waren die Bevölkerungsschichten stärker von der Grippe befallen, die ständig mit vielen Menschen verkehren mussten. Viele Straßenbahner waren grippekrank, und die Straßenbahndirektion München sah sich gezwungen, neue Kräfte einzusetzen, damit der Fahrbetrieb aufrechterhalten werden konnte.51 Die meisten Grippekranken blieben bei sich zu Hause im Bett. Überall wurden nur die besonders schweren Fälle in eine Klinik eingewiesen, in München vor allem ins Schwabinger Krankenhaus. In

329

330

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

diesem Krankenhaus begannen ab Mitte Oktober die Diagnosen »Grippe« und »Grippepneumonie« als Todesursache immer häufiger aufzutreten. Ein grippekranker Bäckerlehrung stürzte sich im Fieberwahn aus dem Fenster, er war auf der Stelle tot.52 Es waren die Jungen, die an der Grippe starben, das war in München nicht anders als anderswo. Geradezu explosiv schnellte auch in München die Sterblichkeit der 15- bis 30jährigen in die Höhe.53 Der Münchner Magistrat beschloss, 4200 Mark für die Anstellung weiterer Leichenfrauen zu bewilligen. »Dadurch, daß am Allerheiligentage keine Bestattungen erfolgten, wuchs die Zahl der Toten in den Friedhöfen derart an, daß man heute zum Teil um 10 Uhr vormittags mit den Bestattungen beginnen mußte«, stand Anfang November in der Presse zu lesen.54 »Die Influenzaepidemie dauert in allen Ländern Europas an, doch scheint bei uns wenigstens der Höhepunkt überschritten zu sein.«55 Bayerns zweitgrößte Stadt, Nürnberg, besaß seit 1897 ein sehr großes städtisches Krankenhaus, im letzten Kriegsjahr verfügte es über fast 1300 Krankenbetten. Soweit die Nürnberger Grippekranken überhaupt ein Krankenhaus aufsuchten, wurden sie hier eingewiesen. Das Städtische Krankenhaus Nürnberg hatte jetzt mehr Patienten als je zuvor zu versorgen. Vor 1918 hatte der höchste Krankenstand zwischen 887 (1914) und 1000 (1915) gelegen, Ende Oktober 1918 betrug er 1292, davon waren 424 Soldaten. Die Zugänge stiegen bis zu 124 Aufnahmen am Tag an. Alle verfügbaren Lagerstellen mussten aufgeboten werden. Je höher der Krankenstand stieg, desto mehr Pflegepersonen erkrankten an der Grippe. Von den 94 Pflegepersonen in diesem Krankenhaus starben zwischen dem 16. Oktober und 8. November 1918 sechs an der Grippe, nämlich fünf Krankenschwestern und eine Pflegeschülerin, außerdem erlagen in dieser Zeit weitere fünf Hausangestellte der Seuche. Je näher diese Frauen am Krankenbett gearbeitet hatten, desto früher hatte sie der Tod ereilt. In Nürnbergs Städtischem Krankenhaus waren vor 1918 im längerfristigen Durchschnitt etwa drei Verstorbene pro Tag zu verzeichnen, etwas mehr als neunzig im Monat. Im Oktober 1918 starben hier binnen eines Monats 323 Kranke, im November 1918 weitere 155.

Die Spanische Grippe 1918/19

Am Morgen des 22. Oktober fand der Krankenhauspathologe, Dr. Charles Thorel, zwanzig Leichen vor, zum größten Teil Grippeopfer. Dreizehn der zwanzig Verstorbenen hatten das dreißigste Lebensjahr nicht erreicht, nur zwei waren älter als fünfzig Jahre. Außerdem waren die Verstorbenen zumeist gut genährt. An diesem Dienstagmorgen musste sich der Prosektor beeilen, es gab viel zu tun; die Sektionsprotokolle dieses Oktobertages sind sehr kurz und fast unleserlich. Dr. Thorel beschrieb darin auch den Ernährungszustand der von ihm sezierten Leichen. Er war es gewohnt, die Leichen von älteren, schlechter ernährten Patienten auf dem Sektionstisch vorzufinden; jüngere Menschen sind in Notzeiten meist besser ernährt als ältere. Aber die im Herbst 1918 unter der Diagnose Grippe oder Pneumonie Verstorbenen waren in ihrer Mehrheit erstaunlich gut genährt, die Sektionsprotokolle der Grippetoten beginnen häufig mit den Worten: »Kräftig gebaute, gut genährte weibliche Leiche«.56 Die Nürnberger Sektionsprotokolle vom Herbst 1918 zeigen ein einförmiges Bild; die Grippetoten unterschieden sich im Herbst übrigens nicht von denen des Sommers. Die Mehrzahl der Verstorbenen war bakteriellen Sekundärinfektionen erlegen. Die Grippesterblichkeit Wie hoch war die Sterblichkeit in Bayern und den bayerischen Städten? Im Deutschen Reich war die Grippesterblichkeit mit knapp fünf Promille eher niedrig, aber man darf nicht vergessen, dass auf jeden der an Grippe Verstorbenen weitere dreißig oder vierzig oder noch mehr Personen kamen, die an der Grippe erkrankt waren und mindestens einige Tage zu Bette lagen, arbeitsunfähig waren und gepflegt werden mussten. München war 1918 etwa doppelt so groß wie Nürnberg, es beherbergte bei Kriegsende 603 000 Bewohner. Insgesamt dürften in München mehr als 3000 Zivilpersonen dieser Seuche erlegen sein, also etwa fünf Promille seiner Zivilbevölkerung. In Nürnberg, das 1918 mehr als halb soviel Bewohner zählte wie München, starben in den Jahren 1918 und 1919 zusammen an die 1500 Personen an der Grippe, also wiederum fünf Promille der Nürnberger Zivilbevölkerung. In Rosenheim lebten 1918 in 4140  Haus-

331

332

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

halten rund 15 400 Zivilpersonen, die 1700 Soldaten sollen hier unberücksichtigt bleiben. In den Jahren davor, 1914 bis 1917, waren in Rosenheim im Durchschnitt 343 Menschen gestorben. Im Jahr der Grippe waren es genau fünfzig mehr, 393, also betrug die Grippesterblichkeit in dieser kleinen Stadt drei bis vier Promille. In den großen Städten lebten die Menschen enger beisammen als auf dem Lande oder in kleinen Städten. Aber man darf nicht annehmen, dass alle Kleinstädte weniger betroffen waren. Erfahrungen aus den USA zeigen, dass die Gesamtsterblichkeit 1918 von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich sein konnte: Sie belief sich in Chicago auf 63 Promille, während Philadelphia eine Sterblichkeit von 156 Promille hatte, Baltimore von 147 und Pittsburgh von 99. In St. Louis/ Missouri betrug sie 28 Promille.57 Dabei wurden einige unbedeutende Kleinstädte viel heftiger betroffen, ohne dass man hier eine Regelhaftigkeit erkennen könnte. Bemerkenswerter nehmen sich die Verstorbenen des Jahres 1918 aus, wenn man ihr Lebensalter betrachtet. Diese Pandemie riss vor allem jüngere Menschen ins Grab. Für München zeigt sich ein eindeutiger und starker Anstieg der Sterblichkeit  – und der Übersterblichkeit  – unter jüngeren Menschen. Mit dem Ausbruch der Grippepandemie starben bereits deutlich mehr Säuglinge, und zwar (bezogen auf das gesamte Reichsgebiet) mehr weibliche als männliche, während zuvor mehr Knaben (bis zum fünften Lebensjahr) gestorben waren. Unter den Kindern vom zweiten bis zum zehnten Lebensjahr war der Anstieg der Verstorbenen deutlich, nämlich um mehr als 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr, allerdings nicht so hoch wie 1916. Die Sterblichkeit der Jugendlichen (zwischen 15 und 20) nahm gleichfalls stark zu – am meisten stieg die Sterblichkeit der 21- bis 30jährigen, sie lag 1918 in München weit mehr als doppelt so hoch wie in den Jahren unmittelbar davor: 1917 waren in dieser Altersgruppe 675 Personen gestorben, 1918 waren es 1410.58 Mit Blick auf die noch älteren Münchner Jahrgänge kann man sagen: Je älter diese Menschen waren, desto geringer war der prozentuale Anstieg der Sterblichkeit infolge der Seuche, was – zu einem sehr kleinen – Teil  damit zu tun hat, dass infolge der schlimmen Zustände in Deutschland in den Jahren vor 1918 mehr ältere Menschen verstorben waren als etwa in Großbritannien, zu einem sehr viel größeren

Die Spanische Grippe 1918/19

damit, dass die Älteren in früheren Grippepandemien, vor allem in der von 1895, gegen diesen Grippeerreger ein gewisses Maß an Immunität erworben hatten. Sehr viel aussagekräftiger als die Daten für eine einzelne Großstadt sind die Aussagen über Bevölkerungsverluste für eine größere Region wie Bayern oder das Deutsche Reich als Ganzes. Im Deutschen Reich gehen die Schätzungen über die Zahl der Grippekranken weit auseinander, sie reichen von zehn Millionen oder einem Sechstel der Bevölkerung auf ein Vielfaches davon, in der Stadt Wien soll es ein Drittel gewesen sein.59 In einzelnen Städten erkrankte bestimmt ein wesentlich höherer Anteil. Die Zahl der in Bayern an der Grippe Verstorbenen wird im »Statistischen Jahrbuch für den Freistaat Bayern« folgendermaßen angegeben: 1918 starben 20 321 bayerische Zivilisten unter der Todesursache »Grippe« und weitere 4424 im folgenden Jahr. Allein unter der registrierten Todesursache »Grippe« starben also in Bayern 1918/19 24 745 Menschen. Aber nicht nur sie waren Grippetote: Der Leichenbeschauer trug als Todesursache eine Diagnose ein, und wenn der Kranke an einer Lungenentzündung starb, die auf eine Grippeerkrankung gefolgt war, dann konnte er ohne Weiteres eintragen: Pneumonie. Man wird also auch sehr viele der Toten, die unter »Lungenentzündung« registriert wurden, zu den Grippetoten zählen müssen. An Lungenentzündung starben in Bayern vor dem Jahr 1918 meist 8000 bis 8500 Personen pro Jahr, zwischen 8145 (1914) und 8509 (1915). Aber 1918 waren es 13 711 Personen, die dieser Krankheit erlagen, also etwa 5000 Personen mehr als zuvor. Auch im Jahr 1919 starben deutlich mehr Bayern an Pneumonie als vor 1918. Die Influenzapandemie von 1918/19 raffte also allein in Bayern mehr als 30 000 Menschen hinweg.60 Das sind bei einer Bevölkerung von etwas mehr als sieben Millionen (1918/19) weniger als fünf Promille. Die Grippe hatte vermutlich auch noch andere gesundheitliche Folgen, es gab in den folgenden Jahren viele Fälle von Encephalitis. Ob eine kausale Verknüpfung zwischen Grippe und Encephalitis lethargica besteht, sei dahingestellt, sie wurde später von vielen Fachleuten anerkannt. Der Psychologe und Arzt Willy Hellpach bezeichnete die im Frühjahr 1919 grassierende Encephalitis als »Ner-

333

334

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

vengrippe«. Diese epidemisch auftretende Encephalitis scheint eine der medizinischen Folgen der Grippe gewesen zu sein. Immer häufiger war davon die Rede, dass der Grippeerkrankung eine Encephalitis folgte. Nicht wenige Mediziner, die sich damit beschäftigt haben, auch Felix Stern, sehen einen Zusammenhang zwischen Grippe und Encephalitis.61 Der Grippeerreger griff nämlich auch das Nervensystem an. Neurologische Ausfallserscheinungen und Erregungszustände waren unter den Grippekranken nicht selten, ja gelegentlich wurden sogar Ausschweifungen der Revolution in München mit der Grippe und dem massenhaften Auftreten von Encephalitis kausal in Verbindung gebracht. So führt der Münchner Kriminologe Hans von Hentig einige der »Forderungen der Arbeiterschaft während der deutschen Revolution nach einem Achtstundentag- oder gar einem Sechsstundentag zu einem erheblichen Teil auf wirkliche Erschöpfungszustände zurück […], die ich aus schweren Depressionen, Nahrungsmangel und den toxischen Folgeerscheinungen der Grippe erklärte; nicht lange danach wurde von den Aerzten eine schlafsüchtige Form von Gehirnentzündung nach Grippe in steigendem Maße festgestellt«.62 Schon im November 1918 ließ die große Seuche in Europas Städten nach, jetzt war am ehesten die Landbevölkerung betroffen. Je abgelegener eine Region war, desto später kam die Grippe. Allerdings zog dann auch noch eine dritte Welle über das Land, die weniger bösartig war und viel weniger Todesopfer forderte als die zweite Welle vom Herbst. Die dritte zog sich noch bis ins Jahr 1919 hin. »Die Weihnachtsferien am Ende des letzten Kriegsjahres verbrachte ich wieder bei den Großeltern in Bubsheim«, schrieb der spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, der diese Tage als Kind auf der Schwäbischen Alb verbrachte. »In dieser Zeit suchte die spanische Grippe auch Deutschland heim. In dem kleinen Dorf lagen die meisten Einwohner mit hohem Fieber in ihren Betten, nicht wenige starben; auch die Großeltern hatte die Seuche befallen. Die Kinder riefen vergeblich nach dem Pfarrer, weil sie nicht ohne die Sakramente sterben wollten. Da es kein Telefon gab, war ärztliche Hilfe nicht zu erreichen; sie wäre ohnehin machtlos gewesen.«63

Die Spanische Grippe 1918/19

Die Spanische Grippe, eine Bilanz Die verheerende Grippepandemie, die seit der Jahresmitte 1918 in drei Wellen um den Erdball fegte, tötete binnen weniger Monate viel mehr Menschen als dieser Krieg in viereinviertel Jahren. Die Weltbevölkerung belief sich 1918 auf etwa 1,8 Milliarden, im Verlauf der Pandemie starben 25 bis 40 Millionen Menschen, möglicherweise sogar noch bedeutend mehr.64 Die Weltbevölkerung büßte also im Verlauf der Grippepandemie eineinhalb bis zwei Prozent ein, vielleicht sogar einen noch etwas höheren Anteil. Diese Pandemie war sehr viel virulenter als eine gewöhnliche Grippe.65 Sie war so verheerend, weil es sich bei dem Erreger um einen neuen Subtypus von Virus A handelte, der sich als außerordentlich ansteckend erwies.66 Über die weltweite Sterblichkeit kann man, grob generalisierend, Folgendes sagen: Die Grippesterblichkeit war relativ niedrig in den kriegführenden Staaten  – im Vergleich zu anderen Ländern sogar am niedrigsten  –, man könnte auch sagen: in den »zivilisierten«, hochindustrialisierten Ländern. In diesen Nationen starben meist so um die fünf Promille an der Grippe, das waren im Deutschen Reich 1918/19 etwa 300 000 Menschen.67 In Europa starben etwa 2,6 Millionen an der Grippe, in den USA, aus einer Bevölkerung von 105 Millionen, 675 000, also deutlich mehr als sechs Promille, was nicht weiter erstaunen kann, denn hier begann das Übel und außerdem lebte in den Vereinigten Staaten von Amerika eine indigene Minderheit, die Indianer, die besonders anfällig war für eine Infektionskrankheit wie die Grippe. An zweiter Stelle sind zu nennen die wirtschaftlich weniger entwickelten Länder in Europa oder außerhalb, die nicht am Krieg teilnahmen, Länder wie Spanien. Hier war die Grippesterblichkeit deutlich höher, meist über zehn Promille. An dritter Stelle sind die Nationen oder Teile von Völkern zu nennen, die einen hohen Anteil von Ureinwohnern hatten oder die sich ausschließlich aus solchen indigenen Völkerschaften zusammensetzten. In Ländern wie Mexiko, Kanada oder Neuseeland starb anteilmäßig ein sehr hoher Prozentsatz der Ureinwohner, und dies traf erst recht für Inseln zu, auf denen eine isolierte Urbevölkerung

335

336

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

lebte, die in der Vergangenheit wenig Berührung gehabt hatte mit europäischstämmiger Bevölkerung. Auf einigen kleinen – und isolierten – Inseln im Pazifik starb mehr als ein Fünftel der Einwohner, also über 20 Prozent. Nur sehr abgeschiedene kleine Inseln, wie St. Helena im Südatlantik, das in dieser Zeit nicht von Schiffen aufgesucht wurde, entgingen der Pandemie gänzlich.68 Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Krieg und der Grippe? In den letzten Oktobertagen 1918 wollte die deutsche Seekriegsleitung einen tollkühnen Versuch unternehmen: Nun sollten einige deutsche Schlachtschiffe in See stechen und sich mit der englischen Hochseeflotte eine Schlacht liefern. Der Befehl erschien den Matrosen sinnlos, er kam ihnen wie Selbstmord vor, sie verweigerten den Gehorsam. Die Unruhen griffen rasch um sich. Revolutionsfieber brach aus, die Throne begannen zu wackeln. In München kam es schon in den ersten Novembertagen zum Umsturz. In den meisten Städten fielen zu dieser Zeit die Schulen aus, auch in Augsburg, wo der bayerische Revolutionär und Schriftsteller Ernst Niekisch als Volksschullehrer tätig war. Er fand daher viel Zeit für andere Dinge. »Ich hatte Zeit, mich ausschließlich der Redaktionsarbeit bei der sozialdemokratischen »Schwäbischen Volkszeitung« hinzugeben; von meinen eigentlichen Berufspflichten war ich infolge der Schließung der Schulen entbunden.«69 Der bayerische König flüchtete am 7.  November 1918 aus seiner Hauptstadt. Zwei Tage später rief der SPD-Politiker Philipp Scheidemann in Berlin die Republik aus. Reichskanzler Max von Baden übergab die Regierungsgeschäfte an den Sozialdemokraten Friedrich Ebert. Das war der Umsturz. Das Deutsche Reich war am Ende, nur wenige Tage nachdem die Grippesterblichkeit ihren Höhepunkt überschritten hatte. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Seuche als eine Teilursache für den deutschen Zusammenbruch deutet. Es ist anzunehmen, dass die Grippepandemien vom Sommer und Herbst 1918 maßgeblich auf die politischen wie militärischen Ereignisse bei Kriegsende und weit darüber hinaus eingewirkt haben. Sie schwächte die  – ohnehin stark geschwäch-

Die Spanische Grippe 1918/19

ten  – Mittelmächte sicherlich noch mehr als die künftigen Sieger und verminderte somit den Willen der Bevölkerung, den Krieg weiterzuführen. »Der Krieg hat die Seuche wohl nicht verursacht, sie aber doch verstärkt«, so urteilt ein Historiker über diese Seuche.70 Die kausale Beziehung zwischen der Seuche, dem Kriegsverlauf und dem Kriegsende wurde bislang nicht systematisch untersucht, es sind darüber vorläufig nur Spekulationen möglich. Kriege und Massenansammlungen von Menschen waren in der Vergangenheit sehr oft mit Seuchen verbunden: Den Befreiungskriegen von 1813/14 folgte eine sehr schwere Fleckfieberepidemie, während der Revolution von 1848  – und im Gefolge des Deutsch-Dänischen Krieges im selben Jahr  – wütete die Cholera, desgleichen nach dem Bruderkrieg von 1866; in den Jahren 1871/73, nach dem Deutsch-Französischen Krieg, überfiel eine schwere Pockenepidemie weite Teile Europas, sie forderte Deutschland viermal so viele Tote ab wie der Krieg gegen Frankreich, an die 180 000.71 Welchen Einfluss zeigte die Grippepandemie auf den Kriegsverlauf? Hat sie die Mittelmächte kapitulationsreif gemacht? Deutschland hat bestimmt nicht infolge der Grippe den Krieg verloren. Das Deutsche Reich, vom Krieg weißgeblutet, litt an der Grippe vermutlich nicht mehr als die neutralen Länder Schweden und Schweiz; aber es war fortan außerstande, die großen Belastungen zu schultern, die der Krieg mit sich brachte.72 »Dass die Deutschen dem Druck [der Alliierten und der aus den USA hinzuströmenden frischen Soldaten] nicht standhalten konnten, war auch auf den ersten Ausbruch der sogenannten ›spanischen Grippe‹ zurückzuführen«, schreibt ein englischer Militärhistoriker, ein höchst kenntnisreicher Fachmann.73 Die erste Welle im Frühsommer scheint das Heer stärker in Mitleidenschaft gezogen zu haben als die Heimat. Einige Soldatenmemoiren zeigen, dass die Grippe schon zur Jahresmitte an der Westfront vom Heer als eine schwere Belastung empfunden wurde. Hohe deutsche Militärs  – wie Ludendorff  – haben das Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensive teils der Grippe angelastet. »Zu den vielen Faktoren, die den Boden für einen grundlegenden Wandel bereit machen und die jede Widerstandskraft gegen eine Um-

337

338

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

wälzung schwächen, gehört ohne Zweifel auch die Grippeepidemie, von der Bayern in diesen Wochen heimgesucht wird«, urteilte der bayerische Historiker Heinrich Hillmayr.74 Die zweite Welle, ab Ende September 1918, mit ihrem Höhepunkt in der zweiten Oktoberhälfte, traf die deutsche Zivilbevölkerung noch stärker. Es ist anzunehmen, dass diese Grippepandemie maßgeblich auf die politischen wie militärischen Ereignisse bei Kriegsende und weit darüber hinaus eingewirkt hat. Deutschland war schon davor fast kapitulationsreif, seine Industrieproduktion sackte in der zweiten Jahreshälfte 1918 auf unter fünfzig Prozent (gegenüber der Produktion von 1913), und die Stimmung in der Bevölkerung war vermutlich noch niedriger. Die Mittelmächte traf die Grippe härter als ihre Gegner, die noch reichlich an Kräften besaßen, und verminderte somit mittelbar den Willen der Bevölkerung, den Krieg fortzuführen. Deutschland war zu dieser Zeit bereits stark geschwächt, dadurch bewirkte die Seuche hier einen noch verheerenderen Leistungsabfall. Andere kriegführende Staaten waren auch von der Grippe betroffen; aber das Deutsche Reich war schon dem Ende nahe, als die Seuche kam. Seit August 1918 war die Lage an der Front zum Verzweifeln, daher verlangte der Industrielle Walter Rathenau am 7. Oktober in der »Vossischen Zeitung« eine »Levée en masse«. Zu einer solchen Verzweiflungstat ließ sich nicht einmal der Hasardeur Ludendorff hinreißen, er lehnte ein solches Vabanquespiel ab. Paul von Hintze, der bis 4.  Oktober 1918 das Amt des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes innehatte und neuerdings als Verbindungsmann zum kaiserlichen Büro diente, meinte, ein Einzelner könne »um seiner Ehre willen ›bis zum Untergang‹ kämpfen«, nicht aber ein Volk von siebzig Millionen. Hinze hielt es für »eine Illusion, zu glauben […], das halb verhungerte, von schwerer Grippeseuche geplagte, durch militärische Aushebungen schon hundertmal ›ausgekämmte‹ und in seinem Patriotismus längst überforderte deutsche Volk würde sich jetzt noch einmal zum ›furor teutonicus‹ entflammen und zu einer ›levée en masse‹ formieren lassen.«75 Wenn Hunger zusammen mit dieser Grippe im Herbst 1918 eine Levée en masse unmöglich gemacht haben, dann darf man daraus folgern, dass sie auch wichtige Gründe für den Zusammenbruch waren.

Die Spanische Grippe 1918/19

Die Mittelmächte waren im Sommer 1918 militärisch bereits deutlich unterlegen. Infolge der Grippe verloren alle am Kampf beteiligten Nationen, so könnte man sagen, einen gewissen Anteil ihrer Stärke, und im Falle Deutschlands ist diese Schwächung so ausgefallen, dass das Land  – seine Menschen  – nicht mehr bereit waren, diese Anstrengungen auf sich zu nehmen. Die Grippe hat das Kriegsende schneller herbeigeführt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Grippepandemie als einen Faktor des Zusammenbruchs deutet. Noch zur Jahresmitte, vor der Grippe, am Ende des vierten Kriegsjahres, hatte kaum jemand im feindlichen Lager gedacht, dass der Krieg noch im Jahr 1918 enden würde. Die politischen Unruhen in Deutschland und die Meuterei in Marine und Armee schwollen mit der Seuche an, die Deutschen konnten nicht mehr, als die Grippe wütete. Das Deutsche Reich suchte wenige Tage nachdem die Grippesterblichkeit ihren Höhepunkt erreicht hatte um einen Waffenstillstand nach und erklärte sich zur Unterschrift bereit. Das war in der zweiten Oktoberhälfte 1918. Nur wenige Tage später verdichtete sich der Widerstand gegen die Weiterführung des Krieges, als in Wilhelmshaven und Kiel die Matrosen meuterten. Das Deutsche Reich war in den ersten Novembertagen 1918 kapitulationsreif, also unmittelbar nachdem die Grippepandemie – und die Grippesterblichkeit – ihren Höhepunkt überschritten hatten. Das ist keineswegs ein Argument post hoc ergo propter hoc: Eine Massenerkrankung ist durchaus imstande, ein Volk derart zu schwächen, dass es auf weitere große Anstrengungen  – wie den Krieg – verzichtet. Die Spanische Grippe und die Historiographie Man kann nicht generell behaupten, dass es mit Blick auf diese Seuche an Quellen fehlt, obschon die deutschen Zeitungen Ende Oktober 1918 eher über die Kämpfe an der Westfront und die Verhandlungen mit den Amerikanern über einen baldigen Waffenstilstand berichteten als über die Grippe. Aber es gibt etliche weitere Archivalien – Krankenhausakten, statistische Jahrbücher der Städte und Staaten, wissenschaftliche Aufsätze in medizinischen Fachzeitschrif-

339

340

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

ten, private Aufzeichnungen –, die eine Darstellung dieser Seuche erlauben.76 Die Quellenlage ist für Bayern keineswegs schlecht. Die Seuche trat zwar zu einem Zeitpunkt auf, als die öffentliche Aufmerksamkeit sich anderen Problemen zuwandte. Selbst die Tageszeitungen, durch Zensur behindert, berichteten nur wenig über die Grippekranken in den Städten. Sie schrieben jetzt über ganz andere Dinge, über das erhoffte Kriegsende und den in Deutschland von der Opposition verlangten verfassungsrechtlichen Reformen, vor allem über die Parlamentarisierung der Reichsregierung und die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen, die dann Ende Oktober 1918 durchgeführt wurden. Dementsprechend rückte die Berichterstattung über die Grippepandemie im Herbst 1918 in den Hintergrund. Wahrscheinlich hätte die Grippe in der Presse zu jedem anderen Zeitpunkt wesentlich mehr Aufmerksamkeit gefunden als gerade in diesen Kriegszeiten. Was über die Krankheit an Daten und Zahlen vorliegt, vor allem in den statistischen Berichten, ist daher eher dürftig. Nicht einmal Ärzte, die diese Zeit in München erlebten und später Memoiren schrieben, wie Sauerbruch, nehmen darauf Bezug. Die meisten Memoirenwerke enthalten kaum etwas über diese Seuche, und dies trifft auch für veröffentlichte Briefe aus diesem Zeitraum zu: Hier nehmen die politischen Ereignisse wie das Kriegsende und die – fast zur selben Zeit stattfindenden – revolutionären Unruhen einen sehr viel breiteren oder ausschließlichen Raum ein. Nur in Selbstzeugnissen schildern Autoren, die selbst an der Grippe erkrankt waren, oft mit bewegenden Worten, wie sie in diesen Tagen kraftlos daniederlagen.77 Keinesfalls übersehen sollte man die vielen zusammenfassenden Berichte von Medizinern über diese Grippepandemie; aber sie sind in medizinischen Fachzeitschriften abgedruckt und wurden von Nicht-Medizinern selten zur Kenntnis genommen. Im Oktober und November 1918 waren die Pathologen und die Internisten stark beschäftigt, danach begannen sie bald ihre Erfahrungen niederzuschreiben. Ab Herbst 1918 finden sich zahlreiche Berichte, vor allem von Pathologen, über die pathologische Anatomie dieser Seuche, auch von Internisten über den Verlauf einzelner Fälle. Zur Jah-

Die Spanische Grippe 1918/19

reswende und noch im Frühjahr 1919 waren die einschlägigen Fachzeitschriften, wie die »Münchner Medizinische Wochenschrift«, voll davon, allerdings beziehen sich diese Berichte längst nicht immer nur auf die Situation in Bayern. Deutsche Historiker erwähnen diese Seuche gewöhnlich in ihren Geschichtswerken nicht, in der 10. Auflage des nach Gebhardt benannten »Handbuches der Deutschen Geschichte«, wie auch in dem von Max Spindler herausgegebenen vierbändigen »Handbuch der Bayerischen Geschichte« fehlt jeder Hinweis darauf. Nicht einmal die achtseitige Zeittafel in der »Enzyklopädie Erster Weltkrieg« enthält einen Eintrag zur Grippe, obwohl es hier ein leichtes gewesen wäre, an dieses Ereignis zu erinnern, ohne auf das Problem der Ursachen und der Folgen näher einzugehen.78 Aber auch dort, wo die Seuche erwähnt wird, sind sich Autoren nicht einmal über das genaue Jahr ihres Auftretens sicher: In manch einem Geschichtswerk wird die Grippe bereits auf den Winter 1917/18 vorgezogen, gleichsam als unmittelbare Folge des Kohlrüben-Hungerwinters 1916/17.79 Soweit die Seuche überhaupt erwähnt wird, wird sie auch vollkommen außerhalb ihres globalen Kontextes eingesetzt. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Friedrich-Wilhelm Henning schreibt, die Grippe habe im Jahr 1919 stattgefunden und eine »besonders hohe Zahl an Sterbefällen verursacht, weil die Bevölkerung im allgemeinen durch die jahrelange schlechte Ernährung nicht sehr widerstandsfähig war«.80 Hans-Ulrich Wehler erwähnt die Spanische Grippe in seiner großen Sozialgeschichte mehrmals, er schreibt, dass Reichskanzler Max von Baden in den ersten Novembertagen 1918 »volle 36 Stunden lang in einen (bis heute ungeklärten) mysteriösen Tiefschlaf verfiel«, ferner: dass die Seuche »unmittelbar nach dem Ende der Feindseligkeiten« aufgetreten sei und »in Europa mit 30 Millionen Toten mehr Opfer [ge]fordert [habe] als die Front«.81 Dies wäre an sich schon höchst bestürzend – noch mehr indes, dass der Autor, nachdem er diese »30 Millionen Toten« in Europa erwähnt hat, kein weiteres Wort darüber verliert. Die Grippe tötete in Europa vielleicht den zwölften Teil davon, zweieinhalb Millionen Menschen. Wer die Seuche erst nach dem Ende der Feindseligkeiten datiert, braucht sich keine Gedanken zu machen, ob sie in irgendeiner Form

341

342

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Einfluss nahm auf das Kriegsende. Die deutsche Geschichtswissenschaft scheut sich offenbar, soziale Entwicklungen zu behandeln, die nicht anthropogenen Ursprungs sind.82 Aber warum? Ist das massenhafte Sterben von Menschen – ein demographischer Niedergang bei vielen Nationen und der Weltbevölkerung – infolge einer schweren Seuche kein Teil der Sozialgeschichte?

1

2 3 4 5

6

7 8

9

David Stevenson, Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 2006, S. 471–473, 484–488, Zitat S. 484. Siehe auch Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, London 1988, bes. S. 330–354. Friedrich Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2: 1750–1976, Paderborn 1978, S. 181–185. Siehe Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, bes. S. 855; Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg 1914–1918, Göttingen 1973, bes. S. 14–21. StadtAN, C 29 Nr. 12, Bl. 81, 86. Belinda Davis, Home Fires Burning. Food, Politics and Everyday Life in World War I Berlin, Chapel Hill 2000, S. 162. Siehe Max Rubmann, Hunger! Wirkungen Moderner Kriegsmethoden, Berlin 1919; Dr. L. Langstein / Dr. F. Rott, Der Gesundheitszustand unter den Säuglingen und Kleinkindern, in: Franz Bumm (Hg.), Deutschlands Gesundheitsverhältnisse unter dem Einfluß des Krieges, Bd. 1, Stuttgart u. a. 1928, S. 87–114, hier S. 91. Ethel Cooper, Behind the Lines. One Woman’s War 1914–1918, London 1982, S.  267. Siehe Max Rubner, Der Gesundheitszustand im allgemeinen, in: Bumm (Hg.), Gesundheitsverhältnisse (wie Anm.  5), bes. S.  63–86, 71–73; Stephen G. Fritz, Frankfurt, in: Fred R. van Hartesveldt (Hg.), The 1918–1919 Pandemic of Influenza, Lewiston u. a. 1992, S.  13–32. Für Franken: Anton Hofmann, Die Gesundheitsverhältnisse fränkischer Arbeitnehmerinnen während der Kriegsjahre, in: Zs. für Hygiene und Infektionskrankheiten 91 (1920/21), S. 133–151. Josef Hofmiller, Revolutionstagebuch, Leipzig 1938, S. 17. Zit. nach Manfred Vasold, Die Influenzapandemie von 1918/19 in Nürnberg, in: Jb. für fränkische Landesforschung 59 (1999), S. 355–374, hier S. 359. Siehe auch Dörthe Stockhaus, »Aber mir sind trotzdem satt wordn mit unserer Suppn.« Nürnberger Arbeiterkost um die Jahrhundertwende, in: MVGN 81 (1994), S. 243–272, bes. S. 256 f. Wolfgang Ruge, Deutschland von 1917 bis 1933, Berlin-Ost 1974, S.  27; W. Boldt, Der Januarstreik in Bayern mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs, in: Jb. für fränkische Landesforschung 25 (1965), S. 5–42; KlausDieter Schwarz, Weltkrieg und Revolution in Nürnberg. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (Kieler Historische Studien 13), Stuttgart o. J. (1969), S. 156; Karl-Ludwig Ay, Die Entstehung einer Revolu-

Die Spanische Grippe 1918/19

10 11 12 13 14

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

tion. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkrieges, Berlin 1968, S. 186 f. Siehe John Barry, The Great Influenza. The Epic Story of the Deadliest Plague in History, New York 2004, S. 95, 169. Ebd., S. 242 f. Gina Kolata, Influenza. Die Jagd nach dem Virus, Frankfurt a. M. 2001, S. 20 f. Wilfried Witte, Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe, Berlin 2008, S. 8. Max Hirschberg, Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts 1883–1939, München 1998, erwähnt die Grippe in seinem Tagebuch nicht, wohl aber im Okt./Nov. 1918, als er von der Westfront nach Hause zog, mehrmals die große Plage durch Ungeziefer. Ebd., S. 106 f., 111. Dominik Richert, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914–1918, hg. von Angelika Tramitz / Bernd Ulrich, München 1989, S. 358. Ebd., S. 362. Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1919, S. 514, 518. Rupprecht von Bayern, Mein Kriegstagebuch, 3 Bde., hg. von Eugen von Frauenholz, München o. J. (1929), Bd. 2, S. 420. Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen. Jugend – Generalstab – Weltkrieg, hg. von Friedr. Frhr. Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957, S. 436. Hermann Luppe  – diese Informationen sind in seinem gedruckten Werk nicht enthalten. StadtAN, E 10/18, Nr. 45, S. 253. Rosenheimer Anzeiger v. 2.7.1918. Siehe auch Sonderbericht Grippe, 4.7.1918, StadtAN C 29 Nr. 21, Bl. 374, 388. Karl Hampe, Kriegstagebuch 1914–1919, hg. von Folker Reichert / Eike Wolgast, München 22007, S. 708. Werner Heisenberg, Liebe Eltern! Briefe aus kritischer Zeit 1918 bis 1945, hg. von Anna Maria Hirsch-Heisenberg, München 2003, S. 20. Walter Brasch, Ueber die Influenza-artige Epidemie im Juli 1918, in: Münchner Med. Wochenschrift 65 (1918), S. 809–811. Karl Alexander von Müller, Mars und Venus, Stuttgart 1954, S.  242; siehe auch ebd., S. 258 f. Richard Willstätter, Aus meinem Leben. Von Arbeit, Muße und Freunden, Weinheim 1949, S. 299. Oskar Maria Graf, Das Leben meiner Mutter, München 1974, S. 454. Wilhelm Deist, Die Kriegführung der Mittelmächte, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hg. von Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz, Paderborn u. a. 2003, S. 268. Ludendorff, in: Ursachen und Folgen, Bd. 2: Der militärische Zusammenbruch und das Ende des Kaiserreichs, hg. von Herbert Michaelis / Ernst Schraepler, Berlin 1958, S. 276. Harry Graf Kessler, Das Tagebuch, 1880–1937, hg. von Günter Riederer, Bd. 6: 1916–1918, Stuttgart 2006, S. 464.

343

344

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 31 John C. G. Röhl, Wilhelm II., Der Weg in den Abgrund 1900–1941, München 2008, S. 1234. 32 Ursachen und Folgen (wie Anm. 29), S. 285. 33 Hermann Müller-Franken, Die November-Revolution. Erinnerungen, Berlin 1928, S. 16. 34 Ursachen und Folgen (wie Anm. 29), S. 385 f. 35 Rupprecht von Bayern, Kriegstagebuch (wie Anm. 18), Bd. 2, S. 420, 424, 430. 36 Alfred W. Crosby, Epidemic and Peace, Westport/Conn. 1976, S. 7–9, 125. 37 Victor Klemperer, Curriculum vitae, Erinnerungen 1881–1933, Bd. 2, hg. von Walter Nowojski, Berlin 1989, 1996, S. 666–669. 38 Willy Hellpach, Wirken in Wirren. Lebenserinnerungen, Bd. 2: 1914–1925, Hamburg 1925, S. 100. 39 Barry, Great Influenza (wie Anm. 10), S. 178. 40 Ursachen und Folgen (wie Anm. 29), S. 323. 41 Beatriz Echeverri, Spanish influenza seen from Spain, in: Howard Phillips / David Killingray (Hg.), The Spanish Influenza Pandemic 1918–19. New Perspectives, London/New York 2003, S.  78. Siehe P. Guillaume, La Grippe à Bordeaux en 1918, in: Annales de démographie historique, 1978, S. 167–178, bes. die Graphik S. 168. 42 Rupprecht von Bayern, Kriegstagebuch (wie Anm.  18), Bd.  2, S.  468.  – Selbst Schnellzugverbindungen zwischen deutschen Städten wurden der Grippe wegen gestrichen: Gelehrtenalltag. Der Briefwechsel zwischen Eduard Meyer und Georg Wissowa (1840–1927), hg. von Gerd Audring, Hildesheim 2000, S. 469, Postkarte vom 3. Nov. 1918. 43 Groener, Lebenserinnerungen (wie Anm. 19), S. 416. 44 Ernst Röhm, Die Geschichte eines Hochverräters, München 1928, S. 68. 45 Stadtarchiv Augsburg, Bestand 50, Nr. 500, Die Influenza-Epidemien 1889–1935. 46 Rothenburger Tageblatt vom 19.10.1918. 47 Hampe, Kriegstagebuch (wie Anm. 22), S. 761. 48 Münchner Medizinische Wochenschrift 65 (23. Okt. 1918), S. 1202. 49 Stadtarchiv Augsburg, Stadtmagistrat an Kgl. Garnisonskommandeur, Signatur 36,500. 50 Maria P. Lehnert, Ich durfte ihm dienen, Würzburg 1971, S. 15. 51 Dazu mit Quellenbelegen Manfred Vasold, Die Grippepandemie von 1918/19 in der Stadt München, in: Oberbayerisches Archiv 127 (2002), S. 395–414. 52 Rosenheimer Anzeiger vom 20.10.1918. 53 Statistisches Handbuch der Stadt München, hg. vom Statistischen Amt der Stadt München, München 1928, S. 14. 54 Münchner Neueste Nachrichten vom 2.11.1918. 55 Münchner Medizinische Wochenschrift 65 (1918), S. 1230. 56 StadtAN C 90 Nr. 100. 57 Paul A. Buelow, Chigaco, in: Fred R. van Hartesveldt (Hg.), The 1918–1919 Pandemic (wie Anm. 6), S. 119–145, hier S. 140. 58 Statistisches Handbuch München (wie Anm. 53), S. 23. Siehe auch Wolfgang Zorn, Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zum Bundesland, München 1986, S. 118.

Die Spanische Grippe 1918/19 59 Bernhard Möllers, Grippe, in: Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/18, hg. von Otto von Schjerning, Bd. 7: Hygiene, hg. von Wilhelm Hoffmann, Leipzig 1922, S. 575. 60 Errechnet nach den hier genannten Zahlen, diese nach dem Statistischen Jahrbuch für den Freistaat Bayern, hg. vom Bayerischen Statistischen Landesamt 15 (1919), 40 f., 46 f., 50. Ähnliche Probleme stellen sich auch mit Blick auf andere Nationen. So gibt André Armengaud im Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6, hg. von Wolfram Fischer u. a., Stuttgart 1987, S. 297, die Zahl der in Großbritannien an Grippe Verstorbenen mit 112 000 an; vermutlich ist diese Zahl den Statistischen Jahrbüchern entnommen – ohne Rücksicht auf Personen, die unter der Diagnose »Pneumonie« oder »Erkrankungen der Atemwege« starben. J. M. Winter, The Great War and the British People, Cambridge/Mass. 1986, S. 121, spricht von »perhaps 200 000« Grippetoten in Großbritannien, was wohl der Wahrheit näher kommt. 61 H. Siegmund, Zur pathologischen Anatomie der herrschenden Encephalitis epidemica, in: Berliner Klinische Wochenschrift 57 (1920), S. 509–511. Christian Fassbender, Das epidemische Auftreten der Grippe und der Encephalitis lethargica in Preußen im Jahre 1920 und die gegenseitigen Beziehungen, in: Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung 13, Berlin 1921, S. 565–602, hier S. 572 f.; Felix Stern, Die Epidemische Encephalitis, Berlin 1922, S.  153 f.  – Der Fürther Dichter Jakob Wasssermann schreibt in seinem Roman »Etzel Andergast« (Berlin 1931, S. 240) über eine seiner Romanfiguren, dieser habe promoviert über »Die Frage des Primat in der Wechselbeziehung von organischen und psychischen Funktionsstörungen«. Diese Doktorarbeit »war 1920 erschienen, nach dem Erlöschen der großen Grippe-Epidemie, und er hatte darin nachgewiesen, daß zwischen der Vehemenz der pestartigen Seuche und der Gemütsverfassung der Menschheit ein ursächlicher Zusammenhang bestehe, der durch eine Reihe von überraschenden Symptom-Feststellungen erhärtet war.« 62 Hans von Hentig, Ueber den Zusammenhang von kosmischen, biologischen und sozialen Krisen, Tübingen 1920, S. 56. 63 Kurt Georg Kiesinger, Dunkle und helle Jahre. Erinnerungen 1904–1958, Stuttgart 1989, S. 47. 64 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S.  271, schreibt von einer Schätzung von 50 bis 100 Millionen Grippeopfern. 65 Kolata, Influenza (wie Anm. 12), S. 16. 66 Niall P. A. S. Johnson / Jürgen Müller, Updating the Accounts. Global Mortality of the 1918–1920 Spanish Influenza Pandemic, in: Bulletin of the History of Medicine 76 (2002), S. 105–115. 67 Diese Zahl nennt bereits Wolfgang Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1800–1970, in: HDWSG, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 35. 68 Barry, Great Influenza (wie Anm. 10), S. 364. Marc Hieronimus, Krankheit und Tod 1918. Zum Umgang mit der Spanischen Grippe in Frankreich, England und dem Deutschen Reich, Münster 2006, S. 198.

345

346

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 69 Ernst Niekisch, Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, Köln 1958, S. 240. 70 Niall P. A. S. Johnson, The Overshadowed Killer. Influenza in Britain in 1918–19, in: Phillips / Killingray (Hg.), The Spanish Influenza Pandemic (wie Anm. 41), S. 132–155, hier S. 148. 71 Dazu Manfred Vasold, Grippe, Pest und Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in Europa, Stuttgart 2008. 72 Crosby, Epidemic (wie Anm. 36), S. 217. 73 John Keegan, Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie, Reinbek 2000, S. 566. 74 Heinrich Hillmayr, München und die Revolution von 1918/1919. Ein Beitrag zur Strukturanalyse von München am Ende des Ersten Weltkrieges und seiner Funktion bei Entstehung und Ablauf der Revolution, in: Karl Bosl (Hg.), Bayern im Umbruch, München 1968, S. 453–504; Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 224–226. Siehe auch J. P. Harris, in: Jörg Duppler (Hg.), Kriegsende 1918, München 1999, S. 117. 75 Zit. nach Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 4: Das Problem des »Militarismus« in Deutschland, München 1968, S. 417 f. Siehe auch Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5, Stuttgart u. a. 1978, 561 f., 577–580; Michael Geyer, Insurrectionary Warfare: The German Debate about a Levée en Masse in October 1918, in: The Journal of Modern History 73/3 (2001), S. 459–527. 76 Dies trifft nicht für alle deutschen Städte zu. Siehe Matthias Kordes, Die sog. Spanische Grippe von 1918 und das Ende des Ersten Weltkrieges in Recklinghausen, in: Vestische Zeitschrift 101 (2006/07), S. 119–146. 77 Vgl. Hermann Heimpel, Die halbe Violine. Eine Jugend in der Haupt- und Residenzstadt München, Frankfurt a. M. 1974, bes. S. 281–289. 78 Enzyklopädie (wie Anm. 28), S. 985–992. 79 So zuletzt Brigitte Hamann, Hitlers Edeljude. Das Leben des Armenarztes Eduard Bloch, München/Zürich 2008, S.  122. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 75), ordnet die Grippe zeitlich richtig ein, er schreibt, Reichskanzler Prinz Max von Baden sei »seit dem 24.  Oktober an der damals grassierenden Grippe erkrankt und auch während der anschließenden Woche in der Amtsführung aufs schwerste behindert« (S. 577 Anm. 94). Max erlitt in den ersten Novembertagen einen Rückfall. 80 Friedrich-Wilhelm Henning, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Paderborn 2001, Bd. 3/1, S. 131. 81 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, 1914– 1949, München 2008, S. 189, 232. 82 Der dreibändige Weltseuchenatlas, hg. von Ernst Rodenwaldt / Helmut Jusatz, Heidelberg 1953/62, enthält keine Karte zu dieser wohl verlustreichsten aller Pandemien.

Qualmen gegen alle Vernunft Eine sehr kurze Geschichte des Rauchens Rauchen ist eine Sucht, eine gefährliche Sucht, der im 20. Jahrhundert sehr viele Deutsche frönten. Es wird viel geraucht hierzulande. Und obwohl wir Rauchern – und ihrer liebsten Tätigkeit, dem Rauchen – tagtäglich begegnen, haben Historiker nur sehr selten davon Notiz genommen oder davon berichtet, allenfalls in der einen oder anderen Biographie ist davon die Rede, dass die porträtierte Person (z. B. Theodor Heuss) viel geraucht hat. Dabei hat Rauchen sowohl eine große wirtschaftliche, als auch medizinische Bedeutung. Von den »vier Amerikanern«, den in Europa in der frühen Neuzeit bekannt gewordenen Pflanzen Kartoffel, Tabak, Mais und Sonnenblume, gilt die Kartoffel als die bedeutendste.1 Allerdings haben auch die anderen »Amerikaner«, nicht zuletzt die Tabakpflanze, in der Alten Welt einen erstaunlichen Siegeszug angetreten. In Mittel- und Südamerika waren die indigenen Völker seit Langem mit dem Tabakrauchen vertraut. Schon zur Zeit der Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus (1492) erfuhren die Entdecker, dass die Ureinwohner, die Indianer, seit unvordenklichen Zeiten zu rauchen pflegten, und zwar nicht nur die Männer. In Teilen Südamerikas war die Pfeife unbekannt, man rauchte Zigarren, die in Mais- oder Tabakblätter gerollt waren. Tabakrauchen war für

348

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

die Eingeborenen nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil sie unter dem Einfluss des Tabakgenusses wahrsagen wollten. Die Indianer wussten, dass Rauchen eine beruhigende Wirkung zeigt und auch den Hunger dämpft.2 Dies war in Zeiten, als man oftmals nicht genug zu essen hatte, nicht unwichtig. Die Tabakpflanze kam sehr früh aus Südamerika in die britischen Kolonien nach Nordamerika. Das Klima in den am Atlantik gelegenen südlichen Kolonien, aus denen später die Bundesstaaten Virginia und die beiden Carolinas hervorgingen, bekam ihr gut, hier gedieh sie prächtig. In diesen Kolonien an der amerikanischen Ostküste wurde Tabak bald eine wichtige Handelspflanze. Viele wurden reich damit. Für den Anbau von Tabak wie auch für die Baumwolle waren sehr viele Arbeitskräfte notwendig, und dies wiederum begünstigte die Sklaverei. Die Tabakpflanzer in Nordamerika machten später geltend, sie benötigten schwarze Sklaven, ohne sie wäre die Arbeit nicht zu schaffen gewesen. Schon um das Jahr 1700 machten schwarze Sklaven einen bedeutenden Anteil der Arbeitskräfte aus. In Virginia begann man kurz nach Weihnachten mit der Anzucht der Pflanzen. Ende April wurden sie auf die Felder gebracht. Nach der Ernte mussten die Tabakblätter getrocknet und geschnitten werden, schon hier zeigte sich die Qualität der Pflanze. Der Tabakanbau breitete sich westwärts aus, von Virginia in die gebirgigen Regionen von North Carolina und nach Kentucky, wo die Böden allerdings weniger fruchtbar waren: Die Gegend war rau, gebirgig, doch die hier vorherrschenden Böden verliehen der Pflanze einen einzigartigen gelben Schattenton und milden Geschmack, der schon in den Jahren vor Ausbruch des Bürgerkriegs (1861) seine Liebhaber fand. Der Tabak kommt in die Alte Welt Aus der Neuen Welt kam die Tabakpflanze, offenbar schon einige Jahrzehnte vor der Kartoffel, nach Westeuropa. Frankreich lernte sie durch den gelehrten Arzt Jean Nicot kennen; bereits im Jahr 1559 stellte Nicot der französischen Königin Katharina von Medici die Tabakpflanze vor. Nach Nicot ist das Gift benannt, das im Tabak zu finden ist: Nikotin, ein giftiges Alkaloid, das süchtig macht.

Qualmen gegen alle Vernunft

In kleinen Mengen genossen, hat es stimulierende wie auch beruhigende Wirkung. Außerdem enthalten die Tabakblätter Teer. Bald begann sich das Tabakschnupfen in Frankreich auszubreiten, man wollte damit angeblich schlechte Gerüche unterdrücken.3 Bei den frühen Entdeckernationen wie Frankreich und England begannen Einzelne bereits zu Zeiten von Königin Elisabeth  I., Anfang des 17. Jahrhunderts Tabak in langstieligen Pfeifen aus Lehm zu rauchen. In Shakespeares England spielte Tabak bereits eine wichtige Rolle.4 Die Stadt Bristol mit ihrem Hafen, der sich vor allem nach Westen, zum Nordatlantik hin öffnete, war am Handel mit Tabak lebhaft beteiligt. In einigen Teilen Englands rauchten so gut wie alle Pfeife  – Männer, Frauen und Kinder. Selbst in der Lobby des House of Lords wurde geraucht. Auch als Heilmittel versuchte man Tabak gegen vielerlei Beschwerden einzusetzen. Im ausgehenden 18.  Jahrhundert, als sich die dreizehn britischen Kolonien in Nordamerika von König Georg  III. lossagten (1776), wurde in England bereits viel geraucht. Der schottische Nationalökonom Adam Smith erwähnt Tabak als landwirtschaftliche Nutzpflanze noch vor der Kartoffel, geht aber nur auf ihren Anbau in Europa ein, nicht auf den Tabakkonsum.5 Auch in Frankreich breitete sich das Rauchen aus. Mitte des 19. Jahrhunderts hieß es: »Gegenwärtig ist der Gebrauch des Rauchtabaks stark im Steigen, und es trägt das Tabak-Monopol dem Staate große und jährlich wachsende Summen.«6 Nicht überall in Europa wurde der Tabakgenuss wohlwollend aufgenommen. Die Reaktion der römischen Päpste auf den Tabakkonsum ihrer Kirchgänger war eher ablehnend: Zwei Päpste, der gelehrte Urban VIII. und Innozenz IX., erließen in den Jahren 1624 bzw. 1690 Bullen gegen das Tabakschnupfen in der Kirche. In Preußen und in Deutschland, so scheint es, begann der Genuss des Tabaks etwas später. Deutsche Chemiker fingen an, sich mit den Inhaltsstoffen des Tabaks zu beschäftigen. Sie fanden heraus, dass Nikotin hochgiftig ist. Wenn man die Blätter der Tabakpflanze aber raucht, vermindert dies die Giftigkeit und erzeugt zugleich physiologische Wirkungen. So wurde die neue Pflanze zunächst auch für Heilzwecke eingesetzt. Im Jahr 1788 gründete ein Geschäftsmann in Hamburg die erste Zigarrenfabrik in Deutschland.

349

350

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Ein paar Jahre später war das Zigarrenrauchen in Hamburg zur Mode geworden. Die Pfeife wurde allerdings nur langsam von der Zigarre verdrängt. Tabakrauchen ist jedoch eine Gewohnheit, die bei vielen Rauchern zur Sucht ausartet, sie kommen nicht mehr los davon. Das geschieht allerdings seltener vom Tabakkauen oder -schnupfen, häufiger von den Zigaretten, Zigarren oder vom Pfeiferauchen. Manch ein deutscher Held soll sich während des Krieges von 1870/71, Preußen-Deutschland gegen Frankreich, den Inhalt französischer Seegrasmatratzen in seine Pfeife gestopft haben, weil es ihm an richtigem Tabak fehlte und er aufs Rauchen nicht mehr verzichten konnte.7 Auch im Krimkrieg (1853–1856) verfielen viele Soldaten der Sucht. Junge Männer zogen als Nichtraucher aus und kamen als Raucher vom Krieg zurück. Die neue Kunst der Fotografie präsentierte Bilder von Kriegern, die nun mit einer Zigarre oder einer Pfeife im Mund posierten. Diese Heroen verleiteten zur Nachahmung. Ein Porträt eines Mannes mit Bart, die Pfeife im Mund, das war jetzt die Mode – wie es fast hundert Jahre später in Frankreich unter jungen Männern üblich wurde, sich mit frisch angezündeter Zigarette im Mundwinkel in Uniform fotografieren zu lassen. Der Tabakkonsum begann zu steigen. Wie hoch der Anteil der Raucher unter den Männern in Deutschland, sagen wir zu Beginn oder Mitte des 19. Jahrhunderts, war, können wir nicht mehr rekonstruieren. Wer über das Rauchen in dieser frühen Zeit forscht, kann nach Geschichten über einzelne Personen suchen. Am einfachsten finden sich die von Prominenten. Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) ist beispielsweise schon als junger Mann als Zigarrenraucher hervorgetreten. Bismarck huldigte vielen Lastern und war bis ins Alter ein starker Raucher. In vorgerücktem Alter litt Bismarck an starken Schmerzen im Gesicht. Daraufhin erlaubte ihm sein Arzt, Dr. Ernst Schweninger, maximal vier Pfeifen pro Tag, weil er eine Verschlimmerung der Neuralgie befürchtete. Da griff der eiserne Kanzler zu einer List: Er beschaffte sich die größte Pfeife, die er auftreiben konnte; angeblich war ihr Fuß einen Meter lang, »der Kopf aus Porzellan entsprechend riesig, und wenn niemand aufpasste, stopfte er sich diese wohl auch ein fünftes Mal nach«.8 Es gibt eine ähnliche Geschichte von einem Polit-Prominenten unserer Tage: Fidel Castro. Da geht es freilich um Zigarren. Sein

Qualmen gegen alle Vernunft

Arzt soll ihm nur eine Zigarre pro Tag erlaubt haben – ohne jeden Hinweis auf die Größe und Stärke. Entsprechend fiel Castros Reaktion aus. Rauchen – das 19. Jahrhundert In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor der Revolution des Jahres 1848, war Rauchen in Deutschland und anderen europäischen Staaten zumindest in der Öffentlichkeit verpönt oder sogar verboten. Die Revolutionäre verlangten die Abschaffung dieses Gesetzes. Glaubt man den Erinnerungen von Werner von Siemens (1816–1892), dann muss der Wunsch, diesem bescheidenen Vergnügen in der Öffentlichkeit zu huldigen, damals sehr groß gewesen sein.9 Erst nach dem Revolutionsjahr 1848, als die Fürsten so viele Dinge zugestehen mussten, breitete sich das Rauchen in der Öffentlichkeit aus. Dabei verfuhren die Regierungen ziemlich sorglos mit Rauschmitteln, wie das Buch des englischen Schriftstellers Thomas de Quincey, »Bekenntnisse eines Opiumrauchers« (1831), beweist. Der Genuss von Tabak hielt bald auch Einzug in die schöngeistige Literatur. Einige Autoren ließen in ihren Romanen Raucher auftreten, der englische Romancier Charles Dickens (1812–1870) in seinem großen Gesellschaftsroman »The Old Curiosity Shop« z. B. einen Herrn namens Quilp. Dieser Quilp, der sich auch kochendheiße Getränke in den Rachen goss, rauchte zum Frühstück dicke Zigarren, am liebsten geschmuggelte. Dass Dickens dies erwähnenswert fand, hatte wohl auch mit seiner eigenen Rauchlust zu tun. Autoren, die selbst nicht rauchten, flochten das Rauchen viel seltener in ihre Geschichten ein. Als Charles Dickens 1841 die östlichen Teile der USA bereiste, hielt er in seinen Reisenotizen fest, dass dort der Tabak vor allem gekaut wurde. In den Jahrzehnten um 1900 tauchen einzelne berühmte Romanfiguren auf, die als starke Raucher bekannt wurden. In den Kriminalgeschichten des englischen Arztes Arthur Conan Doyle wird viel geraucht, und zwar nicht nur Tabak. In sechzig Fällen, die sein Held, Sherlock Holmes, zu lösen hat, gibt es nur elf Fälle, in denen nicht vom Rauchen die Rede ist. Der berühmte Detektiv rauchte

351

352

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

gern Pfeife, er besaß hundertvierzig Stück und stopfte sie mitunter auch mit Opium. Über Thomas Buddenbrook, den bedeutendsten seiner Protagonisten in dem Roman »Buddenbrooks« (1901) sagt der Autor, Thomas Mann, der selber gern rauchte um seine Nerven zu beruhigen, sein Namensvetter habe gern kleine, scharfe russische Zigaretten geraucht. »Er war weit entfernt, sich den betäubenden Genuß der kleinen, scharfen russischen Zigaretten zu versagen, die er, seit seiner Jugend schon, täglich in Massen rauchte.« Irgendwie musste auch Thomas Buddenbrook seine Nerven beruhigen. Überhaupt war in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts immer wieder von zunehmender Nervosität die Rede.10 Der leidenschaftliche Raucher Thomas Mann litt in späteren Jahren an einem Bronchialkarzinom, es wurde während seiner Emigration in den USA, im Mai 1946 in Chicago operativ entfernt. Rauchen wurde immer beliebter und breitete sich immer mehr aus, bis in die höchsten Kreise. Kaiser Franz Joseph  I. von Österreich, dessen Herrschaft sich über zwei Drittel eines Jahrhunderts erstreckte, von 1848 bis 1916, pflegte nach dem Frühstück mit einem Zigarettenspitz seine »Regalia Media« zu rauchen.11 Obwohl das Rauchen nicht in allen Kreisen gern gesehen, da und dort sogar verThomas Manns großer Roman »Der Zauberberg« spielt in einer Schweizer Lungenheilstätte für Tuberkulosekranke. Der folgende Dialog findet zwischen dem Chefarzt, Hofrat Behrens, und einem rauchenden Besucher, Hans Castorp, statt: Und er [Hofrat Behrens] blieb vor ihnen [Hans Castorp und sein lungenkranker Cousin] stehen, die Zigarre zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner riesigen Rechten. »Wie schmeckt der Krautwickel, Castorp? Lassen Sie mal sehen, ich bin Kenner und Liebhaber. Die Asche ist gut: was ist denn das für eine bräunliche Schönheit?« »Maria Mancini, Postre de Banquete aus Bremen, Herr Hofrat. Kostet wenig oder nichts, neunzehn Pfennig in reinen Farben, hat aber ein Bukett, wie es sonst in dieser Preislage nicht vorkommt. Sumatra-Havanna, Sandblattdecke, wie Sie sehen. Ich habe mich sehr an sie gewöhnt. Es ist eine mittelvolle Mischung und sehr würzig, aber leicht auf der Zunge. Sie hat es gern, wenn man ihr lange die Asche läßt, ich streife nur höchstens zweimal ab. Natürlich hat sie ihre kleinen Launen, aber die Kontrolle bei der Herstellung muß besonders genau sein, denn Maria ist sehr zuverlässig in ihren Eigenschaften und luftet vollkommen gleichmäßig. Darf ich Ihnen eine anbieten?«

Qualmen gegen alle Vernunft

pönt war, waren selbst unter den europäischen Gelehrten um 1900 sehr viele Raucher zu finden. Nicht wenige von ihnen – bedeutende Wissenschaftler wie Paul Ehrlich, Emil von Behring, Sigmund Freud und unzählige andere  – ließen sich gern mit einer dicken Zigarre zwischen den Fingern abbilden. Die Zigarre sollte offenbar Ruhe suggerieren, Gelassenheit, Muße und Bürgerlichkeit, Nachdenklichkeit. Raucher versicherten, sie fänden beim Rauchen Ruhe und Konzentration. Der Rechtsgelehrte Rudolf von Ihering meinte, »bei der Zigarre auf dem Kanapee« habe er die besten Einfälle.12 In Deutschland wurde Tabak lange Zeit vor allem in der Pfeife geraucht. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts war die Produktion von Tabak für Pfeife oder Zigarren vorherrschend, aber es war eine neue Form für den Genuss des Tabaks aufgekommen, die einen beispiellosen Siegeszug antreten sollte: die Zigarette. Jede Art, den Tabak zu genießen, verkörperte einen eigenen Habitus, ein eigenes Lebensgefühl. Mit der Zigarre wollte man den wohlsituierten Herrn herausstreichen, sie diente dazu, Muße zu demonstrieren. Der Zigarettenraucher hingegen war eher der gehetzte, nervöse Typ, der keine Zeit hatte. Die Bedeutung des Tabaks als Konsummittel nahm zu, es wurde immer mehr geraucht, meist in Gestalt von Zigaretten. 1910 stand der Zigarettenkonsum im Deutschen Reich bei 8 Milliarden. Nach dem Weltkrieg und seitdem Frauen das Rauchen gesellschaftsfähig gemacht haben, überwog schließlich die Zigarette.13 1925 stieg der Verbrauch auf 30 und 1942 sogar auf 80 Milliarden.14 Widerstände Auch Kritik am und Warnungen gegen das Rauchen gab es bald, sie erschienen bereits im 18. Jahrhundert. Die Motive dafür waren unterschiedlich, sie waren meist medizinischer, konnten aber auch gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Natur sein. Von Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) ist bekannt, dass er seit früher Jugend eine starke Abneigung gegen das Rauchen hegte. Seinem Freund Carl Ludwig von Knebel gegenüber meinte Goethe einmal, Rauchen sei rücksichtslos gegen seine Mitmenschen und koste viel Geld, außerdem werde man vom Rauchen dumm, denn es lähme das Denken.

353

354

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

»Aber es liegt auch im Rauchen eine arge Unhöflichkeit, eine impertinente Ungeselligkeit. Die Raucher verpesten die Luft weit und breit und ersticken jeden honetten Menschen«, meinte der Weimarer Dichterfürst.15 Eine ähnlich ablehnende Haltung wird von seinem Zeitgenossen Immanuel Kant (1724–1804) und von dem Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860) berichtet. In Nürnberg lebte ein Kaufmann und Erfinder namens Johann Carl Leuchs (1797–1877). Diesem Herrn, der in einem »Zeitalter der Massenarmut« (Wilhelm Abel) als ein Apostel der Sparsamkeit auftrat, erschien jegliche Verschwendung von Gütern als schmerzlich. Es erschien ihm widersinnig, Tabakblätter – wie sie im Nürnberger Umland als Sonderkultur seit Langem angebaut wurden – einfach so zu verbrennen, indem man sie in eine Pfeife stopfte oder zu Zigarren verarbeitete. Schon im ausgehenden 18.  Jahrhundert behauptete ein Londoner Apotheker namens John Hill, er habe im Tabak eine krebserregende Substanz entdeckt und warnte vor dessen Konsum.16 In Frankreich warnte später ein gelehrter Demograph namens Louis Adolphe Bertillon (1821–1883) vor den gesundheitlichen Gefahren des Rauchens. Bertillon unternahm in den 1850er-Jahren Versuche an 160 Studenten des Pariser Polytechnikums und schloss aus seinen Ergebnissen, dass Raucher eher kleiner von Wuchs waren als Nichtraucher und sich als Studenten weniger durch Gelehrsamkeit auszeichneten.17 Ein paar Jahre später, 1868, äußerte ein amerikanischer Forscher, dass Raucher eine niedrigere Lebenserwartung hätten.18 In England begann bereits im Jahr 1858 ein »Anti-Tobacco Journal« zu erscheinen. Und auch die Encyclopedia Britannica wies in ihrer 9. Auflage von 1888 auf »adverse health effects« (negative gesundheitliche Auswirkungen) des Rauchens hin. Viele Tabakgegner waren Wissenschaftler; aber es gab auch einzelne Unternehmer, die sich gegen das Rauchen aussprachen. In Großbritannien galt der Reiseunternehmer Thomas Cook sehr früh als ein Feind des Rauchens. Widerstand gegen das Rauchen gab es auch in Russland: Der Dramatiker Anton Tschechow (1860–1904), der in Moskau Medizin studiert und eine Zeitlang als Arzt praktiziert hatte  – er selbst litt an Lungentuberkulose –, schrieb einen Einakter »Über die Schäd-

Qualmen gegen alle Vernunft

355

lichkeit des Tabaks«. Darin spricht ein Darsteller von »dem Schaden […], den der Konsum des Tabaks der Menschheit zufügt«. In Deutschland übte die Jugendbewegung in den Jahren vor 1914 heftige Kritik am Rauchen. Sie hielt es für ein unnötiges Laster, das außerdem Geld kostete, Geld, das man besser anderweitig ausgeben sollte, zum Beispiel für Bildung. Die Jugendbewegung, die sich gegen so viele Trends ihrer Zeit stellte – nicht zuletzt gegen die Urbanisierung, die Industrialisierung und vieles, was damit verbunden war –, geißelte auch das Rauchen. Einer aus ihren Reihen ließ einen fiktiven Reisenden aus Afrika ein Brieftagebuch schreiben, in dem er  – ähnlich wie es Montesquieu im 18.  Jahrhundert in den »Persischen Briefen« gemacht hatte – Kritik anklingen ließ, mehr noch, über den Afrikaner äußerte er Unverständnis für diese Gewohnheiten und offenbarte damit die Absurdität des Rauchens. Trotzdem nahm die Zahl der Raucher im Deutschen Reich vor allem unter jungen Männern zu, begünstigt nicht zuletzt durch die Anspannungen, die der Weltkrieg mit sich brachte.

In einem fiktiven Brief berichtet ein Afrikaner unter dem 15. Juli 1913 seinen afrikanischen Landsleuten über die seltsamen Rauchgewohnheiten der Deutschen: »Sie rollen die trockenen Stinkblätter zusammen und tragen von diesen Rollen stets einen Vorrat in ihrem Kleide mit sich. Sie tragen aber auch kleine Holzstücke zum Feuerreiben in einer Tasche des Kleidergewebes. […] Wahrscheinlich lacht ihr und wollt nicht glauben, daß ein Mensch aus seinem Munde Rauch bläst. Ich habe mich aber an diesen Anblick schon so gewöhnt, daß ich nicht mehr darüber lache. Die Rauchrollen glühen nur; sie brennen nicht. Die Asche aber wird in kleine Gefäße getan, die in den Häusern überall aufgestellt sind, wo Rauchstinker wohnen. Nicht alle Wasungu [d. h. die Weißen, Deutschen] stinken Rauch. Man unterscheidet Stinker und Nichtstinker und unter den Stinkern wieder starke Stinker und solche, die nur manchmal Rauch machen. Die Unterscheidung ist sehr wichtig, weil sie den Wasungu Gelegenheit gibt, darüber zu sprechen, ein Gespräch mit einem Unbekannten zu beginnen und zu zählen, wieviele Rauchrollen jeder einzelne täglich verbrennt. Sie sprechen dann auch von der Größe und Farbe der Rauchrollen, wo die Blätter gewachsen sind und wieviel Geld die Rollen kosten. Oft höre ich ein solches Gespräch: Einer fragt: ›Willst Du eine Rauchrolle?‹ Der andere sagt: ›Nein, ich mache nicht Rauch.‹ Dann sagt der erste seinen Namen und wippt dabei mit dem Oberkörper nach vorn. Dann erklärt der Rauchstinker, es sei eine

356

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Gewohnheit, die er nicht lassen könne; alles andere könne er entbehren, nur Rauch müsse er stinken, er stinke schon soundsoviel Jahre, jetzt habe es ihm der Medizinmann verboten, er mache es deshalb heimlich, er habe ein krankes Herz und versteinerte Blutadern und oft Schwindel im Kopf; es gäbe Rauchrollen, die weniger schädlich sein sollen, aber die schmeckten nicht so gut. […] Nur wenige Frauen stinken Rauch. Es ist Sitte, wenn eine Frau dabei ist, sie zu fragen, ob sie es erlaubt, daß gestunken wird, und ihr erst dann Rauch ins Gesicht zu blasen.«

Rauchen und Trinken zu verbieten scheint in den USA am ehesten ein unter Puritanern verbreiteter Trend gewesen zu sein. Es waren in erster Linie neue Bundesstaaten weit im Westen, die sich für derlei Reformen stark machten. Der US-Bundesstaat Washington im äußersten Nordwesten des Landes untersagte 1893 den Verkauf von Zigaretten. Viele amerikanische Gesellschaftsreformer hielten um 1900 das Zigarettenrauchen für nicht weniger schädlich als andere Laster, wie den Alkoholgenuss, zumal sehr oft die gleichen Personenkreise dem einen wie dem anderen Laster verfallen waren. Puritanische Neigungen waren stark, einige Bundesstaaten verboten schon lange vor 1919 den Alkoholkonsum (»Prohibition«). Der Industrielle Henry Ford schloss sich dem Kampf gegen das Rauchen an, er schrieb in einer Broschüre, er werde künftig keinen Raucher mehr einstellen.19 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fand man ein neues Argument, diesmal weniger gegen den Tabakkonsum als vielmehr gegen die Tabakkonzerne in den USA – genauer: die Struktur der Tabakkonzerne. Im Rahmen der großen juristischen Kampagne gegen Kartelle jeder Art  – eine Politik, die sich in der amerikanischen Geschichtsschreibung vor allem mit dem »Progressive Movement« (1890–1917) verbindet  – verklagte das US-Justizministerium den Tabakhersteller »Duke« aufgrund des Sherman Antitrust Act von 1890 ob seiner monopolartigen Stellung. Im Mai 1911 entschied der Oberste Bundesgerichtshof der USA, diesen Firmenkomplex aufzulösen.20 Die verschiedensten Argumente richteten sich nun gegen das Rauchen. Mit der Ausbreitung der Zigarette nahm die Kritik zu, weil deren Rauch jetzt überall zu riechen war, selbst in Restaurants. Nach

Qualmen gegen alle Vernunft

357

dem Eintritt Amerikas in den Weltkrieg 1917 ging die Entwicklung wieder in die andere Richtung. Nun bildeten sich Freiwillige Vereinigungen, die ›Liebesgaben‹ für die Soldaten an der Front in Europa sammelten, und da wurden vor allem Zigaretten gesandt. Rauchen sollte ihnen helfen, den kummervollen Alltag an der Front leichter zu ertragen. In diesen Jahren entwickelte sich die Marke »Camel« zur ersten wirklich nationalen amerikanischen Zigarette.21 »Ich kann nicht umhin, mit einigen Worten jene neue, erstaunliche und vor wenigen Jahren aus Amerika nach unserem Europa eingeführte Mode zu tadeln, welche man eine Sauferei des Nebels nennen kann […] Wüste Menschen pflegen nämlich den Rauch von einer Pflanze, die sie Nicotinia oder Tabak nennen, mit unglaublicher Begierde und unauslöschlichem Eifer zu trinken.«22

Rauchen im Tabakland USA Lange Zeit wurde Tabak in den USA – wenn er nicht gekaut wurde – vor allem in der Pfeife oder als Zigarre geraucht. Erst kurz vor 1890 setzte das Zigarettenrauchen ein; aber schon wenige Jahre nach 1918 wurde die Hälfte des konsumierten Tabaks in Gestalt von Zigaretten verbraucht.23 Die Industrialisierung brachte manchen technischen Fortschritt hervor, auch mit Blick auf die Tabakverarbeitung. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde eine neuartige Maschine entwickelt, die Zigaretten rollen konnte (1881). Diese Maschine war unglaublich groß, ein Ungetüm, das drei Arbeiter auf Trab hielt, dafür aber 200 Zigaretten pro Minute ausstieß  – ein geübter Arbeiter benötigte dafür mehr als eine Stunde. Diese Maschine erlaubte die billige Massenproduktion der Zigarette. Zigaretten wurden zum Massenphänomen, sie wurden zum Fluch des 20. Jahrhunderts. Neue Arten von Werbung kamen auf, sie beeinflussten auch den Tabakkonsum. Im Jahr 1889 gab die amerikanische Firma Duke’s American Tobacco bereits die stattliche Summe von 800 000 Dollar für Werbung aus, Werbung für das Rauchen. Der Verkauf ihrer Produkte brachte dieser Firma 4 bis 4,5 Millionen Dollar pro Jahr ein. Die Tabakverarbeitung wurde eine wichtige Industrie. Duke begann in den 1880ern andere Konkurrenten aufzukaufen. Im Januar 1890 bildete sich ein Konsortium, die American Tobacco Company,

358

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

ein Zusammenschluss aus vier großen Tabakfirmen. Duke stand bald an der Spitze dieses Konsortiums, das einen Zigarettenmarktanteil von 90 Prozent erreichte. Die Zigarettenpreise sanken dank der maschinellen Herstellung. Nun begann Duke Subunternehmer zu engagieren und nutzte als Aufkäufer seine Monopolstellung – als Monopsonist – aus.24 Der Anteil der maschinell gefertigten Zigaretten nahm im 20. Jahrhundert immer mehr zu: 1904 machten Zigaretten nur etwa fünf Prozent des Tabakkonsums in den USA aus, 1925 lag ihr Anteil bei einem Viertel, zehn Jahre später bereits bei 35 Prozent. Der durchschnittliche Zigarettenkonsum in den USA verdoppelte sich zwischen 1931 und 1940. Die gesellschaftliche Bedeutung des Rauchens wuchs stetig, Rauchen wurde immer beliebter. Im Verlauf des 20.  Jahrhunderts machte es etwa vier Fünftel des Tabakmarktes aus. In den USA stieg der Zigarettenkonsum pro Kopf der Bevölkerung auf 3500 Stück im Jahr 1953 an.25 Die Weltkriege halfen, das Rauchen weiter zu verbreiten. Die Industrie hatte nichts dagegen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der amerikanischen Zigarettenindustrie bewusst, dass Frauen gut die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung ausmachten – ein noch einmal so großes Potential an Kunden. Wenn Frauen zu Kunden werden sollten, musste die Tabakindustrie ihre Werbung entsprechend umgestalten. Die Hersteller von »Lucky Strike« gaben innerhalb von zehn Jahren mehr als 100 Millionen Dollar für Werbung aus und die machte eines der Probleme der Vereinigten Staaten zu einem wichtigen Argument zugunsten des Rauchens: die Zunahme des Körperumfangs und des Gewichts in ihrer Bevölkerung. Hier setzte sie an: Wer schlank bleiben will, der greife besser zu einer »Lucky Strike« als nach etwas Süßem, hieß es. Im Jahr 1928 gab der Tabakhersteller »Lucky Strike« sieben Millionen Dollar für Werbung aus, nur bei General Motors war dieser Posten noch größer. Drei Jahre später, 1931, stand der Tabakhersteller diesbezüglich an erster Stelle.26 Eine Zeitlang kämpften einige Bundesstaaten gegen diese Entwicklung an, sie untersagten die Werbung für oder den Verkauf von Zigaretten. Aber die amerikanischen Vertriebsleute waren findig, und die Tabakkonzerne hatten gewiefte Werbefachleute. Sie zielten

Qualmen gegen alle Vernunft

nun auf den Patriotismus; das war jederzeit ein überzeugendes Argument, und sogar eines, gegen das die Regierenden machtlos waren. Nach dem Überfall der Japaner auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor im Dezember 1941 appellierte »Camel« an den Patriotismus seiner Landsleute. Jetzt kam der »Camel-Mann« zu Ehren. Er trat stets in einer militärischen Uniform auf. Es wurde suggeriert, wer seinem Land dient, raucht Camel! Und die Amerikaner sind Patrioten. Wer Amerika liebte, rauchte tatsächlich Camel, so wie die Zigarettenindustrie es wollte. In den Jahren vor 1970 rauchte in den Vereinigten Staaten von Amerika schließlich fast jeder zweite Erwachsene. Die Demokratisierung des Rauchens In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm das Rauchen auch in Europa stark zu. Sicherlich haben die politischen und wirtschaftlichen Krisen  – namentlich die beiden Weltkriege  – die Sucht gefördert. Die Menschen dieses Zeitalters galten als »nervös«, als nervös und erschöpft. Was konnte man dagegen tun? Die Zigarettenindustrie gab vor, darauf eine Antwort zu haben, und bot ihre Produkte wohlfeil an. Wo es den Wunsch nach Tabakgenuss nicht gab, wurde er von der Tabakindustrie mit Hilfe der Werbung entfacht. Und der Staat schaute zu. Wer sich mit Tabakrauchen selbst – und durch Passivrauchen auch andere  – schädigen wollte, dem stand es frei, dies zu tun. Der Erste Weltkrieg demokratisierte das Zigarettenrauchen mehr als jedes andere Ereignis. Die Rauchergemeinde bestand aus Pfeifen-, Zigarren und anderen Rauchern.27 Die Soldaten erhielten eine Grundration an Tabakwaren, das war ein Teil ihres Solds. Englische Soldaten bekamen gut 50 Gramm Tabak pro Woche, die deutschen Feldgrauen zwei Zigaretten oder Zigarren am Tag. Bei den Briten war die Zuteilung in der Marine doppelt so hoch wie im Heer. Auch in den Päckchen aus der Heimat mit den sogenannten Liebesgaben befanden sich viele Rauchwaren. Was sollte man einem Soldaten schenken, den man nicht persönlich kannte? Allgemein hieß es: Tabak beruhigt die Nerven, und das konnten die Soldaten brauchen. Tabakgenuss dämpft zudem den Hunger, und an der Front dämpfte der Tabak-

359

360

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

qualm außerdem die Verwesungsgerüche.28 In den Unterkünften der Soldaten wurde viel geraucht, geraucht und Karten gespielt. Wenn die Soldaten einmal keine Tabakwaren mehr hatten, griffen sie zu Ersatzstoffen: In der k. u. k. Armee Österreichs wurde während des Ersten Weltkriegs auch »eine Kriegsmischung [geraucht], die aus 20 Prozent Tabak, 40 Prozent Buchenlaub und 40 Prozent Hopfen zusammengesetzt war«.29 Zwischen den Weltkriegen In Großbritannien rauchten in der Zwischenkriegszeit die Reichen Havannazigarren  – Zigarren waren hoch besteuert und daher teuer –, die Armen rauchten Pfeifen, die eleganten Bonvivants zeigten sich am liebsten mit einer brennenden Zigarette. Viele junge Männer hatten sich das Zigarettenrauchen im Schützengraben angewöhnt und konnten jetzt nicht mehr davon lassen. Vor dem Weltkrieg hatten englische Raucher vor allem Tabak konsumiert, der aus den englischen Kolonien oder vormals von England abhängigen Gebieten stammte, also aus Ländern wie Ägypten oder dem Nahen Osten. Nach dem Weltkrieg kam der englische Zigarettentabak meist aus Virginia, also aus den USA. Die Politik der englischen Regierung bezüglich des Rauchens wurde immer liberaler, es wurde jetzt auch in Kinos erlaubt und auf dem Oberdeck der öffentlichen Busse. Der liberale britische Premierminister David Lloyd George hatte schon während des Weltkriegs in seinen Kabinettmeetings das Rauchen gestattet, es blieb dann weiterhin erlaubt.30 In den 1930er-Jahren unternahmen englische Demoskopen in Großbritannien eine Umfrage über die Rauchgewohnheiten ihrer Landsleute. Raucher wurden befragt, wie viele Zigaretten sie pro Tag rauchten, wann sie damit angefangen hatten, wie viel Geld sie monatlich dafür ausgaben, wie sie ihre Zigarette oder Pfeife ansteckten – mit dem Feuerzeug oder mit Streichhölzern –, ob sie die Zigarette vor dem Anzünden mit dem Mundende aufstoßen und vieles mehr. Es erwies sich bei dieser Gelegenheit auch, dass Raucher häufiger als Nicht-Raucher Gaststätten und andere gesellige Örtlichkeiten aufsuchten.31

Qualmen gegen alle Vernunft

In den Zwischenkriegsjahren gingen in Großbritannien vermehrt Frauen arbeiten, folglich hatten sie jetzt mehr Geld, über das sie frei verfügen konnten. Infolgedessen wuchs der Anteil der rauchenden Frauen in Großbritannien. Viele berufstätige Frauen rauchten jetzt an ihrem Arbeitsplatz. Auf dem europäischen Kontinent, auch im Deutschen Reich, nahm das Rauchen in der Zwischenkriegszeit dramatisch zu, vor allem in den unteren sozialen Schichten. Wenigstens zum Teil war dies ein Erbe des Weltkriegs. Tabak zählte in den 1920er-Jahren zu den wichtigen Handelsgewächsen, die in größerem Umfange angebaut wurden; der Anbau von Tabak machte in Deutschland 9600 Hektar aus.32 1926 wurden im Deutschen Reich 144 000 Doppelzentner Tabak geerntet. Die Erzeugung von Tabakwaren betrug 1925 knapp 29,5 Milliarden Zigaretten und 5,68 Milliarden Zigarren. Die Erzeugung stieg dann bis 1928 auf 32,56 Milliarden Zigaretten und 7 Milliarden Zigarren an. Im Gegensatz zum Bierverbrauch hatte der Konsum von Tabakerzeugnissen seit der Vorkriegszeit zugenommen: 1913 konsumierten die Deutschen, je Kopf der Bevölkerung, die älter waren als 15 Jahre, 2,31 kg Tabak, 1927 waren es 2,65 kg. Der Zigarettenverbrauch war im Deutschen Reich in den späten 1920er-Jahren um rund 150 Prozent höher als vor dem Weltkrieg.33 Ein beträchtlicher Anteil der Deutschen rauchte Zigaretten. Dabei war eigentlich klar, dass das Inhalieren von teer- und nikotinhaltigem Tabakrauch die Blutgefäße und auch die Lunge schädigte. Trotzdem war seit der Vorkriegszeit der Tabakkonsum so eklatant angestiegen. Viele waren davon überzeugt, dass Zigaretten gut zu dem lockeren Lebensstil der »Goldenen Zwanziger Jahre« passten. Jeweiliger Verbrauch, bezogen auf die Bevölkerung (pro Kopf) der über 15jährigen 1911

1927

Bier (Liter)

162

113

Branntwein (getrunken) (Liter)

4,2

1,7

Tabak (Kilogramm)

2,31*

2,65

*1913

34

361

362

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Die Tabaksteuern brachten dem deutschen Staat beträchtliche Einnahmen. Die Steuer- und Zolleinnahmen für Tabak beliefen sich 1913 auf 186 Millionen Reichsmark, das entspricht 2,75 Mark je Kopf der Bevölkerung, 1928 auf 15,02 Reichsmark je Kopf. Obwohl die Tabaksteuer massiv erhöht wurde, nahm der Zigarettenverbrauch pro Kopf der Bevölkerung von 190 im Jahr 1913 auf 500 (1927) zu.35 Die Arbeitszeiten waren nach dem Ende des Weltkrieges etwas gesunken, Deutschland hatte während der Revolution (1918/19) den Acht-Stunden-Tag eingeführt, folglich hatte die Bevölkerung mehr Freizeit. Deutsche hatten noch sehr viel mehr Freizeit, wenn sie arbeitslos waren, und in den späten 1920er-Jahren gab es immer wieder Zeiten mit sehr hoher Arbeitslosigkeit. Nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 waren zeitweise ein Drittel der Arbeitsfähigen ohne Beschäftigung. In den folgenden Jahren verfügten die Deutschen über wenig Kaufkraft, nun gingen die Handelsumsätze bei Lebensmitteln um rund 30 Prozent zurück, bei Bier sogar um 45 Prozent, aber bei Tabak nur um 15 Prozent.36 Im folgenden Jahrzehnt wurde Deutschland der weltgrößte Tabakimporteuer, vier von fünf erwachsenen Männern rauchten, im Schnitt 12,5 Zigaretten pro Tag. Suchtprobleme gibt es vermutlich in allen Gesellschaften, so auch in der deutschen. Was den Alkohol anbetrifft, griff der Staat hilfreich ein. Die junge Republik von Weimar zeigte sich bereit, Suchtprobleme anzupacken: In deutschen Städten wurden in der Zwischenkriegszeit Fürsorgestellen für Alkoholiker eingerichtet; doch für Raucher gab es nichts Ähnliches, im Gegenteil, aus historischer Perspektive sieht es so aus, als ob man dem Rauchen tatenlos zusah. Dabei gab es damals immer wieder Streitfälle, die vor Arbeitsgerichte kamen. Mitunter ging es darum, ob ein Arbeiter bei einer diffizilen Arbeit an einer Maschine nebenher rauchen durfte. Rauchen und Gesundheit – das Bronchialkarzinom Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Deutschland immer mehr geraucht, und zwar immer mehr Zigaretten. Der Konsum stieg an, fast unaufhaltsam: Der durchschnittliche Zigarettenkonsum verdoppelte sich in den wenigen Jahren zwischen 1931 und 1940 von 452 auf 914 Stück pro Person und Jahr.37 Rauchen war unter Männern

Qualmen gegen alle Vernunft

beliebt, nur wenig Widerstand kam aus der Medizin, am ehesten noch aus der Forschung. Zwei deutsche Mediziner, Carly Seyfahrt und Ernst Schönherr, vermuteten schon früh einen kausalen Zusammenhang zwischen Zigarrenkonsum und dem Bronchialkarzinom. Seyfahrt hatte bereits 1924 darauf hingewiesen, dass ein erstaunlich hoher Anteil von Tabakarbeitern und Wirten in Leipzig an Lungenkrebs erkrankte, und die Vermutung geäußert, dies könne vom Tabakrauch verursacht worden sein. Ernst Schönherr, ein Arzt aus Chemnitz, veröffentlichte 1928 einen wissenschaftlichen Aufsatz, in dem er die Ursache des Anstiegs dieser meist tödlichen Erkrankung zur Sprache brachte.38 Das Bronchialkarzinom trat nun häufiger auf, vor allem bei Männern. Was war der Grund dafür? Zunächst, in den frühen 1920erJahren, hatte man es nicht mit dem Rauchen in Verbindung gebracht, sondern eher mit dem Auftreten der Spanischen Grippe (1918/19) oder mit den Abgasen aus dem zunehmenden Autoverkehr. Der Lärm und die Abgase der Autos wurden anfangs von vielen als störend empfunden.39 Nun waren seinerzeit aber sehr viel mehr Männer als Frauen von diesem Karzinom betroffen. Aber beide Geschlechter waren doch gleichermaßen dem Grippevirus und den Abgasen des Straßenverkehrs ausgesetzt? Erst einige Jahre später kam die Medizin dahinter, dass etwa 80 bis 90 Prozent der Bronchialkarzinome auf das Rauchen zurückzuführen waren.40 Im selben Jahr, in dem die Weltwirtschaftskrise ausbrach, 1929, veröffentlichte die »Zeitschrift für Krebsforschung« in ihrem dreißigsten Band einen Beitrag mit dem Titel »Tabak und Tabakrauch als aetiologischer Faktor des Karzinoms«.41 Vereinzelten Widerstand gegen das Rauchen gab es in vielen Ländern. Dabei ist es nicht einfach, diesen Widerstand einer politischen Richtung zuzuordnen. Es gab ihn von allen Seiten – vielleicht aber doch mehr auf der politischen Rechten, der dieser moderne Lebensstil nicht behagte. Viele Deutsche meinten, Rauchen sei – wirtschaftlich betrachtet – ein Luxus, vollkommen unsinnig, die reinste Verschwendung. Sie betrachteten den Anstieg des Tabakkonsums mit Sorge. In der Zwischenkriegszeit begann der Aufstieg einer politischen Bewegung, die vor 1914 eine Randexistenz geführt hatte, der Natio-

363

364

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

nalsozialismus. Er war anfangs eher eine Bewegung der Jungen als der Alten – wie stand er zum Rauchen? Das lässt sich so leicht nicht sagen, es gab in seinen Reihen viele Raucher und etliche Nichtraucher; vom »Führer« dieser Bewegung, Adolf Hitler, hieß es immer wieder, meist lobend, er sei ein überzeugter Nichtraucher. Einige Mitglieder dieser Bewegung meinten, Rauchen passe nicht zum deutschen Lebensstil, schon gar nicht sollte die Jugend rauchen, sie sollte ihren Körper ertüchtigen, um ihn in den Dienst der deutschen Volksgemeinschaft zu stellen. Hitler wollte eine gesunde, leistungsstarke Jugend. Der deutsche Junge, verlangte er, solle »hart wie Kruppstahl« sein, »flink wie ein Windhund«. Rauchen galt ihm als Ausdruck eines amerikanischen, undeutschen Lebensstils, mit dem man nichts zu schaffen haben wollte. Eine deutsche Frau raucht nicht, hieß es, Rauchen passe ebenso wenig nach Deutschland wie Swing oder Jazz. Für die Anhänger dieser Bewegung stand nicht die Gesundheit des Einzelnen im Vordergrund sondern die des Volksganzen. Sie fürchteten zwar, der Tabakgenuss könnte den Körper des Einzelnen schädigen und seine Leistungsfähigkeit drosseln; aber die individuelle Gesundheit war in ihrem Verständnis nicht Privatsache, der Körper gehörte nicht dem Individuum, sondern der Volksgemeinschaft, dem Staat. Sie betrachteten Gesundheit gleichsam als ein Volksgut, ein gesellschaftliches Gut, und der Einzelne war dazu verpflichtet, dieses Gut zu bewahren. »Jeder Deutsche hat die Pflicht, so zu leben, daß er gesund und arbeitsfähig bleibt«, hieß es in einem vom Reichsarzt der Hitlerjugend herausgegebenen Gesundheitsbuch. Der Einzelne hatte kein Recht auf Gesundheit, wohl aber die Pflicht, seine Gesundheit zu pflegen und bereit zu sein, seine Gesundheit und sein Leben für das Volkswohl einzusetzen  – und in letzter Konsequenz zu opfern. Der Nationalsozialismus legte größten Wert auf Gesundheit, weil nur der Gesunde voll leistungsfähig war, und der Staat nicht auf diese Leistung verzichten wollte. »Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Auffassung steht die Pflicht gesund zu sein«, schrieb ein prominenter Vertreter ihrer Medizin, Karl Kötschau. »Der Staat kann auf keinen einzigen Mitarbeiter verzichten. Also muß jeder Staatsbürger gesund sein, um seinen Pflichten gegen den Staat nach-

Qualmen gegen alle Vernunft

kommen zu können. Kranksein ist demnach Pflichtversäumnis.«42 Kötschau schrieb ein kleines Buch, dem er den Titel gab »Kämpferische Vorsorge statt Fürsorge« (Nürnberg 1939). Der Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, der selbst gern rauchte und trank, äußerte im September 1937 die Hoffnung, es werde gelingen, »den Bruch der Leistungsfähigkeit« von 40 auf 70 Jahre anzuheben.43 Dies würde den Deutschen helfen, den Kampf gegen fremde Völker zu bestehen. Und die deutschen Nationalsozialisten sahen sich ständig im Wettstreit mit anderen Nationen, daher förderten sie dieses radikale Leistungsdenken. Dann war da natürlich auch der wirtschaftliche Faktor. Der Grundstoff des Rauchens, der Tabak, musste zum Großteil vom Deutschen Reich eingeführt werden. Das kostete Devisen, die man für andere Zwecke verwenden wollte. Außerdem fürchteten nicht wenige Nationalsozialisten, Rauchen könne die »Gebärfreudigkeit« der deutschen Frau senken, was – wie wir heute wissen – kein abwegiger Gedanke war. Und die Geburtenziffern der 1930er-Jahre lagen bereits deutlich unter denen der Vorkriegszeit, sie hatten sich seither halbiert, nämlich von einer Geburtenrate von über 30 Promille in einigen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf 14,7 Promille (1933).44 Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 setzten in Deutschland viele Mediziner ihre Forschungen über den Zusammenhang von Rauchen und Krebs fort. In den späten 1930er-Jahren erschienen in deutschen medizinischen Fachzeitschriften etliche Beiträge, die von ihren Experimenten und den statistischen Auswertungen berichteten und die schweren gesundheitlichen Folgen des Rauchens darlegten. Einer davon war ein Aufsatz von Franz Hermann Müller mit dem Titel »Tabakmissbrauch und Lungenkarzinom«.45 Dieser Franz Müller aus Köln hatte eine kontrollierte Studie durchgeführt, in der er die Lebensgewohnheiten von 86 männlichen Lungenkarzinompatienten verglich mit denen von 86 Gesunden. In der zweiten Gruppe waren sehr viel weniger Raucher als in der ersten.46 Bemerkenswerterweise findet sich bei Müller keine Nazirhetorik oder andere Anzeichen der Naziideologie, ja Müller weist in seinen Schriften sogar auch auf jüdische Autoren hin, die vor ihm zum selben Thema geforscht hatten.47 Er kam zu dem Schluss: »Der riesenhafte Anstieg

365

366

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

des Tabakverbrauches in den letzten Jahrzehnten ist an erster Stelle für die Zunahme des primären Lungenkarzinoms verantwortlich zu machen.«48 Müller beanstandete, dass so viele deutsche Ärzte bei Erhebung der Anamnese nicht nach dem Tabakkonsum des Patienten und dessen Umgebung fragten. Infolgedessen würde zu wenig beachtet, dass Gastwirte, Kellnerinnen49, Zigarrenarbeiter und andere möglicherweise durch das Passivrauchen erheblich gefährdet waren. Ein anderer deutscher Arzt, Fritz Lickint, veröffentlichte in diesen Jahren eine Reihe von Studien über Lungenkarzinome, wobei er sich auf Autopsie- und Tierexperimentberichte stützte. Er hatte keinen Zweifel, dass Tabakrauchen eine wichtige Ursache von Lungenkrebs war.50 Lickint war es auch, der – als Erster – den Begriff »Passivrauchen« verwendete und einen Unterschied machte zwischen der Eigenschädigung und der Schädigung einer anderen Person durch Tabakrauch. In seinem Buch »Tabak und Organismus« (1939) wies er darauf hin, dass der Raucher seinen eigenen Tabakrauch später noch einmal unbeabsichtigt einatmet. »Im engeren Sinne aber bezeichne ich als Passivraucher alle die Nichtraucher (Männer, Frauen und Kinder), die unbeabsichtigt, oft sogar erzwungenermaßen, den Rauch anderer einatmen müssen. In dieser Hinsicht zeigt sich im Tabakgenuß ein Nachteil, den wir beim Alkoholgenuß nicht kennen. Während der Trinker den Alkohol nur in seine eigene Kehle gießt und damit (wenigstens direkt) nur sich allein schadet bzw. schaden kann, zwingt der Raucher auch seine Umgebung zum passiven Mitgenuß. Aus diesem Grunde ist es heute auch durchaus möglich, daß mancher sog. Nichtraucher, der sich täglich mehrere Stunden in verrauchten Räumen (Gastwirtschaften, Büroräumen usw.) aufhalten muß, deutliche Zeichen von Tabaksschädigungen zeigen kann, die man selbst evtl. bei einem Gewohnheitsraucher vermisst.«51 In den 1930er-Jahren wurde in Deutschland weiterhin viel über den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs geforscht. Einzelne amtliche Stellen versuchten das Rauchen einzudämmen, einzelne Forscher, namentlich Mediziner, lieferten »die bis dahin weltweit schlüssigsten epidemiologischen Beweise dafür, daß Rauchen eine Hauptursache für Lungenkrebs war«.52

Qualmen gegen alle Vernunft

Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) war in erster Linie eine Partei von Männern, und unter Männern war das Rauchen stets weiter verbreitet als unter Frauen. Trotzdem beteiligten sich einige nationalsozialistische Funktionäre am Kampf gegen das Rauchen. Leonardo Conti (1900–1945), seit 1939 Reichsgesundheitsführer und Reichsärzteführer der NSDAP, richtete im Jahr des Kriegsausbruchs 1939 ein Büro gegen die Gefahren von Alkohol und Tabak ein. Conti bezeichnete Rauchen als ein tödliches »pharmakologisches Massenexperiment«, das »größte der Weltgeschichte«.53 Der Rassenhygieniker und SS-Standartenführer Karl Astel erhob das Nichtrauchen zu einer »nationalsozialistischen Pflicht«, er bezeichnete Zigaretten als »Sargnägel«.54 Von Astel hieß es, er habe rauchenden Studenten die Zigarette aus dem Mund geschlagen. An der Universität Jena wurde unter seiner Führung ein Institut für den Kampf gegen die Gefahren des Rauchens gegründet. Aus diesem Institut ging während des Zweiten Weltkriegs eine Studie hervor, die unter dem Titel »Lungenkrebs und Tabakverbrauch« veröffentlicht wurde.55 Radikale Hygienevertreter in Deutschland hatten Tabak seit Langem als potentielle Gen-Gifte betrachtet. Der Präsident des Reichsgesundheitsamtes Hans Reiter (1881–1969) warnte in seiner Ansprache anlässlich der Eröffnung des 1. Wissenschaftlichen Instituts zur Erforschung der Tabakgefahren an der Friedrich-Schiller-Universität Jena am 5. April 1941 vor dem Tabakgenuss.56 Verboten wurde das Rauchen vor und im Verlauf des Zweiten Weltkriegs nicht, und die Zigarettenindustrie besaß weiterhin große Privilegien. »In den zwölf Jahren der NS-Herrschaft produzierte das Reemtsma-Imperium rund 400 Milliarden Zigaretten.«57 Die Regierung Hitler erlaubte der Zigarettenindustrie sogar eine neuartige Form von Werbung, die vor allem junge Menschen an den Tabakgenuss heranführen sollte: Deutsche Zigarettenhersteller ließen jugendgerechte kunstgeschichtliche Alben entwerfen, um junge Menschen früh mit ihren Produkten bekannt zu machen. Ein solches Album mit dem Titel »Die Malerei der Gotik und Frührenaissance« erschien 1937 in einer Auflage von 700 000 Exemplaren, das Album für 50 Pfennig. Während des Zweiten Weltkriegs stieg auch die Zahl der Raucherinnen im Deutschen Reich gewaltig. Rauchen hatte in Deutsch-

367

368

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

land nicht mehr das geringe soziale Ansehen.58 Es wurde immer mehr geraucht – sieht man von den Jahren nach 1943 ab, als Tabak knapp wurde.59 Nach einer Einschätzung der amerikanischen Ärztezeitschrift JAMA soll der Zigarettenkonsum im Deutschen Reich pro Kopf damals um etwa zehn Prozent zugenommen haben. Hitlers Abneigung gegen das Rauchen war den meisten Deutschen damals wohl bekannt. In seiner Silvesteransprache des Jahres 1938 – nicht einmal zwei Monate nach dem Novemberpogrom, in dem viele jüdische Mitbürger getötet worden waren oder sich aus Verzweiflung das Leben genommen hatten  – rühmte der Münchner Kardinal Faulhaber Hitler als Nichtraucher: »Das ist ein Vorzug unserer Zeit: Auf der Höhe des Reiches haben wir das Vorbild einer einfachen und nüchternen, alkohol- und nikotinfreien Lebensführung.«60 Hitler bezeichnete Tabak als »eins der gefährlichsten Gifte der Menschheit«.61 Er behauptete am 11.  März 1942 in den Tischgesprächen, er habe in seiner Jugend in Wien täglich 25 bis 40 Zigaretten geraucht. Später war er ein Gegner des Rauchens, er soll mehrmals Menschen aus seiner engsten Umgebung eine goldene Uhr versprochen haben, wenn sie mit dem Rauchen aufhörten.62 Der Kriegsbeginn im September 1939 begünstigte den Tabakkonsum, denn nun herrschte eine nervöse Anspannung, die viele durch Tabakgenuss zu lindern suchten. Zugleich lautete die Devise während des Krieges: Sparen, denn Deutschland fehlte es an Rohstoffen und Devisen. Seit September 1939 lastete auf allen Tabakwaren neben der herkömmlichen Tabaksteuer ein massiver Kriegszuschlag. Im Herbst 1941 führte man Tabakkarten auch für Frauen ein. Im Zuge einer allgemeinen Rationalisierung wurden 1942 sechzig von insgesamt achtundachtzig Zigarettenfabriken stillgelegt und die Raucherwerbung starken Beschränkungen unterworfen.63 In den 1930er-Jahren gab es Dutzende von Präparaten, die helfen sollten, sich das Rauchen abzugewöhnen. Zwischen 1941 und Kriegsende wurde das Rauchen in öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen öffentlichen Räumen Schritt für Schritt eingeschränkt oder verboten.64 In deutschen Zeitschriften, wie »Gesundes Leben«, »Gesundes Volk«, »Die Volksgifte«, erschien in diesen Jahren eine Reihe raucherfeindlicher Beiträge. Die Hitler-Jugend (HJ) betrieb Propaganda gegen das Rauchen. In vielen Schulen wurde es weder Leh-

Qualmen gegen alle Vernunft

Im »Dritten Reich« gab es Versuche, das Rauchen zumindest in öffentlichen Räumen einzuschränken.

rern noch Schülern erlaubt. Es gab auch Kampagnen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ein junger Mediziner, Doktorand an der Universität Erlangen, Wolfgang Klarner, der aus seiner Verbundenheit mit dem NS-Regime kein Hehl machte, schrieb im Kriegsjahr 1940

369

370

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

in seiner Dissertation voller Optimismus, es breche »sich nunmehr die Erkenntnis Bahn, daß der Kampf gegen dieses Volksgift endlich aufgenommen werden müsse«.65 In den Jahren vor und noch während des Zweiten Weltkriegs wurde im Deutschen Reich fleißig über die Ursachen des vermehrt auftretenden Bronchialkarzinoms geforscht. Eberhard Schairer und Erich Schöniger reichten Ende August 1943 ein Aufsatzmanuskript ein, das im folgenden Jahr in einer Fachzeitschrift abgedruckt wurde. Die beiden waren aufgrund eines nicht allzu großen Vergleichsmaterials zu der Auffassung gekommen, »daß eine große Wahrscheinlichkeit für die Tatsache besteht, daß der Lungenkrebs viel häufiger bei starken Rauchern und viel seltener bei Nichtrauchern auftritt, als der allgemeinen Erwartung entspricht.«66 In der Partei fanden sich sehr verschiedene Ansichten zum Rauchen, natürlich auch NSDAP-Mitglieder, die – als überzeugte Antisemiten – die Zigarettenherstellung und das Rauchen und namentlich den Profit dem »jüdischen Kapital« in die Schuhe schoben. In der braunen Elite gab es sowohl überzeugte Nichtraucher wie viele Raucher. Robert Ley war einer von denen, die das Rauchen guthießen und dies öffentlich zeigten. Aber es gab auch Forderungen nach einem allgemeinen Rauchverbot. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels war selbst Raucher, dachte aber pragmatisch: »So nützlich es vielleicht vom gesundheitlichen Standpunkt aus ist, das Rauchen allgemein abzuschaffen, so unzweckmäßig ist dafür die gegenwärtige Zeit«, sagte er.67 Hitler hielt das Rauchen für ein Übel, wollte aber, so scheint es, ernsthafte Maßnahmen gegen den Tabakkonsum erst nach dem »Endsieg« vornehmen. Nachkriegsjahre Mitte des 20. Jahrhunderts rauchten in vielen Industriestaaten schätzungsweise vier Fünftel der erwachsenen Männer und vielleicht ein halb so großer Anteil der Frauen. So jedenfalls die Zahlen im Jahr 1949 im Vereinigten Königreich. Der Durchschnittsraucher rauchte 15 Zigaretten am Tag, und die britischen Haushalte gaben elf Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Rauchwaren aus. Für das Rauchen gab es die üblichen Ausreden: Rauchen mindert die Nervosität,

Qualmen gegen alle Vernunft

es beruhigt, beugt Depressionen vor. Einem Fremden eine Zigarette anzubieten dient als Einstieg zu einem Gespräch und kann heikle Situationen entspannen. Rauchen beschwichtigt zudem den hungrigen Magen, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland so verbreitet war. Rauchen ist aber eine Sucht, und die Weltkriege des 20. Jahrhunderts mit ihren schweren psychischen Belastungen förderten diese Sucht. Viele, die irgendwann während des Krieges mit dem Rauchen angefangen hatten, kamen so nicht mehr davon los. Folglich nahm im 20. Jahrhundert die Zahl der Raucher weiter zu. Das 20. Jahrhundert wurde zum »Zeitalter der Zigarette« (Allan Brandt). In der unmittelbaren Nachkriegszeit übernahmen Zigaretten in Zentraleuropa zudem eine ganze neue Funktion: Im Mai 1945 brach mit der bedingungslosen Kapitulation das Deutsche Reich zusammen. Es gab keine deutsche Regierung mehr, keine Verwaltung, nicht einmal eine funktionierende Währung. Bald fand sich ein passender Ersatz: Zigaretten, im Westen vor allem amerikanische. Sie waren als Währung gut geeignet, denn es gab sie in kleinen Einheiten, sie waren handlich, einigermaßen haltbar, und sie wurden von jedermann wie bares Geld angenommen, auch von Nichtrauchern, die sie leicht wie ein Zahlungsmittel weitergeben konnten. Besonders auf dem Schwarzmarkt konnte man mit ihnen alles erwerben. Allerdings waren Zigaretten sündhaft teuer. Eine einzelne Zigarette kostete 5 bis 6 Reichsmark, fünf Zigaretten entsprachen also einem Gegenwert von 25 bis 30 Mark. Da sehr viele Deutsche rauchten, waren Zigaretten äußerst begehrt. Wenn ein amerikanischer Soldat einen Zigarettenstummel wegwarf, stürzte sich meist ein Deutscher darauf, gelegentlich mehr als einer. Und die GIs warfen außerordentlich lange Kippen weg. Man konnte den Rest der Zigarette weiterrauchen, mit dem Tabak die Pfeife stopfen oder ihn sammeln, um sich damit später eine ganze Zigarette zu drehen. Die Amerikaner wussten, wie wertvoll Zigaretten waren, und manch eine amerikanische »Besatzer-Familie« gab ihrer deutschen Putzfrau als Arbeitslohn für einen Tag Arbeit fünf Zigaretten.68 Nach der Währungsreform 1948 und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland resp. der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr darauf genossen die Deutschen das Rauchen wieder zu einem billigeren Preis.

371

372

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

In der jungen Bundesrepublik In den 1950er-Jahren entstanden in Deutschland viele neue Zigarettenmarken. An vielen Stellen, in der Wirtschaft wie in der Politik, wurde geraucht, ständig und viel geraucht. Seit 1949 amtierte als erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland Theodor Heuss, er war starker Raucher. »Papa Heuss«, für viele Deutsche ein Vorbild, ließ sich gerne, freundlich blickend, mit einer Zigarre zwischen den Fingern ablichten. Das war eine wirkungsvolle Werbung, für die Tabakindustrie völlig kostenlos. Im Jahr 1962, ein Jahr vor seinem Tod – er war nicht mehr im Amt, nicht mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit – musste ihm das linke Bein abgenommen werden, ein »Raucherbein«.69 Während Heuss’ Amtszeit als Präsident regierte Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler der zweiten deutschen Republik. Adenauer war im Alter von 73 Jahren in dieses Amt gekommen. Er hatte empfindliche Bronchien, in seinen Kabinettssitzungen durfte daher nicht geraucht werden. Dies zu verlangen, hatte der Arzt Professor Martini dem Kanzler empfohlen.70 Adenauer konnte Tabakqualm nicht ausstehen. Als er einmal Spanien besuchte, wurde er in Madrid in einen historischen Konferenzraum geführt, der ihm ausnehmend gut gefiel. »Wie würde der heute wohl aussehen, wenn man schon vor zweihundert Jahren angefangen hätte zu rauchen?«, fragte der Kanzler.71 Wenn Adenauer gefragt wurde, ob er nie im Leben geraucht habe, antwortete er verschmitzt: »Doch, als ich zwölf Jahre alt war, hat mir ein Onkel eine sogenannte holländische Pfeife« gegeben, also eine noch ungerauchte Pfeife. Danach war dem Jungen speiübel. Erwachsene nahmen es meist nicht so ernst, wenn sie Buben rauchen sahen, sie glaubten, das gehöre einfach dazu. Statt eines Rüffels stellte man ihnen einfach die Frage: Hast du dir die Hosen zugebunden? Diese Frage ist nicht unberechtigt, denn erfahrungsgemäß vertragen Kinder den ersten Tabakkonsum nur schlecht. Trotzdem fangen so viele zu rauchen an, viele schon sehr früh. In der Bundesrepublik Deutschland setzte in den 1950er- und 1960er-Jahren ein ungeahnter Wirtschaftsboom und mit ihm Wohlstand ein. Einer, der sich dafür stark machte, ihn zu vermehren und

Qualmen gegen alle Vernunft

Rauchen, heimlich. Erwachsene reagierten meist sehr gelassen.

373

374

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

etwas gerechter zu verteilen – »Wohlstand für alle«, lautete der Titel eines seiner Bücher –, war Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der Konrad Adenauer 1963 ins Kanzleramt folgte. Erhard war ein starker Raucher, er rauchte Zigarren gern in einer Spitze. Die Gefahren des Rauchens waren damals eigentlich schon lange bekannt, aber sie wurden kleingeredet. Unzählige dumme Redensarten versuchten die Folgen des Rauchens, die Schädigung von Lunge und Blutgefäßen, herunterzuspielen: »Alkohol und Nikotin / rafft die halbe Menschheit hin. / Ohne Schnaps und ohne Rauch, / stirbt die andere Hälfte auch.« Und da Rauchen ohnehin eine Sucht war, von der man nicht so leicht loskam, nahm es eher zu als ab. Nikotin ist sogar einer der stärksten Suchtstoffe. »Wenn Raucher inhalieren, dauert es zwei Herzschläge, und das Nikotin ist im Gehirn. Keine andere Droge bringt einen so schnellen Kick«, erklärt ein Psychiater, warum es so schwerfällt, sich von der Tabakabhängigkeit zu lösen.72 »Mit dem Rauchen aufhören, ist ganz einfach«, meinte ein amerikanischer Komiker. »Ich habe es schon hundertmal gemacht.« Die meisten Raucher, die von dem Übel loskommen möchten, benötigen sechs Versuche, bis sie es schaffen, das Rauchen aufzugeben. In der Nachkriegszeit schrieben leidenschaftliche Raucher wie Heinrich Böll nicht selten unkritisch über das Rauchen und verteidigten es. Einige wiesen gern darauf hin, dass der größte Verbrecher der deutschen Geschichte, Adolf Hitler, Nichtraucher war. Aber was besagt das schon, die brutalsten Massenmörder des 20.  Jahrhunderts, Josef Stalin und Mao Zedong, waren starke Raucher. Stalin rauchte meist Pfeife oder russische Zigaretten, als junger Mensch vermutlich wie viele seiner Landsleute auch Machorka in Zeitungspapier, Mao Zedong rauchte vor allem Zigaretten. Angloamerikanische Forschungen Im Jahr 1952 veröffentlichten zwei englische Mediziner, Richard A. Doll und A. Bradford Hill, ihre Forschungsergebnisse über das Rauchen. Sie zeigten, dass ein klarer statistischer Zusammenhang bestand zwischen Rauchen und Lungenkrebs, je mehr und je länger jemand rauchte, desto größer das Risiko.73 Allerdings konnte damit die Ursächlichkeit noch nicht eindeutig bewiesen werden, wie dies

Qualmen gegen alle Vernunft

in der Wissenschaft verlangt wird. Dieser kausale Bezug ließ sich erst einige Jahre später herstellen (1957). In der englischsprachigen Welt hielt man die Erkenntnisse von Doll und Hill für neu und bahnbrechend, obwohl Forschungen aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Deutschland  – die von der englischsprachigen Welt jedoch meist ignoriert werden – Jahre zuvor Ähnliches ergeben hatten. Doll und Hill waren also keineswegs die Ersten, die das Rauchen als Ursache des Lungenkarzinoms nachwiesen, und ihre Erkenntnisse gingen nicht wesentlich über das hinaus, was deutsche Mediziner Jahre zuvor herausgefunden hatten. Schon in der Zwischenkriegszeit hatten sich deutsche Wissenschaftler mit den schädlichen Eigenschaften des Tabaks befasst. Aber das war bestimmt nicht der Grund, dass die englische Presse nicht allzu viel Notiz nahm.74 Zehn Jahre Nach der Veröffentlichung von Hill und Doll, 1962, hieß es in dem Report des Royal College of Physicians, »Smoking and Health«, dass starke Raucher dreißigmal häufiger als Nichtraucher an Lungenkrebs erkrankten.75 Es dauerte eine Weile, ehe diese Einsichten in der englischsprachigen Welt zur Kenntnis genommen wurden. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren ein reiches Land, sehr viel reicher als die Länder Europas. Dort wurde auch mehr geraucht als in Mitteleuropa: In den USA stieg der Zigarettenkonsum pro Kopf der Bevölkerung im Verlauf des 20. Jahrhunderts gewaltig an, von 54 im Jahr 1900 auf 4318 im Jahr 1965. Die Einsicht, dass Rauchen die Gesundheit schädigt, setzte sich in der breiten Bevölkerung nur langsam durch, das war in Nordamerika nicht anders als in Europa. Im Januar 1964 nahm in den USA der Gesundheitsminister, General Luther Terry, in seinem »Surgeon General’s Report« kritisch Stellung zum Rauchen. Damals konsumierten 70 Millionen erwachsene Amerikaner rund 400 Milliarden Zigaretten pro Jahr, also jeder im Durchschnitt gut 15 Zigaretten am Tag. Von da an ging es jedoch mit dem Tabakkonsum in den USA abwärts, zunächst nur langsam, etwas stärker dann nach dem Bericht von Minister Califano zu Beginn der 1970er-Jahre. Der Anteil der Raucher nahm Zug um Zug ab. Eine amerikanische Studie, die auch andere Herz- und Kreislauferkrankungen  – wie Koronararterienbefall  – berücksichtigte, kam zu dem Ergebnis, dass

375

376

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Jährlicher Pro-Kopf-Konsum an Zigaretten: Vergleich Deutschland – USA Deutschland

USA

1930

490

1485

1940

1022

1976

1944

743

3039

1950

460

3552

1963

1523

4345

dt. Qu: Rauchen: Wie Gut, in: Der Spiegel, 22.1.1964, S. 61.

Raucher, und zwar in allen Jahrgangsstufen, zu 70 Prozent häufiger davon betroffen sind als Nichtraucher.76 Amerikanische Gesundheitsbehörden schätzten, dass etwa 30 Prozent aller Todesfälle an Krebs auf das Rauchen zurückzuführen sind, weitere 21 Prozent aller Koronararterienerkrankungen und 82 Prozent aller Todesfälle infolge obstruktiver Pulmonarerkrankungen.77 In den USA lag der Zigarettenkonsum 1973 noch immer bei gut 4000 Zigaretten pro Kopf. Ohne die Anti-Raucher-Bewegung und bei gleichen Preisen hätte er sicher noch zugenommen.78 Das mediane Durchschnittsalter der amerikanischen Bevölkerung ist dabei niedriger als das deutsche und umfasst somit bedeutend weniger Raucher. In den USA sterben spanischsprachige Zuwanderer (Hispanics), die noch im Mutterland geboren wurden und erst als Kinder in die USA zuwanderten, später als Hispanics, die bereits in den USA geboren wurden. Warum? Eine amerikanische Demographin fand die Antwort: Weil aus der erstgenannten Gruppe weniger rauchen.79 In den letzten Jahrzehnten wurde durch eine Vielzahl von Gerichtsverfahren über die Tabakindustrie mehr bekannt als über andere Industrien. Es stellte sich heraus, dass noch nach dem Jahr 2000 Tabakprodukte jährlich mehr als 435 000 US-Bürger vorzeitig ins Grab rissen, das ist mehr als HIV, Alkohol, verbotene Drogen, Suizid und Mord zusammen. In den 1970er-Jahren erreichte der Tabakkonsum in den Vereinigten Staaten seinen Höhepunkt. Die Tabakindustrie setzte sich gegen Einschränkungen des Rauchens sehr erfolgreich zur Wehr.

Qualmen gegen alle Vernunft

Neben den herkömmlichen, stärker belastenden Tabakprodukten warf sie jetzt auch »light«-Produkte auf den Markt. Für Frauen wurden eigene Marken entwickelt, Damenzigaretten, schmaler und eleganter, angeblich weniger schädlich. Die Zigarettenwerbung suggerierte dem Verbraucher, dass Ärzte sich ausdrücklich zugunsten von leichten Sorten aussprachen. Nun holten die Frauen auf – anfangs nur beim Rauchen, doch mit zeitlicher Verzögerung auch bei der Verbreitung des Bronchialkarzinoms. »Die Zahl der Frauen über fünfundfünfzig, die an Lungenkrebs gestorben waren, war zwischen 1970 und 1994 um 400 Prozent gestiegen, was mehr ist als die Zunahme der Sterblichkeit aufgrund von Brust- und Darmkrebs zusammen.«80 Nichtraucherschutz in Deutschland Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die schrecklichen Folgen des Rauchens, die zum Teil so neu nicht waren, verbreiteten sich in Deutschland nur langsam. In den späten 1960er-und 1970er-Jahren, als eine junge, kritische Generation immer stärker den Lebensstil bestimmte, wurde in Deutschland nicht weniger geraucht, sondern mehr. Staat und Gesellschaft sorgten sich um die Rechte der Raucher mehr als um die der Nichtraucher – obwohl doch Dr. Fritz Lickint schon 1939 auf die Gefahren des Passivrauchens aufmerksam gemacht hatte. Die öffentlichen Verwaltungen zeigten den Rauchern – nicht den Nichtrauchern – viel Rücksicht und Verständnis. Im Flugzeug ging kurz nach dem Start ein Licht an, darauf zu lesen stand, dass fortan wieder geraucht werden dürfe, und dies wurde außerdem auch per Lautsprecher verkündet – es hätte ja sein können, dass ein sehgeschädigter Flugpassagier, ein Raucher, das Lichtzeichen gar nicht bemerkt hätte und daher nicht wusste, dass er sich nun wieder eine anstecken durfte. Dabei bestand zwischen der Raucher- und der Nichtrauchersektion keinerlei physische Trennung, der Rauch zog ungehindert von den Rauchern zu den Nichtrauchern, also den Passivrauchern. In der Bundesrepublik Deutschland überstieg der Zigarettenkonsum 1966 die Zahl von hundert Milliarden Stück. In den folgenden Jahren wurde wieder mehr Pfeife geraucht.81 1974 wurden

377

378

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

in der Bundesrepublik 128 Milliarden Zigaretten hergestellt, d. h. knapp sechs pro Einwohner pro Tag, unabhängig vom Alter und Geschlecht des Bundesbürgers.82 Bestimmt starben in den 1960erJahren in Deutschland mehr Menschen an den Folgen des Rauchens als an einer Selbsttötung, obwohl die Suizidrate bis 1977 stieg und in Westdeutschland damals einen Höhepunkt erreichte. Dämliche Redensarten breiteten sich aus zugunsten des Rauchens. Es fehlte allerdings auch nicht an unbegreiflichen beschwichtigenden oder unsinnigen Äußerungen von Wissenschaftlern über die Unschädlichkeit des Rauchens. Obwohl die vom Rauchen verursachten Krankheiten auf der Hand lagen, kamen immer wieder erstaunliche Vermutungen auf. Der Psychologe H. J. Eysenck erwähnt in seinem Buch »Smoking. Health and Personality« auch die Hypothese, dass »zwischen Lungenkrebs und Rauchen ein Zusammenhang besteht, nicht weil Rauchen Lungenkrebs erzeugt, sondern weil die selben Menschen, die genetisch prädisponiert sind, mit dem Rauchen zu beginnen, auch genetisch prädisponiert sind Lungenkrebs zu bekommen«.83 Die Tabakindustrie stemmte sich weiter erfolgreich gegen die Erkenntnisse der Wissenschaft. Sie ersann eine Vielzahl von Maßnahmen, die dem Tabaksüchtigen weismachen sollten, dass man auch als Raucher die Gefahren kleinhalten oder ganz abwenden könne. Sie erfand die Zigarette mit einem Filter als Mundstück. Die amerikanische Zigarettenwerbung versuchte dem Raucher vorzugaukeln, dass ärztliche Gremien Filterzigaretten ausdrücklich empfahlen. Und wer nicht die demokratische Zigarette rauchen wollte, der konnte auch auf Pfeife umsteigen. Noch im Jahr 1966 ließ sich in Großbritannien der englische Premierminister Harold Wilson, im bürgerlichen Beruf Universitätsprofessor, als »Pipeman of the Year« feiern.84 Einen seiner Vorgänger, Winston Churchill, hätte man ohne Weiteres zum »Cigarman of the Year« küren können. Mit der sozialliberalen Koalition, die in der Bundesrepublik seit 1969 regierte, gab es einen Aufbruch in Deutschland. Rauchen wurde immer populärer. Bald sah man Regierungschefs und Parteivorsitzende auf ihren Parteitagen auf dem Podium sitzen – ob Helmut Kohl, Franz Josef Strauß, Helmut Schmidt, Willy Brandt oder Herbert Wehner  – mit qualmender Pfeife oder brennender Ziga-

Qualmen gegen alle Vernunft

rette in der Hand. Bundeskanzler Willy Brandt, von 1969 bis 1974 Bundeskanzler, zeigte sich gern mit Zigarette oder mit einem Zigarillo. Über eine Parteiversammlung in Kempten schrieb ein Abgeordneter: »Schließlich saßen wir da, drei Frauen und sechs Männer, wie in einer Thermosflasche. Es wurde so stark geraucht, und angesichts stählerner Kälte draußen so wenig gelüftet, daß es darauf ankam, ohne Sauerstoff zu überleben.« Über einen Besucher in der SPD-Zentrale schreibt er: »Er kramte eine Tabakspfeife heraus, die Herbert Wehner ihm, wie er es in besonderen Fällen tat, aus seinem angerauchten Bestand zum Siebzigsten geschenkt hatte.«85 Seit den 1970er-Jahren nahm das Rauchen in den Industriestaaten ab, allerdings nur langsam. Es dauerte noch viele Jahre, Jahrzehnte, bevor die Regierungen, auch die deutsche, energisch dagegen vorgingen. Noch immer wurden Filme gedreht, in denen es kaum eine einzige Kameraeinstellung gab, die nicht einen Raucher zeigte, der genießerisch den Rauch ausbläst. In den Kinos und im Fernsehen liefen Streifen, die nichts weiter sind als eine Art subtiler – sagen wir besser: brutaler – Tabakwerbung. Es ist gar nicht nötig, den Einfluss der großen Zigarettenhersteller im Einzelnen nachzuweisen, er ist so offensichtlich. In vielen Filmen wurde kräftig geraucht – schließlich konnte der Regisseur stets geltend machen, er müsse die reale Atmosphäre authentisch wiedergeben, und wenn in den im Film gezeigten Kreisen tatsächlich stark geraucht wurde, dann auch im Film. Beste Werbung, wenn ein junger Held sich eine ansteckte, dann die Zigarette lässig im Mundwinkel hielt, dann und wann daran zog, die Asche abstreifte. In einigen Filmen, z. B. »Außer Atem« von 1960, gibt es fast keine Einstellung ohne Zigarette, und einige Male zündet sich der große Held, Belmondo, die eine Zigarette an der soeben zu Ende gerauchten an. So sparte man Streichhölzer. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet in Artikel 2 die Regierung mit den Worten: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« Darf man daraus folgern, dass die Regierenden die Bürger über die Schädlichkeit des Passivrauchens zumindest aufklären müssen oder, noch besser, sie davor warnen? Diese Einsicht kam sehr langsam, sehr bedächtig, Schritt für Schritt. So lange ist es noch nicht her, dass in deutschen Krankenhäusern noch kräftig geraucht wurde. Krankenhauspatienten saßen

379

380

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

unter dem Schild »Rauchen verboten« und qualmten – die Zuständigen hatten ihnen freundlicherweise einen Aschenbecher hingestellt. Amtliche Stellen sorgten sich lange Zeit mehr um das vermeintliche Recht der Raucher als um die Gesundheit der Nichtraucher, der Passivraucher. Da diskutierten Pädagogen in weiterführenden Schulen, ob es den Rauchern unter ihren Schülern, Kollegiaten  – junge Menschen, von denen viele schon das 18.  Lebensjahr vollendet hatten – zuzumuten sei, an einem Regentag im Schulhof zu rauchen oder ob man ihnen dafür ein Zimmer überlassen müsse. Daraufhin wurden Raucherzimmer eingerichtet. Es waren nicht die konservativen Pädagogen, die dies durchsetzten, sondern die fortschrittlichen. Die großen Zigarettenhersteller ließen nichts unversucht, ihre Geschäfte weiterhin gewinnbringend zu betreiben. Sie taten alles, um wissenschaftliche Erkenntnisse über den kausalen Zusammenhang zwischen Rauchen und dem Auftreten des Bronchialkarzinoms zu leugnen, zu verschleiern. Wo es um kommerzielle Einzelinteressen der Tabakfirmen ging, waren sie Konkurrenten und verhielten sich entsprechend; wo es aber um das Gesamtinteresse der Tabakindustrie ging, hielten sie zusammen. Dabei hätte seit Langem klar sein müssen, dass Tabak »ungleich schädlicher ist als Erdöl, Alkohol oder Fastfood. Das Unheil, das diese Industrie anrichtet, ist ungeheuerlich.«86 Am 14.  April 1994 leisteten die Vorstandsvorsitzenden der sieben größten amerikanischen Tabakkonzerne vor dem Kongress in Washington einen feierlichen Schwur, in dem es hieß: »Ich glaube, dass Nikotin nicht abhängig macht.«87 Persönlich glauben darf der Mensch alles, auch das Unglaubliche. »Reinen Unsinn zu glauben ist ein Privileg des Menschen«, sagte der Biologe Konrad Lorenz. Rückgang des Rauchens – Anstieg der Todesfälle In den zivilisierten, aufgeklärten Gesellschaften, wo man auf die Gesundheit achtet und wissenschaftliche Einsichten schnell zur Kenntnis genommen werden, nahm die Anzahl der Raucher seit den 1970er-Jahren langsam ab. Es dauerte aber noch Jahre, bis die Regierungen eingriffen. Heute ist in vielen europäischen Staaten ein

Qualmen gegen alle Vernunft

Wandel sichtbar. In Großbritannien hat sich beispielsweise zwischen 1948 und 1990 der Anteil der männlichen Raucher um mehr als die Hälfte reduziert. Die Zahl junger Leute, die Rauchen für gesundheitsschädlich ansehen, stieg immer mehr.88 »Im Jahr 2005 fand die OECD heraus, daß der Anteil von Rauchern in zehn europäischen Ländern, darunter auch das Vereinigte Königreich, von einem Durchschnitt von 36,8 Prozent abgenommen hatte auf 25,4 Prozent im Jahr 2003.«89 In der Bundesrepublik Deutschland hat das Rauchen gerade unter Jugendlichen stark nachgelassen. Im Jahr 1979 rauchten 30 Prozent der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen. 2001 lag dieser Anteil bei 27,5 Prozent, zehn Jahre später bei 11,7 Prozent. Mehr als zwei Drittel der Jugendlichen haben noch nie in ihrem Leben geraucht (2012). Junge Erwachsene (18–25 Jahre) rauchten 2001 noch zu 44,5 Prozent, 2012 nur noch zu 35,2 Prozent. Bei Menschen über 25 Jahren blieb der Anteil der Raucher unverändert, er liegt seit zwanzig Jahren bei etwa einem Drittel.90 Dabei bestehen große soziale Unterschiede: Von den Hauptschülern rauchten 16,7 Prozent, von den Realschülern 10,9, von den Gymnasiasten in der Oberstrufe 6,9 Prozent. Unter den Gymnasiallehrerinnen und Ärztinnen rauchen nicht einmal halb so viele wie unter den Friseurinnen. Der Rückgang der Raucherzahlen nach den gesetzlichen Einschränkungen des Rauchens zu Beginn des 21. Jahrhunderts macht deutlich, dass ein staatliches Verbot mehr bewirkt als die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder die Verteuerung der Zigarettenpreise durch ein Anheben der Tabaksteuern. Trotzdem wurden im Jahr 2008 in Deutschland noch immer für Tabakwaren fast 22,5 Mrd. Euro ausgegeben.91 In der Bundesrepublik Deutschland starben im Jahr 1998 sage und schreibe 37 934 Personen an einem Bronchialkarzinom, davon waren 28 649 Männer und 9285 Frauen. Vierzehn Jahre später, 2012, war diese Zahl angestiegen auf insgesamt 44 433 Personen, davon 29 695 Männer und 14 738 Frauen. Die Zahl der an einem Bronchialkarzinom verstorbenen Männer war also in diesen 14 Jahren von 28 649 auf 29 695 angestiegen, das ist ein Anstieg um knapp vier Prozent. Die Zahl der weiblichen an einem Bronchialkarzinom Verstorbenen stieg indes von 9285 auf 14 738, das ist eine Steigerung um 58,5 Prozent. Welcher Anteil davon Raucher oder Raucherinnen

381

382

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

war, lässt sich nicht mehr ermitteln; aber es ist sicher, dass die allermeisten dieser verstorbenen Frauen wie auch die Männer geraucht hatten.92 Bezieht man auch andere im Hals-, Nasen- und Rachenraum aufgetretenen Karzinome mit ein, so fand zwischen 1980 und 2012 ein Anstieg von 32 809 auf 45 908 Todesfälle statt, also ein Anstieg um rund vierzig Prozent. In dem von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung herausgegebenen »Drogen- und Suchtbericht. Mai 2011« (Berlin 2011), heißt es: »Rauchen ist das größte vermeidbare Gesundheitsrisiko in Deutschland.«93 Der Absatz von Zigaretten sank, der von Pfeifentabak nahm jedoch im selben Zeitraum wieder zu.94 Es rauchen weiterhin sehr viel mehr Männer als Frauen. In vorgerücktem Alter rauchen starke Raucher mehr als junge, zwanzig Zigaretten am Tag und mehr. Schätzungsweise 110 000 Menschen in Deutschland, das sind immerhin 13 Prozent aller Todesfälle, sterben an den direkten Folgen des Rauchens, etwa 3300 an den Folgen des Passivrauchens. Die volkswirtschaftlichen Schäden, die das Rauchen verursacht, werden auf 21 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.95 In Deutschland müssen Zigarettenpackungen heute die Aufschrift tragen: Rauchen kann tödlich sein. Sachlich ist dies nicht ganz zutreffend  – ein Sturz vom Stuhl kann tödlich sein. Die Gefahren des Rauchens sind aber anders beschaffen: Rauchen schädigt auf lange Sicht und führt bei vielen ein früheres Lebensende herbei. Oder, kürzer gesagt: Raucher haben eine deutlich kürzere Lebenserwartung! In anderen Nationen heißt es deshalb auf den Zigarettenschachteln zutreffender: Raucher sterben früher. 81 Prozent der Nichtraucher werden 70 Jahre alt oder älter, »aber nur 58 % der Raucher erreichen dieses Alter«.96 Bei starken Rauchern tritt das Bronchialkarzinom viel häufiger auf als unter Nichtrauchern, und Lungenkrebs ist die vierthäufigste Todesursache in Deutschland, bei Männern sind ca. 90 Prozent davon durch Rauchen bedingt.97 Bei allen Erfolgen muss man dennoch sagen: Das Rauchen nimmt nur langsam ab in Deutschland. Im Jahr 2012 werden in Deutschland wohl 83,3 Milliarden Zigaretten gekauft, das sind etwa 1,4 Milliarden weniger als 2011, also nicht einmal zwei Prozent. Der Umsatz der Konzerne beläuft sich auf 5 Mrd. Euro, die Tabaksteuer bereits einbehalten.98

Qualmen gegen alle Vernunft

Die Entwicklung in anderen Teilen der Welt Eigentlich wurden erst im 21.  Jahrhundert die schädlichen Folgen des Rauchens klar erkannt: Es sind mit die zerstörerischsten Krankheits- und Todesursachen, schlimmer, weil Rauchen in der Dritten Welt immer noch zunimmt. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es in den späten 1990er-Jahren weltweit ca. 4 Millionen Todesfälle, für die Tabakrauchen verantwortlich ist, ungefähr 5 Millionen 2003, bis zum Jahr 2020 werden es vielleicht sogar 10 Millionen sein. Seit den 1970er-Jahren nahm das Rauchen in den westlichen Nationen ab  – gleichzeitig nahm es in anderen Teilen der Welt dramatisch zu, vor allem in Afrika, Asien und Lateinamerika. In einigen Ländern konsumieren Menschen (über 15 Jahre)  pro Kopf mehr als 4000 Zigaretten im Jahr, also rund elf Stück pro Tag im Durchschnitt. In Indien wuchs die Zahl der Raucher seit 1960 um 400 Prozent, an die 630 000 Inder sterben pro Jahr an den Folgen; einen ähnlichen Verlauf nahm das Rauchen in China. Weltweit sind fast fünf Prozent aller Todesfälle dem Rauchen anzulasten.99 Die Weltbevölkerung wächst und mit ihr die Zahl der Tabakkonsumenten, von 721 Millionen 1980 auf 967 Millionen, sie konsumieren jährlich sechs Billionen Zigaretten.100 In den Staaten Westeuropas bläst der Tabakindustrie der Wind ins Gesicht; um so mehr versucht sie nun, in den Ländern der Dritten Welt Boden zu halten oder neu zu gewinnen. Wo es um wissenschaftliche Erkenntnisse geht, die das Rauchen scharf verurteilen, gilt die Devise: alles abstreiten. Die Tabakindustrie setzt weiter auf aggressive Werbung. Um auch in der Dritten Welt die ›andere Hälfte der Bevölkerung‹ zu erreichen, lässt sie dort kleine Geschenke verteilen, Zigarettenschachteln mit der Aufschrift: »Unabhängige Frauen lassen sich nichts verbieten.« 1 Siehe Wilhelm Abel, Landwirtschaft 1648–1800, in: Hdb. der dt. Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Bd. 1: Von der Frühzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Zorn, Stuttgart 1971, S. 495–530, hier S. 520. 2 Ernst von Bibra, Die Narkotischen Genussmittel und der Mensch, Nürnberg 1855, S. 306–309.

383

384

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 3 Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860, Göttingen 1997, S. 71 f. 4 George M. Trevelyan, English Social History. A Survey of Centuries, Chaucer to Queen Victoria, Harmondsworth 1942, 1944, S. 214 f. 5 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, übers. von Claus Recktenwald, München 1974, S. 137 f. 6 Bibra, Genussmittel (wie Anm. 2), S. 318. 7 Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien 2013, S. 98. 8 Otto Pflanze, Bismarck, Bd. 2, München 1998, S. 436. 9 Werner v. Siemens, Lebenserinnerungen, München 1986, S. 59 f. 10 Siehe Wilhelm Erb, Über die wachsende Nervosität unserer Zeit, Heidelberg 1893; Albert Eulenburg, Die Nervosität unserer Zeit, in: Die Zukunft IV (1896), S. 302–318. 11 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 7), S. 654. 12 Zit. nach Max Weber, Vom inneren Beruf zur Wissenschaft, in: Ders., Soziologie, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Analyse, Politik. Mit einer Einleitung von Eduard Baumgarten, hg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart 1968, S. 313. 13 Graf Corti, A History of Smoking, ins Engl. übersetzt, London 1931, S. 118. Siehe Art. Tabak, in: Der Große Meyer, Bd. 11, Berlin 71929, Sp. 1234–1236. 14 Robert N. Proctor, Blitzkrieg gegen den Krebs. Gesundheit und Propaganda, Stuttgart 2002, S. 207. 15 E. v. Skramlik, Goethe’s Stellung zum Tabak, WZ Jena, math. Reihe 5, 1955 f. Siehe auch den Eintrag ›Rauchen‹ in: Goethe-Lexikon, hg. von Gero von Wilpert, Stuttgart 1998, S. 870. 16 Siddhartha Mukherjee, Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biographie, Köln 22012, S. 310. 17 Matthew Hilton, Smoking in British Popular Culture, 1800–2000. Perfect Pleasures, Manchester/New York 2000, S. 79 Anm. 52. 18 Wolfgang Klarner, Vom Rauchen. Eine Sucht und ihre Bekämpfung, Diss. med. Erlangen 1940, S. 23. 19 Allan M. Brandt, The Cigarette Century. The Rise, Fall, and Deadly Persistence of the Product That Defined America, New York 2007, S. 47. 20 Ebd., S. 39. 21 Ebd., S. 54–55. 22 Wolfgang Schivelbusch, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, Frankfurt a. M. 72010, S. 108. 23 Sobel, They satisfy. The Cigarette in American Life, New York, 1978, S. 306, Grafik S. 85. 24 Brandt, Cigarette Century (wie Anm. 19), S. 33–37. 25 Mukherjee, Krankheiten (wie Anm. 16), S. 312. 26 Brandt, Cigarette Century (wie Anm. 19), S. 74 f. 27 Corti, History of Smoking (wie Anm. 13), S. 118, 126. 28 Iain Gately, La Diva Nicotina. The Story of How Tobacco Seduced the World, New York 2001, S. 665.

Qualmen gegen alle Vernunft 29 Rauchensteiner, Erste Weltkrieg (wie Anm. 7), S. 686. 30 A. J. P. Taylor, English History (Oxford English History, Bd. 15), Oxford 1965, S. 173. 31 Hilton, Smoking (wie Anm. 17), S. 116. 32 Deutsche Wirtschaftskunde. Ein Abriß der Reichsstatistik, bearbeitet im Statistischen Reichsamt, Berlin 1930, S. 84. 33 Ebd., S. 165. 34 Ebd., S. 164 f. 35 Ebd., S. 325 f. 36 Harald Focke / Hartmut Hohlbein, Stationen auf dem Wege zur Macht. Von der Weimarer Republik zum NS-System. Die Jahre 1932/33 in Deutschland, Hamburg 1982, S. 10. 37 Klarner, Vom Rauchen (wie Anm. 18), S. 21 f. 38 Ernst Schönherr, Beitrag zur Statistik und Klinik der Lungentumoren, in: Zeitschrift für Krebsforschung 27 (1928), S. 436–450; Sigismund Peller, Die Sterblichkeit der Ledigen, in: Zs. für Krebsforschung 30 (1929/30), S. 581–611. 39 Johann-Günther König, Die Geschichte des Automobils, Stuttgart 2010, S. 85 f. 40 Proctor, Blitzkrieg (wie Anm. 14), S. 208 f. Siehe George Davey Smith u. a., Smoking and Health Promotion in Nazi Germany, in: Journal of Epidemiology and Community Health 48 (1994), S. 220–223. 41 Zs. für Krebsforschung 30 (1929), S. 349–365. 42 Karl Kötschau, Zum nationalsozialistischen Umbruch in der Medizin, Stuttgart/Leipzig, 1936, S. 29 f. Vgl. ebd., S. 45. 43 Zit. nach Franz Six (Hg.), Dokumente deutscher Politik, Bd. 5, Berlin 1938, S. 288 f. Siehe Karl Heinz Roth, Public Health – Nazi Style. Gesundheitspolitische Kontroversen in der NS-Diktatur (1935–1945), in: 1999. Zs. für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 10 (1995), S. 13–56. 44 Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III. Materialen zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945 hg. von Dietmar Petzina u. a., München 1978, S. 32. 45 Franz Müller, Tabakmissbrauch und Lungenkarzinom in: Zs. für Krebsforschung 49 (1939), S. 57–85. 46 Ebd., S. 78. 47 Proctor, Blitzkrieg (wie Anm. 14), S. 225. 48 Müller, Tabakmissbrauch (wie Anm. 45), S. 78. 49 Über die Arbeitsbedingungen dieses Personenkreises siehe Camilla Jellinek, Die weibliche Bedienung im Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe, Diss. phil. Heidelberg 1912. 50 Fritz Lickint, Der Bronchialkrebs der Raucher, in: Münchner Medizinische Wochenschrift 82 (1935), S. 122–124. 51 Fritz Lickint, Tabak und Organismus, Stuttgart 1939, S. 260. 52 Proctor, Blitzkrieg (wie Anm. 14), S. 245. Siehe auch Walter Fischer, Krebshäufigkeit und Sektionsstatistik, in: Zs. für Krebsforschung 49 (1939), 496–504. 53 Ebd., S. 206. 54 Proctor, Blitzkrieg (wie Anm. 14), S. 228. 55 Zs. für Krebsforschung 54 (1943), S. 261–269.

385

386

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 56 Siehe Münchner Medizinische Wochenschrift 88 (1941), S. 697–699. 57 Proctor, Blitzkrieg (wie Anm. 14), S. 264 f. 58 Siehe I. Waldron, Patterns and Causes of Gender Differences in Smoking, in: Social Science and Medicine 32 (1991), 1995; Stephen G. Jones, Workers at Play. A Social and Economic History of Leisure 1918–1939, London 1986, S. 37, 50 f. 59 Vgl. Christoph Maria Merki, Die Nationalsozialistische Tabakpolitik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), 19–42, hier S. 38 f. 60 Zit. nach Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 1998, S. 320. 61 Proctor, Blitzkrieg (wie Anm. 14), S. 228. 62 Merki, Tabakpolitik (wie Anm. 59), S. 27 f. Anm. 37. 63 Ebd. 64 Proctor, Blitzkrieg (wie Anm. 14), S. 231 f. 65 Klarner, Vom Rauchen (wie Anm. 18), S. 7. 66 E. Schairer / E. Schöniger, Lungenkrebs und Tabakverbrauch, in  : Zs. für Krebsforschung 54 (1944), S. 261–269, hier S. 268. Hervorhebung im Original. 67 Zit. nach Merki, Tabakpolitik (wie Anm. 59), S. 20. 68 Vgl. John H. Backer, Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Amerikas Deutschlandpolitik 1945–1948, München 1981, S. 115, 118 f. 69 Peter Merseburger, Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München 2012, S. 602. 70 Vgl. Anneliese Poppinga, Meine Erinnerungen an Konrad Adenauer, München 1972, S. 159, 217. 71 Ebd., S. 371. 72 Tobias Rüther, Nichtraucher leben besser, in: Apotheken-Umschau vom 15.10.2012, S. 34–36. 73 R. A. Doll / A. B. Hill, A Study of the Aetiology of Carcinoma of the Lung, in: British Medical Journal 2 (1952), S. 127–186, hier S. 179–182. 74 Proctor, Blitzkrieg (wie Anm. 14), S. 209 f. 75 Hilton, Smoking (wie Anm. 17), S. 182 f. 76 Ebd., S. 106, 183. 77 Allan M. Brandt, World Trends in Smoking, in: The State of Humanity, hg. v. Julian Simon, Cambridge/Mass. 1995, S. 106–113. Roderick Floud / Robert W. Fogel / Bernard Harris / Sok Chul Hong, The Changing Body. Health, Nutrition, and Human Development in the Western World since 1700, Cambridge 2011, S. 179 f. 78 Kenneth E. Warner, Cigarette Smoking in the 1970’s. The Impact of the Antismoking Campaign on Consumption, in: Science 22 (13.2.1981), S. 729–731. 79 Laura Blue, The Ethnic Health Advantage, in: Scientific American (Oktober 2011), S. 18 f. 80 Mukherjee, Krankheiten (wie Anm. 16), S. 419. 81 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1969, S. 480. 82 Das neue Fischer-Lexikon in Farbe, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1979, Sp. 6634. 83 H. J. Eysenck, Smoking. Health and Personality, London 1965, S. 15. Eysenck ist m. E. kein Anhänger dieser Hypothese. 84 Hilton, Smoking (wie Anm. 17), S. 212.

Qualmen gegen alle Vernunft 85 Dieter Lattmann, Die lieblose Republik. Aufzeichnungen aus Bonn am Rhein, München 21981, S. 235, 254. 86 Judith Mackay über Tabak, Interview mit Christina Berndt, in: SZ 29./30.12. 2012, S. V2/8 (Wochenendbeilage). 87 Tabakatlas Deutschland 2009, hg. von Deutsches Krebsforschungszentrum, Heidelberg 2009, S. 62 f. 88 Hilton, Smoking, (wie Anm. 17), S. 231, 238. 89 Floud u. a., Body (wie Anm. 77), S. 289. 90 Marlene Weiss, Die Zigarette kommt aus der Mode, in: SZ vom 11./12.2.2012. 91 Tabakatlas (wie Anm. 87), S. 34 f., 56 f. 92 Tel. Auskunft vom 30.5.2014, Herr Scheelhase. Die Angaben in älteren Statistischen Jahrbüchern für die Bundesrepublik Deutschland sind wenig ergiebig, sie ermitteln nach veralteten Kriterien. Die  – mit einem Asterisk gekennzeichneten Seitenzahlen der  – Internationalen Übersichten in den Statistischen Jahrbüchern enthalten in den 1960er-Jahren noch immer Angaben über Pest oder Pocken als Todesursache, wobei in fast allen Staaten keine derartigen Todesfälle ermittelt wurden. Hingegen fehlt es an Angaben über Bronchialkarzinome als Todesursache; überhaupt fehlen aufgeschlüsselte Informationen über solche Todesursachen, die am Ende des 20. Jahrhunderts so häufig waren wie das Bronchialkarzinom. 93 Drogen- und Suchtbericht, Mai 2011, Berlin 2011, S. 34. 94 SZ vom 20.1.2012. 95 Drogen- und Suchtbericht (wie Anm. 93), S. 34. 96 Tabakatlas (wie Anm. 87), S. 41. 97 Ebd. S. 42. 98 Kristina Läsker, Rauchzeichen, in: SZ vom 31.10.2012. 99 Brandt, World Trends (wie Anm. 77), S. 110. Vgl. Mara Hvistendahl, Streit um Xie. Wie Chinas Tabakindustrie die Wissenschaft unterwandert, in: SZ v. 13.1.2012. 100 Christoph Behrens, Bastion der Raucher. Zigaretten-Konsum sinkt, außer in einigen Staaten, in: SZ vom 8.1.2014.

387

Was den Menschen am meisten interessiert, ist der Mensch. Blaise Pascal Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch darüber schon so viel gesprochen und gehandelt sein als da will, doch einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder einmal verhandelt werden muß. Goethe, Dichtung und Wahrheit

»Angst wirft sich auf alles.« Facetten des Suizids in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert Im Jahr 1977 nahmen sich in der Bundesrepublik Deutschland 13 926 Menschen das Leben. Mehrere Tausend weitere Deutsche verübten in diesem Jahr in der Deutschen Demokratischen Republik Suizid, anteilmäßig viel mehr als im Westen. Doch in den folgenden dreißig Jahren nahm diese Zahl stark ab, in einer nach der Wiedervereinigung um ein Drittel größeren Bevölkerung, ist die Zahl der Suizide auf unter 10 000 gefallen, das ist ein Rückgang auf fast die Hälfte.1 Noch viel erstaunlicher ist allerdings der Rückgang bei den Verkehrstoten: In der Bundesrepublik Deutschland wurden 1970 noch mehr als 20 000 Verkehrstote gezählt, im wiedervereinigten Deutschland ist diese Zahl auf zuletzt (2013) deutlich unter 3500 gefallen. Jahr für Jahr erleiden mehr Deutsche den Tod von eigener als von fremder Hand. Die Deutschen richten ihre Aggression also häufiger gegen sich selbst als gegen andere. Und es sind stets weitaus mehr Männer als Frauen, fast dreimal so viele, die einen Selbstmord  – oder einen Mord – begehen. Aber darf man wirklich von »SelbstMord« sprechen? Natürlich ist Selbstmord nicht eine Form von Mord, es ist Selbsttötung, Suizid. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat dafür den Begriff »Freitod« geprägt; aber dieser ist eigentlich

390

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

nicht weniger unzutreffend, denn es steht in diesem Augenblick vielen Menschen nicht wirklich frei, Hand an sich zu legen oder auch nicht. Der Begriff ›Selbstmord‹ sei lediglich eine »Konzession an die Sprachüblichkeit«, schrieb der Publizist Jean Améry, der sich selbst das Leben nahm. Erkenntnisse aus der Vergangenheit Lange Zeit war Selbstmord im Abendland streng verpönt. Den Selbstmördern war das Himmelreich für alle Zeit verschlossen. Wer einen Mord verübte, konnte – im Verständnis der römischen Kirche – seine Tat beichten und dafür priesterliche Vergebung finden, bevor er dann selbst zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde. Wer sich aber selbst das Leben nahm, der verschied mit einer Todsünde, für die es keine Vergebung gab, er war somit unrettbar verloren. Vermutlich war die Selbstmordrate in Deutschland unter dem Ancien Régime sehr niedrig.2 Die verächtliche Erwähnung des Freitods hielt in Deutschland an, bis weit über das Jahr 1800 hinaus. Im Braunschweigischen wurden Selbstmörder noch im Jahr 1828 vom Henker am Rand des Friedhofs oder außerhalb verscharrt.3 Die Ächtung des Selbstmords durch die katholische Kirche dürfte ein wichtiger Grund sein, warum selbst im Zeitalter der Aufklärung – und des Selbstmörders Werther – einige große Aufklärer Verteidigungsschriften zugunsten des Selbstmords verfassten.4 Suizid und Soziologie In der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts, als Urbanisierung und Industrialisierung das Land von Grund auf veränderten, nahm die Zahl der Selbsttötungen in Deutschland langsam zu.5 Die junge Wissenschaft der Soziologie begann sich für dieses Phänomen zu interessieren. Der spätere tschechische Präsident Tomas G. Masaryk verfasste in Wien seine Habilitationsschrift über das Thema »Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung der modernen Zivilisation« (1881). Er führte den Anstieg auf die Härten der Industrialisierung und der Verstädterung zurück. Das klang einleuchtend, die Jahresarbeitszeit war damals mehr als doppelt so hoch wie heute,

»Angst wirft sich auf alles.«

die städtische Wohndichte war bedrückend. Die gewaltigen körperlichen Belastungen, denen der Einzelne während der Industriellen Revolution ausgesetzt war, und die Entfremdung von der gewohnten Umwelt und der Religion trage viel dazu bei, einen Menschen in den Tod zu treiben. Der elsässische Soziologe Émile Durkheim bemerkte in seinem Klassiker »Le Suicide« (1897, dt. 1973), dass sich die Gesetzmäßigkeiten des Suizids nicht so leicht entschlüsseln ließen. Man hatte damals schon längst bemerkt, dass die Selbstmordrate in Deutschland vor der – in Deutschland überaus rasch vollzogenen – Industrialisierung und Urbanisierung relativ niedrig gewesen war,6 besonders in den katholischen Landesteilen, aber danach stark angestiegen war: So stand diese Quote, bezogen auf jeweils 100 000 Einwohner, Mitte des 19. Jahrhunderts im katholischen Münster bei 4,0 und in der Oberpfalz gegen Ende des Jahrhunderts noch bei 6,3.7 Sie war jedoch etwas später bedeutend höher, vor allem in den protestantischen Regionen, sie lag kurz vor 1900 im industriell hochentwickelten Königreich Sachsen bei 33,2 und in den protestantischen Hansestädten Hamburg und Bremen bei 34,8.8 Selbstmord war weiter verbreitet in den Städten als auf dem Lande. In der protestantischen fränkischen Kleinstadt Rothenburg ob der Tauber nahmen sich im Lauf von zehn Jahren (1850/51 bis 1859/60) von den knapp 4900 städtischen Einwohnern immerhin acht das Leben, von der deutlich größeren Landbevölkerung im selben Zeitraum nur vier.9 Bezogen auf das Deutsche Reich stand die Selbstmordrate in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914) bei 21,4 je 100 000 Einwohner, und auf diesem ziemlich hohen Niveau blieb sie längere Zeit. Dabei war die deutsche Bevölkerung damals noch bedeutend weniger urbanisiert und viel jünger als heute. (Darauf hinzuweisen ist wichtig, denn junge Menschen stellen gewöhnlich nur einen geringen Anteil aller Suizidfälle, und auch Landbewohner und Kleinstädter legen viel seltener Hand an sich als Großstädter.)

391

392

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Stabilität auf hohem Niveau Seit der Reichsgründung (1871) hatte die ländliche Bevölkerung von fast zwei Drittel auf zwei Fünftel abgenommen, aber nur ein gutes Fünftel der Deutschen (21,3 Prozent) lebte inzwischen (1910) in einer Großstadt, und nur knapp zwei Drittel (65,9 Prozent) waren älter als 15 Jahre, nur einer von zwanzig Einwohnern (5 Prozent) älter als 65 Jahre.10 Aus der hohen Suizidrate namentlich der Großstadtbewohner folgerten die Soziologen, dass offenbar die Industrialisierung und Urbanisierung mit ihren gewaltigen Belastungen für den Einzelnen und die damit verbundene Entfremdung von der gewohnten Umwelt und der Religion viel dazu beitrage, einen Menschen in den Freitod zu treiben. Die Selbstmordquote schwankte in einem großen Land wie Deutschland, mit rund 65 Millionen Einwohnern im Jahr 1910, insgesamt nur wenig. Sehr starken Schwankungen unterlag sie indes in einem beschränkten Raum, etwa in einer einzelnen Stadt: So gab es in der Stadt Nürnberg mit ihren 330 000 Einwohnern vor dem Ersten Weltkrieg jährlich zwischen 45 (1900) und 85 (1903) Fälle von Selbstmord.11 Nach dem Ende der Hochindustrialisierung blieb die Suizidrate reichsweit auf hohem Niveau bemerkenswert stabil, sieht man ab von den Weltkriegen, in denen sie wieder deutlich zurückging. Das entsprach einer älteren Erfahrung, dass immer dann, wenn die Aggression sich nach außen kehrt, die Selbstmordhäufigkeit nachlässt. Sie lag im Deutschen Reich in den Kriegsjahren 1914 bis 1918 stets unter 18,5.12 Seit 1920 stand sie  – mit 13 141 Freitodfällen  – wieder über 20,0 und von da an stieg sie langsam, aber stetig an.13 1921 nahmen sich 12 730 Deutsche das Leben (Suizidrate: 20,4), 1922 waren es 13 317 (21,8) und 1923, im Jahr der galoppierenden Inflation, die soviel erspartes Vermögen verschlang und so viele bürgerliche Existenzen zerstörte, 13 141 (21,4).14 Nun darf man aber nicht übersehen, dass die deutsche Bevölkerung nach 1918 gegenüber der Vorkriegszeit deutlich gealtert und noch stärker urbanisiert war und dass vor allem der Prozess der Alterung rasch zunahm. Der Weltkrieg – und die an seinem Ende

»Angst wirft sich auf alles.«

folgende spanische Grippe  – hatten viel mehr die jüngere Generation getroffen, namentlich die jungen Menschen: Die deutschen Kriegstoten zeigten folgenden Altersaufbau: 40 Prozent waren zwischen 20 und 24 Jahre alt, 63 Prozent zwischen 20 und 30; aber nur 4,5 Prozent waren 40 Jahre oder älter.15 Auch die Grippetoten von 1918/19 waren bemerkenswert jung, die große Mehrzahl war zwischen 15 und 30 Jahre alt; insgesamt waren im Deutschen Reich an die 300 000 Grippetote zu beklagen.16 Das mediane Durchschnittsalter der Deutschen war also deutlich gestiegen in diesen wenigen Jahren, und das bedeutete auch: Die Deutschen waren älter und künftig wohl noch mehr von Selbstmord gefährdet. Die Folgen von rascher Überalterung sind bekannt, der französische Demograph Alfred Sauvy hat sie in seinem Werk »Theorie générale de la population« dargestellt: Die rasche Zunahme von Älteren vergrößert die Lasten der werktätigen Teile einer Bevölkerung, sie fördert das Sparen, nicht aber das Investieren von Kapital; sie fördert in allen Lebensbereichen den Konservatismus17  – und sie begünstigt auch den Hang zum Suizid, ja in einigen Altersgruppen, nämlich unter Hochbetagen, steigt diese Quote auf über 100 an und liegt somit um ein Vielfaches höher als der nationale Durchschnitt.18 In Deutschland begünstigte die rasche Alterung, so könnte man argumentieren, auch den Protest der Jungen  – die in den 1920er-Jahren erstarkende Nazi-Bewegung war eine junge Bewegung, ihr Führer Adolf Hitler – über seine Suizidneigung wird noch zu sprechen sein – war von den 13 Reichskanzlern, die Deutschland in den 15 Jahren nach 1918 regierten, (nach Josef Wirth) der zweitjüngste Reichskanzler der ersten deutschen Republik. Der rasche Alterungsprozess zeigte sich vor allem in den deutschen Großstädten. Der Altersaufbau der Nürnberger Bevölkerung wies nach 1918 grundlegende Veränderungen auf, die in erster Linie auf den Weltkrieg zurückzuführen sind. Bei der Volkszählung von 1910 machten in Nürnberg die jungen Menschen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr 30,9 Prozent der Wohnbevölkerung aus; bis 1925 war ihr Anteil auf 21,1 Prozent gesunken. Die Menschen über 60 Jahre zählten im Jahr 1900 nur 4,9 Prozent aller Nürnberger, 1925 waren es jedoch 7,1 Prozent.19 Aus einer Relation von Jung (unter 15) zu Alt (über 60) von gut 6 zu 1 war binnen weniger Jahre eine von

393

394

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

3 zu 1 geworden. Im Deutschen Reich als Ganzem war diese Verschiebung nicht ganz so dramatisch, die Relation nahm ab von 7 zu 1 (1910) auf 4,3 zu 1 (1925).20 Die Krisenjahre von Weimar Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kletterte die Suizidrate in Deutschland wieder über die Marke 20, und von da an stieg sie langsam aber stetig an. Die politischen und wirtschaftlichen Krisen der frühen 1920er-Jahre vermochten indes keinen großen Einfluss auf ihre Entwicklung zu nehmen. Nichts habe das deutsche Volk »so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation«, schreibt Stefan Zweig in seinem Erinnerungsbuch »Die Welt von Gestern«21, bevor er im Februar 1942 zusammen mit seiner Frau freiwillig aus dem Leben schied. Diese Hyperinflation, die alle Geldvermögen zerstörte, war für die Deutschen eine traumatische Erfahrung, und doch hat sie die Deutschen keineswegs vermehrt in den Selbstmord getrieben. Die wirtschaftlichen und politischen Krisen der zwanziger Jahre haben keinen sehr großen Einfluss auf die Selbstmordhäufigkeit gehabt. Viele Historiker bestätigen, dass die Zerstörung der deutschen Währung im Jahr 1923 durch eine galoppierende Inflation für die meisten Deutschen eine schmerzlichere Erfahrung bedeutete als einige Jahre später die Weltwirtschaftskrise, die mit sehr hoher Massenarbeitslosigkeit einherging. 1923 nahmen sich 21,4 (von 100 000 Einwohnern) das Leben, etwas weniger als 1922 und knapp ebenso viele wie 1924 oder in den Jahren vor dem Weltkrieg. In den folgenden Jahren, 1924 bis 1928, ging es wirtschaftlich aufwärts in Deutschland – und die Selbstmordrate zeigte die gleiche Entwicklung, sie stieg. 1924 nahmen sich 14 352 Menschen in Deutschland das Leben (23,1),22 im Jahr darauf waren es 15 273 (24,4). 1926 nahmen sich 16 480 Deutsche das Leben, was einer Suizidrate von 26,2 entsprach, im folgenden Jahr, also 1927, gab es etwas weniger Freitodfälle, 15 974 (25,3). 1928, ein Jahr vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, stieg die Zahl der Selbstmorde im Deutschen Reich auf 16 036 (25,2). In einigen protestantischen norddeutschen Großstädten erreichte die Suizidrate schwindelige Höhen: In Berlin betrug sie 1924 45,4 und in Hamburg 44,6. Im katholischen ländlichen

»Angst wirft sich auf alles.«

In dem Jahrzehnt nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise (1929) war die Suizidquote im Deutschen Reich auf dem Höchststand.

Westpreußen verharrte sie hingegen bei 10. Im Deutschen Reich lag sie in den Jahren nach 1926 etwas über 25, mit noch immer steigender Tendenz. Es waren wirtschaftlich die besten Jahre der Weimarer Republik, viele bezeichneten sie, ganz zu Unrecht allerdings, als die »Goldenen Zwanziger«. Die deutschen Großstädte wurden anteilmäßig von vielen Lutheranern bewohnt, unter ihnen war die Suizidanfälligkeit höher als unter Katholiken. Die Gesellschaft der Weimarer Republik war insgesamt deutlich »protestantischer« als die der Bundesrepublik.23 »In Deutschland z. B. stellen Protestanten nicht nur mehr Professoren, sondern auch mehr Selbstmörder und Schlafmittelverbraucher, mehr Erfolgreiche und mehr Unglückliche. Der Protestantismus bietet weniger äußeren Halt an Institutionen und Tradition, keine Vermittlung zwischen dem Unbedingten und Bedingten. Protestanten haben darum größere Schwierigkeiten, mit dem Leben zurechtzukommen […], sie sind anfälliger als Katholiken für Angst und Belastungen, weniger ausgeglichen, angespannter«, schreibt der His-

395

396

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

toriker Thomas Nipperdey über seine Mit-Protestanten in seinem Aufsatz »Luther und die moderne Welt«.24 So nahmen sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts im Königreich Preußen von jeweils einer Million Protestanten 247 das Leben, von einer Millionen Katholiken 93.25 1929 brach die Weltwirtschaftskrise herein, und sie traf das Deutsche Reich, das den Ersten Weltkrieg verloren hatte und nun den Siegermächten Reparationen leisten musste, sehr heftig. Die dann folgende Zeit waren Jahre der Depression, der wirtschaftlichen wie auch der sozialen. »Eine vielleicht so noch nie gewesene Lebensangst ist der unheimliche Begleiter des modernen Menschen. Er hat Angst um sein vitales Dasein, das, stets bedroht, stärker als jemals in das Zentrum der Aufmerksamkeit getreten ist. […] Angst wirft sich auf alles«, schrieb der Philosoph-Psychiater Karl Jaspers in seinem Buch »Die geistige Situation der Zeit« (1931).26 Rund ein Drittel der Deutschen war in den folgenden Jahren arbeitslos, und die Unterstützungssätze der neugegründeten Arbeitslosenversicherung (1927) reichten für kaum mehr als zum Verhungern. Trotzdem war die Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Suizid anfangs nur gering. Aber es nahmen sich bald mehr Arbeitslose das Leben, weil sie an ihrer Aussichtslosigkeit verzweifelten; dieser Trend setzte sich erst nach 1930 durch, als die Massenarbeitslosigkeit schon eine Weile das Land heimsuchte. Zwischen Suizid und dem wirtschaftlichem Ruin eines Einzelnen, wie ihn so viele in den Jahren nach 1929 erfuhren, kann durchaus ein Zusammenhang bestehen, darauf hat der Schweizer Soziologe Vilfredo Pareto (1848–1923) schon 1897 in seiner Monographie »Suicidi e fallimenti«27 hingewiesen; aber die Korrelation zwischen diesen beiden Erscheinungen scheint eher niedrig zu sein: 1926 hatte die deutsche Wirtschaft ein sehr gutes Jahr, 1929 ein sehr schlechtes – die Selbstmordrate betrug in beiden Jahren 26,2. Sie stieg dann allerdings im Verlauf der Großen Depression an. Im Jahr 1930 nahmen sich im Deutschen Reich 17 880 Menschen das Leben, das entsprach einer Suizidrate von 27,8; 1931 waren es 18 625 (28,8) und 1929 18 934 (29,2). Der Eindruck, dass die Selbstmordzahlen in Deutschland besonders hoch waren, könnte entstanden sein, weil die Medien hierzulande in diesen Jahren jeden einzelnen Fall einer Selbstentlei-

»Angst wirft sich auf alles.«

bung ausführlich behandelten, als wollten sie dies der Regierung anlasten.28 Das aus dem Weltkrieg besiegt und gedemütigt hervorgegangene, wirtschaftlich ruinierte Deutschland wollte den Siegermächten seine Verzweiflung vor Augen führen, die sich angeblich sogar in der Entleibung seiner Bürger äußerte. Der seinerzeit vorherrschende Trend verunsicherte viele Zeitgenossen: immer weniger Geburten und zugleich immer mehr alte Menschen und immer mehr Fälle von Selbstmord – zumindest in absoluten Zahlen, übrigens auch eine wachsende Anzahl von Insassen in den Anstalten für Geisteskranke. Gerade die Konservativen hielten dies für untrügliche Zeichen des Niedergangs oder des bevorstehenden Untergangs einer Nation, wie ihn der Publizist Oswald Spengler wenige Jahre zuvor (1918) an die Wand gemalt hatte. Vor 1914 war die eine Hälfte der Deutschen jünger als 25 Jahre, die andere Hälfte älter. Der Alterungsprozess der Deutschen begann sich allerdings schon vor 1914 abzuzeichnen: 1876 lag die Geburtenziffer noch über 40, in den Jahren vor Ausbruch des Weltkriegs, bis 1909, noch immer über 30, doch bis 1933 fiel sie unter 15 Promille.29 Die Zahl der Alten stieg, die der Jungen nahm ab. Der Erste Weltkrieg trieb diese Entwicklung noch weiter voran. Der wissenschaftliche Demograph Friedrich Burgdörfer erkannte dies schon früh, er sprach vom »Jahrhundert der alten Leute«, von der »Vergreisung« des deutschen Volkes, die den »Volkstod« nach sich ziehen werde. Burgdörfer legte bereits 1915 dem preußischen Innenministerium eine Denkschrift über die Ursachen des Geburtenrückganges vor und empfahl Gegenmaßnahmen. In den 1920er-Jahren verstärkten sich seine Sorgen. Es gäbe »mehr Särge als Wiegen« klagte er, er vermisse den »Willen zum Kind«. Als Konservativer bedauerte er die Landflucht; aber er sah keinen Weg, sie zu verhindern. Ein Zurück zum Agrarstaat hielt er für unmöglich. Er forderte daher vom Staat, den Wohnungsbau voranzutreiben, um auf diese Weise eine familienfreundliche Atmosphäre zu schaffen. 1932 veröffentlichte er sein Buch »Volk ohne Jugend«, es wurde ein großer Erfolg. Seine Thesen kamen bei der politischen Rechten gut an, aber auch bei einigen Linken. Burgdörfer schrieb, die Deutschen seien ein »Volk […] aus Mischlingen«. Für Burgdörfers Forschungsergebnisse und Ideen interessierten sich vornehmlich Rasseforscher, Eugeniker und Me-

397

398

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

diziner. Weitgehende Zustimmung fand Burgdörfer bei dem SPDReichstagsabgeordneten Prof. Dr. med. Alfred Grotjahn; hingegen hatte der NS-Rasseforscher Prof. Dr. Fritz Lenz vieles an Burgdörfers Thesen auszusetzen. Burgdörfer wurde zum Rufer in der Wüste. Die Deutschen alterten zu rasch, verkündete er; aber Zuwanderung von außen hielt er für bedenklich: Es sei besser für Nationen, »in eigenen Kindern, nicht in Kindern anderer« zu überleben. Er wollte die Fortpflanzung der »wünschenswerten« Elemente begünstigen, die der »unerwünschten« drosseln. Er hielt es auch für erwägenswert, ob der Staat nicht die Erbkranken und Asozialen an der Fortpflanzung hindern solle. Das lief auf Zwang hinaus.30 Politische Fanatiker der Rechten, allen voran Adolf Hitler, haben damals mit solchen Thesen Stimmung gemacht in Deutschland. Hitler behauptete, eine hohe Suizidrate oder eine steigende Zahl von Freitodfällen in einer Nation sei sehr aussagekräftig über die soziale Situation in einem Land. In seinem sogenannten »Zweiten Buch«, niedergeschrieben in den Jahren 1927/28 – das erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel »Hitlers Zweites Buch« veröffentlicht wurde – machte er die Regierungen der Weimarer Republik, die er als »Systempolitiker« verunglimpfte, für die relativ hohe Selbstmordrate verantwortlich und geißelte sie heftig. »In Deutschland selbst ermorden sie jährlich durch ihre verruchte Politik der unnationalen Ehrlosigkeit, der allgemeinen Korruption und der Unterwürfigkeit unter den internationalen Finanzherren mehr als das Doppelte an Menschen, als Südtirol insgesamt deutsche Einwohner zählt«, schrieb Hitler anklagend. »Von den durch ihre Katastrophenpolitik zum Selbstmord getriebenen 17 000–22 000 Menschen als Durchschnitt in den letzen Jahren schweigen sie.« Noch etwas höhere Zahlen verwendete er bei einer Rede am 8. Dezember 1928 in Nürnberg: »Deutschland verliert zur Zeit jährlich […] 20 000–30 000 durch Selbstmord, 380 000 durch Kindermord.«31 Adolf Hitler verwendete dieses Argument sehr früh in seinen Hetzreden. Diese Zahlen waren vollkommen frei erfunden, einfach aus der Luft gegriffen. Sie erfüllten aber ihren Zweck: Menschen gegen den Weimarer Staat aufzubringen. Noch in sehr viel späterer Zeit erhoben Historiker und Publizisten in Ost und West ganz ähn-

»Angst wirft sich auf alles.«

liche Anklagen. Damit sollte offenbar der Schluss nahegelegt werden, hierzulande seien Elend und Verzweiflung größer gewesen als anderswo. Deutungen Noch immer kursiert hierzulande das Gerücht, in Deutschland hätten unter dem Eindruck der hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise viel mehr Menschen Hand an sich gelegt als in anderen Ländern. In den 1960er-Jahren tauchten in einem von Wilhelm Treue herausgegebenen Buch über Deutschland in der Weltwirtschaftskrise falsche Zahlen über die Selbstmordrate in Deutschland und anderen Ländern auf,32 die danach häufig wiederholt wurden, auch von seriösen Historikern: »Zu den auffallenden Begleiterscheinungen der Krise zählte eine beispiellose Selbstmordwelle«, schreibt Joachim Fest in seiner Hitler-Biographie.33 Angeblich betrug die Selbstmordrate, bezogen auf je 100 000 Einwohner, in Großbritannien in diesen Jahren nur 8,5, in den Vereinigten Staaten von Amerika 13,3, in Frankreich 15,5 – am höchsten sei sie in Deutschland gewesen, »gespenstisch« hoch (Gotthard Jasper),34 »dieser traurige Rekord wurde von keinem anderen Land auch nur annähernd erreicht« (Fritz Blaich),35 »mit Abstand der Weltrekord« (Hagen Schulze)36. Diese Aussagen entbehren jeder Überzeugungskraft, vor allem aber: Die »Statistischen Jahrbücher für das Deutsche Reich« nennen ganz andere Zahlen. Die höchsten Selbstmordraten hatten damals, den internationalen Tafeln in diesen Jahrbüchern zufolge, die Nachfolgestaaten der alten Donaumonarchie, namentlich Ungarn, wo die Suizidrate schon zu Beginn der 1920er-Jahre bei 27,0 lag und bereits 1926 die Marke von 30,0 überstieg, die Deutschland wohl nicht einmal unter Hitler erreichte. In der Zeit der Krise schwankte sie in Ungarn zwischen 30,0 und 35,0. Nicht ganz so hoch stand sie in der gleichfalls vorwiegend katholischen ersten Tschecho-Slowakischen Republik, aber auch hier war sie deutlich höher als in Deutschland. Im katholischen Österreich lag die Selbstmordrate 1929 bei 36,0 und sie überstieg 1932 die Quote von 40,0 bei Weitem. Die Legende von dem dramatischen Anstieg der Selbstmordzahlen während der Weltwirtschaftskrise gibt es auch in den USA. Der

399

400

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

amerikanische Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker Kenneth Galbraith rückt das Bild zurecht, indem er darauf hinweist, dass die Selbstmordrate schon in den 1920er-Jahren gestiegen sei und dass dieser Anstieg sich nach 1929 fortgesetzt und nach 1930 noch beschleunigt habe – was aber vermutlich eher mit der Arbeitslosigkeit als mit dem Geschehen an der Börse zusammenhängt. Galbraith nennt folgende Suizidraten für die USA: 1927:  13,3; 1928:  13,6; 1929: 14,0; 1930: 15,7; 1931: 16,8; 1932: 17,4; 1933: 15,9. In der Stadt New York soll sie zwischen 15,7 (1929) und 21,3 (1932) geschwankt haben.37 Kurzum, es gab diesen Anstieg der Suizidraten in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber er war insgesamt gering. Natürlich gab es einzelne Unternehmer, die in der Weltwirtschaftskrise ihr Hab und Gut verloren und sich daraufhin das Leben nahmen, wie der schwedische Zündholzfabrikant Ivar Kreuger (1882–1932). Aber das blieben Einzelfälle. Die Suizidrate ist in verschiedenen Ländern unterschiedlich hoch. Dass sie in den USA niedriger ist als in Deutschland, will nicht viel heißen; sie war dort bereits unmittelbar nach der Industrialisierung stets niedriger als in Mitteleuropa. Das hat offenbar mit anderen Dingen zu tun: mit der Konfession und der Urbanisierung, mit dem medianen Durchschnittsalter einer Bevölkerung und vielleicht auch mit der ethnischen Zugehörigkeit.38 Blickt man unbefangen auf die Selbstmordrate während der Weimarer Zeit, von Jahrfünft zu Jahrfünft, so zeigt sich kein Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung: Man hat die Geschichte der ersten deutschen Republik gern in drei ziemlich genau gleichlange Zeitspannen unterteilt, in ein Jahrfünft der Herausforderung (1918/19–1923), ein zweites der wirtschaftlichen und sozialen Konsolidierung (1924–1928) – das ist die Zeit, die man so häufig als die »Goldenen zwanziger Jahre« bezeichnet – und ein drittes Jahrfünft der wirtschaftlichen und politischen Krise (1929–1932/33). Aber es zeigt sich keine eindeutige Korrelation zur Zahl der Fälle von Suizid: Im ersten, schlechten Jahrfünft betrug diese Rate 20,6, im zweiten, guten 24,8 und im dritten, sehr schlechten 28,1.39 Nun wird man freilich nicht jeden einzelnen Todesfall stets bis ins Einzelne und genau klären können, gerade bei Selbstmord dürfte die Dunkelziffer hoch sein, und es ist auch möglich, dass ein Lei-

»Angst wirft sich auf alles.«

chenschauer sich irrt oder nicht die nötige Sorgfalt aufbringt. Aber zuverlässigere Zahlen als die in den »Statistischen Jahrbüchern« genannten gibt es nicht, wer den Suizid quantitativ zu erfassen sucht, muss sie als Grundlage heranziehen.40 Ungeachtet der oft gehörten Warnung, in einem Glashaus nicht mit Steinen zu werfen, haben DDR-Autoren kritisch zur Suizidrate im Deutschen Reich Stellung genommen – ohne dabei freilich auf die Entwicklung im eigenen Land einzugehen.41 Viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat auch die Geschichtsschreibung in der DDR den Anstieg der Selbstmordrate während der Großen Depression herangezogen, um damit zu beweisen, wie jämmerlich es im Kapitalismus aussieht, wenn die Geschäfte stagnieren. »Deutschland verwandelte sich [nach 1929] in ein Feld des Elends, der chronischen Unterernährung, der Perspektivlosigkeit für die Jugend, der Selbstmorde«, schrieb Wolfgang Ruge vom Ost-Berliner »Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften« 1974 in seiner offiziösen »Deutschen Geschichte«.42 Allerdings gab es in der Zwischenkriegszeit immer wieder aufsehenerregende Suizidfälle wie den berüchtigten »Schülerselbstmord« Paul Kranz, aber sie blieben doch Ausnahme.43 Das Dritte Reich Adolf Hitler, der seit 1933 als »Reichskanzler und Führer« Deutschland regierte, hat in seinen Reden und Schriften mehrmals den Suizid angesprochen und mit scharfen Worten die hohen Selbstmordzahlen im Deutschen Reich kritisiert. Nun sollte man nicht glauben, dass unter seiner Kanzlerschaft die Zahl der Selbstmorde in Deutschland abnahm, obwohl seit 1933 die Arbeitslosigkeit infolge der nun massiv einsetzenden Aufrüstung ziemlich rasch zurückging. Im Gegenteil, die Selbstmordrate stieg noch einmal etwas an, allen öffentlichen Jubels zum Trotz. Im Jahr 1933, als Adolf Hitler Reichskanzler wurde, nahmen sich in Deutschland 18 723 Menschen das Leben, die Selbstmordrate betrug 28,7. In den folgenden Jahren blieb die Zahl der Selbstmorde in Deutschland auf sehr hohem Niveau: Die Selbstmordrate lag in diesen Jahren – mit 28,3 – noch etwas höher als während der Großen Depression, also vor 1933.

401

402

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Nach Hitlers Machtantritt blieb diese Quote auf einem sehr hohen Niveau. Dabei vertraten die Nationalsozialisten mit Blick auf Gesundheit und Tod eine andere Einstellung als die liberale Weimarer Republik: Sie dachten nicht vom Individuum her, sondern von der Gemeinschaft, vom »Volk«, und sie gaben sich gern heroisch. Über Suizid äußerten sie sich meist herablassend: Heinrich Himmler, der sich wie so viele andere führende Nationalsozialisten im Frühjahr 1945 das Leben nahm, nannte die Gründe für Suizid meist »läppisch«. Sie mimten gern die starken Helden und verwarfen Selbstmord als feige; allein von den prominenten Nationalsozialisten nahmen sich bei Kriegsende oder im folgenden Jahr, also 1945 oder 1946, viele das Leben: Der Staatssekretär Herbert Backe, der Leiter der Parteikanzlei Martin Bormann, der Euthanasiebevollmächtigte Philipp Bouhler, Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti, Theodor Dannecker, der Historiker Walter Frank, Generaladmiral HansGeorg von Friedeburg, Kurt Gerstein, Odilo Globocnik, Richard Glücks, Hermann Göring, Joseph Goebbels, Robert von Greim, Konrad Henlein, Walther Hewel, Heinrich Himmler, Adolf Hitler (und seine Ehefrau Eva), der Führer der Deutschen Arbeitsfront (DAF) Robert Ley, der Nürnberger Oberbürgermeister Willy Liebel, General Walter Model, Bischof Ludwig Müller, Bernhard Rust, Josef Terboven, der Industrielle Albert Vögler und viele, viele namenlose Nazis. Sie nahmen sich das Leben, weil sie die Rache der Sieger fürchteten oder, wie Göring, um der Schande des Galgens zu entgehen. Während der Nazi-Diktatur erreichte die Suizidrate einen Höhepunkt, allerdings war sie in den sechs Jahren vor Beginn des Zweiten Weltkriegs auch nicht sehr viel höher als in den Jahren davor. Vor 1933 nahmen sich viele verzweifelte Arbeitslose das Leben, weil sie keine Zukunft für sich sahen; in den folgenden Jahren viele, die den Nazi-Terror erlebt hatten oder ihn fürchteten. Im Jahr 1936, als Hitler in freien Wahlen bestimmt eine Mehrheit auf sich vereinigt hätte44 und die Arbeitslosigkeit infolge der Aufrüstung bereits niedriger war als vor 1933, nahmen sich im Deutschen Reich nicht weniger als 19 288 Menschen das Leben. Es sieht so aus, als seien zu der großen Anzahl von »normalen« Selbstmorden auch noch etliche aus Verzweiflung über die politische Situation hinzugekommen.

»Angst wirft sich auf alles.«

Richtig ist, und nur scheinbar im Widerspruch zu dem oben Gesagten, dass die Zahl der Selbstmorde in normalen Zeiten nur wenig von den äußeren Ereignissen beeinflusst wird, dass aber in Krisenzeiten, wie etwa bei Kriegsende 1945, die äußeren Umstände durchaus von Gewicht sein können und diese geeignet sind, Menschen in den Tod zu treiben45: So war die Selbstmordrate in den ersten sechs Jahren des Dritten Reiches beständig hoch, und sie erreichte in Deutschland bei Kriegsende einen Höhepunkt. Nach der NSMachtübernahme 1933 nahmen sich viele politisch Verfolgte das Leben, weil der nationalsozialistische Terror gegen sie so grauenhaft war. In der Stadt Wien töteten sich in den Monaten Januar und Februar 1938, also wenige Wochen vor dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, insgesamt neun jüdische Bewohner; doch allein in der zweiten Märzhälfte 1938, also unmittelbar nach dem »Anschluss« an das Deutsche Reich, legten sage und schreibe 79 Juden Hand an sich. In Wien nahmen sich im Verlauf des Novemberpogroms am 9. November 1938 angeblich 680 Juden das Leben.46 Im Jahr 1938, im Jahr des »Anschlusses« und des Novemberpogroms, schluckten sehr viele Juden in Deutschland und Österreich eine tödliche Dosis Veronal. Wenn der Terror unerträgliche Formen annimmt, entscheiden sich erfahrungsgemäß mehr Menschen als in gewöhnlichen Zeiten für den Tod. Trotzdem darf man diese Tendenz nicht überschätzen, in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, wo Terror unverhüllt und gnadenlos regierte, geschah Suizid nicht häufiger als außerhalb. Wenn Menschen ständig in Todesangst und unter Aufsicht gehalten werden, hängen sie eher mehr als weniger am Leben.47 Der Dichter-Theologe Jochen Klepper (1903–1942) schied im Dezember 1942 zusammen mit seiner jüdischen Frau, unmittelbar vor deren Deportation, aus dem Leben; er hatte, das zeigen seine Tagebücher, schon lange mit dem Gedanken gespielt.48 Einige Tage nach dem »Anschluss« schrieb Klepper in seinen Tagebüchern unter dem 30. März 1938: »Aus der Goebbelsrede in Wien: Wenn man heute die Auslandspresse liest, so kommt man zu dem Eindruck, als ob sich in Wien täglich ein paar tausend Juden erhängen, erschießen oder vergiften. Es ist gar nicht an dem. Es sind in Wien augenblicklich nicht mehr Selbstmorde zu verzeichnen als früher, nur mit dem

403

404

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Unterschied: Früher haben sich nur Deutsche erschossen, und jetzt sind auch Juden darunter.«49 Stunden vor seinem Freitod schrieb der Theologe Klepper in sein Tagebuch: »Wir sterben nun  – ach, auch das steht bei Gott, wir gehen heute nacht gemeinsam in den Tod«, lautet sein letzter Eintrag. »Christus, der um uns ringt, in dessen Anblick endet unser Leben.«50 Die deutschen Juden waren schon als Großstädter besonders gefährdet, denn die Selbstmordrate lag unter Großstädtern höher als unter Landbewohnern, unter Protestanten höher als unter Katholiken; deutlich höher war sie unter deutschen Juden: Sie lag 1924/26 unter Berliner Juden bereits bei 50,4, in den Jahren 1932/34, als Hitler in die Reichskanzlei einzog und seine Anhänger die jüdische Bevölkerung und andere terrorisierten, aber bei 70,2.51 Der Selbstmörder Hitler Seit Januar 1933 wurde Deutschland von einem Selbst- und Massenmörder regiert, der mehr als einmal seinen Selbstmord öffentlich ankündigte und ihn am Ende auch vollzog. Schon im November 1923, anlässlich des gescheiterten Putsches in München, soll Hitler nur mit Mühe davon abgehalten worden sein, sich das Leben zu nehmen.52 Am Tag des deutschen Angriffs auf Polen, am 1. September 1939, sagte Hitler vor den Abgeordneten des Deutschen Reichstags in der ihm eigenen pathetischen Art: »Ich habe damit wieder jenen Rock angezogen, der mir einst selbst der heiligste und teuerste war. Ich werde ihn nur ausziehen nach dem Sieg, oder ich werde dieses Ende nicht erleben.«53 Der Kunstmäzen, Kosmopolit und Literat Harry Graf Kessler, der Tag für Tag mit bedeutenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zusammenkam, zitiert in seinem Tagebuch, unter dem 6.  Juli 1933, was ihm Hermann Graf Keyserling, ein deutschbaltischer Schriftsteller, anvertraut hatte: Er, Keyserling, habe Hitler, »genau studiert«, berichtete er, Hitler sei nach Keyserlings Einschätzung »nach Handschrift und Physiognomie ein ausgesprochener Selbstmördertyp, jemand, der den Tod suche, und verkörpere damit einen Grundzug des deutschen Volkes, das immer in den Tod verliebt gewesen sei und dessen immer wiederkeh-

»Angst wirft sich auf alles.«

rendes Grunderlebnis die Nibelungennot sei«. Hitler »erfülle damit ihre tiefste Sehnsucht«, so fährt Kessler fort, sich auf Keyserling stützend. »Franzosen oder Engländer wollten siegen, die Deutschen wollten immer nur sterben«. Eine ähnliche Charakterisierung gab auch der Jurist und Journalist Sebastian Haffner, Emigrant in England. Er erwähnt Hitlers Neigung zum Vabanquespiel und zum Selbstmord. »Er besitzt genau den Mut und die Feigheit für einen Selbstmord aus Verzweiflung«, schreibt er. »Außerdem verdeutlicht diese Äußerung [er, d. h. Hitler, werde innerhalb von Minuten »mit der Pistole Schluß machen«, wenn die Partei einmal zerfalle], wie sehr er Hasardspiele mit hohen Einsätzen liebte. Hitler ist der potentielle Selbstmörder par excellence. Er hat keine Bindung außer an sein Ego.«54 In den Jahren vor 1933 nahmen sich viele Arbeitslose aus Verzweiflung das Leben, danach viele aus Angst vor dem NS-Terror. In den KZs wurden Menschen getötet  – und ihr Tod als Selbstmord ausgegeben, sie hätten sich »geselbstmordet«, hieß es zynisch. Bis 1939 blieb die Zahl der Suizide hoch, dann sank sie, wie dies in Kriegszeiten üblich ist. In ›normalen‹ Zeiten wird die Zahl der Selbstmorde nur wenig von den äußeren Ereignissen beeinflusst, aber in politischen Krisenzeiten können die äußeren Belange durchaus von Gewicht sein und zusätzlich Menschen in den Freitod treiben: So erreichte während der Nazi-Diktatur bei Kriegsende 1945 die Selbstmordrate in Deutschland einen Höhepunkt, wobei man für den starken Zuwachs zusätzlich auch diese äußeren Gründe mitverantwortlich machen muss. Nach der NS-Machtübernahme schieden viele Verfolgte freiwillig aus dem Leben, weil der Terror der Nationalsozialisten für sie unerträglich war.55 Anlässlich der Deportationen suchten vor allem viele Juden den Tod:56 1941 waren 18,1 Prozent aller Berliner Selbstmörder Juden, nach Beginn der Deportationen (1941/42) waren es 40 Prozent.57 Nach Kriegsausbruch 1939 nahm die Zahl der Selbstmorde im Deutschen Reich wieder ab. Während des Krieges, vor allem infolge der Deportationen der jüdischen Bevölkerung, aber auch nach schweren Bombardements, verzweifelten viele Deutsche am Leben. Nicht selten töteten Eltern ihre Kinder und dann sich selbst.

405

406

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Selbstmord im Frühjahr 1945 In den letzten Kriegswochen gab es eine wahre Selbstmordwelle, und es waren nicht nur prominente Nationalsozialisten, die jetzt Hand an sich legten. »Viele Selbstmorde geschahen im direkten Zusammenhang mit der näher rückenden Front und gingen den massenhaften Selbstmorden der NS-Elite voraus«, schreibt der Historiker Christian Goeschel. In der Reichshauptstadt brachten sich im April 1945 sage und schreibe 3881 Menschen um, also 242,7 von je 100 000 Einwohner.58 Eine große Selbstmordwelle – bislang nur sehr selten erwähnt – überrollte Deutschland im Frühjahr 1945, vor allem den deutschen Osten. Deutlich wird auch der Zusammenhang mit Vergewaltigungen: In den Regionen im Nordosten des Reiches, wo 1945 die Rote Armee einzog, verübten viele Frauen  – sehr oft unmittelbar nach einer Vergewaltigung – Suizid. »Vermutlich starben über 10 000 Berliner Frauen an den Folgen ihrer Vergewaltigung, oft auch durch Selbstmord«, schreibt Goeschel.59 Die genaue Anzahl der Vergewaltigungen ist nicht zu ermitteln. »Zahlen, die bis heute im Raum stehen, wie die von angeblich zwei Millionen durch Rotarmisten vergewaltigten Frauen und Mädchen  – allein 1,4 Millionen in den Ostgebieten – oder Zahlen über Vergewaltigungsopfer in Berlin, die schon durch ihre zwischen 100 000 und 800 000 angesiedelte Schätzbreite den Grad ihrer Verlässlichkeit verraten, sind durch nichts und niemanden überprüfbar«, schreibt der Militärhistoriker Manfred Zeidler.60 Hermann Glaser schreibt, dass zwischen Frühjahr und Herbst 1945 »mindestens 110 000 der in Berlin lebenden 1,4 Millionen Mädchen und Frauen von Rotarmisten vergewaltigt« wurden, er stützt sich dabei auf Recherchen von Helga Sander und Barbara Johr.61 Man muss natürlich auch sehen, dass gerade in diesem Jahr 1945 alles drunter und drüber ging, folglich fehlen den Behörden die Unterlagen über die Anzahl der verübten Selbstmorde. Es waren jedoch unzählige – aus Angst vor der Rache der Siegermächte, oder weil das Leben ohne den »Führer« keinen Sinn mehr für sie hatte oder sie wollten oder konnten in einer Welt ohne Nationalsozialismus nicht mehr leben. Auch bei Deutschlands Verbündetem Japan gab es 1945 eine große Anzahl von Selbstmorden,

»Angst wirft sich auf alles.«

wohl nicht aus Angst vor den Siegermächten, sondern vor der vermeintlichen Schande, also der militärischen Niederlage wegen. In Japan gibt es seit langer Zeit eine ritualisierte Form des Selbstmords, Seppuku.62 Selbstmord in zwei deutschen Staaten Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in den 1950er- und 1960erJahren, ging es in Deutschland wirtschaftlich aufwärts, und die Deutschen fanden rasch zurück zur »Normalität«, auch in puncto Suizid. Die Suizidrate war in den 1960er-Jahren wieder auf ihrer alten Höhe, etwas über 21, den Wert der Zwischenkriegszeit und der Jahre vor 1914.63 In der alten Bundesrepublik erreichte die absolute Zahl von Selbsttötungen 1977, im Jahr der Suizide von Stammheim, ihren Höhepunkt: In diesem Jahr nahmen sich in Westdeutschland bei einer Einwohnerzahl von 62 Millionen 13 926 Menschen das Leben. Zählt man die Suizidopfer der DDR dazu, könnten es in Deutschland in diesem einen Jahr an die 19 000 Fälle von Selbstmord gegeben haben. Die Neigung, seinem Leben selbst ein Ende zu machen, war bei den Deutschen im anderen Teil Deutschlands nach Gründung eines zweiten deutschen Staates 1949 noch stärker ausgeprägt als im Westen. Sie war in der Deutschen Demokratischen Republik so hoch, dass die Regierung der DDR nach 1967 aufhörte, diese Zahlen in das »Statistische Jahrbuch für die Deutsche Demokratische Republik« aufzunehmen und zu veröffentlichen. Neuere Forschungen haben nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten gezeigt, dass die Selbstmordrate in der DDR außerordentlich hoch war, so hoch wie in Deutschland unter Hitler, also über 28,0 (bezogen auf 100 000 Einwohner), und nach dem Bau der Mauer, August 1961, soll sie sogar auf über 35 gestiegen sein.64 Nun sollte man allerdings nicht übersehen, dass die DDR zu rund neunzig Prozent protestantisch – oder besser wohl: ungläubig – war, und dass die Protestanten eine höhere Selbstmordrate aufweisen als die Katholiken,65 die Bundesrepublik hingegen in ihrer Konfessionsverteilung ziemlich ausgewogen war. Alleine deswegen wäre im Osten Deutschlands

407

408

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

schon mit einer größeren Anzahl von Freitodfällen zu rechnen. In der Deutschen Demokratischen Republik gab es in einzelnen Jahren mehr als fünftausend oder sechstausend Fälle von Selbstmord pro Jahr.66 Was war der Grund für diese vielen Selbsttötungen? Der Autor einer neuen Studie, Udo Grashoff, Historiker und Biochemiker, weist mit Recht darauf hin, dass schon im 19. Jahrhundert die Suizidrate in den protestantischen Industriegebieten und den großen Städten höher war als in ländlichen Räumen. Schon um das Jahr 1900 lag die Selbstmordrate in Sachsen bei 33,2. In der Deutschen Demokratischen Republik gab es in einzelnen Jahren, wie wir erst seit Kurzem wissen, mehr als 5000 Selbsttötungen pro Jahr, bei einer Einwohnerzahl von knapp 17 Millionen. Sie war unter Geschiedenen höher als unter Verheirateten, unter areligiösen höher als unter gläubigen Personen – und die DDR hatte eine hohe Scheidungsrate und einen sehr hohen Anteil von protestantischen und areligiösen Bürgern. Grashoff schreibt, »die sehr hohe Selbsttötungshäufigkeit in der DDR ist im Großen und Ganzen nicht auf politische oder ökonomische Rahmenbedingungen rückführbar, vielmehr muss sie angesehen werden als Ausdruck langfristig relativ stabiler mentaler Prägungen sowie als Folge der durch unterschiedliche Konfessionen geprägten Milieus«.67 Dies erscheint durchaus plausibel; allerdings muss man auch ergänzen, dass die Suizidrate unter westdeutschen Lutheranern längst nicht so hoch ist wie unter ostdeutschen. Aber es gibt in allen Nationen in normalen Zeiten eine bestimmte Anzahl von Selbsttötungen, die in Not- und Krisenzeiten etwas ansteigt, aber nur selten sehr stark, wie sie auch in wirtschaftlich guDie Staatliche Zentralverwaltung für Statistik in der Hans-Beimler-Straße zählt alles, weiß alles. Wie viele Schuhe ich pro Jahr kaufe (2,3) wie viele Bücher ich im Jahr lese (3,2) und wie viele Schüler jedes Jahr mit 1,0 ihr Abitur machen (6347). Aber eine zählbare Sache wird dort nicht erfaßt, vielleicht, weil solche Zahlen selbst Bürokraten wehtun, und das ist der Freitod. […] 1977 hörte unser Land auf, Selbstmörder zu zählen. […] Als wir vor neun Jahren aufhörten, gab es nur ein Land in Europa, das mehr Menschen in den Freitod trieb (Ungarn). Danach kamen gleich wir, danach kam das Land des real existierenden Sozialismus.« Das Leben der Anderen

»Angst wirft sich auf alles.«

ten Zeiten selten stark abnimmt – sie kann in dieser Zeit aber auch steigen. Bereits vor 1949 war die Suizidrate in Sachsen und Thüringen hoch. Ähnlich lautete übrigens auch die offizielle Erklärung der DDR-Obrigkeit. Außerdem wiesen sie gern auf die große Anzahl von Obduktionen in der DDR hin und auf eine möglicherweise sehr hohe Dunkelziffer in Westdeutschland, wo anteilmäßig weniger Leichen seziert wurden. Der Rückgang Nach 1977 war eine erstaunliche Entwicklung in Westdeutschland zu beobachten: die Selbstmordrate fiel von Jahr zu Jahr. Warum ist die Zahl der Selbstmorde seit den späten 1970er-Jahren so stark gefallen? Wenn wirtschaftlicher Wohlstand die Selbstmordzahlen senken würde – und das glauben viele –, dann hätte die Selbstmordrate schon in den Jahren vor 1977 deutlich fallen müssen, denn in diesen Jahren mit einer überschäumenden Konjunktur ging es in beiden deutschen Staaten wirtschaftlich aufwärts. Der Suizid zeigte aber genau denselben Trend, er nahm zu. Die Suizidrate stand 1977 in der alten Bundesrepublik bei 22,7, heute liegt sie im wiedervereinigten Deutschland bei 12,4 – das ist ein Rückgang um weit mehr als vierzig Prozent in dreißig Jahren. Dieser Trend ist heute auch in den neuen Bundesländern zu beobachten, wenngleich diese Rate im Osten noch immer höher ist als im Westen. Diese Entwicklung ist erstaunlich, denn das Ansteigen der besonders gefährdeten Personenkreise würde vielmehr das Gegenteil erwarten lassen. Die Risikogruppen und -faktoren nehmen eigentlich Jahr für Jahr zu: 1.  Die deutsche Bevölkerung altert ziemlich schnell, heute sind 85 Prozent der Deutschen älter als 15 (1910: 66) und mehr als 18 Prozent gar über 65 Jahre alt (1910: 5 Prozent), und es sind vorwiegend ältere Menschen, die sich das Leben nehmen; die Selbstmordrate ist bei ihnen um ein Vielfaches höher als bei den Jungen, sie liegt bei manchen Altersgruppen über 100 (je 100 000 Einwohner). Außerdem hat, mit dem Ergrauen der Deutschen, auch der Anteil der Männer abgenommen, und Männer stellen fast drei von vier Selbstmördern (2005: 7523 Männer, 2737  Frauen). 2.  Die

409

410

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Arbeitslosigkeit stieg seit den späten 1970er-Jahren an, sie ist auch heute noch weit höher als in den 1970er-Jahren; und die Selbstmordrate der Arbeitlosen ist höher als der Durchschnitt.68 3. Die religiöse Gleichgültigkeit nimmt zu, und es sind mehr areligiöse Menschen, die sich das Leben nehmen. 4. Die Zahl der Eheschließungen ist rückläufig, und auch unverheiratete Personen begehen häufiger Suizid als Verheiratete.69 5. Drogen- und Alkoholkonsum sind gleichfalls angestiegen, und auch diese Abhängigen haben eine relativ hohe Suizidrate. Wie kam es zu diesem Rückgang? Haben vielleicht die Erwärmung und die Länge der Sonnenscheindauer beigetragen, die Suizidhäufigkeit zu drosseln? Immerhin weiß man ja, dass viel Sonnenschein und Licht Depressionen hemmen, Düsternis hingegen Depressionen begünstigt. Doch das kann die Erklärung nicht sein, denn unsere Nachbarländer zeigen diese Erscheinung durchaus nicht: In den an Deutschland angrenzenden Ländern mit hohen Selbstmordraten hat sich diese seit den 1970-er Jahren weniger stark verändert als bei uns, in einigen ist sie gestiegen, in anderen gefallen. Wenn der Hinweis auf die globale Erwärmung oder die Zunahme der Sonnenscheindauer als Erklärung zutreffend wäre, dann sollten alle europäischen Nationen diese Erscheinung zeigen. Für die Mehrzahl von ihnen trifft dies aber nicht zu, in einigen Ländern hat die Selbstmordrate in diesen Jahren sogar noch zugenommen (z. B. Belgien, 1973: 14,9; 1990/95: 19,7). Ein deutlicher Rückgang zeigte sich neben Deutschland vor allem in Österreich (1981:  27,1; 1990/95: 22,6), in Dänemark (1976: 23,9; 1990/95: 17,7) und Schweden (1974: 20,0; 1990/95: 15,9), nicht jedoch in Norwegen (1975: 9,9; 1990/95: 12,6). Er zeigt sich auch in den reformfähigen der vormals kommunistischen Staaten, z. B. in Ungarn (von über 45 auf 1990/95: 33,6). In der Tschechischen Republik ist er weniger leicht zu erkennen, denn die Selbstmordrate war dort vor allem im industriell höher entwickelten westlichen Landesteil hoch, der heute als Tschechische Republik besteht (CSSR 1975: 21,9; Tschechische Rep. 1990/95: 17,2). In Russland hat die Zahl der Selbstmorde in den letzten Jahren stark zugenommen. Wer ist am anfälligsten dafür, seinem Leben selbst ein Ende zu machen? Am ehesten ein Mensch, der bereits einmal in psychiatri-

»Angst wirft sich auf alles.«

scher Behandlung war. Wenn man nur ein Kriterium nennen darf, ist dies das wichtigste. Sehr viele Selbsttötungen, die meisten vielleicht, sind rational nicht zu erklären, sie geschehen unabhängig von äußeren Zwängen. Aber es gibt auch Fälle von Suizid, die von außen angestoßen wurden. Wenn in einer Nation wie der deutschen die erstgenannte Kategorie hoch ist und von außen überdies noch ein Motiv vorgegeben wird, äußere Not zum Beispiel, dann steigt die Rate noch mehr an. Die Zahl der Selbsttötungen ist in Deutschland seit 1977 um fast fünfzig Prozent gefallen. Die Gründe dafür sind nicht leicht zu nennen: Die DDR hatte sehr hohe Suizidraten, nach ihrem Ende (1989/90) nahmen sie stark ab, das ist ein Grund. Deutschland hatte innerhalb Europas lange Zeit relativ hohe Suizidraten, daher versucht man neuerdings, durch gründliche Erforschung sämtlicher Suizidversuche mehr über die Ursachen zu erfahren, um besser vorbeugen zu können; die Zahl der Versuche ist um ein Vielfaches höher als die der tatsächlichen Selbsttötungen. Außerdem: Man geht heute mit verschreibungspflichtigen Substanzen, die in der Vergangenheit häufig als Gifte geschluckt wurden, viel sorgfältiger um. Es gibt heute in Deutschland mehr Ärzte und sie sind heute besser geschult, hinter vermeintlich somatischen Beschwerden den wirklichen Grund eines Arztbesuchs zu erkennen – und viele suizidgefährdete Personen suchen in den Wochen vor einem Suizidversuch einen Arzt auf. Die psychologische und psychotherapeutische Betreuung von Suizidgefährdeten hat große Fortschritte gemacht. Ferner: Deutschland hat auch eine alte Tradition im Umgang mit Psychopharmaka, was gleichfalls geholfen haben könnte, denn es gibt heute viele wirkkräftige Medikamente. Außerdem: Giftige Substanzen, wie das berüchtigte Pflanzenschutzmittel »E 605«, das in den 1950er-Jahren im Handel leicht erhältlich war – und von nicht wenigen Selbstmördern geschluckt wurde –, sind heute nicht mehr erhältlich. Andere Gifte wurden in ihrer toxischen Wirkung gedrosselt, sie wirken jetzt nicht mehr tödlich. Außerdem besteht seit einigen Jahren eine freiwillige ethische Verpflichtung der Presse, Suizidfälle in den Medien nicht auszubreiten, denn suizidgefährdete Personen fühlen sich leicht versucht, Suizide anderer nachzuahmen. Das könnte sogar ein wichtiger Grund

411

412

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

sein, warum sich in einzelnen Familien die Anzahl von Selbsttötungen häuft, wobei nicht gesichert ist, ob es sich dabei um Nachahmung handelt oder um erbliche Probleme. Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein hatte vier Brüder, von denen sich drei das Leben nahmen.70 Und von den drei Söhnen Thomas Manns waren es zwei, Klaus71 und Michael, die beide mit Suizid endeten. Auch unter den Geschwistern von Thomas Mann gab es wenigstens einen Fall von Suizid. Es ist auch richtig, dass in Deutschland in den letzten Jahren sehr viel mehr Leichen als in der Vergangenheit ungeöffnet blieben, und vielleicht hat auch die Sorgfalt der Leichenschau nachgelassen.72 Das wäre denkbar, würde allerdings nicht diese gewaltige Abnahme erklären. Die Abnahme der Selbstmordrate in Westdeutschland nach 1977 äußerte sich in absoluten wie in relativen Zahlen; sie ist seither fast ständig rückläufig gewesen. 1989 lag die Selbstmordrate in der Bundesrepublik Deutschland bei 17, im Jahr darauf nahmen sich im westlichen Teil Deutschlands weniger als 10 000 Menschen das Leben, nämlich 9995. In der Deutschen Demokratischen Republik lag die Selbstmordrate jetzt bei 26, im Gesamtgebiet bei 18. Bis 1992 war die Quote im wiedervereinigten Deutschland auf rund 17 gesunken  – 16 in Westdeutschland und 21 im Anschlussgebiet. Bis 1995 war diese Quote für die neue Bundesrepublik auf 16 gefallen: In den neuen Bundesländern lag sie jetzt bei 19, in den alten bei 15. Bis zum Jahr 2000 reduzierte sich diese Quote für die wiedervereinigte Bundesrepublik auf 13,5 bei 11 065 Freitodfällen. Dabei waren es immer mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen, die sich das Leben nehmen. Zugleich ist auch daran zu erinnern, dass natürlich die Zahl der Selbstmorde noch immer sehr viel größer ist als die Zahl der Morde. Warum gehen Menschen freiwillig in den Tod?73 Von den Männern nannten vor Jahren 5,7 Prozent und von den Frauen nur 1,6 Prozent wirtschaftliche Gründe; hingegen nannten beide Geschlechter in mehr als drei Viertel aller Fälle Folgendes: »Unheilbare Krankheit, Schwermut, Nervenleiden« (Männer: 64,5 Prozent, Frauen: 80,9 Prozent) oder langfristige Streitigkeiten in der Familie (Männer: 11,5 Prozent; Frauen: 7,1 Prozent).74 Eine große Rolle

»Angst wirft sich auf alles.«

spielt auch der Alkoholkonsum.75 Nicht selten verbergen sich jedoch hinter den scheinbar plausiblen Gründen akute psychiatrische Krankheitsbilder.76 »Ein selbstgewählter Tod hat immer etwas Schauerliches«, schrieb Adalbert Stifter (1805–1868), der sich aus Angst vor der seinerzeit grassierenden Cholera die Kehle mit einem Rasiermesser durchschnitt. Aber offenbar liest man Schauerliches gern – »Selbstmordrate sinkt« ist hierzulande selten eine Meldung wert. Was also ist der Grund des starken Rückgangs in Deutschland? Worin ist Deutschland einzigartig? In der Wiedervereinigung der beiden Landsteile nach mehr als vierzig Jahren der politischen Spaltung? Aber die Suizide begannen in Westdeutschland  – nicht im Osten – bereits sehr viel früher zu sinken, schon 1977, als noch niemand ernstlich an eine Wiedervereinigung dachte. Trotzdem scheint der starke Rückgang der Selbstmordzahlen in ganz Deutschland auch damit zu tun zu haben, dass im Osten der Kommunismus ein Ende nahm, auf jeden Fall war auch der Rückgang auf dem Gebiet der früheren DDR sehr stark. Denkbar wäre auch, dass die psychologische Betreuung und vor allem die Suizidprävention hierzulande – und in einigen skandinavischen Ländern – besser ist als anderswo. In Deutschland blickt man gewöhnlich kritisch auf den nervlichen Zustand der Deutschen, es ist heute so viel von »Burn-out« die Rede. »Steigt die gesellschaftliche Nervosität tatsächlich so dramatisch, wie uns manchmal eingeredet wird?«, fragt der Historiker Wolfrum. »Ein Blick auf die großen Nachbarn in Europa, auf Frankreich, England oder Italien, verdeutlicht doch: Die heutigen Deutschen sind nicht hysterischer als die Menschen in den europäischen Nachbarstaaten. Aber es existiert in Deutschland ein Hang zur Schwermut und zum Pessimismus.«77

1 2 3

Diese Angaben können leicht den jeweiligen Statistischen Jahrbüchern für die Bundesrepublik Deutschland entnommen werden; die absolute Zahl und die Suizidrate findet man im Register unter »Todesursachen«. Vgl. J.-C. Schmitt, Le Suicide au Moyen Age, in: Annales ESC 31 (1976), S. 3–28. Clemens Amelunxen, Der Selbstmord, Hamburg 1962, S.  33. Siehe auch Jürgen Dieselhorst, Die Bestrafung der Selbstmörder im Territorium der

413

414

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

4

5

6

7 8 9

10 11 12 13 14 15

16

Reichsstadt Nürnberg, in: MVGN 44 (1953), S. 58–230, hier S. 99 f. Dazu ausführlich Vera Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts 146), Göttingen 1999. So z. B. David Hume, On Suicide, 1757, in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Roger Willemsen (Hg.), Der Selbstmord. In Berichten, Manifest, in Dokumenten und literarischen Zeugnissen, Köln 1986, S. 96–109. – Siehe dazu Wolfgang Buhl, Der Selbstmord im deutschen Drama. Vom Mittelalter bis zur Romantik, Diss. phil. Erlangen 1950. Von der zunehmenden Zahl der Selbstmorde in London im 18. Jahrhundert wusste bereits Johann Peter Süssmilch zu berichten. Dazu ders., Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, Bd. 1, 1741, S. 542. Selbst in einer protestantischen Großstadt wie Königsberg in Preußen traf dies zu. Vgl. Curt Goroncy, Der Selbstmord in Königsberg i. Pr., in: Vierteljahresschriften für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen III, Folge 621 (1921), S. 239–275. Siehe auch Leopold Krug / A. A. Mützell, Neues topographisch-statistisch-geographisches Wörterbuch des preußischen Staates, Bd. 6, Halle 1825, S. 2–10; Wilhelm Stricker, Der Selbstmord in Frankfurt a. M. in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin 33 (1865), S. 175–177. Hermann Anton Krose, Der Selbstmord im 19. Jahrhundert, nach seiner Verteilung auf Staaten und Verwaltungsbezirke (Stimmen aus Maria Laach, Ergänzungsheft 90), Freiburg i. Br. 1906, S. 92. Émile Durkheim, Der Selbstmord, Frankfurt a. M. 1973, S.  142, vgl. ebd., S. 297. Siehe auch die Karte »Häufigkeit der Selbstmorde« bei Krose, Selbstmord (wie Anm. 7). Dr. Robert Beichhold, Medicinische Topographie und Ethnographie des Physicatsbezirks Rothenburg o. d. T. (1861), in: Alt Rothenburg. Jahrbuch des Vereins Alt-Rothenburg zum hundertjährigen Jubiläum, hg. vom Verlag des Vereins Alt-Rothenburg, Rothenburg 1998, S. 203–264, hier S. 231, 260. Errechnet nach den Angaben in Ditmar Petzina / Werner Abelshauser / Anselm Faust, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945, München 1978, S. 28. Statistisches Jahrbuch der Stadt Nürnberg 1, Nürnberg 1910, S. 43. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1920, S. 275 und ebd. für 1923, S.  10* (=Internationale Übersichten). Im Kriegsjahr 1916 nahmen sich im Deutschen Reich 6313 Menschen das Leben, 1917 etwas weniger, 5572. Statistisches Jahrbuch 1924/25, S. 45, 49. Ebd. Derek H.  Aldcroft, Die zwanziger Jahre. Von Versailles zur Wall Street, 1919–1929 (Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert 3), München 1978, S. 27. Vgl. Peter Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984, S. 68. Dazu ausführlich Manfred Vasold, Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009.

»Angst wirft sich auf alles.« 17 Vgl. Jacques Dupâquier, Die Trendwende in der Geschichte der französischen Bevölkerung 1750–1850, in: Helmut Berding u. a. (Hg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1989, S. 42–58, hier S. 53. 18 So nahmen sich in einzelnen Jahren  – z. B. 1975, 1987, 1988  – in der DDR von der männlichen Bevölkerung zwischen 70 und 75 Jahren 116,3 von 100 000 Einwohnern das Leben. Noch höher  – über 200  – lag die Quote bei den 80jährigen. Siehe Waltraudt Casper, Institut für Medizinische Statistik und Datenverarbeitung Berlin. Information 6/90. Selbstmordstatistik in der DDR 1961–1988. In der Bundesrepublik Deutschland verübten z. B. 1995 von den 85–90jährigen mehr als 100 von 100 000 Suizid. Siehe Sterbefälle durch Selbstmord und Selbstbeschädigung. Statistisches Bundesamt VII D–M. 19 Nürnbergs Entwicklung in den letzten 25 Jahren. Mitteilung des Statistischen Amtes der Stadt Nürnberg, Heft 11, Nürnberg 1928, S. 22. 20 Errechnet nach den Angaben in Petzina / Abelshauser / Faust, Arbeitsbuch (wie Anm. 10), München 1978, S. 28. 21 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 1970, S. 229. 22 Statistisches Jahrbuch für 1926, S. 37. Auch die folgenden Zahlen nach dem jeweiligen Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich. 23 Petzina / Abelshauser / Faust, Arbeitsbuch (wie Anm. 10), S. 31. 24 Thomas Nipperdey, Luther und die moderne Welt, in: Ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 1986, S. 31–43, hier S. 43. 25 Vgl. Durkheim, Selbstmord (wie Anm. 8), S. 165 Tab. 8. 26 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit [1931/32], Berlin/New York 51978, S. 55 f. 27 Abgedruckt in: Giornale degli Economisti, Rom 1897. 28 Wolfgang Stäbler, Weltwirtschaftskrise und Provinz. Studien zum wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel im Osten Altbayerns 1928 bis 1933 (Münchner Historische Studien. Abteilung Bayerische Geschichte, hg. von Andreas Kraus), Kallmünz 1992, S. 186. 29 Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, hg. von G. Hohorst u. a., München 21978, S. 29 f. 30 Siehe Thomas Bryant, Friedrich Burgdörfer (1890–1967). Eine diskursbiographische Studie zur deutschen Demographie im 20. Jahrhundert (Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 32), Stuttgart 2010. 31 Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928. Eingeleitet und kommentiert von Gerhard L. Weinberg. Mit einem Geleitwort von Hans Rothfels, Stuttgart 1961, S. 202 f. 32 Wilhelm Treue (Hg.), Deutschland in der Weltwirtschaftskrise in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1967, Ndr. München 1976, S. 12 f. 33 Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a. M./Berlin 1973, S. 379. 34 Gotthard Jasper, Die gescheiterte Zähmung, Frankfurt a. M. 1986, S. 77. 35 Fritz Blaich, Der Schwarze Freitag, München 1985, S. 74. 36 Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982, S. 360.

415

416

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 37 John Kenneth Galbraith, The Great Crash 1929, Harmondsworth 1961, S. 148 f. 38 »Die germanischen Völker haben eine größere Neigung zum Selbstmord als die Slaven und Romanen«, schreibt der Medizinhistoriker Friedrich Prinzing, Handbuch der medizinischen Statistik, Jena 1906, S.  401. Siehe auch P. Sainsbury / B. Barraclough, Differences between Suicide Rates, in: Nature 220 (1968), S.  1252.  – Nicht nur die Selbstmordquote, auch die Zahl der Morde und die Relation zwischen Mord und Suizid ist von Nation zu Nation sehr unterschiedlich. Das amerikanische Jahrbuch Statistical Abstracts of the USA, Washington 1976, S. 159, nennt für 1973 für folgende Nationen (nur auf männliche Einwohner bezogen) folgende Zahlen: USA 15,5 Morde, 17,5 Selbstmorde. Österreich 1,7 Morde, 33,3 Selbstmorde. Dänemark 0,9 Morde, 30,2 Selbstmorde. Bundesrepublik Deutschland 1,5 Morde, 26,3 Selbstmorde. In der Bundesrepublik Deutschland stand die Zahl der Morde je 100 000 Einwohner zuletzt bei 0,9. (FAZ v. 30.5.2014.) 39 Diese fünfährigen Durchschnittswerte wurden ermittelt nach den Angaben über Selbstmord in den Statistischen Jahrbüchern für das Deutsche Reich. 40 Siehe Nicola Sigmund-Schultze, Die Scheu bei der Leichenschau. Warum so viele Todesfälle falsch beurteilt werden (SZ vom 27.5.1997). 41 Die DDR-Autorin Renate Schumacher, Japan. Liebe auf den zweiten Blick, Berlin-Ost 1989, S. 83: »Japan hat laut einer Statistik der Weltgesundheitsbehörde von 1981/82 die höchste Selbstmordrate alter Frauen in der Welt. (35,5 Fälle auf 100 000 Frauen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren, es folgen die BRD mit 27,1 und Frankreich mit 21,8, Schweden mit 14,5 und England mit 13,3 Suiziden.« Für die DDR nennt die Autorin keine Zahlen sie wurden bei Erscheinen ihres Buches nicht mehr in den Statistischen Jahrbüchern der DDR veröffentlicht. 42 Wolfgang Ruge, Deutschland von 1917 bis 1933, Berlin (Ost) 1974, S. 344. 43 Siehe Erich Frey, Ich beantrage Freispruch. Aus den Erinnerungen eines Strafverteidigers, Hamburg 1960, S. 269–384. 44 Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 43. Vgl. Hellmuth Auerbach, Führungspersonen und Weltanschauungen des Nationalsozialismus, in: Martin Broszat / Horst Möller (Hg.), Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, München 1983, S. 127–151, hier S. 150. 45 Der englische Sozialhistoriker Peter Laslett, Verlorene Lebenswelten. Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1991, S. 207, überschätzt m. E. die Suizidrate, wenn er schreibt: »Wie das auch heute noch viele Historiker tun, hat die Soziologie seit Émile Durkheim uneheliche Geburten und voreheliche Schwangerschaften häufig mit sozialen Auflösungserscheinungen in Zusammenhang gebracht. Man darf aber nicht übersehen, daß die Selbstmordrate oft als viel deutlicherer Indikator angesehen wurde.« 46 Peter Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989, S. 236. 47 Vgl. Thomas Bronisch, Suizidalität unter Extrembelastungen, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 63 (1995), S. 139–148.

»Angst wirft sich auf alles.« 48 Jochen Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern 1932–1942, hg. von Hildegard Klepper, Stuttgart 1956, S. 572, 680, 689, 704, 734, 738. 49 Ebd., S. 572. 50 Ebd., S. 1133. 51 Christian Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich, Berlin 2011, S. 155. 52 Angeblich war Hitler nach dem missglückten Putschversuch 1923 »völlig demoralisiert und nur mit Mühe vom Selbstmord abzuhalten«, schreibt Karlheinz Weißmann, Der Nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung 1890–1933, München 1998, S. 234. 53 Zit. nach Erhard Klöss (Hg.), Reden des Führers, Politik und Propaganda Adolf Hitlers 1922–1945, München 1967, S. 215. In Hitlers engster Umgebung gab es einen aufsehenerregenden Suizid, als sich seine Nichte Geli Raubal im Alter von 23 Jahren Mitte Oktober 1931 in Hitlers Wohnung das Leben nahm. Siehe Ian Kershaw, Hitler 1889–1936, Stuttgart 1998, Bd. 1, S. 251, 443–447. 54 Sebastian Haffner, Germany: Jekyll & Hyde. 1939 – Deutschland von innen betrachtet [1940], Berlin 1996, S. 21 f. 55 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 1998, S. 261. 56 Unter dem 30. Januar 1942 schreibt Klepper, Schatten (wie Anm. 48), S. 1032: »Bei Todesfällen müssen sie [d. h. die Juden] auf die Bestattung in Berlin eineinhalb Wochen warten: Überlastung durch die zwanzig bis dreißig täglichen jüdischen Selbstmorde.« 57 Goeschel, Selbstmord (wie Anm. 51), S. 168. 58 Ebd., S. 246. 59 Ebd., S. 243. 60 Manfred Zeidler, Die Rote Armee auf Deutschem Boden, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 10/1, München 2008, S. 681–775, hier S. 774 f. 61 Hermann Glaser, Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 1997, S. 40. 62 Siehe Helmut Erlinghagen, Japan. Ein deutscher Japaner über die Japaner, München 1974, S. 352–356. 63 Für die Jahre 1957/59 gibt Amelunxen, Selbstmord (wie Anm. 3), S. 46, folgende Zahlen an: Bundesrepublik Deutschland 19, DDR 33, Dänemark 22, Japan 25, Österreich 23, Schweiz 22, Ungarn 24. Im Jahr 1967 stand die Suizidrate in der Bundesrepublik bei 21,3. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland für 1967, S. 66. 64 Siehe NN, Die Zahl der Suizide steigt alarmierend an, in: SZ v. 26.11.1989; NN, Nach dem Bau der Mauer hatte die DDR die höchste Selbstmordrate der Welt. Seit der Wende näherten sich die ostdeutschen Zahlen denen im Westen (SZ vom 26.11.1987). Siehe Stephan Lebert, Ermittlungen gegen die Schatten der Vergangenheit (SZ vom 25./26.8.1990). 65 Klepper, Schatten (wie Anm. 48), S. 572. 66 Udo Grashoff, »In einem Anfall von Depression …« Selbsttötungen in der DDR, Berlin 2006, S. 27.

417

418

Hunger, Rauchen, Ungeziefer 67 Ebd., S. 120. 68 Dazu Wolfgang Rummler, Zur Beziehung zwischen Suizidhandlungen und Arbeitslosigkeit, am Beispiel der im Stadtgebiet Nürnberg in der Zeit vom 1. Januar 1976 bis 31. Dezember 1985 ermittelten Fälle, Diss rer. pol. Erlangen 1990. 69 Pierre Moron, Le Suicide, Paris 1975, S. 25. 70 Joachim Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 1989, S. 14. 71 Die autobiographischen Aufzeichnungen Klaus Manns hinterlassen den Eindruck, als ob ihn der Gedanke an Suizid lange Zeit verfolgte. Er nahm sich 1949, knapp 46jährig, das Leben. 72 Nicola v. Lutteroti, Immer weniger Interesse an Obduktionen (FAZ vom 22.12.1999). 73 Dazu ausführlich Kurt Schobert, Der gesuchte Tod. Warum Menschen sich töten, Frankfurt a. M. 1989. 74 Amelunxen, Selbstmord (wie Anm. 3), S. 59. 75 Zu diesem Schluss kommt bereits Friedrich Prinzing, Trunksucht und Selbstmord, Leipzig 1895, und Walther Kürbitz, Alkohol und Selbstmord, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychologie und psychologisch-gerichtliche Medizin 64 (1907), S. 579–611. Siehe auch Howard I. Kushner, Biochemistry, Suicide, and History. Possibilities and Problems, in: Journal of Interdisciplinary History 16 (1985), S. 69–85. 76 Thomas Bronisch, Der Suizid. Ursachen – Warnsignale – Prävention, München 1995, S. 44 ff. 77 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 504.

Textnachweis Fast alle der hier abgedruckten Aufsätze wurden in den letzten Jahren in historischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Sie wurden für die Publikation in dem vorliegenden Buch überarbeitet und zumeist geringfügig erweitert:

Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges, in: Zs. für bayerische Landesgeschichte, Bd. 56, Heft 1 (1993), S. 147–160. Die Hunger- und Sterblichkeitskrise von 1770/73 und der Niedergang des Ancien régime, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, Bd. 59, Heft 1 (2008), S. 107–142. Die Ausbreitung der Unterhose im 19.  Jahrhundert, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, Bd. 52, Heft 2 (2001), S. 266–296. Das Jahr des großen Hungers. Der Ausbruch des Mt. Tambora und die Folgen in Mitteleuropa, 1816/17, in: Zs. f. bayerische Landesgeschichte, Bd. 64, Heft 3 (2001), S. 745–782.

420

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Sommerhitze und Säuglingssterblichkeit, in: Naturwissenschaftliche Rundschau, 64. Jg., Heft 752 (Feb. 2011), S. 73–78. Die spanische Grippe (1918/19) in Bayern, in: Zs. f. bayerische Landesgeschichte, Bd. 73, Heft 1 (2010), S. 91–116. Die Suizid-Erfahrungen der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, Bd. 19 (2000), S. 389–403.

Abbildungsnachweis Seite 25

Seite 51

Seite 97

Seite 103

Seite 116

Bevölkerungsverluste durch Krieg und Seuchen im Reich 1618–1648 (nach Arbeit von G. Franz und E. Keyser) Aus: Völker, Staaten und Kulturen. Ein Kartenwerk zur Geschichte, herausgegeben von Hans-Erich Stier / Ernst Kirsten, Braunschweig: Georg Westermann Verlag 1975, S. 61. Schrittweise schrumpfende Brotgröße, dokumentiert 1771 von Nürnberger Bürger in seiner Privatchronik © Stadtarchiv Nürnberg, StadtAN F 1 Nr. 70 S. 126. Johann Wolfgang von Goethe: »Rekrutenaushebung in Apolda« 1779 © akg-images, Bildnr. AKG 139145. Die durchschnittliche Körpergröße in Deutschland seit dem 7. Jahrhundert Aus: »Geschichtsbuch«, Cornelsen CVK / Hirschgraben 1986, S. 6. Eintrittsalter der Menarche Aus: Anthropologie. Einführendes Lehrbuch, herausgegeben von Gisela Grupe, Kerrin Christiansen, Inge

422

Hunger, Rauchen, Ungeziefer

Schröder, Ursula Wittwer-Backofen, Berlin/Heidelberg: Springer 2005, S. 323. Seite 141 Eine Mutter sucht das Haar ihrer Tochter nach Ungeziefer ab (Indien) © Manfred Vasold, 1990er Jahre. Seite 146/147 Wilhelm Busch: Die gestörte und wiedergefundene Nachtruhe, oder: Der Floh 1859 Aus: Wilhelm Busch, Die schönsten Bildergeschichten, Bayreuth: Gondrom Verlag 1987, S. 30–38 Seite 183 Wollene Unterhose bei einer Ausstellung in Mérida © Manfred Vasold, ca. 1990er Jahre. Seite 227 Übersicht der Witterung im Jahr 1816 (Auszug); Beilage zum Amtsblatt Düsseldorf 1816 Aus: Wilhelm Sandkaulen, Das Notjahr 1816/1817 mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse am Niederrhein, Dissertation, Münster 1927. Seite 232 Getreidepreisgraphik des späteren Bürgermeisters Johannes Scharrer © Stadtarchiv Nürnberg, StadtAN E1 Nr. 1534-6-GF-02 Seite 277 Schriftproben Aus: Handbuch der gesamten Arbeitsmedizin. Band II: Berufskrankheiten, hrsg. von Ernst Baader, Stuttgart: Urban & Schwarzenberg 1961, S. 170, Abb. 44 und Abb. 45. Seite 305 Säuglingssterblichkeit in Nürnberg in den Jahren 1908, 1909 und 1910 auf Monate bezogen Aus: Bericht über die Gesundheitsverhältnisse und Gesundheitsanstalten in Nürnberg, hrsg. vom Verein für öffentliche Gesundheitspflege Nürnberg unter Mitwirkung des Stadtmagistrats, Nürnberg 1910. Seite 311 Plakat »Spare Seife!«, um 1917 © Stadtarchiv Erlangen, StadtAE 75.A1.500 Seite 313 Plakat »Sammelt die Obstkerne«, um 1917 © Stadtarchiv Erlangen, StadtAE 75.Pl.20161 Seite 319 »La Grippe« – Flug über Europa Aus: die waage. Zeitschrift der Grünenthal GmbH, Aachen 32 (1993), S. 67.

Abbildungsnachweis

Seite 327 Seite 369 Seite 373

Seite 395

Carl Fröschl: »Weihnachtsabend«, Radierung um 1890 © akg-images, Bildnr. AKG23347. NSDAP-Plakat Aus: »Auf der Wacht« Nr. 58 (1941), S. 24. Ertappt! Die erste Zigarette, aufgenommen in Frankfurt a. M. am 27. Oktober 1961 © dpa – Bildarchiv (1961), Bildnr. 2107736 Selbstmorde pro 100.000 Einwohner in Deutschland, 1913–33 Aus: Christian Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 301, Abb. 3. Selbstmorde pro 100 000 Einwohner in Deutschland, 1913–33; die Zahlen für die Zeit nach 1918 enthalten nicht die Zahlen für die an Frankreich und Polen abgetretenen Territorien. (Zusammengestellt nach Statistik des Deutschen Reiches, 307 (1923), 57, ebd., 316 (1924), 34, ebd., 336 (1925), 40; ebd., 360 (1928), 301; ebd., 393 (1929), 137; ebd., 441 (1931), 105; ebd., 495 (1932–34), I, 170).

423

Abkürzungsverzeichnis FAZ HDWSG

Hg., hg. Jb. MVGN

StadtAF StadtAN SZ

VfZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung,  Handbuch der Deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hg. von Hermann Aubin und Wolfgang Zorn, Stuttgart 1971, 1976 Herausgeber, herausgegeben Jahrbuch Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg Stadtarchiv Fürth Stadtarchiv Nürnberg Süddeutsche Zeitung Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

In Geschichtsbüchern ist fast immer nur von Kriegen, Verträgen und diplomatischen Schachzügen zu lesen – wie das konkrete Leben der Zeitgenossen aussah, bleibt meist außen vor. Nicht so bei Manfred Vasold: Er betrachtet die kleinen und großen Probleme des Alltags. Denn schon die einfachsten Beispiele, wie die Ausbreitung der Unterhose, zeigen die fundamentalen Umwälzungen auf, die die Neuzeit für die Menschen mit sich brachte. Von einer kurzen Geschichte des Rauchens über die Körpergröße bis hin zur Suizidrate in Deutschland nimmt Vasold den Leser mit in eine Zeit extremen Wandels, als die Industrielle Revolution ganz Europa zu verändern begann, Hunger noch allgegenwärtig war, Arbeit häufig krank machte und Säuglinge oft kein Jahr alt wurden. Und er zeigt, dass Revolutionen nicht nur Gesellschaften, sondern auch deren Gewohnheiten nachhaltig verändern können.

Franz Steiner Verlag www.steiner-verlag.de

978-3-515-11190-4