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German Pages 134 Year 2014
Martin Gieselmann, Jürgen Straub (Hg.) Humanismus in der Diskussion
Band 18
Editorial Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Die Reihe Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt. Die Reihe wird herausgegeben von Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipeh), Oliver Kozlarek (Mexico City) und Jürgen Straub (Bochum), Assistenz: Henner Laass (Essen). Wissenschaftlicher Beirat: Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Peking), Georg Essen (Nijmegen), Ming-huei Lee (Taipeh), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hongkong)
Martin Gieselmann, Jürgen Straub (Hg.)
Humanismus in der Diskussion Rekonstruktionen, Revisionen und Reinventionen eines Programms
In Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, dem Institute for Advanced Studies in Humanities and Social Sciences, National Taiwan University, und der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.
Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte gefördert von der Stiftung Mercator
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Martin Gieselmann, Jürgen Straub Satz: Jessica Niestegge Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2238-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Humanismus nach seiner Zeit? Aktuelle Rekonstruktionen, Revisionen, Reinventionen Jürgen Straub, Martin Gieselmann | 7 Antikerezeption – Humanismus – humanitäre Praxis. Drei Texte zur Klärung humanistischer Grundbegriffe Hubert Cancik | 23 Humanität und interkultureller Diskurs. Zur Wiedererwägung des Humanismus Dieter Sturma | 43 „… an der zähesten Stelle der Humanität“. Theologische Brocken zum Verhältnis von Christentum und Humanismus Georg Essen | 63 Die Kritik der soziologischen Vernunft Hans-Georg Soeffner | 79 Personale Identität. Ein Begriff aus dem Repertoire der humanistischen Tradition? Jürgen Straub | 95 Autorenverzeichnis | 129
Humanismus nach seiner Zeit? Aktuelle Rekonstruktionen, Revisionen, Reinventionen J ÜRGEN S TRAUB , M ARTIN G IESELMANN
In Zeiten, in denen in Europa Auseinandersetzungen über die Grundlagen einer konsensfähigen normativen und politischen Orientierung zur Tagesordnung gehören, ist die Reflexion auf geschichtsmächtige Ideen und Konzepte der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte sinnvoll und notwendiger denn je. Der wahrlich heterogene, polyvalente „Humanismus“ gehört dabei zu den Kandidaten in der ersten Reihe. Trotz der fragwürdigen Instrumentalisierungen, die im Namen des Humanismus – irgendeines Humanismus – vielfach zu inhumanen Projekten und Praktiken geführt haben, und trotz der Tatsache, dass es die mannigfaltigen Übersetzungen und Umwälzungen der Idee einer humanistischen Weltanschauung längst nicht mehr gestatten, von ‚dem‘ Humanismus zu sprechen, 1 verdient seine verschlungene Geschichte noch immer Aufmerksamkeit. Das gilt ganz besonders für unabgegoltene Potentiale jener humanistischen Selbst- und Weltentwürfe, welche das „Abenteuer des menschlichen Zusammenlebens“2 wenigstens in einigermaßen erträglichen Formen zu halten versprechen – ohne den Menschen in bloße Illusionen zu verstricken oder einem Anthropozentrismus das Wort zu reden, der von der nichtmenschlichen Natur und speziell von ökologischen Problemen nicht 1
Cancik 1993, 2003, 2009.
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Todorov 2002a, 2002b.
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allzu viel wissen möchte. Solche Potentiale auf ihre Zukunftsträchtigkeit hin zu studieren, ist nach wie vor ein Gebot der Stunde. Das erfordert im 21. Jahrhundert gewiss grundlegende Rekonstruktionen, beträchtliche Revisionen und kreative Reinventionen humanistischer Traditionen. Es verlangt nach Aufklärung über so manche Naivität und Scheinheiligkeit humanistischer Ideale aus vergangenen Zeiten. Es bedarf einer kritischen Reflexion historischer Weltund Menschenbilder, die auf Herausforderungen der Gegenwart fokussiert und sie in zeitgemäßer Weise so artikuliert, dass wir aus der Vergangenheit noch lernen können – selbst wenn dieses Lernen weit entfernt ist vom anachronistischen Topos Historia Magistra Vitae, dem Reinhart Koselleck schon vor Jahrzehnten eine historisch begründete Absage erteilt hat.3 Neben dem überbordenden Anthropozentrismus und der hartnäckigen Ignoranz gegenüber der im Namen humanistischer Weltanschauungen mitunter ganz offen verübten Gewalt ist es vor allem der vielen Humanismen eingeschriebene, manchmal etwas verborgene oder verdeckte Nostrozentrismus, der in der glokalisierten Welt unserer Tage überholt und überflüssig wirkt, ja schädlicher denn je erscheint. Nostrozentrismen – die als kollektives Analogon oder Pendant des Egozentrismus und Egoismus betrachtet werden können – sind auch heute lebendig und gefährlich. Sie bestimmen das Selbst- und Weltverhältnis vieler Gruppen wie eh und je. Alle Kollektive sind im Prinzip dafür anfällig – von der intimen Kleingruppe bis hin zur anonymen Großgruppe (man denke an Ethnien, Nationen oder Kulturen, an soziale Klassen, Schichten oder Milieus sowie an Generationen und die Geschlechter). Nostrozentrismen treten in variabler Gestalt auf: Ethnozentrismus, Eurozentrismus, Okzidentalismus, Orientalismus oder Chauvinismus stehen neben weiteren Varianten. Ihnen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie – aus der Perspektive des jeweils konstitutiven und konjunktiven „Wir“ – alle anderen, Fremde zumal, symbolisch ausgrenzen und praktisch ausschließen. Dies geschieht im Vollzug einer die anderen abwertenden Selbstbezugnahme, die das positive Selbstverhältnis der WirGruppe stabilisiert und stärkt (jedenfalls kurzfristig und behelfsmäßig). Nostrozentrismen aller Art dienen der selbstwertdienlichen Aufwertung des Eigenen, nicht selten seiner an Hegemoniebestrebungen 3
Koselleck 1967.
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gekoppelten Verherrlichung und Abschottung. Sich selbst und das Eigene ‚überhöhende‘ Kollektive hegen und pflegen solche Nostrozentrismen bis heute – keine Weltengegend ist davon verschont geblieben. Wir beobachten das unentwegt und überall, häufig mit Besorgnis und Unruhe. Wir registrieren diesen Sachverhalt, als zeuge er einfach von den kaum mehr verborgenen und dennoch ziemlich unveränderlich erscheinenden sozialpsychologischen Konstituenten jeder kohäsiven Gruppen- und Identitätsbildung.4 Der sozial- und kulturwissenschaftlich informierte Humanismus unserer Tage fokussiert und analysiert nicht zuletzt diese Vorgänge. Er tut dies in aller Regel mit der historisch aufgeklärten, politischen Absicht, ihren polemogenen Potentialen und zerstörerischen Effekten vorzubeugen und entgegenzuwirken. Er versucht das im Namen des und der Menschen. Er schlägt dafür erneuerte oder neue programmatische Namen vor: interkultureller Humanismus oder inklusiver Universalismus sind Beispiele dafür. Diese differenzsensible, häufig anerkennungstheoretisch begründete Form des (andere Kulturen und interkulturelle Kommunikation einbeziehenden) Universalismus richtet sich entschieden gegen xenophobe Ausschließungen von anderen bzw. Fremden. Dieser erneuerte Humanismus – der übrigens durchaus an Vorbilder innerhalb der vielgliedrigen humanistischen Tradition anknüpfen kann – widerspricht und widersetzt sich, wo immer solche Exklusionen anzutreffen sind (sowie ihre Vorboten der sozialen Kategorisierung und symbolischen Etikettierung, der – meistens implizit hierarchisierenden – Differenzierung, der Stigmatisierung, Diskriminierung usw.). Er wacht aber, und das ist besonders wichtig, in unablässigen selbstreflexiven und selbstkritischen Bewegungen gerade auch über eigene Begehren und Bestrebungen, die solchen Exklusionen nolens volens, eher unbewusst und unbeachtet als beabsichtigt und gewollt, den Weg ebnen können.5
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Tajfel 1978.
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Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es nicht gerade sensibel und klug, einen wie auch immer aktualisierten Humanismus ausgerechnet als „Leitkultur“ unserer Zeit zu etikettieren (wie das Nida-Rümelin 2006 tut). Das klingt – egal, was sich unter diesem plakativen Titel verbergen mag – wohl in so manchen Ohren als europäische Propaganda alten Schlags.
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Brechen sich solche zunächst unterschwelligen und untergründigen Vorgänge Bahn, ist es oft schon zu spät. Treten vage gewaltförmige, spürbar gewaltsame und schließlich offenkundig gewalttätige Ausgrenzungen und Ausschließungen ins Blickfeld einer aufmerksamen Öffentlichkeit, ist der entscheidende Moment bereits passé. Der Einsatz nicht nur von eher subtilen, sondern auch von brachialen Methoden und brutalen Mitteln war und erscheint vielfach immer noch als ein quasi ‚naturwüchsiger‘ Bestandteil polemogener Exklusionen und anderer (anfangs vielleicht bloß schleichender, später brodelnder) Prozesse der Verfemung und Verfeindung, die im Extremfall in Exzesse gegenseitiger Verfolgung und Vernichtung münden. Es gibt vielleicht kaum Naiveres und Unwahrhaftigeres, als unter dem Deckmantel eines humanistischen Welt- und Menschenbildes von menschlichen, allzu menschlichen Dominanz- und Hegemoniebestrebungen abzusehen und abzulenken. Humanistisch gesinnte (wissenschaftliche) AutorInnen und (z.B. pädagogische, politische) AktivistInnen, die sich im (nach christlichem Kalender) 21. Jahrhundert auf der Höhe ihrer Zeit bewegen, wissen und sagen das. Sie betonen nicht zuletzt, dass eine zeitgemäße Aufklärung über das Versagen traditioneller Humanismen, die mitunter (aktiv oder durch Duldung des Geschehens) daran beteiligt waren hervorzubringen, wovor sie doch warnten und was sie zu verhindern vorgaben, mehr erfordert als kognitive Anstrengungen und intellektuelle Kritik. Die Bewertung und Bilanzierung ‚humanistisch‘ inspirierter Weltanschauungen und Konzepte, Projekte und Praxen bedarf vielmehr einer kollektiven Erinnerung, die emotionale Dimensionen des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses einbezieht. Wer auf die vielfältigen Humanismen der Vergangenheit zurückblickt, kommt insbesondere um eine Art ‚Trauerarbeit‘ wohl kaum ganz herum.6 6
Das ist verschiedentlich bedacht und zu bedenken gegeben worden, eindringlich etwa von Paul Ricœur 1998 (vgl. auch Aleida Assmann 2006, 2007; Liebsch/Rüsen 2001). Am Rande sei bemerkt, dass die sog. Trauerarbeit keine „Arbeit“ im engeren Sinne des herstellenden Handelns ist, sondern eine Praxis (die sich im Übrigen auch gegen allzu rigide Ritualisierungen und oberflächliche Konventionalisierungen sperrt, wie sie z.B. im Rahmen politisch-instrumenteller Inszenierungen ‚kollektiver Trauer‘ zu beobachten sind).
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Wer die Tradition des Humanismus fortzuführen und zu verwandeln trachtet, beachtet und achtet – trotz aller Gemeinsamkeiten, die Menschen zum Beispiel in der Perspektive der Biologie, der Ethnologie, der Soziologie oder Psychologie als Angehörige einer Gattung ausweisen und die sie tatsächlich verbinden mögen7 – die ganz offenkundige Pluralität und irreduzible Heterogenität ihrer Lebensformen und Sprachen, Werte und Normen. Darin liegt, das ist mittlerweile ein massenmedial zirkulierender Gemeinplatz, eine wichtige Herausforderung in einer globalisierten Welt, in der der uns Menschen verfügbare Raum immer enger zu werden droht und die Zeit kontinuierlich schneller zu fließen scheint. Ob wir dieser Herausforderung gerecht werden und wie wir dies bewerkstelligen könnten, ist indes keineswegs klar und gewiss. Einige der Suchbewegungen verlaufen in Bahnen, die die (europäische) Geschichte mit der Gegenwart und Zukunft der globalisierten Welt verweben. Es gibt heute eine ganze Reihe ernsthafter Bemühungen, das Denken und Handeln, das dereinst im Zeichen des vielgliedrigen „Humanismus“ stand, nicht einfach ad acta zu legen, unterschiedslos geringzuschätzen oder gar pauschal zu verachten. Was im Namen erklärter Antihumanismen, Post- oder Transhumanismen in den letzten Jahrzehnten so alles gesagt und geschrieben, ersehnt oder gefordert wurde, ist zwar vielfach bedenkenswert, aber keineswegs immer überzeugend, erst recht nicht beruhigend und ein Grund für Zuversicht. Die an die viel gescholtenen Humanisten (und auch an einige Humanistinnen) adressierten Abschiedsbriefe enthalten mitnichten immer Diagnosen und Analysen, Mitteilungen und Botschaften, die die Menschheit – oder auch nur einzelne Menschen oder Gruppen – vorab mit dem versöhnen könnten, was nach den zu überwindenden oder bereits ‚verwundenen‘ Humanismen auf uns zukommen mag oder uns bereits begegnet. Ein gutes und prominentes, weil seinerzeit skandalisiertes Exempel bietet Peter Sloterdijks berüchtigter Traktat,8 in dem unter anderem neue Perspektiven der Lebenswissenschaften und innovative Technologien des genetic engineering of human beings bedacht werden. Der Autor verkündete dort in seinem an Martin Heidegger adres7
Antweiler 2010.
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Sloterdijk 1999.
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sierten Antwortschreiben auf dessen berühmten „Humanismus-Brief“9 erneut das Ende jenes epochalen Humanismus, welcher sein „kommunitaristisches Phantasma auf das Modell einer literarischen Gesellschaft“ zurückführte.10 Sloterdijks Diagnose, die nicht zuletzt auf eine Umstellung der Leitmedien in den spät- oder postmodernen Gesellschaften einer globalisierten Welt abzielt, ist gewiss nicht falsch (und ja schon lange weit verbreitet, nicht allein in Kreisen der medientheoretischen Avant9
Heidegger 1949. Dieser ‚Brief‘ gehört zweifellos zu jenen interessanten, höchst zwiespältigen Schlüsseltexten, in welchen die Überwindung oder Verwindung des angeblich anachronistisch gewordenen humanistischen Denkens (jedweder Spielart, manchmal auch gleich jeder Form von Anthropologie) in einer weltweit überaus einflussreichen Weise festgestellt und propagiert wird. Neben Nietzsches Philosophie gelten Heideggers Schriften bekanntlich als besonders wichtige Wegmarken einer (europäischen) Abkehr vom (eigenen) Humanismus. Sloterdijk stützt sich dann auch – neben Platos Politikos und Politeia – just auf diese beiden Meisterdenker. Was seinen ‚ersten‘ Briefpartner angeht, sei angemerkt: Heideggers schon seinerzeit unzeitgemäßes, ein wenig verstiegenes Modell einer „besinnlichen Askese“, in dem der „hörige“ Mensch in enger Nachbarschaft zum Sein angesiedelt sowie als „Lichtung des Seins“ und sogar als dessen „Hüter“ oder „Hirte“ nobilitiert wird (Sloterdijk 1999: 19 ff.), wirkt heute erst recht befremdlich. Es mag schon sein, dass Heideggers Philosophie zu Unrecht des Inhumanismus geziehen wird (wie Sloterdijk meint). Das macht weder den „kryptokatholischen Charakter von Heideggers Meditationsfiguren“ (ebd.: 29) annehmbarer noch den kaum verhohlenen elitären Gestus und autoritären Kitsch, mit dem sich der denkende „Pastoralphilosoph“ (ebd.: 26) selbst als Übersetzer und Sprachrohr des Seins inthronisierte. Eine überzeugende Alternative zum anthropozentrischen „Humanismus“ wird man darin schwerlich erkennen können. Das alles stört Sloterdijk allerdings nicht sonderlich, ganz im Gegenteil, zählt er sich doch selbst zu jener kleinen Schar hellwacher Leute, die noch etwas zu sagen haben, sich mithin vom Sein ansprechen lassen und die diesem Sein, sei es in luziden Äußerungen, sei es in raunenden Verlautbarungen, geheimnisvollen Andeutungen oder bloßem Schweigen, womöglich sogar ‚ent-sprechen‘.
10 Sloterdijk 1999: 10.
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garde). Heikler wird es dagegen, wenn der Autor über neue „Regeln für den Menschenpark“ im biotechnologischen Zeitalter räsoniert. Es ist zutreffend, dass es mit der selegierenden Macht von elitären Lektüren klassischer Texte und den daran gebundenen Lektionen für bildungswillige Lesefreunde nicht mehr allzu weit her ist im heutigen Alltag der elektronischen Massenmedien. Das müssen zweifellos auch allfällige Rekonstruktionen, Revisionen und Reinventionen des Humanismus berücksichtigen. Weniger zustimmungsfähig sind dagegen affirmative Lesarten ausgewählter Texte von Heidegger und Friedrich Nietzsche, die über kurz oder lang von überaus wichtigen Fragen zur aktuellen Biomacht und Biopolitik11 zu spektakulären, mit der Angstlust der auf Erregungsjournalismus eingestellten Leserschaft spielenden Sätzen gelangen, in denen der ‚neue Mensch‘ einer bereits angebrochenen Zukunft zu einem eminent schöpferischen „Züchter“ mutiert, der jeden humanistischen Horizont sprengt, insofern „der Humanismus niemals weiter denken kann als bis zur Zähmungs- und Erziehungsfrage: Der Humanist läßt sich den Menschen vorgeben und wendet dann auf ihn seine zähmenden, dressierenden, bildenden Mittel an“.12 Dem letzten Satz wird man erneut nicht widersprechen wollen. Weniger annehmbar sind dagegen apologetisch klingende Vorwegnahmen einer vorausentworfenen Zeit, in der an die Stelle der „humanistischen Harmlosigkeiten“ nicht nur eine „Zucht ohne Züchter“ treten werde, eine „subjektlose biokulturelle Drift“ mithin,13 sondern doch auch aktive Züchter in der schaurigen Gestalt von „ÜberHumanisten“, die sich ans Werk machen, um sich an der „Eigenschaftsplanung einer Elite“ zu versuchen, „die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muss“.14 Auch das folgende Zitat mag noch einmal illustrieren, wie man zwischen einer demaskierenden De(kon)struktion und normativ-politischen Kritik ‚des‘ Humanismus einerseits, einer raunenden Apologie des diffusen, alles andere als rundum attraktiven Anti-, Post- oder Transhumanismus oszillieren kann: 11 Ebd.: 59; vgl. zu solchen Fragen und den damit verwobenen Diskursen auch Sieben/Sabisch-Fechtelpeter/Straub 2012. 12 Ebd.: 39. 13 Ebd.: 42 14 Ebd.: 54.
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„Aber sobald in einem Feld Wissensmächte positiv entwickelt sind [wie in den heutigen Lebenswissenschaften und Biotechnologien, J.S./M.G.], machen Menschen eine schlechte Figur, wenn sie – wie in den Zeiten eines früheren Unvermögens – eine höhere Gewalt, sei es den Gott oder den Zufall oder die anderen, an ihrer Stelle handeln lassen wollen. Da bloße Weigerungen oder Demissionen an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren. Ein solcher Codex würde rückwirkend auch die Bedeutung des klassischen Humanismus verändern – denn mit ihm würde offengelegt und ausgeschrieben, dass Humanitas nicht nur die Freundschaft des Menschen mit dem Menschen beinhaltet; sie impliziert auch immer – und mit wachsender Explizitheit –, daß der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt.“15
Die Leserschaft solcher Textpassagen kann sicherlich vielerlei imaginieren, wenn sie dazu aufgefordert wird, das bereits laufende „Spiel aktiv aufzugreifen“, um es in der mühsam erworbenen Rolle gigantischer Anthropotechniker tatkräftig mitzuspielen. Es ist schon wahr, dass sich hier ein Feld einer einschneidenden „gattungspolitischen Entscheidung“ auftut (auf lange, sehr lange Sicht). Im Fahrwasser seiner elitistischen Kulturkritik wittert Sloterdijk – ohne hinreichend präzise zu werden, jedoch mit provozierender Verve – nun sogar neue Möglichkeiten „wirkungsvoller Verfahren der Selbstzähmung“,16 die den „bestialisierenden Impulsen und ihren jeweiligen Medien“ ihre Grenzen aufzeigen könnten.17 Ob diese neuen Möglichkeiten tatsächlich zu einer wirksamen ‚Entbestialisierung‘ des Menschen führen werden, ist fraglich. Höchst zweifelhaft ist auch, ob damit jede Form des humanistisch inspirierten Denkens und Handelns an ihr unabwendbares Ende gelangen wird – und endlich gelangen sollte. So einfach ist es wohl nicht. Es ist zu schlicht, die Miseren der Menschheitsgeschichte kurzerhand just jenen Humanismen in die Schuhe zu schieben, welche alle Übel zu vermeiden trachteten und dem Menschen einen Garten des Menschlichen versprachen – bekanntlich ohne durchschlagenden Erfolg (aber auch nicht völlig ver15 Ebd.: 45. 16 Ebd.: 46 17 Ebd.
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geblich). Rekonstruktionen, Revisionen und Reinventionen humanistischer Traditionen sind notwendig. Normativ und politisch ambitionierte Grabreden auf jede Form des Humanismus sind indes keineswegs so unabdingbar und zeitgemäß, wie sie sich allenthalten geben. Anti-, post- oder transhumanistische Überwindungen und ‚Verwindungen‘ ‚des‘ Humanismus eröffnen bislang noch keine rundum überzeugenden Alternativen. Sloterdijks Ausblick auf neue „Regeln für den Menschenpark“ zeigt das in exemplarischer und zugleich mustergültiger Weise. Er macht die kritische Beschäftigung mit den (teils anachronistischen) humanistischen Traditionen der Vergangenheit zur Pflicht, lässt aber die gegenwärtigen, internationalen Versuche in der Philosophie und den Wissenschaften, zukunftsfähige humanistische Konzepte und Projekte zu entwickeln und auf den Prüfstand zu stellen, keineswegs obsolet erscheinen. Ganz im Gegenteil. Jörn Rüsen, dem das vorliegende Büchlein zugeeignet ist, gehört zu den engagierten Wissenschaftlern und regen Intellektuellen, die mit der Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen verbandelt sind – stets im Dienst der Gegenwart und der Nächsten, auch jener Mit- und Nebenmenschen, welche ihr Dasein geographisch weit entfernt vom europäischen Kontinent fristen oder erst in Jahrzehnten, Jahrhunderten gar, das Licht der Welt erblicken werden. Der in allen möglichen Weisen mit Geschichte befasste Historiker, Geschichtstheoretiker und Geschichtsdidaktiker gehört zu jenen Denkern unserer Zeit, welche nicht nur von der „Einbeziehung der Anderen“ reden. Jörn Rüsen hat sich diesen ethisch-moralischen und politischen Imperativ zu einem persönlichen ‚Gebot der Stunde‘ gemacht, zu dem es in der globalisierten bzw. glokalisierten Welt des 21. Jahrhunderts keine tragfähige Alternative gibt. Er hat diesen ‚Imperativ‘ niemals als einen ‚Befehl‘ verstanden, sondern als ein Ergebnis einer deliberativen, vor allem praktischen und phronetischen Vernunft sowie politischen Urteilskraft, die aus freien Stücken zu Einsichten gelangt, denen Menschen, die dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ nachzugeben bereit sind, Folge leisten mögen (so gut sie das als endliche, auch in ihren individuellen Kräften, Fähigkeiten und Fertigkeiten limitierte Personen eben nun einmal können).
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Jörn Rüsen versucht dies seit Jahrzehnten unermüdlich. Er macht das als jemand, der zwar seit langem in Bochum lebt und noch immer wohnt (und dereinst am Essener Kulturwissenschaftlichen Institut und der Privat-Universität Witten-Herdecke wirkte), der aber seit jeher in der Welt zu Hause ist und mit den Bewohnern dieser Welt unentwegt redet, streitet, lacht, Einfälle ausheckt und Pläne schmiedet – und der ziemlich viele, fast unvergleichlich viele der verabredeten Vorhaben mit den geistig Verbündeten auch verwirklichte (und noch immer dabei ist, Ideen und Intentionen praktisch werden zu lassen). Er ist in personam ein Musterbeispiel für die gerade von ihm gelebte Einsicht: Anstehende Rekonstruktionen, Revisionen und Reinventionen des Humanismus müssen heute weit über Europa hinaus denken. Sie müssen fundamentale Gemeinsamkeiten, mögliche Verbindungen und begehbare Brücken auch dort ausmachen, wo Unterschiede vorherrschen und keineswegs nur Wohlwollen und offene Arme anzutreffen sind (was angesichts der Gewaltgeschichte der Menschheit sowie der transgenerationellen Tradierung ihrer unübersehbaren Spuren, ihrer nachhaltig wirksamen Folgen und weit verzweigten Nebenfolgen kaum verwunderlich ist). Der vorliegende Band entstand nach einem kleinen, feierlichen Symposium, das die Herausgeber für Jörn Rüsen ausgerichtet haben und zu dem einige Wegbegleiter des Humanismus-Projekts eingeladen waren. Manche von ihnen haben den Geehrten beschenkt, indem sie Vorträge hielten, die teilweise im Kontext des Projekts entstanden, seinem zentralen Anliegen jedenfalls eng verbunden sind. Sie werden hier als individuelle Beiträge wiedergegeben, ohne dass wir den Versuch machen müssten, sie in einen fest umgrenzten thematischen Rahmen zu zwängen. Sie behandeln ganz verschiedene Aspekte des thematisch breit gefächerten „Humanismus-Projekts“. Die systematische Anlage dieses Projekts und seine vor allem durch den Projektleiter ermöglichte und beförderte Produktivität, die sich bereits heute in Dutzenden von Buchpublikationen und zahllosen weiteren Veröffentlichungen, in durchgeführten Tagungen, fortlaufenden Symposien und
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unentwegt mäandernden Gesprächen in aller Welt dokumentiert, lässt sich an anderer Stelle leicht nachvollziehen.18 Der polyvalente und heterogene Humanismus ist für Rüsen ein höchst vielfältiger Gegenstand einer kritischen, historischen und dabei stets der Gegenwart und Zukunft zugewandten Beschäftigung mit dem geistigen Erbe Europas. Diese über die Philosophie und zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen, über die Literatur und andere Künste, über das Feld politischer und sonstiger öffentlicher Diskurse sich erstreckende Beschäftigung ist kein europäisches Glasperlenspiel. Sie ist eine höchst anspruchsvolle theoretische und praktische Tätigkeit, die unseren Horizont weitet und einen vielstimmigen Dialog, einen längst begonnenen Polylog in Gang hält, in dem sich Menschen die unerschöpfliche Frage stellen, wer sie sind und sein möchten und wie sie wohl leben wollen, miteinander und nebeneinander, heute und morgen. Das Humanismus-Projekt ist der Versuch, sich in einem sukzessiv dichter werdenden Netzwerk sozialer Begegnungen über die Grundlagen und Ziele menschlichen Daseins zu verständigen. Es stellt nicht zuletzt ein unablässiges Bemühen dar, eingespielte und mitunter festgefahrene kulturelle und sonstige Grenzen der Kommunikation, Kooperation und Koexistenz zu überschreiten und zu lockern. Das Humanismus-Projekt sucht nach allgemein konsensfähigen Antworten und Aussichten in einer Welt, in der heutzutage die meisten auf Unterschiede bzw. Unterscheidungen, auf Individualität oder Singularität pochen und auf Gefahren naiver oder strategischer, manifest oder latent gewaltförmiger (Pseudo-)‚Universalismen‘ aufmerksam machen. 18 Vgl. hierzu etwa die im transcript Verlag erscheinende Buchreihe „Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung“ (hg. v. Jörn Rüsen/Jürgen Straub/Chun-Chieh Huang und Oliver Kozlarek; bis März 2012 sind zwölf Bände erschienen) sowie die seit 2012 im V+R unipress Verlag angesiedelte Serie „Reflections on (In)Humanity“ (hg. v. Sorin Antohi/Chun-Chieh Huang und Jörn Rüsen; bisher sind zwei Bände erschienen). Einen guten Einblick bietet außerdem der von der Landeszentrale für politische Bildung NRW publizierte Band: Jörn Rüsen/Henner Laas (2009) (Hg.): Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag.
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Jörn Rüsen hat eine beeindruckende Anzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Europa, aus China, Japan, Indien und weiteren Ländern Asiens, aus Nord- und Südamerika oder Afrika in Kontakt zueinander gebracht und sie alle in jenes anhaltende Gespräch verwickelt, in welches er selbst seit Jahrzehnten ‚mit Haut und Haaren‘ verstrickt ist. Er hat niemals verhehlt (und hätte auch gar nicht zu verbergen vermocht), dass es ihm mit dem von der Stiftung Mercator von 2006-2009 geförderten Humanismus-Projekt um eine Herzensangelegenheit geht, die nicht nur alle aufzubietende Vernunft in Anspruch nimmt, sondern den ‚Einsatz der ganzen Person‘ verlangt. „Der Humanismus in der Epoche der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte“: zu diesem Gespräch tragen auch die folgenden Abhandlungen bei. Sie repräsentieren dabei lediglich einen kleinen, ja winzigen Ausschnitt aus dem Spektrum aller bislang vorliegenden und bereits geplanten oder schon übernommenen Arbeiten. Die im vorliegenden Band zu Wort kommenden Autoren unterstützen Rüsens Unternehmung seit vielen Jahren. Der Altphilologe Hubert Cancik nähert sich dem Begriff des Humanismus über drei Epochen seiner Rezeption in Europa (Mittelalter, Renaissance und Moderne). Bei allen Unterschieden in der Wahrnehmung des Humanismus verfügt die Rezeption in den drei Epochen über eine gemeinsame Qualität, einen didaktischen Impetus. Die zeitlose Qualität der europäischen Humanisten manifestiert sich darin, dass sie ausnahmslos eine „Bildungsbewegung mit wissenschaftlichen, moralischen, pädagogischen Ansprüchen“ postulieren. Der Philosoph Dieter Sturma erörtert die Eignung des Begriffs „Humanismus“ für sein Fachgebiet. Nach Sturma soll der Begriff wiedererwägt werden, indem er im Kontext einer interkulturell kommunizierbaren, normativen Theorie der Humanität gedacht wird. Sturma weist auf die Schwächen eines Begriffs hin, der sich anfällig für ideologische Einfälle aller Art zeigt. Er warnt davor, ihn als Gegenposition zum Naturalismus anzulegen. Ein neu gedachter Humanismus sollte sich gegen die Verdinglichung des Humanen zur Wehr setzen und sein Verhältnis zur Naturwissenschaft konstruktiv gestalten.
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Georg Essen wirft fundamentale Fragen auf, die aus der Sicht der Theologie zu beantworten sind, wenn ein neuer Humanismus soll entworfen und entwickelt werden können. Ausgehend von Karl Barths These von der konstitutionellen Weltfremdheit der Religion eröffnet Essen einen Weg für die Freilegung humanistischer Traditionen in der Religion – nicht nur in der von ihm vertretenen katholischen Theologie, sondern auch in anderen ‚Religionen‘, ja der Religion per se. Weltfremdheit verortet er in den für alle Religionen konstitutiven Wissensformen und Überzeugungssystemen. Hans-Georg Soeffner steuert mit seiner Kritik der soziologischen Vernunft eine Kategorie der Aufklärung bei, die der Autor für eine Analyse des aktuellen Zustands der Soziologie fruchtbar macht. Soeffner wendet sich gegen das ‚zeitgeistige‘ Primat des Ökonomismus, das seiner Meinung nach bereits einen allzu starken Einfluss auf die soziologische Theoriebildung ausübt. Er fordert von der Soziologie, sich nicht allein mit Analysen der Vergangenheit, mit Diagnosen der Gegenwart und Prognosen der Zukunft zu beschäftigen, sondern darüber hinaus den Mut aufzubringen, diese mit „wertorientierten Optionen“ zu versehen. Mit einer Untersuchung des theoretischen Begriffs der personalen Identität unternimmt der Sozial- und Kulturpsychologe Jürgen Straub den Versuch, eine Kategorie der modernen Psychologie und Soziologie (sowie weiterer Sozial- und Kulturwissenschaften) im Hinblick auf humanistische Traditionen und zukunftsträchtige Projekte auszulegen. Der Autor argumentiert, dass der in den Kern des Begriffs „personaler Identität“ eingetragene Gedanke der strukturellen Offenheit einer Person unabdingbar ist für jedes normativ gehaltvolle Welt- und Menschenbild gegenwärtiger und künftiger ‚Humanismen‘. Dabei geht es um die Offenheit nicht allein gegenüber anderen, Fremden zumal, sondern ebenso gegenüber dem eigenen Selbst, insofern auch dieses als ein Anderes konzeptualisiert werden kann, das Fremdes einschließt und Fremdverstehen erheischt.19 Die Beiträge bieten Einblicke in ein weit fortgeschrittenes, jedoch keineswegs abgeschlossenes Unternehmen. Sie tun dies höchst selektiv und speziell. Wer mehr vom Ganzen erfahren will, mag die Abhandlungen als Einladungen lesen, noch das eine oder andere Buch 19 Ricœur 1996.
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aus den bestehenden und fortzuschreibenden Reihen in die Hand zu nehmen. Wenngleich Lektüren in der heutigen Mediengesellschaft gewiss nicht mehr alles sind und schon lange ihren Rang als Leitmedium eingebüßt haben, sind sie dennoch nicht nichts. Sie gehören nicht zuletzt ins Feld jener Übungen, deren Vollzug lehrreich ist und bildet, ohne die Lust an der gewonnenen Erkenntnis und den eingegangenen Begegnungen mit anderen zu kurz kommen zu lassen.
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Antikerezeption – Humanismus – humanitäre Praxis Drei Texte zur Klärung humanistischer Grundbegriffe H UBERT C ANCIK
§ 1 „M AGISCHE A NZIEHUNGSKRAFT “ (G REGORIUS M AGISTER , 12.J H . N .C HR .) 1. Etwa eintausendneunhundert Jahre nach Gründung der Stadt besucht Magister Gregorius, ein Rechtsgelehrter in Geschäften aus England kommend, das ewige Rom. Die antike Millionenstadt, einst Haupt, Mitte, Asyl und Tempel der ganzen Welt, ist geschrumpft, geplündert, ruinös. Das Capitol heißt ‚Ziegenberg‘, das alte Forum ‚Kuhfeld‘. Dennoch bleibt Rom „die antikste Stätte des Abendlandes“. In den Römern des 12. Jahrhunderts lebt, wenn auch ruinenhaft, „noch ein antiker Geist, der dem Volke zum Bewusstsein kam und mit der Kirche in Streit geriet“.1 Magister Gregorius besichtigt die „Wunderwerke der Stadt“ und schreibt,2 in Rom gebe es eine große Ansammlung von Statuen, die „Rettung der Bürger“ (salvatio civium) genannt
1
Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (1859/1860), 8. Buch, Kap.7, hg. von Waldemar Kampf, 1953/1957; München 1978: Bd. II 1: 272-277: „Die Mirablia Urbis“.
2
Lateinische Edition: G. MacNeil Rushforth, in: Journal of Roman Studies 9, 1919: 14-58; Neuausgabe von R.B.C. Huygens (Hg.): Gregorius, Narracio de mirabilibus urbis Romae, Leiden 1970.
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werde. Dies seien Statuen aller Völker, die dem römischen Volk unterworfen waren. Durch magische Kunst seien sie geheiligt: „Es war nämlich kein Volk oder Region dem römischen Imperium unterworfen, dessen Abbild nicht in einem gewissen Hause konsekriert gewesen wäre, das sie ‚aufzubewahren hatte‘. Ein großer Teil der Wände dieses Hauses steht immer noch, und seine Krypten sind sichtbar, furchtbare und unzugängliche. In diesem Hause standen einstmals die erwähnten Abbilder der Reihe nach, und jedes Abbild hatte den Namen jenes Volkes, dessen Bild es trug, auf die Brust geschrieben, und trug eine Glocke von Silber, das tönender ist als alles Metall, ein jegliches um den Hals. Und waren Priester Tag und Nacht, immer wachend, die sie behüteten. Und wenn irgendein Volk versuchte, sich zur Rebellion gegen das Imperium der Römer zu erheben, bewegte sich sogleich seine Statue, und die Glocke an seinem Halse tönte; und sofort überbrachten die Priester den Namen jenes Bildes den Fürsten. Es war aber über dem Hause, das diesen Bildern konsekriert war, ein erzener Soldat mit seinem Pferd, der immer sich nach der Bewegung des Bildes richtete und seine Lanze auf das Volk richtete, dessen Abbild sich bewegte.“
Dadurch gewarnt hätten die römischen Fürsten den Aufständen zuvorkommen können. Die Geschichte veranschaulicht mittelalterliche Antikerezeption. Magister Gregorius verarbeitet in unmittelbarer Berührung mit antikem Raum und Material eine subantike Sage (7.-8. Jh.), fügt sie in ein mittelalterliches Welt- und Geschichtsbild. Die Größe des vergangenen imperium Romanum und seine Struktur sind eindrucksvoll erfasst: die Heterogenität dieses multikulturellen und multireligiösen Reiches, die Gewaltform seiner Herrschaft, die Bedeutung von Überwachung und Kommunikation, die Funktion der Zentrale Rom. Die Sage transformiert die politische, ästhetische und religiöse Kommunikation des römischen Imperium in „magische Kunst“ (ars magica), in Zauberei und einen intricaten audio-visuellen Fernmeldeapparat. Die Geschichte macht deutlich, dass die neuzeitliche Telekommunikation nur die magischen Erfindungen der Antike technisch realisiert. 2. Rombilder – imperiale und ruinöse, von klassischer Helle und unheimlicher Magie – haben europäisches Geschichtsbewusstsein geprägt, über alle sprachlichen und Nationalgrenzen hinweg. Wirksam
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sind Texte, kolossale technische Leistungen, prächtige Architektur – und immer wieder die Bilder. Magister Gregorius berichtet:3 „Jetzt aber will ich Weniges hinzufügen über die marmornen Bildwerke, die fast alle von dem seligen (Papst) Gregor entweder zerstört oder verstümmelt worden sind. Über eines von ihnen will ich wegen seines Aussehens von außerordentlicher Schönheit zuerst berichten. Dies Abbild aber ist von den Römern der Venus geweiht worden in der Gestalt, in der sie sich, der Fabel gemäß, zusammen mit Juno und Pallas nackt dem Paris in einer übermütigen Untersuchung dargeboten haben soll. Sie betrachtend sprach der übermütige Richter:4 ‚Unserem Urteil nach siegt über beide Venus‘. Dies Abbild aber ist aus Parischem Marmor mit so wunderbarer und unerklärlicher Kunstfertigkeit hergestellt, daß es eher ein lebendiges Geschöpf denn eine Statue zu sein scheint: Sie trägt nämlich ihr Gesicht von purpurner Farbe übergossen, gleichsam als errötete sie über ihre Nacktheit. Und es scheint, wenn man von näher es betrachtet, in dem schneeigen Gesichte des Abbildes das Blut zu fließen. Wegen dieses wunderbaren Aussehens und wer weiß welcher magischen Überzeugungskraft (magica persuasio) bin ich dreimal gezwungen worden, es wieder zu besichtigen, obschon es von meiner Unterkunft mehr als zwei Stadien entfernt war.“
Dieser Erlebnisbericht ist ein eindrucksvolles Zeugnis für mittelalterliche Antikerezeption. Er zeigt, wie die hohe Qualität eines Kunstwerks, der erotische Charme, das leibhafte Gegenüber einer fast lebendigen Gestalt den rechtskundigen Geschäftsmann irritieren. Aber er
3
Gregorovius, a.a.O. – Zu den beiden Texten des Gregorius vgl. H. Cancik, „Die ‚Repraesentation‘ von ‚Provinzen‘ (nationes, gentes) in Rom. Ein Beitrag zur Bestimmung von ‚Reichsreligion’ vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr“, in: ders., Römische Religion im Kontext. Gesammelte Aufsätze I, hg. von H. Cancik-Lindemaier, Tübingen 2008: 211226: § 5 salvatio civium (Rom, 8./12. Jh.); ders., „Nutzen, Schmuck und Aberglaube. Ende und Wandlungen der römischen Religion im 4. und 5. Jahrhundert“, in: Religionsgeschichten. Gesammelte Aufsätze II, hg. von H. Cancik-Lindemaier, Tübingen 2008: 336-360: § 3 „Mehr Kunstwert als Göttlichkeit“.
4
Ovid, ars amatoria 1, 248.
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schlägt nicht, wie antike Christianer es taten, ein Kreuz gegen den Teufel, der in der Statue sitzt; er zischelt nicht, um ihn zu vertreiben, er schließt nicht, wie die antiken Judäer es taten, die Augen vor dem Bildwerk. Vielmehr tadelt er sogar einen Papst, Gregor den Großen (590-604), der marmorne Bildwerke zerstört oder verstümmelt habe. Die Fascination, die eine vergangene, verbotene Religion und ein großes Kunstwerk ausüben, erklärt sich Gregorius mit „magischer Überzeugungskraft“ (magica persuasio). Die Statue, heute mit der Inventarnummer 409 aufgestellt im Capitolinischen Museum, stand wahrscheinlich in einer Badeanlage (lavacrum Agrippinae); sie ist vorzüglich erhalten. Es wird vermutet, dass der gute Erhaltungszustand – Magister Gregorius sah um 1200 wohl noch die antike Bemalung – die Frucht einer antiken Rettungsaktion ist. Die Statue wäre wohl nicht so wohlbehalten ins Mittelalter gekommen, wenn sie nicht schon in der Spätantike sorgfältig verborgen worden wäre. 3. Die Bilder von Menschen und Göttern, die in Rom sichtbar werden, zeugen von der radikalen Anthropomorphisierung der antiken Kunst, von Mythos, Religion, Natur. Die Bilder sind massenhaft verbreitet. Sie zeigen Männer, Frauen, Kinder, Mischwesen, idealisiert oder realistisch, in allen Altersstufen, Haltungen, Posen – den ganzen „Habitus der Menschheit“, wie ein späterer Romfahrer sagt, „anschauliche Kategorien der Menschheit“.5 Diese römischen Statuen, Reliefs, Malereien haben europäische Menschenbilder – in unterschiedlichen Epochen mit unterschiedlicher Intensität – beeinflusst.6
5
Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, hg. v. Martin Bollacher u.a.; Bd. 7: Briefe zur Beförderung der Humanität (1793/97, BBH), nr.63, nr.64.
6
Die Wirkung des ästhetischen und anthropologischen Impulses griechischer Plastik und Menschendarstellung in Glyptik, Wand- und Vasenmalerei geht weit über die Grenzen Europas hinaus. Die Entstehung eines körperlichen Bildes des Buddha, seine Darstellung in Plastik, Münzen und narrativen Reliefzyklen im 1.-2.Jh. n.Chr. in Nordwestindien (Gandhara, Mathura) ist mit der direkten und indirekten Rezeption hellenistischer Kunst verbunden.
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Allerdings reisen, fünfhundert Jahre nach dem Bericht des Gregorius, Künstler, Gelehrte, bildungswillige Aristokraten mit anderen Voraussetzungen und Erwartungen zu den Wunderwerken Roms. Die antiquarischen und historischen Kenntnisse sind erheblich erweitert. In Herculaneum war erstmals eine antike Stadt in ihrem ursprünglichen Lebenszusammenhang entdeckt, in Paestum klassische griechische Architektur auf dem Boden Italiens – ‚Groß-Griechenlands‘ – wiedergefunden worden. Im 18. Jahrhundert werden durch Winckelmann die Grundlagen der modernen Archäologie, durch Shaftesbury, Rousseau, Diderot, Herder und viele andere die Grundlagen des modernen westeuropäischen Humanismus im genaueren Sinne geschaffen. Die alten Mirabilien der ewigen Stadt rücken in neue ästhetische, ethische, politische Kontexte.
§ 2 „ DER GANTZE MENSCH “ (J OHANN G OTTFRIED , 1490) § 2.1 Der Text: „Beschirmung Epycuri“ Am 22. Februar 1490 schreibt Johann Gottfried, Pfarrer und bepfründeter Kanoniker des Stifts St. Katharinen zu Oppenheim am Rhein,7 einen Brief an den strengen und ehrenfesten Herrn Friedrich, Kämmerer von Dalberg, Ritter (1469-1507).8 Der Brief empfiehlt dem lieben Herrn die Lektüre der Defensio Epicuri („Verteidigung Epikurs“) des Cosma Raimondi (ca.1400 bis ca.1435/36), die Gottfried
7
Ausführliche biographische und bibliographische Angaben bei Simone Drücke, Humanistische Laienbildung um 1500. Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried (Diss. Münster 1999), Göttingen 2001 (Palaestra Bd. 312).
8
C.J.H. Villinger, „Die Kämmerer von Worms genannt von Dalberg und ihre Beziehungen zu Oppenheim“, in: J. Albrecht/ H. Licht (Hg.), 1200 Jahre Oppenheim am Rhein, Oppenheim 1965: 55-78, zu Friedrich von Dalberg bes.: 61 f.
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aus dem Lateinischen in das Frühneuhochdeutsche übersetzt hatte.9 Die „Beschirmung Epycuri“ ist der elfte von siebzehn Texten griechischer, römischer, humanistischer Autoren, die aus Gottfrieds Übersetzungswerk in einer Berliner Sammelhandschrift zusammengestellt sind.10 Das Programm von Handschrift und Übersetzer ist die Verbreitung antiker moralis philosophia, mit einem deutlichen pädagogischen Engagement, Fokussierung auf Herrschertugend und die Selbstgestaltung des Menschen. Die „Beschirmung“ wurde um 1522 gedruckt, zwar in Speyer, aber verziert mit einem Holzschnitt aus der Werkstatt des Oppenheimer Druckers Jakob Köbel.11
9
Zu Raimondi und seiner defensio vgl. Drücke: 124-134; Eugenio Garin, „Ricerche sull’Epicureismo del Quattrocento – Appendix: La ‚Defensio Epicuri‘, in: ders., Epicurea in memoriam Hectoris Bignone, Genova 1959: 233-237. Ein Text, wie ihn die Berliner Handschrift lat. fol. 604 B (1420/1430, aus Norditalien) bietet, war nach Drücke die Vorlage für Gottfrieds Übersetzung.
10 Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin: Ms. germ. qu.1477, geschrieben nach 1515; die „Beschirmung“ auf fol.97r – 102v. Die anderen Stücke sind: Cicero, de fato; Cicero, Paradoxa Stoicorum; Cicero, Cato maior de senectute; (Ps.-)Sallustii in Ciceronem et invicem invectivae; Aeneas Silvius Piccolomini, Brief an Wilhelm vom Stein; Seneca, Epistel 9; Cicero, Somnium Scipionis; (Ps.-) Aristoteles, Oeconomia I; Leonardo Bruni, Isagogicon moralis philosophiae; Lukian, Calumniae non temere credendum; Curtius Rufus, Historia Alexandri Magni ( VII 8,12-9,1; IX 6,6-26); Livius, ab urbe condita libri (XXX 30,2-31,9; IV 3,2-5,6); Lukian, Charon; Lukian, 12. Totengespräch; Isokrates, de regni administratione ad Nicoclem; (Ps.-)Isokrates, Praecepta ad Demonicum. Die Texte griechischer Autoren lagen Gottfried in lateinischen Übersetzungen vor. 11 J. Benzing, Jakob Köbel zu Oppenheim 1494-1555, Bibliographie seiner Drucke und Schriften, Wiesbaden 1962; ders., „Der Buchdruck zu Oppenheim (Jakob Köbel und Hieronymus Galler)“, in: H. Licht (Hg.), Oppenheim. Geschichte einer alten Reichsstadt, Oppenheim o.J.: 159-167; E. Jungkenn, „Johann von Dalberg und Jakob Köbel als Mitglieder der Sodalitas litteraria Rhenana“ (1956), ebd.: 167-171. Vgl. Drücke: 135; 331.
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Die „Verteidigung Epikurs“ verbindet die Apologie mit Polemik gegen Peripatetiker, Akademiker, Stoiker und, am Schluss, mit Werbung für „unseren Epycurus“ und seine Philosophie der Freude.12 Sie hat die Form eines Briefes, einer im humanistischen Diskurs beliebten Gattung. Der Aufbau ist, obschon die Briefform freiere Gestaltung zulässt, mehr als durchsichtig. Einleitung (cap.1-3): Thema. Hauptteil (cap.4-13): 1. Die Lehre Epikurs über das „höchste Gut“ (cap.4-5): Freude/ voluptas/ hedoné. 2. Die Gegner Epikurs: Stoiker (cap.6); Argument: die Einheit des Menschen; Akademiker (cap.7): alles ungewiß; Peripatetiker (cap.8-13); Argument: die Natur, die Schönheit. Schluß (cap.14-16): Zusammenfassung, Werbung für den Epikureismus.
§ 2.2 Epikureische Anthropologie 1. Das „höchste Gute“ (summum bonum) oder, so Gottfried, „die seligkeit des menschen“ kann nicht die „Tugend allein“ sein, wie die Stoiker und Epikureer behaupten.13 „Unser Epycurus“ hat vielmehr die „lusten“ und „ruwe, styll, frieden und eintrechtigkeit“, so um-
12 ‚Freude‘ als Übersetzung von griech. hedoné, lat. voluptas ist nach modernem Sprachgebrauch besser als ‚Lust‘. 13 Gottfried, Beschirmung, cap.5: 452 (Seitenangaben nach der Edition bei Drücke); cap.13: 461. – Zu der These, virtus propter se ipsam expetendam – „Tugend muß um ihrer selbst willlen angestrebt werden“, vgl. Cicero, de inventione: 2, 52, 157-158; 2, 54, 164.
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schreibt der Übersetzer voluptas und tranquillitas (Raimondi),14 als das höchste Gut bestimmt:15 „Und darumb so hat warlich unser Epycurus gesatzet die seligkeit des menschen sin in lusten so wir also geborn und gemacht sin, das wir von der naturen vill nahe als darzu geschmyttet sin, geachtet werden. Und ist darzu auch unserm gemude von naturen ingedrucket sunderliche begirlichkeit, entphindunge und follenfurunge, ia hervolgung des lusten.“
Der Vorrang der Lust vor der Tugend wird zwiefach bewiesen: (a) Die Natur hat sich selbst und den Menschen so, mit einem sensus naturalis voluptatis, „fabriziert“; (b) der Mensch ist eine Einheit von Leib, Seele, Gemüt (gemude): deshalb kann das „höchste Gut“ nicht nur dem intellektuellen Teil zugesprochen werden. Vielmehr muß grundsätzlich ein höchstes Gut von der „seligkeit des gantzen menschen“ ausgesagt werden:16 „Aber hie in dieser unser disputation wirt gefraget von der seligkeit des gantzen menschen und nit von eynichem sunderlichen teyl desselben.“
Die Formel „der gantze Mensch“ ist dem Übersetzer so wichtig, dass er sie an anderer Stelle dem Original hinzufügt:17
14 Gottfried, Beschirmung, cap.13, S.461; Raimondi, ebd.: Cum igitur propter vite tranquillitatem, qua in ipsa felicitatis voluptatis nomine felicitatem Epicurus collocavit, virtus expetatur, […]. Es folgen die üblichen Vorwürfe gegen Epikureer („freßerij, drunckenheit“ etc.) und werden abgewiesen. 15 Gottfried, Beschirmung, cap. 10: 458; Raimondi, ebd.: Vere igitur Epicurus in voluptate summum bonum constituit, cum ita nati et facti simus, ut ad id quasi fabricati videamur. Est praeterea in animis nostris naturalis quidam sensus capiundae et prosequende voluptatis. 16 Gottfried, Beschirmung, cap.9: 457; Raimondi, ebd.: Verum de homine toto, non de eius parte queritur. 17 Gottfried, Beschirmung, cap.6: 453; Raimondi, ebd.: Aut cur animum curant, corpus negligunt, animi ipsius domicilium ipsiusque hominis partem alteram?
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„Ader [oder] so sie groß achten die sele, war umb sin sie dan gerenge achten, ia ganz versinnen den lip, der do ist ein huse ader wonunge der selen, und das ander teyl des gantzen menschen?“
Der „gantze mensch“ ist von Natur, „der eynigen furstin, gebererin und meinsterin aller dinge“, so mit Sinnen ausgestattet worden, dass er das Schöne in der Natur sehen, hören, riechen kann.18 Der Mensch hat einen „natürlichen Sinn“, mit dem er „alles lusten“ sucht und wahrnimmt.19 Die Natur hat all das Schöne „umb des menschen willen gemacht und geschaffen“. Gottfried formuliert einen quasi-teleologischen Naturbegriff, wie er auch in antiken epikureisch-stoischen Texten gebildet worden ist, und verbindet ihn mit einem auffällig langen und expliciten Lob der natura creatrix,20 das nicht ohne Spannung in das antiteleologische System der Atomistik eingefügt werden kann. Gottfried nennt seine Argumentation – in einer Zufügung zu dem Text des Raimondi – „naturliche philosophij“ und will diese vorsichtigerweise von der „schlechten [schlichten] und waren philosophij, die wir theologiam nennen“,21 durchaus getrennt halten. 2. Die Verteidigung Epikurs arbeitet höchst selektiv. Sie beschränkt sich auf Teile der moralis philosophia und spart schwierige Themen epikureischer Philosophie aus: die Atomistik; die Entstehung des Lebens durch Notwendigkeit und Zufall in den Experimenten der Natur; die Lehre von der radikalen Sterblichkeit des Menschen, die Befreiung von der Todesangst; die Argumente gegen die Leugnung der Sterblichkeit der Seele; die Ausscheidung von immanenter Ziel-
18 Gottfried, Beschirmung, cap.9: 456. – Raimondi, ebd.: ordiar ab illa una omnium rerum principe et institutrice. 19 Gottfried, Beschirmung, cap.10: 458. – Raimondi, ebd.: Est praeterea in mentibus nostris naturalis quidam sensus capiundae et prosequende voluptatis. 20 Vgl. z.B. Seneca, epistulae morales 78,7: sic nos amantissima nostri Natura disposuit, ut dolorem aut tolerabilem aut brevem faceret – „So hat uns die uns überaus liebende Natur eingerichtet, daß sie Schmerz entweder erträglich oder kurz machte.“ (= H. Usener (Hg.), Epicurea, Leipig 1887 (Ndr. Stuttgart 1966), frg. 446; vgl. frg.469). 21 Gottfried, Beschirmung, cap.4: 451.
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strebigkeit im Naturgeschehen und von Vorsehung in der Theologie – die Götter sind da, aber Weltenlauf und Menschenleben berühren sie nicht. All dies – auch die Wahrnehmungslehre (eidola-Theorie) und die Religionskritik – wird in späteren Phasen der Epikur-Rezeption nachgeholt.22 Johann Gottfried übersetzt einen Text des Cosma Raimondi. Seine eigene Stellung zu Epikur macht er auf verschiedene Weise deutlich: nirgends eine Ablehnung, überall Zustimmung, auch in den Zusätzen und Verbreiterungen des Übersetzers. Epikur ist ihm „unter allen weisen menschen der weiseste“. Den Lobspruch Raimondis – O sapientissimum hominem Epicurum – weitet Gottfried aus zu: „O den aller erluchtigsten, o den allerwisesten menschen Epycurum“.23 Raimondi schreibt lediglich den Namen ‚Epikur‘; Gottfried erweitert ihn zu einer persönlichen Formel „unser Epycurus“.24 Die Form der „Verteidigung Epikurs“ ist ein Brief. Ein Brief ist kein Traktat, und er sollte eher kurz sein. Deshalb kann diese Verteidigung auf gelehrtes name-dropping und fleißig zusammengetragene Zitatennester verzichten. Weder antike Anhänger noch Gegner Epikurs sind genannt, auch keine zeitgenössischen Autoren, die sich, wie etwa Lorenzo Valla (1407-1457), im Quattrocento um die Rehabilitation Epikurs verdient gemacht haben.25 Es fehlen aber auch durchweg Zitate, Hinweise, Anspielungen auf christliche Texte: weder Dekalog
22 Howard Jones, The Epicurean Tradition, London u.a. 1989; Hans-Joachim Krämer, „Epikur und die hedonistische Tradition“, in: Humanistische Bildung 3, 1980: 65-109 (mit reichen Belegen und Sekundärliteratur). Hier seien nur einige Namen erinnert: Pierre Gassendi (De vita et moribus Epicuri, 1647), Denis Diderot, Paul Henri Thiry d’Holbach; Julien Offray de La Mettrie (Système d’Épicure, 1750); Claude Adrien Helvétius; Christoph Martin Wieland; Karl Ludwig Knebel; Ludwig Feuerbach. 23 Gottfried, Beschirmung, cap.1: 448; cap.4: 451. 24 Gottfried, Beschirmung: 450, 451, 461, 462, 464 u.ö. 25 Lorenzo Valla, De voluptate, 1431 (andere Titel: de vero bono; de vero et falso bono); vgl. Don Cameron Allen, „The rehabilitation of Epicurus and his theory of pleasure in the early Renaissance“, in: Studies in Philology 41, 1944: 1-15; vgl. Maristella de Panizza Lorch, A Defense of Life, Lorenzo Valla’s Theory of Pleasure, München1985.
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noch Bergpredigt, kein Kirchenvater, kein Kirchenlehrer. Der Diskurs bleibt religionsfrei, strikt moralisch auf der Grundlage natürlicher und antiker Philosophie.26 § 2.3 „Humanistische Laienbildung“ Die „Beschirmung Epycuri“ ist von Simone Drücke unter dem Titel „Humanistische Laienbildung“ herausgegeben und handschriftenkundlich, biographisch, im Hinblick auf Übersetzungstechnik und Vorlagen erläutert worden.27 Für die durchaus einleuchtende Titelgebung seien einige Gründe zusammengestellt. (1) Das Übersetzungswerk Gottfrieds, wie es die Berliner Handschrift
versammelt hat, ist nicht fachphilosophisch, sondern eine Verbindung von antiker und neuzeitlicher Popularphilosophie mit etwas Geschichte (Livius, Curtius Rufus) und Satire (Lukian). Es dient der Bildung von erwachsenen Laien, nicht Klerikern, nicht Lateinschülern; es setzt keine Lateinkenntnisse voraus. Der pädagogische Impuls dieses Zweiges der Antikerezeption ist zumal in den Widmungsbriefen deutlich.28 In der „Beschirmung“ werden nicht sprachliche Virtuosität oder Rhetorik vermittelt, sondern moralische Alternativen diskutiert und für das epikureische Glück geworben (Protreptik). Das Thema „Freundschaft“ (Seneca, Epis-
26 Ausnahmen: die Abgrenzung von der theologia (cap.4: 451); das Orakel Apollons (cap.4: 450-451). 27 Susanne Drücke, Humanistische Laienbildung (s. Anm.7), mit reicher Literatur zur Geschichte des Frühneuhochdeutschen und der Übersetzungskultur; vgl. dies., „Andreas Silvius Piccolomini als humanistischer Epistolograph. Mit einer Edition der frühneuhochdeutschen Übersetzung von Aeneas’ Brief an Wilhelm vom Stein“, in: N. Staubach (Hg.), Rom und das Reich vor der Reformation. Frankfurt am Main, Wien u.a. 2004: 271ff. 28 Vgl. G. Streckenbach, Stiltheorie und Rhetorik der Römer im Spiegel humanistischer Schülergespräche (Diss. Berlin 1931), Göttingen 1979: 183 ff. zu einer anderen Richtung humanistischer Pädagogik (aufbauend auf Cicero und Quintilians Rhetorik).
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tel 9) und die Briefform der „Beschirmung“ fügen sich in diesen ‚humanistischen‘ Diskurs. Der Übersetzer der „Beschirmung“, ihr Adressat, Friedrich von Dalberg, und der Oppenheimer Drucker und Autor Jakob Köbel stehen in Verbindung mit den Heidelberger Humanisten, der sogenannten Sodalitas litteraria Rhenana.29 Freundschaft und Briefe sind spezifische Kommunikationsformen dieser humanistischen Kreise. Die „Beschirmung Epycuri“ ist moralis philosophia; antike Tradition („unser Epycurus“) und die Natur („natürliche Philosophie“) sind Grundlage der Argumentation. Der „ganze Mensch“, die Einheit von Leib, Seele, Gemüt ist die zentrale Aussage. Das Wort ‚Mensch‘ wird definiert und emphatisch gebraucht (cap.6, S.453). Christliche Religion und Theologie werden nur einmal in der „Beschirmung“ genannt, um sie von der nur „natürlichen Philosophie“ der „Verteidigung“ abzugrenzen.30 Einmal ist, eher sprichwörtlich, ein nichtchristliches Mythologem benutzt (Apoll und sein Orakel, cap.4). Es gibt in der „Beschirmung“ weder Polemik noch Versuche zu einer Synthese. Die Erkenntnis der ‚Einheit‘ und ‚Ganzheit‘ des lebendigen, leiblichen Menschen impliziert die Rehabilitation der Sinne; Gottfried nennt Gesicht, Gehör, Geruch, nicht das Gefühl (Tastsinn). Die Aufwertung von Sinnlichkeit, die Erforschung der „niederen Erkenntnisvermögen“ (Gnoseologia inferior), die „Naturlehre des Gefühls“ führen im 18. Jahrhundert zur Ausbildung der Ästhetik und tragen bei zur Konstitution des modernen Begriffs ‚Humanität‘ bei Johann Gottfried Herder.31
29 Zu Gottfrieds humanistischen Verbindungen vgl. Drücke: 28-30; zu Köbels humanistischen Bekannten s. Drücke: 135, Anm.61: Rudolf Agricola, Conrad Celtis, Johann von Dalberg, Johannes Reuchlin. 30 Auch in den anderen Widmungsbriefen und Übersetzungen Gottfrieds sind Bezüge auf das Christentum selten, wie Drücke mehrfach betont, s.: 280, 285, 286, 288(!), 289, 290, 298, 300, 305 (Zusammenfassung). 31 J. G. Herder: Zum Sinn des Gefühls (1769); ders.: Plastik (1768-70); ders.: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (...), in: J. Brummack/ M. Bollacher (Hg.), J.G. Herder, Schriften zu Philosophie,
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Aus diesen Beobachtungen lässt sich folgern, dass die besondere Form von Antikerezeption, die in der „Beschirmung Epycuri“ vorliegt, als ‚Humanismus‘ bezeichnet werden kann. Obschon die Prägung dieses Begriffes und seine Übertragung auf die Renaissance erst im 19. Jahrhundert erfolgten, lässt sich das Übersetzungswerk Johann Gottfrieds sachgemäß als „humanistische Laienbildung“ kennzeichnen.
§ 3 „D ER ALTE M ENSCHENFREUND “ (J OHANN G OTTFRIED H ERDER , 18./19. J AHRHUNDERT ) 1. Zu Beginn der „Dritten Sammlung“ seiner „Briefe zur Beförderung der Humanität“ (nr.27-28) gibt Herder eine Bestimmung des Ausdrucks ‚Humanität‘. Er bestimmt ihn nicht durch das Merkmal ‚Antike-Rezeption‘, obschon er zahlreiche klassische Texte und sogar die in der bildenden Kunst der Antike fixierten Menschenbilder zur Explikation seiner Bestimmung heranzieht. Er bestimmt ihn weder durch den Anschluss an eine philosophische Definition von ‚Mensch/ ‚Menschheit‘, noch durch den auch theologisch schwierigen Bezug auf den biblischen Schöpfungs-Mythos (be-sélem/ imago dei). Er vermeidet auch die Beziehung auf ‚Gelehrsamkeit‘, obschon studia humanitatis doch gewiss in die Genealogie der humanité gehören. Herder bestimmt vielmehr den Ausdruck ‚Humanität‘ im Begriffsfeld humanitärer Praxis:32 ‚Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe‘. Der Bezug auf humanitäre Praxis ist ihm notwendig, weil er ‚Hinfälligkeit‘, ‚Zerbrechlich-
Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787 (Werke Bd.4), Frankfurt am Main 1994: 233-242; 243-326; 327-393. – „Naturlehre des Gefühls“: ebd. S.979. Vgl. Dorothee Kimmich, „Art. Epikureismus“, in: Der Neue Pauly, Bd.13, Stuttgart – Weimar 1999: 985-996. 32 J.G. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität (1793/97), hg. von Dietrich Irmscher, Frankfurt am Main 1991 (abgekürzt: BBH), nr.27 (147).
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keit‘, die Gefahr, in Brutalität zurückzufallen, als erstes Charakteristikum von Menschsein einführt. 33 2. Schon zu Herders Zeiten waren die Begriffe, mit denen er ‚Humanität‘ zu umschreiben, zu charakterisieren, zu definieren versuchte, sei’s politisch aufgeladen, wie die droits de l’homme, sei’s verbraucht, wie ‚Menschenliebe‘.34 „Das schöne Wort ‚Menschenliebe‘“, schreibt Herder, „ist so trivial geworden, daß man meistens die Menschen liebt, um keinen unter den Menschen wirksam zu lieben“. Dabei hatte Herder „das schöne Wort“ vorbereitet, an einen großen Mythos angeschlossen und mit ausgreifenden geschichtsphilosophischen Erwägungen verknüpft. Er schreibt, gedeckt durch die Form eines Traumgesichts, den Prometheus-Mythos fort, allegorisiert ihn auf Aufklärung, Fortschritt, Perfektibilität von Mensch und Menschheit:35 „Durch Sturm und Wellen, über Felsen und Wüsten kam ich zum Sitze des alten Menschenfreundes, Prometheus. Er war nicht mehr an seinen Felsen geschmiedet; kein Adler zehrete mehr an seiner nimmerverzehrten Leber. [...] alle Menschenfreundlichen Nymphen und Pflegerinnen der Erde waren um ihn versammlet, und er sprach: ‚Meine Vorsicht konnte mich nicht trügen, denn ich wußte, was ich den Menschen gegeben hatte mit meinem Geschenk. Unsterblichkeit ist nicht für sie auf Erden; aber mit dem Licht, das ich für sie vom Olympus holte, hatten sie Alles. Träge Geschöpfe, daß sie so lang‘ in der Dämmerung gingen; endlich haben sie das Mittel gefunden, das in ihnen selbst
33 BBH nr.28: 149. – Zum Aufbau der Dritten Sammlung vgl. H. Cancik, „Die Begründung der Humanität bei Herder. Zur Antikerezeption in den Briefen zur Beförderung der Humanität“, in: M. Vöhler/ H. Cancik (Hg.), Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert, Bd. I: Genese und Profil des europäischen Humanismus im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2009; § 2: Die Dritte Sammlung. 34 BBH nr.27 (148). 35 BBH nr.23 (120-121). – Der 23. Brief ist umgearbeitet aus einer älteren Fassung der Ausgabe von 1792 (19. Brief). – Am 3. September 1791 wird in Paris die neue Verfassung verkündet, die Menschenrechte garantiert; Mai 1794: Einführung des „Kultes der Vernunft“; „Fest des Höchsten Wesens“; Notre Dame wird „Tempel der Vernunft“. Erklärung der Menschenrechte: 26. August 1789.
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lag, die Vernunft. Sie gibt das Maß und die Waage, sich selbst zu regieren, Leidenschaften, auch die stärksten und härtesten zu überwinden, und allein meiner Mutter Themis zu gehorchen. Lange litt ich mit ihren Leiden; darum war ich an den Felsen geschmiedet, die Zeit und ein edler Göttersohn, der Sohn meines ärgsten Feindes, haben mich befreiet.‘ Das Traumbild verschwand, und ich erwachte.“
Hier wird antike Tradition systematisiert um den Begriff Humanität, wird verknüpft mit antiken und nachantiken Texten, Philosophemen, historischen Paradigmen, wird aktualisiert im Lichte der Aufklärung, der Revolution und der Erklärung der Menschenrechte in Frankreich. Nicht den Rebellen gegen den Vatergott sieht Herder in seinem Traumgesicht, nicht das schöpferische Genie, das Menschen formt nach seinem Bilde. Herder sieht vielmehr den „Menschenfreund“, den Lichtbringer, den Mitleidenden. Er betont die humanitäre Dimension von ‚Humanität‘: die Barmherzigkeit, nicht die Bildung, die Philanthropie, nicht die Paideia. „Lange“, sagt Prometheus, „litt ich mit ihren Leiden“. Mit dieser Akzentuierung trifft Herder zentrale Punkte des alten Mythus und den römischen Begriff humanitas. Denn Prometheus ist, so die kanonische Fassung des Mythos bei Aischylos, der erste „Philanthrop“ und ein „leidender Gott“. Nach antiken Verständnis ist humanitas Erziehung und Barmherzigkeit, eruditio und misericordia. Deshalb wird die „Göttin“ Humanität nicht mit Worten verehrt, „sondern in Taten und Seele“.36 3. Zehn Jahre nach dem prometheischen Traumgesicht (Brief 23) und ein Jahr vor seinem Tode versucht Herder noch einmal, in einer Fortschreibung des Prometheus-Mythos, „die Bildung und Fortbildung des Menschengeschlechtes zu jeder Cultur, das Fortstreben des göttlichen Geistes im Menschen zur Aufweckung aller Kräfte“, „die
36 BBH nr.23: 20: „Allenthalben, auch im Tempel der Religion, verehrte man Eine Göttin, aber nicht mit Worten, sondern in Taten und Seele, die Humanität.“ Nicht durch antike Tradition gedeckt ist in diesem Traum der Tempel der Religion und die Apotheose der Humanität. Herder vollzieht hier, allerdings nur im Traum, eine auffällige Sakralisierung. Herder will die Göttin anbeten, tut es aber nicht.
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Flamme der immer-fortgehenden Menschen-Bildung“ darzustellen.37 Weder Sansculottes noch Terreurs, nicht Jakobinerherrschaft noch Babouvismus konnten Herder davon abhalten, seinen Zeitgenossen ausgerechnet den rebellischen Philanthropen als „ein sehr lehrreiches Emblem“ von Aufklärung, Fortschritt, Freiheit und Völkerfrieden zu empfehlen.38 Die Menschen haben mit ihren prometheischen Gaben – Feuer, Technik, Künste, Vernunft und Unternehmensgeist – Meer und Erde verletzt, durch Herakles sogar das Totenreich bezwungen. Die Gottheiten kommen zu dem immer noch an den Kaukasus gefesselten Titanen und beklagen sich. Prometheus wehrt die Anklagen ab, verteidigt sogar die von ihm ‚gebildeten‘ Menschen, rühmt ihren entfesselten Wagemut und Forschergeist, mahnt zur Geduld. Die 13. und letzte Szene bringt ein happy end. Eine neue, die wirkliche Pan-dora („Alles-Geberin“) erscheint in hoher Einfalt und Anmut:39 „Prometheus: Sprich, Wie ist Dein Name? Pallas (Athene): Deines Werkes Ziel Agathia , die reine Menschlichkeit.“
Gewiss hat auch die aischyleische Prometheus-Trilogie, aus der nur ein Stück, „Der gefesselte Prometheus“, und wenige Fragmente der anderen Teile erhalten sind, den Konflikt zwischen dem olympischen
37 Herder an Gleim, 1802, in: Carl Redlich (Hg.), Herders Poetische Werke. 4. Bd., Berlin 1884 (= Herders Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, Bd.28, Berlin 1884): 329-330; 330-352: „Der entfesselte Prometheus. Scenen“. Auf 352-368 ein „gleichzeitiger“ von Herder nicht publizierter Entwurf. 38 Zur Stellung Herders zur Französischen Revolution: Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß, hg. von H. Düntzer und F. G. von Herder. Bd.1, Leipzig 1861. Herders Briefwechsel mit Gleim und Nicolai, bes.: 150 f., 162 f., 242; 243 (Caroline und J.G. Herder an Gleim). 39 Herder (Redlich (Hg.), Herders Poetische Werke, 4. Bd.): 350.
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Zeus und Prometheus, dem Sohn der Erde, zu einer Lösung geführt.40 Vielleicht darf man sie sich vorstellen in Analogie zum Schluss der Orestie (458 v.Chr.), in dem die Blutrache abgeschafft und ein Gerichtshof eingerichtet wird mit Prozess und Urteilsfindung durch Abstimmung und Einbindung der unterlegenen Partei. Herder hat sich in seiner Fortschreibung des Mythos formal und thematisch an Aischylos orientiert.41 Dieser hat, in der Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, als Athen unter Ephialtes und Perikles die Demokratie als Verfassungsform vollendet hatte und in seine imperiale Phase übergegangen war, seinen Prometheus als „Philanthropen“ gestaltet und auch mit diesem Namen bezeichnet.42 Aber Aischylos hat den menschenfreundlichen Erfinder, Kulturbringer, ‚Trickster‘ auch „Sophist“ genannt43 und den titanischen Ursprung aller Kulturtechniken reflektiert, den Anfang der Geschichte mit Betrug – das Opfer in Mekone – und Diebstahl – das Feuer im NarthexStengel, die Verwicklung des Prometheus in den Machtkampf der Olympier. Aischylos exponiert die Verstrickung von Schuld und Kultur, Illusion und Fortschritt,44 Vernunft und Hybris. Die Konkretheit und Komplexität der tragischen Konstruktion wird in der Fortdichtung des späten Herder verschlungen von dessen Willen zu Allversöhnung, konfliktfreier Harmonie, abstrakter Men-
40 Zeugnisse und Fragmente bei H.J. Mette, Die Fragmente der Tragödien des Aischylos, Berlin 1959: 115-131; ders., Der verlorene Aischlyos, Berlin 1963: 16-30; vgl. D. Bremer (Hg.), Aischylos – Prometheus in Fesseln, Frankfurt am Main 1988 (zweisprachige Ausgabe mit Hinweisen zu Deutung und Wirkungsgeschichte und mit Abbildungen (seit dem 6.Jh. v. Chr.). 41 In den Notizen zur Wirkungsgeschichte hat D. Bremer (a.O.: 160) zwar Herders 23. Brief erwähnt, nicht aber seine „Scenen“ zum entfesselten Prometheus. Vgl. O. Walzel, Das Prometheus-Symbol von Shaftesbury zu Goethe (21932), Ndr. Darmstadt 1968. 42 Aischylos, Prometheus: 10f.; 28; vgl. 123: „zu große Liebe zu den Sterblichen“. 43 Aischylos, Prometheus: 62; 944; 1039 (sophós); vgl. 506. 44 Die erste Gabe des Prometheus an die Menschen sind „blinde Hoffnungen“, die Verdrängung der Todesfurcht (Aisch. Prom. 250).
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schenliebe, „reiner Menschlichkeit“. Eine von Herder nicht publizierte Fassung seiner „Scenen“ zeigt am Schluss einen misstrauischen Prometheus, der ungern mit den Olympiern sich versöhnen lässt:45 „Die alten Götter sind Mir furchtbar. Auch wenn popularisierend Wohlthun sie wollen.“
§ 4 Z USAMMENFASSUNG Magister Gregorius und die Wunderwerke der ewigen Stadt, Johann Gottfried und die „Beschirmung“ unseres Epicurus, schließlich Johann Gottfried Herder und seine prometheische Humanität veranschaulichen drei Arten von Antike-Rezeption: die unmittelbare Begegnung mit den antiken Gebilden; den pädagogischen und moralischen Impuls durch excellente Gestalten und Texte der Antike; poietische Inspiration durch Mythos und Tragödie. Erlebnisbericht, Übersetzung mit Widmung und Werbung, Vision und (allegorischer) Mythos sind die drei Formen, in denen sich Antikerezeption hier darstellt. Diese drei Arten der Rezeption und die Formen ihrer Darstellung, exemplifiziert an je einem Beispiel aus Mittelalter, Renaissance und Moderne, sind allgemeine Typen, sie sind nicht an bestimmte Epochen gebunden. Die drei Texte zeigen die faktische, materielle Präsenz von Antike und ihre Wirkung auf das europäische Geschichtsbewusstsein und Menschenbild, die gelehrte und engagierte Tätigkeit des Übersetzers, Erziehers, Moralisten und die Erschließung bzw. Wiedergewinnung ästhetischer und ethischer Wirklichkeit („der ganze Mensch“), schließlich die Arbeit am Mythos zur Begründung humanitärer Praxis.
45 Herder (Redlich (Hg.), Herders Poetische Werke, 4. Bd.): 367. – Die Schlussworte dieser allerdings nicht vollständig erhaltenen Fassung lauten, gesprochen von Pallas Athene (368): „... denn der Götter Göttlichstes/ Und Seeligstes wird reine Menschlichkeit./ Stimmt an, ihr Musen, singt Prometheus Ruhm!“
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Die Rezeption ist selektiv, aber nicht beliebig. Sie ist an ihren Kontext gebunden und gelangt, eben durch die Rezeption, über ihn hinaus.46 Für den begrenzten Zweck dieser Untersuchung sei erinnert, dass ‚Humanismus‘ ursprünglich nicht eine Philosophie oder Religion bezeichnet, sondern eine Tradition, eine besondere Art der (west-) europäischen Antike-Rezeption, eine Bildungsbewegung mit wissenschaftlichen, moralischen, pädagogischen Ansprüchen, eine Grundlage humanitärer Theorie und Praxis, eine Quelle der allgemeinen, „von der Natur gegebenen“ Rechte des Menschen.
46 Vgl. H. Cancik/ H. Mohr, „Rezeptionsformen“, in: der Neue Pauly 15/2, Stuttgart/Weimar 2002: 759-770.
Humanität und interkultureller Diskurs Zur Wiedererwägung des Humanismus D IETER S TURMA
E INLEITUNG Das semantische Feld des Ausdrucks „Humanismus“ ist vielschichtig. Es bezieht sich auf den praktischen Umgang mit Humanität genauso wie auf spezifische kulturgeschichtliche Epochen. Sein begriffsgeschichtliches Schicksal ist wechselhaft. Auf Zeiten aufgeregter Auseinandersetzungen mit humanistischen Problemstellungen folgen immer wieder lange Zeiträume, in denen er aus dem Blickfeld der theoretischen und politischen Diskurse verschwindet. In den vergangenen Jahrzehnten ist er eher Anlass für beiläufige Bezugnahmen gewesen, gleichwohl gibt es gegenwärtig sachliche Gründe für eine Wiedererwägung. Zu nennen sind drei Herausforderungen für das menschliche Selbstverständnis: die fundamentalistische Herausforderung, die relativistische Herausforderung sowie die szientistisch-eliminativistische Herausforderung. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen wird im Folgenden aus der langen Geschichte des Humanismus heraus ein konzeptioneller Vorschlag zu seiner Wiedererwägung entwickelt. Auch wenn sich in der Geschichte des Humanismus bleibende Themen und Einstellungen finden, ist sie insgesamt durch Brüche und Widersprüche gekennzeichnet. Die intendierte Wiedererwägung kann deshalb nicht ohne systematisch geleitete Schwerpunktsetzungen auskommen, die nicht durch die gesamte Geschichte des Humanismus gedeckt sind.
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Sie orientieren sich an ausgewählten historischen Anlässen, die sich einer systematischen Rekonstruktion öffnen – das gilt vor allem für Stationen der Herausbildung des ethischen Humanismus. Die konzeptionelle Integration von Kulturellem beziehungsweise Historischem und Systematischem geschieht mit der Absicht, ein Angebot für den interkulturellen Diskurs über humane Werte zu machen. Dieser Ansatz wird von der Überzeugung getragen, dass allein in der Perspektive einer interkulturell kommunizierbaren normativen Theorie der Humanität, die keinen Gebrauch von elitären beziehungsweise privilegierten Positionen Gebrauch macht, die Wiedererwägung des Humanismus sinnvoll sein könne.
D IE E NTDECKUNG DER H UMANITÄT : H AUPTSTRÖMUNGEN DES H UMANISMUS Der Begriff des Humanismus als solcher hat eine vergleichsweise kurze Geschichte. Im Jahr 1808 wird er von Friedrich Immanuel Niethammer im Rahmen der Verteidigung eines an den studias humanitatis ausgerichteten Unterrichtsystems eingesetzt.1 Der unmittelbare Zusammenhang von Humanismus und Bildung hat sich bis heute erhalten. In kulturhistorischer Perspektive ist es mittlerweile üblich, mit dem Ausdruck „Humanismus“ vor allem vier kulturgeschichtliche Abschnitte anzusprechen: den römischen Humanismus, den RenaissanceHumanismus, den Humanismus der deutschen Klassik sowie den Humanismusstreit im 20. Jahrhundert. In allen diesen Epochen zeigt sich – in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen – ein zunächst positiv besetzter Umgang mit dem Begriff der Humanität, der dann immer wieder von kritischen Auseinandersetzungen begleitet wird. In den ersten drei Epochen tritt der Humanismus als ein interkultureller Diskurs auf, der sich über große Zeiträume und Kulturräume hinweg bewegt und einem Bildungsgedanken im Sinne einer Bildung der humanen Lebensform verpflichtet ist. Dabei kommt der kulturellen An-
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Niethammer 1808.
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eignung des Anderen, des Alten und des Fremden eine entscheidende Bedeutung zu.2 Der Zusammenhang von Humanität und Bildung wird bereits im römischen Humanismus entdeckt. Seneca führt ein frühes humanistisches Projekt an, dem zufolge es ein Gebot der humanen Lebensform ist, die eigene Existenz zu nutzen, um Humanität zu kultivieren.3 Im Hintergrund dieses Projekts steht die Lehre von der zweiten Natur des Menschen, worunter insbesondere Sprache, Vernunft und Politikfähigkeit zu rechnen seien. Cicero spricht auch von der natura altera, mit der nichts anderes gemeint ist als die Kultur, in die der Mensch nach und nach seine erste Natur transformiert. Die Programmatik der Ausbildung der zweiten Natur hat entscheidenden Einfluss auf die Ausrichtung der nachfolgenden humanistischen Bewegungen. Das gilt vor allem für den Renaissance-Humanismus und den Humanismus der deutschen Klassik. Der Renaissance-Humanismus und der Humanismus der deutschen Klassik verleihen dem Gedanken der eigenständigen Entwicklung von Humanität eine manifeste Form, in die eine Vielzahl von normativen Bestimmungen eingeht. Es wird unterschieden zwischen dem, was an spezifisch Menschlichem deskriptiv identifiziert werden kann, und dem, was als normativ gerechtfertigt gelten kann. Denn nicht alles in den kulturellen Lebensweisen der Menschen ist in normativer Hinsicht human. Böswillige Einstellungen oder Gräueltaten können nur Personen zugeschrieben werden, aber es ist gerade nicht human, böse oder grausam zu sein.4 Programmatisches Ziel der Entwicklung von Humanität ist die Humanisierung der Lebenswelt. In den „Briefen zur Beförderung der Humanität“ entwickelt Herder ein kulturelles Projekt der umfassenden
2
Pico della Mirandolas Schrift „De hominis dignitate“ ist exemplarisch für
3
„Interim, dum trahimus, dum inter homines sumus, colamus hominitatem;
diesen komplexen Ansatz (Pico della Mirandola 1990). non timori cuiquam, non periculo simus; detrimenta, iniurias, convicia, vellicationes contemnamus et magno animo brevia feramus incommoda: dum respicimus, quod aiunt, versamusque nos, iam mortalitas aderit.“ (Seneca 1976: 310) 4
Zum Begriff der Person vgl. Sturma 2008b.
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kulturellen und sozialen Befriedung. Dieses Projekt versieht er mit der pathetischen Formel: „Meine große Friedensfrau hat nur Einen Namen: sie heißt allgemeine Billigkeit, Menschlichkeit, tätige Vernunft.“5 Individualität, Humanität, Bildung, Vernunft und Freiheit sind die großen Schlagworte des Projekts des klassischen Humanismus, das aufgrund dessen sachlich eng mit dem Projekt der Aufklärung verbunden ist.6 Das gemeinsame Anliegen von Humanismus und Aufklärung besteht in der praktischen Beantwortung der Fragestellung, wie sich der Mensch als kulturelles Subjekt behaupten kann und wie zu verhindern ist, dass er sein epistemisches und moralisches Entwicklungspotenzial unterbietet beziehungsweise verfehlt oder sogar zu seinem eigenen Feind wird. Der Ausdruck „Humanismus“ hat nicht den Stellenwert eines Grundbegriffs der praktischen Philosophie. Das gilt gleichermaßen für seine Vergangenheit und Gegenwart. Aus heutiger Sicht kommt erschwerend hinzu, dass er gerade im 20. Jahrhundert eine Reihe von ideologischen Vereinnahmungen erfährt, was einem unbefangenen semantischen Umgang nunmehr im Wege steht. Es wird einem kundigen Vertreter des Humanismus zwar nicht schwer fallen, sich dagegen zu verteidigen, gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass der Humanismus Schattenseiten aufweist, die ideologischen Vereinnahmungen Projektionsflächen bieten. Im Namen des Humanismus sind Grenzen zwischen Mensch und Tier, Bürger und Barbar oder Gebildetem und Ungebildetem gezogen worden. Diese Grenzen haben deskriptive Anlässe, problematisch ist aber der Umstand, dass aus den Beschreibungen einseitige Wertungen und Idealisierungen abgeleitet worden sind. Folgenreich für den philosophischen Stellenwert des Humanismus im 20. Jahrhundert ist ein Diskurs, an dem sich unter anderem Ernst Cassirer, Martin Heidegger, Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre betei-
5
Herder 1991: 71 (119. Brief).
6
Zwar lässt sich in jeder Spielart des Humanismus eine wie auch immer geartete Sonderstellung des Menschen ausmachen. Für den europäischen Humanismus der Neuzeit ist aber überdies die Betonung von Individualität und Persönlichkeit beziehungsweise der freien Entwicklung der einzelnen Person charakteristisch.
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ligt haben. Im Jahre 1929 kommt es in Davos zu der berühmten Disputation zwischen Heidegger und Cassirer. Dabei unterzieht Heidegger die Position Cassirers, die den Grundlagen des klassischen Humanismus verpflichtet ist, einer radikalen Kritik. Später bietet Jean Beaufrets Anfrage „Comment redonner un sens au mot ‚Humanisme‘?“ aus dem Jahre 1946 den Anlass für eine weitere Zuspitzung. Heidegger antwortet Beaufret mit dem „Brief über den Humanismus“.7 Bei seiner Beantwortung verzichtet Heidegger darauf, sich mit dem Antihumanismus im nationalsozialistischen Deutschland auseinanderzusetzen, sondern verwirft kategorisch das, was er für das humanistische Weltverständnis hält. Seine Kritik richtet sich insbesondere auf Sartres existenzialistischen Humanismus. Die Suche nach dem Wesen oder der Natur des Menschen sieht er vom Ansatz her als verfehlt an und erhebt den bis heute in den Geisteswissenschaften wirkenden Vorwurf, dass jeder Humanismus im Kern nur auf ein anthropozentrisches Kreisen des Menschen um sich selbst hinauslaufe. Hinter der Kritik an den vermeintlichen anthropozentrischen Verengungen verbergen sich oft antihumanistische Einstellungen, die sich in herrschenden Weltanschauungen genauso finden wie in einigen Popularisierungen neuerer naturwissenschaftlicher Ansätze. Diesen einfachen Weltmodellen zufolge ist der Mensch – je nach vorherrschendem Paradigma – immer wieder neuen Demütigungen ausgesetzt, mit denen ihm vor Augen geführt wird, dass er nie das ist, was er zu sein glaubt: kein Mittelpunkt der Welt, kein Sonderfall der Schöpfung, kein Vernunftwesen, kein freies Wesen.
A NTIHUMANISTISCHE H ERAUSFORDERUNGEN Der Kerngedanke des ethischen Humanismus, dass jede Person einen moralischen Eigenwert besitzt sowie über eigene Ziele und Zwecke verfügt, muss gegenwärtig theoretisch wie praktisch mit einer Vielzahl von Widerständen rechnen. Es ist das gemeinsame Merkmal antihumanistischer Strömungen des Fundamentalismus (1.), des Relativismus im Sinne einer Tyrannei des Partikularen (2.) und des szientis-
7
Heidegger 1949.
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tischen Eliminativismus (3.), dass sie Personen methodisch oder weltanschaulich als bloße Objekte behandeln. Diese Positionen sind nicht nur aus theoretischen oder methodischen Gründen problematisch. Ihr Gefährdungspotential ist vor allem darin begründet, dass sie instrumentalisierende Sichtweisen popularisieren und einüben. 1. Der religiöse Fundamentalismus ist durch das starre Beharren auf seiner eigenen Ideologie gekennzeichnet. Er ersetzt Begründung und Rechtfertigung durch Tradition und Offenbarung. Was konkret als Tradition und Offenbarung gelten darf und wie der Zugang zu ihnen möglich ist, wird in dem jeweiligen ideologischen System hierarchisch entschieden. Die Vertreter der Weltanschauungen legen in der Regel dabei auch gleich die Form der Durchsetzung der von ihnen verkündeten Normen für den sozialen Raum insgesamt fest. Jede Form des Fundamentalismus verwirft kategorisch den symmetrischen, nicht-hierarchischen Austausch von Gründen. Er verweigert, sich der Logik transparenter Verfahrensgerechtigkeit und Rechtfertigung zu unterwerfen. Das bedeutet vor allem, dass er keine Gründe gelten lässt, die nicht von seinem dogmatischen System getragen werden. Die Kritik an seinen Positionen versteht er nicht als einen Zug in dem Sprachspiel des Gebens und Nehmens von Gründen, sondern als Missachtung heiliger Werte. Der Fundamentalismus akzeptiert nicht die Beschränkung seiner Geltung auf den Rahmen des weltanschaulichen Systems, aus dem heraus er formuliert wird. Vielmehr sieht er sich im Besitz von einfachen und unumstößlichen Gewissheiten, die im sozialen Raum das Zusammenleben für alle Personen mit autoritärer Kraft formieren sollen. Dieser angemaßte ethische und politische Paternalismus ist im Prinzip grenzenlos. Die einfachen Gewissheiten, über die er zu verfügen meint, mutet er ideologiesicher allen Personen in einer Weise zu, die gegenüber Kritik oder Skepsis immun ist. 2. Der Relativismus hat viele Ausdrucksformen und ist typologisch nur schwer zu vereinheitlichen. Seine Geschichte ist durch eine reichhaltige Tradition kritischen Denkens gekennzeichnet. Sie reicht von der Kritik an den Anthropomorphismen des antiken Polytheismus, über Herder und die Romantik, die linguistische Relativitätsthese, die sprachanalytische Empirismuskritik bis hin zum wissenschaftstheoretischen Anarchismus, dem Neostrukturalismus sowie einigen An-
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sätzen des Kommunitarismus. In seinen vielfältigen Ausdrucksformen ist dem Relativismus ein beträchtliches systematisches Potenzial zuzugestehen. Das gilt allerdings nicht für die Belange der praktischen Philosophie, denn seine ethischen Argumentationsformen haben sich bis heute weitgehend als vordergründig erwiesen. Die ethische Strategie des Relativismus besteht in dem Versuch, moralischen Wertungen die geltungstheoretische Grundlage zu entziehen. Es wird nicht bestritten, dass es ethische Ordnungen gibt. Von ihnen wird aber gesagt, dass eine Ordnung so gut und so schlecht wie jede andere sei. Ihre Unterschiede verdankten sich lediglich pragmatischen Überlegungen oder einfachen Nützlichkeitsvorstellungen. Der ethische Relativismus verbindet sich auch mit eliminativistischen Ansätzen, die sich an naturwissenschaftlichen Theoriemodellen orientieren. Moralische Bestimmungen werden dabei unter den Vorbehalt gestellt, lediglich Pseudophänomene zu sein, die zwar über eine soziale Erscheinungsweise verfügen, die in ihrem Zustandekommen aber auf nicht-moralische Bestimmungen zurückgeführt werden können. Die kontextuellen Einbindungen menschlicher Lebensweisen sind nicht von der Hand zu weisen, sie widersprechen prinzipiell aber genauso wenig der Vorstellung einer universell geteilten Moralität wie das Faktum kultureller Vielfalt. Multikulturalität oder kulturelle Verschiedenheit sagen für sich noch nichts darüber aus, ob es in deskriptiver oder normativer Hinsicht Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der Lebensweisen gibt. Die Frage nach universalisierbaren Gesetzen, Rechten und Werten kann nicht, wie der ethische Relativismus nahelegen will, durch eine generalisierende Vorentscheidung aufgelöst werden. Vielmehr muss sie im Rahmen eines breit angelegten Diskurses beantwortet werden, der die Universalisierungsproblematik im Lichte sozialwissenschaftlicher Befunde, ethischer Rekonstruktionen und politischer Verständigungen über interkulturelle Gerechtigkeit thematisiert. 3. Der szientistische Eliminativismus verfolgt radikale Naturalisierungsprogramme, denen in der Regel ein naturwissenschaftliches Paradigma unterlegt wird. Sein Kennzeichen ist die konstruktive Einengung des Gegenstandsbereichs. Seine Ontologie wird von seinen methodischen Verfahrensweisen beherrscht. Unangesehen der gravierenden Veränderungen, die sich im Gang der Naturwissenschaften im-
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mer wieder ausmachen lassen, billigt er nur den Phänomenen, Ereignissen oder Sachverhalten das Prädikat ‚existiert‘ zu, die er mit den jeweils als paradigmatisch unterstellten Methoden erfassen kann. Die antihumanistische Herausforderung des Szientismus besteht nicht in seinem naturalistischen Ausgangspunkt. Ihrer Herkunft und Zielsetzung nach sind Humanismus und Naturalismus wesentliche Bestandteile des Projekts wissenschaftlicher Aufklärung, das dadurch gekennzeichnet ist, Erkenntnisse auf rechtfertigungsfähige und empirisch interpretierbare Weise zu gewinnen. Das schließt im Fall der Erforschung des Menschen ein, dass er aus methodischen Gründen auch den Untersuchungsverfahren ausgesetzt wird, die in den Naturwissenschaften zur Anwendung kommen. Der Antihumanismus ist nicht in der Methode, sondern in ihrer Interpretation begründet. Aus dem Umstand, dass Menschen auch mit herkömmlichen naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden können, wird der Schluss gezogen, dass sie nichts anderes seien als das, was an ihnen in naturwissenschaftlichen Untersuchungen empirisch festgelegt wird. Diese Verwechslung ist der Grund für die vielen szientistischen Fehlschlüsse, welche die gewonnenen Daten allesamt überinterpretieren. Die Fehlschlüsse erzeugen ein Bild vom Menschen, dem zufolge dieser nur ein Objekt ist, das von externen Kräften bewegt wird. Diese Sichtweise macht den Kern des szientistischen Antihumanismus aus: Personen sind ihm zufolge passive Durchgangsstation externer Einflüsse und zu einer eigenen Lebensführung grundsätzlich unfähig. In der Perspektive des instrumentalistischen Antihumanismus fehlen menschlichen Personen Antlitz und Ausdruck.8 Entsprechend könne auch von einem humanen Anliegen oder einer Bildung zur Person nicht die Rede sein. Es ist in diesem Zusammenhang mit Nachdruck hervorzuheben, dass der Antihumanismus eine philosophische beziehungsweise ideologische Position ist, die nicht geeignet ist, den Naturalismus grund-
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Der instrumentalistische Antihumanismus unterscheidet sich von den Projekten Nietzsches (1966) oder Heideggers (1949), die ihren Antihumanismus explizit verteidigen.
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sätzlich in ein Gegensatzverhältnis zum Humanismus zu setzen.9 Allerdings widerspricht eine Vielzahl naturalistischer Ansätze in den Naturwissenschaften dem Humanismus aufgrund ihres methodischen Ansatzes dahingehend, dass sie keinen besonderen Stellenwert für den Menschen in der Natur akzeptieren. In der Perspektive ihrer Methoden erscheint der Mensch ausschließlich als kontextualisiertes Wesen – also ein Wesen, das vollständig den Bedingungen und Kräften seines Umfelds unterworfen ist. Die kritische Stoßrichtung eines neuen Humanismus hat sich dementsprechend gegen die Reifizierung, die Verdinglichung des Humanen zu wenden.10 Die Naturwissenschaften sollten im Rahmen der Wiedererwägung des Humanismus sprachanalytischen, erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Analysen unterzogen werden. Es darf aber keineswegs eine Gegenposition zu einer naturalistisch aufgeklärten Naturwissenschaft bezogen werden. Das liefe auf dualistische Positionen hinaus, die in der gegenwärtigen Theorielandschaft mit guten Gründen nicht mehr für theoriefähig gehalten werden.
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Der Humanismus zielt auf die individuelle oder institutionelle Kultivierung spezifischer Eigenschaften und Fähigkeiten der menschlichen Lebensform im Allgemeinen und der einzelnen Person im Besonderen. Diese Zielsetzung gerät bei naturwissenschaftlichen Untersuchungen aus dem Blick. Darin ist aber nicht einfach ein Versäumnis zu sehen. In der Regel sind die Einengungen des Gegenstandsbereichs methodisch nicht zu umgehen. Es ist die Unvermeidbarkeit der Aus-
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Der Begriff des Naturalismus wird zu Unrecht mit einer eliminativistischen Position identifiziert. Es gibt gewichtige systematische Anlässe und historische Vorlagen für ein umfassendes beziehungsweise integratives Verständnis von Naturalismus (vgl. Sturma 2008a).
10 Es wäre im Übrigen falsch, etwa den Neurowissenschaften den Verdinglichungsvorwurf zu machen, zumal neurowissenschaftliche Forschungen zu einem Großteil unmittelbar oder mittelbar therapeutischen Zielen verpflichtet sind.
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lassungen von spezifischen Bestimmungen der humanen Lebensform, die einen gewichtigen Grund für die Wiedererwägung des Humanismus abgibt. Den naturwissenschaftlich-technischen Herausforderungen des 20. und 21. Jahrhunderts11 muss nicht nur kritisch, sondern auch konstruktiv begegnet werden. Das betrifft vor allem auch die Entwicklung einer normativen Theorie der Humanität, die vor dem Hintergrund der Herausforderungen ein dringliches Erfordernis ist. Der neue, wieder erwogene Humanismus kann jedoch nicht einfach umstandslos an den klassischen Humanismus anknüpfen. Bei seiner konzeptionellen Ausgestaltung müssen der ideologische Missbrauch, die radikale Humanismuskritik im 20. Jahrhundert und die grausamen Erfahrungen des realen Antihumanismus Eingang finden. Deshalb hat bei der Wiedererwägung der Menschenrechtsgedanke eine tragende Rolle einzunehmen – zumal den normativ rechtfertigungsfähigen Bestimmungen des Humanismus zumindest implizit die Überzeugung zugrunde liegt, dass Personen Zwecke an sich selbst seien. Der wieder zu erwägende Humanismus muss von dem Selbstzweckgedanken seinen praktischen Ausgangspunkt nehmen. Die systematische Grundlegung des Selbstzweckgedankens erfolgt bei Rousseau und Kant. Von beiden wird in unterschiedlichen argumentativen Zugriffen dargelegt, dass Personen in einem kategorischen, nicht verhandelbaren Sinn Zwecke an sich selbst seien.12 Daraus leitet sich das Instrumentalisierungsverbot ab, dem zufolge Personen immer auch als Zwecke an sich selbst zu betrachten sind und niemals bloß als Mittel oder Objekte gebraucht werden dürfen. Vor dem Hintergrund des Instrumentalisierungsverbots gewinnt die szientistische Herausforderung an Schärfe: Wenn die humane Lebensform in szientistischen Ansätzen nur noch Gegenstand schwacher beziehungsweise dünner Beschreibungen ist, erscheinen Personen nur noch als Entität unter den Entitäten, die von den Naturwissenschaften mit ihren jeweiligen Methoden erfasst werden. Humanismus und Menschenrechte haben danach keinen sachlichen Anhalt. Auf diese
11 Zu diesen Herausforderungen gehören auch die Robotik und die Künstliche Intelligenz Forschung. 12 Rousseau 1964: 355 ff. (I. iv), Kant 1968: 428 ff.
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Weise wird einem politischen Antihumanismus in die Karten gespielt, welcher der einzelnen Person keine grundsätzliche Rücksichtnahme mehr zubilligt und ihre Instrumentalisierung aufgrund weltanschaulicher oder politischer Zielsetzungen unter bestimmten Bedingungen für zulässig hält. Dieser Einwand betrifft nicht die Naturwissenschaften als solche. Antihumanistisch ist nur, was weltanschaulich und philosophisch aus vermeintlich naturwissenschaftlichen Weltbildern gemacht wird. Es ist aber nicht ausreichend, den Naturwissenschaften vorzuhalten, was sie an der humanen Lebensform beziehungsweise dem Leben einer Person nicht erfassen. Es muss vielmehr auch gesagt werden können, was das Leben einer Person in einem spezifischen Sinne auszeichnet. Dazu muss eine dichte Beschreibung der menschlichen Lebensform durchgeführt werden. Eine dichte Beschreibung unterscheidet sich von einer dünnen Beschreibung darin, dass sie Sinn und Bedeutung eines Systems aus der Innenperspektive erfasst und nicht nur von außen betrachtet. Gilbert Ryle hat das am Beispiel des Unterschieds zwischen Augenzucken und Zwinkern deutlich gemacht.13 Eine dichte Beschreibung erfasst, was passiert, wenn eine Person einer anderen Person zuzwinkert, um ihr so etwas mitzuteilen. Eine schwache Beschreibung wird dagegen nicht einmal den Unterschied zwischen Zwinkern und dem nervösen Zucken der Augenlider erfassen. Eliminativistische Positionen verbleiben im Hinblick auf den
13 „Two boys fairly swiftly contract the eyelids of their right eyes. In the first boy this is only an involuntary twitch; but the other is winking conspiratorially to an accomplice. At the lowest or the thinnest level of description the two contractions of the eyelids may be exactly alike. From a cinematograph-film of the two faces there might be no telling which contraction, if either, was a wink, or which, if either, was a mere twitch. Yet there remains the immense but unphotographable difference between a twitch and a wink. For to wink is to try to signal to someone in particular, without the cognisance of others, a definite message according to an already understood code.“ (Ryle 1971: 480) Den Ansatz der dichten Beschreibung hat im Übrigen Clifford Geertz (1973) für die Ethnologie fruchtbar gemacht.
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phänomenalen Gehalt personalen Lebens im Bereich schwacher Beschreibungen.14 In der dichten Beschreibung der humanen Lebensform begegnen uns Fähigkeiten und Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Zeitbewusstsein, Körperbewusstsein, Ausdruck, Scham, Reue, Selbstachtung, Gerechtigkeit oder Verantwortlichkeit. Über alle diese Bewusstseinszustände erfahren wir wenig bis gar nichts in den schwachen Beschreibungen. Denn diese Zustände sind mit spezifischen Erlebnissen und Fähigkeiten von Personen verbunden, die aus methodischen Gründen von vornherein ausgeblendet bleiben müssen. Der wieder zu erwägende Humanismus wird nicht mehr spekulativ über das Wesen des Menschen befinden können – in dieser Hinsicht ist die ontologische Zuständigkeit des wissenschaftlichen Standpunkts unhintergehbar. Er wird sich an die dichte Beschreibung der menschlichen Lebensform halten und sich zunächst auf die Phänomenbeschreibung humaner Fähigkeiten und Eigenschaften konzentrieren müssen. Er wird Fragen stellen wie: Wie drückt sich Selbstbewusstsein aus? Wie manifestiert sich personale Identität über die Zeit hinweg? Worin besteht Gerechtigkeit? Wie kommt der Umgang mit möglichen Welten zustande? Menschen sind nicht von Natur aus das, was sie ihrer natürlichen Bestimmung nach sein können. Teilhabe an der menschlichen Lebensform hat eine zweite Natur zur Voraussetzung, mit der sich Menschen im sozialen Raum zu Personen bilden. Die Bildung zur Person ist insofern ein anthropologischer Sachverhalt. Personales Leben verläuft als Verschränkung von Natur- und Kulturprozessen.15 Weil sich die Bildung zur Person im sozialen Raum vollzieht, ist sie vielfältigen wie verschiedenartigen Gefährdungen ausgesetzt: Bedrohung und Verletzung der körperlichen Integrität, soziale Verelendung, psychische Entfremdung oder politische Repression. Der normativen Konzeption nach sollen Selbstzweckformel und Instrumentalisierungsverbot Personen in allen ihren Lebensphasen vor diesen Gefährdungen schützen.
14 Gleichwohl werden beispielsweise die Neurowissenschaften – zumindest in Ansätzen – zeigen können, welche Hirnareale beim Zwinkern und Zucken jeweils aktiv sind. 15 Sturma 2004.
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Der Sachverhalt der Bildung zur Person findet in der politischen Ausgestaltung der Sozialverhältnisse immer noch zu wenig Beachtung. Er hat allerdings in die einschlägigen Menschenrechtserklärungen zumindest in Teilen Eingang gefunden. So werden zu den Grundrechten neben dem Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Gewissensfreiheit, Redefreiheit und Schutz der Privatsphäre auch politische und wirtschaftliche Rechte sowie das Recht auf Arbeit, Bildung und kulturelle Teilhabe gezählt. Der Sache nach liegt dem System der Menschenrechte ohnehin ein Individualitäts- und Egalitätsgedanke zugrunde, welcher der einzelnen Person einen unhintergehbaren Eigenwert und die Gleichheit gegenüber allen anderen Personen zuerkennt. Dementsprechend geht es nicht nur darum, Adressaten der Menschenrechte vor physischen und psychischen Verletzungen sowie vor politischen und sozialen Ungerechtigkeiten zu schützen, sondern vor allem auch Personen eigene Entwicklungsmöglichkeiten zu sichern. 16
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Die Zielsetzung des interkulturellen Dialogs ist die Entwicklung einer konsensfähigen Verständigung über den kulturellen, politischen und sozialen Umgang mit Personen. Es muss allerdings Einvernehmen darüber bestehen, dass es Personen sind, die über die in der dichten Beschreibung erfassten Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen – was bei vielen Weltanschauungen und politischen Zielsetzungen nicht als selbstverständlich gelten kann. Es ist insofern die schwierige Aufgabe zu erfüllen, unbeeindruckt von vordergründigen politischen Strategien Gemeinsamkeiten menschlicher Lebensweisen17 zu rekonstruieren, ohne das Faktum der kulturellen Vielfalt zu vernachlässigen. Das bedeutet vor allem, dass der Prozess der ethischen Urteilsbildung von vornherein auf die Nachvollziehbarkeit durch andere anzulegen ist. Dabei ist zu beachten, dass aus der Anerkennung von kultureller Differenz nicht folgt, dass sich mit der Differenz unmittelbar normative
16 Sturma 2005. 17 Lebensweisen sind soziale Ausdrucksformen der humanen Lebensform.
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Autorität verbindet – das gilt sowohl in nationaler wie in interkultureller Hinsicht.18 Die Anerkennung von Differenzen in der Lebensweise widerspricht nicht der humanistischen Überzeugung, dass Personen an jedem Ort und zu jeder Zeit Eigenschaften, Fähigkeiten und Erfahrungen teilen. Wenn der Humanismus wieder erwogen werden soll, muss er diese Gemeinsamkeiten identifizieren beziehungsweise rekonstruieren. Die angemessene Methode für die Rekonstruktion ist die dichte Beschreibung. Sie muss allerdings vom Ansatz her schon um eine normative Interpretation der menschlichen Lebensform erweitert werden, die interkulturell zugänglich ist. Eine wichtige Voraussetzung des interkulturellen Diskurses ist die Sensibilität gegenüber ethischen Innovationen, die in der Regel aus national und transnational geteilten Erfahrungen hervorgehen. Das lässt sich besonders eindrucksvoll an der Herausbildung der Kodifizierung der Menschenrechte beobachten. Lokale Ereignisse wie die Zustände im vorrevolutionären und revolutionären Frankreich sind Ausgangspunkt für ethische Innovationen, die sich von den kontingenten Anlässen lösen und in interkulturell geteilte Erfahrungen und Entwicklungen einmünden. Dieses Entwicklungsphänomen ist auch im Fall der Entstehung der Menschenrechtserklärung von 1948 zu beobachten, die vor allem auch auf Unrechtserfahrungen der beiden Weltkriege und des Holocaust reagiert. Die Unrechtserfahrungen, die sich mit der Konfrontation mit Terror und Gräueltaten von nicht gekannten Ausmaßen verbinden, sind schockhaft erlebt worden. Der Prozess der Herausbildung der Menschenrechte ist bis in das 20. Jahrhundert hinein in vielen Aspekten ein europäischer Sonderweg. Das gilt aber nur für die institutionelle Ausgestaltung ihrer moralischen und ethischen Bestimmungen. Es gibt bislang keinen Anlass daran zu zweifeln, dass sich Vorstellungen von Zurechenbarkeit, Anerkennung und Gegenseitigkeit in allen bekannten Kulturen – allerdings ersichtlich mit unterschiedlichen Ausprägungen – nachwei-
18 Es ist zu beachten, dass die Konfliktlinien im interkulturellen Diskurs nicht mit nationalen Grenzen zusammenfallen. Moderne Staaten sind keine kohärenten Gemeinschaften. Der interkulturelle Diskurs beginnt unter Umständen bereits vor der eigenen Haustür.
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sen lassen. Auch im Hinblick auf die Geltungsproblematik der Menschenrechte ist nicht von eurozentrischen Setzungen auszugehen. Die der europäischen Gesellschaft eigentümlichen individualethischen Bestimmungen werden durchgängig von universellen Normen und Universalisierungsverfahren begleitet. Ohnehin hat die Entwicklung der Menschenrechte mittlerweile eine Dynamik entfaltet, die von ihrer institutionellen Herkunft weitgehend unabhängig ist. Normative Innovationen sind nicht nur Entdeckungen, sondern verdanken sich vor allem multikulturell und interkulturell geteilten Erfahrungen. In diesen Erfahrungsprozessen zeichnen sich strukturelle Entwicklungen ab, die sich formal als Abfolgen von Konflikt, Entwicklung von Problembewusstsein, dialogischen Konfliktbewältigungen, partieller Konsensherstellung, ethischen Institutionalisierungen und Identitätsbildungen verstehen lassen. Aus diesen Abfolgen gehen auch die verschiedenen Kodifizierungen der Menschenrechte hervor. Praktisch kommt der interkulturelle Diskurs nur zustande, wenn er kommunikative und autoritative Asymmetrien vermeidet und sich als egalitärer Austausch von Gründen zeigt. Werte und Gründe sind im interkulturellen Diskurs nur unter der Voraussetzung zu rechtfertigen, dass sie in einer Weise verständlich gemacht werden können, die nicht davon abhängt, dass bereits die ideologische Position eingenommen wird, aus der heraus die Werte und Gründe formuliert werden. Gründe müssen im interkulturellen Diskurs so vorgebracht werden, dass damit nicht gleichzeitig die Übernahme von kulturellen und ethischen Positionen verbunden ist, die nicht die eigenen sind. Im interkulturellen Diskurs hat es vielmehr darum zu gehen, Anlässe für die Integration von Werten aus anderen kulturellen Zusammenhängen zu schaffen. Für die Beteiligten ist der interkulturelle Diskurs gleichermaßen Vermittlung des Eigenen und Aneignung des Fremden. Der interkulturelle Austausch von Gründen ist kein freies Spiel von Konventionen. Aus den gegenwärtigen Debatten um die inferentialistische Theorie des Raums der Gründe19 kann entnommen werden, dass der Austausch von Gründen formal und inhaltlich durch Be-
19 Sellars 1997; McDowell 1994; Brandom 1994; Habermas 1999; Brandom 2000.
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dingungen der Rechtfertigung eingegrenzt wird. Für die Belange des interkulturellen Austauschs ist entsprechend mit strukturellen Zwängen zu rechnen, die aus der formalen Architektur des Raums der Gründe hervorgehen und den Spielraum für die Ausgestaltung von Normen auch inhaltlich einengen dürften. Der interkulturelle Diskurs ist die praktische Erprobung der dichten Beschreibung der menschlichen Lebensform. Wenn die in der dichten Beschreibung identifizierten Eigenschaften und Fähigkeiten der humanen Lebensform rechtfertigungsfähig sein sollen, haben sie sich als historisch variabel und interkulturell kommunizierbar zu erweisen. Nicht zuletzt müssen sie sich in der einen oder anderen Form zu jeder Zeit und an jedem Ort finden lassen, an denen uns menschliche Personen begegnen – von ihrem ersten Auftreten in der Frühzeit des Menschen bis in die Gegenwart. Multikulturelle Lebensweisen, interkultureller Diskurs und verallgemeinerbare Annahmen zur menschlichen Lebensform widersprechen sich nicht. Der Mensch würde in seiner Umgebung verschwinden, wenn die Bedingungen des humanen Lebens vollständig kontextualisierbar, historisierbar und relativierbar wären. Eine solche Verdünnung der humanen Lebensform widerspräche der Fähigkeit von Personen, eigene Zwecke setzen und sich als eigene Person entwickeln und achten zu können. Anders als kulturrelativistische Positionen nahelegen, ist es durchaus plausibel davon auszugehen, dass die Fähigkeiten und Eigenschaften, die in der dichten Beschreibung der menschlichen Lebensform erfasst werden, sich letztlich – wenn auch inhaltlich unterschiedlich ausgeprägt – in allen uns bekannten Kulturen finden lassen. Der Nachweis müsste noch in jedem Fall durchgeführt werden, aber das gilt natürlich auch für die skeptische Diagnose des Kulturrelativismus. Wir sehen gemeinhin und ganz selbstverständlich in menschlichen Individuen Personen, die einen Wert haben, mit uns vergleichbar sind und über eine Erlebnisperspektive verfügen.20 Entsprechend hat für Personen an allen Orten zu allen Zeiten zu gelten, dass ihr Leben wichtig ist und jede Person ihr eigenes Leben zu führen hat.21
20 Scanlon 1982: 113 f. 21 Nagel 1991: 44 ff.
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Der Sachverhalt der Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit von Personen und Kulturen wird aus ideologischen Gründen oft unterschlagen. Das zeigt sich auch an den verbreiteten Formen der Eurozentrismuskritik. Auch außerhalb Europas gibt es eine lange Tradition moralphilosophischer Ansätze, die sich gut mit Aspekten des europäischen Humanismus verbinden ließe. Im kulturellen und politischen Alltag werden Ähnlichkeiten leider oft aus strategischen Gründen mit dem Hinweis auf kulturelle Eigenheiten abgewiesen und die Möglichkeit zum ethischen Dialog bewusst ausgeschlagen. Der interkulturelle Diskurs ist aussichtsreich, wenn er sich nicht auf das stützt, was die Menschen trennt, sondern auf das, was sie verbindet. Es ist nicht mit guten Gründen zu bezweifeln, dass Nachdenken über die Vergänglichkeit, Angst vor dem Tod, Vorstellungen, die über den eigenen Tod hinausgehen, Familien- und Freundschaftsbeziehungen in allen Kulturen in unterschiedlichen Gestalten auftreten. Es sind diese Zustände, über die sich in interkulturellen Diskursen vergleichsweise einfach zu verständigen ist. Dagegen gestaltet es sich als überaus schwierig, Besonderheiten der eigenen Kultur in eine fremde Kultur zu übersetzen. In diesem Zusammenhang erscheinen Übersetzungs- und Verständnisprobleme geradezu als unvermeidlich. Dieser Sachverhalt wird zu Recht von Seiten des epistemologischen Relativismus hervorgehoben. Gelingt der interkulturelle Diskurs, haben wir es mit einem symmetrischen und, im günstigen Fall, verfahrensgerechten Geben und Nehmen von Gründen – jenseits von weltanschaulichen Festlegungen und Vereinnahmungen – zu tun. Im Zuge eines solchen Diskursverlaufes wäre der Humanismus am Ende wieder das, was er bei seinen Anfängen gewesen ist: eine Verständigung über die Bedeutung und Ziele sowohl der humanen Lebensform als auch der Bildung der einzelnen Person.
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L ITERATUR Brandom, Robert (1994): Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge/Mass: Harvard University Press. Brandom, Robert (2000): Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge/Mass: Harvard University Press. Geertz, Clifford (1973): „Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture“, in: ders., The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York: Basic Books, S. 3-30. Habermas, Jürgen (1999): „Von Kant zu Hegel. Zu Robert Brandoms Sprachpragmantik“, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 138-185. Heidegger, Martin (1949): Über den Humanismus, Frankfurt am Main: Klostermann. Herder, Johann Gottfried (1991): Briefe zur Beförderung der Humanität, Werke Band VII, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag. Kant, Immanuel (1968): „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, in: ders., Werke (Akademieausgabe), Band IV, Berlin: Walter de Gruyter & Co., S. 385-464. McDowell, John (1994): Mind and World, Cambridge/Mass: Harvard University Press. Nagel, Thomas (1991): Equality and Partiality, New York: Oxford University Press. Niethammer, Immanuel (1808): Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit, Jena: Frommann. Nietzsche, Friedrich (1966): „Jenseits von Gut und Böse“, in: ders., Werke, hg. v. Karl Schlechta, München: Carl Hanser Verlag, S. 563-761. Pico della Mirandola, Giovanni (1990): De dignitate hominis/Über die Würde des Menschen, Hamburg: Meiner. Rousseau, Jean-Jacques (1964): „Du Contrat Social“, in: ders., Œuvres complètes, Band. III, hg. v. Bernard Gagnebin/Marcel Raymond, Paris: Gallimard, S. 349-470.
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Ryle, Gilbert (1971): „The Thinking of Thoughts. What is ‚le Penseur‘ doing?“, in: ders., Collected Essays 1929-1968, Band II, London: Hutchinson: S. 480-496. Scanlon, T. M. (1982): „Contractualism and Utilitarianism“, in: Amartya Sen/Bernard Williams (Hg.), Utilitarianism and Beyond, Cambridge/Mass: Harvard University Press, S. 103-128. Sellars, Wilfrid (1997): Empiricism and the Philosophy of Mind [1956], Cambridge/Mass: Harvard University Press. Seneca, L. Annaeus (1976): „De ira“, in: ders., Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, Band I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 95-311. Sturma, Dieter (2004): „Jenseits der Natürlichkeit“, in: Kurt Bayertz (Hg.): Die menschliche Natur. Welchen und wieviel Wert hat sie?, Paderborn: mentis, S. 174-191. Sturma, Dieter (2005): „Menschenrechte. Über europäische Werte“, in: Simon Donig/Christiane Winkler (Hg.): Europäische Identitäten – Eine europäische Identität?, Baden-Baden: Nomos, S. 184197. Sturma, Dieter (2008a): „Die Natur der Freiheit. Integrativer Naturalismus in der theoretischen und praktischen Philosophie“, in: Philosophisches Jahrbuch 115, S. 385-396. Sturma, Dieter (2008b): Philosophie der Person. Über die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität. 2. Auflage, Paderborn: mentis.
„… an der zähesten Stelle der Humanität“ Theologische Brocken zum Verhältnis von Christentum und Humanismus G EORG E SSEN
Meine Überlegungen zum Verhältnis von Christentum und Humanismus beanspruchen selbstredend nicht, das Thema in der eigentlich gebotenen Ausführlichkeit zu behandeln. Der Untertitel meines Beitrages deutet stattdessen an, was ich im Folgenden darlegen werde. Er spielt auf Kierkegaards gleichnamige Schrift an und weist auf einige „Brocken“ hin, die ich, um im Bilde zu bleiben, hinschmeißen werde. Dies allerdings gewiss nicht im Sinne der uns geläufigen Redewendung, sondern eher im Anschluss an Tony Buddenbrook, der den Genuss von Scheibenhonig stets mit den Worten zu kommentieren pflegte: „da weiß man doch, was man verschluckt!“ Es geht, mit anderen Worten, um das keineswegs harmonische, sondern intrikate Verhältnis von Humanismus und Christentum.1 1
Den Text habe ich für die Drucklegung nur unwesentlich überarbeitet. Der Vortragsstil wurde beibehalten und ebenso die pointierte und also für Differenzierungen gewiss offene Zuspitzung meiner Thesen. Wiewohl mitnichten, wie ein von uns beiden sehr geschätzter Kollege einst mutmaßte, ein „Kryptotheologe“, zeigt sich Jörn Rüsen seit langem schon – und selbstredend mit der ihm eigenen insistierenden Aufgeschlossenheit – an den Themenfeldern von Religion und Theologie interessiert. In dankbarer
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1. In religionsfreudigen Zeiten wie diesen, in denen für Leute, die dann mal eben weg sind, Wellness als Qualitätsmerkmal von Spiritualität firmiert, muss Karl Barths zweite Auslegung des Römerbriefs von 19222 starker Tobak sein. In religionspolitisch hochexplosiven Zeiten, in denen religiös motivierte Terroristen den Weltfrieden bedrohen, scheint die zweite Auflage des „Römerbriefes“ zudem jene Auffassungen zu bestärken, denen zufolge religiöse Wahrheitsansprüche den „Clash of Civilisations“ noch zusätzlich anheizen. Im Zeitalter des interreligiösen Dialogs wiederum, in denen Religionen das Weltethos befördern sollen, stört Barths Römerbriefexegese empfindlich eine auf Verständigung hin angelegte interreligiöse Kommunikation. Und, zu guter Letzt, durchkreuzt die Barthsche Theologie den Versuch einer Annäherung zwischen Humanismus und Christentum. Jedweder Humanismus zehrt Barth zufolge vom „Pathos des ‚Eritis sicut Deus!‘“3; „er“, der Mensch, „ist sich selbst, was Gott ihm sein müsste“.4 Barth bemüht gar das Stereotyp des „Prometheus“! „Ist es nicht offenkundig“, so Barth, „daß dieses gestohlene Feuer keineswegs das verzehrende Feuer Gottes ist, sondern nur der Herd einer bestimmten Art von Rauch, der sich neben vielen anderen Rauch-, Dampf- und Qualmschwaden über die Ebene der Humanität aus-
Erinnerung an zahllose Gespräche und Dispute zu diesen und anderen Themen widme ich ihm diesen Aufsatz in freundschaftlicher Verbundenheit. – Dass ich mich im Folgenden auf das Christentum konzentriere, ist dem Umstand geschuldet, dass eine komparative Studie zum Verhältnis von Humanismus und Religion, die ihrem Gegenstand auch nur einigermaßen gerecht zu werden vermag, den Rahmen meines Beitrags sprengen würde. Darüber hinaus ist die Einschränkung gerechtfertigt, da ich den Begriff „Humanismus“ primär auf jene geistesgeschichtliche Bewegung „um 1800“ beziehe, die wir gemeinhin mit den geschichtsphilosophischen, pädagogischen und literarischen Programmatiken eines Niethammer, Humboldt und Herder verbinden. 2
Vgl. Barth 1999.
3
Barth 1999: 237.
4
Ebd.: 246.
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breitet“?5 Warum aber ist die Religion für Barth die „zäheste […] Stelle der Humanität“?6 Für ihn ist Religion die selbstherrlich ergriffene Möglichkeit des autonom-sein-wollenden Menschen in seiner Suche nach Gott. Weil, so das theologische Argument, Religion der untaugliche, sündige Versuch des Menschen sei, im Ausgang von seiner Humanität sich auf Gott beziehen zu wollen, ist sie, folgen wir Barth, Unglaube und Götzendienst; der Inbegriff menschlicher Auflehnung gegen Gott. Als rein anthropologisches und säkulares Phänomen, das ganz und gar auf die Seite des Menschen gehört, wird Religion für Barth zum „Fragezeichen des ganzen humanen Kultursystems“.7 Sofern für Barth „Religion“ in der Beziehung des Menschen auf Gott besteht, steht Religion im Gegensatz zur Offenbarung. Sein antireligiöser Widerspruch gegen jedwede Humanitätsreligion bezieht seine theologische Legitimation aus der Absolutheit des Christentums. Weil sich im Christentum, so die religionstheologische Konsequenz, die exklusive Alleinoffenbarung Gottes in Jesus Christus manifestiert habe, erhebt es im Blick auf andere Religionen nicht lediglich einen Superioritätsanspruch, sondern ist ihnen in qualitativer Diastase entgegengesetzt. Jesus Christus ist die Grenze der Religion, ja, ihr Ende! Ich komme auf Karl Barth zu sprechen, weil wir in der Gestalt seiner Theologie einer, gewiss zugespitzten, Ausprägung von Offenbarungsreligion begegnen, die – um eine Redewendung von Barth aufzugreifen, zu der er übrigens in seiner Auseinandersetzung mit Herder gefunden hatte – in der „Souveränität einer offenbarten Religion“8 ihren Ausgang findet. Darüber gleich mehr! Zuvor jedoch einige wenige Hinweise zur theologiegeschichtlichen Verortung der Neuauflage des „Römerbriefes“ von 1922 und dies auch nur, sofern sie unmittelbar zum Thema gehören. Der zweite „Römerbrief“ gehört zu den Gründungsdokumenten der Dialektischen Theologie und also jener „Theologie der Krise“, mit der die Katastrophe des Ersten Weltkriegs theologisch bewältigt werden sollte. Die Krise der Kultur muss, so die
5
Ebd.: 238.
6
Ebd.: 241.
7
Ebd.: 247.
8
Barth 1947: 296.
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Stoßrichtung, alle theologisch vertrauten Synthesen infrage stellen und damit auch die Synthese von Humanität und Religion. Dem kirchenpolitischen Programm, den Protestantismus aus der bürgerlich-obrigkeitsstaatlichen Umklammerung zu befreien, entsprach theologiepolitisch die Befreiung von einer anthropozentrischen Umklammerung christlicher Theologie. „Wir haben“, heißt es in Barths „Protestantischer Theologie im 19. Jahrhundert“, „[…] gesehen, wie sich die Theologie unter dem Eindruck der ihr gegenüber sich entfaltenden Humanität in die apologetische Ecke hatte drängen lassen, wie gerade das ihr Problem geworden war: Religion, Offenbarung, Gottesverhältnis jedenfalls auch als ein notwendiges Prädikat des Menschen verständlich zu machen, oder doch die Potentialität, ein Vermögen des Menschen für Alles nachzuweisen. Feuerbach bedeutet jedenfalls die Frage, ob diese Problemstellung nicht eine Bejahung dessen bedeutete, worauf der Aufstieg der Humanität ohnehin hinauszulaufen schien: die Apotheose des Menschen.“9
Auch wenn Barth in seinem „Römerbrief“ auf Johann Gottlieb Herder nicht explizit zu sprechen kommt, lässt sich die eingangs zitierte Polemik gegen die Verbindung von Humanität und Religion ohne große Mühe als Stellungnahme auch gegen Herder lesen. Von ihm, Herder, stammt immerhin der Satz, die Religion sei die „höchste Humanität des Menschen“.10 Was Barth, wie es in seiner Theologiegeschichte heißt, bei Herders „stürmische[r] Ineinssetzung von Humanitätserlebnis, Religion und Offenbarung, von Gottebenbildlichkeit und Gottheit“ vermisst, ist das „Problem eines Jenseits des humanum, einer uns nicht greifbaren Wahrheit“.11 Genau dieses Jenseits, theologisch gesprochen die Transzendenz des sich als Gericht offenbarenden Gottes wird für Barth zum Ausgangspunkt, um die Diastase zwischen Christentum und Kultur freizulegen, derzufolge es sich bei dem christlichen Glauben um eine Größe handelt, deren Wesen jegliche Verbindung mit Kultur, Geschichte, Humanität ausschließt. Für Karl Barth, der ein
9
Ebd.: 486.
10 Herder 1967b: 161. 11 Barth 1947: 297.
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eifriger Leser Overbecks, aber auch Kierkegaards gewesen ist, zeichnet sich das Christentum durch Weltfremdheit aus. Die Erinnerung an Karl Barth – dies ist mein erster theologischer Brocken – ist wichtig, weil es ohne diese Weltfremdheit kein Christentum gibt, das den endzeitlichen Anbruch der Gottesherrschaft verkündigt und infolgedessen die Gestalt dieser Welt unter den Vorbehalt des Eschatologischen stellt. „Gleicht euch dieser Welt nicht an!“.12 Es ist jedenfalls mehr als ein bloß empirischer Befund, dass es das Christentum offenbar nicht gibt ohne eine dem Evangelium entsprechende Unzeitgemäßheit. Die Erbsündenlehre beispielsweise ist für einen optimistisch grundierten Humanismus schwerverdauliche Kost. Jedenfalls scheint der Mainstream sowohl des Renaissance-Humanismus als auch des Humanismus „um 1800“ sehr darauf bedacht, sich, anders als vermeintlich Kant, den Philosophenmantel nicht allzu sehr zu beschlabbern mit einem „radikal Bösen“, das sich eingenistet hat in den faktischen Selbstvollzug subjekthafter Freiheit. Die christliche Weltfremdheit tritt, ein weiteres Beispiel, auch da zutage, wo sie von Gnade spricht. Das ist ja auch wirklich ein Brocken, den der christliche Glauben dem Humanismus da hinwirft: In Jesus Christus hat Gott selbst das Antlitz eines jeden Menschen angenommen, weil das Antlitz dieses einen Menschen, Jesus von Nazareth, Urbild des Menschen sein will, in dem die Bestimmung aller Menschen sichtbar geworden ist von Gott her. Da beißen sich, um im Bilde zu bleiben, die Humanisten die Zähne dran aus, dass die Bestimmung des Menschen dem Menschen allererst offenbart werden muss. Worauf ich hinaus will ist dies: Die konstitutionelle Weltfremdheit des Christentums ist ein Indiz dafür, dass die Platzanweisung hochproblematisch ist, sich doch bitte schön bruchlos einzuschreiben in die Plausibilitäten des juste milieu moderner Gesellschaften. So sollen beispielsweise dem Christentum staatslegitimatorische Funktionen übertragen werden, weil man für Sonntagsreden eine Antwort parat haben will auf das Böckenförde-Paradox, das bekanntlich formuliert wurde in der Verlängerung der Politischen Theologie eines Carl Schmitts, dem die Unzeitgemäßheit des Christlichen, nicht ganz ohne ideologischen Hintersinn, allerdings zur katholischen Verschärfung
12 Röm 12,2.
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geriet. Ich ziele darüber hinaus auf die diversen Spielarten von Zivilreligion, in denen die Religion die symbolische Integration multikultureller und religionspluraler Gesellschaften zu leisten hat. Könnte es gar sein, so der Verdacht, dass Religionen lediglich zivilreligiöse Ordnungskategorien zur Abfederung von Kontingenzüberschüssen in den laufenden Globalisierungsprozessen sein sollen? Eine überzeugende Antwort auf die Frage steht noch aus, wie sich etwa das Projekt „Weltethos“ der Rollenzuweisung zu entziehen gedenkt, die in Globalisierungsprozessen nicht mehr absorbierbaren Sinndefizite bloß zu kompensieren. Wem, wo von Ethikbedarf die Rede ist, nur Religionen einfallen, hat die Lektion der Moderne immer noch nicht verstanden!
2. Vor diesem Hintergrund mein zweiter theologischer Brocken! Offenkundig gibt es das Christentum nicht ohne Widerborstigkeit, ohne eine „produktive Ungleichzeitigkeit“.13 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang biblische Traditionen von Prophetie und Apokalyptik, die im Namen Gottes gegen die auf bloßer Machtsteigerung beruhenden Mechanismen ökonomischer Zweckrationalität protestieren – und zwar im Angesicht der Opfer und Marginalisierten. Religion gibt es nicht ohne dysfunktionale Wirkung, weil sie die sinnstiftende Unruhe in den Systemen von Herrschaft, Kapital und Macht sein will. Die religionssoziologisch wie theologisch spannende Frage ist allerdings, wann und aus welchen Gründen sich die produktive Ungleichzeitigkeit von Religion radikalisiert. Wann, um ein kirchenhistorisches Beispiel zu bemühen, schlägt Unzeitgemäßheit um in Antimodernismus? Warum gerät die Sorge um die vorgebliche Legitimationskrise des säkularen Staates zur „katholischen Verschärfung“? Unter welchen kulturellen Bedingungen neigen Religionen dazu, sich mit antiglobalistischen Repartikularisierungstendenzen zu verbünden und wann erliegt – empirisch wie theologisch – die Ausbildung religiöser Identitätskonzeptionen der Gefahr, Ethnozentrismen religiös anzuschärfen? Mit anderen Worten und auf meinen metaphorischen Gebrauch
13 Vgl. Johann Baptist Metz.
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schwerverdaulicher Brocken Bezug nehmend: Weil religiöse Selbstbeschreibungen Wahrheitsansprüche auf die Ausbildung von kultureller Identität beziehen, sind Religionen konstitutionell hochambivalente Symbolsysteme. Keineswegs sind sie so bekömmlich, wie eine wohlgesinnte Religionsfreudigkeit es nur allzu gerne hätte, die sich das Lächeln des Dalai Lama ebenso zu Herzen gehen lässt wie vatikanische Machtinszenierungen.
3. Ein Weiteres kommt hinzu! Die Weltfremdheit der Barthschen Theologie läuft auf eine religionstheologisch verhängnisvolle Exklusionsstrategie hinaus, die keinen Raum lässt für die Anerkennung religiöser Andersheit. Im Rahmen der heutigen Religionstheologie wird die Barthsche Position folgerichtig als Exklusivismus bezeichnet; ein Ansatz, der, wenn ich recht sehe, theologisch kaum noch vertreten wird. An seine Stelle ist stattdessen der Inklusivismus als religionstheologisches Modell getreten, der die exklusive Alleingeltung des Christentums nicht eigentlich ersetzt, wohl aber theologisch aufbricht. Dies geschieht dadurch, dass von der eigenen religiösen Innenperspektive aus ein inklusiver Universalismus formuliert wird. Ich erwähne den religionstheologischen Inklusivismus, weil er paradigmatisch auf die Art und Weise aufmerksam machen kann, in der Weltanschauungen ihren Universalismus konzeptualisieren. Denn Verstehensleistungen, die auf Inklusion zielen, konstituieren einen universalen, das heißt gemeinschaftsstiftenden Verstehenszusammenhang. Gegenseitiges Verstehen versichert uns der Gemeinsamkeit, die zwischen kultureller und religiöser Andersheit besteht! Ich will dies sogleich an Herders Verständnis von Religion und Humanismus erläutern. Einerseits polemisiert er gegen die Natürliche Theologie, sofern diese das Partikulare der Religionen, ihre historische und kulturelle Besonderheit mithin, ignoriere. Stattdessen begreift er Religionen als Symbolsysteme, als historisch und kulturell vermittelte Traditionsbestände. Andererseits aber nimmt Herders Religionsbegriff erkennbar Maß am Christentum und identifiziert es mit der höchsten und insofern wahren Humanitätsreligion. Dies wird voll-
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ends deutlich in der Anthropologie, die seinem Humanismus zugrunde liegt. „Ich bin ein Mensch […] und nichts was die Menschheit betrifft, ist mir fremde“, heißt es im ersten Brief zur „Beförderung der Humanität“.14 Was aber ist, hermeneutisch gefragt, der Mensch? Die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ jedenfalls geben diese Antwort: Die Anthropologie des Herderschen Humanismus wird geprägt vom biblischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit, wonach der Mensch „zum Nachbilde der Gottheit“15 gebildet sei. Dem korrespondiert wiederum die religionstheoretische These Herders von der Menschenähnlichkeit Gottes, die sich in allen Religionen finden lasse. Die Aussage, „[e]ine höhere Gestalt als die unsere kennen wir nicht“,16 findet ihre theologische Entsprechung in der Christologie Herders, der zufolge Jesus Christus „Aufschluß des Menschengeschlechts in seiner Bestimmung“17 ist. Hier mithin theologischer Brocken Numero Drei. Die Frage ist, ob inklusivistische Universalismuskonzeptionen wirklich in der Lage sind, genuine Andersheit und Differenz anzuerkennen. Inkludierende Verstehensvollzüge neigen tendenziell dazu, das Fremde lediglich als eine hermeneutische Herausforderung zu begreifen, um es auf das bereits Bekannte zurückzuführen. Ein inklusivistischer Universalismus bindet, mit anderen Worten, das Maß der gewährten Anerkennung an die hermeneutisch erschlichene Präsumtion von Gleichartigkeit und droht somit blind zu bleiben für den Anderen in seiner Andersartigkeit.
4. Jan Assmann hat die von mir gerade erläuterte Verfugung von hermeneutischen und wahrheitstheoretischen Aspekten interreligiöser Kommunikation auf ihre identitätstheoretischen Konsequenzen hin zuge-
14 Herder 1967c: 5. 15 Herder 1967b: 163. 16 Ebd.: 163 f. 17 Herder 1967a: 370.
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spitzt.18 Mit seinen Überlegungen zur so genannten „Mosaischen Unterscheidung“ versucht er herauszuarbeiten, dass der biblische Monotheismus die Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ in die Welt der Religionen eingeführt habe, sofern mit der Ausbildung einer dem Monotheismus verpflichteten religiösen Identität unausweichlich die Konstruktion von Fremdheit einhergehe. Dies führt Assmann auf die Eigentümlichkeit des von ihm als „revolutionär“ bezeichneten Offenbarungsmonotheismus zurück, dessen Wahrheitsanspruch sich aus welttranszendenten Quellen speist. Nicht an Assmanns Monotheismustheorie bin ich interessiert, sondern ich möchte vielmehr auf die Tradition neuzeitlicher Offenbarungskritik hinweisen, in die Assmann sich hier einzureihen scheint. Ich beziehe mich folglich auf jenen Strang einer Religionskritik, die sich an der Partikularität der historischen Religion entzündet – und zwar näherhin an religiösen Wahrheitsansprüchen, die die Geltungskraft ihrer identitätsstiftenden Gewissheiten aus göttlicher Offenbarung beziehen. Das Projekt der kontinentaleuropäischen Aufklärung wurde, unter anderem, von der Überzeugung vorangetrieben, dass dieser partikulare, und das heißt im Blick aufs Christentum gesprochen: stets auch kirchliche Einbettungskontext verantwortlich ist für Religionskonflikte, die in den religiösen Bürgerkriegen des17. Jahrhunderts blutig eskaliert waren. Ich komme im Folgenden auf meinen zweiten theologischen Brocken zurück, der die Ambivalenz von Religionen herausgestellt hatte. Die Frage ist, auf welchem Weg sich verhindern lässt, dass Religionen in der kommunikativ verdichteten Weltgesellschaft ein destruktives Potential entfalten. Es lohnt in diesem Zusammenhang, an den Versuch der Aufklärung zu erinnern, die Ambivalenz von Religionen durch den öffentlichen Vernunftgebrauch zu disziplinieren. Das religionsphilosophische Programm Kants schreibt sich bekanntlich ein in den religionskritischen Diskurs der Aufklärung:19 Einerseits als Kampf gegen eine kirchlich verfestigte Orthodoxie, die „die natürlichen Grundsätze der Sittlichkeit zur Nebensache macht“.20 Andererseits aber hat Kant – in Religionssachen – die Vernunft ausdrücklich als
18 Assmann 2001; Assmann 2003; Essen 2004. 19 Essen/Striet: 2005. 20 Kant 1998a: 96.
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Instanz und Garant des Friedens begriffen und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. In der theoretischen Philosophie tritt die Vernunft als Friedensstifterin in der Metaphysik auf, indem sie die Stellung der theoretischen Vernunft zur metaphysischen Überlieferung neu bestimmt und zwar auf dem Wege einer Selbstkritik, die die Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft auslotet. In der praktischen Philosophie wiederum entfaltet die Vernunft eine friedensstiftende Funktion, weil die Destruktion der traditionellen Metaphysik auf die Freisetzung einer autonomen, auf reine praktische Vernunft gegründeten Moral zielt. Damit wird eine Grenze eingezogen, weil erst eine Moral, die sich vom Gängelband kirchlicher und sonstiger Bevormundung emanzipiert hat, wahrhaft universal und allgemeinverbindlich sein kann. Es ist im Übrigen ausdrücklich diese Differenz zwischen Moral und Religion, die es Kant ermöglicht, im Medium der praktischen Vernunft einen religiösen Bedeutungsüberschuss zu thematisieren, der unabhängig von einem partikularen, kirchlichen Einbettungskontext universal sinnstiftend sein soll. Vor dem Hintergrund der Kantischen Vernunftkritik möchte ich meinen vierten theologischen Brocken nennen. Ihn werde ich ausdrücklich als katholischer Theologe vortragen und zwar im energischen Widerspruch gegenüber einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Theologie, der zwar mit päpstlicher Autorität, aber, wie ich meine, nicht mit guten Argumenten glaubt, wenn nicht hellenisierende, so doch in jedem Fall vormoderne Synthesen von Glaube und Vernunft repristinieren zu können. Im Blick auf Positionen wie diese vertrete ich die Auffassung, dass der epistemologische Bruch, den die Vernunftkritik Kants in diese Synthese eingetragen hat, theologisch zu affirmieren ist. Denn der Hiatus zwischen Glaube und Vernunft, der in der Moderne aufgerissen ist, lässt sich nur überbrücken, wenn sich die Theologie positiv auf den Autonomieanspruch der Vernunft bezieht, um von dort aus Glaube und Offenbarung zu thematisieren. Die Theologie hat jedenfalls Kants Grenzziehung zwischen einem spekulativen und einem transzendentalen Vernunftgebrauch zu akzeptieren und mit ihr folglich die Stellung der theoretischen Vernunft zur metaphysischen Überlieferung, aber eben auch zur Gottesrede. Bei Kant wird Gott zum Grenzgedanken der Philosophie, sofern es die transzendentale Vernunft selbst ist, die kraft ihrer einheitsstif-
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tenden Ideen zwar den Begriff von Gott entwirft, sich freilich weitergehender hypostasierender Aussagen über seine Existenz und sein Wesen verbietet. Das positive Resultat der vernunftkritischen Einhegung des Gottesbegriffs ist jedoch, dass die theoretische Möglichkeit der Existenz Gottes denkerisch offengehalten werden muss; Gott ist ein Sinnbegriff der endlichen Vernunft. Die Destruktion der traditionellen Metaphysik sollte Kant zufolge der Freisetzung einer autonomen, auf reine praktische Vernunft gegründeten Moral dienen. Damit wiederum war, indem Kant die Differenz von Moralität und Sinn in den Religionsdiskurs einführte, der Weg gebahnt, die Rede von Gott vor dem Forum der praktischen Vernunft neu zu stellen und zwar als Frage nach der praktischen Relevanz, nach der humanen Bedeutung dieser Rede für das Gelingen menschlicher Existenz. Religiöse Antworten auf die dritte der berühmten Kantischen Fragen – „Was darf ich hoffen?“ – sind sinnvolle Antworten, sofern sie sich vernünftig legitimieren lassen. Herder bestimmt den Menschen als „Anlage zur Vernunft, Humanität und Religion“21 und trägt mit Nachdruck vor, dass der Mensch „[z]ur Humanität und Religion“ gebildet sei.22 Da Herder allerdings anthropologische Bestimmungen dieser Art eher wortgewaltig erschlichen oder kulturhistorisch veranschaulicht, doch wohl kaum geltungstheoretisch ausgewiesen hatte, ist – post et secundum – auf Kant zurückzukommen, weil seine Vernunftkritik als ein epistemologischer Referenzrahmen dienen kann für die Thematisierung von Religion im Horizont des Humanismus.
5. Damit komme ich zu einem fünften theologischen Brocken. Sowohl für den Humanismus der Renaissance wie für den Humanismus „um 1800“ ist die Hinwendung zur Antike konstitutiv. Was immer mit humanistischen Lesarten des Klassischen verbunden sein mag, der Rekurs auf die Antike geschah auch in legitimatorischer Absicht, um
21 Herder 1967b: 387. 22 Ebd.: 154.
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Fundamente freizulegen, auf denen der Humanismus aufruht. Die Antike fungiert, abgekürzt gesprochen, als ein Geltungsboden sui generis. Zum Subtext des Humanismus – dies macht seine Neuzeitlichkeit aus – gehört der bewusst gesuchte Abstand zu institutionalisierten Christentümern. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass der Humanismus intrinsisch a- oder gar antireligiös sein muss. Das stimmt ja bereits historisch nicht, wenn wir an den Renaissance-Humanismus, beispielsweise an Marsilio Ficino, Pico della Mirandola oder Erasmus von Rotterdam, denken. Aber es stimmt auch nicht für den Humanismus „um 1800“, wenn wir uns, wie geschehen, an Johann Gottlieb Herder erinnern. Überdies hatte kein geringerer als Niethammer die Auffassung vertreten, der von den Griechen thematisierte Logos, das Urprinzip menschlicher Bildung, habe sich in Jesus Christus inkarniert. Obwohl Arnold Ruge den Humanismus als die „definitive und totale Verwirklichung des Christenthums“23 bezeichnet hatte, wäre es gleichwohl ein Missverständnis, dem Humanismus zu unterstellen, er zeche, frei nach Ernst Bloch, auf „fremde Kreide“. Die im Rekurs auf die Antike angestrebte Entkopplung von Humanismus und Christentum erhebt begründungstheoretische Ansprüche und eröffnet den Weg zu einem säkular verstandenen Humanismus. Eine profane Selbsterfassung des Humanismus muss allerdings nicht ausschließen, dass er sich zur Verteidigung von Humanität auch explizit auf religiöse Sinnressourcen bezieht. Das Offenhalten einer religiösen Sinndimension im Horizont des Humanismus dringt darauf, Fragen nach den realen Bedingungen für die Konstitution verantwortlichen Subjektseins ausdrücklich zu stellen. Es könnte ja immerhin sein, dass, zum Beispiel, das christliche Gottesgedächtnis ein kategorischer Indikativ ist, durch den Menschen sich unbedingt anerkannt und zur verbindlichen Übernahme ihrer Freiheit ermutigt erfahren. Es ist jedenfalls, will mir scheinen, nicht von der Hand zu weisen, dass der Humanismus „um 1800“ aus Gründen wie diesen an der Verschränkung von Humanität und Religion glaubte festhalten zu müssen.
23 Ruge 1846: 90.
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6. Vor diesem Hintergrund schließlich mein sechster theologischer Brocken. In historischer Perspektive ist die Frage aufzuwerfen, auf welche Religionen sich der Humanismus bezieht. Herder hat hier, so meine ich, ein besseres Sensorium für religiöse Symbolsysteme gehabt als Kant. Die, man verzeihe die Polemik, Kopfgeburt eines Vernunftglaubens, der auf eine durch Gott konstituierte und von den Menschen kirchlich organisierte Religion zielt, die zum ewigen Frieden der rein moralisch geeinten Menschheit hinstrebt, bleibt doch merkwürdig abstrakt und trägt allenfalls etwas aus für religiös nicht unmusikalische Intellektuellenzirkel. Der Vernunftreligion fehlt, religionssoziologisch gesprochen, die empirische Basis einer „Leutereligion“; ihr fehlen, schlicht und ergreifend, Menschen, die glauben, wovon in dieser Religion die Rede ist. Herders Religionsbegriff ist, will mir scheinen, erfahrungsgesättigter, sofern er Religionen als wirkmächtige Traditionsbestände thematisiert und darum weiß, dass es Religionen nur in historisch wie kulturell verfassten Gestalten gibt. Auch hält er an einem Begriff von Offenbarung fest. Allerdings ist sofort zuzugeben, dass seine Zuordnung von Offenbarung und Vernunft reichlich vage bleibt. Zwar bietet er eine Alternative zu der von Lessing in seiner Schrift „Erziehung des Menschengeschlechts“ prätendierten Aufhebung von Offenbarung in Vernunft. Aber eine epistemologisch zufriedenstellende Auskunft dürfen wir von Herder nicht erwarten, der Vernunft und Offenbarung als Geschenke Gottes anpreist und die Offenbarung als Mutter bezeichnet, durch die die Tochter namens „Vernunft“ erzogen wird. Hier gilt es, diese Andeutung muss genügen, an nachidealistische, von Kant ausgehende Traditionen anzuknüpfen, die die Selbstreflexivität der endlichen Vernunft aufdecken, die um die Externalität ihrer Sinnvorgaben weiß. In dieser Konsequenz kann die Offenheit der endlichen Vernunft auf Geschichte gedacht werden, sofern Sinn geschichtlich vermittelt wird und kulturell gedeutet werden muss.24 Damit ist, mehr kann im Rahmen meiner Überlegungen nicht geleistet werden, ein Weg eröffnet, die Offenbarungskategorie als eine religiöse Wissens-
24 Vgl. Pröpper 2001; Essen 1996.
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form vernunftkritisch zu rehabilitieren. Diese epistemologische Einhegung des Offenbarungsbegriffs ist dringend geboten im Blick auf die ideologische Vereinnahmung der Offenbarungskategorie für politische Zwecke, durch Fundamentalisten oder Sektenführer, oder zur religiösen Rechtfertigung von Gewalt und Terror.25 Es gibt noch einen anderen Grund, Pazifizierungsstrategien im Umgang mit Religionen nicht im Rekurs auf das Konstrukt einer Vernunft- respektive Humanitätsreligion zu entwickeln. Sie wurden bekanntlich bereits im Renaissance-Humanismus erprobt, zum Beispiel in „De Pace Fidei“ des Nikolaus von Kues: Unterstellt wird eine Religion in der Vielfältigkeit ihrer partikularen Ausgestaltungen: religio una in rituum varietate. Das Problem besteht darin, dass sich Deutungsangebote wie diese keineswegs bruchlos einschreiben lassen in das Selbstverständnis positiver Religionen. Sie stehen im Widerspruch zur Selbstbeschreibung jener Religionssysteme, die nun einmal die realen und empirisch greifbaren Akteure religiöser Kommunikation sind. Kants Forderung im Blick auf die offenbarungstheologische Verfasstheit des Christentums, „[d]ie Hüllen […] müssen abgelegt werden“26, verkennt, dass insbesondere für Glaubensüberzeugungen, die sich auf Offenbarung berufen, das Medium der Wahrheitsmitteilung – Thora, Koran, Jesus Christus – selbst wahrheitskonstitutiv ist. Darüber hinaus entwickeln Religionen ihre Vorstellungen vom Menschen und seinem Verhältnis zum Ganzen der Welt im Medium der für sie konstitutiven Wissensformen. Nirgends anders werden sich jene humanistischen Traditionen von Religionen auffinden lassen, die einen konstruktiven Beitrag liefern können für eine Kultur der wechselseitigen Anerkennung von kulturellen und religiösen Unterschieden auf der Grundlage gemeinsam geteilter allgemeiner Normen eines verständigungsinteressierten Dialogs.
25 Vgl. Hoff 2007. 26 Kant 1998b: 179.
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L ITERATUR Assmann, Jan (2001): Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Ungekürzte 3. Auflage, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Assmann, Jan (2003): Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München u. a.: Carl Hanser Verlag. Barth, Karl (1947): Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zollikon, Zürich: Evangelischer Verlag. Barth, Karl (1999): Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922. 16. Auflage, Zürich: Theologischer Verlag. Essen, Georg (1996): „Geschichte als Sinnproblem. Zum Verhältnis von Theologie und Historik“, in: Theologie und Philosophie 71, S. 321-333. Essen, Georg (2004): „Ethischer Monotheismus und menschliche Freiheit. Philosophisch-theologische Anmerkungen zur aktuellen Monotheismuskritik – Rückfragen an Jan Assmann“, in: JeanPierre Wils (Hg.), Die Moral der Religion. Kritische Sichtungen und konstruktive Vorschläge, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh Verlag, S. 155-185. Essen, Georg/Striet, Magnus (Hg.) (2004): Kant und die moderne Theologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Herder, Johann Gottfried (1967a): „Erläuterungen zum Neuen Testament aus einer neueröffneten Morgenländischen Quelle. 1775“, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1884, Hildesheim: Georg Olms, Band VII. S. 335-470. Herder, Johann Gottfried (1967b): „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1887 Hildesheim: Georg Olms: Band XIII. Herder, Johann Gottfried (1967c): „Briefe zu Beförderung der Humanität“, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1881, Hildesheim: Georg Olms: Band XVII.
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Hoff, Gregor Maria (2007): Offenbarungen Gottes? Eine theologische Problemgeschichte, Regensburg: Pustet. Kant, Immanuel (1998a): „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, in: ders., Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Band IV. 5., erneut überprüfter reprographischer Nachdr. 1983 der Ausgabe Darmstadt 1956, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 645-879. Kant, Immanuel (1998b): „Der Streit der Fakultäten“, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Band VI. 5., erneut überprüfter reprographischer Nachdr. 1983 der Ausgabe Darmstadt 1964, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S, 261-393. Pröpper, Thomas (2001): „Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott. Kritische Adaption neuzeitlicher Denkvorgaben“, in: ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg u.a.: Herder. S. 72-92. Ruge, Arnold (1846): „Selbstkritik des Liberalismus“, in: ders., Gesammelte Schriften, Band III, Mannheim: Grohe.
Die Kritik der soziologischen Vernunft H ANS -G EORG S OEFFNER
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Die Patenschaft Immanuel Kants am Titel meines Beitrages ist unverkennbar. Aber glücklicherweise ist es ganz unmöglich, in einer eher skizzenartigem Darstellung mit den beiden detaillierten Reflexionskompendien zu konkurrieren, in denen Kant sein Projekt der Aufklärung weiter vorantreibt. Zudem grenzt sich die Soziologie, als beobachtende, empirisch fundierte Erfahrungs- und Wirklichkeitswissenschaft, darin waren sich schon die Klassiker unserer Disziplin einig, explizit von der Philosophie ab – auch wenn sie mit dieser methodisierte Reflexion, analytische Denkfiguren, Verifikationsgebot und Wahrheitskriterien teilt. So hat die Soziologie von der Philosophie gelernt, die praktische
Der vorliegende Beitrag geht zurück auf den Eröffnungsvortrag auf dem 34. Soziologiekongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie „Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen“, 6. bis 10. Oktober 2008 in Jena. Die Formulierung ist – das liegt nahe – schon anderen Autoren eingefallen, zuletzt Klaus Wahl (2000). Da der Titel präzise das charakterisiert, was ich zu sagen habe, halte ich an ihm fest. Ähnliches gilt für die Formulierung „Kritik und Krise“. Reinhart Koselleck nutzte sie (1973) für seine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Gesellschaft. Ich erlaube mir die Wiederverwendung zur Beschreibung einer Verirrung der Soziologie.
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durch die reine Vernunft und die reine durch die praktische Vernunft zu kritisieren. Aber aufgrund ihrer erfahrungswissenschaftlichen Fundierung einerseits und des Gebotes der analytischen Distanz zur gesellschaftlichen Praxis andererseits geht Soziologie weder in der reinen noch in der praktischen Vernunft auf. Dennoch lohnt es sich auch für unsere Disziplin, dem kantischen Denken zu folgen und – wie mein Lateinlehrer gesagt hätte – den genitivus objectivus gegen den genitivus subjectivus auszuspielen. Also: die Kritik an den Schwächen der soziologischen Vernunft einzubeziehen in die Kritik an der gesellschaftlichen Praxis durch die soziologische Vernunft. – Auf den ersten Blick erscheint die Geschichte unserer Disziplin als ein Beleg für solch ein erfolgreiches Wechselspiel der beiden Genitive miteinander. Leider nur auf den ersten Blick! Denn einerseits behauptet die sogenannte Meistererzählung in der Selbstberichterstattung unserer Disziplin – nicht zu unrecht –, die Soziologie sei ein Kind der gesellschaftlichen Krisen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Zweifelhaft ist aber andererseits die daran anschließende Folgerung, man könne Soziologie ganz allgemein als „Krisenwissenschaft“ bestimmen. Vorausgegangene, gegenwärtig erlebte oder gefühlte und sich ankündigende Krisen bilden dann einen Vorrat an Beunruhigungsszenarien, der sich – dankenswerter Weise – nicht aufzehren lässt. Hinter ihm drohen die alltäglichen Formen und Funktionen menschlicher Vergesellschaftung in den grauen Bereich verdienten Desinteresses abgedrängt zu werden. Daneben eröffnet sich für krisenbezogene Analysen, Diagnosen, bedingte Prognosen und Bewältigungsszenarien – hier wird gewöhnlich ebenso rituell wie missverständlich Max Weber zitiert – in „ewiger Jugendlichkeit“ ein unerschöpfliches Betätigungsfeld. Selbstverständlich ziert es eine intellektuell anspruchsvolle, selbstreflexive und kritische Disziplin, wenn sie sich selbst in diese Krisenanalyse einbezieht. Dass soziologische Diagnostiker bei angestrengter Selbstbetrachtung – nahezu zwangsläufig – in regelmäßigen Zyklen zu dem Schluss gelangen, auch die eigene Disziplin befinde sich in einer Krise, versteht sich dann beinahe von selbst. Es ist ein Selbstverständnis, in dem sich Beunruhigung über die unerfreuliche Diagnose und wärmende Freude über die eigene Kritikfähigkeit – in nur leicht verhohlener Koketterie – angenehm mischen.
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Sicher, Krisendiagnosen gehören notwendig zum Geschäft der Soziologie. Sie sind aber, auch wenn sie wegen ihres Aufmerksamkeitsappeals sofort Kommentatoren und öffentliches Interesse anziehen, nur ein Teil dieses Geschäftes und nicht einmal dessen Basis. Denn die Grundlage des Sozialen und der Formen der Vergesellschaftung, einschließlich der Entstehung von Krisen, ist ein deutlich umfangreicherer Sachverhalt, den Simmel dennoch in einfache Worte zu fassen versteht.: „Gesellschaft [...] ist (immer schon) [...] da vorhanden, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten“ und „die Sociologie als Einzelwissenschaft [...] erforscht [somit] dasjenige, was an der Gesellschaft ‚Gesellschaft‘ ist“.1 Dementsprechend bestimmt er als „das einzige Objekt einer Sociologie als besonderer Wissenschaft [...] die Untersuchung der Kräfte, Formen und Entwicklungen der Vergesellschaftung, des Mit-, Für- und Nebeneinanderseins der Individuen“ sowie die Vergesellschaftungsformen und Inhalte, in denen sich Gesellschaft realisiert.2 Dass nicht per se friedliche Zustände und soziale Harmonie entstehen, wenn Individuen zueinander in Wechselwirkung treten, sondern dass im Gegenteil Spannungen, Konflikte, Streit- und – nur im günstigen Falle – erfolgreiche Kompromissbildungen die Interaktion kennzeichnen, sahen Simmel und auch Max Weber sehr genau. Beide waren, jeder auf seine Weise, Kantianer. Und bei beiden wirkte ein zentraler Gedanke der kantischen Anthropologie nach: die Einsicht in den grundlegenden „Antogonism“, der aus der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen entspringt. Denn der Mensch, so Kant, „hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften, weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch d.i. die Entwicklung seiner Naturanlagen fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzeln (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seiner Seits zum Widerstande gegen andere geneigt ist.“3
1
Aus dem Kapitel „Das Problem der Sociolgie“ in: Simmel 2008a: 33.
2
Ebd.: 35.
3
Aus dem Kapitel „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ in Kant 1971: 37 f.
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Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum, wie Simmel herausgearbeitet hat, der Geselligkeit als stimmiger „Spielform der Vergesellschaftung“4 eine Sonderstellung zukommt. Der Normalfall ist unumgängliche, bisweilen aufgezwungene gesellschaftliche Interaktion im Zeichen der ‚ungeselligen Geselligkeit‘. Gerade durch dieses spannungsreiche „Zusammenwirken vieler“ kann – so Simmel – „etwas entstehen, was [seinerseits, HGS] jenseits des Individuums steht, und doch nichts Transzendentes [Außerweltliches, HGS] ist“:5 Gesellschaft als System und Prozess. Zugleich aber gilt für das Wechselverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft als objektiv erlebter Faktizität: Wie Gesellschaft als überindividueller, geschichtlicher Prozessablauf auf dem Umweg über das Individuum zu sich selbst kommt, so kommt das Individuum zu sich selbst auf dem Umweg über Gesellschaft und Vergesellschaftung.6 Soziologie als Wissenschaft der Wechselwirkungen zwischen den Individuen einerseits und zwischen Individuum und Gesellschaft andererseits ist somit die Analyse von Umwegen. Dementsprechend steht sie in einer konstitutiven Distanz sowohl zur jeweiligen Einzigartigkeit, Erlebniswelt und Unersetzbarkeit eines Individuums als auch zur Gesellschaft als einer abstrakten Vorstellung, die allerdings ihre Lebenskraft aus den Handlungen und Vorstellungen eben jener Individuen zieht, denen sie sich als objektive Faktizität entgegenstellt. Eben darum kann und muss auch die Soziologie das leisten, was Simmel Kunst und Religion zuschreibt: Sie muss ihren „Gegenstand in die größte Distanz rücken, um ihn in die größte Nähe zu ziehen“.7 Dies gilt zwangsläufig auch für das Verhältnis, das die Soziologie zu sich selbst einnehmen muss. Es ist ein Verhältnis, das sich nicht in
4
Aus dem Kapitel „Soziologie der Geselligkeit“ in Simmel 2008b: 161.
5
Aus dem Kapitel „Das Objekt der Soziologie“ in Simmel 2008c: 116.
6
Vgl. die parallel verlaufende Argumentation bei Simmel zum Verhältnis zwischen Gott und Mensch (aus dem Kapitel „Soziologie der Konkurrenz“ in Simmel: 2008d: 225). Durkheims Feststellung, dass der Gott der Gesellschaft die Gesellschaft sei, erhält auf diese Weise eine zusätzliche Dimension.
7
Aus dem Kapitel „Aphorismen, Auszüge aus Posthume Veröffentlichungen“ in Simmel 2008f: 327.
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leerer Selbstreflexion erschöpfen kann. Neben der selbstreflexiven Kontrolle soziologischer Beobachtung, Analyse und Urteilsbildung steht immer die Verantwortung der Disziplin als Wirklichkeitswissenschaft gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem jeweiligen ‚Zeitgeist‘, mit denen sie sich konfrontiert sieht.8 In dieser Hinsicht gilt unverändert die Aufgabenstellung, die Helmuth Plessner 1959 zum 50. Jahrestag der Gründung unserer Fachgesellschaft formuliert hat: „Eine institutionalisierte Dauerkontrolle gesellschaftlicher Verhältnisse in kritischer Absicht und wissenschaftlicher Form – und nur das ist Soziologie als Fach – rechtfertigt sich allein gegenüber [der] Wirklichkeit“. Es ist immer eine Wirklichkeit, die den „überlieferten Formen [...] davonläuft, weil Richtung und Geschwindigkeit ihrer Transformation von ihnen nicht mehr eingefangen werden.“9
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8
Vgl. Lepsius 2008a: 11.
9
Plessner 1959: 15.
10 Lepsius 2008a: 14.
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Ökonomismus als Weltanschauung ist nicht neu. Er hat sich lediglich an der Oberfläche eine neue Semantik gegeben, die nur notdürftig das ihr zugrundeliegende – schon 1848 prägnant charakterisierte – Prinzip verdeckt, „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig [zu lassen] als das nackte Interesse“.11 Entstehung, Wirkung und Haltbarkeit dieses Prinzips distanziert verstehend zu erklären, nicht ihm zu verfallen, ist die Aufgabe unserer Disziplin. Anders ausgedrückt: Die Kritik der soziologischen an der ökonomischen Vernunft zu formulieren und zu begründen. – Nur so kann die Soziologie ihrer Aufgabe nachkommen, systematisch ein Spannungsverhältnis sowohl zur Alltagswahrnehmung als auch zu kollektiv geteilten Weltanschauungen und ihren sogenannten Selbstverständlichkeiten aufzubauen. Und nur so kann sie das Illusionäre und die zweifelhaften Selbstlegitimationen der innerweltlichen Religion des jeweiligen Zeitgeistes freilegen. Natürlich hat auch die ökonomische Vernunft als ‚Bereichsrationalität‘ mit spezifischer Reichweite eine analytische Funktion und damit einen legitimen Platz auf den Anwendungsfeldern der praktischen Vernunft. Zum universalen Erklärungs- und Handlungsprinzip überdehnt, verliert sie jedoch ihren analytischen Charakter und transformiert sich zu einer Weltanschauung, von der sich auch heute mit Marx sagen lässt: „Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form“.12 Dass aber gerade unsere Disziplin gegenwärtig der Weltanschauung des Ökonomismus mit zu verfallen droht, ist erklärungsbedürftig, hatte doch Max Weber bereits dessen Grenzen deutlich sichtbar gemacht, indem er feststellte, dass „die ‚Einseitigkeit‘ und Unwirklichkeit der rein ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen“ bestenfalls als methodischer Kunstgriff erlaubt, sonst aber unfähig sei, „die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind in ihrer Eigenart“ und in der „Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen“ zu verstehen.13
11 Marx/Engels 1848 [2005]: 46. 12 Marx 2004: 243. 13 Aus dem Kapitel „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ in Weber 1973a: 170.
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Zwar sieht auch Weber, dass „Interessen ([allerdings, HGS] materielle und ideelle), nicht: Ideen […] unmittelbar das Handeln der Menschen“ beherrschen. Dann jedoch heißt es bei ihm „aber die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte“.14 Für den einzelnen sozialen Akteur folgt daraus, dass er weder restlos vergesellschaftet und sozial determiniert ist, noch einer internalisierten Logik der Nutzenmaximierung folgt. Er ist, um mit Bourdieu zu sprechen, „weder Automat noch rationaler Kalkulator“.15 Allerdings hat sich – durch die zunehmende Dominanz des Wirtschaftssystems innerhalb des globalen Gesellschaftssystems – die Situation gegenüber dem 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dramatisch verschärft. Was Marx und Engels angesichts des sich formierenden Weltmarktes bereits für die Mitte des 19. Jahrhunderts plakativ gegen die Bourgeoise als Klasse formulierten, ist heute der Realität sehr nahegekommen: „Die moderne Staatsgewalt“ wird mehr und mehr zu einem „Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte“16 von weltweit agierenden Banken und Wirtschaftskonsortien verwaltet. Und was Simmel später über London als das Herz der englischen Geldwirtschaft sagte, indem er einen englischen Verfassungshistoriker zitierte, lässt sich heute auf die sogenannte freie Marktwirtschaft übertragen: Sie hat im Verlauf ihrer ganzen Geschichte niemals als das Herz der menschlichen Gesellschaft gehandelt, manchmal vielleicht als ihr Verstand, immer jedoch, als Geldbeutel derer, die davon profitierten.17 Daraus resultiert eine enge Wechselwirkung von ökonomischen Strukturen und der Semantik des öffentlichen Diskurses, von Ökonomie als Logik des Wirtschaftens und Ökonomismus als Weltanschauung. Das Nutzenmaximierungspostulat dringt als ‚Kapitallogik‘ buchstäblich in alle Poren des menschlichen Lebens ein. Und obwohl der Traum von der Beseitigung der Mangelökonomie seine Wirkung
14 Weber 1920 [1988]: 252. 15 Bourdieu 1980 [1993]: 73. 16 Marx/Engels 1848 [2005]: 46. 17 Aus dem Kapitel „Die Großstädte und das Geisterleben“ in Simmel 2008e: 321.
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nur entfalten kann, wenn man die Augen zukneift, beherrscht das Sprach- und Symbolrepertoire des Ökonomismus einen großen Teil gegenwärtiger Welt- und Lebensdeutung18 – im öffentlichen Diskurs ebenso wie in den Stilblüten der Consultantrhetorik, der neuen Umgangssprache einer stetig wachsenden Evaluationsbürokratie. Dieser Geist „geistloser Zustände“19 drückt mehr aus, als sich an der Oberfläche seiner semantischen Ausdrucksformen zeigt. Hatte Hannah Arendt im Nationalismus als Weltanschauung das Ergebnis der Eroberung des Staates durch die Nation gesehen, so drückt sich im Ökonomismus als Weltanschauung die Eroberung des Staates und der Politik durch die Logik der Ökonomie aus. – Es ist der Vorzug der soziologischen Perspektive, dass durch sie das Auseinanderklaffen von historisch-sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen einerseits und den von ihnen ausgelösten weltanschaulichen Überhöhungen bzw. Legitimationsbemühungen andererseits sichtbar und damit analysierbar gemacht werden können: Beispielhaft die kollektive Suche nach einer beruhigenden Antwort auf die Bedrohung durch globale transnationale Transformationsprozesse. Diese greifen unübersehbar in das alltägliche Leben der Menschen ein. Nicht nur die Individuen spüren die Bedrohung, sondern es wird auch immer deutlicher, dass die nationalstaatliche Politik den neuen Herausforderungen ebenso wenig adäquate Bewältigungsmechanismen entgegenzusetzen hat, wie eine ausschließlich national orientierte Soziologie imstande ist, die Gegenwartsgesellschaft zu analysieren. Der Ökonomismus beruhigt hier. Er suggeriert, dass die auf Nutzenmaximierung beruhende Kapitallogik – aus der sich ja gerade Widersprüchlichkeit und Dynamik der Transformationsprozesse speisen, letztlich im Dienste einer höheren Vernunft stehe und der Geist des Kapitalismus ein guter sei: Im Lichte einer hinter allen Widersprüchen waltenden, sich selbst regulierenden Vernunft – ich erinnere an Adam Smith’s Glauben an die unsichtbar steuernde Hand – werde das freie Spiel der Kräfte schließlich doch immer wieder in einem befriedigenden Gleichgewicht münden.
18 Negt 2004: 19. 19 Marx über die Religion in einer „herzlosen Welt“ (vgl. Marx 2004: 275).
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Die Anhänger dieser innerweltlichen Religion sehen in der dürftigen ökonomischen Wirklichkeit – dem Zusammenbruch der Finanzmärkte, der ungehemmten Spekulation mit Rohstoffen und Energiepreisen, der Armutsmigration und dem Abbau sozialer Sicherungssysteme – keinen Widerspruch zu ihrem Glauben. Im Gegenteil: ganz in der Linie traditioneller religiöser Heilsbotschaften verweist man darauf, dass – der Funktionstüchtigkeit ökonomisch prästabilisierter Harmonie zuliebe – auch Opfer zu bringen seien, immer allerdings in der Hoffnung, dass man als praktizierender Ökonomist schon nicht zu den Opfern zählen werde: Vor allem dann nicht, wenn es gelingt, durch den Appell an den Gemeinsinn des Steuerzahlers die Kosten für die durch Eigennutzenmaximierung entstandenen Pleiten ‚fremd zu finanzieren‘.
I M Z WEIFEL V ERANTWORTUNG ! Soziologie als bewusste, methodische Verunsicherung sowohl alltäglicher Gewissheiten als auch wissenschaftlicher Routinen und Standardüberzeugungen kann sich gegenüber solcher gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeiten und Weltanschauungen nicht lediglich als analytisch-selbstreflexive, eher konstatierende als gestaltende Wissenschaft verstehen. Bei aller methodischen Distanz zu ihrem Gegenstand steht sie nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern in ihr. Als ‚angewandte Aufklärung‘ (René König) trägt Soziologie eine Mitverantwortung für die Gesellschaft, in der sie steht. Es ist ihre genuine Pflicht, die Bilder nachzuzeichnen und wissenssoziologisch zu analysieren, die Gesellschaften von sich entwerfen. Aber ebenso sehr muss sie eine intensive und vernunftgeleitete Diskussion anstoßen und in Gang halten über jene Bilder vom Menschen und jene Handlungsoptionen, die wir – rational begründet – verwirklichen wollen. Dabei kann es nicht darum gehen, der Politik oder wem auch immer verbindliche Anweisungen zu geben. Mit guten Gründen hat Max Weber betont, dass es niemals die „Aufgabe“ der Soziologie als „Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu er-
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mitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“.20 Denn die erfahrungswissenschaftlich ermittelte Wahrheit ist nicht nur historisch bedingt, standortgebunden und abhängig vom subjektiven Erkenntnisvermögen, sondern auch primär analytisch. Als solche will sie zwar für alle gelten, „die Wahrheit wollen“,21 aber als analytische, historisch-erfahrungswissenschaftliche Wahrheit kann sie keine inhaltlich verbindlichen Normen setzen. Gerade in der analytischen Distanz gegenüber der Formulierung von Normen und in der Enthaltsamkeit gegenüber normativen Gewissheiten besteht der Wert dieser Wahrheit. „Wem diese Wahrheit“, so Weber, „nicht wertvoll ist – und der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes –, dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten.“22 Webers Hinweis auf die kulturabhängige Entstehung des Glaubens an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit lässt sich vertiefen; denn das Spezifische dieser Wahrheit, besteht darin, dass sie sich – wie insbesondere Descartes, Kant und Husserl betonen – systematisch der Kritik und dem Zweifel aussetzt. Mit seiner Formel „ich weiß, dass ich nicht weiß“, macht sich Sokrates bekanntlich zum philosophischen Ahnherren dieses Zweifels in unserer Kultur. Neben den philosophischen tritt jedoch später auch ein existentieller Zweifel, der unsere Kultur ebenso prägt und sie in ein für sie konstitutives, fortwährendes Spannungsverhältnis zwischen Säkularisierung und religiöser Bindung, innerweltlichen und metaphysischen Erlösungsvorstellungen treibt. Dieser – auch von den christlichen Kirchen gern übersehene – zugleich fundamentale und wesentlich antifundamentalistische Zweifel wird dem Christentum durch dessen Religionsstifter selbst auferlegt. Indem ein Sohn Gottes und damit der Gott in seiner Dreieinigkeit an sich selbst zweifelt, tritt geschichtlich eine Religion auf den Plan, deren Charakteristikum nicht Glaubensgewissheit ist, sondern Ungewissheit: die Bedrohung der menschlichen Existenz durch den grund-
20 Aus dem Kapitel „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ in Weber 1973a: 149. 21 Ebd.: 184. 22 Ebd.: 213.
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legenden Zweifel an einer göttlichen Sinnstiftung und damit – in der Folge – an der Möglichkeit übergreifender Sinnstiftung überhaupt. Mit seinem letzten Aufschrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“23 stellt der göttliche Religionsstifter sich selbst und damit die Möglichkeit von Religion überhaupt in Frage. Dass ein und nur ein Gott existiert und dass Götter miteinander kämpfen, sterben und wiederauferstehen, dass es verschlungene Wege zur letzten Wahrheit gibt und ebenso eine Fülle von Irrwegen, gehört zum komplexen Welterbe religiöser Vorstellungen. Mit dem Gott des Matthäusevangeliums aber nistet sich – und dies ist zugleich kulturspezifisch und ein novum humanum – neben den philosophischen ein grundlegender religiöser Zweifel in unseren Kulturkreis ein. Das okzidentale Wissenschaftsverständnis beruht auf beiden: exemplarisch erkennbar in dem Versuch der wissenschaftlichen Konstruktion von Gottesbeweisen und der darauf folgenden, wissenschaftlich notwendigen Zerstörung eben jener ‚Beweise‘. Unbestreitbar ist der analytische Wert dieses Zweifels. Schwierig dagegen ist es, im Geist des Zweifels zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Goethes Feststellung ‚der Handelnde hat kein Gewissen, nur der (später) Betrachtende hat eins‘, benennt das Problem präzise – ohne es zu lösen. Die Soziologie als zwar wesentlich analytische – zugleich aber für ihren Gegenstand, die gesellschaftliche Wirklichkeit, mitverantwortliche – Disziplin, muss für sich eine Lösung dieses Problems finden. Es muss eine Lösung sein, die es ermöglicht, gesellschaftliche Handlungspotentiale zu erschließen – und auch zu entwerfen –, ohne dass hierdurch die analytische Leistung unserer Disziplin eingeschränkt wird. Anders ausgedrückt: Das aus reflexiver Distanz erwachsende analytische Potential, mit dessen Hilfe die Soziologie mehr sieht als der durch Handlungszwänge eingeengte, praktische Alltagsverstand, muss die Resultate der Vergangenheitsanalysen und Gegenwartsdiagnosen – nicht nur in Form bedingter Prognosen, sondern auch mit dem Mut zu wertorientierten Optionen – in die Zukunft projizieren. Allerdings muss Klarheit darüber bestehen, dass bei solchen Prognosen und Möglichkeitsentwürfen das Scheitern immer einkalkuliert
23 Luther 1931: Matthäus 27, Vers 46.
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ist. Insofern handelt es sich bei ihnen einerseits nicht um Visionen oder eine „Schau“, als deren Ort Max Weber „Das Lichtspiel“ empfahl. Aber es gibt andererseits auch keinen Grund, angesichts des Scheiterns von Prognosen in prinzipiellem Defätismus zu versinken. Im Gegenteil: Das Kalkül mit dem Scheitern, der in die Zukunft verlegte Zweifel, muss Teil eines fortlaufenden soziologischen Experimentes sein, mit dessen Hilfe die Disziplin nicht nur ihre Annahmen überprüfen und zu einer kritischen ‚Rekonstruktion ihrer Theoreme‘ (Lepsius) gelangen kann. Sie wird so darüber hinaus auch ihrer gesellschaftlichen Mitverantwortung gerecht, indem sie ein Mehr an Denkmöglichkeiten und Handlungsoptionen entwirft: aus Einsichten Aussichten eröffnet. Simmel hat mit einigem Enthusiasmus die Soziologie als eine „neue Methode zur Erkenntnis“ beschrieben, als „neuen Schlüssel zu alten Schlössern“ und „neues Brechinstrument für die alten Nüsse“.24 Aber nach ihrer Gründerzeit scheint unsere Disziplin viel an Selbstbewusstsein und Feuer verloren zu haben. Insofern gilt die Mahnung eines anderen Gründervaters, Max Webers, auch für uns und unser Verhältnis zur Soziologie: „Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft betreiben kann“.25 Dafür aber, dass Leidenschaft nicht blind macht, sorgen Kritik und Zweifel der soziologischen Vernunft. Diese für unsere Disziplin wünschenswerte Synthese aus Leidenschaft und Zweifel lässt sich zusammenfassen in der Devise Antonio Gramscis: ‚Optimismus des Willens, Pessimismus des Intellekts‘. Da ich nun schon einmal dabei bin, Devisen und Imperative zu formulieren, möchte ich Ihnen zum Abschluss meine Variation der letzten Feuerbach-These nicht ersparen, wobei ich eine grammatikalische Zweideutigkeit Marxens beseitige. Also: Die Soziologen haben die Gesellschaft nur verschieden analysiert und interpretiert, es kömmt darauf an, sie, die Soziologen, so zu verändern, dass ihre Interpretationen das praktische Handeln verändern (können).26
24 Aus dem Kapitel „Das Objekt der Soziologie“ in Simmel 2008c: 118. 25 Aus dem Kapitel „Wissenschaft als Beruf“ in Weber 1973b: 589. 26 Marx 2004: 404.
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Kurz: Einer Soziologie, der es gelingt, über die historisch-kritische Gegenwartsanalyse heraus – auf der Grundlage sorgfältiger Beobachtung, gründlicher Analyse und hellsichtiger Interpretation – Alternativen zu dem zu zeigen, was ist: dieser Soziologie gehört die Zukunft.
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L ITERATUR Bourdieu, Pierre (1980/1993): Soziologische Fragen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1971): „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, in: ders., Werke in zehn Bänden, Band IX, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 31-50. Koselleck, Reinhart (1973): Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Lepsius, Rainer M. (2008a): „Blicke zurück und nach vorne“, in: Adalbert Hepp/Martina Löw (Hg.), M. Rainer Lepsius. Soziologie als Profession, Frankfurt am Main: Campus-Verlag, S. 11-76. Lepsius, Rainer M. (2008b): „Soziologie als Profession. Biographische Skizzen“, in: Adalbert Hepp/Martina Löw (Hg.), M. Rainer Lepsius. Soziologie als Profession, Frankfurt am Main: Campus-Verlag, S. 83-150. Luther, Martin (1931): Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments in der Übersetzung von Martin Luther, Stuttgart: Privilegierte Württembergische Bibelanstalt. Marx, Karl (2004): Frühschriften. 7. Auflage, Stuttgart: Kröner. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1848/2005): Das kommunistische Manifest. 6. Auflage, Hamburg: Argument. Negt, Oskar (2004): „Geleitwort zur 7. Auflage“, in: Karl Marx, Frühschriften, 7. Auflage, Stuttgart: Kröner, S. 7-19. Plessner, Helmuth (1959): „Ansprache des Präsidenten der Gesellschaft“, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages, Stuttgart: Ferdinand Enke, S. 8-16. Simmel, Georg (2008a): „Das Problem der Sociologie“, in: ders., Individualismus der modernen Zeit und andere soziologischen Abhandlungen, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 31-38. Simmel, Georg (2008b): „Soziologie der Geselligkeit“, in: ders., Individualismus der modernen Zeit und andere soziologischen Abhandlungen, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 159-173.
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Simmel, Georg (2008c): „Das Objekt der Soziologie“, in: ders., Individualismus der modernen Zeit und andere soziologischen Abhandlungen, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 115-118. Simmel, Georg (2008d): „Soziologie der Konkurrenz“, in: ders., Individualismus der modernen Zeit und andere soziologischen Abhandlungen, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 202-224. Simmel, Georg (2008e): „Die Großstädte und das Geisterleben“, in: ders., Individualismus der modernen Zeit und andere soziologischen Abhandlungen, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 319-333. Simmel, Georg (2008f): „Aphorismen, Auszüge aus Postume Veröffentlichungen“, in: ders., Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, hg. v. Ingo Meyer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 327-328. Wahl, Klaus (2000): Kritik der soziologischen Vernunft. Sondierungen zu einer Tiefensoziologie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Weber, Max (1973a): „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, S. 146-214. Weber, Max (1973b): „Wissenschaft als Beruf“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, S. 582-613. Weber, Max (1920/1988): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen: Mohr.
Personale Identität Ein Begriff aus dem Repertoire der humanistischen Tradition? J ÜRGEN S TRAUB
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UND DIE 1 PSYCHOLOGISCHE I DENTITÄTSFRAGE ‚Den‘ Humanismus gibt es nicht – selbst dann nicht, wenn man sich auf das Territorium und die Geschichte Europas beschränkt und jene anderen Regionen außer Acht lässt, in welchen der Humanismus in irgendeiner seiner Spielarten längst Fuß gefasst und neue Gestalt angenommen hat.2 Wir haben es vielmehr mit einer uneinheitlichen und weit verzweigten, ja in sich widersprüchlichen Tradition zu tun. Cancik zählt als exemplarische, vielfach unvereinbare Strömungen auf: den abendländischen, atheistischen, christlichen, dialektischen, ethischen, evolutionären, kritischen, hebräischen, klassischen, existen-
1
Eine etwas kürzere, englischsprachige Fassung dieser Abhandlung wird demnächst in einem Sammelband erscheinen. Jörn Rüsen, dem unermüdlichen Herausgeber dieser erneut aus dem sog. „Humanismus-Projekt“ hervorgehenden Publikation (Rüsen 2012) ist der Aufsatz in Freundschaft gewidmet. Jessica Niestegge danke ich – stellvertretend für zahllose Male – für Literaturrecherchen sowie die umsichtige Lektüre und redaktionelle Bearbeitung des Manuskriptes.
2
Vgl. z.B. die Beiträge in Rüsen/Laas 2009, auch im vorliegenden Band.
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tialistischen, sozialistischen und den weltlichen Humanismus.3 Der Humanismus ist offenkundig sehr heterogen und bringt selbst heute noch neue Varianten hervor. Im 20. Jahrhundert erblickte auch eine „Humanistische Psychologie“ das Licht der Welt.4 Sie wurde spätestens seit den 1960er Jahren zu einer der einflussreichen Kräfte im Feld der diskursiven und praktischen Formierung eines wenn schon nicht völlig neuen, so doch deutlich veränderten Menschen. Das Subjekt, das einen spezifisch psychologischen Blick auf sich und die anderen einzuüben und zu verinnerlichen begann, ist vor allem ein Geschöpf der modernen Psychologie. Die Humanistische Psychologie leistete dazu – nach und neben der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse und einigen anderen Strömungen – einen erheblichen Beitrag.5 Das gilt ebenso, ja sogar noch mehr für das in Psychotherapien und verwandten Psychoboom-Veranstaltungen umgesetzte Programm einer möglichst uneingeschränkten und unaufhörlich praktizierten Selbstthematisierung und Selbstveränderung im Zeichen persönlichen Glücks und sozialer Ziele (allen voran die befriedigende „Beziehung“ zu anderen, insbesondere zu den Allernächsten). In der Regel wurden und werden solche Prozesse durch unterstützende und nachhelfende
3
Sowie einige andere mehr: vgl. Cancik 2003; vgl. auch Cancik 1993,
4
Zum Überblick: Schneider/Bugental/Pierson 2001; zu ihrem durchaus
2009. eigenartigen humanistischen Programm vgl. Straub 2012a. Wie sehr die Humanistische Psychologie aus dem Saatgut abtrünniger PsychoanalytikerInnen hervorgegangen ist, zeigt Johach 2009. 5
Uns Heutigen ist der psychologische Blick wohl vertraut und regelrecht in den eigenen Leib eingeschrieben. Er strukturiert unser Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln unentwegt. Das gilt jedenfalls für die Angehörigen der sog. westlichen Welt. Ungeachtet aller Probleme, die eine konsensfähige Bestimmung des Konzepts der „Moderne“ aufwirft, lässt sich nämlich sagen: Selbst in den modernen Gesellschaften des Orients hat die westliche Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie bislang kaum Fuß fassen können. Auch das ist ein Aspekt, dem die zahlreichen Untersuchungen von multiple modernities allmählich die gebührende Aufmerksamkeit entgegenbringen sollten.
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„Facilitatoren“ begleitet und forciert (Berater, Therapeutinnen, Pädagogen, Trainer, Coaches, Gruppendynamiker, Psychoanalytikerinnen usw.). Nicht selten legt(e) man die ergriffenen Maßnahmen technologisch aus. Bis heute gelten sie dann (allzu) einfach als wissenschaftlich begründete Formen der instrumentellen Selbstoptimierung des Erlebens und Verhaltens verbesserungsfähiger oder korrekturbedürftiger, mitunter auch stark leidender ‚Seelen‘. Auch derartig technisch konzipierte Zugriffe auf den Menschen, auch solche Instruktionen und Interventionen rücken meistens die Gefühle der Adressaten ins Zentrum der ‚Arbeit‘ (tatsächlich ist ja längst von „Gefühlsarbeit“ oder spezieller auch von „Trauerarbeit“ die Rede). Sie machen im Prinzip aber vor keinerlei psychischen Strukturen und Funktionen Halt (die Wahrnehmung, das Denken, das Begehren, Wünschen und Wollen – so gut wie alles, was Menschen tun und lassen, kann zum Objekt von Selbstthematisierungen und -optimierungen werden). Die Ziele, die einschlägige Interventionen und Instruktionen verfolgen – gerade auch im Rahmen der weltanschaulichen Humanistischen Psychologie –, tragen dabei häufig die klingenden Namen großer Versprechen: Gesundheit und Glück, Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung, Emanzipation und Mündigkeit, Unabhängigkeit und Selbständigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit, Beziehungs- und Liebesfähigkeit sowie allerlei andere Errungenschaften und „Kompetenzen“ sind prominente Beispiele aus einer immer breiter werdenden Angebotspalette. Im Grunde dreht sich dabei vieles, das meiste wohl, um eine einfach klingende Frage – die sog. Identitätsfrage. In temporalisierter Gestalt lautet sie: „Wer bin ich, wer bin ich geworden, wer möchte ich und wer werde ich sein?“ Die psychologisch oder psychoanalytisch fundierte, psychotherapeutisch bzw. psychotechnisch ausgerichtete Modellierung des modernen Menschen ist alles andere als ein harmloses und allgemein konsensfähiges, rundum begrüßenswertes und alle Betroffenen beglückendes Unternehmen. Dieses manchmal brachiale, meistens subtile Machen und Modifizieren von Menschen im Zeichen einer – dem eigenen Anspruch nach – kontinuierlich sich selbst optimierenden Optimierung wirft allemal seine Schatten auf die in spät- oder postmodernen Gesellschaften individualisierten Individuen.6 Das psycholo-
6
Beck/Beck-Gernsheim 1994.
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gisierte, psychoanalysierte und psychotherapeutisierte Subjekt ist bekanntlich nicht unbedingt glücklicher als der von solchen (Selbst-)Behandlungen verschonte Mensch, bisweilen wohl nicht einmal kompetenter (egal in welcher Hinsicht). Selbst dieses Subjekt – vielleicht gerade es – findet aus dem notorischen Unbehagen in und an einer unwirtlichen Moderne nicht mehr heraus und wartet häufig vergeblich auf die Erfüllung der großen Versprechen.7 Das psychologisierte, psychoanalysierte und psychotherapeutisierte Individuum bleibt nicht zuletzt abhängig von jenen Institutionen und Personen, welche Selbstverwirklichung, Freiheit und Autonomie versprechen dürfen, verbürgen und vermitteln sollen. Der psychologische Blick auf sich und die anderen kann, alles in allem, also auch als ein Kontroll- und Disziplinardispositiv verstanden werden (im Sinne Michel Foucaults8). Er ist zu einer tief im Seelenleben des spätund postmodernen Menschen der westlichen Welt verwurzelten Disposition geworden. Er wurde und wird von Abermillionen von Menschen verinnerlicht und praktiziert (und dabei kaum noch als etwas Besonderes erlebt, als etwas Eigentümliches, Eigenartiges, Befremdliches oder Entfremdendes gar). Er gilt ihnen ganz selbstverständlich als etwas Normales. Er wird also nicht mehr als ein im Lauf von Jahrhunderten und rapide im Lauf der letzten Jahrzehnte, also nur sehr allmählich ‚errungenes‘, mühsam ‚erwirtschaftetes‘ und teuer ‚erkauftes‘ Ergebnis eines in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebetteten Vorgangs der gesellschaftlich funktionalen Normalisierung empfunden. Die Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie bilden, zusammen mit einigen Nachbardisziplinen sowie Seitenzweigen des Psychomarktes, eine (durchaus anonyme) Macht, die vieles bewirkt, ‚Gutes‘ wie ‚Schlechtes‘ (wobei hier kein Urteil ‚neutral‘ und ‚objektiv‘ ausfallen kann). Ganz unabhängig von aller Politik und Moral, un-
7
Im weiten Meer der einschlägigen Literatur haben manche Autoren Wellen geschlagen, darunter etwa: Freud 2003; Berger/Berger/Kellner 1975; Berger 1996; Taylor 1994; sehr aufschlussreich für den gesamten angedeuteten Problemkomplex sind seit einigen Jahren die Analysen von Illouz 2006, 2009, 2011.
8
Vgl. diesbezüglich z.B. Foucault 2008.
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geachtet jeder Ethik und Ästhetik der Existenz wirkt diese vielfältig verfestigte, institutionalisierte Macht wohl einfach auch als funktionaler und vielleicht sogar unerlässlicher Bestandteil des spät- und postmodernen Lebens (zumindest in vielen modernen Gesellschaften, in denen sog. psychische Störungen bekanntlich noch immer kontinuierlich zunehmen). Der als Disposition internalisierte und in den Habitus zahlloser Gruppen integrierte Imperativ des psychologischen Blicks ist zweifellos ein zweckmäßiger Bestandteil der reflektierten Lebensführung spät- und postmoderner Subjekte, oft nützlich und manchmal unumgänglich, meist lebensdienlich und mitunter überlebenssichernd. Daran ändert die wichtige, ja notwendige Kritik an diesem Imperativ, an seinen subtil und subkutan wirkenden Formen zumal, nicht das Mindeste. Demgemäß haben auch verlockende Identitätsangebote und anordnende Aufforderungen zur unablässigen ‚Identitätsarbeit‘ allemal zweierlei Seiten. Die aus spät- und postmodernen Gesellschaften nicht mehr wegzudenkenden Identitätsdiskurse und -praktiken sollte man weder einfach rühmen und umstandslos propagieren noch vorschnell verdammen und bloß bekämpfen. In den Wissenschaften jedenfalls empfehlen sich theoretische Analysen und reflektierende Urteile einer praktischen Vernunft, die der Komplexität des Phänomens tatsächlich Rechnung tragen.9
9
Solche Analysen und in methodisch vielfältigen ethnographischen Studien fundierten Urteile finden sich heute etwa in den oben erwähnten Arbeiten von Illouz. Diese Autorin beschreibt und erklärt in ihren kultursoziologischen Untersuchungen den durchschlagenden Erfolg der Psychologie und Psychotherapie, einschließlich ihrer popularisierten und trivialisierten Varianten auf dem noch immer boomenden Psycho-Markt (der ‚westlichen Welt‘). Sie tut das mit einer Unvoreingenommenheit, die in diesem Feld, in dem naive oder strategisch kluge Apologeten auf der einen, bornierte oder differenzierte Kritiker auf der anderen Seite seit langem eine unerbittliche Fehde führen, wahrlich rar ist. Illouz’ Darlegungen lässt sich nicht zuletzt entnehmen, wie sehr es der modernen Psychologie und Psychotherapie sowie ihren (sektiererischen, kommerziellen etc.) Ausläufern um den Menschen geht, den einzelnen, bedrängten und verunsicherten, um Liebe ringenden Menschen zumal, aber auch um das Wohl einer gefährdeten Menschheit im Ganzen.
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Es gibt demnach gut begründbare, mit starken Argumenten zu rechtfertigende Möglichkeiten, die ‚Unterwerfung‘ moderner Subjekte unter den mäandernden Imperativ der Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie nicht ausschließlich als Ergebnis einer reinen Bemächtigung und bloßen Repression auszulegen (wie das Foucault im Hinblick auf die Psychoanalyse am Ende des ersten Bandes seines Werks „Sexualität und Wahrheit“ tut und so das Kind mit dem Bade ausschüttet).10 Anstelle einer derartig pathetischen und pseudoradikalen Kritik der aufklärerischen Absichten und emanzipatorischen Ziele der modernen Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie empfiehlt sich eine ausgewogene und nüchterne Strategie, die Überlegungen und Urteile auch in diesem Feld differenziert anlegt. Es ist auch hier nicht alles einfach weiß oder schwarz, Gedeih oder Verderb, totales Gefängnis oder absolute Freiheit. Abgesehen von den erwähnten funktionalen Erfordernissen lassen sich in der Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie – in vielen ihrer Varianten jedenfalls – Potentiale ausmachen, die pauschal zu verwerfen politisch, ethisch und moralisch unverantwortlich, ja sogar töricht und obendrein zynisch wäre. Diese teilweise noch unabgegoltenen Potentiale können, werden sie entfaltet, das Leben von Menschen bereichern. Sie mögen dabei helfen, dass sich Individuen aus undurchschauten Zwängen lösen und so zu freieren, selbstbewussteren und selbständigeren Personen werden. Sie können Menschen nicht zuletzt dabei unterstützen, ihr mit anderen geteiltes Leben an Prinzipien der Gleichheit und Gerechtigkeit auszurichten. Psychologische, psychoanalytische und psychotherapeutische Institutionen und Praktiken der (angeleiteten, unterstützten, dialogisch und diapraktisch strukturierten) Selbsterfahrung, Selbstreflexion und Selbstformung dienen ja zweifellos auch dem Ziel, Perspektivenübernahme und Empathie einzuüben. Das ist zwar keine Garantie für Mitleid und Solidarität. Es ist aber eine unabdingbare Voraussetzung für die praktische Beachtung dieser philanthropischen, humanistischen Werte. Zusammenfassend lässt sich resümieren: Die moderne Psychologie (einschließlich der Psychoanalyse und Psychotherapie) ist vielfach auch dort, wo sie sich nicht ausdrücklich als „humanistisch“ bezeich-
10 Foucault 2008: 153.
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net, mit wichtigen Anliegen der humanistischen Tradition verwoben. Das zeigt nicht zuletzt der im Folgenden zu präzisierende Gesichtspunkt: Der psychologische Blick auf sich und die anderen wirkt an der Formierung eines Subjekts mit, das durch ein spezifisches, in besonderer Weise strukturiertes Selbst- und Weltverhältnis charakterisiert ist. Der in der modernen Psychologie (und manchen Nachbardisziplinen) zum theoretischen Begriff geadelte Name für dieses kommunikativ vermittelte Selbst- und Weltverhältnis einer sprach- und handlungsfähigen Person lautet: Identität. Deswegen also kann man mit guten Gründen danach fragen, ob das komplexe theoretische Konstrukt der personalen Identität in ein pragma-semantisches Feld gehört, in dem die Spuren der humanistischen Tradition – bestimmter ‚Humanismen‘ jedenfalls – unübersehbar sind. Die moderne Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie ziselieren seit gut hundert Jahren – ungeachtet zahlloser Unterschiede im Einzelnen – ein ‚neo-humanistisches‘ Bild vom Menschen (und arbeiten an seiner praktischen Durchsetzung mit, in allen gesellschaftlichen Teilsystemen und in der Lebenswelt). Wie lässt sich dieses Bild zumindest in seinen wichtigsten Zügen beschreiben? Eine wohlwollende Lesart der seriösen Bemühungen in diesem bunten Feld gelangt zu folgendem Resultat: Dieses immer filigraner werdende Bild verweigert sich den naiven Illusionen und idealisierenden Heroisierungen ‚des‘ Menschen, wie sie sich in überlebten Anthropologien zuhauf finden. Es widersetzt sich allen dereinst glorifizierten Ideen eines starken Subjekts (sei es eines Bewusstseins-, Vernunft- oder Willenssubjekts). Dieses vielfach an identitätstheoretische Überlegungen gekoppelte Menschenbild zersetzt und ersetzt solche Ideen im Zuge einer unaufhaltsamen Dekonstruktion und Dezentrierung vermeintlicher Stärken des Subjekts vergangener Jahrhunderte. Das seit gut einem Saeculum sich immer klarer abzeichnende Bild eines sich zurücknehmenden und zurückhaltenden, nicht mehr allein auf sein Bewusstsein und seine Vernunft, seinen Willen und seine Handlungsmacht sich kaprizierende soggetto debole gewinnt sukzessive eine neuartige ‚Stärke‘ und ‚Souveränität‘ just durch die erfahrungsgesättigte Einsicht in seine Schwächen und Grenzen, seine Bedürftigkeit, Emotionalität und unüber-
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windbare Abhängigkeit (nicht zuletzt von der Anerkennung durch andere11). Dieses dekonstruierte und dezentrierte Subjekt hat im Übrigen nichts mehr mit der verklärenden Vorstellung gemeinsam, nach der der Mensch als Person eine prästabilierte harmonische Einheit und als solche stets ‚ganz bei sich‘ sein könne. Identität ist vielmehr ein äußerst voraussetzungsvoller Name für die kommunikative Struktur eines Selbst, das in einer „zerrissenen Welt des Sozialen“ selbst von Zerrissenheit bedroht ist – und sich dieser spät- und postmodernen Herausforderung stellt, ohne in anachronistische Losungen und Pseudolösungen von kurzer Dauer zu flüchten (vgl. dazu die Ausführungen z.B. von Joas oder Straub, wo argumentiert wird, dass auch Gewalt gegen sich oder andere eine solche Scheinlösung im Zeichen der Totalität darstellt. Ich komme darauf zurück).12 Die folgenden Ausführungen zum Identitätsbegriff präsentieren eine Lesart des theoretischen Begriffs personaler Identität, die im Überschwang postmoderner Aufregung und einer mitunter allzu verzückten Verklärung des Fragmentarischen etwas in den Hintergrund der massenmedial inszenierten Sozial- und Kulturwissenschaften geraten ist. Das postmoderne Pathos ist zwar mittlerweile stark verblasst. Die ästhetische, ethische und politische Nobilitierung des Fragmentarischen hat ihren einstigen Glanz verloren. Das gilt insbesondere für das ehemals lustvoll und feierlich vorgetragene Lob der fragmentierten (dissoziierten, multiplen, polyphrenen, rhizomatischen etc.) Person und ihrer in tausend unverbundene Stücke zerbrochenen ‚Existenz‘ (die man eigentlich bloß noch als eine Art ‚Subsistenz‘ im turbokapitalistischen Überlebenskampf bezeichnen sollte). Völlig vom Tisch ist das postmoderne Faible für das Fragmentarische aber keineswegs. Insofern dieses Faible am Leiden tatsächlich fragmentierter (dis-
11 Vgl. Todorov 1996; dieser in zahlreichen Disziplinen sich umsehende Autor verarbeitet nicht zuletzt Theorien und Befunde der modernen Entwicklungspsychologie, der Psychoanalyse und der Sozialpsychologie menschlicher Beziehungen und macht just diese Erkenntnisse zu wichtigen Stützpfeilern einer allgemeinen Anthropologie der Anerkennung; vgl. dazu Straub 1999. 12 Joas 1996; Straub 2002.
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soziierter, multipler, polyphrener) Menschen vorbeigeht, ist es Bestandteil eines kalten Zynismus, der im Begriff ist, den Sinn für die Realität zu verlieren. Wer die faszinierende Schönheit des Fragments und Fragmentarischen in der Kunst (in der bildenden ebenso wie in der Literatur oder Musik) mit dem leidvollen Schicksal unausweichlich zerbrechender Menschen und hoffnungslos zerrissener Existenzen vermengt und verwechselt, leistet einer inhumanen Gleichgültigkeit Vorschub, die neben einigen basalen empirischen Erkenntnissen auch bewahrenswerte Errungenschaften der humanistischen Tradition verspielt. Das hier vertretene Konzept personaler Identität steht in dieser (komplexen, heterogenen) Tradition und lässt sich vielleicht nur aus ihr heraus verstehen. Freilich fragt sich an dieser Stelle noch einmal: welche Tradition, welcher Humanismus? Hält man sich an die Begriffsgeschichte, führt der Weg von der römischen humanitas, der Humanität oder Menschheit also, und späteren Bedeutungsvarianten dieses Ausdrucks hin zum erst im 19. Jahrhundert von Friedrich Niethammer (1766-1848) eingeführten Begriff des Humanismus. Bei Niethammer war er noch klar auf eine reformerische Pädagogik gemünzt und zielte auf die „allgemeine, nicht berufsspezifische Vorbereitung auf das Studium, die Sorge ‚für die Humanität des Zöglings‘.“13 Dieser sog. ‚klassische‘ Humanismus war eine primär pädagogische Innovation, eine ‚Modernisierung‘ der Erziehung im Zeichen einer allgemeinen, umfassenden Bildung des Menschen, die das Studium der Antike voraussetzte und integrierte. Diese innovative Pädagogik strebte ein historisch verankertes Selbstverständnis an sowie neue, die jüngsten humanwissenschaftlichen Erkenntnisse einbeziehende Bemühungen um die Vervollkommnung des „ganzen Menschen“. Ein einheitliches, klar ausformuliertes und geschlossenes System aus Ethik und Anthropologie wurde niemals daraus – bis heute nicht! Erst Jahrzehnte nach der Verkündung des ursprünglichen reformerischen Bildungs- und Erziehungsprogramms wurde der Begriff auch als Bezeichnung einer Epoche – der italienischen Renaissance (durch Georg Voigt und Jacob Burkhardt) – geläufig. Schließlich fand er als Name aller möglichen geistigen Strömungen mit praktischen
13 Cancik 1993: 174.
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Ambitionen Verbreitung (s.o.), die sich auf bestimmte Anthropologien oder Menschenbilder stützten und entsprechende Weltanschauungen sowie politische oder pädagogische Ziele propagierten – wobei die für den klassischen Humanismus noch zentrale Bezugnahme auf die griechisch-römische Antike mehr und mehr in den Hintergrund geriet und oft ganz verschwand. Die unweigerlich doppelte Bedeutung von Humanität (humanitas), die auch zahlreiche humanistische Projekte und Bewegungen prägt(e), liefert einen ersten hilfreichen, wenngleich noch ziemlich allgemeinen und abstrakten Hinweis darauf, was man noch heute als Humanismus verstehen könnte – gerade auch im Hinblick auf einen psychologischen Neohumanismus, der die „personale Identität“ zu seinen Grundbegriffen zählt. Humanität bedeutet, wie Cancik ausführt,14 seit jeher „‚Bildung‘ (eruditio, litterae, scientia) und ‚Milde‘ (mansetudo, comitas, benignitas)“ gleichermaßen, „‚(geistige) Entrohung‘ (eruditio) und ‚(tätige) Barmherzigkeit‘ (philantropia)“ in einem. In diesem Begriff und sodann in verschiedenen weltanschaulich-humanistischen Programmen und Bewegungen verbinden sich, so kann man ganz grob sagen, • Bemühungen um eine universale (anthropologische) Bestimmung
des Menschen als Gattungswesen, • ethische und moralische Reflexionen, die in der Moderne um die universale Würde des Menschen und allgemeine Menschenrechte kreisen, um Fragen der Gleichheit, Gerechtigkeit und Anerkennung, • der pädagogisch und politisch motivierte Appell, die Menschheit, also jeden Einzelnen, einer fortschreitenden Bildung und Erziehung zu unterziehen und so an der sukzessiven – natürlich nie abschließbaren – Vervollkommnung des „ganzen“ Menschen zu arbeiten, • die Aufforderung, die menschliche Lebens- und Handlungspraxis stets auch an humanitären Prinzipien auszurichten, also den in Not geratenen und Hilfebedürftigen besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung zuteilwerden zu lassen.
14 Cancik 2009: 32.
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Der Begriff der „personalen Identität“ tauchte natürlich in keinem der bis ins frühe 20. Jahrhundert überlieferten Humanismen auf. Er ist das Kind der jüngsten Zeit, einer spät- und postmodernen Ära, in der die theoretische Reflexion auf praktisch erlebte Differenzen und Spannungen im Subjekt selbst bislang unbekannte Ausmaße annimmt und eine ebenfalls bis dato unerschlossene Tiefendimension erhält. Die europäische Psychoanalyse und der (auch in Europa verwurzelte) nordamerikanische Pragmatismus waren seine entscheidenden Wegbereiter und Gestalter. Man könnte diesbezüglich von einer seit dem späten 19. Jahrhundert rapide gewachsenen psychologischen Differenzsensibilität und einem radikalisierten Fremdheitsbewusstsein sprechen – auch im Hinblick auf das von Freud so genannte „innere Ausland“, das eigene Unbewusste zumal. Mit den vertieften Einsichten in die kontingente und komplexe, dynamische und höchst fragile Struktur des kommunikativen Selbst- und Weltverhältnisses spät- und postmoderner Subjekte tritt die Theorie personaler Identität auf den Plan. Sie ist der bis heute unabgeschlossene Versuch, die nicht reifizierbare, niemals wirklich erreichbare und schon gar nicht stabilisierbare Einheit der Person als eine (auch temporalisierte) Synthese des Heterogenen zu denken. Sie ist das Bemühen, theoretisch ein Subjekt auf den Begriff zu bringen, das trotz der ungeheuren Zumutungen und unablässigen Anstrengungen in einer zersplitterten und weiterhin umstürzenden Welt einigermaßen urteils-, orientierungs- und handlungsfähig bleibt. Selbstverständlich ist all das nicht. Wie man sich diese wünschenswerte Option überhaupt denken kann – just auf diese Frage gibt die Theorie personaler Identität eine Antwort. Dieser Respons transportiert unverkennbar Forderungen und normative Gehalte der weit verzweigten humanistischen Tradition, nimmt sie auf, spezifiziert und erneuert sie. Die Vielfalt humanistischer Welt- und Menschenbilder macht es schwierig, das Konzept der personalen Identität kurzerhand an eine überlieferte Perspektive zu binden oder als humanistisches Projekt in einem bereits festgelegten Sinn aufzufassen. Was also könnte man in unserer Gegenwart sinnvoller Weise als neohumanistische Bedeutung „personaler Identität“ auffassen? Die folgenden Ausführungen mögen als Vorschlag einer Antwort auf genau diese Frage gelesen werden. Sie skizzieren Konturen eines psychologischen Humanismus in Zeiten
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der Spät- und Postmoderne (der mit der oben erwähnten Humanistischen Psychologie und ihrem Menschenbild kaum mehr etwas gemeinsam hat). Dieser über seine Vorgeschichte aufgeklärte Neohumanismus rückt aus guten Gründen das Konzept personaler Identität ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei ist klar, dass das mit dem Identitätsbegriff verwobene Menschenbild einer dezidiert psychologischen (und dabei zugleich historischen und kulturspezifischen) Anthropologie dazu beitragen kann, vermeintlich universale Annahmen über ‚den‘ Menschen zu korrigieren. Diese Vorsicht schützt vor (zeitgebundenen) eurozentrischen Humanismen, die naturgemäß nicht im Namen der Menschheit sprechen können. Die Psychologie personaler Identität ist freilich auch ein Beitrag zum globalen interkulturellen Dialog über ‚den‘ Menschen. Dieser Beitrag bringt die Frage ins Spiel, ob sich zumindest bestimmte Aspekte der Psychologie personaler Identität – empirisch begründet, ethisch, moralisch und politisch reflektiert – womöglich doch universalisieren ließen im Zeitalter der Globalisierung? Er ist also auch eine an alle Interessierten gerichtete Einladung darüber nachzudenken, ob das Konzept der personalen Identität vielleicht besonders angemessene und attraktive Möglichkeiten eines zeitgemäßen menschlichen Selbstverstehens aufzeigt. Überzeugend und anziehend erscheinen diese Möglichkeiten nicht zuletzt deswegen, weil sie gangbare Wege einer selbstkritischen, bescheiden gewordenen ‚Vervollkommnung‘ des Menschen aufzeigen. Diese zaghafte und doch nicht zaudernde Vervollkommnung wäre, wenn sie denn gelänge, an die dialogische und diapraktische Bildung und Erziehung von Menschen gekoppelt, die sich in einer zunehmend komplexer werdenden Welt für einander öffnen können. Das Konzept der personalen Identität artikuliert wie kaum ein zweites den psychologisch eminent anspruchsvollen Gedanken der Offenheit der Person. Wie gezeigt werden soll, verschließt sich die ‚mit sich identische‘ Person weder gegenüber den Anderen und Fremden noch gegenüber den und dem Anderen und Fremden in sich. Sie zeigt vielmehr eine Art Unvoreingenommenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem und Interesse an ihm. Leicht und leicht zu haben ist das indes nicht. Diese Offenheit ist vielmehr das Ergebnis eines lebenslangen Bildungsvorgangs. Neues jedweder Art und Gestalt ist bekanntlich nicht vorherzusehen und häufig eine bloße Zu-
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mutung, die den betroffenen Menschen an seine Grenzen bringen und überfordern kann. „Identität“ bezeichnet nun just jene Struktur des kommunikativen Selbstverhältnisses von Personen, die diese in die Lage versetzt, Neuem trotzdem ohne allzu große Angst und – auch in Fällen, wo es eher stört und verstört – mit aller individuell verfügbaren Kreativität zu begegnen.
I DENTITÄT : HETEROGENE B EDEUTUNGEN , 15 ERSTE B ESTIMMUNGEN Mit der Allgegenwärtigkeit des Identitätsbegriffs bereits in den 1970er Jahren wurde seine kulturelle Pragmatik und Semantik zunehmend diffus. Seine diskursiven Funktionen drifteten auseinander. Seither wurde vielfach beanstandet, dass das deskriptive, analytische und explanative Potential des Begriffs erschöpft sei. Unbestreitbar ist: Ausufernde Polyvalenz und unzähmbare Polyfunktionalität sind ihm ein und für allemal eingeschrieben.16 Verbreitete Verwirrungen verdanken sich nicht zuletzt begriffsgeschichtlichen Bedeutungsverschiebungen. Der aus der Mathematik und Logik stammende Terminus besagt in den Sozial- und Kulturwissenschaften, nicht zuletzt in bestimmten Arealen der zeitgenössischen (Subjekt-) Philosophie, etwas ganz anderes als dort.17 Auch jene philosophischen Begriffe, welche im Austausch insbesondere mit der soziologischen und psychologischen Identitätsforschung entwickelt wurden bzw. dieselben Phänomene wie diese in den Blick nehmen, haben sich von der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs gelöst.18
15 Einige der folgenden Abschnitte wurden weitgehend übereinstimmend publiziert im „Handbuch für Kulturphilosophie“ (Koenersmann 2012). 16 Straub 1991, 2012b. 17 Henrich 1979, Tugendhat 1979: 282. 18 Z.B. Angehrn 1985, Quante 1999, Ricœur 1996, Straub 1991, 1996, 1998, Taylor 1994, Welsch 1991, 1993.
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Jene Selbstheit19 einer Person, welche viele Identitätsbegriffe bezeichnen, geht in einer mathematischen oder logischen Identitätsrelation gerade nicht auf. Die Identität einer Person setzt Subjekte voraus, die sich von sich distanzieren und zu sich selbst verhalten können. Der Identitätsbegriff beruht auf der elementaren Einsicht, dass jedes Gefühl und jeder Gedanke, mit sich selbst identisch zu sein – sich in einem nicht trivialen, mehr als bloß tautologischen Sinn zu ‚gleichen‘ –, (lebens-) geschichtlichen Wandel sowie ein in sich vielfältiges Selbst in der Gegenwart, mithin eine unabänderlich differentielle, transitorische und heterogene Struktur des Subjekts voraussetzt (s.u.). Die leibliche Verkörperung, die praktische Artikulation und symbolische Reflexion dieser (in zeitlicher, sozialer, kultureller und sachlicher Hinsicht) komplexen Struktur ist ein basales logisches Implikat jedes anspruchsvollen (modernen) Identitätsbegriffs. Die als Einheit von Differenzen konzeptualisierte Identität ist keine Eigenschaft im Sinne eines ‚äußerlichen‘ Merkmals, das man Menschen ebenso wie Dingen zuschreiben könnte. Die Identitätsfrage (s.o.) setzt ein sprach- und handlungsfähiges Subjekt voraus. Das bedeutet allerdings nicht, Identität sei eine Art Privatsache und käme ohne die Mitsprache von Anderen und deren Anerkennung aus. Es gibt keine Identität ohne Erfahrungen und Erwartungen, die Andere teilen. Demgemäß ist die Identität einer Person von deren Individualität, ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit (und in gewissem Sinne ihrer ‚Unaussprechlichkeit‘, ‚Unsagbarkeit‘: individuum ineffabile est), zu unterscheiden. Ebenso wenig heißt das, die je eigene Identität sei dem Subjekt ohne weiteres und uneingeschränkt zugänglich oder gar vollkommen bewusst. Auch diesbezüglich sind Selbsttäuschungen oder überlegene Einsichten der Anderen möglich. Dennoch gilt: Identität ist im Grunde genommen eine persönliche Angelegenheit. Just in diesem Sinne spricht Ricœur20 von der ipse-Identität (ipse; selfhood; ipséité; Selbstheit) und unterscheidet diese von der idem-Identität (idem; sameness; mêmeté; Selbigkeit). Die Identitätsfrage im Sinne der ipse-Identität ist eine von der praktischen Selbst-
19 Als eher schlechte Synonyme fungieren etwa „Gleichheit“, „Nämlichkeit“ oder die unten noch explizit von der Selbstheit abgegrenzte „Selbigkeit“. 20 Ricœur 1996, insb.: 141 ff., 173 ff.
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sorge eines Menschen motivierte Wer-Frage: „wer bin ich (geworden) und wer möchte ich (eigentlich, jetzt und künftig) sein?“, also keine aus beliebigen Beobachterperspektiven mögliche, unpersönliche, im Zeichen der idem-Identität stehende Was-Frage: „was ist etwas (in bestimmten Zeitpunkten t1, t2, … tn)?“ Dieses Konzept der Selbstheit unterstellt keinerlei Konstanz von ‚etwas‘, sondern fragt nach der Identität einer Person oder Gruppe unter der paradoxen und zugleich konstitutiven Bedingung, dass sich im Leben dieser Person im Prinzip alles verändern kann, sich faktisch vieles gewandelt hat und noch so manches ändern wird (in kontingenter, oftmals unvorhersehbarer Weise). Im Übrigen gibt es in jedem Leben auch synchron viel Verschiedenes, das nicht recht zueinander passt, latente ‚innere‘ Spannungen und manchmal manifeste Konflikte erzeugt (z.B. sich widerstreitende Orientierungen und Neigungen, Wünsche und Begehren, unvereinbare Überzeugungen, widersprüchliche Interessen etc.). Identität und Differenz sind in diesem Sprachspiel mithin gerade keine logisch disjunkten Kategorien oder sich ausschließenden Gegenbegriffe. Sie setzen einander vielmehr voraus und bedürfen einander. Mehr noch: Die Identität einer Person lässt sich grundsätzlich als dynamische und fragile Einheit ihrer (diachronen und synchronen) Differenzen bestimmen. Dazu bedarf es keinerlei essentialistischer oder substantialistischer Annahmen über einen gleichbleibenden Kern der Persönlichkeit (semper idem).
G ESCHICHTLICHER ,
KULTURELLER UND GESELLSCHAFTLICHER K ONTEXT
Die Identitätsfrage stellt sich nur dann, wenn erhebliche und fortwährende Differenzierungen des Selbst in einer dynamisch sich wandelnden Welt just diese Frage aufdrängen. Sie wird nur dort virulent, wo die Antwort darauf nicht mehr nahe liegt oder gar vorgegeben, sondern den Subjekten selbst aufgegeben und dabei schwierig ist, obendrein vorläufig bleibt. Der Identitätsbegriff ist eine Problemanzeige. Er verweist auf die empirisch vielfach diagnostizierten Verunsicherungen und Unsicherheiten, auf die Orientierungsnöte und Sinnkrisen, die für eine im 20. Jahrhundert rapide gewachsene Anzahl an
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Menschen typisch, ja notorisch geworden sind.21 Zu diesen Menschen zählten in der zweiten Hälfte des vergangenen Saeculums bald schon nicht mehr nur einige Männer aus höheren sozialen Schichten, sondern zunehmend auch Frauen und Angehörige (potentiell) aller Klassen und soziokulturellen Milieus.22 Auch löste sich der Identitätsbegriff – nachdem er in der Mitte des 20. Jahrhunderts schwerpunktmäßig auf Entwicklungsaufgaben speziell in der Adoleszenz gemünzt worden war23 – von dieser Bindung an ein bestimmtes Lebensalter. Bekanntlich haben sich die Bedingungen, unter denen die Identitätsfrage gedeiht (und funktional ist), zumindest in gewissen Hinsichten besonders in den letzten Jahrzehnten „globalisiert“ oder „glokalisiert“.24 Das hat dazu geführt, dass der ‚legitime‘ Anwendungsbereich auch des Identitätsbegriffs weiter geworden ist. Dennoch bleibt seine spezifische Pragma-Semantik, mithin seine sozio-kulturelle Relationalität, zu berücksichtigen. Unter Identitätsproblemen oder -krisen hat auch heute noch ein eher kleiner Teil der Menschheit zu leiden. Die praktischen Sorgen der Mehrheit sind anderer Art. Das gilt im Übrigen durchaus für einen schwer zu bestimmenden Anteil der Angehörigen moderner Gesellschaften. Auch unter ihnen finden sich Personen, deren Selbst keineswegs im Sinne des hier behandelten Identitätsbegriffs strukturiert ist.25
21 Berger/Berger/Kellner 1975, Eagleton 2008, Giddens 1991, Keupp/Ahbe/ Gmür 1999, Keupp/Hohl 2006, Taylor 1994, 1995, Willems/Hahn 1999. 22 Beck/Beck-Gernsheim 1994. 23 Erikson 1973. 24 Beck 1997. 25 Aus Platzgründen werden hier kulturvergleichende Theorien des Selbst, die Identitätstheorien mit Alternativen konfrontieren könnten, vernachlässigt. Zu den besonders beliebten Unterscheidungen gehört die Differenzierung zwischen einem (primär ‚westlichen‘) independenten und einem (primär ‚nicht-westlichen‘, ‚östlichen‘) interdependenten Selbst. Dieses (grob kontrastierende und beide Seiten homogenisierende) Begriffspaar hängt eng mit der ebenso simplen Differenzierung zwischen individualistischen Kulturen (der auf der Ebene der Personen eine individuozentrische/ideozentrische Orientierung entspricht) und kollektivistischen Kulturen (mit denen eine soziozentrische/allozentrische Orientierung korre-
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Der Identitätsbegriff hat seine Wurzeln in industrialisierten Gesellschaften der westlichen Welt des 19. Jahrhunderts. Auf sie bezogen erhielt er seinen spezifischen Sinn. Demgemäß ist es schlicht falsch, diesen Begriff als universale anthropologische Kategorie zu gebrauchen und auf alle möglichen Leute in der Vergangenheit und Gegenwart anzuwenden. Wer von Identität in der hier analysierten Bedeutung spricht, bewegt sich in spät- oder postmodernen Gesellschaften, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften insbesondere durch folgende, längst zu Schlagwörtern gewordenen diagnostischen Prozessbegriffe charakterisiert werden: Temporalisierung, Dynamisierung, Beschleunigung, Arbeitsteilung im Zuge der wissenschafts- und technikbasierten Industrialisierung, (funktionale) Differenzierung, Mobilisierung, Flexibilisierung, (soziale, kulturelle) Pluralisierung, Deontologisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung.26 Er ist nicht zuletzt Ausdruck eines gewachsenen Kontingenzbewusstseins.27
I DENTITÄTSTHEORIE : ELEMENTARE U NTERSCHEIDUNGEN Da es bislang in keiner Theorietradition einen hinreichend elaborierten Identitätsbegriff gibt, muss man weiterhin nach einem in theoretischer und praktischer, nicht zuletzt normativ-politischer Hinsicht akzeptablen Konzept Ausschau halten. Dafür gibt es richtungsweisende Ansatzpunkte, insbesondere in Traditionen wie dem amerikanischen Pragmatismus (z.B. William James, George H. Mead) und symbolischen Interaktionismus (z.B. Anselm Strauss), der Psychoanalyse (z.B. Heinz Lichtenstein), der Phänomenologie und Hermeneutik (z.B. Paul Ricœur), aber auch der Analytischen Philosophie (z.B. Michael
liert) zusammen. Die nach wie vor einflussreichste Theorie zu kulturellen Selbstkonzepten stammt von Markus und Kitayama (1991; vgl. Straub/ Chakkarath 2010). 26 Vgl. z.B. Beck 1986, Beck/Beck-Gernsheim 1994, Beck/Giddens/Lash 1996, Berger 1996, Giddens 1997. 27 Rorty 1989.
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Quante) oder integrativen Strömungen (z.B. Jürgen Habermas).28 Im Folgenden wird an wesentliche Bedeutungen erinnert, die der Identitätsbegriff in diesem interdisziplinären Feld angenommen hat. Wer von personaler Identität spricht, redet von einer praktisch konstituierten und mit symbolischen Mitteln (stets unter bestimmten Aspekten) artikulierten Einheit, die diachrone und synchrone Differenzen umfasst und wegen weiterer zu erwartender Differenzierungen des Selbst unweigerlich transitorisch verfasst ist.29 Identitätstheorien beziehen sich auf diese Einheit im Sinn einer genau beschreibbaren Form oder Struktur. Davon lässt sich die qualitative Identität im Sinne inhaltlicher Bestimmungen eines Subjekts (z.B. durch charakteristische Eigenschaften, Werte, Orientierungen, Interessen) unterscheiden.30 Eine dezidiert identitätstheoretische Perspektive nimmt ein, wer von solchen inhaltlichen Qualifizierungen absieht und Identität als Problem der Bildung und Bewahrung einer einheitlichen Form oder Struktur betrachtet. Einige Konstituenten dieses komplexen theoretischen Konstrukts werden in den nächsten Abschnitten behandelt. Identität und Autonomie Das Konzept der personalen Identität ist pragma-semantisch an den Begriff des Erlebnis- und insbesondere des Handlungspotentials gebunden.31 Dieses Handlungspotential wurzelt in sog. Selbstwirksamkeitserfahrungen. Es zielt letztlich – in ontogenetisch späteren Entwicklungsphasen ab der Adoleszenz – auf jene Selbständigkeit, welche eine gewisse, niemals vollständige Unabhängigkeit des Individuums von jenen (materiellen, sozialen und kulturellen) Bedingungen einschließt, unter denen es aufgewachsen ist und gegenwärtig lebt. Selbständigkeit ist stets bedingt und begrenzt,32 und sie ist im kon-
28 Zur Übersicht und einschlägigen Literatur s. Straub 1991, 2004, 2012b. 29 Straub/Renn 2002. 30 Siehe Tugendthat 1979 sowie meine in dieser Hinsicht auf dieses Buch Bezug nehmenden Arbeiten (z.B. 1991, 2004, 2012b). 31 Vgl. zum Folgenden Straub/Zielke 2005, wo auch der hier verwendete Begriff der partiellen und limitierten Autonomie erläutert wird. 32 Honneth 1993.
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kreten Fall eine persönliche Angelegenheit, in der inter- und intraindividuelle Vergleiche die Maßstäbe liefern für die Einschätzung der jeweils erreichten Qualität und des erlangten Grades partieller Autonomie. Die lebensgeschichtliche Verwirklichung dieses Projekts einer sukzessiven Bildung partieller Autonomie ist nun allerdings nur dann möglich, wenn und solange es einer Person gelingt, eine durch Selbsttransformationen konstituierte und dadurch gekennzeichnete psychische Struktur zu sein und diese Struktur in vielfältigen Übergängen auszudifferenzieren und dadurch zu erhalten. Diese eben als Identität bezeichnete dynamische Struktur ist mithin offen für die Erfahrung von Neuem und damit für verschiedene Modi kreativer Selbsttranszendenz.33 Die (kultur-) geschichtlich kaum zu überschätzende Funktion der (insbesondere sozialen) Öffnung der psychischen Struktur einer Person ist dem modernen Identitätsbegriff von Beginn an eingeschrieben. Offenheit verlangt Aufgeschlossenheit für Andere(s) und sogar Fremde(s). Sie erfordert die Bereitschaft zu Selbstveränderungen sowie eine Portion jenes (Selbstsicherheit voraussetzenden) Mutes, welcher es Menschen gestattet, sich anderen gegenüber verletzlich zu zeigen. Ein theoretisch anspruchsvoller, hinreichend komplexer Identitätsbegriff artikuliert eine Idee dezentrierter Autonomie und Subjektivität, die auch in normativer, nicht zuletzt in politischer Hinsicht noch immer Beachtung verdient. Diese Idee erweist sich bei genauerem Hinsehen als subjektivitätstheoretisches Analogon und Komplement der politischen Vorstellung einer offenen Gesellschaft (nicht allein sensu Popper, sondern mehr noch im Sinne der psychoanalytisch inspirierten politischen Philosophie und Soziologie eines Cornelius Castoriadis oder Ernesto Laclau). Das wusste übrigens bereits der psychoanalytische Ich-Psychologe Erik Homburger Erikson, dem sich die Popularisierung des Lexems „Identität“ verdankt.34 Er nämlich war es, der
33 Joas 1996, 1997. 34 Die sog. Ich-Psychologie ist eine (vor allem durch Heinz Hartmann systematisch begründete, aber auch schon von Anna Freud vorbereitete oder durch David Rapaport repräsentierte) Strömung innerhalb der Psychoanalyse. Ihren Namen verdankt sie der Verschiebung der Aufmerk-
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seine Pragma-Semantik nachhaltig festschrieb, indem er sie in ein triadisch gegliedertes Begriffsfeld einfügte, in welchem der Metapher der Offenheit eine Schlüsselstellung zukommt. Von der Sache her findet sich diese Begriffsbestimmung bereits in anderen, älteren Schriften, namentlich etwa bei amerikanischen Pragmatisten (obwohl die gar nicht von „identity“ sprachen, sondern vom „self“; die Übersetzung bzw. Gleichsetzung dieser Begriffe kam erst mit dem symbolischen Interaktionismus in Gebrauch. Sie hat sich trotz mancher Bedenken durchgesetzt). Die triadische Pragma-Semantik von Identität, Totalität, Multiplizität (Diffusion, Dissoziation, Fragmentierung) Die Pragmatik und Semantik des hier behandelten Begriffs geht gerade nicht in der spannungsreichen Dualität zwischen Identität und Nicht-Identischem auf. Diese ebenso gängige wie verfehlte binäre Kodierung und dualistische Konstruktion hat die gesamte Diskussion über Jahrzehnte hinweg in Sackgassen geführt. Meistens ging man nämlich davon aus, dass sich der umstrittene Kandidat im Lichte seines – eines einzigen! – Gegenstücks bestimmen ließe. „Identität“ erschien demgemäß als pures Gegenteil des Nicht-Identischen (oder der Differenz). Diese binäre Logik greift indes zu kurz. Das Unterscheiden muss hier mindestens triadisch angelegt werden, wenn die Bedeutung des Begriffs personaler Identität angemessen erfasst werden soll. Die dreigliedrige Struktur besitzt dabei die Form eines Kontinuums, deren Enden durch die Begriffe Totalität einerseits, Multiplizität (Diffusion, Dissoziation, Fragmentierung) andererseits abgesteckt sind. Der Identitätsbegriff liegt also, topologisch betrachtet, in der Mitte zwischen diesen Extremen.
samkeit auf die Ich-Funktionen und die Ich-Entwicklung (wodurch sie die klassische Fokussierung des Es relativierte, ohne die grundlegenden Bausteine von Sigmund Freuds psychoanalytischem Theoriegebäude zu vergessen. Das jedenfalls war das Selbstverständnis der Ich-Psychologie, das allerdings von vielen, allen voran von Jacques Lacan, heftig attackiert wurde).
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Nur wenn man auf beide Seiten des Kontinuums blickt, versteht man, was in deren Mitte liegt und bereits von Erikson35 exakt dort angesiedelt wurde. Er nahm in seinen Definitionen stets beide kontrastiven Vergleichshorizonte, eben die Gegenhorizonte Totalität und Multiplizität (Diffusion, Dissoziation, Fragmentierung), in Anspruch, um den Identitätsbegriff zu klären. Er hatte also eine Trias von soziokulturellen und psychosozialen Optionen der Strukturierung kommunikativer Selbst- und Weltverhältnisse vor Augen, wenn er von Identität sprach. Er unterschied Identität einerseits vom Nicht-Identischen in Gestalt einer Multiplizität bzw. Diffusion, Dissoziation oder Fragmentierung, welche die Erlebnis-, Orientierungs- und Handlungsfähigkeit einer Person untergräbt (zersetzt, zerstört). Der im Umgang mit dem Leid seiner Analysanden erfahrene Therapeut sah hier im Übermaß sog. dystone Kräfte walten, die die leib-seelische Integrität einer Person massiv bedrohen und zu einem zerrissenen Selbst führen können. Störungen des Zeitsinns etwa betrachtete er als typische Symptome dieses Syndroms. Die Grenzen zwischen Identität und Multiplizität sind freilich fließend. Keine (moderne) Identität ist jemals frei von dystonen Kräften. Das Nicht-Identische ist demnach nicht einfach nur ein Gegenbegriff, sondern auch – paradoxerweise – ein integraler Bestandteil personaler Identität. Diese ist als integrative Einheit ihrer Differenzen eine dynamische und unabschließbare, permanent von Spannungen, Konflikten und Krisen bedrohte und zeitweise von ihnen ‚bewohnte‘ Synthese des Heterogenen.36 Andererseits grenzte Erikson den Identitätsbegriff von einer Totalität ab, welche just jenes gewaltförmige, Gewalt nach ‚innen‘ und ‚außen‘ freisetzende Zwangsgehäuse symbolisiert, das manche Kritiker moderner Identitätstheorien – grotesker Weise – pauschal als „Identität“ missverstehen und bezeichnen.37 Totalität ist eine geschlos-
35 Erikson 1973. 36 Ricœur 1996, Straub 2012b. 37 Vgl. Straub 2000a, 2000b, 2002. Selbstverständlich kann man (eigen- oder fremdinitiierte) Identitätszuschreibungen auch als Identitätszumutungen erleben, unter denen man leidet (Böhme 1996: 334 ff.). Ebenso können Personen jedoch durch Identitätsdiffusion und -verlust Schaden an Leib und Seele nehmen, selbst in Zeiten eines durch möglichst unverbindliche Bin-
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ene, starr auf ihre eigene Reproduktion, möglichst rigide Verfestigung und unnachgiebige Behauptung hin angelegte Struktur: nichts von Draußen, jedenfalls nichts Anderes und Fremdes, darf hinein, nichts von Drinnen hinaus, jedenfalls nicht mit dem Anderen und Fremden in Kontakt und ko-modifikativen Austausch kommen. Totalität beschränkt den Austausch nach Möglichkeit auf die auto-reproduktive ‚Anrufung‘ des identifikatorisch besetzten Eigenen und Vertrauten. Sie versagt, vermeidet und versperrt Kommunikation im engeren Sinne. Totalität steht für Veränderungsresistenz, Abwehr und Exklusion des Neuen und Fremden.38 Identität fungiert als Modus einer praktischen Selbstverwirklichung, die Fremde(s) als eine wenigstens im Prinzip willkommene Herausforderung des Eigenen anerkennt. Die auf die „subjektive Realisierung von Allgemeinheit“39 gerichtete Identität verschließt sich dem bzw. den Anderen und Fremden nicht, sondern bedarf ihrer – gerade auch deswegen, weil diese das Eigene über die Grenzen des Subjektiven hinauszuführen und somit den Horizont und das Orientierungsvermögen, das Erlebnis- und Handlungspotential einer Person zu bereichern vermögen. Das geschieht häufig nicht ohne Mühe, Furcht und Angst und wird womöglich von bleibender Sorge begleitet. Es wird aber dennoch nicht einfach psychisch abgewehrt und praktisch vermieden. Offenkundig sind die Begriffe „Identität“ und „Totalität“ Idealtypen – leider nicht die „Multiplizität“ (Diffusion, Dissoziation, Fragmentierung), die tatsächlich zum vollständigen Zerfall von Persönlichkeitsstrukturen und zur kompletten Zerstörung des Erlebnis-, Orientierungs- und Handlungspotentials führen kann. Identität liegt in der Mitte eines Kontinuums. Diese theoretische Topologie legt die Pragma-Semantik des fraglichen Begriffs in wissenschaftlichen Kontexten eindeutig fest. Je nach Zeitgeist und realen empirischen Lebensbedingungen geht es in identitätstheoretischen Debatten das eine Mal um die Risiken einer Annäherung an den äußersten Pol der Tota-
dungen charakterisierten „flexiblen Menschen“ (Marcia/Waterman/Matteson/Archer/Orlofsky 1993, Sennett 2000, Straub 2000a). 38 Erikson 1973: 156, Straub 1991: 61 f. 39 Theunissen 1981: 6.
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lität, das andere Mal um die Gefahren einer rückhaltlosen Hingabe an die extreme ‚Option‘ der Multiplizität oder Fragmentierung. In psychologischer Perspektive besitzen übrigens beide Möglichkeiten ihre (manchmal) durchaus verlockenden Seiten, stellen sie doch kurzfristige (Schein-) ‚Lösungen‘ für womöglich drängende Probleme in Aussicht – wie hoch der Preis, den eine totalitäre Strukturierung des Selbst ebenso wie seine Diffusion, Dissoziation, Fragmentierung oder Multiplizierung früher oder später haben, auch sein mag. Identität ist eine Aspiration, eine Art Sehnsucht, die der Selbst-Bildung von Personen Form und Richtung verleiht. Diesen kontingenten Bildungsprozess sind Menschen, wenn sie sich im Rahmen der normativen kulturellen Semantik des offenen und dynamischen Selbst bewegen, bestrebt zu gestalten. Dabei stoßen sie unweigerlich an ihre Grenzen: Der Selbstentzug gehört zu jenem Selbst, welches Theorien transitorischer Identität seit gut einem Jahrhundert auf den Begriff zu bringen bemüht sind. Kontinuität, Konsistenz, Kohärenz Fragt man sich, wie Identität als Selbstheit, als dynamische und fragile Einheit einer Person genauer verstanden werden kann, sind drei (keineswegs einheitlich verwendete) Begriffe entscheidend. Sie alle besitzen ‚kontraintuitive‘ Bedeutungen. Sie unterstreichen erneut, dass Identität als integrative Struktur von Differenzen bzw. als Synthesis des Heterogenen spezifiziert ist. Identitätstheoretische Grundbegriffe sind allesamt keine Bezeichnungen von Zuständen, sondern Prozessbegriffe, die sich auf das prinzipiell nur vorläufige und instabile Ergebnis von praxischen, symbolischen oder mentalen Handlungen des Subjekts beziehen (zu denen auch die an Deutungsleistungen gebundene ‚Wahrnehmung‘ und ‚Verarbeitung‘ von Widerfahrnissen zählen). Die um Identität bemühte Person muss für die Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz ihres Lebenszusammenhangs sorgen. Zu diesem Zweck dienen ihr eine unüberschaubare Fülle bewusster und unbewusster Verhaltensweisen. Manche von ihnen richten sich auf die Relationierung, Integration bzw. Synthese des zeitlich Differenten, mithin auf Kontinuität. Dieser wichtige identitätstheoretische Begriff besagt also keineswegs, ein
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Mensch bleibe sich im Laufe seines Lebens dadurch gleich (semper idem), dass sich in diesem Leben nichts geändert hat, noch heute oder morgen ändern würde. Kontinuität gibt es vielmehr nur unter der theoretischen und empirischen Voraussetzung lebensgeschichtlichen Wandels. Dieser Begriff bezeichnet eine spezifische, an Aktivitäten des Subjekts gebundene Form der Integration temporaler Differenzen. Kontinuität ist an permanente Akte der Selbst-Kontinuierung in einem prinzipiell zeitlich strukturierten Leben gebunden. Diese Aktivität erst schafft einen Zusammenhang, der nicht an sich gegeben ist oder ohne das Dazutun eines Subjektes zustande käme. Es ist die Person selbst, die sich als sich veränderndes Subjekt erlebt und wahrnimmt, sodann aber solche Unterschiede in der Zeit relationiert – und zwar stets aus der Perspektive einer sich wandelnden Gegenwart (also immer wieder anders). Die Person bildet jenen Zusammenhang, welcher identitätstheoretisch als Kontinuität bezeichnet wird. Sie integriert dabei lebensgeschichtliche Erinnerungen, heutige Erlebnisse und Eindrücke sowie Erwartungen einer imaginierten, erhofften oder befürchteten Zukunft. Selbstverständlich können dafür bleibende ‚Lebenselemente‘ wichtig sein (etwa die eigene Muttersprache oder die immer gleichen Handlungen in Gestalt von Gewohnheiten, Routinen, Ritualen). Abgesehen davon, dass sich vieles ändert und in besagtem Sinn bearbeitet werden muss, muss jedoch auch das Bleibende als etwas Wiederkehrendes aktiv bewahrt und in einen emotional erlebten, kognitiv repräsentierten und/oder symbolisch artikulierten Zeit-Zusammenhang eingebunden werden.40
40 Die Rolle des so wichtigen emotionalen Erlebens von Identität (und damit: von Kontinuität und Kohärenz) ist bis heute nicht zufriedenstellend geklärt. Es ist kein Zufall (und durchaus ein Zeichen einer phänomenologisch sensitiven, geglückten Begriffsbildung), dass viele Autorinnen und Autoren unterschiedlicher theoretischer Provenienz vom Identitätsgefühl sprechen (oder von schmerzlichen Gefühlen der Zusammenhangslosigkeit oder Sinnlosigkeit, die eine an Identitätsproblemen leidende Person mit dem eigenen Leben verbinden mag). Wie man jedoch solche Zusammenhänge – z.B. die als Kontinuität bezeichneten zeitlichen Relationen eines Selbst – empfindet, spürt oder fühlt und wie einem ein derartiges Gefühl abhandenkommen kann (und was alle diese psychologischen Redeweisen
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Eine besonders wichtige, jedoch nicht die einzige Form der aktiven Selbst-Kontinuierung bildet das Erzählen von (Selbst-)Geschichten. Erzählungen thematisieren Veränderungen, beschreiben und erklären sie uno actu auf eigene Art. Auch Selbst-Erzählungen plausibilisieren Veränderungen, ohne Kontingenz zu eliminieren, und sie machen verständlich, warum ein Subjekt trotz seines lebensgeschichtlichen Wandels womöglich dieselbe, mit sich identische Person ist. Seit einiger Zeit spricht man unter besonderer Berücksichtigung der Zeitlichkeit entwerfenden und gestaltenden Funktion speziell der Erzählung von narrativer Identität. Mittlerweile stellt die narrative Dimension der temporal komplexen Identität den in verschiedenen Disziplinen wohl am besten untersuchten Aspekt dar.41 Konsistenz bezieht sich auf die logische Stimmigkeit von Satzsystemen, also speziell auf Widerspruchsfreiheit in den sprachlichen Selbstthematisierungen eines Subjekts. Wenngleich auch dies nicht unbedeutend für die personale Identität sein mag (für ihre Artikulation, Kommunikation, Anerkennung durch Andere etc.), sind Menschen keine ‚logischen Automaten‘, mithin an Konsistenz weder immer interessiert noch in ihrem Selbstgefühl und Selbstbewusstsein stets stark davon abhängig. Das soll nicht heißen, dass krasse Widersprüche einerlei und dem Individuum und seinen Mitmenschen schlicht gleichgültig sein könnten. Durch die Beachtung logischer Konsistenzanforderungen ist dem praktischen Widerstreit und den seelischen Spannungen, die eine Person ausmachen, allerdings nicht beizukommen. Viel wichtiger für die Theorie personaler Identität ist der Begriff der Kohärenz. Damit ist ein stimmiger Zusammenhang bzw. die Verträglichkeit von sozialen Positionen und Rollen gemeint, die ein Mensch in verschiedenen Lebensbereichen und Handlungsfeldern (beruflichen und privaten) in der aktuellen Gegenwart einnimmt (z.B. als alleinerziehender Vater, General beim Militär, Homosexueller nach ei-
bedeuten), wissen wir bis heute nicht genau (trotz hilfreicher Studien, z.B. aus der Feder des ‚jungen‘, phänomenologisch orientierten und noch nicht der Anti-Psychiatrie verschriebenen Ronald Laing 1972). 41 Brockmeier/Carbaugh 2001, Britton/Pellegrini 1990, Bruner 1990, McAdams 1993, Ricœur 1996, Straub 1989, 1998, 2010.
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nem späten coming out, Vorsitzender des Rotary Club, professioneller Hochseesegler, Techno-Fan usw.). Mit solchen Rollen sind Handlungs- und Lebensorientierungen verknüpft, die besser oder schlechter zueinander passen. Grundsätzlich geht es um die Verträglichkeit solcher Orientierungen (die sich auch als Maximen im Sinne Immanuel Kants rekonstruieren lassen42). Offenkundig ist dieses Kriterium nicht auf die rein logische Vereinbarkeit von sprachlichen Äußerungen reduzierbar, sondern vielmehr von soziokulturellen, institutionellen oder informellen Vorstellungen abhängig, was in einem Leben so alles zusammengehören und zueinander passen kann – und was nicht (welche Orientierungen bzw. Maximen in kohärenter Weise in ein System integriert werden können, welche nicht). Ein strenger Katholik oder Priester gar könnte sich das coming out des Generals zu keiner Zeit erlauben, ohne massive Kohärenz- und damit Identitätsprobleme zu bekommen (von den veritablen Schwierigkeiten mit seiner Kirche einmal ganz abgesehen). Für einen General, einen Außenminister oder ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank ist eine homosexuelle Orientierung in vielen Ländern heute kein prinzipielles Problem mehr, das die betreffende Person mit kulturellen und sozialen Forderungen nach Kohärenz konfrontierte. (Völlig unabhängig davon ist die womöglich fortbestehende Diskriminierung und Stigmatisierung, denen Homosexuelle ausgesetzt sein mögen.) Es ist leicht zu sehen: Kriterien, anhand derer wir Kohärenz bemessen, sind soziokulturell höchst variabel und wandeln sich historisch erheblich – und sie sind obendrein offen für die Kreativität innovativer Individuen, die ‚Dinge‘ zusammenbringen, die andere bislang für völlig unvereinbar hielten (etwa das askriptive Merkmal des ‚weiblichen Geschlechts‘ mit der soziokulturellen Position und institutionellen Rolle, die mit dem katholischen Priesteramt verknüpft ist). Identität hängt von Kontinuität und Kohärenz unmittelbar ab. Und sie hängt mit der Idee personaler Autonomie direkt zusammen. Ohne Identität ist die partiell autonomen Subjekten zugeschriebene Urteils-, Orientierungs-, Erlebnis- und Handlungsfähigkeit nicht denkbar. Identität und Autonomie sind interdefinierbare Begriffe. Dieser Zusammenhang ist ein wichtiger Aspekt nicht zuletzt der politischen Seman-
42 Straub 1996.
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tik „personaler Identität“ (vgl. dazu eine neuere Abhandlung, in der Theorien personaler Identität auch als subjekttheoretisches Analogon von Demokratietheorien erörtert werden43).
S CHLUSSBEMERKUNG Trotz teilweise berechtigter Bedenken gegenüber dem theoretischen Konzept personaler Identität hat dieser Begriff auch in unserer spätoder postmodernen Moderne keineswegs seine Passform verloren. Er besitzt vielmehr nach wie vor ein deskriptives, analytisches und explanatives Potential, über das konkurrierende Kandidaten, soweit sie überhaupt vorhanden sind, bislang nicht verfügen. Die im vorliegenden Zusammenhang vordringliche Frage lautet freilich: Gibt es gegenwärtig einen tragfähigen (Neo-)Humanismus in und für die Gegenwart und Zukunft einer immer näher zusammenrückenden Menschheit? Und wenn es ihn gibt oder geben sollte: sollte man dann nicht sorgfältig prüfen, ob das Konzept der personalen Identität nicht zu den unerlässlichen theoretischen Grundbegriffen dieser komplexen Weltanschauung gehört? Eines scheint dabei kaum widerlegbar: Ein erneuerter Humanismus wird – und zwar nicht nur in den Regionen der westlichen Welt – ohne ein zeitgemäßes, psychologisch artiku-
43 Straub 2011. Die damit zumindest gestellte Frage nach der strukturellen Affinität oder ‚inneren Verwandtschaft‘ von Subjekttheorien einerseits, Theorien der politischen Organisation des gesellschaftlichen Lebens andererseits, gehört zu den gegenwärtig besonders interessanten Fragen, denen sich die Sozial- und Kulturwissenschaften intensiver als bisher annehmen könnten. Anlässe dazu liefern unter anderem die kulturelle Pluralisierung von Gesellschaften (die auch eine Differenzierung und Diversifizierung von Strukturen des Selbst von Personen mit sich bringt) oder der ‚Export‘ von politischen Systemen, namentlich der (wie auch immer spezifizierten) Demokratie in Ländern und Gesellschaften, deren politische Verfassungen bisher totalitäre, jedenfalls ‚undemokratische‘ Züge aufwiesen (und die entsprechend auf Personen angewiesen waren, denen Demokratie kein besonders, in die Tiefenstrukturen des Selbst eingeschriebenes Anliegen und Bedürfnis war und ist).
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liertes Menschenbild kaum auskommen. Vielleicht tun Humanistinnen und Humanisten unserer Tage gut daran, die Angebote der modernen Psychologie zu sichten und im Kontext eines allen offen stehenden Gesprächs, in dem die westliche Psychologie als eine indigene Psychologie unter anderen auftritt, zu sondieren. Man redet keiner nostrozentrischen Überheblichkeit das Wort, wenn man mutmaßt, dass das Konzept der personalen Identität zu den besonders ausgefeilten und interessanten Ideen zählt, die Menschen zur Verfügung stehen, um sich und die anderen zu verstehen. Das hier behandelte Konzept ist zwar mitnichten universal, es ist kein Bestandteil einer allgemeinen Anthropologie. Es ist aber ein aus den Wissenschaften kommender Vorschlag, den Menschen – gewiss nicht alle, aber viele und vielleicht zunehmend mehr Menschen – im Rahmen eines erst heute möglichen interkulturellen Dialogs rezipieren und erwägen können.
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Autorenverzeichnis
Cancik, Hubert, Prof. em. Dr., war von 1974 bis 2003 Professor für Klassische Philologie und Geschichte der antiken Religionen an der Universität in Tübingen. In Verbindung mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und dem Sonderforschungsbereich „Entgrenzung der ästhetischen Erfahrung“ (FU Berlin) arbeitete er über Geschichte, Begründung und Zukunftsfähigkeit des europäischen Humanismus. Zusammen mit Helmuth Schneider ist er Herausgeber des Standardwerks „Der Neue Pauly“. 2008 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Basel. Essen, Georg, Prof. Dr., ist seit dem Wintersemester 2011/2012 Inhaber des Lehrstuhls für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Von 2006 bis 2009 war er Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI) und Mitglied des Steering Committee des internationalen Projekts „Humanismus im Zeitalter der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte“. Gieselmann, Martin, Dr., ist Geschäftsführer des Südasien-Instituts (SAI) der Universität Heidelberg. 2006-2008 war er wissenschaftlicher Koordinator des internationalen und interdisziplinären Projekts „Humanismus im Zeitalter der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte“ am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI).
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Soeffner, Hans-Georg, Prof. em. Dr., ist Senior Fellow und Vorstandsmitglied am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI) und Senior Fellow am DFG 212 Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“. Zuletzt hatte er den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Konstanz inne. Er ist langjähriger Wegbegleiter und Förderer des KWI-Projekts „Humanismus im Zeitalter der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte“. Straub, Jürgen, Prof. Dr., ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum RUB, seit April 2011 auch Dekan dieser Fakultät, außerdem Mitglied im Board des Research Departments „Center for Religious Studies“ (CERES), einer der Initiatoren der Mercator Research Group „Spaces of Anthropological Knowledge: Production and Transfer“ sowie Mitglied der „Expanding Profile Area ‚Anthroplogical Knowledge‘“ (alles an der RUB). Er ist stellvertretender Leiter des KWI-Projekts „Humanismus im Zeitalter der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte“ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Sturma, Dieter, Prof. Dr., ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Ethik in den Biowissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seit 2007 ist er außerdem Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik (IWE) sowie Direktor des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE) an der Nordrheinwestfälischen Akademie der Wissenschaften. Zudem ist er seit 2009 Gründungsdirektor des Instituts für Ethik in den Neurowissenschaften am Forschungszentrum Jülich. Er ist langjähriger Wegbegleiter und Förderer des KWI-Projekts „Humanismus im Zeitalter der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte“.
Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter, Jürgen Straub (Hg.) Menschen machen Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme Juli 2012, 498 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1700-7
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Alexander C.Y. Huang Weltliteratur und Welttheater Ästhetischer Humanismus in der kulturellen Globalisierung Juli 2012, 218 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2207-6
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Jörn Rüsen, Henner Laass (eds.) Humanism in Intercultural Perspective Experiences and Expectations 2009, 280 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1344-5
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2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1294-3
2010, 168 Seiten, Hardcover, 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1554-8
Oliver Kozlarek (ed.) Octavio Paz Humanism and Critique
Carmen Meinert (ed.) Traces of Humanism in China Tradition and Modernity
2009, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1304-9
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