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German Pages 224 Year 2015
Weltoffener Humanismus
Gerald Hartung, Kay Schiller (Hg.)
Weltoffener Humanismus Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
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© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Gerald Hartung, Kay Schiller Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-441-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Einführung
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GERALD HARTUNG Von der Auflösung der Seinsgebundenheit. Die Entstehung der Wissenssoziologie in Deutschland und ihr Weg in die Emigration
13
MARTIN KAGEL Heillose Historie Sinn der Geschichte und geschichtlicher Sinn in Autobiographie und Geschichtstheorie Karl Löwiths
35
HERBERT KOPP-OBERSTEBRINK Humanistische Begründung der Geschichte. Ernst Cassirers Konzeption von Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung während der Exilszeit
53
KAY SCHILLER Historismuskrise und »Dritter Humanismus«: Werner Jaegers Beiträge zum Humanitätsdiskurs
71
REINHARD MEHRING Arthur Liebert – Ein Geschäftsführer des philosophischen Humanismus im Exil
91
CAROLA DIETZE Selbstvergewisserung im Exil. Autobiographische Dimensionen einer Meistererzählung: Die verspätete Nation von Helmuth Plessner
111
WARREN BOUTCHER From Germany to Italy to America: The Migratory Significance of Kristeller’s Ficino in the 1930s
133
ANKE DÖRNER Europas geistige Emanzipation – Die italienische Renaissance in den amerikanischen Publikationen Leonardo Olschkis
155
TARA FORREST On the Significance of Extraterritoriality in Siegfried Kracauer’s Writings on Film and History
171
LUDGER SCHWARTE Hannah Arendt. Totale Herrschaft, biographisches Experiment und die Zukunft politischen Denkens
185
SUZANNE KIRKBRIGHT Intellectuals of Our Time: The Humanist Approach of Karl Jaspers and Hannah Arendt
209
Zu den Autoren
221
Einführung
In der Kulturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts gehört die Frage nach dem Wechselverhältnis von Biographie und Historiographie zu den eher randständigen Forschungsgebieten. Dabei ist doch unabweislich, daß nach all den Diskussionen über den Historismus, Relativismus, Positivismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus und dabei scheint die Reihen der Ismen unbegrenzt eine Geschichtsschreibung ins Zentrum des Interesses zurückkehrt, die vom individuellen Lebensmoment und seinen Objektivationsformen wenn sich das Leben in das erzählte Leben einschreibt ihren Ausgangspunkt nimmt. Damit ist nicht gemeint, daß es sich hierbei um eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert halten könnte, in die Epoche von Ranke und Droysen, um die Renaissance einer romantischen Individualitätskonzeption trotz all der Anfechtungen zu feiern. Vielmehr geht es um die Feststellung, daß sich das eigene Leben und die Reflexion auf das eigene Leben in der Arbeit am philosophischen Begriff und Konzept, am Entwurf einer Kulturgeschichte, an einer soziologischen Theorie, Literaturgeschichte oder Filmtheorie abgebildet hat. Mit dieser Überlegung und der daran anschließenden Fragestellung, wie die individuelle Lebenserfahrung der deutsch-jüdischen humanistischen Gelehrten während der dreißiger und vierziger Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts in der äußeren und inneren Emigration in ihre wissenschaftliche Arbeit eingeflossen ist, hat für uns alles angefangen. Unsere Arbeitshypothese war, daß das wissenschaftliche Werk in einem signifikanten Maß als Antwort auf die je eigene Lebenssituation und als Produkt einer anhaltenden Suche nach emblematischen Denkmodellen für die Bewältigung existenzieller Fragen gelesen werden kann. Aber wir waren und sind auch der Meinung, daß sich in diesem vereinzelten Suchen und seinem wissenschaftlichen Niederschlag Bausteine einer Theorie der Moderne finden, die nur so und nicht anders eine adäquate Reflexion auf die
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Bedingungen von Modernität in einem Zeitalter der Extreme (Eric Hobsbawm) sein wollen, seien sie nun sozialer, politischer oder weltanschaulicher Natur. Dementsprechend hat unser Projekt von Anfang an eine doppelte Ausgangsstellung gehabt. Erstens sind wir davon ausgegangen, daß die deutsch-jüdischen Gelehrten in ihren Werken Aspekte ihrer eigenen Lebensgeschichte integrieren, gleichsam als eine Reflektion auf ihr Emigrantendasein. Auf den Verlust der akademischen Position und der institutionellen Rahmenbedingungen in Deutschland infolge der nationalsozialistischen Rassenpolitik und die zeitlich begrenzte Zuflucht in europäischen Nachbarländern (u.a. Großbritannien, Frankreich, Italien, Schweden oder die Türkei) folgt zumeist die Fortsetzung der akademische Karriere unter veränderten Bedingungen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Rahmenbedingungen der Gelehrsamkeit als Lebensform sind bis heute in der Forschung kaum berücksichtigt worden, obwohl die Vermutung nahe liegt, daß sie nicht ohne Einfluß auf die jeweilige Wahl des Forschungsgegenstandes, den Versuch einer geschichtlichen Orientierung und das philosophische wie ästhetische Urteilsvermögen des Gelehrten selbst gewesen sein können. In kritischer Lektüre der Schriften von Ernst Kantorowicz, Hans Baron und Ernst Cassirer hat sich uns gezeigt, daß es eine Fülle von Anhaltspunkten gibt, die unsere Arbeitshypothese von der Einschreibung des individuellen Er-Lebens in das wissenschaftliche Werk bestätigen.1 Der zweite Aspekt unserer Forschungsarbeit basiert auf der Vermutung, daß im Schrifttum deutsch-jüdischer Humanisten in der Emigration der akademische Diskurs fortgeschrieben wird, der seit dem späten 19. Jahrhundert in den Bereichen Theorie der Geisteswissenschaften und Historismus-Debatte, sowie innerhalb der Philosophie in den Teildisziplinen Lebensphilosophie, Existenzphilosophie, philosophische Anthropologie, Wissenssoziologie und Kulturphilosophie verhandelt wird. Hier geht es, eingerechnet unbestreitbarer Differenzen in den jeweiligen Prämissen und in der programmatischen Durchführung, um die zentralen Fragen der Metaphysikkritik, der Geschichtlichkeit kultureller Werte, der 1 Vgl. Kay Schiller: »Dante and Kantorowicz – Medieval History as Art and Autobiography«, in: Annali d’Italianistica. Dante and Modern American Criticism 8 (1990), S. 396-411; »Hans Baron’s Humanism«, in: Storia della Storiografia 34 (1998), S. 51-99; »The refugee historian Hans Baron and the Society for the Protection of Science and Learning«, in: Yearbook for German and Austrian Exile Studies 2 (2000), S. 59-76; Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2000; »›Made fit for America‹: the Renaissance historian Hans Baron in London exile 1936-1938«, in: Stefan Berger/Peter Lambert/Peter Schumann (Hg.), Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch 1750-2000, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 345-359 sowie Gerald Hartung: »Anthropologische Grundlegung der Kulturphilosophie. Zur Entstehungsgeschichte von Ernst Cassirers Essay on Man«, in: Hans-Jürgen Lachmann/Uta Kösser (Hg.), Kulturwissenschaftliche Studien 6, Leipzig: Passage 2001, S. 2-18; »Der Mythos von der Einheit der Welt. Anmerkungen zu Ernst H. Kantorowicz’ Kaiser Friedrich II.«, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 5 (2001), S. 143-163.
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Fraglichkeit der Stellung des Menschen in der Welt und der rationalen Unbegründbarkeit existentieller Lebensentscheidungen. Die Erfahrung der institutionellen Krise in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und die weitgehende Bereitschaft des akademischen Milieus, die Umwertung aller Werte (Nietzsche/ Scheler) nicht nur zu diagnostizieren, sondern gleichsam zu beschleunigen, ist der sozial- und geistesgeschichtliche Horizont, in den die deutsch-jüdischen Gelehrten gestellt sind. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Anfänge der Wissenssoziologie, in der gleichsam die Seinsverbundenheit resp. Seinsentbundenheit des Denkens zum Leitfaden der Analyse wird. Die skizzierte, doppelte Ausgangsstellung führt zu der weiterführenden Fragestellung nach einem allgemeinen Grundmuster der Krisenbewältigung. Einen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage liefert die sogenannte humanistische Wende, die bereits in der Weimarer Zwischenkriegszeit als eine Suche nach emblematischen Modellen der Selbstbesinnung im Horizont geschichtlicher Rückbesinnung manifest ist. Damit ist u.a. der Rekurs auf eine humanistische Konzeption der Bildung im Sinne Humboldts sowie die Wiederentdeckung der griechischen Antike und der italienischen Renaissance als bevorzugte Referenzmodelle gemeint. Es handelt sich bei dieser Wende nicht um eine bloß theoretische Bewußtseinsstellung, sondern um eine Praxis der Theorie – es geht um die individuelle Einübung einer Verhaltenslehre im Angesicht der Krisensymptomatik der modernen Kulturwelt.2 Daß Theorie und Praxis in der humanistischen Wende dieser Zeit ineinander fallen, wird offensichtlich, sobald in den Blick gerät, daß es um nicht weniger als den Aufbau – oder besser gesagt: Wiederaufbau – einer geistigen Welt geht. Wilhelm Dilthey, der neben Georg Simmel gleichsam als Ahnherr der Generation deutsch-jüdischer Neuhumanisten genannt werden muß, hat diese Aufgabenstellung programmatisch formuliert: »Der Zusammenhang der geistigen Welt geht im Subjekt auf, und es ist die Bewegung des Geistes bis zur Bestimmung des Bedeutungszusammenhanges dieser Welt, welche die einzelnen logischen Vorgänge miteinander verbindet. So ist einerseits die geistige Welt die Schöpfung des auffassenden Subjektes, andererseits aber ist die Bewegung des Geistes darauf gerichtet, ein objektives Wissen in ihr zu erreichen.«3
Diltheys These ist insofern folgenreich, als hier die Logik des Bedeutungszusammenhangs unserer Kulturwelt in das Subjekt selbst verlegt wird. In dessen Denkbewegung allein liegt die Ursache für unser objektives Wissen von der Kulturwelt. Das Subjekt findet den Sinn der Welt nicht vor, sondern konstruiert ihn aus sich selbst. Die Objektivität eines solchen Sinnzusammenhangs von Erleben und 2 Vgl. Helmuth Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. 3 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. v. Manfred Riedel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 235.
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Deuten ist damit in das Verfahren der Sinngebung eingeschrieben. Was das für das einzelne Subjekt heißt, zeigt sich in seiner ganzen Problematik erst angesichts des Zusammenbruchs einer geistigen Welt, insofern das Historische seine Verbindlichkeit eingebüßt hat. Kultur-, Literatur- und Philosophiegeschichtsschreibung lassen sich als Denkbewegungen auffassen, denen eine bestimmte Bewußtseinsstellung zugrunde liegt. In anderen Worten: Den deutsch-jüdischen Gelehrten in der äußeren oder inneren Emigration geht es nicht um die Analyse der geistigen Welt in ihrem Aufbau, sondern vielmehr um die Rekonstruktion einer bestimmten Kulturwelt angesichts ihres Verfalls. Die Anschauung von der Geschichte der eigenen Kultur trägt somit den Charakter einer Entscheidung für bestimmte Aspekte dieser Kultur. Das Historische markiert nicht den Bereich des objektiv Vorhandenen, sondern ist selbst nichts anderes als ein Medium der Selbstbesinnung. Diesen Grundgedanken hat Ernst Cassirer bereits im Jahr 1932 prägnant gefaßt, wenn er hier den »eigentliche[n] Schlüssel für Goethes Anschauung von der Geschichte [erkennt]. Er lehnte das Historische ab, wo es sich ihm als bloßer Stoff aufdrängte; aber er forderte es als ein Medium und als ein notwendiges Mittel, um die Form seines eigenen Seins und seines eigenen Schaffens zu entdecken. In diesem Sinne hat Goethe das Historische gebraucht und genutzt; denn [...] es wurde selbst eine bildende Grund- und Urkraft, die ihm die Welt des Geistigen erschloß und in ihrem ganzen Reichtum zu eigen gab.«4
In diesen Worten ist der Leitgedanke der humanistischen Wende in nuce erfaßt. Die geistigen Welten der deutsch-jüdischen Gelehrten nehmen in der Zeit der Emigration den Charakter gelehrter Gegenwelten an. Dies korrespondiert der Einsicht, daß die Bewahrung einer kulturellen Erbschaft nicht ein Naturereignis ist, sondern auf der produktiven, formgebenden Kraft jedes Einzelnen beruht. Helmuth Plessner hat in diesem Zusammenhang von dem menschlich-existentiellen Apriori der Geisteswissenschaft gesprochen: »Darin liegt der große Gewinn der Erkenntnis von der Eigentümlichkeit der historischen Welt [...], daß die Vergangenheit nicht wie eine zweite Natur, sondern aus der Perspektive auf das Kommende, im Bewußtsein, vor einer Zukunft zu stehen, d.h. als Existenz begriffen werden muß.«5 Im Blick auf die Vergangenheit als Existenzform wenden sich die deutsch-jüdischen Humanisten gegen die Zeittendenz der Vermassung des Humanen im politischen und sozialen Leben wie auch im kulturellen Bewußtsein und im Bildungswesen. Sie halten an den Prämissen der Aufklärung und des Neuhumanismus – Rationalität, Toleranz und pluralistische Denkungsart 4 Ernst Cassirer: Goethe und die geschichtliche Welt. Drei Aufsätze, Berlin: Bruno Cassirer 1932, S. 25f. 5 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie [1928], Berlin, New York: de Gruyter, 3. Auflage 1975, S. 17.
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(Kant) – fest. Was ihnen gemeinsam, trotz aller Differenzen, eignet, läßt sich als weltoffener Humanismus kennzeichnen. Die explizierte Arbeitshypothese und die Perspektive auf einen weltoffenen Humanismus waren Gegenstand einer interdisziplinären Tagung vom 25. bis 27. September 2002 am Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig, deren Ergebnisse im vorliegenden Band dokumentiert werden. Dabei hat sich, in den Vorträgen und anschließenden Diskussionen gezeigt, daß es notwendig ist, mit einem offenen Erkenntnishorizont zu operieren, um der Vielzahl von Denkansätzen in den Humanwissenschaften gerecht zu werden. Ob sich im Anschluß an Karl Mannheim die Wissenssoziologie als Konzept einer Pluralität möglicher Sinnwelten (Hartung) formiert, Karl Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie in eine Theorie der Selbst-Entfaltung des geschichtlichen Individuums (Kagel) mündet oder Ernst Cassirer die Geschichtstheorie in die Reflexion über die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjekts (Kopp-Oberstebrink) überführt hier geht es darum, das Wechselverhältnis von Ich, Individuum, Selbst und Welt, geschichtlicher Welt, Kultur als pluralistisch zu beschreiben. Dieser Zusammenhang läßt sich auf ganz unterschiedliche Weise bestätigen. Er zeigt sich im Humanismus-Konzept, das von Werner Jaeger als Modell der Krisenbewältigung in einer zerrissenen Zeit entworfen wurde (Schiller). Arthur Liebert findet im philosophischen Humanismus, d.h. für ihn in der Tradition der großen Philosophen von Platon bis Kant, eine Antwort auf die Zerrissenheit seiner Zeit und ein persönliches Remedium (Mehring). Karl Jaspers und Hannah Arendt haben über viele Jahre auf unterschiedliche Weise, jedoch in kontinuierlichem Austausch an einer Neuformulierung des humanistischen Projekts vor dem Hintergrund der Existenzphilosophie der zwanziger Jahre gearbeitet. Die Krisenerfahrung der erzwungenen äußeren Emigration und inneren Isolation ist für sie ein zentrales Moment ihrer Rekonstruktionsarbeit an diskreditierten Formen philosophischen Denkens gewesen (Kirkbright). Im Hinblick auf Leben und Werk Paul Oskar Kristellers kann man erahnen, wie mühsam der Prozeß der allmählichen Distanzierung von den Wurzeln in einer Kultur, die einen ausgeschlossen hat, sein kann; dies zeigt sich bei Kristeller im Umgang mit der Existenzphilosophie Heideggers und dem italienischen Idealismus wie auch in den Projektionen auf die Kultur der Renaissance als einer Gegen-Kultur (Boutcher). Leonardo Olschki bekennt freimütig, daß seine Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Asien ihm als escape von Europa und auch aus Amerika diente (Dörner). Helmuth Plessner hingegen setzt auf eine radikale Kritik der geistigen und sozialen Situation seiner Zeit und geht in seiner Studie Die verspätete Nation (1935) den riskanten Weg, die exemplarische Geschichte eines Deutschen als Abrechnung mit den Deutschen zu schreiben (Dietze). Sowohl Siegfried Kracauers Filmtheorie als auch seine Reflexionen zur Geschichte, die posthum unter dem Titel History. The Last Things before the Last (1969) publiziert wurden, operieren mit dem Begriffskonzept der Exterritorialität, in dem die Entfremdungsmuster moderner Kultur wie auch die Emigra-
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tionserfahrungen Kracauers kulminieren. Positiv gewendet ist Exterritorialität, die der Mannheimschen Vorstellung der Seinsentbundenheit sehr nah kommt, Bedingung für die Durchdringung der Vergangenheit (in der Geschichtsschreibung) und der Gegenwart (im Film), um deren jeweils andere Möglichkeiten oder ihr verborgenes utopisches Potential freizulegen (Forrest). Für Hannah Arendt ist die Bezugnahme auf die griechische Polis als politischer Form Asyl angesichts der Krisenerfahrungen in ihrer Zeit. Im politischen Denken der griechischen Antike liegen ihrer Ansicht nach die Ressourcen, um für die Moderne ein Gegenbild zu entwerfen; dies wäre insbesondere die Konzeption des öffentlichen Raums als Raum der Freiheit, Gleichheit und Sichtbarkeit (Schwarte). Dies sind Aspekte und Facetten einer umfassenden Denkbewegung, zu der es gehört, Kultur- und Literaturgeschichtsschreibung, Philosophie und Filmtheorie usw. zu behandeln, um Distanz zur jeweiligen Lebenswirklichkeit der äußeren oder inneren Emigration zu gewinnen. Aber es zeigt sich mehr, denn alle Reflexionen über den Bestand abendländischer Geistesgeschichte wie auch über die Bedingungen geistigen Lebens in der Moderne (mit allen ihren Risiken), bergen ein Moment des Aufbruchs und der Hoffnung. Statt in Resignation zu stürzen, geht es den deutsch-jüdischen Gelehrten um die Rekonstruktion einer geistigen Welt, um so dem eigenen Überleben und Weiterdenken ein utopisches Moment abzugewinnen. Die Pluralität der Denkansätze und die Weltoffenheit ihrer humanistischen Entwürfe sind nicht nur Erbschaft einer zurückliegenden Epoche, sondern zugleich auch Anstoß für uns, die theoretischen Fundamente moderner Kultur kritisch zu überprüfen.6 Wir danken der Gerda Henkel Stiftung (Düsseldorf) und der German History Society (London) für die finanzielle Unterstützung unserer Leipziger Tagung. Freundlicher Dank gebührt auch der Universität Leipzig, die uns ermöglicht hat, am Zentrum für Höhere Studien in Abgeschiedenheit und Distanz zum städtischen und akademischen Leben Leipzigs unser Projekt durchzuführen. Wir haben dem transcript-Verlag für die Bereitschaft zu danken, unser Buch in sein Programm aufzunehmen. Die Geschwister Boehringer-Stiftung Ingelheim hat sich bereit erklärt, einen Teil der Druckkosten zu übernehmen; dafür sind wir zu Dank verpflichtet. Gleichfalls möchten wir Sarah Hackett danken, die die englischsprachigen Manuskripte für die Druckvorlage vorbereitet hat. Allen Teilnehmern der Tagung, die zum Teil weite Weg gegangen sind, und allen Beiträgern danken wir herzlich für ihr Engagement und ihre Geduld. Berlin und Durham im September 2005 Gerald Hartung und Kay Schiller
6 Vgl. G. Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist: Velbrück 2003, S. 357-366.
GERALD HARTUNG
Von der Auflösung der Seinsgebundenheit. Die Entstehung der Wissenssoziologie in Deutschland und ihr Weg in die Emigration
Der Boden, von dem aus wir bisher als aus einem stabilen Standort die Welt betrachteten, ist aufgelockert, unser ganzes Ich ist preisgegeben. In tausend Gestalten finden wir uns wieder. Karl Mannheim1
Auf gelockertem Boden finden die Füße kaum halt und mit der Stabilität geht auch der klare Blick auf die Welt verloren. Die fehlende Orientierung wirkt zurück auf den Betrachter, der sich nun vergeblich als Einheit und Ganzheit zu stabilisieren sucht. Die eine Welt und das ganze Ich zersplittern in unzählbare Wirklichkeiten. Es gibt wohl kaum einen Text, der diesem Befund so nah kommt wie Robert Musils Mann ohne Eigenschaften: »[Er] lernte kennen, in wieviel Dingen der Mensch verschiedene Meinungen haben kann. [...] Er zersprang an der Frage, ob ein Hausmädchen zu entlassen sei oder nicht, und ob Zahnstocher auf den Tisch gehören oder nicht; aber woran er immer zersprang, besaß er die Fähigkeit, sich sofort zu zwei, an Einzelheiten unerschöpflich reichen, Weltanschauungen zu ergänzen.«2
Im gewöhnlichen Sprachgebrauch hingegen findet sich eine andere Unterscheidung von »Welt« und »Wirklichkeit«. So sprechen wir zumeist von der einen Wirklichkeit und den unterschiedenen Welten í ob als Sinn- und Gegenwelten, Halb- und Unterwelten, Innen- und Außenwelten, alten und neuen Welten í oder einer Mehrzahl von Weltbildern. Eine solche Rede übersieht, daß es für mich je1 Karl Mannheim: »Über eine Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis« [1922], in: ders., Strukturen des Denkens, hg. v. David Kettler, Volker Meja u. Nico Stehr, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 138. 2 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2003, S. 205.
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weils nur eine Welt geben kann: meine Welt. »Welt« ist eine anthropologische Dimension, sie hat für mich einen Entwurfscharakter und ist strukturell offen. Die Tatsache, in der Welt zu sein, ist ein unhintergehbares Faktum. Es ist auch nicht sinnvoll zu bezweifeln. Das heißt, meine Welt ist für mich ein unausschöpflicher Hintergrund, vor dem sich eine Vielfalt von »Wirklichkeiten« artikuliert. Wirklichkeiten sind Dimensionen des Innerweltlichen. So gibt es für mich physische, psychische, soziale, mediale usf. Wirklichkeiten. Diese Vielfalt wird in der Sinnesphysiologie, Psychologie und Soziologie bis hin zur Ethnologie bestätigt und analysiert. Der hier skizzierte Befund befördert in den Anfängen des zurückliegenden Jahrhunderts die Entstehung einer neuen philosophischen Disziplin, die sich selbst den Namen »Soziologie des Wissens« oder »Wissenssoziologie« gibt. »Den Ausdruck ›Wissenssoziologie‹ hat Max Scheler geprägt. Zeit: die zwanziger Jahre í Ort: Deutschland. Und Scheler war ein Philosoph. Alle drei Tatsachen sind wichtig für das Verständnis der Genese und Entwicklung des neuen Fachgebietes. Die Wissenssoziologie hat ihren Ursprung in einer besonderen Situation der deutschen Philosophie und Geistesgeschichte.«3 Auf den Trümmern der klassischen Geschichtsphilosophie und der materialistischen Geschichtsauffassung sowie vor dem Hintergrund einer philosophischen Anthropologie, die sich zur philosophischen »Grundlagenwissenschaft« erklärt, analysiert sie den Prozeß der sozialen Konstruktion von »Wissen« und »Wirklichkeit«.4 Insofern wir die Gewißheit haben, daß bestimmte Phänomene innerhalb meines Wahrnehmungsfeldes »wirklich«, d.h. unabhängig von meinem Wollen vorhanden sind, können wir von »Wissen« sprechen; dessen Geltungsanspruch ist aber nicht an das Vorhandensein in meinem Wahrnehmungsfeld gekoppelt, sondern kann sich auch unabhängig davon generieren. Dann sprechen wir davon, daß ein bestimmter Vorrat von Wissen gesellschaftlich etablierte Wirklichkeit wird. Dieser Rückgang der Erklärung auf eine anfängliche Gewißheit, auf ein Inder-Welt-sein, von dem die Genese des Wissens und des als gesellschaftliche Wirklichkeit gefestigten Wissens ausgeht, verweist auf einen ontologischen Hintergrund: die Abhängigkeit unseres Wissens von der Welt von einem Sein der Welt. Diese Abhängigkeit hat eine natürliche und eine geistige Komponente und wird im Horizont biologischer und psychologischer sowie soziologischer Grundlagenforschung verhandelt. Die Soziologie des Wissens geht bis an die Grenze, die zwischen diesen Bereichen verläuft í ohne sie in eine Perspektive zu stellen, wie es im Sozialbehaviorismus bei Mead und in seiner Nachfolge in der
3 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M.: Fischer 1980, S. 3f. 4 Vgl. Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist: Velbrück 2003, S. 11-35.
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biologischen Anthropologie bei Gehlen mit großem Erfolg geschehen ist.5 Dennoch und gerade auf Grund dieser Selbstbeschränkung gilt, »daß die Wissenssoziologie der soziologische Ort für ein [...] Problem ist: das Problem der ›Seinsgebundenheit‹ des Denkens überhaupt«.6 Das umfassende Problem der Seinsgebundenheit des Denkens ist für die meisten Vertreter der Wissenssoziologie des zurückliegenden Jahrhunderts nicht nur eine akademische Spielerei, sondern auch ein je eigenes Problem gewesen. Von ihnen mußten die meisten in den dreißiger Jahren Deutschland in die Emigration verlassen, weil sie als deutsche Bürger jüdischer Herkunft (auch dies ein vieldimensionaler Sinnhorizont) ausgeschlossen wurden. Begriffe wie »Seinsgebundenheit« des Denkens, »natürliche Verfaßtheit« der Lebenswelt und des Alltags bekommen einen ganz eigentümlichen Sinn, wenn man genau diese Basis verloren hat, weil sie einem entzogen wurde. Daß überhaupt die Rede auf die Seinsgebundenheit des Denkens und die natürliche Grundlage der Lebenswelt kommt, das ist bereits Indiz einer Distanznahme und eines Problembewußtseins. Um nur ein prominentes Beispiel zu nennen: Husserl hat in seinen Wiener und Prager Vorträgen über Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit (1935)7 den Begriff »Boden« der Lebenswelt im Zusammenhang seiner Suche nach ihrer ontologischen Dimension grundsätzlich in Anführungsstriche gesetzt. Das zuvor Selbstverständliche tritt hervor und hebt sich vom Text ab, weil es zutiefst fragwürdig geworden ist.8 So gesehen ist auch die Wissenssoziologie, deren Anfänge vor der Emigration liegen, eine philosophische Disziplin, deren Aufschwung erst mit dieser einsetzt. Sie steht exemplarisch für eine Entwicklung in der geistigen Welt, die von dramatischem Zuschnitt ist. Sobald nämlich die Orientierungskraft tradierten Wissens verblaßt, bricht das eingeübte und prägungsmächtige Koordinatenfeld zusammen und es werden radikale Fragen gestellt: Was ist der Sinn von Sein, was sind die Fundamente der Lebenswelt, was ist der Sinn und Wert des Lebens, was ist der Mensch und was meint Kultur? An dieser Entwicklung nehmen alle Disziplinen der Geisteswissenschaften Anteil, die Soziologie des Wissens aber erfüllt die zentrale Funktion einer »Philosophie der Philosophie« im Sinne Diltheys, denn sie verhandelt vor dem Hintergrund einer, in den angeführten Fragestellungen aufgezeigten, ontologischen Problematik die Grundprobleme moderner Wissensbildung: die Unterscheidung von Weltanschauung und Wissen, das
5 Vgl. George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus [1934], Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 u. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt [1940], Wiesbaden: Aula 1997. 6 P. L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 4. 7 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, in: Husserliana, Bd. 6, Den Haag: Nijhoff 1976. 8 Vgl. Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie, München: Fink 1992, S. 36f.
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Problem der Objektivität des Wissens und die Frage nach der Geschichtlichkeit und Relativität unserer Kulturwelt. Diese Problemfelder sollen im folgenden auf einem Umweg über die Vorgeschichte bis zu den späteren Studien zur Wissenssoziologie nachgezeichnet werden, um auf diesem Weg zweierlei zu zeigen: 1. wie die Wissenssoziologie die Problemfelder der Objektivität, Geschichtlichkeit und Relativität reflektiert und 2. daß sie ein ausgezeichnetes Reflexionsmedium ist, um die Ausgrenzung aus einer Kulturwelt und die Situation erzwungener Emigration zu objektivieren.
I. Wilhelm Dilthey und die Vorgeschichte der Wissenssoziologie Peter Berger und Thomas Luckmann geben in der Einleitung zu ihrer Studie über Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1966) einen pointierten Rückblick auf die Herkunftsgeschichte ihrer Disziplin. Im 19. Jahrhundert war es ihrer Ansicht nach die Geschichtswissenschaft, die zu einer weitreichenden Vergegenwärtigung der Vergangenheit geführt und damit eine »Art Höhenrausch des Relativitätsbewußtseins«9 provoziert hat. Hinzukam die materialistische Gesellschaftstheorie mit ihrem Basis-Überbau-Schema und die an Nietzsche anknüpfende Vorstellung, daß das menschliche Denken vor allem ein Instrument im Kampf um Macht und Überleben ist. Unmittelbar jedoch wurde die Wissenssoziologie von Wilhelm Diltheys Einsicht in die Relativität aller Aspekte menschlichen Geschehens, d.h. in die unausweichliche Geschichtlichkeit des Denkens, geprägt. Dieser groben Skizze kann durchaus beigepflichtet werden, wenn auch in ihr vieles unbedacht bleibt. Die angezeigte Einsicht Diltheys steht im Zeichen der Hegel-Kritik seines Lehrers Friedrich Adolf Trendelenburg, der bereits die Perspektive auf die Genese philosophischer Gedanken(-systeme) gelenkt hat: »Philosophische Systeme sind lebendige Vorgänge in den Geistern, Kämpfe der Grundbegriffe um die Herrschaft im Denken und Wollen.«10 Während Trendelenburg noch meint, als Historiker des philosophischen Systemdenkens den Kampf der Systeme beobachten zu können, ohne selbst in ihn hineingezogen zu werden, sieht Dilthey sich mitten auf den Kampfplatz gestellt. Wo es kein außen der Beschreibung gibt, da bleibt nur der Weg, durch die Analyse der »lebendigen, geistigen Vorgänge« und der lebendigen, »geistig-geschichtlichen Welt« hindurchzugehen und erst am Ende den Blick auf ein System der Geisteswissenschaften zu werfen. In einem solchen System wird die geschichtliche Einzelfor9
P. L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 5. 10 Friedrich Adolf Trendelenburg: Ueber den letzten Unterschied der philosophischen Systeme, in: ders., Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 2, Berlin: Bethge 1855, S. 1.
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schung in die Perspektive eines universalhistorischen Standpunkts gestellt; Philologie, hermeneutische Kritik, Geschichtsschreibung, Anthropologie, Psychologie und Entwicklungsgeschichte werden zu einem »Ganzen« verknüpft. Das Ziel ist die Konstruktion einer Theorie der Geisteswissenschaften, die Hegels Theorie des objektiven Geistes gerecht wird und sie beerbt.11 Die Schwierigkeiten einer solchen Theorie treten aber nicht erst beim Aufbau der Gesamtschau einer geistigen Welt oder Kulturepoche zutage, sondern bereits bei der Analyse ihrer kleinsten Elemente. Auf die Frage, was das kleinste Element einer solchen Theoriebildung ist, antwortet Dilthey: »Die Urzelle der geschichtlichen Welt ist das Erlebnis, in dem das Subjekt im Wirkungszusammenhang des Lebens zu seinem Milieu sich befindet.«12 Das Erlebnis jedoch ist radikal singulär und die Analyse der jeweiligen Wirkungszusammenhänge kommt niemals auf diesen letzten Punkt zurück. Es ist auch kein formales Apriori der Welterschließung, wie die transzendentalphilosophische Schule meint; es ist vielmehr die materiale Basis unseres Lebenszusammenhanges. Anthropologie und Psychologie erhalten bei Dilthey den Status von Fundamentaldisziplinen, weil sie es sind, die diesen Anfang, das radikal individuelle Erlebnis aufnehmen und in einen allgemeinen Zusammenhang stellen. Die »Welt« ist nur im Erlebnis í und sie ist somit auch nur in der Vorstellung eines Einzelindividuums als Teil der geschichtlichen Gesamtwirklichkeit zu fassen. Das ist die Sphäre, in der sich das Leben »äußert« und in der wir es »verstehen«. Notwendig vorausgesetzt ist bei dieser Überlegung, daß in jeder Lebensäusserung ein Moment enthalten ist, das die radikale Singularität bloßen Erlebens transzendiert. Allein diese Tendenz des Einzelnen auf ein Allgemeines bedingt die »Objektivation des Lebens« und damit die Chance, ein individuelles Erlebnis verstehen zu können. Ohne diese Voraussetzung wäre, so Dilthey, kein Verständnis von Sinnzusammenhängen möglich; ohne dieselbe wäre auch die Übertragung von Erlebniszusammenhängen aus der Sphäre radikaler Singularität in ein »Reich des objektiven Geistes« nicht möglich.13 Diltheys Hermeneutik des Lebens hat somit durchaus eine dialektische Struktur: Von den Manifestationen individuellen Erlebens ausgehend werden die Objektivationen des Lebens als geistige Formen verständlich; aber auch umgekehrt: das Einzelerlebnis muß als Aspekt eines allgemeinen Weltverständnisses begriffen werden. Diese Verschränkung ist relativ, wie Dilthey betont, da der Lebens11 Vgl. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. v. Manfred Riedel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 125. 12 Ebd., S. 197. 13 Vgl. ebd., S. 177f.: »Erfassen wir die Summe aller Leistungen des Verstehens, so tut sich in ihm gegenüber der Subjektivität des Erlebnisses die Objektivierung des Lebens auf. Neben dem Erlebnis wird die Anschauung von der Objektivität des Lebens, seiner Veräußerlichung in mannigfachen strukturellen Zusammenhängen zur Grundlage der Geisteswissenschaften. Das Individuum, die Gemeinschaften, die Werke, in welche Leben und Geist sich hineinverlegt haben, bilden das äußere Reich des Geistes.«
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reichtum eines einzelnen Individuums sich nicht vollständig in ein System des gesellschaftlichen Lebens einfügt.14 Nicht alles Erleben läßt sich wirkungsvoll objektivieren. Aber da, wo die Objektivierungsleistung gelingt, gerinnt das Leben zu festen Formen, die fortan das Erleben selbst unter strukturelle Bedingungen stellen: »Wird doch der Einzelne in sie hineingeboren und findet sie daher als eine Objektivität sich gegenüber, die vor ihm war, nach ihm verbleibt und mit ihren Veranstaltungen auf ihn wirkt.«15 Dilthey gibt uns einen Leitfaden, wie wir die Konstruktion von Sinnwelten zu verstehen haben. Unhintergehbar ist dabei die, in jedem Verstehens-Akt auftretende Spannung zwischen der »Subjektivität des Erlebnisses« einerseits und der »Objektivierung des Lebens« andererseits. Diese Spannung ist für den Kulturtheoretiker Dilthey nur deshalb auszuhalten, weil er die teleologische Struktur kultureller Prozesse voraussetzt; alle Manifestationen des Lebens sind seiner Ansicht nach in den »Zusammenhang der Natur« eingebettet und Teil einer geistigen Wirklichkeit: »Immer umgibt uns diese große äußere Wirklichkeit des Geistes. Sie ist eine Realisierung des Geistes in der Sinnenwelt vom flüchtigen Ausdruck bis zur jahrhundertelangen Herrschaft einer Verfassung oder eines Rechtsbuchs. Jede einzelne Lebensäußerung repräsentiert im Reich des objektiven Geistes ein Gemeinsames.«16
Die Welt des objektiven Geistes, die Sinnwelt einer jeden Kultur ist ganz etwas anderes als das Chaos singulärer Erlebnisse und auch mehr als bloß deren Summe; sie ist die Sinneinheit einer Welt, die sich im Akt des Verstehens konstituiert. Weil nun aber jedwedes Verstehen auch individuell und perspektivisch ist, kann nicht der jeweilige Erlebnisinhalt als Objekt des jeweiligen Verstehens die sinnverbürgende Instanz sein. Die Garantie, daß unser Erleben in einem Zusammenhang steht, der im Verstehensakt Teil unseres geschichtlichen Bewußtseins wird, liegt allein in deren Zuordnung füreinander – anders gesagt: in ihrer strukturellen Äquivalenz: »Alles Gegebene ist hier hervorgebracht, also geschichtlich; es ist verstanden, also enthält es ein Gemeinsames in sich; es ist bekannt, weil verstanden, und es enthält eine Gruppierung des Mannigfaltigen in sich, da schon die Deutung der Lebensäußerung im höheren Verstehen auf einer solchen beruht.«17
14 Vgl. W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte [1883], Gesammelte Schriften, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990, S. 49. 15 Ebd., S. 51. 16 W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 178. 17 Ebd., S. 180.
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Pointiert gesagt: Dilthey stellt Hegel – ebenfalls – auf die Füße. Aber nicht vom Standpunkt der Metaphysik auf die Füße einer materialistischen, sondern auf diejenigen einer psychologisch-geschichtlichen Anthropologie. So kann er behaupten, noch einmal vor dem Problem zu stehen, vor dem Hegel ebenfalls stand, bevor er es hinter sich ließ: Gemeint ist die Suche nach einer Methode zur Beantwortung der Frage, wie auf Grund der Gegebenheit geschichtlicher Lebensäusserungen ein allgemeingültiges Wissen der geschichtlichen Welt möglich ist. Gesucht sind die Produktionsverhältnisse in der geistigen Welt und der allgemeine Charakter eines Wirkungszusammenhangs. Es geht mithin um eine Auffassung der geistigen Welt als einer Basisstruktur, die in ihren dauernden Produkten – Sprache, Kunstwerke, Technik, Recht, Institutionen usf. – enthalten ist.
II. Max Scheler und die Anfänge der Wissenssoziologie Das Problem einer Basisstruktur der geistigen Welt wird sowohl in der objektividealistischen Kulturtheorie Diltheys als auch in der materialistischen Gesellschaftstheorie (Marx und die Folgen) vertreten. Bei Max Scheler werden beide Denkrichtungen miteinander verbunden und in der Unterscheidung von »Kultursoziologie« und »Realsoziologie«, in denen wir es mit idealen und/oder realen Faktoren des Kulturgeschehens in der soziologischen Analyse zu tun haben, aufgehoben. Scheler begibt sich auf die Suche nach einem Gesetz, mit dem sich das Zusammenwirken von Ideal- und Realfaktoren, von objektivem Geist und realen Lebensverhältnissen bestimmen läßt.18 Grundsätzlich ist die Differenz beider Faktoren dadurch bestimmt, daß der Geist Kulturinhalte sehr wohl in ihrem »Sosein« determinieren, aber nicht in ihrem »Dasein« setzen kann; die Realität des Kulturwerdens kann nach Schelers Ansicht í und das richtet sich gegen die sog. idealistischen Kulturtheorien í nicht auf ein geistiges Potential zurückgeführt, sondern muß auf den Boden der Wirklichkeit gestellt werden. Hier aber ist es so, daß diese Wirklichkeit ihren streng »notwendigen« »und vom Wert- und Sinngedanken des subjektiv menschlichen Geistes aus gesehen, ›blinden‹ Gang í ihren Schicksalsgang« geht. Die Realsoziologie hat die Aufgabe, unter Absehung metaphysischer Konnotationen dieses Schicksalbegriffs, den Bereich der Notwendigkeit auszuloten. Ziel ist es, die »Wirksamkeit der Realfaktoren in die Geschichte des Geistes« zu bestimmen und dann zu begreifen, wie Sinnkontinuitäten entstehen und vergehen können.19 Scheler unterstreicht hierbei, daß die Einseitigkeiten naturalistischer und spiritualistischer Geschichtserklärungen zu vermeiden sind. Weder kann es 18 Vgl. Max Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens, in: ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft, Gesammelte Werke, Bd. 8, Bern, München: Francke 1980, S. 15-190, hier vor allem S. 20f. 19 Vgl. ebd., S. 39.
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um eine eindeutige Determinierung der idealen Sinnwelt durch die Realfaktoren gehen, noch darum, die gesamte Realgeschichte als Fortsetzung der Geistesgeschichte zu begreifen. Die Relation beider Faktoren ist vielmehr fragil und nicht eindeutig berechenbar: »Nur Leitung und Lenkung einer festgeordneten Phasenabfolge eigengesetzlicher, automatisch eintretender, vom ›Willen‹ der Menschen unabhängiger und geist-wert-blinder Geschehnisse und Zustände vermag der menschliche Geist und Wille gegenüber dem Gang der Realgeschichte zu leisten. Er vermag kein bißchen mehr.«20
Scheler beharrt darauf, daß die naturgegebenen Zustände, das gesellschaftliche Sein, das soziale Milieu usw. das geistige Leben, das Bewußtsein, die Kulturwelt bestimmen í aber eben nicht, wie Marx meinte, konstant und eindeutig, sondern variabel. Daß in der Variabilität eine Geordnetheit und Gesetzmäßigkeit zu finden ist, das verweist auf die anthropologischen Voraussetzungen soziologischer Theoriebildung: der Grund des Lebens ist die reale Basis »für die Entfaltung der Fülle des idealen Reiches menschlicher Kultur«,21 entzieht sich aber jeglicher Verfügbarmachung. Die Konstitutionsanalyse der geistigen Welt wird auf Fundamente zurückverwiesen, die nicht-geistiger Gestalt sind. Kultur ist damit nur zu einem geringen Teil das Produkt geistiger Anstrengung: »Das ist die tragische und nach unserer Meinung im metaphysischen Bereich selbst endgültig verwurzelte Tatsache, daß das ›Stirb und Werde‹ aller Entwicklungen für die Entfaltung der realen Geschichts- und Sozialverhältnisse ein grundsätzlich anderes ist.«22
In dieser Fest-Stellung des anderen für die Genese und Konstitution von Kultur und kulturellem Wissen liegt eine entscheidende Weichenstellung. Während Dilthey und späterhin Cassirer das Moment der Geschichtlichkeit in das Kulturbewußtsein integrieren und damit zu einer Binnenrelation der geistigen Welt machen, hat Scheler die Eigenständigkeit des nicht-Geistigen, des Materiellen, des Lebens hervorgehoben. Dabei wird sich zeigen, daß seine eigentümliche Verknüpfung einer objektiv-idealistischen mit einer materialistischen Kulturtheorie für die entstehende Wissenssoziologie enorm prägend gewesen ist. Hier bleibt Platz für ein »souveränes, unabänderliches Vorrecht des Menschen«, der über die Fähigkeit verfügt, durch seinen Geist mit dem Kommenden zu rechnen, es zu berechnen und dadurch willentlich zu hemmen oder zu beschleunigen. Hier wird aber zugleich auch betont, daß die Gestaltungsmöglichkeiten des menschlichen Geistes immer nur vorläufig, d.h. durch den sog. »Unterbau« suspendierbar
20 Ebd., S. 40. 21 Ebd., S. 51. 22 Ebd.
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sind.23 In der Analyse dieser dialektischen Spannung entfaltet sich die Wissenssoziologie, die von Max Scheler einen entscheidenden Impuls erhalten hat.
III. Karl Mannheim und der Entwurf einer Kulturund Wissenssoziologie Karl Mannheim ist der Gründungsvater der Kultur- und Wissenssoziologie. Seine Stärke liegt in der Offenheit seines theoretischen Ansatzes für viele, durchaus unterschiedliche Strömungen der Geistesgeschichte. Insofern verkörpert er diese neue philosophische Disziplin. Stärker als Scheler, dem es vor allem auf die Originalität seines Denkens ankommt, stellt Mannheim sich explizit in einen Traditionszusammenhang. Dazu gehört es in erster Linie, im Schatten Max Webers zu stehen. Webers Diktum, daß »Kultur [...] ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens«24 ist, findet sich in vielerlei Variationen in Mannheims Schriften wieder. Entscheidend ist dabei, daß Mannheim diesen Kulturbegriff und das ihm korrespondierende Kulturbewußtsein historisch situiert. Kultur- und Wissenssoziologie sind seiner Ansicht nach Schöpfungen unseres Zeitalters. Sicherlich kann man sagen, daß Philosophie, Historie, Philologie sich stets mit Kulturerscheinungen beschäftigten, aber der Unterschied ist folgender: sie nahmen sie nicht als Kulturerscheinungen. Der neue Kulturbegriff hingegen »entstammt einer ganz neuartigen erlebnismäßigen Einstellung zu den geistigen Realitäten«.25 Die neue Einstellung basiert auf sechs Faktoren, zu denen 1. die Relativierung der einzelnen Kultursphären gegeneinander; 2. das Bewußtsein der Relativität und Vergänglichkeit einer jeden historische Ausgestaltung des Kulturphänomens, 3. das Bewußtsein von dem wesentlich prozessualen Charakter der Kultur, 4. das bildungsmäßige Erleben des Kulturphänomens als solchem (das Bildungsideal), 5. das gegensätzliche Auseinandertreten des Kulturbegriffs und des Naturbegriffs und 6. das Bewußtsein vom gesellschaftlichen Charakter des Kulturphänomens gehören.26 Die ersten drei Relativierungen des Kulturbegriffs beruhen nach Mannheims Auffassung auf der Einsicht in eine unumkehrbare Bewegtheit des tradierten Kulturhorizonts und seine daraus resultierende Verflüssigung. Die Konsequenzen 23 Vgl. ebd., S. 23: »Im Geistig-Kulturellen also gibt es potentiell ›Freiheit‹ und Autonomie des Geschehens nach Sosein, Sinn und Wert í aber stets in dem realen Ausdruck suspendierbar durch die Eigenkausalität des ›Unterbaues‹; ›liberté modifiable‹ möchte man es nennen.« 24 Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« [1904], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr 1988, S. 180. 25 K. Mannheim: Über eine Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis, S. 39. 26 Vgl. ebd., S. 45f.
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dieser Entwicklung zeigen sich im Hinblick auf den vierten Faktor, der die Vermitteltheit kulturellen Erlebens auf den Punkt bringt. »Solange die Kultur nicht als Kultur erlebt wird, vollzieht sich die Kulturschöpfung sozusagen hinter dem Rücken des schöpferischen Subjekts.«27 Wird jedoch Kultur als Kultur erlebt, dann hat das Kulturerleben aufgehört; in anderen Worten: »die Kultur wird zum Wert, wo sie als Sein aufhört zu existieren.«28 Diese Entwicklung ist unumkehrbar, da nach Mannheims Ansicht die ihr immanenten Relativierungen und Verflüssigungen nicht zu neuen Verfestigungen führen. Sein und Sinn bewegen sich in zwei Sphären und keine »metaphysisch inhaltliche Sehnsucht« kann uns in eine Bewußtseinsstellung zurückbringen, die dieser Problemlage voraus liegt. Dieser Befund markiert exakt die Ausgangslage í »die gegenwärtige Krisensituation des Denkens«, vor deren Hintergrund Mannheim sein Konzept einer Wissenssoziologie entfaltet.29 Mannheims Konzeption besteht aus zwei Teilen; einerseits geht es ihm um erkenntnistheoretische Überlegungen (zweiter Teil), vorab aber behandelt er die Wissenssoziologie als »Theorie von der Seinsverbundenheit des Wissens«.30 Ausgangspunkt ist hier die Feststellung einer »Faktizität« (ein Terminus der Phänomenologie Husserls und Heideggers) der Seinsverbundenheit. Dies meint, daß der Prozeß des Denkens nicht von einer inneren »geistigen Dialektik« angetrieben wird, sondern daß außertheoretische Faktoren í sog. »Seinsfaktoren« í das Entstehen und die Gestaltung des jeweiligen Denkens bestimmen; zweitens kommt hinzu, daß diese Faktoren keineswegs von »bloß genetischer Relevanz« sind, sondern daß sie die »Aspektstruktur« (ein Terminus, der vor allem bei Plessner zentral vorkommt) einer Erkenntnis bestimmen. Mannheim legt nachdrücklich Wert auf die Feststellung, daß wir unser Denken und Wissen nur verstehen, insofern wir ihre Seinsverbundenheit in den Blick nehmen. Die Aspektstruktur einer Aussage z.B. macht es uns möglich, die meisten konkreten Aussagen der Menschen sozial und historisch zu verorten. Es ist möglich, »Denkweisen [zu] datieren«. Damit ist gemeint, daß sich im Aspekt ein qualitatives Moment des Erkenntnisaufbaus erfassen läßt, das eine Seinsbedingtheit í Herkunft, Milieu, Bildung usw. í zum Ausdruck bringt: »Mit einem Wort, der Problemansatz, die Ebene der jeweiligen Problemstellung, die Abstraktionsstufe, aber auch die Konkretisierungsstufe, die man erreichen will, sie alle sind in gleicher Weise sozial seinsmäßig gebunden.«31
27 Ebd., S. 47. 28 Ebd., S. 48. 29 Vgl. K. Mannheim: Ideologie und Utopie [1929], Frankfurt/M.: Klostermann 1995, Kapitel V. (Wissenssoziologie), S. 227-267, hier S. 227. 30 Vgl. ebd. S. 229. So lautet der Titel des ersten Abschnitts: Die Wissenssoziologie als Theorie von der Seinsgebundenheit des Denkens. 31 Ebd., S. 238.
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Wenn das so ist, dann erfordert die Wissenssoziologie zweierlei: die Gebundenheit des Wissens an die ihm voraus liegende Fundamentalstruktur sozialen Seins í und damit in gewisser Hinsicht eine sozial- oder fundamentalontologische Rückversicherung í32 und eine Distanzierungsleistung des Wissenssoziologen selbst. So gesehen ist die Wissenssoziologie eine Wissenschaft, die sowohl die Bindung als auch die Entbindung ihres Gegenstandes bedenkt; sie ist die Wissenschaft, welche die o.a. Relativierungen innerhalb der modernen Kultur auf einer abstrakten Ebene reflektiert. Verschiedene Distanzierungsprozesse als Äquivalente der o.a. Relativierungstendenzen sind gleichsam die Voraussetzungen der Wissenssoziologie. Distanzierung kann dadurch geschehen, daß ein Mitglied einer Gruppe »abwandert« (sozialer Aufstieg, Emigration usf.) oder daß die Seinsbasis einer ganzen Gruppe sich im Verhältnis zu ihren hervorgebrachten Normen und Institutionen verschiebt oder daß im gleichen sozialen Raum mehrere sozial gebundene Weltauslegungen miteinander ringen und sich in ihrer Kritik gegenseitig durchleuchten und distanzieren. Sicherlich können alle drei Momente auch zusammentreffen, denn im Fall der Wissenssoziologen, die zur Emigration gezwungen wurden, ist dies offensichtlich der Fall. Damit wird die Wissenssoziologie Teil eines Programms der Aufklärung über die Bedingungen der jeweiligen Standortgebundenheit í Herkunfts-, Milieuabhängigkeit usw. í und der Chancen einer weitgehenden Distanzierung: »Der wissenssoziologische Forschungsimpuls kann so geleitet werden, daß er nicht zur Verabsolutierung der Seinsverbundenheit führt, sondern daß gerade in der Entdeckung der Seinsverbundenheit der vorhandenen Einsichten ein erster Schritt zur Lösung von der Seinsgebundenheit gesehen wird.«33
Die Differenz zwischen Gebundenheit und Verbundenheit unseres Wissens an das Sein ist keinesfalls eine subtile Anmerkung, sondern ein Bestimmungspunkt der Leistungsfähigkeit soziologischer Reflexion. Mannheim evoziert in diesem Zusammenhang Nietzsches Rede vom »Pathos der Distanz« und Schelers Formulierung vom »souveränen, unabänderlichen Vorrecht des Menschen«, auf die Bedingungen seines sozialen Seins berechnend und gestaltend einzuwirken. Diese Anstrengungen laufen nach Mannheims Ansicht insgesamt »in der Richtung einer Neutralisierung der Seinsgebundenheit im Sinne des sich darüber Erhebens«.34 32 Vgl. ebd., S. 239: »Es gilt hier nur soviel zu fixieren: So berechtigt der Wunsch in der modernen Philosophie ist, eine ›Fundamental-Ontologie‹ herauszuarbeiten, so gefährlich ist es, an diese Aufgabe ohne wissenssoziologische Reflexion in diesem Sinne ›naiv‹ heranzugehen – denn diese Naivität ist die sicherste Gewähr dafür, daß man an Stelle echter Fundamentalontologie einer beliebigen, zufälligen, durch den historischen Prozeß präsentierten Ontologie verfällt.« 33 Ebd., S. 259. 34 Ebd.
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Genau an diesem Punkt grenzt die Wissenssoziologie als Theorie von der Seinsverbundenheit des Wissens an die Ideologienlehre.35 Wo die Wissenssoziologie aufs Ganze geht í die Verschiedenheit der Bewußtseinsstruktur unter historisch-sozialen Bedingungen und die Denkstruktur in ihrer Totalität zum Problem macht í entlarvt die Ideologienlehre die parteiisch-partikularen »Verhüllungsabsichten« für unser Bewußtsein und die daraus resultierenden Formen des »unrichtigen und unwahren« Lebens. Die Enthüllung geht im ersten Fall aufs Allgemeine, im zweiten Fall aufs Partikulare des historisch-sozial bedingten Bewußtseins. Es zeigt sich dabei, daß der Prozeß von Verhüllung und Enthüllung durchaus dialektisch und unabschließbar ist; die »Entdeckung der seinsgebundenen Wurzeln des Denkens« in Form einer Enthüllung legt gleichsam auch die Bedingungen einer unaustilgbaren Möglichkeit der Verhüllung frei. Die Seinsgebundenheit des Denkens zeigt an, daß die Strukturen menschlichen Bewußtseins nicht im Licht geistiger Klarheit leuchten, sondern zum großen Teil im dumpfen Grund sozial-historischer Bedingtheit verwurzelt sind. Im Fadenkreuz dieser Überlegungen steht die Frage, ob die moderne Kultur durch eine unversöhnliche Pluralität einander widersprechender und sich bekämpfender Weltanschauungen geprägt ist oder ob es einen Standpunkt gibt, der Neutralität in Bezug zur Sphäre des Widerspruchs beanspruchen kann. Für den Ideologiekritiker stellt sich die Frage, ob hinter jeder Enthüllung eines partikularparteiischen Standpunkts eine weitere unrichtige und unwahre Position steht oder ob hinter alledem ein Moment der Wahrheit liegt. Für den Wissenssoziologen ist dies ein Ansatzpunkt, um Sein, Leben und Denken zur Deckung, d.h. in »eine werdende Seinseinheit« zu bringen.36 Für den Ideologiekritiker und Wissenssoziologen in der erzwungenen Emigration ist das keine bloß akademische Frage; für sie ist das Verfahren der enthüllenden Seinsverbundenheit des Denkens und der Ideologiekritik der jeweils einzige Weg, um der Zerfaserung des Lebens, der Zersplitterung und Preisgabe seines eigenen Ich zu widerstehen. Dies soll an zwei Beispielen, einerseits zur Ideologiekritik (Hans Barth), andererseits zur Wissenssoziologie (Berger-Luckmann) veranschaulicht werden.
35 Vgl. ebd., S. 70f.: »Mit dem Auftauchen der allgemeinen Fassung des totalen Ideologiebegriffes entsteht aus der bloßen Ideologienlehre die Wissenssoziologie. Es wird hierbei aus der geistigen Kampfapparatur einer Partei die in ihr mitentdeckte, aber nur noch partikular gefaßte allgemeine Richtigkeit von der ›Seinsgebundenheit‹ eines jeden lebendigen Denkens herausgehoben und zum Thema einer geistesgeschichtlichen Forschung gemacht. Diese soziologische Geistesgeschichte wird ohne Rücksicht auf Parteiung gerade diese an die jeweilige soziale Seinslage bindenden Faktoren im Denken überall erforschen müssen. Diese soziologisch orientierte Geistesgeschichte wird berufen sein, für den heutigen Menschen das gesamte historische Geschehen in einem neuen Sinne zu revidieren.« 36 Vgl. K. Mannheim: »Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit«, in: ders., Strukturen des Denkens, S. 199f.
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IV. Im Schatten Mannheims: Hans Barth und Theodor Geiger über Wahrheit jenseits der Ideologien Die moderne Ideologienlehre setzt mit Karl Mannheims Sammlung unterschiedlicher Abhandlungen unter dem Titel Ideologie und Utopie im Jahre 1929 ein. Grundlegend ist hier die Frage nach der Standortgebundenheit und Geschichtlichkeit dieser Problematik. Warum kommt das Problem der Ideologie erst in der Moderne auf? Was unterscheidet den Erlebniskontext des prämodernen und des modernen Menschen? Nach Mannheims Auffassung lebte auch der Mensch früherer Zeiten nicht vollkommen im Bann leitender Ideen, aber es gelang ihm immer aufs Neue, sein Abgleiten von der Norm in Barbarei und Brutalität durch eine »wohltemperierte Unbewußtheit vor sich zu verbergen«. Grundsätzlich kann man sagen, daß in der Prämoderne »der Mensch [...] wandelbar und böse [war], aber die leitende Norm- und Sinnschicht war unverrückbar, dem Sternenhimmel gleich«.37 Entscheidend neu für die Moderne ist, daß der Mensch lernen muß, mit der Verrückbarkeit seines Sinnhorizonts klar zu kommen, d.h. er muß die ihm traditionell vorausliegende Ideenschicht relativieren und auf ihre Ideologiehaftigkeit überprüfen; damit eröffnet sich ihm die Möglichkeit, ein falsches Bewußtsein und dessen Differenz zu einer verlorenen, als stabil empfundenen, Bewußtsteinsstellung als unerträglich zu erleben. Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind kaum zu überschätzen. Zum einen ist die Welt nicht mehr einfach gegeben, sondern sie ist fortan subjekt-bezogen da.38 Damit wird í im Angesicht einer Pluralität von Weltentwürfen, -bildern, -anschauungen die Einheit des Bewußtseins fragil, denn es besteht die Gefahr, daß es sich in diese Vielfalt verliert. Anfänglich, im 19. Jahrhundert, wird an einer Einheit des Bewußtseins festgehalten, »aber die Einheit ist nunmehr eine dynamische, eine Werdeeinheit«.39 Spätestens unter dem Eindruck des Traditionsverlusts und Werteverfalls, der im ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreicht, zerfasert auch dieses teleologische Konzept und unter dem totalen Ideologieverdacht wird die Denkkrisis umfassend; »würde man jene Zeit zerlegt haben« heißt es im Mann ohne Eigenschaften »so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen.«40 Es ist Mannheims Verdienst, diese Krisis bejaht und nicht verleugnet zu haben. Er sieht in ihr ein Indiz für das Erreichen eines Reflexionsniveaus, das Durchgangspunkt in einem notwendigen Entwicklungsprozeß ist, der die Menschheit weiter ins helle Licht klarer Erkenntnis führen wird: 37 K. Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 52. 38 Vgl. ebd., S. 62: »Die Welt ist also von jetzt an nur auf ein Subjekt bezogen als ›Welt‹ da und die Bewußtseinstätigkeit dieses Subjekts ist für das Weltbild konstitutiv.« 39 Ebd., S. 63. 40 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 55.
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»Die Denkkrisis ist nicht die Krisis eines Standortes, sondern die Krisis einer Welt, die eine bestimmte denkerische Höhenstufe erreichte. Nicht Verarmung ist es, wenn wir eine Seins- und Denkverlegenheit immer klarer sehen, sondern eine unendliche Bereicherung.«41
Mannheims Nachfolger in der Ideologienlehre teilen diesen Optimismus nicht. Dies hängt sicherlich nicht zuletzt mit der Erfahrung der dreißiger Jahre zusammen, als das ganze Ausmaß der Krise einer Welt deutlich wurde. Hans Barth hat aus der Schweizer Außenperspektive seine Studie über Wahrheit und Ideologie verfaßt und im Jahr 1945 publiziert.42 Die Studie ist unterteilt in eine problemgeschichtliche Analyse der Ideologienlehre seit dem frühen 19. Jahrhundert, die abgesichert wird durch einen Rekurs auf die politisch-antikirchliche Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. Dies aber ist nur der Hintergrund, vor dem Marx’ Freilegung der Ideologie und des ideologischen Bewußtseins zur Darstellung kommt. Marx hat, so spitzt es Barth zu, vier Fragekomplexe aufgeworfen: 1. Anthropologisch: Wie muß der Mensch geistig und seelisch beschaffen sein, damit ein ideologisches, das ist »falsches« Bewußtsein entstehen kann? 2. Soziologisch: Was sind die materialen Bedingungen für die Entstehung eines ideologischen Bewußtseins? 3. Kulturtheoretisch: Was macht einen Komplex von Ideen zu einer Ideologie? und 4. Erkenntnistheoretisch: Wie verhält sich das ideologische Gebilde zur Wahrheit?43 Marx’ Ideologiekritik ist zuallererst Religionskritik, denn seinem berühmten Diktum zufolge ist »die Kritik der Religion [...] die Voraussetzung aller Kritik«.44 Für ihn ist Gott ein Spuk und religiöses Verhalten illusionäres Verhalten. Diese Illusion prägt die Geschichte der Menschheit eine bedeutende Wegstrecke lang. Ihr ist es zu verdanken, daß der Mensch in seine Idee und seine Wirklichkeit zerfallen ist. Die Geschichte der Herrschaft dieser Illusion ist nach Marx die Vorgeschichte der Menschheit, die durch eine umfassende Deformation der ursprünglichen Lebensverhältnisse gekennzeichnet ist. Hier liegt mit dem Verlust an Freiheit (anthropologisch) und der Oktroyierung der Arbeits- und Besitzteilung (ökonomisch) sowie mit der Herausbildung einer Klassengesellschaft der Entstehungskontext für ein ideologisches Bewußtseins.45 Dem ideologischen Bewußtsein verdanken wir so Barth in Anlehnung an Marx eine überweltliche religiöse Ersatzwelt, die illusionären Trost für reales Elend spendet und eine Philosophie, die im Dienst der bestehenden sozialen, juridischen und politischen Verhältnisse steht.
41 42 43 44
K. Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 92. Vgl. Hans Barth: Wahrheit und Ideologie [1945], Zürich, Stuttgart: Rentsch 1961. Vgl. ebd., S. 62. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. 1, Berlin: Dietz 1988, S. 378. Vgl. hierzu H. Barth: Wahrheit und Ideologie, S. 82ff. 45 Vgl. ebd., S. 151f.
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Nach Barths Auffassung tritt der Marxschen Ideologiekritik Nietzsches Theorie korrespondierend zur Seite.46 Der Trick der Argumentation Nietzsches liegt in einem Universalverdacht gegen alles Geistige (»Kunst des Mißtrauens«), der in einer universalen Reduktion aller geistigen Formen auf die Grundform des Willens zur Macht mündet: »Nietzsches Reduktionsverfahren erhält [...] seine letzte Begründung erst dann, wenn sich der Begriff des Geistes in den anthropologisch-soziologischen Voraussetzungen und diese wiederum in den allgemeinen Grundsätzen der Philosophie des Werdens und des Willens zur Macht verankern lassen. Seine Kritik des Geistbegriffs hat es vor allem auf die Autonomie des Geistes abgesehen.«47
Es geht hier um eine Zurückstellung alles Geistigen in die Natur oder um eine Auflösung aller geistigen Funktionen in einen biologischen Prozeß. Aber Nietzsche ist es nicht gelungen und es kann nach Barths Auffassung auch gar nicht gelingen , die Eigen-Bedeutung geistiger Funktionen vollständig zu naturalisieren, weil ihm dann die Differenz von Mensch und Tier entgeht. Warum nämlich der Mensch ein »Halbthier«, ein »krankes Thier« ist, warum er »unfestgestellter als irgendein Thier sonst« ist, das muß sich der Konsequenz seiner Verdächtigungen entziehen. »Die konsequente Biologie des Machtwillens gibt gerade das, was den Menschen zum Menschen macht, nicht her.«48 Barth unterstreicht, daß mit den Konzeptionen von Marx und Nietzsche das »Handwerkszeug der Ideologie-Analyse« vorliegt und sich seitdem nicht mehr viel auf diesem Gebiet getan hat. Die Freilegung des totalen Ideologieverdachts gegenüber jeder Idee, jeder Überzeugung, jeder politischen Programmatik begründet durch anthropologische, ökonomische und soziologische Tiefenanalysen führt direkt zu einem resignativen Verständnis von Geschichtlichkeit. Verantwortlich dafür ist weniger die Einsicht in die Geschichtlichkeit menschlicher Kultur als die Tatsache, daß jedweder kulturteleologische Entwurf unter Generalverdächtigung gestellt und damit destruiert wird: »Nicht die Erkenntnis, daß der Mensch ein geschichtliches Wesen ist und daß die Philosophien geschichtlich bedingte singuläre und subjektive Aspekte sind, bedeutet die Krisis. Eine Bedrohung seiner Sicherheit widerfährt dem Menschen darum, weil er sich in einer geschichtlichen Bewegung befindlich weiß, die eines Zieles entbehrt.«49
46 Vgl. ebd., S. 203f. 47 Ebd., S. 249. Vgl. G. Hartung: »Der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Friedrich Nietzsche und die philosophische Anthropologie«, in: Hans-Jürgen Lachmann/Uta Kösser (Hg.), Kulturwissenschaftliche Studien 5, Leipzig: Passage 2000, S. 31-45. 48 K. Barth: Wahrheit und Ideologie, S. 262. 49 Ebd., S. 277.
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Welche Probleme und Konsequenzen daraus resultieren, das zeigt nach Barths Ansicht erst das 20. Jahrhundert. Marx, Nietzsche und auch Dilthey gelten ihm als Diagnostiker einer Entwicklung, für die ein Therapiekonzept noch fehlt. Die Situation, die es in der Ideologienlehre des 20. Jahrhunderts zu reflektieren gilt, ist durch vier Momente geprägt: 1. die geistigen Funktionen des Menschen werden als Form der Anpassung beschrieben; 2. der Vorrang der Praxis legt den Akzent auf die Reproduktion des Lebens; 3. d.h. auch, alle geistige Tätigkeit wird in den Dienst des Lebens gestellt; und 4. die Welt des objektiven Geistes wird in einem reinen Abhängigkeitsverhältnis zur materiellen Seinsbasis gesehen. Diese Denkansätze sind nach Barths Ansicht in Karl Mannheims Schriften zur Einheit einer soziologischen Perspektive zusammengefügt. In seiner Lehre von der Seinsverbundenheit des Denkens kommt der, auf Scheler zurückgehende, Gedanke zum Ausdruck, daß eine soziologische Analyse einer ontologischen Rückversicherung bedarf. Barth ist in dieser Hinsicht skeptisch. Was heißt Seinsverbundenheit des Denkens? Was heißt es, daß das Denken »durch den Standort des Denkenden bedingt« ist?50 Mannheim ist hier, so hebt Barth hervor, teilweise zuzustimmen. Der Behauptung der Seinsverbundenheit kommt nur deshalb grundsätzliche philosophische Bedeutung zu, weil die Ideologiehaftigkeit des Denkens für uns den Charakter der Notwendigkeit besitzt. Diese Bedingtheit kann aber nicht notwendig und eindeutig sein, denn wäre dies so, dann könnte niemand Distanz zum Bestehenden aufbauen alles wäre unmittelbar Ausdruck der Triebstruktur und der ökonomischen Verhältnisse. Barth hingegen hält an der Möglichkeit einer Distanznahme fest, die es ihm ermöglicht, zwischen Bestehendem und Vorstellbarem, zwischen dem, wie es ist, und dem, wie es sein sollte, unterscheiden zu können. Dies setzt ein drittes Moment voraus, das unverzichtbar ist, wenn die Arbeit der Ideologiekritik nicht vergeblich sein soll: Wahrheit. Allein der Anspruch auf Wahrheit läßt die Operationen der Verdächtigungen und Entlarvungen nicht ins Leere laufen: »Wenn man nun aber die Idee der Wahrheit und der Gerechtigkeit selbst als Ideologie denunziert, dann werden die Bedingungen des sozialen Daseins überhaupt erschüttert. Denn man wird des Maßes beraubt, auf welches das verbindende Wort und die Ordnungen der Gemeinschaften ihrem Wesen entsprechend ausgerichtet sind.«51
Ein anderer Vertreter dieser Disziplin ist der nach Skandinavien emigrierte Soziologe Theodor Geiger, dessen Buch Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens (1953)52 erheblichen Einfluß auf die Entwicklung der
50 Vgl. ebd., S. 285. 51 Ebd., S. 290. 52 Vgl. Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens [1953], Neuwied, Berlin: Luchterhand 1968.
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Wissenssoziologie im Norden Europas hatte.53 Die Abweichung von Mannheim ist bei Geiger noch deutlicher herauszulesen, insbesondere anhand seiner Abgrenzung von »Ideologie« und »Wahrheit« í wie der Titel seines Buches nahelegt í und im Hinblick auf seinen nahezu positivistischen Wirklichkeitsbegriff.54 »Ideologien [...] sind Aussagen, die in gewisser charakteristischer Weise von der Wirklichkeit abweichen.«55 Was aber heißt Wirklichkeit? Geiger unterscheidet zwei Formen von Wirklichkeit: eine Erkenntniswirklichkeit und eine pragmatische Existentialwirklichkeit. Während letztere nicht zu fassen ist und keine Unterscheidung von wirklich/unwirklich, wahr/falsch zuläßt, kann allein die Erkenntniswirklichkeit einen Maßstab für die Bemessung der Ideologiehaftigkeit von Aussagen liefern. Die Ideologienlehre darf sich also nicht in die Tiefen der Existentialwirklichkeit oder Lebenswelt hinablassen, sondern muß sich auf die Erkenntniswirklichkeit als »Inbegriff der raumzeitlich bestimmten und daher unmittelbar oder mittelbar sinnlich wahrzunehmenden Erscheinungen« beziehen. In diesem Bereich gibt es nach Geigers Auffassung nur logische Probleme, die aus der Verarbeitung von Beobachtungen resultieren; ideologische Probleme treten dort auf, wo die Überprüfbarkeit einer Aussage am Maßstab einer Erkenntniswirklichkeit unmöglich ist. Das gilt z.B. für folgende Aussagen: soziale Gerechtigkeit schafft Chancengleichheit oder das Symbol des Kreuzes ist heilig. Im Gegensatz zu Scheler und Mannheim führt Geiger logische Probleme nicht grundsätzlich auf einen ideologischen Hintergrund zurück; die Seinsverbundenheit des Denkens erscheint ihm im Bereich der Erkenntnisprobleme ausschaltbar zu sein. »Was ich behauptet habe, ist nur dies, der Fehler in der logischen Verarbeitung von Beobachtungen ist nicht an sich ideologisch.«56 Eine solche Behauptung macht allerdings nur dann Sinn, wenn es ein Kriterium gibt, das die Logik der Wirklichkeit, das konstituierende Verhältnis von Gegenstand und Beobachtung für die Erkenntnis stützt. Geiger spricht in diesem Zusammenhang von der Erkenntnis als »adäquater Erfassung äußerer Wirklichkeit«, deren Maßstab die Wahrheit im »Sinne eines objektiven Adäquatseins« ist.57 Das ist, in der Tradition der Kantischen-Neukantianischen Philosophie das Feld der mathematisch-naturwissenschaftlichen, aber auch soziologisch-empirischen Erkenntnis. Ideologisch ist in diesem Zusammenhang die Abweichung vom Maßstab der Wahrheit í und d.h. ein subjektives Inadäquatsein unserer Erkenntnis für die 53 Nicht diskutiert werden hier weitere Schriften von Emigranten zur Wissenssoziologie, z.B. Werner Stark: The Sociology of Knowledge. An Essay in Aid of a Deeper Understanding of the History of Ideas, London: Routledge & Paul 1958 u. Albert Salomon: In Praise of Enlightenment, Cleveland: World Pub. Co 1963. 54 Vgl. zum Hintergrund Hans Kelsen: Aufsätze zur Ideologiekritik, hg. v. Ernst Topitsch, Neuwied: Luchterhand 1964 u. Ernst Topitsch: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien: Springer 1958. 55 T. Geiger: Ideologie und Wahrheit, S. 28. 56 Ebd., S. 46. 57 Vgl. ebd., S. 139.
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Wirklichkeit. Pointiert gesagt: Es geht innerhalb der Ideologienlehre um einen Bereich (die Erkenntnistheorie), der ein ideologiefreies Residuum ist. Die Neutralisierung des subjektiven Moments í Geiger spricht auch an einer Stelle vom »Vitalengagement« í in der Wirklichkeitserkenntnis schlägt um in ein Moment an Wahrheit. Wahrheit, das ist nicht ein Jenseits der Wirklichkeit, sondern eine objektivierte Wirklichkeit, zwar immer noch perspektivisch, aber von den Zusätzen des Subjektiven, des partikularen Interesses usw. befreit. Denn es »gibt keine aspektgelöste, überperspektivische Sicht, sondern nur eine optimale, das heißt besonders fassungskräftige Perspektive«.58 Wahrheit, das ist dann zumindest ein Jenseits der Ideologie. Für die Durchdringung und Bewältigung der Wirklichkeit bedeutet das einen letzten Vorbehalt. Auch unter der Bedingung, daß eine Ideologie alle Bereiche der Lebenswelt überwältigt, gibt es doch einen Ausweg: Im Rückzug aus dem Feld der Interessenlagen, Wertbeziehungen und urteile liegt die Chance für jeden, sich vom Beteiligten zum Beobachter zu erheben und in der Perspektive auf wahre Erkenntnis, auf ein Kantisches »Reich des Intelligiblen« sich der Zerrissenheit des Zeitgeschehens zu entziehen.
V. Aus dem Schatten Mannheims: Peter L. Berger und Thomas Luckmann über die Auflösung der Seinsgebundenheit des Wissens Der zweite Denkweg, auf dem sich die Wissenssoziologie in der Emigration weiterentwickelt, ist mit den Namen Helmuth Plessner und Alfred Schütz verbunden. Deren philosophisch-anthropologische und phänomenologisch-soziologische Konzeptionen fließen in die Wissenssoziologie ein. Insbesondere die Abhandlungen von Schütz í von Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (1932) über eine Fülle vereinzelter Abhandlungen bis zum posthum erschienenen Werk Strukturen der Lebenswelt (2003) í sind Impulsgeber für die Wissenssoziologie gewesen und werden dies auch weiterhin sein. Dieser Einfluß verbürgt, daß die Wissenssoziologie auch weiterhin eine philosophische Disziplin bleiben wird. Damit ist gemeint, daß innerhalb der Wissenssoziologie die Frage nach den anthropologischen und sozial-ontologischen Voraussetzungen offen verhandelt wird, während dies in den angrenzenden Feldern der Soziologie í zum Teil mit guten Gründen í nicht der Fall ist. Helmuth Plessner ist seit den zwanziger Jahren einer der scharfsinnigsten Beobachter des Entstehens der Wissenssoziologie als philosophischer Disziplin. So hat er Mannheims Konzeption (und damit auch die seiner Nachfolger) kritisiert, weil er im Begriff der Seinsverbundenheit des Denkens einen fragwürdigen Einschlag Heideggerscher Daseinsanalytik vermutet. »Echte Geschichtlichkeit« jedoch eröffnet einen Freiraum, in dem í ob man das will oder nicht í die Krite58 Ebd., S. 141.
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rien für eine Unterscheidung zwischen adäquatem Bewußtsein und falschem Bewußtsein resp. Ideologie verschwimmen. Dann stellt sich heraus, daß die sog. »Seinsbasis« nur eine spezifisch geschichtliche Situation ist und die Rede von solchen Fundamenten ihren Sinn verliert, weil der Mensch sich als offene Frage begegnet. »Sich und die Welt anders sehen, heißt für den Menschen eben auch anders sein.«59 Bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann steht in diesem Sinne: »Menschsein ist sozio-kulturell variabel.«60 Die Weltoffenheit des Menschen und die Geschichtlichkeit seiner Selbstentwürfe bedingt ihrer Ansicht nach, daß auch die ontologische, biologische und soziale Dimension der Wirklichkeit nicht Fundament, sondern Produkt ist. Ihr Buch über Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit trägt diese zentrale These im Titel. Stärker läßt sich die These von der Auflösung der Seinsgebundenheit des Denkens nicht fassen. »So kann man zwar sagen: der Mensch hat eine Natur. Treffender wäre jedoch: der Mensch macht seine eigene Natur – oder, noch einfacher: der Mensch produziert sich selbst.«61 Das Muster der Selbstproduktion läuft auf Vergegenständlichung í marxistisch gesprochen: Verdinglichung í hinaus; was dann äußerlich ist und die gesellschaftliche Wirklichkeit konstituiert, bleibt immer eine Konstruktion und gewinnt keinen ontologischen Status. Dem widerspricht nur scheinbar das offensichtliche »Paradoxon, daß der Mensch fähig [ist], eine Welt zu produzieren, die er dann anders denn als ein menschliches Produkt erlebt«.62 Im Rahmen der Wissenssoziologie kommt es darauf an, den Gedanken festzuhalten, daß der Mensch sich selbst und die Gesellschaft, in der er lebt, produziert und sich selbst wie auch die Gesellschaft als Produkt erleben kann (und es dennoch zumeist nicht tut), um die Entstehung von Wissen begreifen zu können. Nach Berger-Luckmanns Auffassung steht Wissen im Mittelpunkt dieser Dialektik von Produktion und Erlebnis í und zwar ein Wissen, das diese Welt vornehmlich durch Sprache objektiviert. Nur auf dem Weg sprachlicher Vermittlung wird etwas zum Objekt des Wissens, das innerhalb eines sozialen Miteinanders den Anspruch auf Wahrheit erheben kann. So können wir sagen, daß unser Wissen über die Gesellschaft in einem doppelten Sinne des Wortes Verwirklichung 59 Helmuth Plessner: »Abwandlungen des Ideologiebegriffs« [1931], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker, Bd. 10, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 60. 60 P. L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 51. 61 Ebd., S. 51 sowie dazu auch abschließend S. 195: »Der Mensch ist biologisch bestimmt, eine Welt zu konstruieren und mit anderen zu bewohnen. Diese Welt wird ihm zur dominierenden und definitiven Wirklichkeit. Ihre Grenzen sind von der Natur gesetzt. Hat er sie jedoch erst einmal konstruiert, so wirkt sie zurück auf die Natur. In der Dialektik zwischen Natur und gesellschaftlich konstruierter Welt wird noch der menschliche Organismus umgemodelt. In dieser Dialektik produziert der Mensch Wirklichkeit – und sich selbst.« 62 Ebd., S. 65.
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genannt werden kann: Es handelt sich nämlich gleichermaßen um das Erfassen einer objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und um das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit. Dieser Produktionsprozeß wird von Berger-Luckmann sowohl als Prozeß der Objektivation (Dilthey) als auch der Verdinglichung (Marx) begriffen; Verdinglichung ist dabei lediglich als äußerste Konsequenz der Objektivation anzusehen, insofern die objektivierte Welt als »außermenschlich, als nicht humanisierbare, starre Faktizität fixiert wird. [...] Das bedeutet: der Mensch ist paradoxerweise dazu fähig, eine Wirklichkeit hervorzubringen, die ihn verleugnet.«63 Das entspricht Max Webers Analyse vom siegreichen Kapitalismus, der auf mechanische Grundlage gestellt und als zwanghafte Regulierung der Lebensführung empfunden wird.64 Von Weber können wir eher als von Marx lernen, welches Ausmaß »Verdinglichung« als Muster der Vergesellschaftung hat: sie verleiht den Institutionen eine Geltung, die sie unabhängig vom Interesse der Gesellschaftsglieder macht (z.B. die Institutionalisierung des Rechts) und sie ermöglicht wiederum durch Internalisierung die Entstehung symbolischer Sinnwelten, die zu abgeschlossenen Welten werden und die Teilhabe jedes Einzelnen erzwingen können (z.B. die Waren- und Konsumwelt des Spätkapitalismus).65 BergerLuckmann heben hervor, daß symbolische Sinnwelten Produktionen gesellschaftlichen Handelns sind und einen geschichtlichen Index haben; gleichwohl sind sie in der anthropologischen Verfaßtheit angelegt: »Die Ursprünge einer symbolischen Sinnwelt liegen in der Verfassung des Menschen begründet. Wenn der Mensch in seiner Gesellschaft ein Welterbauer ist, so ist er das nur auf Grund seiner konstitutionellen Weltoffenheit, in der bereits der Konflikt zwischen Ordnung und Chaos angelegt ist. Menschliche Existenz ist ab initio eine ständige Externalisierung. Indem der Mensch sich entäußert, errichtet er die Welt, in die hinein er sich entäußert. Im Prozeß seiner Selbstentäußerung projiziert er seinen subjektiv gemeinten 63 Ebd., S. 95f. 64 Vgl. M. Weber: »Zwischenbetrachtung«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, hg. v. Marianne Weber, Tübingen: Mohr 1920, S. 204: »Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze [der religiösen Askese] nicht mehr. Auch die rosige Stimmung der lachenden Erbin: der Aufklärung, scheint endgültig im Verbleichen, und als Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte geht der Gedanke der ›Berufspflicht‹ in unserem Leben um. Wo die ›Berufserfüllung‹ nicht direkt zu den höchsten geistigen Kulturwerten in Beziehung gesetzt werden kann í oder wo nicht umgekehrt: sie auch subjektiv einfach als ökonomischer Zwang empfunden werden muß í, da verzichtet der Einzelne heute meist auf ihre Ausdeutung überhaupt. [...] Niemand weiß noch, [...] ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber [...] mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt.« 65 Vgl. P. L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 103: »Die symbolische Sinnwelt ist als die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen.«
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Sinn auf die Wirklichkeit. Symbolische Sinnwelten, die den Anspruch erheben, daß alle Wirklichkeit im Sinn des Menschen sinnhaft sei, und den ganzen Kosmos zum Zeugen für die Gültigkeit der menschlichen Existenz anrufen, lassen ahnen, wie weit die Projektionen des Menschen reichen.«66
Die Macht der symbolischen Projektionen und die Tendenz zur Abgeschlossenheit einer symbolischen Sinnwelt, verweist auf den Punkt, an dem Wissen in Ideologie umkippt. Ideologien markieren Monopolsituationen, in denen der Prozeß sinnhaften Verstehens der Welt abgeschlossen ist. Im Gegensatz zu Scheler, Mannheim und seinen Nachfolgern ist dieses Faktum aber für Berger-Luckmann nicht einer fundamentalen Seinsverbundenheit oder Herkunftsgebundenheit des Wissens geschuldet. Vielmehr orientieren sie sich am Plessnerschen Diktum »anders sehen heißt anders sein« und befragen lediglich die gesellschaftlichen (nicht ontologischen) Voraussetzungen dieser Fähigkeit, die Welt anders zu sehen. Wissen ist ihrer Auffassung nach grundsätzlich ablösbar von seinen Voraussetzungen; aber sie sind nicht vollständig aufzulösen: »Juden werden beispielsweise vielleicht Soziologen, weil sie als Juden in der Gesellschaft ihre besonderen Probleme haben. Wenn sie aber einmal in die Sinnwelt der soziologischen Sprachregelung eingeweiht sind, so werden sie die Gesellschaft nicht mehr nur in jüdischer Perspektive sehen.«67
In der vagen Formulierung des »nicht mehr nur« steckt ein Hinweis, der es abschließend ermöglicht, die hier vorgeführte Skizze von der Entstehung und vom Fortschreiten einer Wissenschaftsdisziplin auf ihren existentiellen, lebensgeschichtlichen Hintergrund zu befragen.
VI. Die pluralistische Situation. Ein jüdischer Beitrag zum Verständnis moderner Kultur Zweifelsohne hängt die Befähigung zur Distanznahme und zum anders sehen an den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die den Vertretern der Wissenssoziologie, insofern sie als Juden angesehen wurden, ebendiese Distanznahme abverlangte. Der Ausschluß von der Teilhabe an einer einheitlichen Sinnwelt mag den Blick auf die Entstehungsbedingungen symbolischer Sinnwelten, vor allem in ihrer Erstarrung als Ideologien, schärfen. Spätestens unter den Bedingungen der erzwungenen Emigration wird der Forschungsimpuls zum Kriterium der Daseins66 Ebd., S. 111f. Vgl. auch für den Hintergrund dieser These Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2 [1925], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. 67 P. L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 92.
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bewältigung. Die Ablösung der Wissenskonstitution von einer voraus liegenden, unverfügbaren Seinsbasis wird gleichermaßen zur lebensgeschichtlichen Grunderfahrung und zur theoretischen Prämisse. Die Frage Berger-Luckmanns, wie weit die Ablösung des Wissens von seiner existentiellen Herkunft geht, fällt auf ihre eigene Disziplin, die Wissenssoziologie zurück, bleibt aber nicht auf diese beschränkt. Am Beispiel der Wissenssoziologen, Kulturphilosophen, Kulturhistoriker und Philologen, die ihr Herkunftsland verlassen mußten, weil ihnen als jüdischen Mitbürgern die Lebensgrundlage entzogen wurde, läßt sich zeigen, daß die existentielle Situation zur Kritik am Bestehenden í den Monopolsituationen des Wissens, den Ideologien und der institutionalisierten gesellschaftlichen Praxis í auffordert. Die Kunst des Anders-Sehens mag als Gabe und Fluch zugleich empfunden werden í dies hängt damit zusammen, daß sie der »Kunst des Mißtrauens« (Nietzsche) verwandt bleibt.68 Was von der Kunst des Anders-Sehens im Gewand wissenschaftlichen Forschens nicht allein dem lebensgeschichtlichen Kontext zugehört, sondern diesen übersteigt, das ist im wesentlichen ein Plädoyer für Pluralität der Denkmuster und Lebensformen. Schon Max Scheler hat darauf hingewiesen, daß trotz der í von ihm vertretenen í Abhängigkeit der Sphäre menschlichen Geistes von den sog. Realfaktoren dennoch »Geist von vornherein nur in einer konkreten Vielheit von unendlich mannigfachen Gruppen und Kulturen [existiert]. Von irgendeiner faktischen ›Einheit der Menschennatur‹ als Voraussetzung der Historie und Soziologie zu reden ist also unnütz, ja verderblich.«69 Wird nun der Mensch als ein weltoffenes Wesen und seine geistige Situation wie auch die gesellschaftliche Wirklichkeit als pluralistisch begriffen, dann wirkt diese Sicht auf die Dinge zurück und zwar wirklichkeitsbildend.70 Dies ist ein bedeutender Beitrag deutsch-jüdischer Gelehrsamkeit: Der Geist der Moderne ist, trotz aller Anfechtungen im zurückliegenden Jahrhundert, als irreduzible Vielheit zu begreifen. So gesehen ist die moderne Kultur ein unvorgreifliches Experiment, insofern der Verlust von Herkunft, Tradition und Seinsbasis von uns als Chance begriffen wird, uns in einem immer neu zu konstituierenden Sinnhorizont unseres Lebens einzurichten. »It is symbolic thought which overcomes the natural inertia of man and endows him with a new ability, the ability constantly to reshape his human universe.«71
68 Vgl. für den geistesgeschichtlichen Hintergrund Helmuth Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. 69 M. Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens, S. 25. 70 Vgl. P. L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 134f. 71 E. Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture [1944], New Haven, London: Yale University Press 1994, S. 62.
MARTIN KAGEL
Heillose Historie – Sinn der Geschichte und geschichtlicher Sinn in Autobiographie und Geschichtstheorie Karl Löwiths
Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen anhalten wollte. Karl Löwith
I. Man sollte meinen, daß eine Studie zur Philosophie der Geschichte, die im Jahr 1949 von einem deutsch-jüdischen Emigranten verfaßt im amerikanischen Ausland erscheint und den Titel Meaning in History trägt, Geschichte als Sinnträger radikal in Frage stellt. Noch ist zwar der Holocaust kein Begriff und der gänzliche Umfang faschistischer Greuel nicht erschlossen, aber man weiß genug, um neben der Verzweiflung auch Gefühle des Abscheus und der Abkehr zu entwickeln, die selbstredend schon allein das Ausmaß des Krieges hätte hervorrufen können. Den Sinn von Geschichte in diesem Kontext zu thematisieren, dürfte dann nur heißen, ihn moralisch zu verwerfen, zumal dort, wo Auschwitz als historische Zäsur begriffen wird, an der moderne Geschichte und Geschichtsphilosophie sich messen lassen muß. Nicht so bei Karl Löwith, dessen Meaning in History den Leser verblüfft durch die Abwesenheit moralischer Entrüstung und die Nüchternheit, mit der der Autor die historischen Erscheinungsformen geschichtsphilosophischen Denkens untersucht. Kaum eine Anspielung gibt es darin auf die weltgeschichtlichen Ereignisse der Gegenwart, zu deren Zeuge und Opfer Löwith gezwungenermaßen wurde, und wenngleich der Autor den Sinn von Geschichte letztendlich doch auch selbst radikal in Frage stellt, so tut er es nicht mit Blick auf die unmittelbare Gegenwart, sondern über die distanzierte Kritik der Voraussetzungen der
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bürgerlichen Geschichtsphilosophie, wie sie sich seit dem späten 18. Jahrhundert entwickelt hat. Vergleicht man Löwiths Studie etwa mit Theodor Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung, ein Vergleich, der sich durch ihre zeitliche Nähe und durch das ihnen gemeinsame allgemeine Sujet anbietet, so bekommt man den Eindruck, daß Löwith seine Kritik der Geschichtsphilosophie gleichsam mit abgewandtem Gesicht betreibt, statt sich, wie die Frankfurter Soziologen, immer wieder zum Hinsehen zu zwingen. Sätze von dringlicher Aktualität wie der, daß das aufgeklärte Denken »nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet«, sucht man bei Löwith vergeblich.1 Man ginge also fehl, die zeitgeschichtliche Relevanz seiner Studie in der moralisch oder ideologiekritisch orientierten Frage nach dem Sinn der Geschichte zu suchen. Vermittelt über den Entwurf eines geschichtlichen Sinns liegt diese vielmehr in der Kritik eines eschatologischen Geschichtsbewußtseins, welches, so würde ich es hier pointiert formulieren, in den Augen des Philosophen so oder so irreführend ist. Denn seine Frage nach den Ursprüngen und Verwandlungen geschichtsphilosophischen Denkens ist der moralischen gleichsam vorgelagert, und es ist in diesem Sinne, aus der Perspektive der kritischen Auseinandersetzung mit der heilsgeschichtlichen Ausrichtung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie, daß sich das jüngste Leiden nicht von früherem unterscheidet.2 Karl Löwith war kein Kulturhistoriker wie Hans Baron oder Ernst Kantorowicz und er entbehrte insofern der Möglichkeit der kulturgeschichtlichen Projektion, durch die sich die Erfahrung des Exils, der Verlust der intellektuellen und konkreten Heimat, bewältigen ließe.3 Freilich wäre er einem solchen retrospektiven Humanismus gegenüber ohnehin abgeneigt gewesen, da dieser strukturell eben jenem teleologischen Denken gehorcht, welches Löwith in seinen eigenen Arbeiten kritisch verwirft. Daß der lebensgeschichtliche Bruch, den die Machtergreifung der Nationalsozialisten für Löwith bedeutete, keinen analogen Bruch in seinem Denken ausgelöst hat, ist gleichwohl bemerkenswert. Statt durch eine Kehre zeichnet sich dieses – Jürgen Habermas hat darauf hingewiesen – gerade durch seine Kontinuität aus. Habermas vermutet, bei allem Respekt für den Gelehrten Löwith, daß die Ursache dafür in der frühen »privatistischen Abkehr von der politischen Welt« lag.4 Sie ermöglichte Löwith die Kontinuität des Philoso1 Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M.: Fischer 1984, S. 3. 2 Vgl. Wolfgang Klaghofer-Treitler: »Skepsis – Resignation – Frage. Zum 100. Geburtstag Karl Löwiths«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 44 (1997), S. 364. 3 Vgl. Kay Schiller: Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2000, S. 15f. 4 Jürgen Habermas: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 138.
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phierens auch durch die Zeit der Emigration hindurch, wobei Kontinuität hier das konsequente Weiterverfolgen des einmal Begonnenen in zyklischer Bewegung bezeichnet, nicht das linear sich verlängernde Immergleiche. »Als ich die kunstvolle Autobiographie des Gelehrten Löwith [...] las, war ich von der stillen Logik dieses philosophischen Lebenslaufs fasziniert: wie war es möglich, daß das äußerlich von politischen Katastrophen so umgetriebene Lebensschicksal eines über Rom nach Tokio, vom Osten nach Westen [...] Emigrierten gleichwohl innerlich nicht nur die Identität der Person, nicht nur die Kontinuität eines Philosophierens überhaupt ermöglicht hat, daß in einer solchen Schale frühe Keime zur Frucht des entfalteten Gedankens – in einer fast zyklisch reifenden Evolution – ausgetragen worden sind?«5
Im Bezug auf die Frage nach der Reflexion lebensgeschichtlicher Ereignisse im theoretischem Werk zieht die Geschlossenheit des Denkens bei Löwith wenigstens eine bedeutende Konsequenz nach sich: durch sie wird die Annahme einer mehr oder minder direkten Übertragung aus dem biographischen in den theoretischen Bereich grundsätzlich zur Debatte gestellt. Denn im Falle Löwiths scheint es fruchtlos, dem Bruch im Denken nachzufragen oder zu erkunden, wo eigenes Leiden philosophisch verhüllt formuliert wurde. Die existentielle Betroffenheit mag am Anfang seiner Überlegungen gestanden haben, doch Löwiths philosophische Skepsis auf lebensgeschichtliche Widersprüche oder das politische Umfeld zu reduzieren, hieße, den Philosophen zu unterschätzen und die deutschen Faschisten zu überschätzen.6 Zumindest theoretisch beugt sich der Philosoph dem Tatsächlichen nicht. Das Gegenteil ist der Fall. An die Stelle des Wechselspiels einer bequemen Dialektik von Welt und Ich, durch die das Verhältnis von Biographie und Theorie bestimmt wäre, tritt bei Löwith der Primat der philosophischen Haltung. So drängt sich, angesichts der Tatsache, daß der Autor die eigene, insbesondere über Nietzsche und Heidegger vermittelte philosophische Entwicklung auch in den Jahren nach 1933 konsequent weiterverfolgte, eine neue Frage auf, die nämlich nach der Kontinuität seines Philosophierens und der Art und Weise, in der er sich jener Destruktion der Werte stellte, die er selbst avancierte und zu deren Opfern er sich zugleich zählen mußte.7 Nietzsche, bemerkt Löwith diesbezüglich an einer Stelle, »ist und bleibt ein Kompendium der deutschen Widervernunft oder des deutschen Geistes. Ein Abgrund trennt ihn von seinen gewissenlosen Verkündern, und doch hat er ihnen den Weg bereitet, den er selber nicht ging. Auch ich kann nicht leugnen, daß der Wahlspruch, den ich in mein Kriegstagebuch schrieb: ›navigare necesse est, vivere non
5 Ebd. 6 Vgl. Reinhart Koselleck: »Vorwort«, in: Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Stuttgart: Metzler 1986, S. xiii. 7 Vgl. Wiebrecht Ries: Karl Löwith, Stuttgart: Metzler 1992, S. 19f.
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est‹, auf vielen Umwegen und doch direkt von Nietzsche zu Goebbels’ heroischen Phrasen führt.«8
Es spricht für die persönliche und intellektuelle Integrität Löwiths, daß er sich diesem Widerspruch mit derselben Konsequenz stellte, mit der er Nietzsches und Heideggers Philosophie in sein eigenes Denken integrierte.
II. Mit Karl Löwiths autobiographischem Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 liegt der Forschung ein wohl einmaliges Dokument der Lebensgeschichte eines deutsch-jüdischen Intellektuellen zwischen den beiden Weltkriegen vor. Der Lebensabriß, verfaßt im japanischen Exil als Antwort auf ein Preisausschreiben der Harvard Universität und erstmals 1986 veröffentlicht, umfaßt die Jahre zwischen 1914 und 1939, was insofern bedeutsam ist, als Löwith gerade in der Zwischenkriegszeit philosophische Festlegungen vornahm, die zu den Grundpfeilern seines späteren Denkens werden sollten. Was den Bericht so außerordentlich faszinierend macht, ist neben den klugen zeitgeschichtlichen Reflexionen und der stilistisch bestechenden Präzision der Darstellung, der Gewinn an Authentizität dadurch, daß Löwith seinen Bericht gut fünf Jahre vor dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft verfaßt hat. Ähnlich wie Sebastian Haffners jüngst posthum veröffentlichte Aufzeichnungen, die wie Löwiths mit dem Ersten Weltkrieg beginnen und bis in die ersten Jahre der Emigration reichen, sind seine Beobachtungen und Reflexionen noch von der Aktualität der Ereignisse gezeichnet, deren Wärme sie gleichsam noch durchdringt.9 Es handelt sich bei Löwiths Bericht demnach »nicht um Memoiren im Rückblick«, sondern um »ein Innehalten, das noch von der unmittelbaren Betroffenheit zeugt, aus der sich Löwith mit der unerbittlichen Konsequenz seines Denkens zu befreien sucht«.10 Der Autor selbst bekennt sich in seinem Vorwort vom Januar 1940 ausdrücklich zu dieser Nähe, in welcher die Ereignisse noch lebhaft genug erschienen, »um die beteiligt gewesenen Menschen in einer Weise charakterisieren zu können, welche zeigt, daß sie einen auch heute noch, mehr als man wünschen kann, angehen«.11 Löwiths Bericht ist kein bloß chronologischer Abriß seiner Lebensgeschichte dieser Jahre, sondern ein durchaus kunstvoll gearbeiteter, gemischter Text, der Sachliches und Biographisches miteinander verflicht. Da der Autor selten über 8
K. Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart: Metzler 1986, S. 5. [Zitate aus diesem Text werden im weiteren mit Seitenangabe im Text angegeben.] 9 Vgl. Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, München: dtv 2002. 10 R. Koselleck: Vorwort, S. ix. 11 Ebd., S. xvi.
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seine Gefühle spricht, gewinnt man den Eindruck, daß ihm auch die eigene Biographie wesentlich Sache im Sinne des Reflexionsanlasses ist. So gesehen sind Löwiths autobiographische Aufzeichnungen zugleich Darstellung seines eigenen Geschichtsverständnisses, ein »Begleittext zur Auflösung der Geschichtsphilosophie«, insofern diese das Individuum als rein geschichtliches begreift und dessen Entwicklung als Entfaltung des Selbst in der Geschichte.12 Das genau bezweifelt Löwith und bringt diesen Zweifel, indem er seine Lebensgeschichte als Raum unterschiedlicher Beziehungen anstatt als bloße Abfolge kausaler Zusammenhänge vor dem Leser entfaltet, sinnfällig zur Anschauung. Der eigenen Biographie auf diese Weise systematisch zu begegnen, scheint die treibende Kraft der Aufzeichnungen darzustellen, und so kommt es auch, daß Löwith sich in den drei Zeitabschnitten, in die der Text unterteilt ist – die Jahre 1914-33, 1934-36 und 1936-39 – zu bestimmten Themen mehrfach äußert, die Chronologie nach Belieben aufbricht oder, wie im Falle seines Studiums bei Heidegger, einen längeren Themenkomplex ausführlicher von verschiedenen Seiten aus darstellt. Genauer betrachtet, scheint von allen strukturbildenden Formen, die in den Text eingegangen sind, die zeitlich lineare am unbedeutendsten. Primär organisiert der Autor seine Texte um bestimmte Orte und Personen herum, die Anlaß oder Gegenstand des Schreibens werden. Geschichte, auch die eigene, findet für Löwith wesentlich in räumlicher Dimension statt.13 Die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten wird vor allem im ersten Abschnitt über Löwiths intellektuellen Werdegang deutlich: Friedrich Nietzsche, Stefan George, Oswald Spengler, Karl Barth, Edmund Husserl und Martin Heidegger werden als positive oder negative Orientierungsmarken sämtlich bereits in den Kapitelüberschriften erwähnt. Dazu treten im Text weitere Antagonisten, Lehrer oder Weggefährten, die als Eck- oder Mittelpunkte den Bericht strukturieren. Über dem ganzen Lebensabschnitt liegt die Stimmung des Aufbruchs, der getragen wird von der intellektuellen Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Strömungen der Philosophie, wobei Löwith insbesondere den Einfluß Heideggers auf sein Denken herausstellt: »Er ist mein eigentlicher Lehrer geworden, dem ich meine geistige Entwicklung verdanke.« (S. 27) Was den jungen Karl Löwith und seine Kommilitonen an Heidegger faszinierte, war die Radikalität und Dringlichkeit, mit der seine Existentialphilosophie auf die Gegenwart zu reagieren schien. Heideggers Lehrerfolg beruhte dabei gerade nicht auf einem ausdefinierten System; was die Studenten bewegte, war 12 Vgl. Michael Jaeger: Autobiographie und Geschichte. Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Stuttgart,Weimar: Metzler 1995, S. 12. Mit Jaeger kann man behaupten, daß es sich bei Löwiths Aufzeichnungen um die Konkretisierung seiner Kritik an der spekulativen Geschichtsphilosophie handelt; vgl. ebd., S. 136 u. 141f. 13 Wiebrecht Ries spricht bezeichnenderweise von »der bleibenden Raumfigur des antiken Kosmos«, die bei Löwith dem Denken über Geschichte als »teleologisch gerichtetem Zeitablauf« gegenübersteht. Vgl. W. Ries: Karl Löwith, S. 8.
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neben der geheimnisumwobenen Persönlichkeit des Dozenten »das inhaltlich Unbestimmte und bloß Appellierende seines philosophischen Wollens, seine geistige Intensität und Konzentration auf ›das Eine, was not tut‹«. (S. 29) Der bewußt vage gehaltene Charakter Heideggerschen Philosophierens – der »energische Leerlauf der Existenzkategorien« – begründete indessen nicht nur die enorme Anziehungskraft des Philosophen, er offenbarte zugleich die politische Anfälligkeit seines Denkens dort, wo sich dieses mühelos auf die »allgemeine Bewegung der deutschen Existenz« (S. 30) übertragen ließ. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung, so Löwith, erhielten Heideggers Begriffe eine ganz eigene, spezifisch deutsche Bedeutung. Immer wiederkehrende Worte wie »Zucht und Zwingen [...], hart, unerbittlich und streng, straff und scharf [...]; standhalten und auf sich selber stehen, sich einsetzen und der Gefahr aussetzen; Umbruch, Aufbruch und Einbruch« (S. 36) wurden hier zum manifesten Ausweis der Verquickung von Philosophie und politischer Ideologie.14 Heideggers politisch-philosophische Hinwendung zum Nationalsozialismus muß für Löwith, den einzigen Freiburger Habilitanden Heideggers, ungemein enttäuschend gewesen sein, zumal dieser die persönlichen Konsequenzen der Judenverfolgung im Dritten Reich offenbar ohne größere Gewissensbisse in Kauf nahm. Umso bemerkenswerter ist der Respekt und die Fairnis, mit der Löwith Heidegger in seinem Bericht begegnet. Wohl gibt es in der Charakterisierung seines ehemaligen Lehrers ausgesprochen kritische Passagen, aber keine Häme und selbst im Zeichen der Verletztheit keine Bemerkung, die auf die persönliche Herabsetzung Heideggers zielte. Auch die letzte Begegnung der beiden 1936 in Italien, in deren Verlauf Löwith Heidegger auf die Verbindung von Daseinsphilosophie und Nationalsozialismus anspricht, ist geprägt von dieser kritischen Distanz. Das Gespräch auf eine Kontroverse in der Neuen Züricher Zeitung lenkend, bemerkt Löwith, daß Heideggers »Parteinahme für den Nationalsozialismus« seiner Auffassung nach im Wesen seiner Philosophie läge. Heidegger, der während der gesamten Begegnung ostentativ sein Parteiabzeichen trug, bejaht dieses und fügt hinzu, »daß sein Begriff von der ›Geschichtlichkeit‹ die Grundlage für seinen politischen ›Einsatz‹ sei«. (S. 57) Dem ehemaligen Lehrer systematisch gegenüberstehend positioniert Löwith in seinem Bericht Max Weber, dessen berühmten Münchner Vortrag »Wissenschaft als Beruf« er 1919 mitinitiiert hatte. Die Beschreibung Webers nimmt zwar erheblich weniger Raum ein als die Heideggers, besitzt aber dieselbe Intensität, und das mit gutem Grund. Denn in dem von Max Weber vorgebrachten sich Bescheiden auf »die Forderung des Tages« sah Löwith nicht erst im Nachhinein eine Alternative zur später von Heidegger betriebenen Politisierung der Philoso14 Vgl. Richard Wolin: Heidegger’s Children: Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse, Princeton: Princeton University Press 2001, S. 87: »As the political biographies of Heidegger by Ott and Farias have shown, many of Löwith’s suppositions concerning the affinities between Heidegger’s philosophy and the Nazi movement have become a matter of historical record.«
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phie.15 Die Formulierung von der Forderung des Tages, mit der Weber Wissenschaft in den Dienst »der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge«16 zu stellen beabsichtigte, mag manchem seiner Zuhörer als unnötige Selbstbeschränkung erschienen sein; auf Löwith jedoch wirkte Webers »tiefernste Humanität« und seine Forderung nach der Trennung von Wissenschaft und Politik weitaus überzeugender als jene philosophisch-politischen Zukunftsvisionen, die im Umkreis der Münchner Räterepublik das Tagesgeschehen bestimmten (S. 17f.). Nach den zahllosen Revolutionsreden der literarischen Aktivisten, so Löwith, sei Webers Wort wie eine Erlösung gewesen: »Die nächstliegende Forderung war für mich der Beginn des akademischen Studiums. Der Kampf der politischen Parteien konnte mich nicht interessieren, denn es wurde von links wie von rechts um Dinge gestritten, die mich selber nicht angingen und mich in meiner Entwicklung nur irritierten.« (S. 18)
Daß Löwith sich von der Tagespolitik ab- und dem philosophischen Studium zuwandte, sollte indessen nicht als Zeichen von Apathie mißverstanden werden. Eher zeichnet sich darin eine Grundfigur seines Denkens ab: die lebenslange Skepsis des Philosophen gegenüber umfassenden Erklärungsmodellen historischer oder politischer Natur.17 Anders als jene Zeitgenossen, die sich aus kleinbürgerlichem Ressentiment von den politischen Debatten abkehrten, übte Löwith Ideologiekritik, wenn er das Politische zur sekundären Erscheinung degradierte. Die Anziehungskraft von Max Webers neusachlicher Trennung von Politik und Wissenschaft und das damit verbundene »Akzeptieren der harten Tatsachenwelt« bestand für Löwith daher auch weniger in der Konstitution einer kalten persona, die es im Gegenzug als ihre Aufgabe begreifen würde, »den Horizont humanistischer Prinzipien wiederherzustellen«, als in der Behauptung einer prinzipiellen Skepsis gegenüber der systematischen Unterwerfung des Menschen.18 Philosophisch handelte es sich um eine Bewegung hin zum Ideal der »freien Persönlichkeit«, wie es Löwith gut ein Jahrzehnt später anhand seiner Studien über Jacob Burckhardt entwickelte. Frei bedeutet hier die »negative Freiheit der Unabhängigkeit von öffentlichen Bindungen«, dem begrifflich das »im weitesten Sinne politisch-gebundene Individuum« gegenübersteht. »Die freie Persönlichkeit«, so Löwith über Burckhardt, »ist wesentlich apolitisches Individuum.«19 Zuge15 Vgl. Max Weber: »Wissenschaft als Beruf«, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 3. Aufl. 1968, S. 613. 16 Ebd., S. 609. 17 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt/M.: Klostermann 1977, S. 237. 18 Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 65 u. 268. 19 K. Löwith: »Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie«, in: Sämtliche Schriften, Bd 1, hg. v. Klaus Stichweh u. Marc B. De Launay, Stuttgart: Metzler 1984, S. 11.
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gebenermaßen äußert sich in Löwiths Abwendung vom politischen Tagesgeschehen auch das Bedürfnis nach sozialer Distanz, doch ist dieses gekoppelt an den geschichtsphilosophisch gehärteten Begriff eines Individuums, das sich nicht an der nervösen Abfolge bloßen Wandels berauscht, sondern das politische Ereignis am Maßstab geschichtlicher Kontinuität mißt und damit seine eigene Politik verfolgt.
III. Löwiths wichtigste geschichtstheoretische Studie der dreißiger Jahre neben der Monographie über Jacob Burckhardt ist seine im italienischen Exil entstandene und 1935 im Berliner Verlag Die Runde veröffentlichte Untersuchung über Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen.20 Die Studie, bahnbrechend zur Zeit ihres Erscheinens, wenngleich auf Grund der Zeitumstände nicht sofort angemessen rezipiert, zählt heute zu den klassischen Werken der frühen Nietzscheforschung. Löwith zufolge stellte seine Interpretation einen ersten Versuch dar, »Nietzsches Aphorismen im verborgenen Ganzen ihrer eigentümlichen Problematik nach ihrem philosophischen Grundriß zu begreifen«, das heißt, ihnen überhaupt erst systematischen Charakter zuzugestehen und zugleich die geschichtsphilosophische Grundlegung von Nietzsches Denkens offenzulegen.21 Letztere lag, so die These Löwiths, in Nietzsches Überwindung des Nihilismus im Theorem der ewigen Wiederkehr des Gleichen: »Was Nietzsche [...] vor sich sah, [...] war die kulturlos gewordene Welt eines ziellos gewordenen Daseins, unverbindlich hineingestellt in eine außer-menschliche KräfteWelt. Diesen ›Frieden der Auflösung‹, in den ›alle geistigen Mächte der alten, gebundenen Welt‹ eingegangen waren, radikalisierte er bis zu einem entschiedenen Nihilismus, um in dessen Umkehr wieder zurückzufinden zur Selbstgewißheit der immer schon dagewesenen und immer noch werdenen Welt.«22
Zwar begreift Löwith diese Überwindung in Nietzsches Philosophie selbst als widersprüchlich, da sie von ihm anthropologisch als »ethische Aufgabe des wollenden Menschen«, kosmologisch hingegen als »ein von Natur aus geschehendes Vernichten und Wiedergebären«, unabhängig von den Entwürfen des Menschen, konzipiert wurde, doch gelten seine philosophischen Sympathien dessen ungeachtet Nietzsches radikaler Ablehnung linearer historischer Modelle. Mit allen 20 In späteren Ausgaben Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Zu den Umständen der Publikation vgl. J. Harvey Lomax: »Translator’s Introduction«, in: K. Löwith: Nietzsche’s Philosophy of the Eternal Recurrence of the Same, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1997, S. xx. 21 Vgl. K. Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin: Die Runde 1935, S. 10. 22 Ebd., S. 135.
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Einschränkungen, die Löwith gegen Nietzsche anbringe, bemerkt Hans-Georg Gadamer, sei dieser am Ende doch »eine Art fester Standort geworden, ein Zeuge gegen das, was er [Löwith] den Historismus nennt«.23 Der teleologischen Geschichtsphilosophie gegenüber ist Nietzsches Wiederkehr des Gleichen »weder eine natürliche noch eine gespenstische Wiederkehr [...], sondern der sich immer wieder erneuernde Wille zur eigenen Wiedergeburt« und damit ungleich erfüllter als der leere Fortschritt nach vorgeprägtem Muster.24 Es wäre falsch, Nietzsches Betonung der Wiederkehr mit der Ablehnung von Geschichtlichkeit überhaupt gleichzusetzen. Den bloßen Verlauf durch das Bewußtsein beständiger Erneuerung ersetzend, stellt sie vielmehr ein entschiedenes Bekenntnis zur umfassenden Aktualität geschichtlicher Existenz dar, ohne daß diese in retrospektiver Projektion aufgelöst werden müßte. Den »Legionären des Augenblicks«, die im historischen Verlauf allein die Akkumulation von Ereignissen sehen, stellt Nietzsche die äußerste Anspannung der Gegenwart entgegen, durch die es gelingt zu erkennen, »was in dem Vergangenen wissens- und bewahrungswürdig und groß ist«.25 Dort, wo Gegenwart nicht als Endpunkt konstruiert wird, sondern als ein auf die Vergangenheit bezogenes Neues, ist es möglich, das Historische sowohl als ein sich Wiederholendes als auch als Folge von Ursprüngen zu begreifen. Was in der Nietzsche-Studie angedeutet wurde, findet sich gut ein Jahrzehnt später in Löwiths philosophiegeschichtlicher tour de force Meaning in History vollständig ausformuliert wieder. Löwiths Skepsis gegenüber linearen Modellen historischer Entwicklung äußert sich hier in der dezidierten Kritik an der eschatologischen Sinnprojektion aufgeklärter Geschichtstheorien. Zwar ist historische Entwicklung in Löwiths Sicht nicht notwendig sinnlos, der Versuch, geschichtliche Ereignisse in ein Heilsgeschehen einzuordnen, stellt indessen eine trügerische Sinnstiftung seitens einzelner, politischer oder religiöser Gruppen dar. Im Grunde, erläutert Löwith, reagierten solche Konstruktionen lediglich auf die existentielle Leidenserfahrung der Menschen, die erst als Vorstufe der Erlösung begriffen sinnfällig in ein hoffnungsfrohes Bild der Menschheitsentwicklung eingeordnet werden kann. Heilsgeschichte transzendiert die Not der Gegenwart und verleiht dem Leiden des Einzelnen Richtung und Bedeutung: »Of course, individuals as well as whole nations can be hypnotized into the belief that God or some world-process intends them to achieve this or that and to survive while others are going under, but there is always something pathetic, if not ludicrous, in be-
23 H.-G. Gadamer: Philosophische Lehrjahre, S. 236. 24 K. Löwith: Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History, Chicago: University of Chicago Press 1949, S. 148. 25 Friedrich Nietzsche: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 1, hg. v. Karl Schlechta, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 250 u. 263ff.
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liefs of this kind. To the critical mind, neither a providential design nor a natural law of progressive development is discernible in the tragic human comedy of all times.«26
Von Augustinus über Hegel bis zu Comte und Proudhon sieht Löwith eine eschatologische Geschichtsphilosophie am Werk, die entweder rein theologischen Charakter besitzt oder der dieser doch unterliegt.27 Zwar prägt sich der heilsgeschichtliche Charakter je nach Perspektive und Ansatz bei den von ihm diskutierten Beispielen unterschiedlich aus, für alle jedoch gilt das doppelte Prinzip der Ausrichtung auf die Zukunft als zeitlichen Horizont und der Vorstellung eines linear auf Erlösung oder die Erfüllung eines säkularen Glücksversprechens hin sich bewegenden Geschichtsverlaufs. Ersetzt wird im Zuge einer allgemeinen Säkularisierung an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert lediglich der Begriff der Vorsehung durch den des Fortschritts, die grundsätzliche Ausrichtung jedoch ändert sich nicht.28 Noch dem Marxismus attestiert Löwith in diesem Sinne eine geschichtsphilosophische Metaphysik, die nichts anderes als verlagerte Heilsgeschichte sei, nämlich »historical messianism«.29 Was der moderne Mensch als natürliche Unterteilung des geschichtlichen Zeitverlaufs begreift, die kausale Linearität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ist Löwith zufolge das Resultat einer epistemologischen Transformation der neuzeitlichen Geschichtsmetaphysik auf der Basis jüdisch-christlicher Eschatologie. Es ist, mit anderen Worten, eine Konstruktion, die nicht nur selber historisch ist, sondern auch philosophisch und anthropologisch fatal insofern, als sie den Menschen in das Korsett einer historistischen, das heißt bei Löwith rein geschichtlichen Existenz zwängt.30 Ähnlich wie in der Nietzsche-Studie stellt Löwith der von ihm kritisierten eschatologischen Geschichtsphilosophie kein eigenes Modell gegenüber, er favorisiert jedoch deutlich eine Theorie, die man im Kern als räumliche verstehen kann, Giambattista Vicos (1668-1744) zyklischen Fortschrittsbegriff, der gleichsam eine Vorstufe zu Nietzsches ewiger Wiederkehr des Gleichen darzustellen scheint. Vico verbindet Natur- und Menschengeschichte in theologischer Perspektive, indem er dem sich wiederholenden Naturkreislauf Bedeutung im Sinne der göttlichen Vorsehung zuschreibt.
26 K. Löwith: Meaning in History, S. vii. 27 Vgl. K. Löwith: »Mensch und Geschichte«, in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, hg. v. Klaus Stichweh, Stuttgart: Metzler 1983, S. 348. 28 Vgl. K. Löwith: Meaning in History, S. 160: »The viewpoint of a Christian interpretation of history is fixed on the future as the temporal horizon of a definite purpose or goal; and all modern attempts to delineate history as a meaningful, though indefinite, progress toward fulfilment depend on this theological thought.« Vgl. auch zur umstrittenen Säkularisierungsthese Löwiths Rezension von Hans Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit, in: Philosophische Rundschau 15.3 (1968), S. 195-201. 29 K. Löwith: Meaning in History, S. 42. 30 Vgl. ebd., S. 347.
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»His leading idea is neither the progression toward fulfillment nor the cosmic cycle of a merely natural growth and decay, but a historicocyclic progression from corso to ricorso in which the cycle itself has providential significance by being an ultimate remedy for man’s corrupted nature. [...] Vico’s perspective is still a theological one, but the means of providence and salvation are in themselves historiconatural ones. History as seen by Vico has a prehistoric beginning but no end and fulfillment, and yet it is ruled by providence for the sake of mankind.«31
Indirekt assoziiert Löwith ein solches zyklisches Modell mit der Entwicklung eines geschichtlichen Sinns, dessen Bedeutung er eingangs seiner Studie anhand der Schriften Jacob Burckhardts diskutiert. Das Burckhardt-Kapitel liest sich mitunter wie ein Selbstporträt Löwiths, der viele der von ihm an Burckhardt hervorgehobenen Charakteristika mit diesem zu teilen scheint. Burckhardts Verzicht darauf, historischen Ereignissen einen übergreifenden Sinn zuzuordnen, und seine Konzentration auf die Deutung der pragmata hält deshalb einen Schlüssel zum positiven Verständnis von Löwiths Auseinandersetzung mit der spekulativen Geschichtsphilosophie bereit.32 Burckhardt, so Löwith einmal, betrachte die Weltgeschichte »weder mit den Vorurteilen eines Philosophen, noch mit denen eines Historikers, sondern mit dem unbefangenen Blick eines philosophisch besonnenen Beobachters«, und im Gegensatz zu Hegel, der die Freiheit des Individuums nur als solche für das historische Geschehen denken konnte, sei es ihm darum gegangen zu zeigen, »wie das Individuum für sich selbst frei werden kann von dem allgemeinen Geschehen der Geschichte«.33 Genau darin dürfte die tiefe Affinität gelegen haben, die Löwith gegenüber Burckhardt empfand.
IV. Burckhardts historischer Sinn ist Löwith zufolge ein Sinn für Geschichtlichkeit überhaupt und bezeichnet die Fähigkeit einer Gegenwart, sich Vergangenes anzueignen, was je nach Perspektive sehr unterschiedlich ausfallen kann. Da Burckhardt davon überzeugt ist, daß der – metaphysische – Sinn der Geschichte oder die in ihr waltenden Vernunftgesetze von uns nicht eingesehen werden können, bescheidet er sich als Historiker auf den Standpunkt des je zeitgenössischen Interesses, das eine systematische Geschichtsphilosophie und die damit
31 Ebd., S. 135. 32 Vgl. zum folgenden die ausführliche Diskussion des Verhältnisses von Löwith und Burkhardt bei M. Jaeger: Autobiographie und Geschichte, S. 175ff. Jaeger spricht von der »Löwithschen Bekehrung von der Radikalität Nietzsches zur Mäßigkeit Burckhardts«, S. 211. 33 Vgl. K. Löwith, Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie, S. 1 u. 28.
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verbundene konstruktive Sinnstiftung grundsätzlich ausschließt.34 Burckhardts einschlägige, auf das antike historia vitae magistra bezogene Formulierung, man wolle »durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andernmal) als weise (für immer) werden«, unterstreicht dessen Skepsis gegenüber dem historischem Fortschrittsdenken Hegels.35 Sein Verzicht auf Totalität der Erkenntnis geht dabei einher mit der Betonung von Kontinuitäten, wie Burckhardts Haltung überhaupt gekennzeichnet ist durch ein explizites Festhalten an Traditionen. »Burckhardt’s basic experience«, konstatiert Löwith, »was that, since the French Revolution, Europe had been living in the state of a rapidly disintegrating tradition; and the fear of a threatening break with all that is precious and costly in European tradition was the background of his understanding of his historical mission.«36 Jenseits bloß formaler Dauer impliziert Kontinuität bei Burckhardt das aktive Bewahren von Geschichtlichem und bewußte Fortführen historischer Erfahrung gegen den Willen zu Umsturz und ständiger Veränderung. Sie ist kein blindes Festhalten am status quo, sondern »a conscious effort in remembering and renewing our heritage«.37 »Indem kulturgeschichtliche Betrachtung aufs Konstante komme«, schreibt Burckhardt in seiner Einleitung zur Griechischen Kulturgeschichte, »erscheine dieses am Ende größer und wichtiger als das Momentane [...]«; und analog dazu heißt es in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen: »Die Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten; – wir betrachten das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches.«38 Auch wenn Löwiths eigener geschichtlicher Sinn nicht mit dem Burckhardts identisch ist, so ist er doch wie dieser gekoppelt an die Vorstellung der Dauer, worin die geschichtliche Existenz des Menschen weder schlechtin negiert noch als ultima ratio begriffen wird. Die Dauer des Bestehenden ist für Löwith die »elementarste Form der Historie und des geschichtlichen Lebens«, und sie ist es auch, die seiner Philosophie und deren biographischer Wirksamkeit Kontur verleiht. Zwischen Nietzsche und Burckhardt formuliert er ein geschichtsphilosophisches Ethos, das über Begriffe wie Kontinuität, zyklischen Fortschritt und Wiederkehr des Gleichen der Destruktivität oberflächlichen Wechsels zu widerstehen versucht, wobei Löwiths eigene Position durch den Rekurs auf die kosmische Natur als weltgeschichtliche und anthropologische Konstante charakterisiert ist. Vor dem Hintergrund einer dem geschichtlichen Wandel entzogenen Natur 34 Vgl. K. Löwith: »Vom Sinn der Geschichte«, in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 377: »Die uferlose Frage nach dem Sinn der Geschichte im großen und ganzen ist nicht dieselbe wie die begrenzte Frage nach der Bedeutung bestimmter Geschehnisse.« 35 Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Albert Oeri u. Emil Dürr, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1929, S. 7. 36 K. Löwith: Meaning in History, S. 22. 37 Ebd. 38 J. Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, hg. v. Felix Stähelin, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1930, S. 3 u. ders., Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 3.
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wird nun auch »das harmlose ›und‹, welches Mensch und Geschichte zusammenhält« problematisch, denn die Natur des Menschen fällt, anders als es der historische Prozeß zu suggerieren scheint, gerade nicht mit seinem wechselnden Schicksal zusammen:39 »Aufdringlich ist für uns, die wir alle geschichtlich leben und denken, nicht die immer gleiche Natur des Menschen, sondern der Wandel seiner geschichtlichen Situation. Was in die Augen fällt, ist, daß alles anders wird, als es war; unauffällig bleibt, wie sich in allen Veränderungen der Lebensumstände die Natur des Menschen durchhält [...].«40
Kategorial bezeichnet die von Löwith hier angesprochene »Natur des Menschen« das aller spekulativen Geschichtsphilosophie Inkommensurable und damit jenen bedeutenden Rest, der sich ihr nicht unterwerfen läßt. Fraglos ist ein solcher Rückzug auf die, wenn man so will, kosmische Dimension menschlicher Existenz selbst problematisch, da sich der gesellschaftlichen Gegenwart von hier nur im Licht stoischer Schicksalsergebenheit begegnen läßt und soziale Kritik nur so fundamental vorgebracht werden kann, daß ihr der detaillierte Zugriff notwendig fehlt.41 Auch moralisch erweist sich Löwiths Standpunkt als problematisch, da eine »solche naturbezogene Haltung die Desolidarisierung unter den Menschen legitimiert und – naturanalog – auch inappellabel macht«.42 Gegenüber der blinden Geschäftigkeit des Alltags besitzt der Rhythmus der lebendigen Natur sicherlich eine eigene Attraktivität, doch eignet er sich kaum zum Maß menschlicher Sozialverhältnisse, welche bei Löwith – Wolfgang Heise hat darauf hingewiesen – gegenüber der Norm der Natur selbst als »naturwüchsige Gewalt« erscheinen.43 Wo Löwith Natur zugleich als Norm und als vom Menschen völlig unabhängig denkt, schwört er den Leser auf die Position der Indifferenz gegenüber sozialer Not und individuellem Leid ein, das erst dort kritisch begriffen werden kann, wo zumindest die Möglichkeit eines humanen Subjekts der Geschichte in Betracht gezogen wird. Die radikale Ablehnung des neuzeitlichen Geschichtsbewußtseins kommt in diesem Kontext einer bewußten Selbstmarginalisierung gleich, die einfach disqualifiziert, was sie nicht vermitteln kann. »To his discredit«, kommentiert Richard Wolin solchen
39 K. Löwith: Mensch und Geschichte, S. 346 u. 353. 40 Ebd., S. 353. 41 Vgl. kritisch zu diesem Naturbegriff und der »immanent geistesgeschichtlichen Betrachtungsmethode« Löwiths, Wolfgang Heise: »Aufgeklärte Gegenaufklärung. Bemerkungen zu Karl Löwith: Zur Kritik der christlichen Überlieferung (1966)«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 16 (1968), S. 1347-1355. Löwith, so Heise, denke im Grunde nur einen Gedanken, der ihm die philosophischen und erkenntnistheoretischen Kriterien gebe: »den Gedanken der Souveränität, Objektivität, Selbständigkeit des vom Menschen, von jedem Gedachtwerden unabhängigen Seins, der natürlichen Welt als ganzer« (ebd., S. 1350). 42 W. Klaghofer-Treitler: Skepsis – Resignation – Frage, S. 364. 43 W. Heise: Aufgeklärte Gegenaufklärung, S. 1354.
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Mangel an Vermittlungsbereitschaft, »Löwith refuses to recognize the moral legitimacy of the modern age: the fact that acts of democratic self-determination are able to compensate for and offset historical contingency.«44 Löwith problematisiert den Anspruch auf Selbstbestimmung mit dem Verweis auf die Fallstellen, die die damit verknüpfte geschichtliche Projektion mit sich bringt, und in dem Maße, in dem diese gesellschaftlich selbst in Repression umschlägt, geht Löwiths Position auch nicht jeglicher kritischer Anspruch ab. Seine Kampfansage an den »Willen zur Zukunft« in der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und seine Betonung der immer gleichen Natur des Menschen enthält, wo sie sich den ideologischen Grundlagen totalitärer Regime entgegenstellt, durchaus politische Stoßkraft und zeigt, daß seine Kritik am Ende doch noch mit der gesellschaftlichen Gegenwart verknüpft ist, in deren Mitte Löwith von Anfang an steht. Daß Löwith die Vorstellung einer zielgerichteten historischen Entwicklung spätestens seit Ende der zwanziger Jahre kritisch hinterfragte, ist auch der Grund dafür, daß er, anders als andere deutsch-jüdische Intellektuelle in der Emigration, den »Horizont des Humanismus« nicht erst entdeckte »als das Exil weitgehend Handlungslähmung [...] verhängte«.45 Dieser ist in seiner philosophischen Infragestellung eigentlich immer schon da beziehungsweise überhaupt nicht vorhanden, insofern Humanität, die in ein christliches oder säkulares Fortschrittsdenken eingebunden ist oder auf ein solches reagiert, für Löwith wesentlich Problem ist.46 Löwiths theoretisches Festhalten an der Zweideutigkeit des Humanitätsbegriffes verhindert dabei zwar eine eindeutige politische Stellung zum nationalsozialistischen Deutschland auf moralischer Basis, geht jedoch auch einen Schritt über naheliegende Oppositionen hinaus, indem seine Haltung sich »von selbst in eine entschiedene Ablehnung des scheinbaren Fertigseins mit dem Christentum und der christlichen Humanität« (S. 138) verwandelt. Gegenüber dem prinzipiellen Barbarentum der Deutschen, charakterisiert Löwith das Dilemma der bequemen Moralisierung, sei »die bloße Humanität außerstande, auch nur einen wirksamen Potest zu erheben« (S. 138). Das Offenhalten der Frage hingegen erlaubt es, den historischen Bedingungen nachzugehen, denen sich das neuzeitliche 44 R. Wolin: Heidegger’s Children, S. 98. 45 H. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 130. 46 Vgl. K. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg: Felix Meiner 1995, S. 333: »Wenn aber der Begriff des Menschen und der Humanität in einer ursprünglichen Verbindung mit dem Christentum stand, dann wird die bloße Menschlichkeit notwendig fragwürdig, sobald der christliche Gehalt aus ihr schwindet. Zunächst hat man zwar im 19. Jahrhundert das Christentum durch Humanität zu ersetzen geglaubt (Feuerbach, Ruge, Marx) – aber mit dem Ergebnis, daß man schließlich auch der Humanität mißtraut (Stirner, Kierkegaard, Nietzsche). Eine weitere Folge des Fraglichwerdens der vom Christentum emanzipierten Humanität ist jetzt die ›Dehumanisierung‹ des Menschen.«
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Verständnis von Humanität verdankt. »Auch von mir«, erläutert Löwith im Nachwort seiner Autobiographie diese dritte Position, »haben manche Freunde eine radikale Lösung erwartet, sei es im Sinn eines Rückgangs zum Judentum oder einer Entscheidung fürs Christentum oder auch einer politischen Festlegung. Stattdessen habe ich eingesehen, daß gerade die ›radikalen‹ Lösungen gar keine Lösungen sind, sondern blinde Versteifungen, die aus der Not eine Tugend machen und das Leben vereinfachen. Das Leben und Zusammenleben der Menschen und Völker ist nicht von der Art, daß es durchführbar ist ohne Geduld und Nachsicht, Skepsis und Resignation, d.h. ohne das, was der heutige Deutsche als unheroisch verneint, weil er für die Hinfälligkeit alles menschlichen Treibens überhaupt keinen Sinn hat.« (S. 139)
V. Löwiths Auseinandersetzung mit der spekulativen Geschichtsphilosophie schließt die Kritik utopischen Denkens notwendig ein, und es steht ihm daher fern, den Horizont des Humanismus in seinen Schriften als fernes Ideal zu evozieren. Wohl aber existiert in seinem Denken eine dem räumlichen Geschichtsverständnis entsprechende Abseitigkeit, die prinzipiell bereits in dem Rekurs auf die Natur des Menschen gegenüber der domininanten Konzeption seiner rein geschichtlichen Existenz zum Ausdruck kommt. Negativ konstituiert sich in dieser Abseitigkeit die skeptische Grundhaltung Löwiths gegenüber jeder Form von Dogmatik, »vor allem die«, so Hans Georg Gadamer im Rückblick, »einer philosophischen Theologie und einer spekulativen Geschichtsphilosophie«.47 Positiv ist sie als ein Ort jenseits eingefahrener Dichotomien zu begreifen, an dem sich gleichsam aufatmen läßt, da man dem begrifflichen Zwang teleologischer Dialektik entkommen ist. Lebensgeschichtlich manifestiert sich diese Abseitigkeit in der erzwungenen Erfahrung des Exils, in die Löwith die eigene philosophische Position einbringt und in der sich Spuren einer Auseinandersetzung um einen substantiellen Begriff von Humanität entdecken lassen. In Löwiths Autobiographie findet diese Auseinandersetzung in Form einer Diskussion des Verhältnisses von Deutschtum und Judentum statt, welche nach der Beschreibung des intellektuellen Aufbruchs und der Erfahrung des italienischen Exils den letzten der drei Themenkreise darstellt, um die sich sein Bericht zentriert. Sie wird, gemäß der formalen Anlage seiner Autobiographie, sowohl chronologisch, anhand von Löwiths Aufenthalt im japanischen Sendai, als auch in der Breite, um Rückgriffe und Seitenblicke erweitert, vor dem Leser entfaltet. Löwith, der aus einer assimilierten jüdischen Familie stammte, war Zeit seines Lebens kein konfessioneller Jude. Sein Judentum war für ihn insofern zwar 47 H.-G. Gadamer: Philosophische Lehrjahre, S. 237.
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ein Tatbestand der Herkunft, jedoch zunächst kein hervorstechendes Merkmal seines eigenen Selbstverständnisses. Das Ausmaß seiner Integration läßt sich daran ermessen, daß er sich bei Kriegsausbruch 1914, motiviert durch die zeittypische Mischung aus persönlichem Erlebnishunger und nationaler Begeisterung, freiwillig zum Heer meldete, ohne daß sein Judentum in diesem Akt oder im Krieg selbst eine Rolle gespielt hätte. Bedeutend wird es erst, als es im Zuge des wachsenden Antisemitismus im Deutschland der Nachkriegszeit zur sozialen Ausgrenzung führt. Unter dem Titel »Wie für mich die Trennung von Deutschen und Juden begann« hat Löwith in seinen Bericht über die japanischen Jahre eine Episode eingefügt, in der er von einem »der Öffentlichkeit unhörbaren kleinen Ereignis« berichtet, »bei dem sich weiter nichts ereignet hat als ein Nein« (S. 131). 1920 hatte er in München einen seiner besten Freunde aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg besuchen wollen, wurde jedoch von dessen Frau mit den Worten abgewiesen, daß dieser ihn nicht sprechen könne, da er jetzt »bei Hitler« sei. Löwith interpretiert den Vorgang weiter nicht, doch wird deutlich, daß es ihm in dieser Momentaufnahme des Antisemitismus um die Grunderfahrung der Ausgrenzung geht, deren extreme Form, die erzwungene Emigration nach Japan, er zur Zeit ihrer Niederschrift durchlebt. Assoziiert mit dem Begriff der Ausgrenzung wird die Erfahrung der Emigration bei Löwith zum Ausweis eines, wenn man so will, konzeptionellen Judentums, basierend auf der Annahme, daß »die Geschichte des jüdischen Volkes [...] schon mit dem Exil« beginne »und nicht mit der Autochthonie aller übrigen Völker der Welt« (S. 132). Begriff und Erfahrung der Emigration subsumieren, mit anderen Worten, sowohl das eigene Judentum als auch andere Formen der Ausgrenzung unter sich. In diesem Sinne, so scheint es, muß man Löwiths Charakterisierung eines arischen Wieners verstehen, der schon vor dem Krieg als Lehrer nach Japan gekommen war und der, so Löwith, mithin zwar kein Emigrant sei, es jedoch »in seiner Denkweise [...] mehr als viele ausgewanderte Juden« ist (S. 116). Auch die Geschichte anderer »arischer« Emigranten, die sich freiwillig auf die Seite der Ausgegrenzten geschlagen haben, spricht Löwith in diesem Teil seines Berichts ausführlich an. Emigration ist bei ihnen kein ausschließlich existentieller Zwang, sondern, zumindest bis zu einem gewissen Grad, eine gewählte Seinsform, über die sich eine neue Identität bildet, auch die einer neuen Gemeinschaft. »Aus Deutschland«, kommentiert Löwith deren manifesten Ausdruck, »kommen fast nur noch Briefe von den allernächsten Verwandten meiner Frau, alle übrigen schreiben nun aus England und Amerika, aus der Türkei und Palästina, aus der Schweiz und Holland, Kolumbien, Australien und Neuseeland – nach Japan.« (S. 130) Aus Sicht der Emigranten, die sich als Teil der »gesitteten Welt« (S. 133) verstehen, ist Deutschland selbst das Fremde. Es ist »nicht das Herz von Europa oder der Christenheit, sondern der Mittelpunkt seiner Auflösung« (S. 135). Der von den Nationalsozialisten erzwungenen Trennung von Deutschen und Juden begegnet Löwith im Exil mit der Dissoziation vom kulturell und national begrün-
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detem Deutschtum und behauptet damit zugleich jene Kontinuität, die die Ideologen der Herrenrasse zu negieren versuchen. Der konkrete Verlust der Heimat wird umgedeutet in die Migration – nicht die Emigration – derer, die diese im Kern von jeher konstituierten. Ihnen gegenüber ist das Gesicht, das das zurückgebliebene Deutschland im Ausland zeigt, moralisch depraviert und physisch häßlich. Von der deutschen Kolonie in Sendai etwa weiß Löwith zu berichten, daß dort Denunziation und gegenseitige Überwachung an der Tagesordnung seien und die Physiognomie des deutschen »Kulturwarts« in Japan beschreibt er wie folgt: »Herr D. war von Ansehen ein mickriger Herr, der alles eher als einen Germanen vorstellen konnte. [...] Sein vergrämtes Gesicht war von einer scharf hervorstehenden Nase beherrscht, der häßliche Mund und das schwächliche Kinn paßten zu seinen herabhängenden Schultern.« (S. 117f.) Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Naziregimes findet sein Pendant in Löwiths Eifer, sich der deutschen Staatsbürgerschaft zu entledigen, um seine Identität als deutscher Jude positiv zu bewahren. Denn dieser, notiert Löwith in seinem Reisetagebuch, »weiß immer noch besser, was deutsch ist als ein germanischer Deutschtümling«.48 Derart resultiert, aus dem Bedürfnis zu bewahren, der vorsätzliche Eintritt in den Status des Ausgegrenzten, der zugleich Hort eines bleibenden Restes von Humanität ist. Die abseitige Gemeinschaft der Emigranten bewahrt diese nicht im Sinne der forcierten Opposition von Deutschtum und Judentum, sondern unter dem Signum der Kontinuität: indem man die Verbindung beider bewußt aufrecht erhält, »gerade weil in Deutschland das eine vom andern getrennt worden ist« (S. 136). Anschaulich läßt dies noch einmal Löwiths Beschreibung des Wiener Lehrers erkennen, die besonders deshalb sprechend ist, weil dieser den bloßen Tatsachen nach weder Emigrant noch Jude ist: »Er las mit Leidenschaft alle nazifeindlichen Zeitungen, der ganze Nazismus war ihm schlechthin ein Greuel, und als ich ihn in den Tagen des Einmarschs der deutschen Truppen in Österreich in einem Skigasthaus kennenlernte, las er verzweifelt einen in Deutschland verbotenen Roman von Franz Werfel« (S. 116f.).49 Dem Bekenntnis des Lehrers zum jüdischen Schriftsteller, ein Bekenntnis zur Humanität, entspricht Löwiths eigenes Bekenntnis zur historischen Kontinuität des Exils. In Konzeption und Erfahrung der Abseitigkeit konvergieren die philosophiegeschichtliche Kritik und der autobiographische Entwurf Karl Löwiths. »Er 48 K. Löwith: Von Rom nach Sendai. Von Japan nach Amerika. Reisetagebuch 1936 und 1941, hg. v. K. Stichweh u. Ulrich von Bülow, Stuttgart, Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 2001, S. 15. 49 Vermutlich handelt es sich um Werfels Roman über den türkischen Genozid an den Armeniern, Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933). Hitler selbst hatte den Völkermord an den Armeniern bekanntlich als Modell historischen Vergessens gesehen. Auch das mag hier mitschwingen, daß Werfel sich im selben Maße mit den Armeniern identifizierte wie sich der ausgewanderte Lehrer mit dem jüdischen Schriftsteller assoziierte, und beide auf diese Weise historische Verbindlichkeit zum Ausdruck bringen, Humanität tradieren.
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ziehe«, so schreibt er bezüglich seiner Umsiedelung nach Japan, »in ein fremdes Land, um dort, unter wirklich Fremdrassigen, wieder zum ›Deutschen‹ zu werden.«50 Der geschichtliche Sinn, durch den bewahrt wird, was die vermeintliche Revolution der Nationalsozialisten zu beseitigen suchte, ist Löwiths Antwort auf den Anspruch der deutschen Faschisten, sich zu Exekutoren der Weltgeschichte aufzuschwingen. In Sendai wird dieser Sinn für die Dauer zum konkreten Einspruch gegen den allgemeinen Glauben, »daß die Weltgeschichte das Weltgericht ist, weil in ihr das Rechte und Vernünftige notwendig zum Austrag kommt« (S. 155). Und er stellt schließlich eine dritte Position zu der von Löwith bejahten »›Destruktion‹ der überlieferten Metaphysik« (S. 147) dar. Denn ihm gehört das Bemühen zu, Kontinuitäten jenseits des schnellen Wandels zu behaupten: philosophisch die des »Ganzen des von Natur aus Seienden« (S. 156) und persönlich die einer unverwechselbaren Identität.
50 K. Löwith: Von Rom nach Sendai, S. 13.
H E R B E R T K O P P -O B E R S T E B R I N K
Humanistische Begründung der Geschichte. Ernst Cassirers Konzeption von Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung während der Exilszeit
Die Kontinuität im Werk und Schaffen Ernst Cassirers ist frappierend – nicht nur, wenn man sie auf dem Hintergrund der Brüche in seinem Leben von 1933 an, der Unsicherheiten, Verzweiflungen und Ängste durch Flucht und Exil betrachtet. Zürich, Wien, Antwerpen, London, Oxford waren seine Stationen im Jahre 1933; es folgten Stockholm, Upsala, Göteborg 1935 bis 1941, schließlich New York, New Haven und wiederum New York, wo Cassirer 1945 verstarb. Man kennt die Orte und die Daten, und doch ist es erforderlich, sie zu wiederholen. Von all dem scheint das veröffentlichte Werk Cassirers weitgehend unberührt. Seine philosophische Arbeit aus der Zeit des Exils ist nicht zuletzt der Versuch, »dem Bruch im eigenen Leben ein Stück Kontinuität entgegenzusetzen«.1 So arbeitete Cassirer zu einer Zeit, da seine Lebenswelt in Brüche ging, weiter daran, die Philosophie der symbolischen Formen fortzuschreiben. Doch Kontinuität erscheint im Werk Cassirers nicht nur als eine der Sachgehalte und Fragestellungen, sondern auch des Selbstverständnisses und der Selbstdarstellung. Den Essay on Man, Cassirers Übersetzung philosophischer Anthropologie in Kulturphilosophie, präsentierte sein Verfasser als eine Art Kurzfassung der Philosophie der symbolischen Formen, und als solche wird er noch heute gelegentlich gesehen.2 Solche Konstruktion von Kontinuität in Denken und Werk ist auch lebensweltliche Überlebensstrategie des Individuums. Eine andere Sache freilich 1 Diese These hat Gerald Hartung in seinem einleitenden Vortrag zur Leipziger Tagung (25.9.2002) vertreten. 2 Vgl. Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven: Yale University Press 1944, S. vii-viii u. dazu Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin: Akademie 2004, S. 152.
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ist der Niederschlag von Verhältnissen der Lebenswelt im Werk, ihre Inskription, in die unzweifelhaft individuell unverfügbare objektive Formationen des Lebens und seiner Brüche eingearbeitet werden oder unbemerkt einfließen. Aus dieser Perspektive erweist sich die scheinbar omnipräsente Kontinuität als ein Oberflächenphänomen; ihr sind Spuren der Diskontinuität eingeschrieben. Der Cassirer-Forscher oder -Editor kennt das, wenn er in die Tiefen des Archivs hinabsteigt und die darunterliegenden Formationen und Schichten, die Bruchstücke sieht, die zurückblieben: unveröffentlichte Manuskripte, Fragmente, bis zur Unlesbarkeit überschriebene, palimpsestartige Versuche auf Englisch, der Cassirer fremden Sprache. Spätestens dann legt sich der Gedanke nahe, daß, um bei dem oben gewählten Beispiel zu bleiben, der Essay on Man ein Torso ist, ein Monument des Bruchs, nicht der Kontinuität – ganz zu schweigen von den Arbeiten Cassirers, die der Lebensumstände des Exils wegen nicht veröffentlicht, teilweise nicht einmal über erste Entwürfe hinaus entwickelt werden konnten.3 Cassirers Nachlaß ist im eigentlichen Sinne erst noch zu entdecken. Von diesem Blickwinkel aus scheint das Werk Ernst Cassirers mehr eines der verborgenen Zäsuren zu sein denn der Kontinuität. Im folgenden soll gezeigt werden, daß sich auch in Cassirers Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung, insbesondere in deren Methodologie, Zäsuren und Neuansätze finden. Ich verfolge dabei die im Rahmen dieser Tagung wenig überraschende These, daß diese auch als Inskriptionen oder Objektivationen der Erfahrungen des Exils gelesen werden können. Denn nicht nur »Geschichtsschreibung ist zugleich auch immer Autobiographie«, auch Theorie enthält Einschreibung von Lebensgeschichte.4 Dieser Ansatz legt nahe, daß es im Folgenden nicht um explizite politische Stellungnahmen, um Reflexionen Cassirers zum Exil und seiner Situation des Ausgeschlossenseins gehen wird.5 Auch wird The Myth of the State als expliziter Versuch der ideengeschichtlichen Herleitung der politischen Mythen der Zeit des Nationalsozialismus nicht im Zentrum der Überlegungen stehen. Thema ist vielmehr Ernst Cassirers Philosophiegeschichtsschreibung aus der Zeit des Exils und sein Versuch der Klärung ihrer Grundlagen – beides ist vor dem Hintergrund der Situation des Exils zu betrachten. Dabei werde ich zu3 Unveröffentlichte Texte und Vorstufen zum Essay on Man, die Umfang und Genese von Cassirers Projekt einer philosophischen Anthropologie erahnen lassen, werden in Bd. 6 der Ernst Cassirer Nachlaßausgabe, hg. v. Gerald Hartung u. Herbert KoppOberstebrink, Hamburg: Meiner 2005, erscheinen. Auf der Basis dieses Materials vgl. die umfassende Darstellung von G. Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist: Velbrück 2003, insbes. S. 255-356. 4 Vgl. Kay Schiller: Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2000, S. 9. 5 Siehe dazu die materialreiche Studie von Michael Hänel: »Exclusions and Inclusions of a Cosmopolitan Philosopher. The Case auf Ernst Cassirer«, in: Larry E. Jones (Hg.), Crossing Boundaries. The Exclusion and Inclusion of Minorities in Germany and the United States, New York, Oxford: Berghahn 2001, S. 119-140.
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erst Cassirers Theorie historischen Erkennens von 1936 in einigen systematischen Grundzügen und ihrem Zusammenhang mit der Neuorientierung seiner Philosophiegeschichtsschreibung darstellen (I-II), um anschließend die Rolle der Geschichte für die Begründung der humanistischen Kulturphilosophie (III) zu erläutern. Der Beitrag schließt mit Cassirers kritischer Auseinandersetzung mit der politischen Instrumentalisierung von Philosophie und einem Hinweis auf ein Motiv jüdischer Tradition in Cassirers Geschichtsdenken (IV).
I. Cassirers Konzeption des historischen Erkennens von 1936 Ernst Cassirer galt bereits mit dem Erscheinen der ersten beiden Bände von Das Erkenntnisproblem von 1906/07 als der Philosophiehistoriker der Philosophieund Wissenschaftsgeschichte seiner Zeit – aber eben auch nur als Philosoph und Historiker der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, die nur eine Provinz der Geschichte ist.6 Die Dimension von Geschichte, Geschichtlichkeit und historischer Erkenntnis als eigenständigen Bereich und Gegenstand philosophischen Nachdenkens mußte er erst für sich entdecken. Mit diesem Thema theoretischen Philosophierens befaßte sich Cassirer eingehend erstmals in einem mit Geschichte überschriebenen Manuskript aus dem Jahre 1936.7 Bereits dieser Umstand scheint ohne die Erfahrung der Gewalt der Geschichte, die ihn ins Göteborger Exil getrieben hatte, kaum denkbar. Das Manuskript ist über einen ersten Entwurf nicht hinausgelangt und blieb unveröffentlicht. Seine systematischen Ausführungen lassen sich verstehen als eine Art Theorie oder Logik des historischen Erkennens, nicht jedoch als Geschichtsphilosophie. Der Fortgang der Geschichte wird nicht teleologisch begründet, die Dimension der Frage nach einem der Geschichte innewohnenden Sinn oder sinnhaften Verlauf nicht thematisiert. Die systematischen Überlegungen des Texts von 1936 zur historischen Erkenntnis gingen in das Kapitel History des Essay on Man ein und wurden dort fortgeführt. Die letzten Kapitel des Manuskripts konnte Cassirer immerhin als Steinbruch für den Geschichtsteil des im Jahre 1950 posthum auf Englisch erschienenen vierten Bandes von Das Erkenntnisproblem verwenden.8
6 Vgl. E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 2 Bde, Berlin: Bruno Cassirer 1906-07. 7 Vgl. E. Cassirer: »Geschichte. Mythos«, in: ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 3, hg. v. Klaus Christian Köhnke, H. Kopp-Oberstebrink u. Rüdiger Kramme, Hamburg: Meiner 2002. 8 Die deutsche Übersetzung wurde erstmals 1957 publiziert. Vgl. E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 4: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832-1932), Stuttgart: Kohlhammer 1957, S. 225328.
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Das Auszeichnende des Geschichts-Manuskripts besteht darin, daß Cassirer historische Erkenntnis und sogar deren Gegenstand durch die Zugrundelegung einer ganz neuen Systematik, durch die sogenannten »Basisphänomene« zu fassen sucht. Man könnte von den Basisphänomenen als von einer systematischen Tiefenstruktur sprechen, die die Begriffe des historischen Erkennens organisiert. Cassirer unterscheidet dabei drei Basisphänomene, die nicht aufeinander reduziert werden können und für das historische Verstehen gleichermaßen konstitutiv sind. Das »Ich-Phänomen« (I) ist »eine Grundform der geschichtl[ichen] ErInnerung«: Erinnerung, sofern sie auf das eigene Selbst gerichtet ist.9 Damit ist sie die aller Selbst-Bestimmung (»was bin ich?«) vorausgehende Frage nach der Herkunft des Selbst (»was war ich?«). Diese Form der Selbstbesinnung bildet das Ich erst »zu der ihrer selbst bewussten Persönlichkeit«.10 Das »Phänomen des Wirkens und Wollens« (II), von Cassirer auch als das »Ich-Du-Phänomen« bezeichnet, ist charakterisiert durch die Wechselwirkung zwischen Einzelwillen, gleich in welcher Form sie auftreten: als individuelle oder als solche, die sich in Verbänden, Organisationen oder im Staat zusammenfinden. Seine Sphäre ist die der politischen und sozialen Geschichte. Das dritte Basisphänomen (III) ist gekennzeichnet durch seinen Werkcharakter: Werke, Monumente oder Dokumente sind bestimmt durch ihre Vergänglichkeit, sie sind »zeitlich-Entstandene[s] und zeitlich-Gebundene[s]«. Als solches aber sind sie zugleich auch überdauernde Gegenstände, auf die die Erinnerung sich bezieht. Cassirer nennt sie »Erinnerungs-Zeichen«.11 Die Dimension des dritten Basisphänomens, des Werks, erscheint Cassirer zufolge »als Grundlage der Geschichtsbetrachtung«. Denn geschichtliche Monumente oder Dokumente sind in doppelter Weise auf Prozeß und Resultat des historischen Erkennens bezogen: Zum einen bilden sie die empirisch-materiale Grundlage des Historikers, anhand derer er einzelne Dokumente in einen Zusammenhang bringt und auf die er seine Rekonstruktionen aufbaut. Vor allem aber sichern die Monumente insofern die Objektivität des historischen Erkennens, als im Rückgriff auf sie der Erweis und die Rechtfertigung der jeweiligen Hypothesen der historischen Erkenntnis zu erfolgen haben.12 Doch entsprechend zum inneren Bezug der Basisphänomene aufeinander versucht Cassirer auch, historische Erkenntnis vom »Ich-Phänomen« her zu denken. Aus dieser Perspektive er9 Vgl. E. Cassirer: Geschichte. Mythos, S. 14. 10 Ebd., S. 15. 11 Ebd., S. 17. Zu Cassirers Konzeption der Basisphänomene insgesamt vgl. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin: Akademie 1997, S. 197-219. 12 Vgl. E. Cassirer: Geschichte. Mythos, S. 56: »Das ist eine ganz eigentümliche Erkenntnisleistung [des Historikers; gemeint ist die teleologische Rekonstruktion aus den res gestae] – und auf ihr beruht alle Objektivität der Geschichte – Sie ist nicht etwa Leistung (willkürliche ›Deutung‹) des einzelnen Historikers – sondern sie muß streng objektiv an den Dokumenten erwiesen und durchgängig an ihnen gerechtfertigt werden.«
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scheint das Ich als »apriori der Geschichte«.13 Das ist freilich nur möglich, weil Cassirer das Ich selbst schon ursprünglich als geschichtliches denkt. Erst durch das Moment der Aufbewahrung, des Festhaltens vergangener Gegenwart gelingt die eigentliche Konstitution des Ichs: »Ohne dieses Wissen um die mögliche, ja notwendige ›Aufbewahrung‹ der Vergangenheit in der Gegenwart gibt es für uns das Phänomen des Ich nicht.«14 In dem solcherart welthaltigen Ich – Cassirer spricht von der »Präformation der Welt im Ich«15 – liegt eine Bedingung der Möglichkeit geschichtlicher Erkenntnis: »ohne dies gäbe es für uns auch keinen Zugang [...] zum historischen Sein (Geschichte).«16 Die prinzipielle Geschichtlichkeit des Ichs erschließt die Dimension der geschichtlichen wie kulturellen Welt. So deuten wir die »Ausdrucksbewegungen«, aus denen wir vermittelt durch die historischen Dokumente geschichtliches Sein rekonstruieren, aus dem, was wir selbst sind.17 Alles weitere Verstehen von Geschichte baut auf der vorgängigen Geschichtlichkeit des Ich-Phänomens auf.18 Dieser Anthropomorphismus im geschichtlichen Verstehen trennt es prinzipiell vom Erkennen in den mathematischen Naturwissenschaften. In dieser Struktur des Ich gründet historische Erkenntnis und deren Objektivität. Es darf aber nicht übersehen werden, daß Cassirer an der einseitigen transzendentalen Formung des Objekts der Geschichte durch das Subjekt des Historikers keinesfalls gelegen ist. Vielmehr handelt es sich bei historischer Erkenntnis und Objektivität um »ein Ergebnis aus wechselseitiger Formung, vom Subjekt und vom Objekt her« – um den ständigen Wechselbezug der Basisphänomene I und III also.19 Berücksichtigt man zudem das von Cassirer zumeist in prozessualen Begriffen beschriebene »Phänomen des Wirkens und Wollens« (II) als die energeia, die über das Ich hinausreicht und das Werk hervorbringt, so wird deutlich, daß historisches Erkennen angemessen nur in der Korrelation aller drei Basisphänomene reflektiert werden kann.20 Die Theorie der Basis-Phänomene ergänzt und stützt Cassirers Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen, wie er es in den Jahren 1923-1929 ausformuliert hatte, in gleich mehrfacher Hinsicht. Sie soll die Fixierung auf einen starren, ausschließlich erkenntnistheoretisch begründeten Gegensatz von Subjekt und Objekt unterlaufen, der noch die drei Bände der Philosophie der symbo13 Diese an Georg Simmel: Probleme der Geschichtsphilosophie, Leipzig: Duncker & Humblot, 2. Aufl. 1905, anschließende Formulierung findet sich bereits in der Einleitung zu E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem, Bd. 1, S. 18. 14 E. Cassirer: Geschichte. Mythos, S. 84. 15 Ebd., S. 86. 16 Ebd., S. 84. 17 Vgl. ebd., S. 89. 18 Vgl. ebd., S. 86. 19 Vgl. ebd., S. 12f. 20 Vgl. dazu auch Ernst Cassirer: »Über Basisphänomene. Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, in: ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, hg. v. John Michael Krois, Hamburg: Meiner 1995, S. 113-195.
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lischen Formen auszeichnet. Vor allem aber entbehrt deren dynamische und funktionale Konzeption der Symbolisierungsleistungen des Bewußtseins sowohl der Bindung an die »Gegebenheiten der menschlichen Existenz« als auch einer angemessenen Begrifflichkeit, um die Hervorbringungen, die Produkte der kulturellen Symbolisierungen, die objektiven Gestalten der Kultur also, in ihrer materialen Konkretheit angemessen zu reflektieren.21 Cassirers theoretische Auseinandersetzung mit Geschichte und historischem Erkennen in der Zeit des Exils ist präzedenzlos. Dabei ist seine »Eroberung der geschichtlichen Welt«22 signifikanterweise geprägt durch einen umfassenden konzeptionellem Neuansatz, der die Voraussetzungslosigkeit und Ungeschichtlichkeit eines bloß erkenntnistheoretisch verstandenen Subjekts umkehrt zur prinzipiellen Geschichtlichkeit des verstehenden Ichs und der kulturellen Welt, und zwar im Prozeß von deren wechselseitiger Prägung. Verläßt man die Perspektive der systematischen, werk- oder philosophiegeschichtlichen Würdigung dieses Sachverhaltes und geht einen Schritt zurück in dessen lebensweltliche, biographische Voraussetzungen, so werden Cassirers theoretische Konstruktionen zur Geschichte auch lesbar als begriffliche Transformation und Verdichtung seiner eigenen existenziellen und geschichtlichen Situation. »Erinnerung« wurde ihm dabei zum zentralen Begriff seiner Ausführungen. Erinnerung als »Aufbewahrung« des Flüchtigen, von Vergänglichkeit Bedrohten, die Erfahrung der eigenen Existenz und Geschichtlichkeit als Grundlage des historischen Verstehens (Basisphänomen I), die Rekonstruktion der Vergangenheit auf dem Grund ihrer Überreste (Basisphänomen III) – deutlicher könnten die Spuren von Lebenserfahrungen des aus seinem Lande Vertriebenen bereits Cassirers begrifflich-formalen Reflexionen zur Struktur historischen Erkennens kaum eingeschrieben sein.
21 Die wohl prominenteste Formulierung der Symbolisierungsleistungen des Bewußtseins ist zu finden in E. Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 175: »Unter symbolischer Form soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft wird.« Die Philosophie der symbolischen Formen legt den Nachdruck gerade auf die Seite der »Energie des Geistes«, der durch sie erbrachten Leistungen und der geistigen Bedeutungsgehalte, unterbelichtet bleibt die Seite der Konkretheit der Zeichen und der Objektivität der Kulturformen. Das Zitat findet sich bei O. Schwemmer: Ernst Cassirer, S. 202. 22 So die Überschrift des fünften Kapitels in E. Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen: Mohr 1932, S. 263.
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II. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung – Marburg vs. Göteborg Cassirers philosophische Anfänge waren in der Tradition des Neukantianismus Hermann Cohens und Paul Natorps geleitet vom Paradigma der Erkenntnis in Mathematik und mathematischer Naturwissenschaft. Das gilt auch und zumal für Cassirer als den Philosophiehistoriker des Erkenntnisproblems in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Die Problemgeschichtsschreibung war mit Paul Natorps 1884 erschienenen Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum zur philosophiehistorischen Programmatik der Marburger Schule erhoben worden.23 Der sogenannte »Idealismus« Platons galt Natorp als Höhepunkt der Entwicklung der griechischen Philosophie. Aristoteles’ Philosophie dagegen ist Natorp zufolge gekennzeichnet von »Mißverstehen«, »Irrtum«, ja »völligem Nichtverstehen« der Schriften Platons.24 Seine Philosophiegeschichtsschreibung baut dabei auf ein strikt typologisches Muster auf, in dem Platon als Typus der »kritischen Philosophie« in scharfem Gegensatz zu Aristoteles als Vertreter des »Dogmatismus« steht. Zielpunkt und gewissermaßen Abschluß dieser teleologisch konzipierten Philosophiegeschichte war die kritische Philosophie Kants, insbesondere dessen Kritik der reinen Vernunft. »Platon ein Vorgänger Kants« war denn auch die Formel der heftigen zeitgenössischen Kritik an Natorps Darstellung.25 Cassirer fühlte sich der Marburger Programmatik der Philosophiegeschichtsschreibung als Schreibung der Vorgeschichte der Kantischen Kritik der reinen Vernunft zutiefst verpflichtet. So war seine Geschichte des Erkenntnisproblem[s] in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit zunächst auf nur zwei Bände angelegt und mündete in eine Darstellung der Kritik der reinen Vernunft. Neben der teleologischen Struktur behielt Cassirer auch das typologische Muster der Natorpschen Geschichtsschreibung bei, deutete aber Platon und Kant zu Vertretern des Funktions-Denkens, Aristoteles zum Typus des Substanz-Denkers um. Er folgte dabei vorbehaltlos Natorps grober Kantianisierung der platonischen Philosophie ebenso wie dessen Aristoteles-Bild, wie die Einleitung in die erste Auflage des Erkenntnisproblems von 1906 zeigt.26 Diese methodische und sach23 Vgl. Paul Natorp: Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum. Protagoras, Demokrit, Epikur und die Skepsis, Berlin: Hertz 1884. Zur Philosophiegeschichtsschreibung Natorps vgl. Karl-Heinz Lembeck: Platon in Marburg. Platonrezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp, Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, bes. S. 167-250. 24 Vgl. Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Leipzig: Dürr o.J. [1902], S. 366. 25 Vgl. Ernst Hohmann: Rez. von Paul Natorp, Platos Ideenlehre, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 128 (1906), S. 84-92. Zur Problematik vgl. K.-H. Lembeck: Platon in Marburg, S. 179 u. 237-243. 26 Vgl. E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem, Bd. 1, S. 34-50.
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liche Verpflichtung des frühen Cassirer auf den Marburger Schulzusammenhang hatte durch einen reduktiven, mathematisierten und logifizierten Begriff von Erkenntnis im Erkenntnisproblem freilich den Ausschluß ganzer Dimensionen der menschlichen Wirklichkeitserkenntnis, wie beispielsweise Kunst, Geschichte, Biologie oder Theologie, zur Folge. Der Sachgehalt und Tenor der Kritik, die sich gegen Cassirers Erkenntnisproblem wie auch gegen seine 1902 erschienene Arbeit über Leibniz27 richtete, folgten weitestgehend der Rezeption, die Natorps historische Arbeiten erfahren hatten. Mit dem Göteborger Manuskript von 1936 unternimmt Cassirer den Versuch, auch die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung auf seine Ausführungen über historisches Erkennen und Basisphänomene zu gründen. Er verabschiedet damit seine frühere Problemgeschichtsschreibung in mindestens dreifacher Hinsicht, und zwar (1) hinsichtlich der Entstehungsbedingungen des philosophischen Gedankens, (2) hinsichtlich des Werkcharakters auch der philosophischen Arbeiten und (3) in der Frage nach der Geschlossenheit oder Offenheit der Philosophiegeschichte. (1) Im Kontrast zu seiner früheren reinen Problemgeschichtsschreibung rückt Cassirer nun das Verständnis der Entstehungsbedingungen philosophischer Werke in das Zentrum seiner methodologischen Überlegungen, insbesondere das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Denkerpersönlichkeit und Werk. Nicht daß Cassirer die Problemgeschichtsschreibung aufgegeben hätte. Aufgabe der Philosophiegeschichtsschreibung soll aber nicht nur die Darstellung der philosophischen Probleme und ihrer Entwicklung sein, sondern die Rekonstruktion von deren »konkret-geschichtl[icher] Gestalt«.28 Denn nach einem spezifischen philosophischen Problem wird von den einzelnen Philosophen in jeweils eigener Perspektive gefragt. Diese Fragen sind es, die dann am Prozeß des objektivsachlichen Bedeutungswandels von Ideen, Begriffen und Problemen teilhaben. Er ist deshalb ebenso wie die Werke, die er aus sich entläßt, nur »aus der geistigpersönlichen Struktur der Denker, die an diesem Prozess beteiligt sind«,29 zu verstehen. Cassirers Paradigmenwechsel, der überraschen muß, wenn man ihn auf dem Hintergrund seiner früheren Philosophiegeschichtsschreibung sieht, bleibt aber nicht beim biographischen Ansatz und damit in der Dimension des ersten Basisphänomens stehen, auch wenn es zunächst so scheinen mag. Er folgt vielmehr 27 Vgl. Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg: N. G. Elwert 1902. 28 E. Cassirer: Geschichte. Mythos, S. 124. 29 Ebd. Vgl. auch S. 123: »Denn jeder Gedanke, der in der Gesch[ichte] der Philosophie gedacht worden ist [...], ist nur die Antwort auf eine bestimmte Frage, die an die Wirklichkeit gestellt ist – und diese Frage nimmt in der Philosophie stets eine persönliche Gestalt an – sie formt sich in einem individuellen Geist und kann nur im Zusammenhang mit ihm in ihrer eigentümlichen ›Konkretion‹ gesehen werden.«
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Georg Simmel, der die Aufgabe der geschichtlichen Darstellungen der Philosophie darin erblickt, »das innerliche, miterlebende, die Bedingungen der Produktion nachfühlende Verständnis« zu fördern.30 Cassirer zielt dabei freilich nicht auf die Biographik von Denker-Persönlichkeiten, vielmehr erscheint ihm die wechselseitige Verschränkung der Entwicklung von Persönlichkeit, kulturellhistorischem Kontext und Gedanken, wie sie in Diltheys Leben Schleiermachers vorliegt, als maßstäblich. Erst so wird die »spezifische Atmosphäre« rekonstruierbar, in der das jeweilige Problem aktualisiert und durch deren Wiedergewinnung es verstehbar wird.31 Damit öffnet Cassirer die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung für kulturwissenschaftliche und kulturphilosophische Perspektiven, indem er auf deren grundlegenden Zusammenhang mit dem historischen und kulturellen Kontext im Sinne Diltheys verweist: »Die philosophischen Systeme sind aus dem Ganzen der Kultur entstanden und haben auf dasselbe zurückgewirkt.«32 Bedenkt man die Unsicherheiten und Bedrängnisse, denen Cassirer mit seinem Weggang aus Deutschland ausgesetzt war, so erscheint seine Reflexion auf die persönlichen, historischen und kulturellen Voraussetzungen philosophischer Arbeiten und Theorien naheliegend. Der Verlust der Selbstverständlichkeit seiner eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen machte die Bedeutsamkeit der konkreten Entstehungsbedingungen philosophischer Konzeptionen und Theorien überdeutlich. Dieses »historische apriori« ist den Werken, in denen die philosophischen Probleme ihre Konkretion finden, unabweisbar eingeschrieben – und die Aufgabe des Philosophie-Historikers ist, dessen Gestalt und Sachgehalt zu rekonstruieren. Einem weiteren zentralen Theorem des Manuskripts von 1936 zufolge hat diese Rekonstruktion des Vergangenen aus dem Horizont und dem Erkenntnisinteresse der Gegenwart des Historikers zu erfolgen – formelhaft zitiert Cassirer hier Schlegels Wendung vom Historiker als eines »rückwärts gewandten Propheten«.33 (2) Damit aber rückt die äußere Basis dieser Verstehensleistung des Historikers in den Blickpunkt: das Dokument, Monument oder Werk. Im Unterschied zu seiner frühen rein problemgeschichtlichen Konzeption thematisiert Cassirer im Manuskript von 1936 die Arbeit auch des Philosophie- und Wissenschaftshistorikers an den Quellen und Dokumenten als Voraussetzung jeglicher objektiven und rationalen Geschichtsdeutung. Systematisch ist dies eine Konsequenz aus dem 30 Vgl. Georg Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 14, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 12. 31 Vgl. E. Cassirer: Geschichte. Mythos, S. 125. 32 Wilhelm Dilthey: Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Die Jugendgeschichte Hegels, hg. v. Hermann Nohl, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 6. Aufl. 1990, S. 558. 33 E. Cassirer: Geschichte. Mythos, S. 94.
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Basisphänomen III, philosophiehistorisch eine Folge seiner Dilthey-Rezeption, insbesondere des Aufsatzes über die Archive der Literatur.34 Die Texte sind – wie Cassirer im Zusammenhang mit der Quellenkritik Pierre Bayles betont – »nicht einfach ein Gegebenes, sondern ein historisch ›Aufgegebenes‹ – ein durch Methoden der Philologie u[nd] Kritik erst zu Rekonstruierendes«.35 Das Resultat dieser Rekonstruktion des Historikers, die »wiederhergestellt[e]« Quelle, bezeichnet Cassirer als »Faktum« – eine Analogie zu Cohens »Faktum der Wissenschaft«. Auch in Cassirers Problematisierung des bloßen Textbestands und seiner Sicherung ist im Zusammenhang der vorliegenden Fragestellung eine Reflexion auf die veränderten Produktionsbedingungen des Exils zu sehen. So liegt beispielsweise bis heute der Text des Essay on Man nur verstümmelt vor, und die Konzeption von Cassirers später Philosophie ist auf diesem Textbestand eher zu erahnen als genau auszumachen.36 Beide Theoreme – das von der Vergegenwärtigung der biographischen und kulturellen Entstehungsbedingungen und das von der vorgängigen Sicherung des Quellenbestandes – finden im Essay on Man ihre Weiterführung, wenn Cassirer als Grundaufgabe und -tätigkeit des Historikers eine doppelte Rekonstruktion beschreibt: die empirisch-materiale Rekonstruktion der Dokumente und Monumente und darauf aufbauend deren symbolische Interpretation.37 (3) Bereits die unveröffentlichte Oxforder Platon-Vorlesung des Jahres 1935 markiert die Zäsur, die zwischen dem Marburger Neokantianer Cassirer und dem Cassirer der Exilszeit liegt. Aristoteles wird nun nicht mehr als »Irrtum«, als bloßer Rückschritt einer Philosophiegeschichte auf dem Weg zu ihrem Telos, der Kritik der reinen Vernunft Kants, verstanden. Aristoteles Kritik an Platon sei ernst zu nehmen, wie Cassirer hervorhebt, doch »alle seine Einwände sind auf einer allgemeinen Sicht und allgemeinen Definition von Philosophie gegründet, die vollständig von platonischen Begriffen abhängt«.38 Aristoteles gehört somit bereits in die Deutungsgeschichte der platonischen Philosophie, die freilich auch die Geschichte von deren allmählicher Transformation und damit Ablösung vom Urtext, ja sogar Entstellung in immer neuen Gestaltungsleistungen der Inter34 Vgl. W. Dilthey: Archive der Literatur, S. 555-575. 35 E. Cassirer: Geschichte. Mythos, S. 98. 36 Unter dem Paradigma der Objektivierung und der Konzeption einer philosophischen Anthropologie findet sie sich erstmals rekonstruiert bei G. Hartung: Das Maß des Menschen, S. 255-356. 37 Vgl. E. Cassirer: An Essay on Man, S. 177: »He [the historian] studies in the present the material traces left by the past. [...] To this actual, empirical reconstruction history adds a symbolic reconstruction. [...] If the historian fails to decipher the symbolic language of his monuments history remains to him a sealed book.« 38 E. Cassirer: Plato-Vorlesungen (Oxford 1935), Einleitung, in: Yale University, New Haven, Beineke Rare Book and Manuscript Library, Gen. Mss. 98, Box 48, Folders 958-962 [meine Übersetzung].
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preten ist: »By all these different attempts the doctrine of Plato has become, so to speak, a palimpsest.« Im Essay on Man hat Cassirer diese Überlegungen am Beispiel der Geschichte der Sokrates-Deutung fortgeführt.39 In philosophiegeschichtlicher Perspektive hat man es hier mit dem Phänomen zu tun, daß die vollständig verschiedenen Sokrates- oder Platondeutungen einander zwar widersprechen, daß aber keine von ihnen deshalb unwahr ist. Sie sind vielmehr Arbeit am unabschließbaren Prozeß der Bestimmung der platonischen Begriffe. Der Paradigmenwechsel, der sich damit in der Konzeption von Philosophiegeschichtsschreibung gegenüber der von Natorp geprägten Platon-Deutung vollzogen hat, könnte deutlicher nicht sein. Offenkundig legt Cassirer hier die Auffassung der Philosophiegeschichte als eines tendenziell offenen Prozesses zugrunde. Die Philosophie Platons mündet nicht länger in die Kants und kommt dort gleichsam zu sich selbst; das Paradigma des philosophiegeschichtlichen Fortschritts hin zu unüberbietbaren Gestalten ist endgültig verabschiedet. Damit aber wird historisch die Beschreibung und Anerkenntnis der Pluralität der interpretatorischen Perspektiven auf Platon möglich. Denkbar ist die Koexistenz einander widersprechender Wahrheiten nur unter der Annahme, daß jede der Interpretationen einen »neuen Aspekt« und eine »charakteristische Perspektive« auf Sokrates oder Platon repräsentiert. Das impliziert auch einen von Cassirer nicht weiter reflektierten Pluralismus im Wahrheitsbegriff. Der Begriff der Interpretation spielt hierbei für die Überlegungen des Essay on Man eine zentrale Rolle. Es ist erst die Interpretation durch Zeitgenossen und Nachwelt, die den »Lehren und Systemen der großen Denker« Bedeutung gibt. Und dieser Prozeß der Interpretation ist prinzipiell unabgeschlossen und unabschließbar.40 Kontinuität in der Philosophiegeschichte wird so zur Kontinuität der Interpretation und Re-Interpretation, zur Kontinuität des Interpretationsgeschehens als solchem. Der Offenheit des historischen Prozesses korrespondiert die Unabschließbarkeit der Interpretationsgeschichte.
III. Die Begründung der humanistischen Kulturphilosophie durch Geschichte Die Gegenstände der Kulturwissenschaften sind die der geschichtlichen Welt. Geschichte ist nicht nur die Grundlagendisziplin der Kulturwissenschaften und Kulturphilosophie. In der ihr eigenen doppelten Rekonstruktion, der Sicherung der historischen Dokumente und deren symbolischer Deutung, kommt ihr die Funktion der Welterschließung für die einzelnen symbolischen Formen zu. Sie wird so zum »Organon« der Selbsterkenntnis des Menschen: »History [...] is an
39 Vgl. E. Cassirer: An Essay on Man, S. 180. 40 Vgl. E. Cassirer: Plato-Vorlesungen (Oxford 1935), Einleitung: »And this process of interpretation never comes to a complete standstill.«
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organon of our self-knowledge, an indispensable instrument for building up our human universe.«41 Cassirer hat sich bei diesen Überlegungen nicht mehr nur auf die methodologischen Fragen der Historiographie, der Begriffe der historischen Erkenntnis und ihrer Logik beschränkt. Er hat im Essay on Man der in der Selbsterkenntnis des Menschen aufgebauten geschichtlichen und kulturellen Welt die Konzeption einer »Gegenwelt« im eigentlichen Sinne eingezeichnet: »Human culture taken as a whole may be described as the process of man’s progressive self-liberation.« Hierbei handelt es sich nicht um eine Ontologisierung der Geschichte und ihres Verlaufes, etwa im Sinne Hegels. Eine solche Auffassung hat Cassirer oft genug zurückgewiesen.42 Sein Konstruktivismus des historischen Erkennens läßt vielmehr Beschreibung und Verstehen historischer Verläufe nur unter der Annahme von Hypothesen zu – Cassirer spricht in diesem Falle von einer »Idee« im Kantischen Sinne.43 Und um eine solche, im einzelnen am historischen Material zu belegende Hypothese handelt es sich beim Gedanken der »fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen«. Die Konzeption einer offenen Geschichte oder Geschichtsschreibung auf der einen Seite und der Geschlossenheit der teleologischen Konstruktion auf der anderen schließen sich dabei nicht aus, wie es zunächst scheinen mag, sie verhalten sich vielmehr komplementär. Die Zugrundelegung eines Telos des Geschichtsverlaufes als Idee im Sinne der von Cassirer so häufig zitierten »unendlichen Aufgabe« soll dessen Beschreibung ermöglichen. Dabei ist die prinzipielle Offenheit des Geschichtsprozesses gerade die Bedingung, die die Annahme einer solchen heuristischen Idee überhaupt sinnvoll und erforderlich macht. Der Annahme der Offenheit des Verlaufs entspricht die Unabschließbarkeit der Geschichtsschreibung. »Man’s progressive self-liberation« meint eben die Richtung des Prozesses, die auch Umwege und Irrwege einschließt, nicht dessen Ende. Die »fortschreitende Selbstbefreiung des Menschen« versteht Cassirer nicht nur als heuristische Idee, als »unendliche Aufgabe« des Historikers. Sie ist auch Ideal der Kulturgestaltung und besitzt insofern eine ethische Dimension.44 Wenn die historische Erkenntnis als Organon an der »fortschreitenden Selbst-Befreiung« des Menschen mitwirkt, dann nicht nur in dem formalen Sinne, daß sie grundlegend welterschließend wie -beschreibend und damit weltgestaltend wirkt. Sie gibt in der Rekonstruktion des Historikers auch die Traditionen der Geschichte an die Hand, die zeigen, was Menschsein geheißen hat und zukünftig 41 E. Cassirer: An Essay on Man, S. 206. 42 Vgl. z.B. E. Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie. Göteborg: Hökskolas Årsskrift 1939, S. 22 u. 25-28. 43 Vgl. ebd., S. 28. 44 Im Sinne des von Schwemmer bestimmten »ethischen Universalismus« (vgl. O. Schwemmer: Ernst Cassirer, S. 127-194), nicht einer defizitären moralphilosophisch motivierten Orientierung an Normativität (vgl. B. Recki: Kultur als Praxis, S. 151-209).
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heißen mag.45 Cassirers »Ideal einer neuen ›humanistischen‹ Grundlegung der Kultur« ist freilich ein geschichtlich erschlossenes, ein historisches Konstrukt.46 Es ist eine invention of tradition, und die historische Frage danach, ob es in der Renaissance oder im 18. Jahrhundert einen solchen Humanismus »wirklich« gegeben habe, erscheint in diesem wie im Falle der zahlreichen »Humanismen« am Anfang des 20. Jahrhunderts als irrelevant.47 Entscheidend ist, daß Cassirers Ideal der Humanität eine Antwort auf die Wendung der europäischen Geschichte ist, die ihn ins Exil trieb – eine Antwort, die die Ideengeschichte zum Medium der Stabilisierung, Produktivität und schließlich auch der Kritik macht. Das verdeutlicht bereits der Aufsatz über Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie von 1939. Zur Funktion der »erfundenen Tradition« gehört, daß diese Antwort der unsicher gewordenen Welt eine Gegenwelt von stabiler, von »unveränderlicher und invarianter« Struktur entgegensetzt.48 Das geschieht durch die Konstruktion einer eigenen Vergangenheit, der eine Art normierender Verpflichtung innewohnt, diese Vergangenheit zu wiederholen. Wiederholung und die Konstruktion von Kontinuität sind die zentralen Merkmale dieser Vergangenheitserfindung. An dieser Stelle wird eine Besonderheit der invention of tradition im Bereich der Ideengeschichte im Unterschied zur politischen und sozialen Geschichte deutlich. In jener geht es nicht um Formalisierung und die Schaffung neuer Rituale oder sozialer Symbole.49 Die invention of tradition der Ideengeschichte geschieht bereits in einer Art Gegenwelt, in der Bibliothek. Sie ist zuerst und zentral die Schaffung oder Aktualisierung eines Kanons. Cassirer fand sein Ideal der Humanität, »diese neue Dimension, die die geschichtliche Anschauung erfährt«, in der Geschichte des 18. Jahrhunderts: »Wir können es [das Ideal der Humanität] uns nicht anders als am Werk Winckelmanns und Lessings, Herders und Schillers, Goethes und Wilhelm von Humboldts zur Anschauung bringen.«50 Für Cassirer war das der Kanon, mit dem er bereits in Freiheit und Form von 1916 auf die Krise des Ersten Weltkrieges reagiert hatte.51 45 Vgl. dazu O. Schwemmer: Ernst Cassirer, S. 216, der betont, daß Cassirer zufolge »das Maß der Wahrheit und der Sittlichkeit« im »Verweis auf den historischen Prozeß« gegeben wird. 46 Vgl. E. Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung, S. 15. 47 Vgl. Eric Hobsbawm: »Introduction. Inventing Traditions«, in: ders./Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 1-14. Hobsbawm bezieht die später meist formelhaft gebrauchte Wendung zwar nicht auf die Ideen- oder Philosophiegeschichte, doch genügen die von ihm formulierten Kriterien, um auch im Falle von Cassirers »humanistischem Ideal« von einer »invention of tradition« zu sprechen. 48 Vgl. ebd., S. 2. 49 Vgl. ebd., S. 4. 50 E. Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung, S. 15. 51 Vgl. dazu David R. Lipton: Ernst Cassirer. The Dilemma of a Liberal Intellectual in Germany 1914-33, Toronto: University of Toronto Press 1978, S. 50-69. Zur Funktion dieses Bildungskanons bei der jüdischen Enkulturation im Deutschland
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Das Ideal der Humanität verstand Cassirer freilich nicht primär als ethisches, es »liegt nicht innerhalb der Grenzen der sittlichen Form«.52 Vielmehr eröffnet sich jegliche Dimension der menschlich-kulturellen Welt, auch die ethische, erst in der historischen Erinnerung an das, was es eigentlich heißt, Mensch zu sein: »Als der Grundzug alles menschlichen Daseins erscheint es, dass der Mensch in der Fülle der äusseren Eindrücke nicht einfach aufgeht, sondern dass er diese Fülle bändigt, indem er ihr eine bestimmte Form aufprägt, die letzten Endes aus ihm selbst, aus dem denkenden, fühlenden, wollenden Subjekt herstammt.«53
Auf dieser Definition des Ideals der Humanität erst gründen dessen weitere Bestimmungen der »theoretischen, der ästhetischen, der ethischen Formung« und der durch sie vollzogenen Objektivierungsleistungen des Menschen.54 Die dadurch immer fortschreitende Selbstbefreiung des Menschen ist eine »Befreiung des Menschen aus fremden Zwängen durch sich selbst« und als »Befreiung zu sich selbst, zu einem Selbst, das eigene Verantwortung übernehmen kann«.55 Die Aktualisierung dieses Ideals vollzog sich für Cassirer lebensgeschichtlich auf dem harten Boden des Exils, seiner Bedrohungen und Beschränkungen. Dennoch bleibt die Frage, wie Ernst Cassirer angesichts der historischen Realität seiner Zeit eine solch optimistische Perspektive auf die Geschichte haben konnte. Zeugnisse belegen zwar, daß er Hitler und die Herrschaft der Nazis für eine Episode der deutschen Geschichte hielt.56 Doch dieser Hinweis alleine genügt nicht, ließe sich doch weiter fragen, worauf diese Überzeugung gründet. Die Frage ist am besten durch den Hinweis auf die These von der Gegenwelt zu beantworten: Die Ausrichtung des Geschichtsprozesses auf das Ziel der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen kann gelesen werden als Entwurf einer teleologisch strukturierten Gegenwelt zur chaotischen, konkreten Realität. Bei der Konzeption einer »Gegenwelt« handelt es sich gerade um ein funktionales Gebilde von theoretischer oder narrativer Struktur, das grundlegend durch ein mindestens kontrafaktisches, im weiteren Sinne sogar utopisches Moment charakterisiert ist.57 Der Gegenentwurf zur konkreten historischen Realität und seine Begründung in der Geschichte lassen nicht nur den Verlauf der Historie als »Irrweg« er-
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des 19. Jahrhunderts vgl. George L. Mosse: German Jews Beyond Judaism, Bloomington: Indiana University Press 1985. E. Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung, S. 16. Ebd. Vgl. ebd., S. 17. O. Schwemmer: Ernst Cassirer, S. 202. Vgl. Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner 2003, S. 195: »Ich nehme an [so Cassirer zu Karl Joël], daß das Regime zehn Jahre dauern wird; das Unheil, das es stiften wird, wird aber hundert bis hundertfünfzig Jahre weiter wirken.« Vgl. auch M. Hänel: Exclusions and Inclusions, S. 128f. Die Frage nach Form und Struktur von Gegenwelten in anderen Medien, etwa in bildender Kunst oder Musik, muß hier vernachlässigt werden.
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scheinen. Die Kontinuität im Gegenentwurf, die Ungebrochenheit der humanistischen Tradition, wirkt vielmehr als Palliativ gegen den lähmenden, unheilbaren Zivilisationsbruch. Cassirers durch die Tradition der humanitas geprägter Gegenwelt kommt damit die Funktion zu, stabilisierend zu wirken, zunächst für die eigene Alltäglichkeit, im weiteren aber auch für sein Schaffen und Werk. Dieser Schutzraum der invention of tradition wird zur Institution, die die Produktivität des Schaffens gewährleistet und die Integration von Neuem, auch wissenschaftlich und philosophisch Neuem möglich macht. Hier vollzieht sich eine parallele Bewegung zu jener produktiven Zeit der Krise während des Ersten Weltkrieges, in der Cassirer seine semiotische Wende anbahnte und die Konzeption seiner späteren Philosophie der symbolischen Formen entwickelte.58 Mit welch hoher integrativer Kraft Cassirers Philosophieren sich in der Exilszeit neuen philosophischen und einzelwissenschaftlichen Ansätzen öffnete, zeigt nicht nur die Konzeption der Basisphänomene, seine Wende zur »geschichtlichen Welt«, sondern auch seine Arbeit am Projekt des Essay on Man. Cassirers Kanon humanistischen Denkens diente über seine stabilisierende und produktive Funktion hinaus sogar als Instanz der Kritik gegen seine Feinde. Das soll in einem letzten Schritt gezeigt werden.
IV. Kritische Philosophiegeschichtsschreibung – die Aufbietung der ideengeschichtlichen Tradition gegen die politische Instrumentalisierung der Philosophie Die Gewalt der politischen Ereignisse, die Cassirer am eigenen Leib erfahren hatte, suchte er im The Myth of the State zu verstehen als Einbruch mythischen Denkens in die rationale Organisation, die sich in Politik und Gesellschaft in »quiet and peaceful times, in periods of relative stability and security« herausgebildet hatte.59 Dabei sind die »neuen politischen Mythen« Instrumente sich durchsetzender gewalttätiger Affekte; sie sind, im Unterschied zu den »gewachsenen« Mythen der Naturvölker, »artificial things fabricated by very skilful and cunning artisans«.60 Die Aufgabe der Philosophie in solchen Krisenzeiten ist eine 58 Vgl. Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin: Akademie 2001, S. 267ff. Zur Präfiguration des Konzepts der Philosophie der symbolischen Formen bereits in Freiheit und Form vgl. H. Kopp-Oberstebrink: »Kulturphilosophie und symbolische Formen. Herder in der Rezeption Ernst Cassirers«, in: Christoph Schulte (Hg.), Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas, Hildesheim: Olms 2003, S. 211-223, hier S. 217-220. 59 Vgl. E. Cassirer: The Myth of the State [1946]. New Haven, London: Yale University Press 1974, S. 279. 60 Ebd., S. 282.
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doppelte: Sie muß erstens gegen die Entstellungen der Geschichte durch Demagogen die Erinnerung an die bedrohte Dimension einer humanen Kultur, das Ideal der humanitas, wachhalten. Sie hat zweitens aber darüber hinaus auch deren Feinde namhaft zu machen, wie es The Myth of the State formuliert.61 Wie wichtig Cassirer diese Aufgaben waren, zeigt seine Auseinandersetzung mit dem, dem Nationalsozialismus verschriebenen, Anti-Cartesianismus von Franz Böhm.62 Diese »politische Kampfschrift«, die Descartes als »nächsten philosophischen Gegner« und als »fremdartigen Bestandteil auszustoßen sucht«, gehört für Cassirer eindeutig nicht in die Interpretationsgeschichte von dessen Philosophie.63 Das Pamphlet verdient Beachtung ausschließlich als »typische Zeiterscheinung«, wie Cassirer betont.64 Denn es lassen sich hier exemplarisch Bedingungen und Merkmale für die politische Instrumentalisierung von Philosophie benennen: der Verzicht auf die »Forderungen einer objektiven philosophischen oder geschichtlichen Wahrheit«, auf Rationalität, auf die »Ideale der abendländischen Welt« und auf »selbstzweckhafte Versenkung in die geistesgeschichtliche Vergangenheit«.65 Auf dieser Basis will der Vertreter einer »neue[n] nationalsozialistische[n] Wissenschaft« »die großen Gestalten der deutschen philosophischen Vergangenheit [...] als Kronzeugen« gegen Descartes mobilisieren.66 Cassirers Gegeninstanz zu dieser Verzerrung und Instrumentalisierung der Philosophiegeschichte sowie dem erklärten »Mut« ihres Urhebers »zur Ungeschichtlichkeit« ist die Geschichte selbst, die Tradition der Philosophiegeschichte und deren Descartes-Bild.67 Cassirers Verfahren ist dabei konsequent das des historischen Zitats. Er entnimmt seine Charakteristik Descartes’ als des »eigentlichen Repräsentanten des ›Idealismus der Freiheit‹«, als der »Verkörperung [...] der Autonomie des Geistes«, als des Beginns der »modernen Philosophie« aus Leibniz, Dilthey, Hegel und anderen. Cassirer mobilisiert die Auslegungstradition gegen den Versuch ihrer politisch instrumentalisierten Zerstörung. Cassirers Ausführungen von 1939 lesen sich wie ein Seitenstück zum letzten Kapitel des The Myth of the State. Die Macht der »neuen politischen Mythen« in Krisenzeiten beruht eben nicht nur auf der Entfesselung gewalttätiger Affekte im Menschen, sondern auch auf dem Versuch, verschiedene Paradigmen und Differenzierungen, die zu Institutionen der modernen Kultur und Gesellschaft gewor61 Vgl. ebd., S. 296: »It [philosophy] can make us understand the adversary.« 62 Vgl. Franz Böhm: Anti-Cartesianismus. Deutsche Philosophie im Widerstand, Leipzig: Meiner 1938. Die Kritik findet sich in E. Cassirer: »Die Philosophie im XVII. und XVIII. Jahrhundert«, in: Philosophie, Chronique Annuelle, Paris 1939 (Actualités scientifiques et industrielles 841), S. 22-26. 63 Vgl. ebd., S. 22ff. 64 Vgl. ebd., S. 23. 65 Ebd., S. 22f. 66 Ebd., S. 24. 67 Vgl. ebd., S. 24: »[D]ie Geschichte spricht hier eine allzu deutliche Sprache. Diese Sprache lässt sich nicht übertäuben; sie muss zuletzt auch für den hörbar werden, der der Forderung, die Böhm aufstellt, zu genügen vermag [...].«
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den sind, zu beseitigen. Im Bereich der Wissenschaftskultur ist das die Bindung an die Maßstäbe von Rationalität, Objektivität und Universalität. Deren Verlust wiederum macht die politische Instrumentalisierbarkeit von Philosophie und Wissenschaft erst möglich und basiert auf zwei Momenten: zum einen auf Geschichtsvergessenheit, auf der Loslösung der menschlichen Kultur von der Geschichte und deren Idealen, zum anderen auf der Diskreditierung der bereits von Aristoteles zur Bedingung jeglicher Theorie erklärten Tätigkeit um ihrer selbst willen.68 Gerade dies letztere, bis heute irritierende Moment, verweigert die Dienstbarmachung von Philosophie. Konsequent und auf den Spuren der Kritik von 1939 skizziert The Myth of the State Spengler als Protagonisten eines Denkens, das kritische, wissenschaftliche Philosophie wie Kunst im Dienste einer Kulturkritik des Untergangs so weitgehend instrumentalisiert, daß es sie aufhebt: Philosophie wird zur »Lehre«, über deren Rang »allein die Notwendigkeit für das Leben entscheidet«.69 Ziel der Spenglerschen Lehre ist, daß »sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden«.70 Heideggers Abkehr von wissenschaftlicher Philosophie setzt an die Stelle »objektiv und universell gültiger Wahrheit« die bloße Existenz und Geworfenheit des Menschen. Solche Philosophien nehmen dem Menschen die Ziele und Wege aus der Hand, über die er zum »Aufbau und Wiederaufbau des kulturellen Lebens« verfügt: die »grundlegenden theoretischen und ethischen Ideale« sowie die Geschichte als die Dimension der Gestaltung.71 Auf eine weitere Dimension des Themas Cassirers Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung im Exil ist abschließend hinzuweisen. Es ist nicht auszuschließen, daß die Prominenz des Begriffs der historischen Erinnerung in Cassirers Überlegungen zur Historik ihren letzten Grund in der Tradition und Kultur hat, wegen der er aus seinem Land vertrieben wurde. Historisches Erkennen vollzieht sich immer im doppelten Modus von Erinnerung und Erwartung, darauf weist das Geschichtsmanuskript von 1936 hin.72 Formelhaft steht hierfür die von Cassirer mehrfach zitierte Sentenz Friedrich Schlegels, der Historiker sei ein »rückwärts gekehrter Prophet«.73 Historisches Denken ist nicht »the reproduction, but the reverse, of the actual historical process« – die Umkehrung des tatsächlichen historischen Prozesses – wie es im Essay on Man heißt.74 In der 68 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 10. Buch, 7. Kapitel. 69 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1, Gestalt und Wirklichkeit, München: Beck, 3. Aufl. 1919, S. 58. Vgl. E. Cassirer: The Myth of the State, S. 289-292. 70 O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, S. 56. Zur weitergehenden Auseinandersetzung Cassirers mit Spengler vgl. E. Cassirer: Geschichte. Mythos, S. 77-82 u. 232f. 71 Vgl. E. Cassirer: The Myth of the State, S. 383 [meine Übersetzung]. 72 Vgl. E. Cassirer: Geschichte. Mythos, S. 85 u. 94. 73 E. Cassirer: An Essay on Man, S. 178 u. ders., Geschichte. Mythos, S. 94. 74 Vgl. E. Cassirer: An Essay on Man, S. 184.
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jüdischen Tradition, in der Cassirer aufgewachsen war, ist dies eine geläufige Figur: T’schuba bedeutet im Hebräischen »Umkehr« – zugleich aber auch »Buße«, im weiteren »Antwort« und »Erwiderung«. Der Mensch, der seine Taten bereut und für sie Buße tut, kehrt auf seinem schlechten Weg um und geht ihn bis zum Anfang zurück. Vielleicht lag für Cassirer in diesem Gedanken tatsächlich Hoffnung auf die gleichsam erlösende Macht der historischen Erinnerung.
KAY SCHILLER
Historismuskrise und »Dritter Humanismus«: Werner Jaegers Beiträge zum Humanitätsdiskurs
Ich weiß, daß Sie den Verfasser gut kennen, aber auf die Gefahr hin, daß Sie erzürnen, muß ich Ihnen doch sagen, daß mich dieses Buch tief entsetzt hat. [...] Wie hat denn das griechische Vorbild ausgesehen? Wer stellt es dar: die homerischen Helden, die spartanische Aristokratie, die athenische Demokratie, Perikles, der Platonische Staat, die Stoa? Es gibt doch nicht den griechischen Menschen. Die Plato-Gestalt bleibt, freundlich gesagt, höchst verschwommen, gleichfalls die beiden ersten Humanismen. Und der sog. dritte Humanismus kann mit Leichtigkeit als »ideologischer Überbau« von ganz anderen als humanistischen Gewalten und Tendenzen in Beschlag genommen werden. Theodor E. Mommsen an Ernst Kantorowicz, 13. Juni 19371
I. Wie dieser Auszug aus einem Brief eines aus NS-Deutschland ausgewanderten Mediävisten an einen weiteren, ungleich prominenteren mehr als vier Jahre nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten vermuten läßt, fiel es akademischen Emigranten grundsätzlich schwer, die intellektuellen Problemhorizonte der Weimarer Republik in ihrem Exilland hinter sich zu lassen. Der Abkömmling der protestantischen Gelehrtenfamilie – Theodor E. Mommsen (1905-1958) war ein Enkel des Berliner Althistorikers Theodor Mommsens – war aus Solidarität zu seinen deutsch-jüdischen Kollegen 1935 freiwillig aus NSDeutschland über Italien in die USA ausgewandert. Vordergründig geht es bei seiner scharfen Kritik an Der Dritte Humanismus, einer bereits 1932 erschienenen ideenpolitischen Schrift des dem George-Kreis nahestehenden Schriftstellers, Journalisten und Rundfunkredakteurs Wolfgang Frommel um die man-
1 Zitiert nach Kay Schiller: Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2000, S. 69.
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gelnde historische und philosophische Fachkompetenz des Autors.2 Dahinter verbirgt sich jedoch die grundsätzliche Kontroverse über die Geschichtlichkeit und Über-Geschichtlichkeit von kulturellen Werten. Damit schreibt Mommsen jenen von Nietzsche und Dilthey initiierten Diskurs fort, den sein Großvater noch wie selbstverständlich übergehen konnte und der seit dem späten 19. Jahrhundert unter den Überschriften »Historismuskrise« und »Humanitätskontroverse« verhandelt wurde. Theodor E. Mommsen stört sich besonders an Frommels Stilisierung der griechischen Antike zum emblematischen Modell der Selbst- und Rückbesinnung. Frommel hatte in seiner ideenpolitischen Schrift zur Orientierung am klassischen Griechenland aufgefordert, um die sog. »Sinnkrise« der modernen Kulturwelt zu überwinden, und dem sich an der Wiederentdeckung der Antike entfaltenden »ersten« biblischen Humanismus eines Ulrich von Hutten und Konrad Celtis sowie dem ästhetischen Humanismus der deutschen Klassik einen national eingefärbten »Dritten Humanismus« als Postulat für die Gegenwart zur Seite gestellt. Mommsens Kritik zielt damit auf die besonders vom George-Kreis, zu dem sich vor seiner Emigration in die Vereinigten Staaten auch Kantorowicz rechnete, angetriebene zeitgenössische Konjunktur der Indienstnahme von Mustern aus der Geschichte als Antwort auf eine krisenhaft erlebte Gegenwart. Diese dienten zur Konstruktion von wissenschaftlichen sowie ästhetischen, jedenfalls »gelehrten Gegenwelten«, mit denen das gebildete Individuum vermeintlich angemessen auf das Leben in der industriellen Moderne reagieren können sollte. Man maßte sich an, dem verunsicherten Bildungsbürgertum »Verhaltenslehren« an die Hand zu geben, mit denen sich die Krisenlage der eigenen Zeit humanistisch zum Besseren wenden ließe.3 Für den Wissenschaftler Mommsen jedoch waren solche vorgeblich humanistischen Versuche der Normbegründung aus der Geschichte nicht mit dem eigenen, von Max Weber übernommenen Gelehrtenethos vereinbar. Gerade durch ihren Anspruch auf weltanschauliche Wahrheit und dem Versprechen, anhand der Geschichte Antwort auf Sinnfragen zu geben, waren Werke wie Frommels von zweifelhaftem Wert, hatte Weber doch darauf insistiert, daß die Wissenschaft nicht dazu taugte, Lösungen für grundsätzliche Probleme des Seins »zum Nutzen des Lebens« bereitzuhalten.4 Nicht zuletzt erschien Mommsen Frommels Schrift von 1932 retrospektiv in Anbetracht dessen, was in Deutschland ein Jahr später geschah, auch politisch und ideologisch als höchst bedenklich. 2 Vgl. Lothar Helbing [Pseud.]: Der Dritte Humanismus, Berlin: Die Runde 1932. 3 Helmuth Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 131. 4 Vgl. Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« [1904] u. »Wissenschaft als Beruf« [1919], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr, 4. Aufl. 1973, S. 146-214 u. S. 582-613.
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Im Nachfolgenden wird zunächst auf die solchen Versuchen der Krisenbewältigung zugrundeliegende, an Diltheys Geschichtsphilosophie und Wissenschaftslehre anschließende und vielleicht am wirkungsvollsten von Ernst Troeltsch konstatierte Problemlage der Historismuskrise in den Geisteswissenschaften während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eingegangen werden. In einem zweiten Teil wird es dann darum gehen, den von Frommel geforderten, im akademischen Berlin der Weimarer Republik und im Rahmen der geisteswissenschaftlichen akademischen Emigration nach 1933 aber v.a. vom Berliner Altphilologen Werner Jaeger vertretenen Dritten Humanismus näher ins Auge zu fassen. Der Schwerpunkt liegt mit Jaeger auf einem Gelehrten, der, obwohl er nicht als Deutscher jüdischer Herkunft verfolgt wurde, in den dreißiger Jahren in die Vereinigten Staaten emigierte. Zwar wurde er mit seinem Versuch, über den Rekurs auf die klassische Antike eine humanistische Wende herbeizuführen, das dem Historismus eingeschriebene Relativismusproblem vordergründig los, zugleich standen seine Normsetzungen aber in gefährlicher Nähe zu jener politischen Ideologie in Deutschland, die dem Humanitätsgedanken in Todfeindschaft gegenüberstand. Seinen eigenen nachträglichen Distanzierungen zum Trotz, muß Jaeger deshalb, wie im übrigen auch Frommel, zu den geistigen Wegbereitern des nationalsozialistischen Unrechtsregimes gerechnet werden. Zwar rückte Jaeger nach 1933 vom Begriff »Dritter Humanismus« relativ zügig ab, dennoch verabschiedete er sich selbst in der Emigration nicht von dessen ideellem Gehalt, wenn er auch in der Nachkriegszeit neben dem klassischen Griechenland dem frühen Christentum einen gleichwertigen Rang bei der Herausbildung des modernen Humanitätsdenkens zubilligte. Das führte einerseits dazu, daß seine Arbeiten bis 1945 in Deutschland weitgehend wohlgelitten waren und er den Kontakt zur in Deutschland verbliebenen und größtenteils dem Nationalsozialismus zuarbeitenden Altertumswissenschaft aufrechterhalten konnte.5 Darüber hinaus fiel es ihm jedoch auch in der frühen Bundesrepublik der fünfziger Jahre nicht schwer, ein größeres restaurativ gesinntes Publikum für die ideenpolitische Komponente seines Verständnisses von Altertumswissenschaft zu finden. Das akademische Berlin der Friedrich-Wilhelms-Universität, neben Jaeger v.a. repräsentiert durch Dilthey und Troeltsch und den Dilthey-Schüler, Pädagogen und engen Mitstreiter Jaegers Eduard Spranger, war eines von vier Zentren der neuhumanistischen Reflexion im Deutschland der Weimarer Republik. Daneben lassen sich in einer Kartographie des Humanitätsdiskurses zu dieser Zeit noch drei weitere Fixpunkte ausmachen: der Heidelberger Kreis um den Dichter Stefan George, zu dem im weitesten Sinne auch Frommel zu rechnen ist; das Hamburger Warburg-Institut; und weiterhin der Rekurs auf die Antike, 5 Vgl. hierzu grundlegend Beat Näf: Von Perikles zu Hitler? Die athenische Demokratie und die deutsche Althistorie bis 1945, Bern: Peter Lang 1986.
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insbesondere auf Platon, im Heidegger-Kreis, vertreten durch Altphilologen wie Wolfgang Schadewaldt sowie jüngere Heidegger-Schüler wie Helmut Kuhn und Gerhard Krüger.6 Zwar unterschieden sich diese Zentren im Hinblick auf den geistigen Rahmen anhand dessen das Humanitätsproblem erörtert wurde – mit den Schwerpunkten Philosophie in Berlin, Dichtung und Literaturwissenschaft in Heidelberg und Kunstgeschichte in Hamburg –, doch zugleich gab es vielfältige Berührungspunkte. Ernst Cassirer etwa wechselte von Berlin nach Hamburg und Troeltsch von einer Heidelberger Professur auf eine Berliner; Schadewaldt und Kuhn waren mit kongenialen Vorträgen auf Jaegers Naumburger Tagung von 1929 über das Problem des Klassischen vertreten; und obwohl sich der GeorgeKreis weder in der Hauptstadt noch in Hamburg fest verankern konnte, gingen von ihm auf das akademische Leben dieser beiden Städte starke ideenpolitische Impulse aus.7
II. Zunächst jedoch zu Dilthey (1833-1911). Im Gegensatz zu Ranke spricht Dilthey, wenn er von der Geschichte spricht, nicht von der Geschichte, einer aus objektiven Fakten rekonstruierbaren und damit erzählbaren Geschichte, sondern vom »historischen Bewußtsein«. Die Grundlage des Historismus des 19. Jahrhunderts, Rankes Diktum, daß man Geschichte so schreiben könne, »wie es wirklich gewesen sei«, war für Dilthey nicht länger haltbar. In seiner Reflexion über die Geschichte hatte sich der Schwerpunkt »von der Seite des Seins auf die Seite des Wissens, des ›Im-Bewußtsein-Habens‹ verlagert«.8 Dementsprechend geht es bei Diltheys Projekt einer Kritik der historischen Vernunft auch nicht um ein von Hegel inspiriertes Suchen nach der Vernunft in der Geschichte, sondern in Analogie zu Kant um eine Kritik des historischen Bewußtseins. So ist auch der Titel seines Hauptwerks zur Wissenschaftslehre Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1911 zu verstehen. Die Geschichte ist nicht etwa gegeben und damit abbildbar, sondern wird vielmehr im Wissen und im historischen Bewußtsein erst »aufgebaut«.9 Daraus folgte im Umkehrschluß in Diltheys Wissenschaftslehre, daß sie und die anderen Geisteswissenschaften – im Gegensatz zu den Naturwissenschaften – es dem subjektiven Selbst des Menschen mittels des historischen Bewußtseins 6 Vgl. Reinhard Mehring: »›Ich will es zurücknehmen.‹ Zur Humanitätskontroverse in Thomas Manns Doktor Faustus«, in: ders., Das »Problem der Humanität«. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn: Mentis 2003, S. 102-118, hier S. 112-118. Vgl. z.B. Gerhard Krüger: Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt/M.: Klostermann 1939. 7 Vgl. R. Mehring: Ich will es zurücknehmen, S. 114ff. 8 Eduard Spranger: Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen, Tübingen: Wunderlich 1966, S. 149. 9 Vgl. ebd., S. 149f.
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ermöglichten, sich in seiner Gänze zu »erfahren«. »Was der Mensch sei, sagt ihm nur die Geschichte«, ist ein zentrales Wort Diltheys.10 Sie sagt es dem sie erforschenden Menschen, indem sie diesem erlaubt, das eigene subjektive Selbst mit allen Facetten, seinen rationalen wie irrationalen Seiten, in das, wie Dilthey es nannte, Bewußtsein für die »objektiven Lebensäußerungen« der Vergangenheit auszudehnen. Der damit verbundene Rekurs auf die »innere Erfahrung« des Historikers eröffnete der historischen Erkenntnis einen höheren Grad an Objektivität als der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, wodurch die Geisteswissenschaften jeder Naturwissenschaft unendlich überlegen seien.11 Zwar konnte der Mensch so durch die Geschichte erfahren, was er sei, aber nicht was er sein sollte. Fragen der Ethik blieben vom Historismus in Diltheys Lesart unberührt, denn jede Geschichte schloß auch die Wertvorstellungen desjenigen, der sie beschrieb und analysierte, mit ein. Diese waren selbst historisch geworden und damit relativ. Daraus resultierte die Krise des Historismus, nicht nur als innerwissenschaftliches Problem der Geschichtswissenschaft wie der anderen historisch arbeitenden Geisteswissenschaften, sondern darüber hinaus, wie Troeltsch es später faßte, als »praktisches Lebensproblem«.12 Dilthey hatte das schon selbst erkannt, ohne aber für die »Crux des Historismus« einen befriedigenden Ausweg anbieten zu können. In einem seiner späten Vorträge heißt es: »Ein scheinbar unversöhnlicher Gegensatz entsteht, wenn das geschichtliche Bewußtsein in seine letzten Konsequenzen verfolgt wird. Die Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, sie sei eine Religion oder ein Ideal oder philosophisches System, sonach die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend. Und dagegen erhebt sich das Bedürfnis des Denkens und das Streben der Philosophie nach einer allgemeingültigen Erkenntnis. Die geschichtliche Weltanschauung ist die Befreierin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht zerrissen haben – aber wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden?«13
III. Obwohl Dilthey bereits 1911 starb, erreichte sein Einfluß in Deutschland erst in den zwanziger Jahren seinen Höhepunkt, nachdem seine bedeutendsten Werke nach kriegsbedingter Unterbrechung als Teil seiner Gesammelten Schriften ver10 Vgl. ebd., S. 152. 11 Vgl. Otto G. Oexle: »Max Weber – Geschichte als Problemgeschichte«, in: ders. (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte, Göttingen: Wallstein 2001, S. 16f. 12 Fritz Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart: Klett-Cotta 1983, S. 308. 13 E. Spranger: Berliner Geist, S. 152f.
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öffentlicht und somit leicht zugänglich geworden waren. Die Bedeutung von Diltheys Kritik des historischen Bewußtseins, insbesondere die Hinterlassenschaft des aus der radikalen Historisierung resultierenden Problems der »Verflüssigung aller Grundüberzeugungen« (Rudolf Eucken) verwandelte sich in der Folge vom methodischen und akademischen zum weltanschaulichen Hauptproblem. Die Historismuskrise war damit symptomatisch für das Leiden an der Moderne und die Sinnkrise nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung nach verlorenem Ersten Weltkrieg und Novemberrevolution. Diese Problemlage wurde insbesondere von einem weiteren Berliner Hochschullehrer, dem 1914 als Ordinarius für Religions-, Sozial- und Geschichtsphilosophie an die FriedrichWilhelms-Universität berufenen protestantischen Theologen Ernst Troeltsch (1865-1923), hervorgehoben. In einer Reihe von Aufsätzen, die nach 1916 in der Historischen Zeitschrift erschienen und 1922 in den ersten Band von Der Historismus und seine Probleme mündeten, erörterte Troeltsch diese Problematik.14 In Troeltschs berühmter Definition war der Historismus »die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts geworden ist. Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkannt Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in dem Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich.«15
Zwar stärkte die Historisierung »den Sinn für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten überindividuellen Zusammenhängen« und leite »jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit zu«, allerdings würden durch sie auch »alle ewigen Wahrheiten erschüttert«.16 Die daraus resultierende Krise war symptomatisch für »eine tiefe innere Krise der Zeit überhaupt« und damit wesentliche Signatur der kulturellen Moderne.17 Wie schon Dilthey sah Troeltsch im Historismus »eine umfassende kulturelle Revolution, die alle bis dahin gegebenen stabilen Gewißheiten erschüttert und immer neu die Erfahrung von Kontingenz und Relativität erzeugt«.18
14 Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Gesammelte Schriften Bd. 3, Tübingen: Mohr 1922. 15 O. G. Oexle: »Troeltschs Dilemma«, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Ernst Troeltschs »Historismus«, Troeltsch-Studien Band 11, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2000, S. 26f. 16 Vgl. ebd. S. 27. 17 F. Ringer: Die Gelehrten, S. 310. 18 F. W. Graf: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Ernst Troeltschs »Historismus«, Troeltsch-Studien Band 11, S. 10f.
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Troeltsch war allerdings der Überzeugung, daß es gegen die damit einhergehende »Anarchie der Werte« ethische und kulturphilosophische Verbindlichkeiten zu setzen galt. Im zweiten Kapitel des Historismusbuches spricht er von der Notwendigkeit, anhand einer »kritischen Auslese aus dem [abendländischen] Kulturbesitze« die Maßstäbe für eine neue normative Kultursynthese zu gewinnen.19 Troeltsch wollte »Geschichte durch Geschichte überwinden«, d.h. mit Hilfe eines in der Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie gleichermaßen fußenden Systems von westlichen Kulturwerten ein »Gegengift gegen [...] schrankenlosen Skeptizismus« und Nihilismus entwickeln.20 Im Unterschied zu seinem Freund Max Weber ließen sich für ihn die Geschichtswissenschaft und das Leben nicht voneinander scheiden. »[D]ie Lehre von der historischen Erkenntnis, die Lehre vom Sein und die Lehre von der Werthaftigkeit der historischen Gegenstände« sind im Gegensatz zur von diesem propagierten scharfen Trennung nicht voneinander isolierbar.21 In den Worten Otto Gerhard Oexles: »Man könnte sagen: Troeltschs Kultursynthese ist ein Versuch (entsprechend der Forderung Nietzsches), die Geschichte in den Dienst des Lebens zu stellen, dabei aber (im Gegensatz zu Nietzsche) den Wissenschaftscharakter der Historie aufrechtzuerhalten, ja sogar die Objektivität ihrer Erkenntnis ausdrücklich zu behaupten.«22
Zu einer detaillierten Ausführung dieser historisch fundierten europäischen Kultursynthese im geplanten zweiten Band des Historismusbuches kam es indessen durch den frühen Tod Troeltschs nicht mehr. Dazu erhalten sind nur Ansätze in verstreuten Essays und Vorträgen, die Hans Baron zuerst posthum in dem Band Deutscher Geist und Westeuropa 1925 zusammenführte.23 Aus ihnen lassen sich Troeltschs Werturteile über den »abendländischen Kulturbesitz« ableiten. Zwar sollte die neue Kultursynthese auf dem »Wechselverhältnis deutscher und westeuropäischer Kultur« aufbauen und damit den Bedingungen der modernen Welt entsprechen. Zugleich aber mußte sie, wie Troeltsch etwa in seinem Vortrag von 1916 »Humanismus und Nationalismus in unserem Bildungswesen« ausführte, auch dazu beitragen, die zentralen Teile der deutschen Geistestradition zu retten. Zu den bedeutenden Teilen des deutschen Erbes gehörten sowohl die »säkulare Religion« des neuhumanistischen Bildungsideals Humboldts als auch der beispielhaft von Luther, Herder, Goethe und Bismarck repräsentierte Kanon prote-
19 Vgl. E. Spranger: Berliner Geist, S. 166f. 20 E. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, S. 772. 21 Vgl. Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2. überarb. Aufl. 1994, S. 152f. 22 O. G. Oexle: »›Historismus‹. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs«, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 59. 23 Vgl. E. Troeltsch: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hg. v. Hans Baron, Tübingen: Mohr 1925.
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stantischer Nationalkultur.24 Schon die Auswahl dieser Namen macht deutlich, daß im Zentrum der avisierten Kultursynthese ein »deutscher Humanismus« stehen sollte. Im Gegensatz etwa zu Cassirer versuchte Troeltsch, eine normative kulturelle Tradition zu schaffen, innerhalb derer das nationale Erbe von Reformation und Romantik den Vorrang vor den universalistischen und gesamteuropäischen Zügen von Antike, Renaissance und Aufklärung einnahm.
IV. Ein weiterer Anbieter von emblematischen Modellen der Selbstbesinnung zur Bewältigung der Orientierungskrise der Gegenwart, dessen Wirkung ebenfalls von der »Welthauptstadt des Historismus« Berlin (Gangolf Hübinger) ausstrahlte, war der Altphilologe Werner Jaeger (1888-1961). Da ihm aus Basel, wo er Nietzsches altes Ordinariat innehatte, der Ruf des Reformers vorausseilte, wurde Jaeger 1921 vom liberalen, parteilosen Preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker als Nachfolger von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf auf den Lehrstuhl für Altgriechisch in Berlin, den zuvor Ernst Curtius innegehabt hatte, berufen.25 Damit nahm er eine herausragende Position innerhalb der Altertumswissenschaft in Deutschland ein. Auf bildungspolitischer Ebene bemühte sich Jaeger, die klassische Altertumswissenschaft aus dem gleichwertigen Nebeneinander der Wissenschaften herauszulösen, indem er Nietzsches Positivismus- und Historismuskritik folgend die singuläre Bedeutung der griechischen Antike für die Entwicklung der abendländischen Kultur hervorhob.26 Jaegers Anliegen war, um es prägnant zu fassen, die »Klassizität der Antike der Gegenwart nutzbar zu machen«.27 Dabei ging es Jaeger als typischem und lautstarkem Vertreter des deutschen »Mandarinentums«, d.h. des akademischen Beamtentums, das seit dem frühen 19. Jahrhundert als Wertelite des deutschen Bildungsbürgertums fungierte, mit der Rückendeckung Beckers zunächst darum, seine Disziplin und die Vorbereitung auf deren Studium am humanistischen Gymnasium gegenüber Anfeindungen von Bildungsreformern sowohl aus dem linken als auch rechten Lager der Weimarer Republik zu behaupten. Wenn auch aus verschiedenen Beweggründen traten diese für die Einführung der sog. »Einheitsschule« im Sekundar24 Vgl. E. Troeltsch: Humanismus und Nationalismus in unserem Bildungswesen. Vortrag gehalten in der Versammlung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg am 28. November 1916, Berlin: Weidmann 1917, S. 27. Vgl. a. ders., Deutsche Bildung, Darmstadt: Reichl 1919. 25 Vgl. Suzanne Marchand: Down from Olympus: Archeology and Philhellenism in Germany, 1750-1970, Princeton: Princeton University Press 1996, S. 320. 26 Vgl. Werner Jaeger: »Stellung und Aufgaben der Universität in der Gegenwart« [1923], in: ders., Humanistische Reden und Vorträge, Berlin, Leipzig: de Gruyter 1937, S. 72-92. 27 B. Näf: Von Perikles zu Hitler, S. 89.
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schulwesen ein. Hinzu kamen Angriffe von »Realschulmännern« auf das humanistische Gymnasium, denen dieser Schultyp schlichtweg antiquiert gegenüber der seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer stärker in den Vordergrund rückenden praxisorientierten und berufsspezifischen Bildung erschien.28 Jaeger reagierte mit einer emphatischen Verteidigung des humanistischen Gymnasiums in einer Reihe von Vorträgen und Schriften im öffentlichen und halböffentlichen Raum und wurde in diesem Anliegen u.a. von Spranger unterstützt und publizistisch sekundiert.29 Um weitere Resonanz für dieses Anliegen unter der bildungsbürgerlichen Elite der Weimarer Republik zu finden, gründete er 1924 die Gesellschaft für antike Kultur. Im Vorstand und unter den führenden Mitgliedern der befanden sich neben Spranger auch Jaegers Kollegen in Berlin, der Latinist Eduard Norden und der Althistoriker Eduard Meyer, aber auch Aby Warburg und der Schriftsteller und konservative Kulturkritiker Hugo von Hofmannsthal sowie Heinrich Brüning, der Zentrumspolitiker und spätere Reichskanzler. Ihr publizistischer Arm, die seit 1925 vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Die Antike. Zeitschrift für Kunst und Kultur des klassischen Altertums, von de Gruyter im eleganten Großformat hergestellt, veröffentlichte Aufsätze zu Kunst und Kultur der Antike für eine gebildete Leserschaft. Sie sollte »ein tieferes Bedürfnis des gebildeten Deutschen [...] erfüllen, das aus unserer besonderen Situation gegenüber der Antike entspringt«.30 Auch die Naumburger Tagung zum Problem des Klassischen mit den Beiträgen des Heidegger-Kreises ist im Zusammenhang dieser Bemühungen zu sehen.31 Es ist bezeichnend, daß Schadewaldts Vortrag über »Begriff und Wesen der antiken Klassik« sich sowohl in dem von Jaeger herausgegebenen wissenschaftlichen Sammelband fand als auch in Die Antike wiederabgedruckt wurde.32 Hinter dem Engagement für das humanistische Gymnasium verbarg sich freilich weit mehr als die Sorge um die letztlich am Ende der Dekade erzielte Bewahrung dieses Schultyps, der, ursprünglich von Humboldt im frühen 19. 28 Vgl. S. Marchand: Down from Olympus, S. 312-9. 29 Vgl. z.B. W. Jaeger: »Humanismus und Jugendbildung« [1921], in: ders., Humanistische Reden und Vorträge, S. 43-71. Vgl. a. E. Spranger: Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule. Rede gehalten auf der 53. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Jena am 27. September 1921, Leipzig: Teubner 1922 und ders., Humanismus und Jugendpsychologie. Vortrag gehalten in der Versammlung der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg am 3. Dezember 1921, Berlin: Weidmann 1922. 30 W. Jaeger: »Einführung«, in: Die Antike 1 (1925), S. 1. 31 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt/M.: Klostermann 1977, S. 47ff. 32 Vgl. Wolfgang Schadewaldt: »Begriff und Wesen der antiken Klassik«, in: W. Jaeger (Hg.), Das Problem des Klassischen und die Antike. Acht Vorträge gehalten auf der Fachtagung der Klassischen Altertumswissenschaft zu Naumburg 1930, Leipzig, Berlin: de Gruyter 1930, S. 15-32 u. in Die Antike 6 (1930), S. 265-283.
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Jahrhundert konzipiert, dem Streben des Individuums nach der Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit durch humanistische Bildung dienen sollte. Sozialgeschichtlich betrachtet zeugten Jaegers Beiträge, die durchaus typisch für das Denken der Professorenschaft der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten der zwanziger Jahre waren, von einem konfliktträchtigen Überhang der im späten 19. Jahrhundert auslaufenden altständischen Gesellschaft in die Industriegesellschaft der klassischen Moderne. Man fürchtete die Verdrängung der »traditionell gebildeten Persönlichkeit« durch den »voraussetzungslos rational geformten Massenmenschen«.33 Das Bildungsbürgertum der Weimarer Republik lief Gefahr, um es mit Stefan George zu sagen, von der »Normalameise« des modernen Industriekapitalismus überrannt zu werden. Wenn Jaeger eine Sinnkrise für die Gegenwart diagnostizierte, so verband er in ausdrücklicher Opposition zum Kulturpessimismus Oswald Spenglers mit seiner Wahrnehmung allerdings auch den Glauben an die Möglichkeit einer humanistischen Wende. Diese war wie bei Frommel durch einen Dritten Humanismus – der Begriff stammte ursprünglich von Spranger – zu erreichen.34 Wie schon im Falle der früheren Humanismen mußte man sich in der Gegenwart an den Werten und Idealen der Antike, insbesondere der griechischen, im Sinne einer paideia oder Erziehung neu orientieren. Wie Jaeger bereits in seiner Basler Antrittsrede von 1914, »Philologie und Historie«, zu verstehen gab, erhob der Dritte Humanismus in Nietzsches Nachfolge den Anspruch, die Geschichtlichkeit der Kulturleistungen der Antike aufzuheben. Man mußte mittels der Philologie zu der eigentlichen, »tieferen« Wesensstruktur des antiken Menschen durchdringen, um neue Erkenntnisse ethischer und politischer Natur für die Gegenwart zu gewinnen.35 In seiner Ansprache zur »geistigen Gegenwart der Antike« anläßlich der ersten öffentlichen Konferenz der von ihm gegründeten Gesellschaft hob Jaeger dementsprechend hervor, »daß unser ganzes Dasein seinen Maßstab und sein inneres Zentrum durch die Antike erhalten hat«. »In dieser Grundform der europäischen Entwicklung, in der antiken ›Kultur‹, [ist] die Sinneinheit der abendländischen Geschichte begründet. Sie ist in dieser großen Symphonie das führende Thema.« Dächte man sie fort aus der Entwicklung, so Jaeger, würde »die Geschichte des Abendlandes [...] zum sinnlosen Chaos«.36 Aus diesem von Jaeger hier in eine aus der deutschen Klassik stammende musikologische Metapher verkleideten Strukturgesetz erklärten sich auch die in der Geschichte des Abendlandes immer wiederkehrenden Humanismen, der von 33 Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 181. 34 Vgl. B. Näf: »Werner Jaegers Paideia: Entstehung, kulturpolitische Absichten und Rezeption«, in: William M. Calder III (Hg.), Werner Jaeger Reconsidered, Atlanta: Scholars Press 1992, S. 141. 35 Vgl. W. Jaeger: »Philologie und Historie« [1914], in: ders., Humanistische Reden und Vorträge, S. 1-17 u. B. Näf: Von Perikles zu Hitler, S. 90. 36 W. Jaeger: »Die geistige Gegenwart der Antike«, in: ders., Humanistische Reden und Vorträge, S. 172, zuerst veröffentlicht in Die Antike 5 (1929), S. 167-186.
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Jaeger den Deutschen anempfohlene Dritte miteingeschlossen. Das vermeintliche Gesetz besagte, wie es in einem anderen Vortrag von 1928 hieß, »daß das lebendige Bewußtsein des Ursprungs und die neue Berührung mit der geschichtlichen Urform unserer Kultur [d.h. dem Griechentum] immer wieder zu einer Quelle der Wiederbelebung und Steigerung unseres eigenen Kulturbewußtseins und Kulturwillens geworden [sei]«.37 Folgerichtig verhielt sich Jaeger ausweichend zum Relativismusproblem. Er bezog sich zwar auf Troeltsch, setzte die Frage nach der aus dem radikalen Historismus resultierenden »Anarchie der Werte« aber als letztlich ins Leere zielend herab und stellte fest: »Die Frage nach dem Wert der Geschichte führt zurück auf die Tatsache der Geschichtlichkeit der Werte. Den besonderen Wert des Alten brauchen wir dann nicht nur aus abstrakten Prinzipien zweifelhafter Herkunft philosophisch abzuleiten, sondern wir werden seiner unmittelbar inne dadurch, daß durch die geschichtliche Erkenntnis der Alten unsere eigenen Werte auf die ursprünglichste Art in uns lebendig werden und wir jene als konstituierenden Teil unsres eigenen Wesens begreifen.«38
Die Verbindung, die die Wissenschaft und das Leben hier eingehen, bedeutete, daß Jaeger den Kulturleistungen der griechischen Antike als Historiker und Philologe zwar Historizität zubilligte, allerdings nur in dem Sinne, daß sie zwar geschichtlich geworden waren, nicht aber zur Geschichte gehörten. Denn ausschlaggebend war, daß man des tieferen Wesens des antiken Menschen innewurde und die normative Verbindlichkeit seines Denkens für die Gegenwart erkannte. In der Tradition Humboldts, der nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon der französischen Romverherrlichung diejenige des klassischen Griechenlands entgegenhielt, sah sich Jaeger als Programmhumanist. Die Erneuerung des traditionell gebildeten Individuums sollte aus einer größeren Hingabe an die Ideale und Werte der griechischen Polis erwachsen. Jaeger hatte dabei vor allem jene Epoche im Sinn, in der auch Athen von einer verheerenden politischen und geistigen Krise erschüttert war, die Zeit nach Ende des Peleponnesischen Krieges. Die bedeutendsten Vertreter dieser Epoche der attischen Demokratie Thukydides, der Chronist des Krieges und des »Goldenen Zeitalters« des Perikles, und die Philosophen in der Nachfolge der Niederlage gegen Sparta, Sokrates und Platon, waren für Jaeger Träger metahistorischer Ideen. Er sah sie nicht in erster Linie als aus ihrer Epoche heraus zu verstehende historische Individuen, sondern sie dienten ihm als humanistische exempla, als über der Geschichte stehende Vorbilder und Erzieher für die Gegenwart.
37 W. Jaeger: Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung, Berlin, Leipzig: de Gruyter 1928, S. 16. 38 Ebd., S. 15.
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Die zentrale Rolle, die Platon in der Bildung und Erziehung für die eigene als krisenhaft erlebte Gegenwart zugedacht wurde, trat vor allem im zweiten Band von Jaegers Geschichte der griechischen Bildung Paideia hervor.39 Im Mittelpunkt dieses Buches stand Platons politische Philosophie. Für Jaeger hatte Platon mit dem Staat und den Gesetzen eine zeitlose Norm für die abendländische Geschichte entworfen und damit auch das intellektuelle Fundament für einen neuen Humanismus in der Weimarer Republik gelegt.40 In Platons Idealstaat war die Individualethik philosophischer Existenz überwunden und durch eine den Philosophen auf das Gemeinwesen verpflichtende Staatsethik ersetzt worden, in der Ethos und Kratos in eins fielen und, wie es in seinem Vortrag »Staat und Kultur« von 1932 hieß, ein »Paradieseszustand im Verhältnis von Staat und Kultur«41 herrschte. Indem Jaeger die Unterschiede zwischen antik-griechischem und zeitgenössisch-deutschem Bildungsideal einebnete, beanspruchte er Kontinuität von Platons zu seinem eigenen politischen Denken.42 Eine englischsprachige Rezension von Paideia kam zurecht nicht umhin festzustellen: »The general reader cannot always be sure where Plato ends and Jaeger begins.«43 Ganz ähnlich hatte im übrigen schon ein weiterer Vertreter der deutschen Mandarine, Friedrich Meinecke, der Doyen der Geschichtswissenschaft in der Weimarer Republik, Humboldts »Hinwendung zum Staat« während der Reformzeit in Preußen als Muster für die Gegenwart, dies allerdings noch vor dem Ersten Weltkrieg, gepriesen: »[D]ie Macht wird in den höheren Dienst des Geistes gestellt; und wiederum der Geist [...] ist nicht mehr der rein individualistische, sondern der mit dem Gesamtleben der Nation verbundene. Macht und Geist, Individuum, Nation und Menschheit, Politik und Kultur [...] liegen hier einmal in den Waagschalen in idealem Gleichgewicht zuein44 ander.«
Durch diese Verknüpfung von Bildungsprogrammatik, Geistesaristokratie und der Suche nach dem idealen Staat reiht sich Jaeger unter die Fundamentalkritiker am zeitgenössischen Staatswesen ein. Seine Anstrengungen zur Überwindung der Sinnkrise sind also sowohl sozialhistorisch als Versuch zu begreifen, die Defen39 Vgl. W. Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 3 Bde., Berlin, Leipzig: de Gruyter 1934, 1944 und 1947. Der zweite Band erschien 1943 mit dem Untertitel »In Search of the Divine Centre« zuerst auf Englisch. Vgl. W. Jaeger: Paideia. The Ideals of Greek Culture, 3 Bde., Oxford: Blackwell 1939, 1943 und 1944. 40 Vgl. Charles H. Kahn: »Werner Jaeger’s Portrayal of Plato«, in: W. M. Calder III (Hg.), Werner Jaeger Reconsidered, Atlanta: Scholars Press 1992, S. 71-74. 41 W. Jaeger: »Staat und Kultur«, in: Die Antike 8 (1932), S. 78. 42 Vgl. S. Marchand: Down from Olympus, S. 327. 43 George M. A. Grube: Rez. von Werner Jaeger, Paideia. The Ideals of Greek Culture, in: The American Journal of Philology 68 (1947), S. 209. 44 Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München, Berlin: Oldenbourg, 4. überarb. Aufl. 1917, S. 193f.
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sivhaltung des Bildungsbürgertums zu überwinden und den Wert der eigenen gesellschaftlichen Formation und ihrer Institutionen offensiv zu vertreten, als auch als politische Opposition gegenüber der Weimarer Republik. »Der Humanismus ist unbedingt ein Politicum«, heißt es in einer seiner Reden von 1929.45 Der erste, 1934 erschienene Band von Paideia insistiert gleichfalls darauf, »daß die Humanität, das ›Menschsein‹, von den Griechen stets wesenhaft an die Eigenschaft des Menschen als politisches Wesen geknüpft worden« und damit auch von Relevanz für die Gegenwart ist.46 Im Gegensatz zu seinem Minister Becker, zum Vernunftrepublikanismus Meineckes und insbesondere von Troeltsch, der in den Anfangsjahren die Republik als Politiker und Publizist gegenüber ihren Verächtern als zwar problematische, jedoch unvermeidliche Folge des verlorenen Weltkriegs verteidigte und zugleich versuchte, in ihrem Rahmen vom deutschen Kulturerbe zu retten was zu retten war, tritt Jaeger in der Endphase der Weimarer Republik offen republikfeindlich auf.47 Zwar billigt er der Demokratie zu, kulturfördernd zu sein, da »sie die Verbreiterung der Bildung notwendig fördern muß«, jedoch ist das für ihn ohne weitere Bedeutung, »wenn wir, die alte Kulturschicht, heute politisch einflußlos und wirtschaftlich im Verfall sehen, ohne daß eine neue sichtbar wäre«.48 Das ist auch insofern wichtig, als Jaeger nicht davor zurückscheut, den Dritten Humanismus nach der Machtübernahme dem Nationalsozialismus anzudienen und an der Selbstgleichschaltung der Altertumswissenschaft mitwirkt, in dem er etwa einen mit rassistischer Sprache durchsetzten Aufsatz in der Zeitschrift des NS-Pädagogen Ernst Krieck, Volk im Werden, publiziert.49 Jaeger, so muß man daraus schließen, hoffte offensichtlich darauf, Einfluß auf das nationalsozialistische Erziehungssystem auszuüben. Gleichfalls ist er maßgeblich an der Formulierung der explizit rassistischen Thesen zur zukünftigen Gymnasialbildung des sich im September 1933 hinter das Regime stellenden Deutschen Altphilologenverbandes beteiligt.50 Altphilologie und alte Geschichte sollen für ihn wie für das Gros der deutschen Altertumswissenschaftler dem neuen Regime als »Legitimationswissenschaften« dienen.51 45 W. Jaeger: Gegenwart der Antike, S. 179. 46 W. Jaeger: Paideia, Bd. 1, S. 19. 47 Vgl. E. Troeltsch: Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/1922, hg. v. H. Baron, Tübingen: Mohr 1924 u. R. Mehring: »Humanismus als ›Politicum‹. Werner Jaegers Problemgeschichte der griechischen ›Paideia‹«, in: Antike und Abendland 45 (1999), S. 116 u. 127. 48 W. Jaeger: Staat und Kultur, S. 89. 49 Vgl. W. Jaeger: »Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike«, in: Volk im Werden 1 (1933), S. 43-49. 50 Vgl. S. Marchand: Down from Olympus, S. 325f. 51 Zur Rolle der Neuhistoriker vgl. grundlegend Peter Schöttler (Hg.), Geschichtswissenschaft als Legitimationswissenschaft, 1918-1945, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997.
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Obwohl Jaeger 1934 Deutschland verläßt, um als Gastprofessor in Berkeley die renommierten Sather Classical Lectures zu halten, leistet er auf dem Deutschen Konsulat in San Francisco den Diensteid auf Hitler ab.52 1936 gibt er schließlich seinen Berliner Lehrstuhl endgültig auf, wohl auch weil er seit 1931 in zweiter Ehe mit einer deutschen Jüdin verheiratet ist, um eine Professur in Chicago und später einen Ruf nach Harvard anzunehmen. Obwohl Jaeger emigrierte, schadete dies in keiner Weise der Rezeption seiner Werke in Deutschland. Seine gesammelten Humanistischen Reden und Vorträge sowie der zweite Band von Paideia über Platon erscheinen 1937 und 1944 ohne jede Schwierigkeiten durch die NS-Zensur. Die Machthaber in Deutschland verwechselten offensichtlich Jaegers Dritten Humanismus nicht mit dem eigenen Herrschaftsanspruch und maßen ihm weder zur Untermauerung der eigenen Ideologie noch als Ausdruck einer Absage an sie große Bedeutung zu. Freilich distanzierten sie sich, ohne allerdings das humanistische Gymnasium abzuschaffen, relativ zügig von seinem bildungspolitischen Programm, da es nicht wirklich mit ihren Vorstellungen in Einklang zu bringen war. NS-Bildungspolitiker wie Bernhard Rust räumten »modernen« Fächern wie Biologie, Neuerer Geschichte, Literaturwissenschaft, »Leibesertüchtigung« und Geographie Vorrang bei der Erschaffung der sog. »Volksgemeinschaft« gegenüber altertumswissenschaftlichen Disziplinen ein.53 Beat Näf hebt hierzu treffend hervor, daß bei Jaeger zwar der Staat vor dem Individuum stünde, er aber keinen Platz für die »Volksgemeinschaft« findet. Letztere ist auch mit Jaegers Ideal einer neuen Geistesaristokratie schwerlich in Einklang zu bringen, wenngleich es in Hinblick auf den Züchtungsgedanken, den Jaeger von Platon übernimmt, durchaus Parallelen zwischen seinem und nationalsozialistischem Denken gibt und auch der für letzteres zentrale Führergedanke bei ihm eine Rolle spielt.54 Auch deshalb ist es nicht weiter überraschend, daß Paideia und die anderen Arbeiten Jaegers in NS-Deutschland geduldet waren und sich einer relativ großen Leserschaft erfreuten, wenn dies auch nicht an allen Stellen des Regimes gerne gesehen wurde. So erscheint etwa noch 1942 mit Zustimmung des NSDozentenbundes die zweite Auflage einer ausführlichen Streitschrift des Göttinger NS-Altphilologen Hans Drexler, die, in ihrer Argumentation auf Spengler und Rosenberg fußend, Jaegers Dritten Humanismus des liberalen, ahistorischen und antivölkischen Denkens zeiht.55 Paideia stößt auch bei Teilen der inneren wie äußeren akademischen Emigration auf Ablehnung. Obwohl Jaeger in Paideia weder explizit nationalistisch noch rassistisch argumentiert hatte, war die Möglichkeit der Verkehrung seiner normativen Setzungen in ihr brutales Gegenteil durch die zeitgenössische Politik neben Mommsen auch anderen Geisteswissenschaftlern bewußt. Der Hamburger 52 53 54 55
Vgl. R. Mehring: Humanismus als Politicum, S. 119f. Vgl. S. Marchand: Down from Olympus, S. 341. Vgl. B. Näf: Von Perikles zu Hitler, S. 190. Vgl. S. Marchand: Down from Olympus, S. 329.
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Altphilologe Bruno Snell etwa wirft Jaegers »politischem« Humanismus in einer Rezension von 1935 Inhaltsleere vor, die zum einen zur Versteinerung der Philologie führt, zum anderen aber diese der Instrumentalisierung durch die Politik anbietet.56 Und als der Kunsthistoriker aus dem Warburg-Kreis Erwin Panofsky in Princeton einmal alte Witze notiert, findet sich darunter einer über den Dritten Humanismus: »Eia Paideia, was raschelt im Stroh?«57 Auch für Panofsky verbarg sich die Möglichkeit der Instrumentalisierung der Antike durch den Nationalsozialismus in Jaegers »Bildungsstroh«.
V. Wie hat man Jaegers Emigration aus Deutschland einzuschätzen? Suzanne Marchand hebt wohl nicht zu Unrecht hervor, daß er entweder mehr Glück oder Voraussicht als andere dem konservativen Milieu zuzurechnende Gelehrte besaß und somit einfach schneller erkannte, daß seine Bildungsvorstellungen nicht mit dem Nationalsozialismus in Einklang zu bringen waren. Dadurch blieben ihm etwa im Gegensatz zu Martin Heidegger die Schwierigkeiten und Peinlichkeiten der inneren Emigration erspart.58 Als Beleg dafür läßt sich anführen, daß bereits im Vorwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes von Paideia von 1936 der Begriff »Dritter Humanismus« getilgt ist. Jaeger hatte diesen Ausdruck, den in erster Linie die Zeitgenossen seinem Denken als Etikett anhefteten, sonst überhaupt nur an einer einzigen weiteren Stelle, im Aufsatz für Kriecks Volk im Werden, verwendet. Während der Jahre der Emigration wehrte er sich allerdings prinzipiell dagegen, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden. Der Schwur des Führereids in den USA wäre demgemäß auch nicht aus Überzeugung erfolgt, sondern als opportunistischer Akt zu verstehen, der ihm die Rückkehr nach Berlin offenhielt, eine Möglichkeit, die er wohl wahrgenommen hätte, wenn nicht der Ruf nach Chicago erfolgt wäre. Er selbst stellt die Sache freilich in einem Text von 1960 ganz anders dar und betont, daß er durch die politischen Umstände zur Aufgabe seiner Berliner Stellung gezwungen wurde.59 Was blieb von Jaegers Drittem Humanismus und seinen Beiträgen zum Humanitätsdiskurs in der Emigration? An erster Stelle steht trotz der Absage an den Dritten Humanismus als ideenpolitischer Kampfbegriff die Kontinuität des Paideia-Gedankens. Jaeger nimmt auch in den Vereinigten Staaten nichts zurück. Während der Kriegsjahre arbeitet er am dritten Band von Paideia über den Zeitraum vom späteren Platon bis zum Ende der klassischen Epoche. Dieser schließt begrifflich und ideell nahtlos an die vorangegangenen an. Es dauert allerdings bis 56 57 58 59
Vgl. ebd. K. Schiller: Gelehrte Gegenwelten, S. 149. Vgl. S. Marchand, Down from Olympus, S. 329. Vgl. W. Jaeger: »Classical Philology at the University of Berlin: 1870-1945«, in: ders., Five Essays, Montreal: M. Casalini 1966, S. 73.
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1944 bzw. bis nach Kriegsende, bis dieser auf Englisch bzw. Deutsch erscheint. Daneben tritt die Beschäftigung mit der Altertumswissenschaft im engeren Sinn, der positivistischen Philologie, z.B. als verantwortlicher Herausgeber der Edition der Schriften von Gregor von Nyssa. Allerdings enthält sich Jaeger in den Vereinigten Staaten bis zu seinem plötzlichen Tod 1961 jegliches Aktivismus’ und äußert sich nicht mehr zu bildungspolitischen sowie anderen politischen Fragen. In den Worten Lewis Cosers: »Jaeger at Harvard showed no trace of the firebrand of his Berlin days. He was quiet, withdrawn from the public arena [...]. Even though he was revered by his students and influenced a number of them and was apparently much at ease in the Harvard Yard, Jaeger never attempted to reenact his previous public involvements. He became a Stubengelehrter who rarely attended academic conventions unless they were held in Boston, and was never elected to the presidency of the American Philological Association.«60
Der Rückzug aus der Öffentlichkeit kann sicherlich auch als Reaktion auf die verhaltene, aber dennoch überwiegend negative Kritik gewertet werden, die Paideia von der angloamerikanischen Altertumswissenschaft erfährt. Ein Rezensent kann das Buch u.a. wegen der zweifelhaften Natur seiner Hauptthesen wenn überhaupt, dann nur mit größter Vorsicht empfehlen, ein weiterer stört sich ausserordentlich an Jaegers Verherrlichung von Platons antidemokratischem Denken.61 Der Cambridger Althistoriker Moses Finley hebt Jaeger in einem seiner Aufsätze als herausragende, zugleich aber auch als zwiespältige (ambiguous) Figur der deutschen neuhumanistischen Tradition seiner eigenen Generation hervor.62 Auch Arnaldo Momigliano, der durch die italienische Rassengesetzgebung zur Emigration von Italien nach England gezwungen wurde, stört sich an Jaegers Trennung des Studiums der griechischen politischen Ideen von der historischen Wirklichkeit und hält ihn in den sechziger Jahren für eine jener deutschen Autoritäten, von denen es sich im Zeitalter der Entkolonialisierung endlich zu emanzipieren gilt.63 Nach der Fertigstellung seines Hauptwerks wendet sich Jaeger in den Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit der Edition von Gregor von Nyssas Werken dem Weiterwirken der griechischen paideia bei den Kirchenvätern zu. Der klassischen griechischen Antike stellt er nun, wenn auch nicht ausdrücklich gegen Nietzsche, das frühe Christentum anhand der griechischen Patristik und 60 Lewis A. Coser: Refugee Scholars in America. Their Impact and Their Experience, New Haven, London: Yale University Press 1984, S. 276. 61 Vgl. G. M. A. Grube: Rez. von Jaeger, Paideia, S. 215 u. Roy K. Hack: Rez. von Werner Jaeger, Paideia. The Ideals of Greek Culture, in: Classical Philology 37 (1942), S. 206. 62 Moses I. Finley: The Uses and Abuses of History, London: Chatto & Windus 1975, S. 78. 63 Vgl. ebd., S. 79.
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des christlichen Platonismus als gleichwertige zweite Komponente bei der Herausbildung des modernen Humanitätsdenken zur Seite.64 In einer Vorlesung von 1943 deutet sich dies bereits an: »The true paideia, be it education or legislation, is founded on God as the supreme norm. It is – to speak with Plato’s Republic – ›conversion‹ from the world of sensual self-deception to the world of the one true being which is the absolute good and the one desirable. Or in the words of Plato’s Theaetetus: true human virtue is assimilation to God.«65
Auch wenn Jaeger in einem undatierten autobiographischem Fragment aus der Nachkriegszeit dem protestantischen wie katholischen Christentum retrospektiv schon bei seiner eigenen paideia große Bedeutung einräumt – er stammte aus einer protestantischen Bürgerfamilie vom katholischen Niederrhein –, wirkt die Einvernahme der christlichen Tradition für den Humanismus unvermittelt und künstlich.66 Auf den ersten Blick ist in der Modifikation des offenkundig politischen Humanismus zum weltabgewandten christlichen Humanismus eine Reaktion auf die Erschütterung von Krieg und Völkermord zu sehen. Kurz gefaßt könnte man sagen, daß Jaeger erkennt, daß Ethos und Kratos unter den Bedingungen der industriellen Moderne nicht in Einklang zu bringen sind. Trotz dieses offenkundigen Wandels bleibt sein Habitus – und das ist entscheidend – aber unverändert. Er versteht sich nach wie vor nicht nur als positivistisch arbeitender Altphilologe, sondern auch als aus der Geschichte schöpfender Ideenpolitiker und Programmhumanist. Wenn er nun eine christlich-humanistische Wende als erstrebenswert erkennt, sie zwar nicht wie den Dritten Humanismus in der Vorkriegszeit im öffentlichen Raum fordert, jedoch im Gestus des in seinen Überzeugungen ungebrochenen Gelehrten präsentiert, demonstriert er in erster Linie Kontinuität. Das Erbe der Historismuskrise wirkt weiter nach. Letzlich geht es Jaeger auch nach 1945 noch immer um die Setzung von übergeschichtlich verbindlichen Normen. Selbst nachdem er die Entwicklung einer von der griechischen Antike inspirierten Staatsethik aufgibt, schöpft er nach wie vor aus vormodernen Traditionen, wenngleich, so könnte man sagen, aus weit weniger gefährlichen. Darüber hinaus passen die Verabschiedung des ausschließlich Klassischen und die Wiederentdeckung des Christentums und die damit verbundene Abwendung von den »Niederungen von Politik und Macht« freilich in die Zeit. Man denke beispielhaft an die katholische Zeitschrift Die Wandlung, in der Karl Jas-
64 Vgl. posthum W. Jaeger: Early Christianity and Greek Paideia, Cambridge, Mass.: Belknap Press 1962. 65 W. Jaeger: Humanism and Theology. Aquinas Lecture of 1943, Marquette University, Milwaukee, Milwaukee: Marquette University Press 1943, S. 320. 66 Vgl. W. Jaeger: »Entwürfe zu Lebenserinnerungen (Anfang)«, in: ders., Five Essays, S. 6.
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pers und andere über die »Möglichkeiten eines neuen Humanismus« nachsinnen oder an Jaspers’ weder die institutionelle Macht des Mandarinentums noch den Begriffsapparat des humanistischen Bildungsideal in Frage stellende Reformvorstellungen für die deutsche Universität der Nachkriegszeit.67 Man erinnere sich auch an die große Anziehung, die Romano Guardinis christlicher Humanismus auf seine Hörer an der Münchner Universität in den fünfziger Jahren ausübte und wiederum an Friedrich Meinecke, der seinen deutschen Zeitgenossen zur moralischen Erbauung die Gründung von »Goethegemeinden« nahelegt, um sich mit dem »religiösen Untergrund« der deutschen Dichtung zu befassen, »wöchentlich zu einer späten Sonntagnachmittagstunde – und wo es irgend möglich ist, sogar in einer Kirche«.68 Obwohl Jaeger nach 1945 nicht nach Deutschland remigrierte, waren Paideia und die Humanistischen Reden und Vorträge, erweitert um einige Beiträge zu Humanismus und Christentum, auch im restaurativen geistigen Klima der frühen Bundesrepublik ein publizistischer Erfolg. Beide wurden von de Gruyter wiederaufgelegt, das Hauptwerk sogar zweimal 1954/55 und 1960.69 Darüber hinaus hing dem Emigranten Jaeger spätestens seit 1953 mit dem Wiederabdruck des Aufsatzes zur »geistigen Gegenwart der Antike« von 1929 in der von Oskar Loerke und Peter Suhrkamp im Zeichen der geistigen Opposition gegen den Nationalsozialismus konzipierten Anthologie Deutscher Geist sogar die Aura des Widerstandskämpfers an.70 Da kann es auch nicht verwundern, daß er zwei Jahre später die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen erhält und sich mit einem Vortrag zur »Paideia Christi« bedankt. Im gleichen Licht sind auch seine beiden Beiträge zu Festschriften seines alten Mitstreiters Spranger zu sehen.71 Es ist bezeichnend, daß er sich für einen der Aufsätze mit Hölderlin einen Gräkophilen zum Thema nimmt, der mehr für die griechischen Kirchenväter als das klassische Griechenland übrig hatte.72 67 Vgl. Bernd Weisbrod: »Dem wandelbaren Geist. Akademisches Ideal und wissenschaftliche Transformation in der Nachkriegszeit«, in: ders. (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein 2002, S. 29. 68 F. Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden: Brockhaus 1946, S. 175. 69 Vgl. W. Jaeger: Humanistische Reden und Vorträge, Berlin: de Gruyter, 2. erweiterte Aufl. 1960. 70 Vgl. W. Jaeger: »Die geistige Gegenwart der Antike«, in: Oskar Loerke/Peter Suhrkamp (Hg.), Deutscher Geist. Ein Lesebuch aus zwei Jahrhunderten, Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1953, S. 901-922. 71 Vgl. W. Jaeger: »Paideia Christi«, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft 50 (1959), S. 1-14. 72 Vgl. W. Jaeger: »Im Zeichen eines neuen Humanismus«, in: Hans Wenke (Hg.), Eduard Spranger. Bildnis eines geistigen Menschens unserer Zeit. Zum 75. Geburtstag dargebracht von Freunden und Weggenossen, Heidelberg: Quelle & Meyer 1957, S. 24-30 sowie ders., »Friedrich Hölderlins Idee der griechischen Bildung«, in: Hans Walter Bähr/Theodor Litt u.a. (Hg.), Erziehung zur Mensch-
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Jedenfalls scheint sich Jaeger auch im Rückblick keiner Mitverantwortung des Dritten Humanismus für die Zerstörung der Weimarer Republik und den Erfolg des Nationalsozialismus bewußt gewesen zu sein und falls er es doch war, fühlte er sich keineswegs veranlaßt es zuzugeben. Da überrascht es auch nicht, daß er in einem Aufsatz zur Geschichte der klassischen Philologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität die zwanziger und frühen dreißiger Jahre im Rückblick idyllisierend als geistig fruchtbarste Periode des 20. Jahrhunderts charakterisiert, »als eine Zeit des stillen (sic!) organischen Wachstums für die Altertumswissenschaft, die durch die brutale Gewalt der Zeit und des Schicksals unterbrochen wurde«.73 Er unterschlägt damit ganz bewußt sein eigenes öffentliches ideenpolitisches Engagement, das in seiner republikfeindlichen Färbung den Nationalsozialisten zuarbeitete, selbst wenn diese als an der Macht nichts mit seinen Ideen anzufangen wußten.
VI. Zwar ist in den vorangehenden Ausführungen zu Jaeger humanistische Gelehrsamkeit und philosophische Reflexion auf die conditio humana in der Moderne nicht im engeren Sinne ihrer Verbindung zur individuellen Lebensgeschichte thematisiert worden, es bleibt jedoch festzuhalten, daß das von Dilthey hinterlassene Relativismusproblem des Historismus über die rein geschichtsphilosophische Problemlage hinaus für Jaeger eine herausragende Rolle als Symptom für die zeitgenössische Sinn- und Orientierungskrise einnahm. Die Krise des Historismus, so könnte man sagen, ermöglichte diesem Vertreter des akademischen Mandarinentums erst seine wissenschaftlich wie ethisch und politisch gefährlichen normativen Setzungen. Freilich waren die von ihm erhofften Wenden weder zu einem an der griechischen Antike inspirierten Dritten Humanismus noch zu einem christlichen Humanismus unter den Bedingungen der industriellen Moderne herbeizuführen. Solches von vornherein als Unmöglichkeit bzw. als nicht erstrebenswerten Irrweg zu erkennen, blieb in der Bundesrepublik überwiegend einer späteren Generation von Altphilologen und ihrem Publikum seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vorbehalten.
lichkeit: Die Bildung im Umbruch der Zeit. Festschrift für Eduard Spranger zum 75. Geburtstag, Tübingen: Niemeyer 1957, S. 53-63. Vgl. a. S. Marchand, Down from Olympus, S. 358. 73 W. Jaeger, Classical Philology at the University of Berlin, S. 74.
REINHARD MEHRING
Arthur Liebert Ein Geschäftsführer des philosophischen Humanismus im Exil
Die »philosophierende« Philosophiegeschichtsschreibung (Kant) erinnert unter dem Primat systematisch-»präsentistischer« Zielsetzungen heute zumeist personalisierend nur ein Gipfelgespräch der Meisterdenker.1 Die kleineren »Geister« zweiten oder dritten Ranges bleiben dagegen im Schatten. Und auch die infrastrukturellen und organisatorischen Voraussetzungen des Diskurses werden selten berücksichtigt. Die gängige Wertung ist forschungszentriert und läßt sich dabei häufig unkritisch vom eigenen Philosophieverständnis leiten. Als wissenschaftliche Leistung gilt dann, grob gesagt, nur die Vorgeschichte des eigenen Ansatzes. Diese Perspektive der Nachwelt unterscheidet sich oft erheblich von der Sichtweise der Zeitgenossen. Man vermutet dann Ressentiments oder pflegt anti-akademische Stereotype »über Universitätsphilosophie« (Arthur Schopenhauer), um die Wertungsdifferenzen zu erklären und das eigene Urteil, das Urteil der Nachwelt, gegenüber den Zeitgenossen zu berechtigen. Einer solchen ungeschichtlichen Geschichtsschreibung, die ihre Wertungsmaßstäbe nicht historisiert, tut ein Blick auf die Wirkungsbedingungen eines Philosophen not. Eine geschichtliche Betrachtung des Humanismusdiskurses der Emigration blickt über die Werke hinaus auf die allgemeinen zeitgeschichtlichen Umstände, von denen sie sich abstoßen, und das akademische Netzwerk, denen sie sich verdanken. Nicht jeder Wissenschaftler, der emigrieren mußte, hatte ein Warburg-Institut oder eine Princeton-Universität im Rücken. Die wenigsten hatten es. Viele fielen aus dem »System Wissenschaft« heraus und mußten sich oft unter drückenden und abenteuerlichen Umständen durchschlagen. Andere hangelten sich mühsam in randständigen Positionen durch.
1 Vgl. kritisch dazu Ulrich J. Schneider: Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert, Hamburg: Meiner 1998.
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Die Lage der emigrierten Philosophen ist nicht annähernd so erforscht wie etwa die der Literaten.2 Für die Schriftsteller in der Emigration ist der Sammlungsbegriff »humanistische Front« zwar eingeführt,3 daß die Idee des »Humanismus« aber auch für den philosophischen Emigrationsdiskurs leitend war, ist weniger bekannt. Einer der wichtigsten seiner Organisatoren und Akteure ist heute nahezu vergessen.4 Dabei kann Arthur Liebert ein Geschäftsführer des europäischen Exilshumanismus heißen. Es lohnt eine nähere Betrachtung seines Wirkens, auch wenn sein philosophisches Vermächtnis, wie es mit der letzten Monographie Der universale Humanismus von 1946 vorliegt, sich heute recht verstaubt liest. Liebert spielt akademisch nicht in der Liga der Cassirer oder Panofsky. Seine Leistung liegt mehr in der Organisationstätigkeit. Hier aber ist seine Bedeutung für den Fortbestand eines deutschsprachigen philosophischen Diskurses in Europa über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg nicht gering. Eine Bestandsaufnahme des Humanismusdiskurses wäre jedenfalls unvollständig, würde er vergessen.
I. Werdegang Arthur Liebert (18781946) wurde am 10. November 1878 als Arthur Levy in Berlin geboren. In seinem Lebenslauf zum Habilitationsgesuch schreibt er 1924: »Da meine, in sehr beengten wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden und mit einer großen Kinderschar gesegneten Eltern mir die Möglichkeit zum Studium nicht gewähren konnten, mußte ich mich, nachdem ich Ostern 1894 die Schule nach Erlangung des Berechtigungsscheinens zum einjährig-freiwilligen Dienst verlassen hatte, sehr schweren Herzens zum Eintritt in die kaufmännische Lehre entschließen. Den Druck dieser für mich bitteren, sechs Jahre dauernden kaufmännischen Tätigkeit in einer der größten Papierfabriken Deutschlands suchte ich durch unermüdliche Anstrengungen, die auf Ausfüllung meiner wissenschaftlichen Lücken gerichtet waren, einigermaßen erträglich 2 Vgl. die Übersicht bei Nikolaus Erichsen: »Philosophie«, in: Claus-Dieter Krohn (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt: Primus 1998, S. 791-804. Liebert ist allerdings hier bei der Aufzählung emigrierter Philosophen vergessen worden. 3 Vgl. die frühe Bestandsaufnahme von Walter A. Berendsohn: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur, 2 Bde., Zürich: Europa 1946. 4 So ist Liebert nicht erwähnt in dem einschlägigen Handbuch von Manfred Asendorf/Rolf von Bockel (Hg.), Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten, Stuttgart: Metzler 1997. Nicht erwähnt ist er auch in der neuesten Auflage von Bernd Lutz (Hg.), Metzler-Philosophenlexikon, Stuttgart: Metzler, 3. Aufl. 2003. Zu Liebert siehe nur Gerhard Kropp: »Arthur Liebert in Memoriam«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 3 (1948), S. 427-435 u. Bruno Jahn (Hg.), Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Philosophen, München: Saur 2001, S. 251f.
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zu gestalten. [...] Am 26. Februar 1907 bestand ich an dem (humanistischen) Luisen5 gymnasium in Berlin die Reifeprüfung.«
Zu diesem Zeitpunkt studiert Liebert schon an der Berliner Universität. Als akademische Lehrer nennt er Friedrich Paulsen und Wilhelm Dilthey, zu denen er »auch in nähere Beziehungen treten durfte«. Am 16. Mai 1908 promoviert er bei Dilthey mit einer Arbeit über Die Philosophie Giovanni Picos della Mirandola. Laut Untertitel ist es »ein Beitrag zur Philosophie der Frührenaissance«, der Dilthey ansonsten, anders als damals der junge Cassirer, kaum größere Aufmerksamkeit widmete. Weiter schreibt Liebert im Lebenslauf: »Herr Geheimrat Prof. Dilthey zog mich dann heran zur Mitarbeit an der Kant-Ausgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften. Diese Arbeit fällt in die Jahre von 19101914. Außerdem war ich bei ihm und für ihn tätig als Privatsekretär und als wissenschaftlicher Assistent; in dieser Eigenschaft konnte ich ihm u.a. bei der Fertigstellung seiner letzten umfangreichen Akademie-Abhandlung Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften und bei der Herausgabe seines Werkes Das Erlebnis und die Dichtung helfen. Dadurch erhielten meine eigenen Interessen und Arbeiten die Richtung auf die Geschichte und auf die Grundlegung der Geisteswissenschaften.«6
Zu diesem engen Schülerverhältnis trat bald ein neuer Einfluß. Der Lebenslauf merkt an, daß Liebert mit Empfehlungen von Dilthey, Paulsen, Alois Riehl und Paul Menzer stellvertretender Geschäftsführer der in Halle aggregierten KantGesellschaft wurde, um dort den erblindenden Hans Vaihinger zu entlasten. Im September 1911 wechselt er aus akademischen Rücksichten seinen Namen und übernimmt den seiner Frau. Gleichzeitig konvertiert er zum Protestantismus. Sein Name ist fortan mit der Kant-Gesellschaft eng verbunden. 1914 scheitert ein erster Habilitationsversuch in Halle. Von 1914 bis 1918 unterrichtet Liebert am Mommsen-Gymnasium in Berlin. Seit 1916 ist er auch Lehrbeauftragter an der Handels-Hochschule und übernimmt noch vielfältige Aufgaben in der Bildungsarbeit. 1919 wird er zum Titularprofessor ernannt. Die ersten Publikationen sind Auswahleditionen zu Pico della Mirandola, Änesidemus Schulze, Fichte und Spinoza. Die erste größere Schrift handelt 1914 über Das Problem der Geltung. Mit transzendentaler Methode vertritt Liebert hier eine »Unterordnung der Metaphysik unter die Psychologie« und eine Unterscheidung der »psychologischen Geltungsreihe« vom »logischen Sinn des Geltungsproblems«. Er schränkt den Geltungsanspruch der Psychologie kritizistisch ein und verteidigt die systematische »Einheit der Philosophie« gegen den Psychologismus. Seinen Standpunkt situiert er ausführlich in der zeitgenössischen 5 Vgl. Lebenslauf, Habilitationsakte Liebert, in: Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv [im weiteren zitiert als HU, Universitätsarchiv], Phil. Fak. 1241, Bl. 127/8. 6 Ebd.
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Diskussion und verzichtet dabei weitgehend auf Originalitätsansprüche. 1915 publiziert Liebert eine Broschüre über den Geltungswert der Metaphysik; 1919 folgt eine Programmschrift Wie ist kritische Philosophie überhaupt möglich?. In den folgenden Nachkriegsjahren publiziert er über den Geist der Revolutionen (1919), Strindberg (1920) und Die geistige Krisis der Gegenwart (1921). Seine Krisis-Schrift entdeckt eine allgemeine »Wendung zum Relativismus« als »inneren Grund für die Krisis« und hofft auf die Religion als Macht des »Umschwungs«.7 Liebert gibt Quellenhandbücher zu Teildisziplinen der Philosophie heraus und publiziert über Philosophiedidaktik. Später wird er Herausgeber der Zeitschrift Der philosophische Unterricht, die zwischen 1930 und 1933 in vier Bänden erscheint. Diese Pionierarbeit in der Philosophiedidaktik, die aus der Tätigkeit im Gymnasium und der damaligen Volkshochschulbewegung herauswächst,8 findet 1935 in einer umfangreichen Monographie Philosophie des Unterrichts ihren Abschluß. Liebert kann also bereits auf ein umfangreiches Werk zurückblicken, als er sich Ende 1924 zur Habilitation an der Berliner Universität anmeldet. Das Verfahren verläuft diesmal problemlos und einstimmig, auch wenn die gutachterliche Unterstützung, wie Tilitzki urteilt, recht »matt« ausfiel.9 Heinrich Maier schreibt das Erstgutachten. Max Dessoir benennt eine Grenze der Arbeit: Liebert sei »nicht so sehr ein Forscher, der durch Einzeluntersuchungen an der Arbeit der Wissenschaft teilnimmt«, als vielmehr ein Mann der »klaerenden Darstellung«: ein »fleißiger und ernster Gelehrter« und der »denkbar beste Lehrer«.10 Spranger lobt aus zwanzigjähriger Bekanntschaft die »untadelige« Person.11 Liebert habilitiert sich kumulativ. Seinen Probevortrag hält er am 15. Juni 1925 über »Die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie«; seine öffentliche Antrittsvorlesung folgt am 4. Juli über den »Uebergang von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft«. Als Vorsitzender der Berliner Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft entfaltet Liebert damals eine rastlose Vortragstätigkeit. Für die Zeit von 1918 bis Anfang 1933 sind nicht weniger als 64 Vorträge im Rahmen der Gesellschaft nachgewiesen. Das thematische Spektrum umfaßt nicht nur die Kant-Philologie und Forschung im engeren Sinne. Denn der ältere Neukantianismus war fast ein Decktitel für ein Konglomerat von Positionen12 und auch der neuere verschrieb 7
Arthur Liebert: Die geistige Krisis der Gegenwart, Berlin: Heise, 2. Aufl. 1923, S. 196. Vgl. a. ders., Zur Kritik der Gegenwart, Langensalza: Beyer 1928. 8 Vgl. Hermann Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt/M: Schulte-Bulmke 1935. 9 Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Berlin: Akademie 2002, Bd. 1, S. 318. 10 Habilitationsakte Liebert, in: HU, Universitätsarchiv, Phil. Fak. 1241, Bl. 135. 11 Ebd. 12 Vgl. Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986.
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sich – jedenfalls in Berlin –13 nicht sklavisch einem strikten Kantianismus, weshalb Hermann Ebbinghaus damals auch eine neue Phase der Kantforschung ausrief. Liebert fügt sich der gängigen Unterscheidung einer Marburger und Südwestdeutschen Schule nicht ein. Das zeigt sich auch an den zahlreichen Publikationen der Kant-Gesellschaft, die er damals betreut, zu denen neben den KantStudien die Schriftenreihe Philosophische Vorträge sowie die Ergänzungshefte der Kant-Studien gehören. Schon 1928 wird er dank seiner langjährigen wissenschaftlichen Leistungen und »Verdienste um die Kantgesellschaft« zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor der Berliner Universität ernannt.14 Seit 1927 ist er alleiniger Geschäftsführer der Kant-Gesellschaft. Im selben Jahr erscheint eine Broschüre Zur Kritik der Gegenwart. 1929 folgt Lieberts umfangreiches Hauptwerk Geist und Welt der Dialektik.15 Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik geht bis auf die frühen Studien zum Problem der Geltung und Geltungswert der Metaphysik unter der zeitgenössischen Erfahrung des »Historismus« und »Relativismus« zurück. Liebert möchte sie nun grundlegend beantworten. Seine Durchführung geht von »typischen Einwänden« gegen die Metaphysik aus, erinnert dagegen eine »Pflicht zur Metaphysik«, erörtert dann Kants »dialektischen Idealismus« und findet die »metaphysische« und »dialektische« Auffassung dieses »Idealismus« in den verschiedenen Tendenzen zur »Erneuerung der Dialektik« bestätigt. Zuletzt behandelt Liebert den gerade nach Berlin berufenen Nicolai Hartmann, wie seine Untersuchung sich überhaupt fast wie eine Summe der Berliner Philosophie liest. Liebert nimmt damit Teil an der zeitgenössischen Auslegung des Kritizismus als »Metaphysik« und »Dialektik«. Deutlich ist auch, wie er die »Überwindung des Historismus«, an der die Berliner Universität nach Dilthey und Troeltsch geradezu interdisziplinär arbeitete,16 im Rückgang auf Kant sucht. 1932 publiziert Liebert noch eine zweibändige, einführende Erkenntnistheorie, die mit ihrer Konzentration auf die »Weltanschauungslehre« erneut den Einfluß Diltheys erkennen läßt. 1933 folgt eine umfassende Würdigung Diltheys.17 Schon vor 1933 ist Liebert also ein wichtiger Organisator und Mediator des philosophischen Diskurses. 1933 muß er seine Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft und die Herausgeberschaft der Kant-Studien niederlegen, bei der ihm
13 Zur Skizzierung des dortigen Neukantianismus vgl. Volker Gerhardt/Reinhard Mehring/Jana Rindert: Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie, Berlin: Akademie 1999, S. 179-193. 14 Vgl. Preußisches Wissenschaftsministerium an Arthur Liebert, 24.7.1928, in: HU, Universitätsarchiv, Phil. Fak.1473, Bd. 2, Bl. 536. 15 Vgl. A. Liebert: Geist und Welt der Dialektik, I. Band, Grundlegung der Dialektik, Berlin: Pan 1929. 16 Vgl. Eduard Spranger: Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen, Tübingen: Wunderlich 1966, S. 147-183. 17 Vgl. A. Liebert: Wilhelm Dilthey. Eine Würdigung seines Werkes zum 100. Geburtstag des Philosophen, Berlin: Mittler & Sohn 1933.
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zuletzt der junge Helmut Kuhn assistierte.18 Wilhelm Stuckart, seit Juni 1933 Staatssekretär im Preußischen Wissenschaftsministerium, entzieht ihm bereits im September aufgrund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« die Lehrbefugnis.19 Dank der Bemühungen eines serbischen Doktoranden emigriert Liebert daraufhin bald nach Belgrad, um dort eine ordentliche Professur für Philosophie und Pädagogik zu übernehmen.20 Er arbeitet weiter an seiner Position. 1935 erscheint die umfangreiche Philosophie des Unterrichts.21 1936 folgt eine Monographie über Die Krise des Idealismus, die verschiedene »Einwände« gegen den Idealismus erörtert, den »Realismus« kritisiert und so »Wesen und Notwendigkeit des Idealismus« verteidigt.22 1938 publiziert Liebert noch zwei Monographien über Die Pflicht der Philosophie in unserer Zeit sowie den Liberalismus als Forderung, Gesinnung und Weltanschauung. Durch eine erneute theoretische Positionsnahme, eine Besinnung auf die praktische Funktion von Philosophie und eine politische Programmschrift profiliert er damals also seine humanistische Programmatik, als er Vorsitzender der Gesellschaft Philosophia und Herausgeber der gleichnamigen Zeitschrift wird. 1939 flüchtet er nach Birmingham und gründet dort zusammen mit dem kommunistischen Parteimann Alfred Meusel (18961960) 1942 die Freie Deutsche Hochschule in Großbritannien.23 Nach Kriegsende holt Meusel, nunmehr Dekan der Philosophischen Fakultät in Berlin, Liebert auf einen philosophischen Lehrstuhl in seine zerbombte Heimatstadt zurück.24 Im Sommer 1946 kommt er 18 Von Helmut Kuhn existiert eine allgemeine Betrachtung der damaligen Universitätssituation: »Die deutsche Universität am Vorabend der Machtergreifung«, in: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München, München: Piper 1966, S. 13-43. Vgl. auch die Memoiren der Tochter Anette Kuhn: Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in Deutschland, Berlin: Aufbau 2003; George Leaman/Gerd Simon: »Die Kant-Studien im Dritten Reich«, in: KantStudien 85 (1994), S. 443-469 sowie R. Mehring: »Tradition und Revolution in der Berliner Universitätsphilosophie«, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Bd. 2, Fachbereiche und Fakultäten, Stuttgart: Steiner 2005, S. 199-214. 19 Vgl. Wilhelm Stuckart an Arthur Liebert, 5.9.1933, in: HU, Universitätsarchiv, Phil. Fak. 1478, Bl.68. 20 Vgl. zur damaligen Asylpolitik Jugoslawiens Katrin Boeckh: »Jugoslawien«, in: C.D. Krohn (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 279-284. 21 Vgl. A. Liebert: Philosophie des Unterrichts, Berlin: Pan 1935. 22 Vgl. A. Liebert: Die Krise des Idealismus, Zürich, Leipzig: Rascher 1936. 23 Vgl. Klaus Schwabe: »Alfred Meusel (1896-1960)«, in: Klaus Habetha (Hg.), Wissenschaft zwischen technischer und gesellschaftlicher Herausforderung, Aachen: Einhard 1995, S. 231-238. 24 Zur damaligen Lage des Instituts vgl. V. Gerhardt/R. Mehring/J. Rindert: Berliner Geist, S. 312ff, zum intellektuellen Klima Wolfgang Schivelbusch: Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945-1948, München: Hanser 1995, S. 312-321. Die Literatur zur Frühgeschichte der DDR-Universitäten ist in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Vgl. dazu etwa Hubert Laitko: »Wissenschaftler im Berlin der frühen Nachkriegszeit. Bausteine und Fragestellungen zu einem Soziogramm«, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Be-
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an und wird noch Dekan der Pädagogischen Fakultät.25 Hans-Joachim Lieber erinnert sich: »Er übernahm auch mich als Assistent und gab mir durch seine sehr offene und warmherzige Art des menschlichen Umgangs das Gefühl, auch in der wissenschaftlichen, persönlichen Betreuung besonders gut aufgehoben zu sein. Jedoch mußte ich an ihm und durch ihn die Erfahrung machen, daß eine politisch bedingte Emigration, selbst wenn sie das physische Überleben garantiert hatte, geistig weit weniger leicht zu verarbeiten war: Liebert rieb sich in den wenigen Wochen, die er als philosophischer Ordinarius und damit als Leiter des Seminars tätig war, im wahrsten Sinne des Wortes menschlich 26 auf und verstarb, ohne eine Lehrtätigkeit ausgeübt zu haben, im November 1946.«
Ähnlich unglücklich ergeht es damals dem Institut mit Paul Hofmann. Auch dieser alte Berliner wurde verfolgt und verstirbt bald nach seiner Rückberufung. David Baumgardt, vor 1933 ebenfalls Dozent in Berlin, und auch Ernst von Aster dagegen lehnen einen Wechsel nach Berlin ab. Damit sind die Versuche zur Wiederanknüpfung an das ältere Institut gescheitert. Deshalb verzögert sich auch die Neugründung der Kant-Gesellschaft. Es bildet sich dann unter dem Vorsitz des alten Alfred Vierkandt eine Philosophische Gesellschaft, die im Oktober 1947 eine Gedächtnis-Feier für Liebert veranstaltet und ihm 1949 ihr erstes Heft der Zeitschrift Philosophische Studien widmet. Als Anknüpfung an die KantStudien geplant, geht sie bald nach einem Jahrgang wieder ein.27 Auch dieser Versuch einer Wiederanknüpfung an den alten »Berliner Geist« bricht also ab. Schon die Goethezeit etablierte humanistische Bildung als Gegenwelt zur entstehenden »bürgerlichen Gesellschaft«. Friedrich Schiller propagierte sie programmatisch in seinen Briefen über die »ästhetische Erziehung« des Menschen. Hegel meinte in seinen Nürnberger Rektoratsreden angesichts der modernen »Entzweiung«:
standsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2002, S. 373-92; Mario Keßler: Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln: Böhlau 2001; Ralph Jessen: »Diktatorischer Elitenwechsel und universitäres Milieu. Hochschulen in der SBZ/DDR (1945-1967)«, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 24-54 u. Ilko-Sascha Kowalczick: Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945-1961, Berlin: Links 2003. 25 Vgl. Heinrich Deiters: »Nachruf auf Arthur Liebert«, in: Pädagogik 1 (1946), S. 59ff. 26 Hans-Joachim Lieber: Wie alles begann. Rückblick auf die Philosophie an der Berliner Universität 1945-1948, in: V. Gerhardt/Hans-Christoph Rauh (Hg.), Anfänge der DDR-Philosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern, Berlin: Links 2001, S. 18. 27 Vgl. das Geleitwort von Alfred Werner sowie den Nekrolog Hugo Friedrich Ehlers in: Philosophische Studien 1 (1949), Geleitwort u. S. 1f.
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»Um so wichtiger ist es für uns, weil wir Menschen, weil wir vernünftige, auf den Grund des Unendlichen und Idealen erbaute Wesen sind, in uns die Vorstellung und den Begriff eines vollständigen Lebens zu erschaffen und zu erhalten. In diese Vorstellung vornehmlich leiten uns die Studia humaniora ein; sie geben die vertrauliche Vorstellung 28 des menschlichen Ganzen.«
Von solchen Vorstellungen war Liebert beseelt. Er lebte in der Bildungswelt der Goethezeit. Biographisch war ihm die Wissenschaft eine Form der Befreiung. So läßt sich sein rastloser Eifer für die Verbreitung philosophischer Wissenschaft auch als Versuch der Errichtung einer »gelehrten Gegenwelt« betrachten. Sein ganzes Werk könnte hier Gegenstand sein. Doch es soll nun nicht weiter seine Arbeit vor 1933 gewürdigt werden, sondern nur der Beitrag zum Erhalt einer freien philosophischen Kultur in der Emigration. Dieses Wirken in Belgrad und Birmingham ist bislang wenig erforscht und quellenmäßig schwer zugänglich. Ich beschränke mich deshalb auf die Vorstellung von zwei größeren publizistischen Unternehmungen Lieberts: auf seine Zeitschrift Philosophia sowie sein programmatisches Schlußwerk Der Universale Humanismus.
II. Das Projekt der Philosophia Auch im Exil waren die Gelehrten genötigt zu publizieren. Vormals etablierte Wissenschaftler mußten sich neu qualifizieren. Der Bedarf an Einnahmen, Selbstverständigung und solidarischer Sammlung war hoch. Die Publikationschancen schmolzen aber mit der Expansion des Nationalsozialismus dramatisch zusammen. Die Sorge um Publikationsmöglichkeiten durchzieht die damaligen Gelehrtenkorrespondenzen. Weniger bekannt ist die Publikationslandschaft. Welche Verlage kamen noch in Betracht? Welche Organe druckten philosophisches Schrifttum von Emigranten? Bis 1935 waren Publikationen in Deutschland noch einigermaßen möglich. Doch dann blieben nur noch die Verlage in Frankreich und der Tschechoslowakei, Österreich, den Niederlanden und dann mit Kriegsausbruch nur noch die Schweiz. Prag und Paris waren die ersten Zentren.29 Einige Zeit war deutschsprachiges philosophisches Schrifttum aus dem Ausland in Deutschland noch (mehr oder weniger unter dem Ladentisch) erhältlich. Doch mit dem Vertrieb und Absatz brachen die Organe zusammen. Liebert wechselte 1936 zum Schweizer Rascher-Verlag, Zürich, dem Hausverlag C. G. Jungs. Nach 1938 konnte er nicht mehr publizieren. Seine Neugründung Philosophia, zwischen 1936 und 1938 im Rascher-Verlag erschienen, war damals mit drei Jahr28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Rede zum Schuljahrabschluß am 2. September 1813«, in: Theorie-Werkausgabe, Bd. 4, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 365. 29 Vgl. Lieselotte Maas: »Einführung in die deutsche Exilpresse«, in: dies./Eberhard Lämmert (Hg.), Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945, München: Hanser 1990, Bd. 4, S. 13-44.
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gängen eine der wenigen Möglichkeiten zur Fortsetzung des philosophischen Diskurses, die es überhaupt noch gab. Zu den größeren wissenschaftlichen Zeitschriften des Exils zählte sie aber nicht.30 1938 publizierte Liebert eine Schrift Der Liberalismus als Forderung, Gesinnung und Weltanschauung. Vom Liberalismus als politischer Idee spricht er nicht. Er hat nicht die »Zwecke einer bestimmten politischen Partei« im Sinn, sondern nur eine »allgemeine« Rechtfertigung der Freiheit in ihrer »konkreten« Bedeutung für die Kultur des Menschen.31 Entstehungsgeschichtlich geht die Schrift auf eine Reihe von Vorträgen zurück, die Liebert in der Freien Vereinigung Gleichgesinnter in Luzern hielt.32 Dem Vorsitzenden dieser Vereinigung, Franz Xaver Burri, ist die Schrift gewidmet. Politisch verweist Liebert nur auf die juristische Darstellung des Schweizerischen Bundesstaatsrechts von Fritz Fleiner als »Spiegelbild« der eigenen Auffassung. »Diese Uebereinstimmung ist umso bemerkenswerter und bedeutungsvoller, als auf diese Weise meine Schrift die philosophisch-ethische Begründung und Rechtfertigung für die geschichtliche Entwicklung und Kultur des Schweizervolkes liefert«, meint Liebert in dem für ihn typischen Überschwang.33 Die Schweiz, deren liberale politische Kultur und Verfassung, wird damit zum Vorbild von Ordnung. Dieses Lob der Schweiz lag damals der Emigration nahe und ist überhaupt in der verfassungspolitischen Diskussion bis heute verbreitet.34 Institutionell wird Liebert ansonsten nicht sehr konkret. Grundsätzlich betont er nur den Zusammenhang von Humanismus und Idealismus und verteidigt die konkrete »Bedeutung« der Freiheit für die Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Religion und den Menschen überhaupt. Er grenzt den modernen philosophischen »Idealismus« vom »Dogmatismus« des Mittelalters ab und versteht den philosophischen Idealismus der Freiheit vornehmlich als eine Errungenschaft der Neuzeit, ohne die institutionellen Voraussetzungen philosophischer Kultur genauer zu diskutieren. Auf diesen »konkreten Teil« zur Bedeutung der Freiheit für die Entfaltung einer modernen Kultur folgt in der Schrift allerdings noch im Anhang ein »praktischer Teil«, in dem Liebert eine Reihe individueller Maßnahmen vorschlägt; sie entsprechen dem Tätigkeitsspektrum philosophischer Vereinigungen und appellieren an das individuelle Engagement. Liebert rechtfertigt sein Unternehmen einer Vereinsgründung damals auch in seinem Büchlein Von der Pflicht der Philosophie in unserer Zeit, das er im Un30 Vgl. ebd., S. 181ff. sowie ausführlicher Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1950, Bd. 4, Exilpresse, Stuttgart: Metzler 1978. 31 A. Liebert: Der Liberalismus als Forderung, Gesinnung und Weltanschauung. Eine philosophische Betrachtung, Zürich: Rascher 1938, S. 12. 32 Vgl. ebd., S. 11. 33 Ebd., S. 14. 34 Vgl. dazu nur Thomas Mann: »Gruß an die Schweiz« [1934], in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt/M.: Fischer 1974, Bd. 11, S. 438-447 sowie Ernst-Wolfgang Böckenförde: »Die Schweiz – Vorbild für Europa?«, in: ders., Staat, Nation, Europa, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 25-33.
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tertitel einen Aufruf und Mahnruf an die Philosophie und an die Philosophen der Gegenwart nennt. Es verteidigt die Philosophie als »Hüterin der Freiheit« und beruft sich gegenüber dem »Verfall der Philosophie in der relativistischen Lebensphilosophie«, zu der Liebert nun neben Nietzsche auch Dilthey zählt,35 auf die platonische Philosophie als Vorbild und »Retterin der Idee des Menschen«. Er endet mit der Frage, auf welche Weise die Philosophie »ihre Pflicht erfüllen« kann. Den Extremen rein theoretischer und praktischer Philosophie gegenüber, die er mit den Polen Aristoteles und Fichte bezeichnet, propagiert er nun den mittleren »Weg« globaler »Organisation«. Denn: »Die Menschheit bedarf eines Areopags!«36 Ziel ist die »Erneuerung und Wiedererstarkung des Humanismus« in seiner »vollen und absoluten Form«.37 Liebert vertritt damit keinen historisch-philologisch bestimmten Humanismus: »Wir bezeichnen mit jenem Begriff vielmehr diejenige Weltanschauung, die a) auf die Belebung oder Wiederbelebung und auf die Anerkennung der Idee des ›sittlichen‹, des freien, schöpferischen Menschen gerichtet ist, b) die in dieser Idee die unbedingte Grundlage alles wahrhaft ›menschlichen‹ Denkens und Tuns erblickt und die Verwirklichung dieser Idee c) als die sittliche Aufgabe und Pflicht alles wahrhaft ›menschlichen‹ Denkens und Tuns sowie d) als den Sinn und das Ziel aller sittlichen und ver38 nünftigen Tätigkeit und Entwicklung.«
In der eigenen Gesellschaft und Zeitschrift Philosophia entdeckt Liebert damals bereits »Ansätze zu einer Verwirklichung« dieses Humanismus.39 Seine Erfahrungen in der Kant-Gesellschaft gehen direkt in die neue Gründung ein. Bald nach seinem Ausschluß aus dieser und dem Scheitern von Bemühungen um die Gründung einer internationalen Kant-Gesellschaft initiiert Liebert die neue Gesellschaft.40 Die Referenz wechselt von Kant zu Platon. Schon diskurspolitisch war diese Abgrenzung notwendig. Sie konnte an die philosophische Annäherung Platons an Kant anknüpfen, die sich im Neukantianismus bei Natorp wie Cassirer fand und auch von Liebert vertreten wurde.41 Und sie entsprach dem klassischen Mythos philosophischer Akademie und Gemeinschaftsbildung, wie er seit den Pytagoräern und der platonischen Akademie vertraut war. Auf dem Frontispitz der neuen Zeitschrift sind Platon und Aristoteles aus Raphaels Schule von Athen abgebildet. Im Geleitwort »zur Einführung« formuliert Liebert seine universalistischen Zielsetzungen mit platonischem Pathos; er 35 Vgl. A. Liebert: Von der Pflicht der Philosophie. Ein Aufruf und Mahnruf an die Philosophie und an die Philosophen der Gegenwart, Zürich, Leipzig: Rascher 1938, S. 37. 36 Ebd., S. 114. 37 Ebd., S. 122. 38 A. Liebert: Der Liberalismus als Forderung, S. 10. 39 A. Liebert: Von der Pflicht der Philosophie, S. 123. 40 Vgl. dazu G. Leaman/G. Simon: Die Kant-Studien im Dritten Reich, S. 447. 41 Vgl. A. Liebert: »Goethes Platonismus«, in: Kant-Studien 37 (1932), S. 399-445.
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spricht von einer »Gemeinschaft des Logos, des Ethos und des Eros« und »Hingabe an diese Dreiheit« als Ziel der Zeitschrift und Gesellschaft.42 Er beabsichtigt damals auch die Gründung von Landes- und Ortsgruppen, die Veranstaltung von Vorträgen und Diskussionen und später auch von Kongressen nach dem Vorbild der Kant-Gesellschaft.43 Für die philosophische Jugend hofft er auf Forschungsstipendien und die Stiftung von Preisarbeiten. Diese weltweite, »universale« Organisation soll die »Solidarität« der philosophischen »Gemeinschaft« bekunden. Die Zeitschrift dokumentiert sie auch durch umfassende Adressen- und Mitgliederverzeichnisse, die in der Emigration eine wichtige Kontaktbörse waren. Der erste Jahrgang endet mit »Mitteilungen«, in denen Liebert die Einrichtung einer Abteilung »Ethischer Humanismus« ankündigt. Unter Berufung auf Kants Menschheitszweckformel spricht er von einer »Erneuerung« und »Renaissance« des »ethischen Humanismus«.44 In den »Mitteilungen« zum zweiten Jahrgang verzeichnet er dann bereits einen Mitgliederstand von »635 Namen«.45 Im dritten Jahrgang bedauert er den engen Platz für das reiche »Material« und eine gewisse »Verzögerung« der Lieferung der Zeitschrift. Zwar betont Liebert stets den »universalen«, für alle Personen, Sprachen und Richtungen offenen Charakter der Zeitschrift, doch die Durchführung trägt seine Handschrift. Ein tiefenscharfes Bild eines bestimmten philosophischen Profils läßt sich den drei Jahrgängen zwar kaum ablesen. Dennoch zeigen sie die Richtung an. Die Zeitschrift gliedert sich je in zwei Abteilungen »Abhandlungen« und »Besprechungen«. Dazu kommen zahlreiche Mitteilungen aus dem internationalen Kongreßleben und der Gesellschaft sowie Würdigungen und Nekrologe zeitgenössischer Philosophen nach dem Vorbild der Kant-Studien. Der Absicht entsprechend, will die Zeitschrift nicht nur die wissenschaftliche Forschung fördern, sondern auch den Stand der Gesellschaft und Gemeinschaft dokumentieren. Da die Informationswege in der Emigration damals sehr beschränkt sind, ist der umfangreiche Besprechungsteil für die Leser besonders instruktiv. Schon bei der Auswahl der behandelten Bücher ist die »humanistische« Programmatik leitend. Zahlreiche Rezensionen schrieb Liebert selbst. Interessant sind beispielsweise seine Rezensionen zur Geschichte des Judentums; Liebert spricht nun von der schweren »weltgeschichtliche[n] Ungerechtigkeit« des »Passionsweg[s]« des modernen Judentums.46 Der erste Jahrgang dokumentiert aber vor allem eine von
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A. Liebert: »Einführung«, in: Philosophia 1 (1936), S. 12. Ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 418. Vgl. dazu auch A. Liebert: Kants Ethik, Berlin: Pan 1931. A. Liebert: »Mitteilungen«, in: Philosophia 2 (1937), S. 424. Vgl. A. Liebert: Rez. von Heinrich Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte, in: Philosophia 1 (1936), S. 352ff.; ders., Rez. von Otto Zarek über Moses Mendelssohn, in: Philosophia 2 (1937), S. 231-235 u. ders., Rez. einer Neuausgabe von Maimonides Autobiographie, in: Philosophia 3 (1938), S. 560.
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Emil Utitz und J. B. Kozak veranstaltete Prager Tagung.47 Von deren Untersuchungen über das Wesen des Geistes ist Edmund Husserls Abhandlung über Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie bei weitem die umfangreichste und berühmteste. Daneben sind beispielsweise Ludwig Landgrebe, Jan Patocka, Emil Utitz und Oskar Kraus mit Beiträgen vertreten. Der zweite Jahrgang läßt keinen gleichen Schwerpunkt erkennen, bietet aber beispielsweise die Erstveröffentlichung von Helmuth Plessners Groninger Antrittsrede, die Liebert durch eine Besprechungsabhandlung über Plessners Schicksal-Buch einleitet. Das Themenspektrum der Abhandlungen ist heterogen. Mit der »universalen« Offenheit für alle Richtungen scheint die Profillosigkeit Programm. Es fällt auf, daß mehrere Abhandlungen bestimmte Autoren würdigen, denen »humanistische« Verdienste zugesprochen werden, die heute nicht selbstverständlich in die Philosophiegeschichte gehören. So publiziert Siegfried Marck eine Abhandlung über Thomas Mann als Dialektiker, dem er 1938 auch eine bedeutende Monographie Der Neuhumanismus als politische Philosophie widmete.48 Die Zeitschrift versammelt gewissermaßen eine doppelte Gesinnungsgemeinschaft der Autoren und ihrer Helden. Seit dem zweiten Jahrgang richtet Liebert eine eigene Abteilung »Humanismus« ein, die er als praktischen Anwendungsteil seines Philosophierens versteht. Sie enthält deshalb auch »Materialien« aus der »humanistischen Bewegung der Gegenwart«, beispielsweise einen kurzen Text Paul Geheebs über »Die Idee einer Schule der Menschheit«. Diese Abteilung ist im dritten und letzten Jahrgang quantitativ stark angewachsen und gliedert sich nun in »Abhandlungen zum Problem des Humanismus« und »Materialien aus der humanistischen Bewegung der Gegenwart«. Die Abhandlungen enden mit einem Beitrag Karl Löwiths über »Die Einheit und die Verschiedenheit des Menschen«. Von philosophiegeschichtlicher Bedeutung ist beispielsweise auch ein Beitrag Martin Bubers über Heideggers Anthropologie. Doch es wäre falsch, die Zeitschrift nur an der Veröffentlichung nachgerade »klassischer« Abhandlungen zu messen. Sie rechtfertigt sich primär als Forum der Bekundung einer philosophischen »Gesinnungsgemeinschaft«, »metaphysischen Einstellung und Entscheidung«, wie Liebert sie damals auch an Maß und Wert pries,49 dem Parallelunternehmungen einer anderen humanistischen Emigrationszeitschrift, die mit der Herausgeberschaft
47 Zu Utitz vgl. R. Mehring: »Das Konzentrationslager als ethische Erfahrung. Zur Charakterologie von Emil Utitz«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), S. 761-775. 48 Vgl. Siegfried Marck: Der Neuhumanismus als politische Philosophie, Zürich: Der Aufbruch 1938. Zur philosophischen Nobilitierung Thomas Manns durch Emigranten vgl. R. Mehring: Das »Problem der Humanität«. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn: Mentis 2003, S. 80-101. 49 Vgl. A. Liebert in: Philosophia 3 (1938), S. 495ff.
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Thomas Manns günstigere Bedingungen hatte und dennoch ebenfalls nur wenige Jahrgänge bestand.50
III. Liebert in Großbritannien? 1939 emigrierte Liebert nach England. 1942 begründete er mit Alfred Meusel zusammen die Freie Deutsche Hochschule. Es ist möglich, daß er damals in der Zwischenzeit interniert war. Wie in Frankreich wurden auch in England die jüdischen Emigranten nach Kriegsausbruch als deutsche Staatsbürger betrachtet, als »fünfte Kolonne« verdächtigt und zwischen 1940 und 1942 zumeist auf der Isle of Man in Camps interniert oder sogar nach Kanada oder Australien deportiert.51 Biographisch ist jedoch nur bekannt, daß Liebert 1942 organisatorisch tätig war. Die Emigration mußte sich selber helfen. Neben der Exilpresse entstand ein Netzwerk von Institutionen. Die Bildungsarbeit schien weiterhin wichtig, arbeitete sie doch am Widerstand. Ein Boden dieser Organisationen war die kommunistische Bewegung. So stehen marxistische Netzwerke am Beginn der Freien Deutschen Hochschule. Ein Vorläufer ist die Juli 1934 gegründete Notgemeinschaft der verfolgten deutschen Wissenschaft. Sie rief eine Deutsche Emigrantenschule aus, die 1935 als Deutsche Volkshochschule in Paris ins Leben gehoben wurde. Anna Seghers, Erwin Piscator und Hermann Duncker lehrten hier. Die Freie Deutsche Hochschule in Großbritannien entstand aus ähnlichen Motiven. Sie gehörte zum Freien Deutschen Kulturbund in England, der 1938 in London gegründet wurde. Oskar Kokoschka war sein Präsident. Der Kulturbund hatte Sektionen für Literatur, Theater, Musik, Malerei und Wissenschaft. Die Anglikanische Kirche stellte Räumlichkeiten zur Verfügung. Ziel war der Erhalt einer »freien deutschen Kultur«. Der Kulturbund zählte im Mai 1940 1226 Mitglieder und gab eine Zeitschrift Freie deutsche Kultur heraus. Im Juli 1942 wurde die Hochschule als Institut der Sektion Wissenschaft gegründet. Der Mitbegründer dieser »Hochschule«, Alfred Meusel, kam aus Aachen. Dort seit 1930 Ordinarius für Volkswirtschaftslehre und Soziologie, als MarxInterpret besonders hervorgetreten, wurde er 1933 aus politischen Gründen entlassen und emigrierte 1934 nach England. 1937 trat er dort in die Gruppe deutscher Kommunisten ein. 1939 wurde er Mitbegründer des Freien Deutschen Kulturbundes und der Freien Deutschen Bewegung, die der russischen KP nahe stand. Was sich hinter dem stolzen Namen einer Freien Deutschen Hochschule aber genauer verbirgt, verschwindet im Dunkel der Emigration. Ist die Exilpresse heu50 Vgl. dazu Thomas Baltensweiler: Maß und Wert. Die Exilzeitschrift von Thomas Mann und Konrad Falke, Frankfurt: Lang 1996. 51 Vgl. dazu ausführlich H.-A. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1950, Bd. 3, Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart: Metzler 1988.
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te noch einigermaßen greifbar, so fehlen nähere Informationen über diese Institution und deren Aktivitäten nahezu gänzlich. Selbst das Exilarchiv der Deutschen Bibliothek Frankfurt verfügte nicht über nähere Auskünfte. Einen Eindruck vermitteln knappe Erinnerungen Max Oppenheimers. Oppenheimer betont den hohen Anteil politischer Emigranten in England und die aktive Rolle der KPD im Kulturbund und an der Hochschule. Ziel sei es gewesen, die »Tradition« eines anderen Deutschland zu erinnern, Kontakte zu knüpfen, »die deutsche Flüchtlingsjugend im Geiste der internationalen Verständigung zu erziehen« und auf den künftigen »Wiederaufbau« vorzubereiten. Oppenheimer erinnert seine Teilnahme an »Spezialkursen« über Geschichte und Pädagogik, »die für Berufstätige abends stattfanden« und von Meusel und Liebert geleitet wurden.52 Ein Vorlesungsverzeichnis dieses Free German Institute of Science and Learning verzeichnet Liebert und Meusel gemeinsam als Direktoren, Albert Einstein gar als Präsidenten.53 Es war aber nicht zu ermitteln, ob Liebert von dieser Tätigkeit hauptberuflich leben konnte. Auch seinem späteren Berliner Assistenten gegenüber sprach er nur von »dunklen« Jahren.54 So kann hier nur festgehalten werden, daß Liebert in England, obgleich selbst gewiß kein Kommunist – die materialistische Geschichtsauffassung rechnete er 1938 noch ausdrücklich zum anti-idealistischen »Dogmatismus«55 , nun mit dem kommunistischen Widerstand kooperierte und für einen Mann wie Meusel, der später Volkskammerabgeordneter der SED wurde, immerhin so vertrauenswürdig war, daß er ihn 1946 an die Berliner Universität holte. In der SBZ wurden damals besondere Anstrengungen zur Rückgewinnung von Emigranten unternommen. Es gab einen Rückruf des Kulturbundes für die demokratische Erneuerung Deutschlands. Im November 1945 hieß es in der deutschen Volkszeitung: »Ihr sollt wissen, daß Euch die Heimat nicht vergessen hat und daß wir auf Euch warten, indem wir durch Schaffung eines freiheitlichen Deutschlands den Tag Eurer Heimkehr vorbereiten [...]. Laßt Euch sagen, daß Deutschland Eurer bedarf.«56 Die Hochschulen bemühten sich damals besonders um Emigranten, die politisch akzeptabel waren. Die kommunistische Hochschulpolitik formierte sich erst. Der Exodus der etablierten Lehrer, knapp zur Hälfte
52 Max Oppenheimer: »Erziehung im Exil. Die Freie Deutsche Hochschule in Großbritannien«, in: Informationen Studienkreis Deutscher Widerstand, Frankfurt/M. 1984, S. 6f. 53 Vgl. ebd. 54 Telefonische Auskunft von H.-J. Lieber an R. Mehring, 24.9.2003. 55 Vgl. A. Liebert: Der Liberalismus als Forderung, S. 194. 56 Zitiert nach Marita Krauß: Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München: Beck 2001, S. 74.
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der Entnazifizierung geschuldet, und die neuen Karrieremuster setzten aber bald ein.57
IV. Der Universale Humanismus im Philosophenhimmel 1946 erschien Lieberts letzte Monographie Der Universale Humanismus. Sie ist Johann Heinrich Pestalozzi gewidmet. Ihr Untertitel lautet: Eine Philosophie über das Wesen und den Wert des Lebens und der menschlich-geschichtlichen Kultur als Philosophie der schöpferischen Entwicklung. Es liegt nur der erste Band Grundlegung, Prinzipien und Hauptgebiete des Universalen Humanismus vor. Der lange Titel läßt die weitschweifige Umständlichkeit der Untersuchung schon erahnen. Im Vorwort bemerkt Liebert, daß die Arbeit 1933 durch die Emigration unterbrochen und erst in England abgeschlossen wurde: »Ein großer Teil des ersten Manuskriptes fiel im Zweiten Weltkrieg der Verbrennung als Folge eines schweren Bombenangriffes auf England zum Opfer.«58 Weiter heißt es: »In dem Augenblicke des Abschlusses der Arbeit [...] erreichte mich die ehrenvolle und mit inniger Genugtuung aufgenommene, mich tief packende Rückberufung nach Berlin und damit in mein geliebtes Vaterland und in meine Heimat. Ich gehe zurück mit dem Willen zur Teilnahme an dem geistigen Aufbau Deutschlands.«59
Nähere Anspielungen auf den Krieg finden sich kaum; als sei der Nationalsozialismus nicht von der geliebten Heimat ausgegangen. Dieser erste Band des Universalen Humanismus ist nicht sehr durchsichtig in zwei »Bücher« gegliedert und wiederholt sich in den Gedankengängen vielfach. Das erste Buch bietet die »Einleitung«, das zweite das »System«. Die Einleitung behandelt zunächst »Die Entstehung und die Notwendigkeit unserer Frage [nach dem Universalen Humanismus] und die Form ihrer Beantwortung« und sodann »Die dreifache Gliederung unserer Frage als Gesichtspunkt und als Methode«. Liebert streicht den radikalen, fundamentalen Anspruch seiner Untersuchung heraus, indem er hinter die »traditionellen Antworten« auf das »Urerlebnis« der schöpferischen »Freiheit« des »Geistes« zurückgeht. Alle »traditionellen« Antworten jenseits dieser »Metaphysik der Freiheit«, die Liebert unter Berufung auf Kant und Platon 57 Vgl. dazu eingehend R. Jessen: Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 58 A. Liebert: Der Universale Humanismus. Eine Philosophie über das Wesen und den Wert des Lebens und der menschlich-geschichtlichen Kultur als Philosophie der schöpferischen Entwicklung, Bd. 1, Grundlegung, Prinzipien und Hauptgebiete des Universalen Humanismus, Zürich: Rascher 1946, S. xiii. 59 Ebd., S. xiv.
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vertritt, hält er für einseitig und beschränkt. Die »wichtigsten traditionellen Antworten« kritisiert er als Gesichtspunkte oder Methoden. Hier erörtert er drei Antworten, die eine »dreifach« überkommene Gliederung seiner Frage präformierten: die »religiöse und die theologische«, die »naturalistische oder naturwissenschaftliche« sowie die »historische oder geschichtswissenschaftliche Antwort«, worunter Liebert den geisteswissenschaftlichen »Historismus« abhandelt. Seine »Kritik dieser traditionellen Antworten« limitiert die »unrechtmässige Verabsolutierung« eines Standpunkts und verweist den »Determinismus« der Antworten auf die schöpferische »Freiheit« als Grund aller Fragen und Antworten. Das zweite Buch, Der Universale Humanismus überschrieben, entwickelt Lieberts »Metaphysik« und »Idealismus« der Freiheit in drei Teilen. Der erste, »Das Problem des Menschen und der Mensch als Problem«, geht vom Menschen als Grund aller Freiheit aus: »Der Mensch ist die wahre, die alles in sich vereinigende Universalität.«60 Ausführlich spricht Liebert dann vom Menschen als »Maß aller Dinge«. Im zweiten Teil erörtert er »Das Wert- und das Freiheits-Problem« des Menschen, wobei er zu einer »tragischen« Sicht vom »Kampf der Werte«, Wertsetzungen und Wertgebiete gelangt, wie sie in der neueren Philosophiegeschichtsschreibung und Kulturphilosophie nach Hegel seit Trendelenburg und Dilthey, Simmel und Weber verbreitet war.61 Liebert hat dabei eine besondere Neigung zur »Vernunft der Kunst« und will auch den Streit der Religionen miteinander, etwa die polemische Opposition des Christentums zum Judentum, von der »schöpferischen Entwicklung oder Freiheit« der Kunst her moderiert wissen.62 Der dritte Teil des »Systems«, »Wesen und Gestalt des Universalen Humanismus« überschrieben, erörtert die »Hauptgebiete« und »Hauptformen« des Humanismus dann mit stärkerer Wertung. Liebert grenzt sich hier eingangs, unausdrücklich gegenüber dem Nationalsozialismus, vom »unfreien oder gebundenen« »biologischen Humanismus« ab und erörtert dann den »wissenschaftlichen«, »religiösen«, »künstlerischen« und »ethischen« Humanismus als »freie Formen« oder »Freiheitsformen«. Unter Berufung auf Schiller schätzt er den ästhetischen und »künstlerischen Humanismus« als Form der Freiheit und preist dann das »kritische Bewußtsein« vom »Wesen und Begriff« der »schöpferischen« Freiheit im »ethischen« Humanismus.63 Diese Gliederung wurde hier nachgezeichnet, um den einfachen Grundansatz hervorzuheben: Liebert geht von der Freiheit des Menschen als Grund aller »schöpferischen« Formgebungen aus und schließt Kant mit Platon zusammen, weil er dem »Kritizismus« eine lebensphilosophische Tönung verleiht, die in der ständigen Rede vom »Schöpferischen« deutlich anklingt. Grenzt er sich nach
60 61 62 63
Ebd., S.96. Vgl. ebd., S. 188f. Vgl. ebd., S. 182f. Vgl. ebd., S. 225.
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1933 auch von seinen Lehrern Dilthey und Vaihinger etwas ab,64 weil er deren »Relativismus« und »Fiktionalismus« scheut, bleibt doch die Orientierung an Diltheys Weltanschauungslehre schon mit der Bezeichnung des »Universalen Humanismus« als »Metaphysik« und »Idealismus der Freiheit« 65 unüberhörbar.66 Liebert streicht hier die lebensphilosophische Grundlegungsabsicht heraus, die Dilthey über die bloße Typologisierung der »Weltanschauungen« hinausgehend auch vertrat, ohne doch die »Metaphysik der Freiheit« ernstlich systematisch in eingehender Diskussion von Kant und Platon zu entwickeln. Die »lebensphilosophische« Umschrift des Kritizismus führt ihn von Kant zu Platon und von der »Pflicht« zum »Eros« als Zentralbegriff des »ethischen Idealismus«.67 Vom Nationalsozialismus und der Wirklichkeit des »Bösen« schweigt Liebert in seiner Untersuchung. Sie ist didaktisch gemeint und entwickelt den Universalen Humanismus, trotz ihrer ausschweifenden Oratorik, weder philosophisch noch politisch eingehend. Liegen die Grenzen der systematischen Leistung auch in der eklektischen Vagheit der Grundbegriffe offen, entlarvt sich im Schlußkapitel über »Die Entscheidung als Problem und als Tat« noch die politische Naivität dieser Bemühungen. Der letzte Abschnitt handelt von der »politischen Entscheidung«.68 Liebert fordert hier eine »Vereinigung der Humanisten zu einem Weltbund« und sinnt nicht weniger als das »Weltparlament« und den »Weltgerichtshof« an. Das »Weltgewissen« des Emigrationsdiskurses wird zum »Weltgerichtshof«.69 Die eigene Gesellschaft Philosophia und die »Erneuerung der Kant-Gesellschaft« machen die ersten Schritte zum »Weltbund der Humanisten«, der »die Bestrebungen des Völkerbundes in Genf aufnehmen, fortsetzen, erweitern« soll.70 Dieser Weltbund soll »eine menschheitliche Rechtsverfassung«, »Leitideen und Grundsätze für die internationalen Wirtschaftsvereinbarungen« sowie vor allem einen »Plan für die Erziehung der Jugend« ausarbeiten. Weltkongresse und publizistische Tätigkeiten sollen dabei helfen. Als »Weltsprache« empfiehlt Liebert »ein vereinfachtes Latein«.71 Dieser »Weltareopag« der Humanisten soll durch Vertreter aller »Volksschichten« gebildet werden. Das Verfahren zur Auswahl »der Besten« bleibt unklar. Einerseits scheint keine Wahl vorgesehen zu sein, andererseits spricht Liebert doch von Wahlen, wobei er vor einer »zu niedrige[n] 64 Vgl. ebd., S. 130. 65 Vgl. Wilhelm Dilthey: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Gesammelte Schriften, Bd. 8, Leipzig: Teubner 1931 u. ders., Das Wesen der Philosophie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Die Geistige Welt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 8. Aufl. 1990, S. 339-416. 66 Vgl. dazu schon A. Liebert: Erkenntnistheorie, Bd. 2, Berlin: Mittler & Sohn 1932, S. 134-160, bes. S. 135. 67 Vgl. A. Liebert: Der Universale Humanismus, S. 258f. 68 Vgl. ebd., S. 276-293. 69 Ebd., S. 284. 70 Ebd., S. 278. 71 Ebd., S. 283.
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Ansetzung der Altersgrenze« warnte: »Für die Wähler nicht vor dem fünfundzwanzigsten und für den zu Wählenden und Beauftragten nicht vor dem dreißigsten Jahr.«72 Lieberts Universaler Humanismus endet mit einer emphatischen Berufung auf Platons Satz vom Philosophenkönigtum. Kants differenziertere Fassung des Satzes aus der Friedensschrift, die die demokratische Perspektive einbezieht, klingt nicht an.73 Eine systemische Trennung von Philosophie und Politik und Anerkennung des Legitimationsmodus der Demokratie scheint nicht vorgesehen. Eine prägende Erfahrung Weimars war ja die Selbstpreisgabe der Demokratie, weshalb auch andere Köpfe der Emigration, so Thomas Mann, das Philosophenkönigtum unter Berufung auf Platon bejahten.74 Dieser erasmische Elitismus verlor aber nach Kriegsende bald sein Mandat, als es um den Aufbau politischer Institutionen und Alternativen in den Frontlagen des Kalten Krieges ging. Daß Liebert von diesen Kräften schweigt und das »Weltgewissen« der Philosophen zum Kriterium der Auslese machen will, beweist die mangelnde Bodenhaftung seines Denkens. Sein »Weltbund« konnte sich damals vielleicht mit den »Goethegemeinden« verbünden, auf die der greise Friedrich Meinecke als »Weg der Erneuerung« hoffte, doch schwerlich mit den politischen Bewegungen der Nachkriegszeit.75 Es war eine idealistische Gegenwelt chimärischen Zuschnitts: eine philosophische Donquichotterie. Lieberts Universaler Humanismus war deshalb nicht der »weltoffene Humanismus«, der sich als philosophisches Fazit der Emigrationserfahrung vielleicht erwarten ließe. Er nahm die philosophischen Resultate der anthropologischen Diskussion der Zwischenkriegszeit kaum auf; sein utopisches Potential war kaum eine politisch mögliche und wünschbare Alternative; und die Emigrationserfahrung war sachlich nicht derart verarbeitet und distanziert, daß Liebert seinen Standort in der Zeit fand. Deshalb möchte ich eher von einer »gelehrten Gegenwelt« sprechen denn von einem »weltoffenen Humanismus« im Sinne einer tragenden politisch-philosophischen Antwort. So blieb die Wirkung Lieberts nach 1945 auch gering. Selbst die Kant-Studien, spät erst neu begründet, flochten ihm keine Kränze. Seine philosophische Leistung ist heute nicht zu Unrecht vergessen. Doch in die Geschichte der KantGesellschaft, der Philosophiedidaktik und der philosophischen Diskurs- und In72 Ebd., S. 290. 73 Vgl. V. Gerhardt: Immanuel Kants Entwurf ›Zum ewigen Frieden‹. Eine Theorie der Politik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 126 u. ders., »Der Thronverzicht der Philosophie. Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant«, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, Berlin: Akademie 1995, S. 171-193. 74 Vgl. T. Mann: »Vom kommenden Sieg der Demokratie« [1938], in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt/M.: Fischer 1974, Bd. 11, S. 922. Vgl. dazu R. Mehring: Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München: Fink 2001, S. 204f. u. 228f. 75 Vgl. Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden: Brockhaus 1946, S. 146ff. u. 175.
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stitutionengeschichte der Zwischenkriegszeit gehört sie hinein. Lieberts »Humanismus« war zwar historisch und systematisch zu vage und unbestimmt, um heute noch zu befruchten. Doch darum geht es in der Philosophie, unter sokratischen Prämissen, nicht nur. Liebert wird in seiner Philosophie gefunden haben, wovon er träumte; er konnte mit ihr und oft auch von ihr leben; sie half ihm, das Exil zu überstehen und nach 1945 noch in Berlin, seiner Universität, »Heimat« zu finden. Sein Denken war ihm das Paradies, aus dem er sich nicht vertreiben ließ.
CAROLA DIETZE
Selbstvergewisserung im Exil. Autobiographische Dimensionen einer Meistererzählung: Die verspätete Nation von Helmuth Plessner*
I. Der Rang eines Klassikers ist nur wenigen Darstellungen der neueren deutschen Geschichte eigen. Doch Helmuth Plessners im Exil entstandene Deutschlandstudie Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes – zunächst im Jahr 1935 unter dem Titel Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche in der Schweiz erschienen – kann diesen Status für sich beanspruchen.1 Als »eine kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete« und »auf den Nationalstaat ausgerichtete« Geschichtsdarstellung ist, deren Prägekraft »öffentliche Dominanz« erlangte, gehört die Schrift zudem in die Reihe der »Meistererzählungen« deutscher Geschichte.2 Gleichwohl ist Die verspätete Nation in der Historiographiegeschichte der Bundesrepublik bislang selten um ihrer selbst willen Thema gewesen. In der Re
Mein herzlicher Dank für Korrekturen und Anmerkungen gilt Wolfgang Eßbach, Hartmut Lehmann, Daniela Münkel, Lolle W. Nauta und Henning Trüper. 1 Vgl. Helmuth Plessner: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich: Niehans 1935 u. ders., Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes [1959], Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. v. Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 5. Aufl. 1994. [Zitate aus diesem Text werden im weiteren mit Seitenangabe im Text angegeben.] 2 Vgl. Konrad Jarausch/Martin Sabrow: »›Meistererzählung‹ – Zur Karriere eines Begriffs«, in: dies. (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 16. Zu den unterschiedlichen Definitionen und Verwendungsarten dieses Begriffes vgl. Matthias Middell/Monika Gibas/Frank Hadler: »Sinnstiftung und Systemlegitimation durch historisches Erzählen: Überlegungen zu Funktionsmechanismen von Repräsentationen des Vergangenen«, in: Comparativ 10.2 (2000), S. 21ff.
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gel gilt sie als Zeichen der historiographischen Wende hin zu einer traditionskritischen Beschäftigung mit deutschen nationalen Selbst- und Leitbildern und als eines der stichwortgebenden Werke für die These vom deutschen Sonderweg, wie sie seit den sechziger Jahren von der Bielefelder Schule vertreten wurde.3 In dieser Funktion steht Die verspätete Nation neben den kritischen Auseinandersetzungen anderer Emigranten mit der deutschen Geschichte – etwa der Geschichtsschreibung von Hans Rosenberg, Eckart Kehr, Hajo Holborn, George L. Mosse und Fritz Stern.4 In der Tat gibt es eine Anzahl verbindender Strukturelemente zwischen Plessners Deutung aus dem Exil und den Studien der Vertreter einer Historischen Sozialwissenschaft: beiden Seiten gilt der Westen als positiver Bezugs- und Vergleichspunkt; die moralische Frage nach den Ursachen des Nationalsozialismus wird jeweils mit einer »tiefenhistorischen Perspektive« verknüpft, die stärker auf den Weg zum Zivilisationsbruch gerichtet ist als auf die Verbrechen der NS-Zeit selbst; damit wird der Nationalsozialismus jedoch ausdrücklich in die Kontinuität der deutschen gesellschaftlichen Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert gestellt; schließlich vermitteln Plessners Exilwerk wie die Geschichtsschreibung der Bielefelder Schule bei aller Kritik an der nationalen Geschichte doch auch Identifikationsangebote, nicht zuletzt indem sie Chancen der Veränderbarkeit aufzeigen.5 Unangefochten waren die »Meistererzählung« von der verspäteten Nation und das »Metanarrativ« des deutschen Sonderwegs zu keinem Zeitpunkt. Doch erst die Anstöße der postmodernen Kritik »großer Erzählungen«, die Impulse des linguistic turn, der Alltagsgeschichte und der Gegenerzählungen aus den gender studies und postcolonial studies haben bewirkt, daß geschichtliche Großdeutungen als solche zum Gegenstand der historiographischen Reflexion geworden sind. Sie sind nun selbst Objekt der Historisierung. Dazu werden nicht nur ihre Konstruktionsprinzipien untersucht – etwa die Auswahlprinzipien aus dem Strom des historischen Geschehens, die Argumentations- oder Erzählstruktur sowie der Bezug zur Gegenwart –, sondern auch die sozialen Praktiken in den Blick genommen: Fragen der Geschichtspolitik, der medialen und politischen Inszenierung, der institutionellen Voraussetzungen sowie der Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen von wirkungsmächtigen Synthesen und Paradigmen. Im 3 Vgl. Christoph Cornelißen: »Der wiederentstandene Historismus. Nationalgeschichte in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre«, in: K. Jarausch/M. Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung, S. 105. 4 Vgl. nach wie vor George G. Iggers: »Die deutschen Historker in der Emigration«, in: Bernd Faulenbach (Hg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben, München: Beck 1974, S. 97-111. 5 Vgl. die paradigmatische Umsetzung der Sonderwegsthese in Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 7. Aufl. 1994 u. dazu Thomas Welskopp: »Identität ex negativo. Der ›deutsche Sonderweg‹ als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre«, in: K. Jarausch/M. Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung, S. 109-139.
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Zuge dessen stellt sich auch die Frage nach den »Meistern der Erzählung« – in den Worten Christoph Cornelißens: »Wer von Meistererzählungen spricht, kann dies nicht sinnvoll tun, ohne einen Blick auf die ›Meister‹ selbst zu werfen.«6 In diesem Sinne soll hier Die verspätete Nation von Helmuth Plessner als eine spezifische »Meistererzählung« historisiert werden. Dazu werden die Entstehungskontexte und die autobiographischen Dimensionen dieses Exilwerkes untersucht. Als »autobiographisch« werden dabei alle Äußerungen verstanden, die einen Bezug zum Leben des Autors haben. Daß der Autor eine Aussage über sich selbst beabsichtigte, wird dabei nicht vorausgesetzt. Ziel ist, die Beziehungen aufzuzeigen, die zwischen Plessners individueller Lebensgeschichte und seiner Deutung der deutschen Geschichte bestehen. Solche Verbindungen finden sich auf zwei Ebenen. Zum einen stellt Die verspätete Nation als Ganzes eine Antwort auf Plessners neue Lebenssituation in der Emigration dar. Dies läßt sich an der Funktion, die die Geschichtsschreibung für den Emigranten hatte, am Erkenntnisinteresse und an der Themenwahl festmachen. Bei diesen Formen der autobiographischen Prägung handelt es sich im Grunde um das Phänomen, das Edward H. Carr als »reziproke[n] Prozeß der Wechselwirkung zwischen dem Historiker und seinen Fakten«, als »Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit« bezeichnet hat – ein Prozeß der auf der banalen Tatsache beruht, daß auch der Historiker oder die Historikerin immer schon ein Produkt der Geschichte ist. Das Format eines historischen Werkes wird davon nicht beeinträchtigt, sondern verdankt sich häufig genug erst einer solchen Dialogbereitschaft.7 Die verspätete Nation kann dafür als Beispiel dienen. Die autobiographische Prägung eines Werkes als ganzes durch das Erkenntnisinteresse des Historikers läßt sich auch für historische Darstellungen feststellen, die weit zurückliegende Epochen behandeln – neben der immer wieder genannten Römischen Geschichte von Theodor Mommsen denke man hier an die Arbeiten der Renaissance-Historiker Ernst Kantorowicz und Hans Baron, die Kay Schiller auf entsprechende Bezüge hin analysiert hat.8 Bei Plessners Deutschlandstudie Die verspätete Nation handelt es sich jedoch um ein Stück Zeitgeschichtsschreibung. Deshalb ist hier noch eine weitere Ebene autobiographischer Prägung möglich: die Bezugnahme in einzelnen Teilen der Darstellung und Analyse auf eigene Erfahrungen als Zeitzeuge. Solche Bezüge sind in Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation zahlreich. Allerdings hat Plessner seine Rückgriffe auf die eigene Biographie nirgends als solche markiert. Erst eine genaue Kenntnis seines Lebenslaufes und seiner Werke öffnet den Blick dafür, inwieweit der Autor eigene Erfahrungen einfließen ließ. Daß für diese Rückgriffe nur bestimmte Teile vom Schicksal deutschen Geistes in Betracht kommen, liegt in der Natur der Sache. Es sind die Teile, in denen die be6 C. Cornelißen: Der wiedererstandene Historismus, S. 83. 7 Edward H. Carr, Was ist Geschichte?, Stuttgart: Kohlhammer 1963, S. 54. 8 Vgl. Kay Schiller: Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2000.
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wußt erlebte und die erzählte Zeit sich decken.9 Hier erscheint Die verspätete Nation durchaus wie eine objektivierte und somit »verwissenschaftlichte« Geschichte eines Deutschen.10 Mit dem Aufzeigen der Entstehungskontexte und einer Lektüre der verspäteten Nation auf ihre autobiographischen Bezüge hin, soll zunächst zu einem besseren Verständnis dieses Werkes und seines Ortes im Plessnerschen Œuvre beigetragen werden.11 Darüber hinaus könnte das Wissen um die autobiographischen Bezüge die gängige Kategorisierung des Werkes als Stichwortgeber für die Sonderwegsthese der Bielefelder Schule ergänzen und differenzieren. Schließlich bereichert das Wissen um die vielfältigen lebensgeschichtlichen Bezüge die Plessnersche Deutschlandstudie um eine neue Lesart: es ist nicht mehr ausschließlich eine Abhandlung über deutsche Geschichte, die für sich Objektivität in Anspruch nimmt, sondern zudem eine Form von Zeitzeugenbericht, dem als historische Quelle Aufmerksamkeit zukommt. Insofern handelt es sich bei diesem Werk auch um ein historisches Dokument, das die Sicht eines spezifischen Teils der universitären Welt auf die Zeit der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus widerspiegelt.
II. Helmuth Plessner war gerade 41 Jahre alt geworden, als er im September 1933 auf Grund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« seine venia legendi verlor und von der Universität Köln entlassen wurde.12 Am 2. September 1892 wurde er als einziges Kind des aus jüdischer Familie stammenden Arztes Fedor Plessner geboren, der zusammen mit seiner Frau Elisabeth Plessner, 9
1892 geboren kann Helmuth Plessner seine eigenen Erlebnisse einbringen, wo er auf Entwicklungen seit etwa 1900 reflektiert. Diese Teile durchziehen das ganze Buch. Mit den Kapiteln 1, 2, 5, 6 und 10-12 können jedoch Schwerpunkte in der Behandlung der erlebten Zeit ausgemacht werden. 10 Vgl. Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, München: dtv 2002. 11 Vgl. hierzu grundlegend Joachim Fischer: »Die exzentrische Nation, der entsicherte Mensch und das Ende der deutschen Weltstunde. Über eine Korrespondenz zwischen Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie und seiner Deutschlandstudie«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 395-426. 12 Zu Plessners Biographie allgemein vgl. Kersten Schüßler: Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biographie, Berlin, Wien: Philo 2000 sowie demnächst Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. Die Emigration und Remigration Helmuth Plessners, Göttingen: Wallstein 2006. Speziell zur Zeit der Emigration vgl. C. Dietze: »Der eigenen Wissenschaft treu bleiben. Helmuth Plessner im niederländischen Exil«, in: Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 2: Leitbegriffe, Deutungsmuster, Paradigmenkämpfe, Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 417-449.
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die aus einer protestantischen Familie kam, ein international frequentiertes Sanatorium in Wiesbaden leitete. Helmuth Plessner studierte zunächst in Freiburg Medizin, um sich dann in Heidelberg, Berlin, Göttingen und Erlangen der Biologie und später der Philosophie zu widmen. Zu seinen Lehrern zählten Hans Driesch, Wilhelm Windelband, Max Weber und Edmund Husserl. Mit Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes legte er 1923 sein erstes großes philosophisches Werk vor. Schon ein Jahr später folgte mit den Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus eine engagierte sozialphilosophische Arbeit, in der es Plessner darum ging, die Gesellschaft gegen Gemeinschaftsmythen von rechts und links zu verteidigen.13 Der Durchbruch zu seiner Version der philosophischen Anthropologie folgte 1928 mit Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie.14 In Macht und menschliche Natur, das 1931 erschien, konnte Plessner diesen Ansatz in Richtung einer politischen Anthropologie erweitern.15 Einen Lehrstuhl brachte ihm sein philosophisches Œuvre jedoch nicht ein. Erst im Februar 1933 kam eine Kommission der Kölner Philosophischen Fakultät zusammen, um den nicht beamteten außerordentlichen Professor für ein persönliches Ordinariat in der Nachfolge Max Schelers vorzuschlagen – wenige Wochen, bevor der in Aussicht genommene Kandidat Vorlesungsverbot erhielt. Zusammen mit anderen Kollegen, die von der Universität Köln vertrieben und an die neugegründete Universität Istanbul berufen worden waren, ging Plessner Mitte Oktober 1933 zunächst in die Türkei. Seine Hoffnungen, dort den Ruf auf einen noch einzurichtenden Lehrstuhl für Philosophie zu erhalten, zerschlugen sich jedoch, als das türkische Unterrichtsministerium den Ausbau der Universität vorübergehend einstellte. Die Verhandlungen um eine Stelle als Leiter des Fremdsprachenlektorats waren noch im Gange, als Plessner einen Brief aus den Niederlanden erhielt. Darin fragte der Groninger Physiologe Frederik J. J. Buytendijk – der schon Anfang der zwanziger Jahre mit Plessner zusammengearbeitet hatte – bei dem ehemaligen Kölner Philosophen an, ob er Interesse an einem Stipendium habe, das ihm für zwei Jahre die Mitarbeit am Physiologischen Institut in Groningen ermöglichen würde. Plessner nahm das Angebot sofort an. Zwar waren die in Aussicht stehenden Themen – »der Schrecken«, »Seesterne« und »die räumliche Orientierung von Spinnen« – für ihn inzwischen nur noch von begrenztem Reiz. Schließlich war es ihm in den letzten Jahren vordringlich um den weiteren Ausbau seiner philosophischen Anthropologie als eigenen systematischen Ansatz gegangen. Doch er hatte keine Wahl: Ende Sep13 Vgl. H. Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, Bonn: F. Cohen 1923 u. ders., Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn: F. Cohen 1924. 14 Vgl. H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin, Leipzig: de Gruyter 1928. 15 Vgl. H. Plessner: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltsicht, Berlin: Junker & Dünnhaupt 1931.
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tember war seine Lehrauftragsvergütung eingestellt worden; die eigenen Mittel waren begrenzt. Da war das Groninger Stipendium immerhin ein Provisorium, von dem aus man versuchen konnte »irgendwo für Dauer unterzukommen«.16 Am 8. Januar 1934 kam Plessner in Groningen an und begann zunächst tatsächlich Untersuchungen an Tieren: anstatt Seesternen, Spinnen oder dem Schrecken bildeten nun Küken das Forschungsobjekt.17 Wegen einer schweren Halsentzündung unterbrach er diese Studien jedoch und nahm sie später nicht wieder auf. Allerdings konnte Plessner ebenso wenig seine in Köln begonnenen Arbeiten fortsetzen. Er hatte, wie er in der »Selbstdarstellung« berichtet, das angefangene Manuskript von Lachen und Weinen im Gepäck.18 Die Arbeit an diesem Buch scheint er jedoch erst 1938 wieder aufgenommen zu haben. Denn auch für Plessner galt, was er später als Remigrant für einen anderen Exilanten geltend machte: er stand unter dem »Schock der Emigration«. »Wir alle in gleicher Lage haben ja Ähnliches verspürt, und es hing von der Kraft des Einzelnen ab, ob er sich wieder faßte und zur produktiven Arbeit zurückfand«, heißt es dort.19 In Plessners Fall bedurfte es dazu erst einer mehr oder weniger gelungenen Akkulturation an den Ort, an den es ihn verschlagen hatte sowie zumindest vorläufig gesicherter Zukunftsaussichten. Von beidem konnte 1934 noch keine Rede sein. Um so lieber wird er in diesem Moment eine andere Chance ergriffen haben: die Möglichkeit, Vorlesungen über zeitgenössische Philosophie in Deutschland zu halten. Wie Plessner im Vorwort zum Schicksal deutschen Geistes schrieb, war sein Buch »aus Vorträgen zur Einführung in die gegenwärtigen geistigen Kämpfe Deutschlands und seiner Philosophie entstanden, die der Verfasser im Winter 1934 und 1935 an der Universität Groningen vor Studenten aller Fakultäten gehalten hat« (S. 30f.). Diese Bemerkung ist häufig so verstanden worden, als ob Plessner den Text seiner Deutschlandstudie im Wintersemester 1934/35 quasi Kapitel für Kapitel vorgetragen hätte. Das war jedoch nicht der Fall. Zwar läßt sich nicht mehr eruieren, was genau Plessner zu Beginn seines Exils in Groningen vortrug, da Vorlesungsskripte oder -notizen bislang nicht aufgefunden werden konnten. Entscheidende Aufschlüsse über Zeitpunkt und Inhalt der Vortragsreihen lassen sich jedoch aus den Ankündigungen entnehmen, die Plessner für jede Vorlesung in der Groninger Studentenzeitung Der Clercke Cronike veröf16 H. Plessner an Josef König, 12.12.1933, in: Hans-Ulrich Lessing/Almut Mutzenbecher (Hg.), Josef König – Helmuth Plessner: Briefwechsel 1923-1933, Freiburg, München: Alber 1994, S. 218. 17 Vgl. H. Plessner: »Unsere Begegnung« [1957], in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Salvatore Giammusso u. H.-U. Lessing, München: Fink 2001, S. 316. 18 Vgl. H. Plessner: »Selbstdarstellung« [1975], in: ders., Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 332. 19 Gutachten Helmuth Plessners vom 12. Januar 1959 für das Hessische Kultusministerium, Ministerialrat Dr. von Bila, in: Universitätsbibliothek Groningen, Nachlaß Plessner 146.
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fentlichte: demnach gab er von März bis Mai 1934 an der Rijksuniversiteit eine »Einführung in die zeitgenössische Philosophie« und setzte diese Reihe im Studienjahr 1934/35 mit einer »Einführung in die Philosophie der Existenz. Heidegger, Jaspers, Klages« fort. Es waren also Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Philosophie seit der Jahrhundertwende, welche die Grundlage für Das Schicksal deutschen Geistes beziehungsweise Die verspätete Nation abgaben. Die Verschiebung von rein philosophiegeschichtlichen Themen hin zu der Frage, warum der Nationalsozialismus in Deutschland solchen Erfolg haben konnte, stellt sich dabei als ein Prozeß dar. So sind Denkbilder, die eindeutig auf Das Schicksal deutschen Geistes verweisen, in den Ankündigungen für die erste Vortragsreihe im Frühjahr 1934 – die den Anmerkungen der Redaktion zufolge jeweils einen kurzen Überblick über die kommende Vorlesung geben sollten – noch selten zu finden.20 Die Reihe endete in einer Gegenüberstellung der philosophischen Anthropologie mit dem Existentialismus Martin Heideggers und Karl Jaspers’. Dabei werden die beiden unterschiedlichen philosophischen Ansätze als alternative Antworten auf die Forderung der Lebensphilosophie beschrieben, den lebendigen Menschen wieder zum Ansatzpunkt der Philosophie zu nehmen.21 Nach den Sommersemesterferien, die Plessner bei seiner Mutter in Wiesbaden verbrachte – nicht zuletzt um mit den Stipendiengeldern zu haushalten –, knüpfte er dort an, wo er im Mai aufgehört hatte: beim Existentialismus.22 In den Ankündigungen für die Vortragsfolge »Einführung in die Philosophie der Existenz. Heidegger, Jaspers, Klages« sind die Elemente, die im Schicksal deutschen 20 Vgl. die redaktionellen Anmerkungen und das Programm in Der Clercke Cronike vom 24.2.1934, S. 193 sowie die jeweiligen ausführlichen Ankündigungen in Der Clercke Cronike vom 10.3.1934, S. 208; 14.4.1934, S. 238; 28.4.1934, S. 258; 5.5.1934, S. 268 und vom 12.5.1934, S. 280. 21 Vgl. H. Plessner: »Voordrachtenreeks zeitgenössische Philosophie«, in: Der Clercke Cronike vom 5.5.1934, wo es heißt: »Der lebendige Mensch in und mit seiner Welt wird zum Ansatzpunkt der Philosophie. Wie ihn dazu machen? Darauf gibt es zwei Antworten. 1. Den Existentialismus von Heidegger und Jaspers, der den Menschen aus der Fläche der Natur und des organischen Seins herausreißt und ihn in der Sphäre der Lebensentscheidung vereinsamt; 2. Die sog. philosophische Anthropologie, die den Menschen im Horizont der Natur und der eigenen Entscheidung sehen will, um ihm – durch den Verlust der Möglichkeit, in sich wieder einen archimedischen Punkt der Weltbetrachtung zu finden – seine eigentliche Freiheit zurückzugeben.« 22 Zum Programm dieser Vorlesungsreihe vgl. H. Plessner: »Einführung in die Philosophie der Existenz. Heidegger, Jaspers, Klages«, in: Der Clercke Cronike vom 3.11.1934, S. 62. Die dort angegebenen Themen sind: 1. Die religiösen und politischen Voraussetzungen der Existenzphilosophie; 2. Das Problem des Nihilismus. Christliche und heidnische Philosophie: Kierkegaard und Nietzsche; 3. Heideggers Existenzbegriff und die Philosophie der Endlichkeit. Heroismus und Todesgewißheit; 4. Jaspers’ Existenzbegriff. Seine Idee einer Indirekten Metaphysik. Seine Herkunft aus dem Neukantianismus Max Webers; 5. Klages’ Kampf gegen den Geist. Eine Philosophie der praehistorischen Welt. Ihre Beziehung zu Bachofen. Der Kosmogonische Eros. Das Heidentum Stefan Georges; 6. Die deutsche Ideologie der Gegenwart und die Aufgabe einer philosophischen Anthropologie.
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Geistes die Argumentation tragen, inzwischen großenteils präsent: so die durch Glaubensspaltung und Zwangsstaatskirche geprägte religiöse Lage Deutschlands; das »Weltanschauungsbedürfnis« des deutschen Bürgertums, für das traditionellerweise die Philosophie zuständig sei; die zwei Reichstraditionen; die späte Nationalstaatsbildung, der deutsche Kampf gegen die »westlichen Ideen« und andere Bezüge mehr. Anders als in Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation werden diese Elemente hier allerdings nicht zur Erklärung des Nationalsozialismus herangezogen, sondern dienen der »Besinnung auf die geistigen und sozialen Voraussetzungen« der Existenzphilosophie. Von dieser philosophischen Strömung aus, die Plessner gleich eingangs als »spezifisch deutsch« vorstellte, ließen sich seiner Meinung nach auch »die geschichtliche Stellung des deutschen Irrationalismus der Gegenwart auf dem Hintergrund dieser Zeit am deutlichsten sichtbar machen«.23 Der Weg vom Existentialismus zur nationalsozialistischen Ideologie scheint Plessners Meinung nach nicht mehr weit gewesen zu sein. Beide verdankten ihren Erfolg den gleichen Problemlagen der deutschen Geschichte. Als Plessner im Februar 1935 in seiner Ankündigung zur letzten Vorlesung der Reihe auf solche Weise die Verbindung zu den politischen Ereignissen in Deutschland schlug, hatte er bereits mit dem Abfassen von Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation begonnen. Bis zum Sommer konnte er das Manuskript in Groningen abschließen und gab ihm in den Semesterferien, die er wieder bei seiner Mutter in Wiesbaden verbrachte, den letzten Schliff.24 Erst hier ist der Fokus nun tatsächlich auf den Nationalsozialismus gerichtet. Wenn Plessner »die doktrinäre Haltung« und vor allem »das ideologische Rüstzeug der Doktrinen selbst« als »Ausdruck tieferer historischer Kräfte zu begreifen« versucht, welche, »der Öffentlichkeit verborgen, den Resonanzboden der Zeitideen bilden« (S. 30), bleibt der im Grunde geistesgeschichtliche Zugriff jedoch bestehen; die wirtschaftlichen, politischen und soziologischen Faktoren, die Plessner einbezieht, bleiben der religions-, mentalitäts- und ideengeschichtliche Argumentationslinie des Buches untergeordnet.
III. Die Untersuchung der Entstehungskontexte von Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation zeigt, daß die Arbeit an diesem Buch von einem Feld seinen Ausgang nahm, das zu Plessners ureigenstem Terrain gehörte: der Ge23 Vgl. H. Plessner: »Voordracht van Prof. Dr. H. Plessner. Dondertag 21 Februari 4.30 uur«, in: Der Clercke Cronike vom 16.2.1935, S. 26. 24 »Meine Deutsche Philosophie der Gegenwart – im Mittelpunkt das Nihilismusproblem – macht Fortschritte. Ich hoffe im Frühling fertig zu sein«, schrieb Plessner am Weihnachtsabend 1934 an Josef König; vgl. H. Plessner an J. König, 24.12.1934, in: Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. J. König 195, Nr. 76, Bl. 352.
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schichte der neueren Philosophie in Deutschland. Dabei bot Plessner keine distanzierte Fachgeschichtsschreibung. Denn mit der Geschichte der neueren deutschen Philosophie schrieb er als aktiver Philosoph dieser Zeit auch seine eigene Geschichte: so waren die Entwicklungen, die er benannte, häufig Entwicklungen, die er auch an sich beobachtet, die er gefordert oder kritisiert hatte, und wenn er Standpunkte charakterisierte, handelte es sich dabei vielfach um Positionen, die er eingenommen, gegen die er sich abgegrenzt oder die er bekämpft hatte. Im folgenden sollen einige dieser Schilderungen und Argumente aus Das Schicksal deutschen Geistes identifiziert werden, in denen Plessner auf eigenes Erleben zurückgriff. Dabei müssen die Abschnitte, in denen Plessner sein eigenes Denken und Erleben beschrieb, von solchen unterschieden werden, wo er Phänomene behandelt, von denen er sich teilweise schon früh abgegrenzt hat. Allein anhand des Textes von Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation können die unterschiedlichen Bezugsweisen nicht bestimmt werden. Eine solche Unterscheidung ist nur auf Grund von weiteren Quellen möglich. Damit ist zugleich die generelle Grundregel für das methodische Vorgehen benannt: eine Textstelle darf nur dann als autobiographisch bezeichnet werden, wenn auf der Basis anderer Quellen entsprechende Erlebnisse oder Entwicklungen Plessners nachgewiesen werden können. Dafür nun einige Beispiele: Eine der Ausgangsthesen Plessners im Schicksal deutschen Geistes war, daß das deutsche Bürgertum seit Beginn des 19. Jahrhunderts seine sukzessive Entfernung vom Christentum mit einer eigentümlichen »Weltfrömmigkeit« (z.B. S. 67) kompensiert habe. Plessner war der Überzeugung, daß »im protestantischen Deutschland die Gleichgültigkeit gegen den christlichen Glauben in einem Maße fortgeschritten war wie kaum in einem anderen Lande der Welt« (S. 75). Das lag ihm zufolge vor allem an der Ausbildung der lutherischen Staatskirchen: »Luthers religiöse Erweckungstat war nicht, wie in den Ländern calvinistischer Reformation, von einer Entwicklung freikirchlichen Glaubenslebens gefolgt. Die lutherische Staatskirche unterband die Entwicklung der neu geweckten religiösen Kräfte. Und indem sie das Neue gleichsam abfing, bewirkte sie ganz gegen ihren Willen seine Abdrängung in die weltlichen Gebiete in verwandelter Gestalt.« (S. 65)
In der Kunst, besonders aber in den Wissenschaften, so Plessner, habe man »Gefahr und Ehre echten Bekennertums« (S. 67) besser ausleben können als in der lutherischen Staatskirche. Und man habe dort einen Ersatz für die erschütterte Theologie gesucht. In der Philosophie sei man zunächst auch fündig geworden. Doch habe »der Prozeß der Ersatzbildung für die entwurzelten Glaubenswerte« (S. 104) bei der Philosophie nicht halt gemacht. Schon bald sei die Philosophie – wie zuvor die Theologie – der Ideologiebildung bezichtigt und aus ihrer dominierenden Position verdrängt worden. Die fortschrittsgläubige Universalgeschichte habe ihre sinnstiftende Funktion eingenommen: »An die Stelle der über-
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weltlichen Autorität des göttlichen Heilsplans war die innerweltliche Autorität der wirklichen Geschichte getreten« (S. 99). Auch die weltdeutende Funktion der Geschichtswissenschaften sei allerdings nicht von Dauer gewesen: so sei die Geschichte auf Grund des Ideologieverdachtes von Soziologie, Nationalökonomie und Biologie abgelöst worden. »In der Frontnahme der Philosophie gegen die Theologie, der Geschichte gegen die Philosophie, der Soziologie gegen die Geschichte und schließlich, zu voller Aktualität heute entfaltet, der Biologie gegen die Soziologie wiederholt sich die immer gleiche Logik der Verdächtigung und Entlarvung einer bisher noch nicht erschütterten Autorität mit den Mitteln einer neuen ungewohnten wissenschaftlichen Betrachtungsweise. Jeweils die jüngsten Wissenschaften [...] übernehmen den Angriff und entfalten den spekulativen, revolutionären, universalen und radikalen Geist im Kampf gegen vermeintliche Autoritäten.« (S. 105)
»Auf der Suche nach dem verborgenen Diesseits« hätten sich die Wissenschaften so immer tiefer an das vermeintliche Wesen des Menschen herangearbeitet, weil sie hier »den letzten und wahren Halt« (S. 105) erhofft hätten, der durch die Entzauberung der christlichen Religion verloren gegangen sei. Mit dieser Analyse verallgemeinerte Plessner eigene Erfahrungen: er war lutherisch getauft und konfirmiert, aber ohne tieferen Bezug zum Glauben aufgewachsen. Sein Vater hatte sich als aufgeklärter Arzt jüdischer Herkunft wohl aus pragmatischen Gründen im hegemonialen protestantischen Bekenntnis taufen lassen und seine Mutter, die aus einer reformierten Familie stammte, scheint ebenfalls keine gläubige Person gewesen zu sein. Um so genauer wußte Plessner, wovon er sprach, wenn er »das besondere Pathos des Wortes Kultur« (S. 69) in Deutschland beschrieb oder den Begriff der »Weltfrömmigkeit« schuf. Denn als Student hatte auch er in Aufsätzen für eine freistudentische Zeitschrift von Bildungseifer und Kulturgläubigkeit reichlich Zeugnis abgelegt: »Der Student ist eine sich entwickelnde Persönlichkeit, die sich ausprägen soll in Richtung auf die verschiedenen Kulturwerte oder -ziele«, hatte es dort geheißen. Als diese »letzten studentischen Entwicklungsziele« wurden vorgestellt: die »wissenschaftlichphilosophische, ästhetisch-künstlerische, politisch-sozial-ethische, religiöse« und die »körperliche Ausbildung«.25 Darüber hinaus ist Plessners erstes 1913 verfaßtes Buch Die wissenschaftliche Idee. Ein Entwurf über ihre Form ein Beispiel für »Weltfrömmigkeit« par excellence. Hier verkündete der Einundzwanzigjährige: »Aus der innigen Wechselwirkung beider, aus dem Stehen des ›Ich‹ im ›Es‹, welches Gott selbst ist, erklärt sich die Wissenschaft. [...] Gott als höchster Begriff, als in die Form des reinen Logos übergegangen, wirkt einer Aufgabe vergleichbar, selbst ruhend 25 Vgl. H. Plessner/Albrecht Reuber: »Die studentische Zeitschrift. Noch ein Wort zu unserer Umfrage«, in: Studentische Monatshefte vom Oberrhein 2 (1912), S. 19.
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und doch tätig: einzig in der Art, wie auf uns ein Ding, ein Mensch, ein Begriff wirkt, den wir lieben [...]. Gott aber in der besonderen Form der Demut lieben, heißt Wissenschaft treiben.«26
Doch richtete sich Plessners »Bedürfnis nach einer Sinndeutung des Lebens« nicht auf Wissenschaft allgemein, sondern speziell auf die Biowissenschaften. Schon als Schüler hatte er – veranlaßt durch die Kosmosbändchen Wilhelm Bölsches und die Allgemeine Physiologie Max Verworns – für Biologie und Physiologie »Feuer gefangen«.27 Hier suchte er Aufschlüsse über das Geheimnis des Lebens und meinte vermutlich – typisch für seine Zeit – mit Ontogenese und Phylogenese ein liberales, optimistisches Weltbild untermauern zu können, denn darin bestand die Botschaft zumindest von Bölsches Büchern, die seinerzeit wahre Bestseller waren. Daß Plessner sich noch zu der Studentengeneration zugehörig fühlte, die von der Naturwissenschaft »innerlich ergriffen« gewesen sei, geht aus dem Nachruf für seinen ersten universitären Lehrer, den Vitalisten Hans Driesch, hervor. Plessner und Driesch scheinen zu einem Gutteil an ähnlichen Problemen interessiert gewesen zu sein, denn der junge Student hatte den unkonventionellen Biologen und Philosophen sogar als Freund für sich gewinnen können. Dort kennzeichnete Plessner Drieschs Werk als eines jener Systeme, die in die Reihe der »im Ansatz idealistischen, in Haltung und Ziel realistischen, dem natürlichen Sein verfallenen Weltsysteme des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts« gehörten.28 Plessner war auf der Stufe der Biologie in die später von ihm analysierte Folge der Ersatztheologien eingestiegen. Gleichgültigkeit gegenüber dem christlichen Glauben, »Weltfrömmigkeit«, Sinnsuche innerhalb der Biologie und wissenschaftlicher Bekennermut sind folglich Elemente, die Plessner für seine Deutschlandstudie direkt aus seiner eigenen Biographie beziehen konnte. Das nächste, was er mit dem von ihm beschriebenen Schicksal deutschen Geistes teilte, war die Desillusionierung durch den Ersten Weltkrieg. 1935 stellte er dazu fest: »Das 19. Jahrhundert hatte den Unglauben an Gott der Öffentlichkeit zum Bewußtsein gebracht, ihren Glauben an den Menschen aber noch nicht zu erschüttern vermocht. Das 20. Jahrhundert hat sogar noch diesen Glauben, den Humanismus im öffentlichen Bewußtsein getötet und das Leben ohne jede metaphysische, geschichtliche oder natürliche
26 H. Plessner: Die wissenschaftliche Idee. Ein Entwurf über ihre Form, Heidelberg: Winter 1913, S. 140f. Der Emeritus charakterisierte das Werk im Rückblick treffend als eine »Theologie des wissenschaftlichen Fortschritts«; vgl. H. Plessner, Selbstdarstellung, S. 307. 27 Ebd., S. 303. Die hier von Plessner genannten Bücher sind Wilhelm Bölsche: Die Abstammung des Menschen, Stuttgart: Frank’sche Verlh., 2. Aufl. 1904 u. Max Verworn: Allgemeine Physiologie. Ein Grundriß der Lehre vom Leben, Jena: G. Fischer, 2. neu bearb. Aufl. 1897. 28 H. Plessner: »In memoriam Hans Driesch« [1941], in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie, S. 310.
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Autorität und Verheißung nicht nur unausweichlich gemacht, sondern zum praktischen, ja politischen Postulat erhoben.« (S. 101)
Jede Form von Fortschrittsglauben sei »durch den großen Krieg, seine verheerenden Wirkungen auf die Weltwirtschaft und die Sozialordnung der Industrievölker und vor allem auf die verfallene Vormachtstellung Europas« (S. 89f.) fragwürdig geworden und Deutschland »als der nach gigantischer Kraftentfaltung im Weltkrieg Unterlegene das Zentrum der Skepsis« (S. 35) gewesen. Wann und wie genau Plessner selbst jeden Glauben an Sicherheiten und Fortschritt verlor, läßt sich auf Grund der bislang bekannten Quellen nicht rekonstruieren. Er hatte sich 1914 als Student sofort freiwillig gemeldet. Auf Grund einer angeborenen Behinderung des rechten Arms war er aber nicht zum Militär, sondern seit Anfang 1917 zum zivilen Hilfsdienst als Volontärassistent am Germanischen Museum in Nürnberg eingezogen worden.29 1918 hatte er versucht, an der Universität Erlangen einen Studentenrat zu bilden. Das brachte ihm die Ungnade des Rektors ein und so mußte er nach München gehen, wo er Sekretär im Rat der geistigen Arbeiter wurde.30 Dort erlebte er vermutlich auch die blutige Niederwerfung der Räterepublik durch die Freikorps mit. Daß er sich von seinen optimistischen Jugendpositionen noch während des Krieges abwandte, ist von Paul Honigsheim bezeugt.31 Daß er auch ein Bewußtsein für diesen Bruch hatte, geht aus einem Aufsatz aus dem Jahre 1920 hervor: »Unsere Generation stammt noch aus den Jahren, die sich stolz das Zeitalter der Technik und des Fortschritts nannten. [...] Das ist die Zeit, die uns in alten Hotels kleiner Städte aus verblaßten Goldrahmen noch ansieht.«32 Plessner wußte um die Bitterkeit der ideologischen Entlarvung, die er im Schicksal deutschen Geistes beschrieb. Für den Zeitraum der Weimarer Republik gibt es weitere direkte Bezüge auf die eigene Biographie: wenn Plessner feststellte, daß der Weltkrieg, die Inflation und die Weltwirtschaftskrise zu einer Schwächung des Mittelstandes und zur Proletarisierung besonders der gebildeten Schicht geführt hatten, mag er an die Monate gedacht haben, in denen auch er von nur zwei warmen Mahlzeiten in der Woche sowie von Leberwurst und Kakao gelebt hatte.33 Wenn er 1935 von der bodenlosen Entwertung des politischen Humanismus durch Kriegspropaganda 29 Vgl. Monika Plessner: Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen, Berlin: Rowohlt 1995, S. 38 u. H. Plessner: Selbstdarstellung, S. 312f. 30 Vgl. ebd., S. 314. 31 Vgl. Paul Honigsheim: »Max Weber in Heidelberg«, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, Köln, Opladen: Westdt. Verlag 1964, S. 182. Ob Plessner die Abwendung aus weltanschaulichen oder systematischen Gründen vollzog, muß allerdings dahingestellt bleiben. 32 H. Plessner: »Die Untergangsvision und Europa« [1920], in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie, S. 35f. 33 Vgl. H. Plessner: Die verspätete Nation, S. 39f. u. 178 sowie ders., Unsere Begegnung, S. 312.
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und den Vertrag von Versailles berichtete, könnte er sich an seine eigene Empörung über die Rheinlandbesetzung erinnert haben, die in Briefen an Karl Jaspers überliefert ist.34 Und wenn Plessner dem Konflikt zwischen der alten Reichsidee und der neuzeitlichen Nationalstaatlichkeit eine große Bedeutung einräumte und das Scheitern der Republik unter anderem aus dem Mißlingen des Zusammenschlusses der Weimarer Republik mit Österreich erklärte, dann ist das auch vor dem Hintergrund seines eigenen politischen Denkens zu sehen, das sich vermutlich in großdeutschen Traditionslinien bewegte.35
IV. Plessner hatte also vielfach die Erfahrungen geteilt, die er 1935 als entscheidend für die Möglichkeit der nationalsozialistischen »Machtergreifung« identifizierte. Seine Denkwege waren jedoch an entscheidenden Punkten anders verlaufen. So hat man es mit Abgrenzungen Plessners von beobachteten historischen Entwicklungen zu tun, wenn im Schicksal deutschen Geistes der Glaube an die »Macht des Blutes« in Eugenik und Rassentheorie als vorerst letzte Stufe der ideologischen Entlarvung beschrieben wird, wenn festgestellt wird, daß »die wesentlichen Elemente des sogenannten volksbiologischen Aufbruchs [...] sich als Konsequenzen des Autoritätenzerfalls verstehen« (S. 148) lassen. Denn Plessner war noch während seines Studiums von der Biologie zur Philosophie gewechselt. Ausgestattet mit einem Lehrauftrag für die Geschichte der neueren Philosophie und die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften hatte er nun gerade versucht, die Naturwissenschaften in ihre Schranken zu verweisen. Beharrlich hatte er auf die prinzipiellen Grenzen ihrer Aussagemöglichkeiten hingewiesen: »Eine Wissenschaft von der menschlichen Person, wie sie maßgebend ist als Trägerin der Geschichte, als Medium lebendiger Auseinandersetzungen im ganzen Umkreis der Kultur, kann von der Anatomie, Entwicklungsgeschichte, Physiologie, Psychologie und Psychopathologie direkt keinen Nutzen haben. [...] Erfahrung bleibt Erfahrung. Ihre Begründung erfolgt nicht selbst wieder durch Erfahrung in derselben Seinssphäre. [...] Gerade im Interesse einer Fruktifizierung einzelwissenschaftlicher Erfahrungskenntnis muß sich die Theorie der menschlichen Lebenserfahrung sorgfältig davor hüten, dergleichen Erfahrungserkenntnis für sich zu verwenden. [...] Eine Versöhnung des Gegensatzes geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Betrachtungsart [...] gelingt erst dann, wenn die Ebene, in der dieser Gegensatz besteht, verlassen ist. Deshalb hat hier die Philosophie eine große systematische Arbeit zu erfüllen.«
34 Vgl. H. Plessner an Karl Jaspers, 6.4., 15.5. u. 31.7.1923, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlaß Karl Jaspers, 75.13.593 u. z.B. H. Plessner: Die verspätete Nation, S. 39f. 35 Vgl. ebd., Kap. 2 u. bes. S. 50f.
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Die Bewältigung dieser Arbeit war eines der Projekte, die Plessner mit der philosophischen Anthropologie verfolgte. Sie enthielt ausdrücklich eine Kritik an jedem »Versuch, Begriffe, Theorien und Ergebnisse – aus welcher naturwissenschaftlichen Disziplin immer – auf die Geisteswissenschaften anzuwenden und sie für sie direkt fruchtbar zu machen, wie das besonders in der Zeit des darwinistisch-evolutionistischen Positivismus Mode war, aber auch heute noch bisweilen erstrebt wird [...].«36
Die Behandlung von Rassenfragen hatte Plessner dabei jedoch nicht per se abgelehnt. Im Gegenteil: 1934 warf er der Linken vor, daß gerade ihre »Bagatellisierung der – physischen wie psychischen – Seinsverfassung des Menschen« dieses Feld den Fanatikern überlassen habe. Was Plessner jedoch kritisiert hatte, war der Biologismus der Rassenideologien, der – um welterklärende Kraft zu bekommen – hemmungslos alle erkenntnistheoretischen Grenzen überschritt: »Die ältere Generation unterbaute noch die Propaganda der Aufnordung mit einer anfechtbaren Biologie der Rassenmischung und Vererbung und mit einer unglaublich unkritischen Psychologie, die jüngere Generation aber verzichtet schon auf den Versuch der empirischen Kontrolle und überläßt sich einer intuitiv-organischen Wahrheit, deren Subjektivität nicht mehr verhüllt wird.«37
Doch auch vor seiner Vertreibung von der Universität Köln – schon in Macht und menschliche Natur – hatte Plessner bemerkt, der politischen Rechten stelle sich »der Abbau der Leidenschaften und Illusionen, der moralischen Argumente und kulturellen Ambitionen auf das biologische Fundament als Demaskierung dar, welche das wahre Antlitz des Menschen in seiner nackten Bestialität enthüllt. [...] Anthropologie wird dann zum Programm der vornehmlich pessimistischen, aufklärungsfeindlichen und insofern konservativen Verfechter der reinen Machtpolitik.«
Der hier entwickelte Gedanke der Demaskierung nimmt die Argumentation im Schicksal deutschen Geistes bereits vorweg. Gegen die Instrumentalisierung und Politisierung von Anthropologie im Sinne einer Rassen- und Vererbungslehre durch die politische Rechte hatte Plessner jedoch eingewandt: »Weder steht fest, daß der Mensch ein rein biologisch erfaßbares Wesen ist, noch auch die in den Gedankengängen stillschweigend vorausgesetzte Idee, das Physische an ihm 36 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie [1928], Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 61-64. 37 H. Plessner: »Rechtsphilosophie und Gesellschaftslehre (Besprechung von Erich Voegelin: Rasse und Staat, Tübingen 1933)«, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 14 (1934), S. 407f.
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habe ausschlaggebende Bedeutung für seine Existenz im ganzen ihrer geschichtsgestaltenden Äußerungen.«38
Plessner versuchte, die Biowissenschaften in ihre Grenzen zu verweisen. Ähnlich liegt der Fall, wenn Plessner das deutsche Bürgertum angeht: es sei weltfromm und romantisch, verwaltungsfromm, militärfromm, autoritätsgläubig und wenig an bürgerliche Freiheiten gewöhnt, schrieb er 1935 im Schicksal deutschen Geistes.39 Beobachtungen und Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs und der Münchner Räterepublik müssen ihn zu dieser Überzeugung gebracht haben. Denn seit 1920 hatte Plessner das mit Dünkel gepaarte Desinteresse des Bürgertums an politischen Dingen kritisiert – zunächst ironisch in kleinen Aufsätzen und Zeitungsartikeln: »Wir können nicht immerzu auf den großen Mann warten. Vielleicht kommt er dann gar nicht. Außerdem verbietet es die Verfassung. Vieles kann eben der große Mann auch nicht machen, nämlich den Sinn fürs spezifisch Politische bilden.«40 Später hatte er sich bemüht, mit philosophischen Abhandlungen – den Grenzen der Gemeinschaft sowie Macht und menschliche Natur – die Gebildeten von der Notwendigkeit, dem Reiz und der Dignität des Politischen zu überzeugen und vor den Folgen ihres Desinteresses gewarnt: »Wenn aber eine Philosophie, die das Dasein (Mensch) in die Alternative eines je zu sich und seiner persönlichen Möglichkeit Hinfindens spannt [...] in Deutschland gerade bei den philosophisch Gebildeten Erfolg haben konnte, so zeigt das die Gefahr, der unser Staat und unser Volk durch den politischen Indifferentismus des Geistes ausgesetzt sind«,
hatte er 1931 gegen Heidegger geschrieben.41 Im Exil blieb ihm nur die Feststellung, daß das Bürgertum der nationalsozialistischen Ideologie kaum etwas hatte entgegenstellen können.42 Ging Plessner mit seiner eigenen Gesellschaftsschicht auch hart ins Gericht – sein Ton verschärft sich noch, wo er seine eigene Zunft behandelt. Die deutsche Philosophie habe sich als unfähig erwiesen, die intellektuellen Herausforderungen der Moderne in einer neuen Synthese zu meistern.43 Heidegger habe lediglich mit »zauberischen Worten« aufgewartet; Jaspers sei zwar verantwortungsbewußter, aber ohne neue Botschaft; die Phänomenologen hätten nur eine neue Spezialwissenschaft hervorgebracht und Marxisten wie Nietzscheanern fehle der 38 H. Plessner: Macht und menschliche Natur [1931], Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 144ff. Vgl. a. ebd. S. 151ff. u. zum Vergleich H. Plessner: Die verspätete Nation, S. 140. 39 Vgl. ebd., S. 146f. 40 H. Plessner: »Politische Erziehung in Deutschland« [1921], in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie, S. 58. 41 H. Plessner: Macht und menschliche Natur, S. 234. 42 Vgl. H. Plessner: Die verspätete Nation, z.B. S. 141 u. 178. 43 Vgl. ebd., S. 140f., 154ff., 165ff. u. S. 178.
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Mut, über ihre Meister hinauszugehen. War es dann ein Wunder, wenn das weltfromme Bürgertum sich anderswo auf Sinnsuche begab, »wenn die Öffentlichkeit auf ihre Weise die Folgerungen aus den Schlagworten der Biologie, der Geschichte und der Soziologie zieht?«44 Auch diese Kritik ist aus Plessners Munde nicht neu: »Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß das allgemeine Interesse für Philosophie im deutschen Publikum und ihre zünftigen Leistungen in einem außerordentlichen Mißverhältnis zueinander stehen. Die akademische Philosophie [...] bietet – wenn man das Publikum hört – seit nun fast 50 Jahren den Hungrigen Steine statt Brot. Wo man lebendige Antriebe, Synthesen, großen Ausblick erwartete, bekam man trockene Gelehrsamkeit, Spitzfindigkeit, Detailarbeit, blutlose Abstraktion. Die Enttäuschung blieb nicht aus. Schon wandelt sich das philosophische Interesse in Hunger nach religiöser oder okkulter Erfahrung. Krieg und Niederlage beschleunigen diese Wandlung«,
hatte er schon 1921 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung festgestellt.45 Mit der philosophischen Anthropologie hatte er Abhilfe schaffen wollen. Im Schicksal deutschen Geistes ist sie die »letzte Alternative« (S. 184) zur NS-Ideologie, der »Warnungsruf, über den instrumentalen Möglichkeiten des Philosophierens [...] nicht den ursprünglich auf Freiheit verpflichteten Sinn der Philosophie zu vergessen« (S. 185), auch wenn der Begriff »philosophische Anthropologie« im Text nicht auftaucht. Doch war Plessners Entwurf eines modernen, verantwortungsbewußten Menschenbildes von den Kollegen »auf dem Ehrenfriedhof der zu Tode Geschwiegenen beigesetzt« worden; Helmut Fahrenbach sprach von einer »Totschweigetaktik gegenüber Plessner von seiten namhafter philosophischer Zeitgenossen« und dachte vor allem an Martin Heidegger und Arnold Gehlen.46 Plessners Frustration über das bewußte Ignorieren seiner Schriften sowie die Angst, mit der Exilierung endgültig ins wissenschaftliche Aus katapultiert worden zu sein, werden die Schärfe des Tons, wenn es um das Versagen der Philosophie ging, mitbedingt haben. Daß er diese Schärfe in der Neuauflage von 1959 zurücknahm, indem er die Anmerkung zu Kapitel 11 und 12 streichen ließ, stützt diese Lesart. In der Sache wird Plessner jedoch keinen Anlaß gesehen haben, etwas zurückzunehmen. Schließlich hatte er wesentliche Aspekte seiner Kritik schon formuliert, als er noch hoffen konnte, ein shooting star der deutschen Philosophie zu werden: die Kritik an der Phänomenologie findet sich bereits 1916 in seiner 44 H. Plessner: Das Schicksal deutschen Geistes, S. 188. 45 Vgl. H. Plessner: »Die gegenwärtige Lage der deutschen Philosophie (in 2 Teilen)«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung. Unterhaltungsblatt vom 16.8.1921 u. 17.8.1921, hier Teil 1, S. 1. 46 Helmut Fahrenbach: »›Philosophische Anthropologie‹ und ›Existenzerhellung‹. Ein nachträglicher Diskurs zwischen H. Plessner und K. Jaspers«, in: Jürgen Friedrich/Bernd Westermann (Hg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner, Frankfurt/M.: Peter Lang 1995, S. 75.
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Dissertation. Eine glanzvolle Philosophenkarriere war Plessner jedoch versagt geblieben. Die historische Analyse und die Bilanzierung des eigenen Lebensweges – hier gehen sie unmittelbar ineinander über.
V. Helmuth Plessner selbst war sich wohl bewußt, daß er mit dem Schreiben von Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation nicht zuletzt seine eigene Biographie bearbeitete. Nach dem Erscheinen des Buches Ende 1935 im Zürcher Niehans-Verlag schickte er ein Exemplar an Josef König nach Göttingen. In einem Brief dazu erklärte er dem Freund, daß er die nationalsozialistische Politik und Ideologie sowie die eigene Betroffenheit davon »auf dem Wege der Objektivierung in die Sphäre dieses Buches« auch zwischen ihnen diskutabel zu machen versucht habe. Das Werk sei für ihn ein weiterer Schritt, »um über meine Entwicklung, meine Problematik im Verhältnis zur Zeit, also über Gegenstände die uns seit über 10 Jahren gemeinsam bewegt haben, klar zu werden« – es sei ein Versuch, mit seinem »Schicksal ins Reine zu kommen«.47 Hier findet sich direkt ausgesprochen, daß der Akt des Schreibens für Plessner eine Form der Existenzbewältigung im Exil darstellte. Spätestens damit erhält Das Schicksal deutschen Geistes alias Die verspätete Nation jedoch auch einen Aussagewert über den Exilanten Helmuth Plessner: es stellt ein »implizites Selbstzeugnis« oder ein »Selbstzeugnis im weiteren Sinn« dar, wie Hartmut Lehmann dies für die »Protestantische Ethik« Max Webers vorgeschlagen hat.48 Denn zumindest wenn die These von der »Geburt der Autobiographie aus der Erfahrung der Selbstentfremdung« richtig ist, wenn es stimmt, daß die Biographie als Selbstidentifikation gerade dort ihre besondere Dringlichkeit gewinnt, »wo die historischen Umstände die Kontingenz des individuellen Daseins dramatisieren«, wenn autobiographische Selbstvergewisserungen tatsächlich gerade dort auftreten, wo die bestehenden Gewißheiten grundsätzlich erschüttert sind und »an die Stelle der Unbezweifelbarkeit der Dogmen« als letzte Prüfung für die Geltung von Wahrheitsansprüchen, »die Kompatibilität von Behauptungen mit der eigenen inneren und äußeren Erfahrung« tritt, dann gibt die bloße Existenz von Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation Aufschluß darüber, daß Plessner sich nach seiner Exilierung in genau einer solchen Lage befand: daß er auf sich selbst zurückgeworfen war, weil die ihn bisher tragenden Ordnungen gründlich erschüttert waren.49 Das Werk wäre dann ein Hin47 H. Plessner an J. König, o. Datum [Anfang Januar 1936], Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. J. König 195, Nr. 78, Bl. 373. 48 Vgl. Hartmut Lehmann: »Max Webers ›Protestantische Ethik‹ als Selbstzeugnis«, in: ders., Max Webers »Protestantische Ethik«. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 147, Anm. 2. 49 Vgl. Alois Hahn: »Biographie und Lebenslauf«, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt/M.:
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weis auf die Reichweite der Erschütterungen, die Plessner durch die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten und seine Vertreibung aus Deutschland erlitt. Eine solche Lesart wird durch einen Hinweis gestützt, den Plessner 1959 in der Einführung zur Neuausgabe seiner Deutschlandstudie gab. Dieser Hinweis kann zudem über die Art der Erschütterungen weiteren Aufschluß geben. Plessner beschrieb dort die Umstände, die ihn motiviert hatten, seine Deutschlandstudie abzufassen, wie folgt: »Mit welchem Vergangenen aber sind wir verbunden, da wir es selbst sind, denen die Verantwortung zufällt, die Grenze zu dem ›in uns‹ zu ziehen, was vergangen und verabschiedet sein soll und was nicht? Unter dem Eindruck der Dinge, die sich 1933/34 in Deutschland ereigneten, hatte sich mir diese Frage gestellt. Nicht nur, weil mir der Abschied von Deutschland schwer wurde, den seine damalige Regierung mir aufzwang, auch nicht weil die Ereignisse von Anfang an die Wendung ins Verhängnisvolle [...] erkennen ließen, sondern weil mir in dem Fremden, Rohen, Gewalttätigen der Aktion, die vorgab, eine Revolution zu sein, um ihren verbrecherischen Charakter zu verdecken, ein spezifischer Abfall von dem, eine spezifische Entartung dessen wirksam zu werden schien, welches zum Besten des deutschen Geistes, zum Besten auch seiner lebendigen, zukunftsträchtigen Möglichkeiten gehört.« (S. 10f.)
Als Movens für das Abfassen seiner Deutschlandstudie benannte Plessner hier sein Bedürfnis nach einer kritischen Revision der deutschen Traditionsbestände, die auch die eigenen waren. Es galt zu entscheiden, welche Teile dieser Bestände des Fortführens wert waren und welche verabschiedet werden mußten. Die demütigende Vertreibung von der Universität Köln und der schwierige Neuanfang in Groningen werden dabei zwar als ein Grund für dieses Revisions- und Abgrenzungsbedürfnis angegeben, jedoch nicht als ausschlaggebend bezeichnet. Auch das »Verhängnisvolle« (S. 10), das man von Anfang an im Nationalsozialismus habe erkennen können, sei nicht entscheidend gewesen. Statt dessen – so Plessner 1959 – habe ihn die Frage nach der Grenzziehung bedrängt, weil er das Fremde und Gewalttätige der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis nicht als etwas von außen über Deutschland Hereingebrochenes empfunden habe, sondern als eine »spezifische Entartung« dessen, was für ihn »zum Besten des deutschen Geistes« gehört habe (S. 11). Plessner war fest in der deutschen bildungsbürgerlichen Tradition verankert und achtete diese Tradition hoch. Sein eigenes Werk entstammte hauptsächlich den Problemen der deutschen Philosophie, suchte sie fortzuentwickeln, war Teil von ihr. Gleichwohl mußte er erkennen, daß genau diese – seine – philosophische Tradition für die nationalsozialistische »Machtergreifung« mitverantwortlich
Suhrkamp 2000, S. 113, der die zitierten Beobachtungen über die Kontexte autobiographischen Schreibens am Beispiel der Selbstvergewisserungen Montaignes gewinnt, die er als einen Versuch deutet, mit den Religionskriegen und dem damit zusammenhängenden Verlust der konfessionellen Deutungsmonopole umzugehen.
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war. Diese Erkenntnis erschütterte die Gewißheit vom Rang und Wert der deutschen Philosophie – dem Ordnungssystem, das Plessner bis dahin getragen hatte – und erzwang Abgrenzungen und Neubewertungen. Ilja Srubar hat diesen Konflikt als »Dilemma der Emigrierten« bezeichnet.50 Das Schicksal deutschen Geistes alias Die verspätete Nation ist Ausdruck dieses Ringens um Neuorientierung und zugleich dessen Ergebnis. Es ist ein selbstkritischer Rettungsversuch der deutschen Philosophie – eine Konfrontation mit der Vergangenheit des Faches und der deutschen Geschichte wie mit der eigenen Vergangenheit.
VI. Liest man Die verspätete Nation als eine autobiographische Selbstvergewisserung Plessners, so kann dies zunächst einen Ansatz bieten, den Stil der Plessnerschen Deutschlandstudie zu erklären. Schon den Zeitgenossen – holländischen Freunden Plessners wie anderen Exilanten – war die eigenartige Nähe aufgefallen, die der Autor der Deutschlandstudie zu seinem Gegenstand hatte: so schrieb der Groninger Theologe Gerardus van der Leeuw in Bezug auf Plessners Vorgehen von einer »verstehenden Psychologie« des heutigen Deutschland, wobei das deutsche Volk »fast wie ein Mensch in seine Umgebung und Zeit, sein Denken und Handeln gesetzt, aus seiner Situation heraus begriffen werde« und Frederik Buytendijk meinte darauf hinweisen zu müssen, daß der Autor des von ihm angezeigten Buches die beschriebenen Entwicklungen noch lange nicht rechtfertige, wenn er sie verständlich zu machen suche.51 Sprach die »verstehende Psychologie« in den Augen der Niederländer für Plessners Werk, so sahen Emigranten wie Herbert Marcuse darin eine »Standpunktlosigkeit der ›geistesgeschichtlichen‹ Phrase«, die »zwischen Verteidigung und Anklage des autoritären Staates« schwanke – ein Verdacht, der kürzlich von Manfred Gangl erneuert worden ist.52
50 Vgl. Ilja Srubar: »Das Bild Deutschlands in den Werken der sozialwissenschaftlichen Emigration 1933-1945«, in: ders. (Hg.), Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933-1945, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 29. 51 Gerardus van der Leeuw: »Het einde van de burgerlijke periode in Duitschland«, in: Algemeen Weekblad voor Christendom en Cultuur vom 6.3.1936, S. 1 u. Frederik J.J. Buytendijk: »Duitschland tegen Rome. Vervreemding van het Christendom«, in: De Tijd (Avondblad) vom 20.1.1936. 52 Herbert Marcuse: »Besprechung von Helmuth Plessner: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), S. 185. Vgl. im expliziten Anschluß an Marcuse, dessen marxistische Basis der Kritik er jedoch nicht zu übernehmen scheint, Manfred Gangel: »Der Mythos der ›späten Nation‹. Zur politischen Anthropologie Helmuth Plessners«, in: Gérard Raulet (Hg.), Historismus, Sonderweg und dritte Wege, Frankfurt/M.: Peter Lang, 2001, S. 155-182.
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Liest man Die verspätete Nation als einen Text, der zumindest auch der autobiographischen Selbstvergewisserung in einer Krisensituation diente, ist diese Nähe jedoch weniger auf eine politische Übereinstimmung mit nationalsozialistischer Politik zurückzuführen, denn auf die Nähe des Autors zum Gegenstand sowie auf den Akt autobiographischen Schreibens, bei dem der erzählende Rückblick das Medium der Bedeutungsrekonstruktion ist, Erzählen und Erklären also ineinander übergehen.53 Falls die Funktion des Buches als Selbstvergewisserung und seine Herkunft aus den Kämpfen philosophischer Schulen der Weimarer Republik den heute gängigen Erwartungen genügend stark widersprechen, mag die hier vorgenommene Kontextualisierung von Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation zudem eine entfremdende Wirkung haben. Gerade in einer solchen Entfremdung könnte die Chance liegen, den eigenständigen Charakter dieser Deutschlandstudie wieder stärker zur Kenntnis zu nehmen. Dann wäre Die verspätete Nation nicht länger hauptsächlich als ein Vorläufer zur Sonderwegsthese der Bielefelder Schule anzusprechen, dessen geistesgeschichtlich ausgerichtete Methodik vom sozialgeschichtlichen Ansatz der Historischen Sozialwissenschaft konkretisiert und damit überholt und abgelöst wurde, sondern müßte zumindest auch als eines der wenigen Werke gelten, in dem ein Philosoph als Philosoph auf die politischen Umbrüche in Deutschland und seine Exilierung reagierte.54 Neben den diachronen – und nicht selten teleologisch anmutenden – Linien deutscher Historiographiegeschichte könnten so auch die synchronen Bezüge zu den Werken anderer exilierter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verstärkt in den Blick kommen. Möglicherweise erschließt sich dadurch ein eigenes Genre der Geschichtsschreibung, das weniger durch exakte Methodologie im Sinne der etablierten Geschichtswissenschaft als durch den spezifischen Gebrauch der Geschichte – zur Selbstvergewisserung – bestimmt wäre. Die autobiographischen Dimensionen und die philosophischen Ursprünge von Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation können schließlich auch dazu beitragen, die eigentümliche Rezeptionsgeschichte des Werkes zu erklären. Denn die Herkunft dieser geistesgeschichtlichen Erklärung des Nationalsozialismus aus den philosophischen Debatten der Weimarer Zeit verweist darauf, daß es sich bei diesem Buch weder um eine historische oder philosophiegeschichtliche, noch um eine philosophische Abhandlung im eigentlichen Sinne handelt. Damit blieb es für jedes dieser Fächer ein Fremdkörper, für den man sich nicht zuständig fühlte und mit dem man sich bislang kaum eigens auseinandergesetzt hat. Dieser Mangel an fachwissenschaftlich-methodischer Begrenzung tat der Rezeption in der Öffentlichkeit keinen Abbruch – im Ge53 Vgl. Aleida Assmann: Die Legitimität der Fiktion, München: Fink, 1980, S. 115f. 54 Vgl. zu dieser Lesart Andreas Kamlah: »Die philosophiegeschichtliche Bedeutung des Exils nicht-marxistischer Philosophen zur Zeit des Dritten Reichs«, in: Edith Böhne/Wolfgang Motzkau-Valeton (Hg.), Die Künste und die Wissenschaften im Exil 1933-1945, Gerlingen: Schneider 1992, S. 300.
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genteil: gerade der weit ausgreifende, aber dennoch differenzierte Zugriff sowie insbesondere die Funktion der Schrift als Selbstvergewisserung im Exil prädestinierten Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation zu einer »Meistererzählung« für die Generationen, die mit dem Wissen um die von Deutschland ausgegangenen Kriegsverbrechen und den Völkermord selbst nach Möglichkeiten einer kritischen Orientierung und neuen Selbstvergewisserung suchten. Und wenn Wehler von der Sonderwegsdebatte als einer »Selbstverständigung« spricht,55 mag das autobiographische Element in Das Schicksal deutschen Geistes/Die verspätete Nation ein Licht auch noch auf die Fortschreibungen dieser Meistererzählung in der These vom deutschen Sonderweg werfen, wie sie von der historischen Sozialwissenschaft vorgebracht wurde.
55 Vgl. H.-U. Wehler: »Der deutsche ›Sonderweg‹«, in: ders., Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays, München: Beck 2003, S. 112.
WARREN BOUTCHER
From Germany to Italy to America: The Migratory Significance of Kristeller’s Ficino in the 1930s
Introduction Paul Oskar Kristeller was the leading figure in postwar Anglo-American study of Italian Renaissance humanism and philosophy. He was known throughout the community of European Renaissance studies for his pioneering contributions to positive scholarship and textual bibliography. But until his death in 1999, most Renaissance scholars had little knowledge of his background. Many did not even know that he was born in Germany, to Jewish parents, and that he was forced out in 1933 by Hitler’s antisemitic decrees. Others knew him to be one of the »exiles«, who had transformed American academic culture. But they were astonished to learn that before leaving Germany he had been supervised by Martin Heidegger, and that he left in the first instance not for America, but for Italy, where his career was supported by Mussolini’s onetime Minister of Education, Giovanni Gentile. Kristeller’s only major monograph, his book on the philosophy of Marsilio Ficino, migrated with him from German to Italian to American incarnations. The present chapter asks what difference it makes to an Anglo-American scholar of the Renaissance to learn these things. It assumes a knowledge of work in Kristeller’s field which Germanists and modern intellectual historians consulting this volume may not have. Specialists will know, for example, that Kristeller was engaged for decades in disagreements and debates with two other great scholars in the field: Hans Baron and Eugenio Garin. For the most part the medium for these exchanges was the acerbic footnote. However, in 1966-67, an open controversy broke out in the historical journal Past and Present between Baron and a younger scholar, Jerrold Seigel. Seigel had consulted Kristeller during his research and cited his work in a 1966 article. The article criticised Baron’s widely accepted thesis that a new form of »civic humanism« emerged in Quattrocento Italy with far-reaching consequences for modern intellectual life. The central fig-
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ure in Baron’s argument was Leonardo Bruni of Arezzo, a humanist who became a citizen of Florence but who also worked for other Italian powers, including the Papacy. The detail of this controversy need not concern the non-specialist. What does matter for the purposes of this introduction is the revealing nature of Baron’s reaction to Seigel’s critique in Past and Present in 1967. Baron understood Seigel to be arguing – with Kristeller’s blessing – that Bruni should be seen not as an immigrant intellectual but as an opportunistic migrant. Baron described Seigel’s picture of Bruni as that of an itinerant rhetorician, a professional who wandered from state to state, who was nowhere really at home, and who should not be taken too seriously in his expression of political and ethical convictions.1 For Baron, by contrast, Bruni was the quintessential Florentine humanist. Bruni’s moral and intellectual essence was bound up with his acquisition – as an »immigrant« – of Florentine citizenship and with his contribution to Florentine Renaissance culture. Why was Baron so sensitive on this point? It surely had to do with his desire to shape the historical significance of his and his generation of humanist intellectuals’ experience of displacement. In retrospect, the history of the scholars displaced by Hitler’s rise to power does tend to fall into a particular narrative pattern, a pattern already apparent in Baron’s history of Bruni’s intellectual career. It is approached as a matter of separate individual histories of immigrant humanists who responded to the experience of crisis and displacement by constructing an individual counter-world or Gegenwelt and making a brilliant intellectual contribution to the more liberal cultures – to the aggregated liberal »West« – within which they were destined to find a home and career. Baron’s own scholarly work has been interpreted in this light. But consultation of 1930s documents and some later memoirs can leave the historian with a different impression. Firstly, a memoir such as Kristeller’s makes it very clear that the »world« created from his point of view by 1933 was not so much an individually constructed Gegenwelt as a communal non-world; it was the world of those who could not live a normal life in Nazi Germany, of those who, dispersed across many countries, silently opposed or did not actively support Nazism. This non-world included both displaced scholars and internal exiles who shared humanistic interests and skills. It provided a space within which new international mini-networks of humanists could evolve. One of these linked Kristeller, Baron and the Italian Garin as friends and rivals working with the same body of Quattrocento archival materials. Though the emphasis in what follows is on Kristeller as an individual, the subject of the larger study from which it comes is just as much the network of scholars and patrons that gave his work its significance and edge. For it was divergent relationships to this network’s shared pre1 Vgl. Hans Baron: »Leonardo Bruni: ›Professional Rhetorician‹ or ›Civic Humanist‹?«, in: Past and Present 36 (1967), S. 30-33.
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war history that sharpened post-war scholarly debates about Renaissance philosophy and humanism in ways that are now largely invisible – except in isolated instances such as Baron’s reaction to Seigel’s critique in 1967. Secondly, the displaced scholars in the years following 1933 did not necessarily see themselves at the time as living an experience of »intellectual immigration« or as inevitably bound to the liberal-democratic west. They were displaced migrants forced to pursue whatever opportunities they could to secure a position, however temporary, in another country. Many did indeed wander from state to state during the 1930s with no sense of where their »final« destination might turn out to be. Many in particular fields such as Renaissance studies saw fascist Italy as a natural destination – Baron, like Kristeller, also put out feelers there. And when they did settle, there was no guarantee that the endpoint would be more of an intellectual and spiritual home than interim points had been. This is why Kristeller’s is such an interesting case, especially by contrast with that of Baron. For if Kristeller came close to living an experience of intellectual immigration of the kind attributed to Bruni by Baron, he did so in Italy, not America. The experience turned out to be ephemeral and illusory. He was exiled from Italy by Nazi-style antisemitic legislation just at the point when it looked as though he was about to become a modern Bruni or »civic humanist«; that is to say, an assimilated citizen of Italy employed in the elaboration and documentation of his adopted country’s cultural and philosophical traditions. While in the long run, of course, Kristeller’s work – unlike Baron’s – would stress perennial and international philosophical traditions that persist and develop above political crisis and cultural geography. And it is noteworthy in the present context that Kristeller’s 1929 study of Plotinus, composed in Germany, employs the same methods and asks the same questions as his study of Ficino, composed in Italy in the period after 1933. So just how should we approach the question of the relationship between Kristeller’s work and his migratory experiences of the pre-war period? My suggestion is that we should approach it not through preconceptions about the impact of exile and emigration on scholarly life-worlds but through the history of philosophy, and through the history of Kristeller’s relations with his philosophical patrons.
Heidegger and Gentile, Pico and Ficino Restat ut [...] gratias agam [...] Martino Heidegger qui principia, Ioanni Gentile qui finem studiorum meorum consilio et auxilio suo honoraverunt. (»It remains for me to thank Martin Heidegger and Giovanni Gentile, who honoured the opening and closing phases of my studies with their advice and help.«) Kristeller included this sentence in the acknowledgements to his Supplementum Ficinianum,
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published by Olschki in 1937.2 Gentile himself, in a preface to the book, advertised Kristeller’s systematic monograph on Ficino’s speculative thought, due the following year. Part two of that monograph, eventually published in Italian in 1953, is concerned with the metaphysical concepts of Soul and God but in its opening pages Kristeller moves into recognisably existentialist territory. In the short introduction he divides the history of philosophy into pre-modern and modern epochs, associated with the names of Plato and Kant respectively. When Plato treated the nature of man he did so by means of the concept of the substantial Soul and its relationship to intelligible Being. With Hume and Kant, the concept of Soul is stripped of its »substance« and loses its metaphysical significance, becoming a transcendental idea. It is, in short, »destroyed«. Post-Kantian philosophy has attempted various solutions to the problem of a new definition of human nature – »spirit«, »consciousness«, »existence« – but at the moment of writing none of these had obtained, Kristeller tells us, general acceptance (una validità dogmatica).3 Nor would they. Kristeller’s remarks reveal the conditions that would give rise to the post-modern moment in philosophy. By invoking these particular concepts, which could all claim pre-modern provenances, Kristeller is alluding briefly but precisely to the uncertain state of contemporary continental European philosophy. At the moment of his book’s composition, neo-Kantian and Husserlian re-definitions of consciousness were vying with neo-Hegelian concepts of Geist (including Giovanni Gentile’s re-definition of spirito as atto puro) and post-Kierkegaardian re-definitions of existence (including Martin Heidegger’s Dasein). There are signs that Kristeller, like so many of his generation, saw Existenz as the way forward, both for his own exposition of Ficino, and possibly for contemporary metaphysics. In the opening sentences of the first chapter of part two, which he wrote in German while in exile in Italy between May 1936 and March 1937, we are told that to recover the living centre of Ficino’s metaphysics, we must begin from the phenomenon of internal experience.4 This internal experi2 Paul Oskar Kristeller (Hg.), Supplementum Ficinianum: Marsilii Ficini Florentini philosophi Platonici opuscula inedita et dispersa, Florenz: Leo S. Olschki 1937, Bd. 1, S. ii. 3 Vgl. P. O. Kristeller: The Philosophy of Marsilio Ficino, New York: Columbia University Press 1943, S. 203; ders., Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1972, S. 187 sowie ders., Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino: edizione riveduta con bibliografia aggiornata, Florenz: Casa Editrice Le Lettere 1988, S. 215. The German edition mentions only Kant, not Hume, and uses the verb »zerstören« for »to destroy«. For »spirit«, »consciousness«, »existence« the Italian edition has »spirito«, »coscienza«, »esistenza« and the German edition »Geist«, »Bewußtein«, »Existenz«. 4 On 6 May 1936 Kristeller writes to Gentile that he is intending to start the second part of the monograph (which begins with the chapter on internal experience). On 12 February 1937 he indicates he has just finished another chapter. By 16 March 1937 Kristeller has clearly finished the first two chapters of the second part (on internal
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ence is distinguished from neo-Kantian concepts of transcendental consciousness and declared very close to what »European philosophy« (»modern philosophy« in the German and Italian editions) since Kierkegaard has called »existence«. The latter term is only avoided due to the discussions surrounding it, discussions which in the 1930s centred both in Germany and Italy on Karl Jaspers and above all on Martin Heidegger’s work.5 Kristeller’s existential analytic of Ficino’s particular disclosure of reality through internal experience begins with a passage from Theologia Platonica XIV, vii.6 In that passage, Ficino describes the soul’s feeling that it can never reach its true home in this life. The soul is like a man whose patria (Italy) constantly eludes his grasp. This is why, Ficino says, we feel a grief as though we were in exile whenever we find ourselves at leisure.7 Italy was in a sense Kristeller’s patria, and it did elude his grasp in the late 1930s, when his application for citizenship ended in forced exile. The epigraph to the Italian edition of 1953 used a passage from Tacitus’ Agricola to invoke the grief of those who survived the fascist tyranny of 1933-45 in internal exile in Germany and Italy and elsewhere. But the crucial point is of course that Ficino’s »grief« is a heightened experience and knowledge of God), and is working on the thirteenth chapter (on the theory of love). This and the following chapter (on morals, art and religion) were completed by 1 July 1937, at which time only the two final chapters remained to be written. A month later (31 July 1937), he has finished the penultimate chapter (on the immortality of the soul) and hopes to have the whole German manuscript ready before the middle of September. By 10 August 1937 he has started the last chapter. Right on schedule he reports on 18 September 1937 that the German manuscript is finished. Vgl. P. O. Kristeller to Giovanni Gentile, 6 May 1936, 12 February 1937, 16 March 1937, 1 July 1937, 31 July 1937, 10 August 1937 and 18 September 1937, in: Archivio della Fondazione Giovanni Gentile per gli Studi Filosofici, Rom, Carteggi Gentiliani, Fascicolo Kristeller [hereafter cited as Cart. Gentiliani, Fasc. Kristeller]. 5 Karl Jaspers first introduced Kristeller to Kierkegaard and existentialism in the 1920s. In a recent piece Kristeller acknowledged that it was the existentialism of »the early Heidegger« which had helped him to appreciate certain suprarational, even »mystical« aspects of both Plotinus and Ficino. In the oral history memoir, he at one point gives equal weight to both, but at another declares that »his [Heidegger’s] version of existentialism made more impact on me than that of Jaspers«; vgl. P. O. Kristeller/Margaret L. King: »Iter Kristellerianum: The European Journey (1905-1939)«, in: Renaissance Quarterly 47 (1994), S. 913. Vgl. a. P. O. Kristeller: »The Study of the History of Philosophy and its Problems«, in: Michele Ciliberto/Cesare Vasoli (Hg.), Filosofia e cultura: per Eugenio Garin, Rom: Editori Riuniti 1991, S. 357 sowie ders., Transcript of Interviews with William Liebmann, March 13, 1981 to February 25, 1982, in: Columbia University New York, Oral History Research Office, S. 103f. u. S. 110 [hereafter cited as KRM]. I am extremely grateful to John Monfasani for providing me with a copy. 6 Vgl. P. O. Kristeller: The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 206ff.; ders., Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 189-192 sowie ders., Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino, S. 218-221. 7 Ficino’s Latin word for this grief is »maeror«. The German edition uses »Trauer« and the Italian »affanno«.
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state of mind »experienced independently of and even in opposition to all outward events«.8 It is the grief of the internal exile considered on a higher because introspective and existential plane, beyond pyschological and external causes. This is the philosophical formation behind Kristeller’s internalist style of Renaissance intellectual history, a style which tends to remove »external« struggles, ideologies and emotions from the history of philosophical and humanistic thought.9 Kristeller started his book in internal exile in Germany in 1933-4, and completed it in external exile in Italy from 1934 to 1937.10 That he was able to research and complete it at all was largely due to the protection of two contemporary »Agricolas«. The two most prominent and active philosophers of 1930s Europe were also the two principal sponsors of Kristeller’s project to re-enact and to document the Florentine’s intellectual and spiritual revolution. Heidegger and Gentile between them shaped the contemporary field of philosophical and philosophical-historical possibilities within which Kristeller’s Ficino was »presented«. I refer here to Kristeller’s own comment in the Italian and German editions of the monograph that any piece of historical research finds its justification in the fact that it puts forward a past phenomenon as significant in the present (nel fatto che presenta un fenomeno passato come significativo). A piece of philosophical-historical research offers new material for contemporary philosophical discussion and facilitates the continuation of the tradition, in the process affirming its own philosophical point-of-view by means of historical and philological interpretation. This crucial comment did not survive in the American edition of 1943.11 Gentile and Heidegger, like Ficino and Pico in their own historical moment, were dissatisfied with the »school« philosophy of their day and saw the need for a spiritual and philosophical revolution that would renew the civilisation of their countries and of Europe. Amidst the crisis of the First World War and its aftermath, they had been concerned to re-activate the solved questions of metaphysics and theology from a new existential viewpoint, to go back to the fundamental questions of the most ancient philosophy (prisca theologia). Their theories of existence as Dasein and of the spirit as atto puro were designed to replace traditional metaphysics and religion with new ontologies, new kinds of relationship to 8 9
Vgl. P. O. Kristeller: The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 207. This formation is already evident in Kristeller’s 1929 monograph on Plotinus, which shares many methodological and philosophical features with the Ficino book. 10 Kristeller had not started to write and was on a research trip to Italy when the Nazis came to power in January 1933. He began the book upon returning to his parents’ appartment in Berlin, having been forced to leave Freiburg University. He took up a position teaching Greek and Latin in a private school for Jewish children. Vgl. P. O. Kristeller: KRM, S. 172 u. 201-208. 11 Vgl. P. O. Kristeller: Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino, S. 4f. u. ders., Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 2. No equivalent passage is to be found in ders., The Philosophy of Marsilio Ficino.
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the totality or unity of the world.12 These ontologies were built, though, with materials derived from those traditions, and they start, like Kristeller’s Ficino, from »modern« concepts of feeling which owe something to Christian spiritual experience. Crucially, also, both philosophers developed, like Ficino, a sense of their own historical position within a larger history of philosophy that was itself central to their philosophical thought and effort. Hence their sponsorship of projects like Kristeller’s and their interest in the topic of his first article (published in Italian): »The historical position of Marsilio Ficino«.13 The questions and concerns behind the monograph’s construction are unmistakeably those of the German philosophical discussion of the interwar period. That discussion increasingly centred on Heidegger’s teachings and on his challenge to the neo-Kantianism of Cassirer, the psychological existentialism of Jaspers, the phenomenology of Husserl.14 The second half of the period (1926-33) started with Kristeller planning to work with Heidegger, and ended with his spending two years under his direct supervision.15 Methodologically, Kristeller’s philosophical presentation of Ficino inclines in German neo-Kantian and existentialist rather than Italian actualist directions. In its Italian incarnation the Ficino project can nevertheless be seen both as a specific response to the excesses of an embattled attualismo as applied to the interpretation of Ficino by Gentile’s disciple Giuseppe Saitta (first published 1923), and, more importantly for the current argument, as the broader solution to a problem widely associated with Gentilian (and even Crocean) idealism after 1930. Kristeller’s philosophical formation was unmistakeably German, but the cultural context of his early work was, in fundamental respects, Italian. Even more than Heidegger, Gentile was concerned throughout his career with the promotion of a new historiography of philosophy. He wished to create a new history of modern Italian philosophy to rival and parallel that of the German tradition. The broad outline (Campanella and Bruno through Vico to Rosmini and Gioberti, then Spaventa – parallel with the German line through Spinoza to Kant and Hegel) was taken from Spaventa. By the 1930s, normalisti and disciples of Italian neo-idealism such as Eugenio Garin, Vittore Branca and Delio Cantimori felt that the victory of this tradition over nineteenth-century positivism was itself empty of »positive« historical and text-critical erudition. Its historiography of the »spirit« was considered »rhetorical«. Branca talks of »the increasing sterility of actualism, of history written impressionistically and judged by immanentist crite12 Vgl. Roberto Tommasi: »Essere e tempo« di Martin Heidegger in Italia (19281948), Rom: Glossa 1993 for comparisons between Heidegger and Gentile in these respects. 13 Vgl. P. O. Kristeller: »La posizione storica di Marsilio Ficino«, in: Civiltà Moderna 5 (1933), S. 438-445. 14 Vgl. Theodore Kisiel: The Genesis of Heidegger’s »Being and Time«, Berkeley: University of California Press 1993. 15 Vgl. P. O. Kristeller: KRM, S. 108f. u. 162-166.
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ria alone« (il progessivo insterilimento della filosofia dell’atto puro, della storia scritta sopratutto suggestivamente e misurata immanentistichamente). Cantimori annotates his copy of Gentile’s Teoria generale with frustrated exclamations at its vagueness, mysticism and a-historical abstractions.16 In the post-1918 period Gentile himself had worked hard to correct this by producing collections of detailed studies on Renaissance thought (Il pensiero italiano nel Rinascimento, 1920; Studi sul Rinascimento, 1923). In his wellknown survey of recent work on Renaissance philosophy (written with John H. Randall, Jr. and published in 1941) Kristeller gave this and other research organised by Gentile, a major place (along with publications by Dilthey and Cassirer) in the foundation of Renaissance philosophical studies. Though he places himself within the school of his principal German teacher, Ernst Hoffmann, he describes in detail the research organised and directed by Gentile, naming the Italian journals in which his own work on Ficino and his context had first appeared.17 In fact, the making of Kristeller as a humane philosopher in Italy (thwarted by his second exile in early 1939) depended upon a set of »moral and material conditions« provided by Gentile as a patron, just as the making of Ficino had depended upon conditions provided by the Medici.18 The work Kristeller did on Ficino for Gentile, under Gentile’s protection, combined rationalist and existentialist work on neo-Platonic metaphysics with positivist work on texts and documents. Gentile publicly advertised this combination as the model formation for a scholar-philosopher of the kind the Scuola Normale at Pisa was aiming to produce for the Italian nation. The model incorporated Ficino’s own eclectic formation as a thinker, a formation Kristeller was textually and intellectually reconstructing in the course of his own work.19 The Florentine had himself absorbed early interests in humanist text criticism, medieval 16 Vgl. P. O. Kristeller: »Branca Speech« (Florenz, ca. 1982, on presentation of Italian Festschrift), in: Columbia University, Butler Library, Rare Books and Manuscript Library, New York, Paul Oskar Kristeller Papers [hereafter cited as POK Papers], Manuscripts Box 22, Folder P.O.K. Biography. Vgl. a. Eugenio Garin: Cronache di filosofia italiana 1900-1960, Rom: G. Laterza 1997, Bd. 1, S. 595 sowie ders., »Introduzione«, in: Giuliano Campioni/Franco Lo Moro/Sandro Barbera: Sulla crisi dell’attualismo: Della Volpe, Cantimori, De Ruggiero, Lombardo-Radice, Mailand: Angeli 1981, S. 15f. 17 Vgl. P. O. Kristeller/John H. Randall, Jr.: »The Study of the Philosophies of the Renaissance«, in: Journal of the History of Ideas 2 (1941), S. 450, 454 u. S. 456. 18 Besides their correspondence, one piece of evidence that Kristeller thought of himself as doing the work for Gentile is a draft preface (never published) to the unpublished Italian text of 1938; vgl. Typescript (untitled, 16 pp., dated from Pisa »10 Marzo 1938=XVI«, i.e. the sixteenth year of Mussolini’s regime), in: POK Papers, Manuscripts Box 1: »E a Giovanni Gentile che mi ha creato la condizioni materiali e morali in cui ho potuto condurlo a termine e al quale desidero quindi [?dedicare] questo volume, restituendogli così, per usare una frase ficiniano, cosa, che per diritto é già sua.« The typescript has numerous lacunae, presumably due to the typist’s difficulties with the Italian manuscript. 19 Vgl. P. O. Kristeller: Supplementum Ficinianum, Bd. 1, S. iii-iv u. Bd. 2, S. 379f.
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Aristotelianism, Augustinianism and other currents into the synthetic Theologia Platonica.20 In the process, he had synthesised new philosophical concepts from old, concepts that were to influence the whole of Renaissance Europe and the longue durée of European thought. This was most obviously true in the case of Ficino’s concept of Platonic love. Indeed, if, as Kristeller says, the concept of Platonic love and the living intellectual community (scuola) to which it gives rise indicate the essence of Ficino’s historical existence and activity, it is not difficult to find the historical existence to which his own monograph must be related.21 It is the scuola of Giovanni Gentile, based within the Scuola Normale at Pisa, but extending as an intellectual and social phenomenon to Florence, to Rome and to summer sessions at Forte dei Marmi (near Pisa).22 Many projects were hatched and some completed in the years between 1935 and 1938, during which Kristeller happily lived and worked as part of this »school«. They included the monograph itself (the chapter on love was written in early 1937), an edition of unpublished Ficino texts, an edition of Ficino’s letters, a new Ficino academy to be founded in Florence, new editions of the philosophical and (valued less highly) humanistic texts of Ficino’s friends and followers in Medici Florence.23 All these projects derived from Kristeller’s philosophical mission to »present« and document Ficino’s spiritual revolution and its action on European thought. As Gentile saw, Kristeller’s project represented a new scholarly paradigm for Italian philosophers. For the first time, instead of rhetorical histories of the spirit, the idealist academic community was presented with a fully documented historical example of »a concrete spiritual upheaval and revolution of the consciousness« (una concreta rivoluzione e trasformazione spirituale della coscienza).24 Such a revolution was devoutly desired in the present, and was proclaimed loudly by the interwar period’s various »prophets of extremity«. This brings us to the question I implicitly raised earlier. We heard a statement of Kristeller’s philosophical historicism that is close to the position taken up by Heidegger in lecture courses of the 1920s.25 To justify his procedure of »repeat20 Vgl. P. O. Kristeller: »The Scholastic Background of Marsilio Ficino« [1944], in: ders., Studies in Renaissance Thought and Letters I, Rom: Edizioni di Storia e Letteratura 1956, S. 50. 21 Vgl. P. O. Kristeller: The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 288; ders., Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 271 u. ders., Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino, S. 310. 22 For Kristeller's relations with Gentile and especially his circle vgl. P. O. Kristeller/Marzio G. Mian: »Quando la filosofia è solo ideologia«, in: Commentari 2.4 (April 1994), S. 31-36 u. P. O. Kristeller/M. King: Iter Kristellerianum. 23 Vgl. Cart. Gentiliani, Fasc. Kristeller. 24 P. O. Kristeller: The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 219 u. ders., Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino, S. 233. 25 For Heidegger’s lecture notes for the course he gave in the summer semester of 1926, which Kristeller attended vgl. Martin Heidegger: Gesamtausgabe II. Abteilung: Vorlesungen 1919-1944, Bd. 22: Die Grundbegriffe der antiken Philoso-
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ing« Ficino’s philosophy within a neo-Kantian and existentialist framework Kristeller argues that a penetrative historical understanding of a past philosophy can only be achieved by a directly philosophical re-interpretation. It is this directly philosophical re-interpretation which allows a piece of historical research to be a contribution to a contemporary philosophical discussion. What, then, does Kristeller’s Ficino contribute to the contemporary philosophical discussion? To answer this I think we have to analyse the force of Kristeller’s presentation of Ficino as an independent but not a sensationally original or a vain philosopher. This presentation relates on the one hand to the fact that Ficino articulates his internal experience as a Platonic theology with well-worn concepts from the neo-Platonic and Augustinian traditions in order to buttress Christian doctrine. In this respect, on the other hand, Ficino is contrasted with his younger contemporary Pico, who is by implication more original.26 Pico goes further than the senior man, just as, we might say, Heidegger goes further than Husserl, Gentile further than Spaventa. The new late nineteenth-, early twentieth-century historiography of Renaissance philosophy increasingly paired Pico and Ficino at the apex of Quattrocento thought as Italian rivals to the German Nicholas of Cusa. They were both »religious« philosophers who risked disapproval from the ecclesiastical authorities. Ficino was an ordained priest who advocated natural magic and astrology. Pico was an ambitious syncretist who nevertheless befriended Fra Savonarola in his later years and asked to die in a friar’s habit. Their related but distinct bodies of philosophical work met with different reactions from the contemporary guardians of official state ethics and metaphysics (the Roman Catholic Church). Ficino described Pico (in the 1492-4 Parmenides commentary) as the »wondrous young man«, who had parted rashly from sound Platonic teaching. Pico sensationally challenged Papal orthodoxy with his heterodox and eclectic Conclusions (1486), and then failed to apologise properly, provoking the authorities to condemn the whole work instead of just a few suspect theses. As Kristeller recounted with approval in his later work, Ficino shrewdly avoided the same fate a few years later in 1490. He used his connections in Rome to ensure that his programme reconciling Platonism and Christianity remained acceptable to the authorities. For nine-
phie (Sommersemester 1926), hg. v. Franz-Karl Blust, Frankfurt/M.: Klostermann 1993. 26 Vgl. P. O. Kristeller: The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 5f., ders., Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino, S. 7f. u. ders., Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 5f. The Italian and German editions use »independenza«/»originalità« and »Selbständigkeit«/»Originalität«. There are many further references to the question of Ficino’s independence. The monograph as a whole aims to establish those aspects of Ficino’s thought which are original in the sense of independent developments of existing philosophical concepts.
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teenth-century historians, of course, it was precisely the greater boldness of Pico which made him, more than Ficino, the first true philosopher of »humanism«.27 One of the appendices to Kristeller’s chapter taking us through Ficino’s demonstration that the human soul is the centre of the universe is crucial for our purposes. It takes up the question of the relationship between Pico and Ficino and was included with the piece as sent to Gentile and published in his prestigious philosophical journal in 1934.28 Kristeller finds that at the beginning of the oration on the dignity of man, Pico’s 1486 introduction to the audacious theses that he planned to defend publicly in Rome, Pico ostentatiously deviates from Ficino’s doctrine of man as the interstitium between fixed eternity and fleeting time (as, indeed, Pico deviates from all previous accounts of the grounds of man’s excellence). In Pico’s account man has no fixed essence or position, but may through his own will make his essence of any type (this was God’s gift to him). He has all possibilities within himself. He even has, in one of Pico’s later works, a power shared with God to combine and unite all things not only in thought but in reality. He is freed from the hierarchy of things and seems to float in another dimension. These ideas displace the senior neo-Platonists’ idea of man’s central, intermediate position in the graded series of all things. Even where Pico does express this idea it loses the symmetry and clarity it had in Ficino. Kristeller nevertheless describes Pico’s ideas as an »independent« development of Ficino’s doctrine of the universal character of man.29 Here, then, Pico is accredited with independence, and we are left with a sense that the relationship and the divergences between the two great speculative philosophers of human dignity defines a range of possibilities at a crucial, threshold moment – the late Quattrocento – in the history of modern philosophy. These possibilities range from orthodox but nevertheless independent forms of speculation, to conspicuously original but ultimately vain speculation, to independent and original speculation freeing man from the anachronistic burden of traditional ontologies. This is also the range of possibilities available at another crucial moment in the history of philosophy, the interwar crisis of philosophy that shaped Kristeller’s Ficino and that likewise derived from a sense that the traditional 27 Vgl. Brian P. Copenhaver/Charles B. Schmitt: Renaissance Philosophy. A History of Western Philosophy Bd. 3, Oxford: Oxford University Press 1992, S. 159, 162f., 165f., 169 u. S. 175f.; C. B. Schmitt/Quentin Skinner/Eckhard Kessler/Jill Kraye: The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 1988, S. 817 u. 832 sowie P. O. Kristeller: »Marsilio Ficino and the Roman Curia« [1985], in: ders., Studies in Renaissance Thought and Letters IV, Rom: Edizioni di Storia e Letteratura 1996, S. 275f. u. 280. 28 Vgl. P. O. Kristeller to G. Gentile, 21 October 1934, in: Cart. Gentiliani, Fasc. Kristeller u. ders., »L’unità del mondo nella filosofia di Marsilio Ficino«, in: Giornale critico della filosofia italiana 15 (1934), S. 395-423. 29 Vgl. P. O. Kristeller: The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 407-410; ders., Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino, S. 118-123 sowie ders., Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 104-108.
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metaphysics and theologies needed reinvention or »destruction«. As early as 1926, sensational claims were being made for Heidegger’s originality. At the same time he was admired for his independent style of exposition of the concepts of ancient philosophy. What is the result of this meeting of past and present moments in the history of modern western philosophy? Given that in their »civic« manifestations both Heidegger and Gentile attached their counter-traditional thinking to fascist revolutions, it is not difficult to find an ethical edge to Kristeller’s exposition of the quiet, »inner« revolution achieved by Ficino. Ficino’s revolution (in Kristeller’s account) seems to be of the typically conservative variety associated with the more moderate intellectuals of interwar Germany. As a metaphysico-religious philosopher, Ficino innovated within the terms set by traditional orthodoxies, and worked eclectically with the conceptual tools provided by various traditional philosophical schools. Kristeller did just this in his early training, creating an independent philosophical-historical methodology out of his study of various nineteenth-century traditions of thought from Historismus to existentialism.30 Ficino prepared quietly and eclectically for modernity, founding his philosophy in systematic respect for humane values and in continuities with medieval thought. He avoided, as the methodological introduction insists, vain claims to originality. These are of course precisely the virtues we associate with Kristeller’s own scholarship. It is thus straightforward in retrospect to construe the book as a demonstration of the virtues of internal or existential emigration and an ethical critique of Heidegger’s and Gentile’s vain and misguided pursuits of originality. In methodological terms, Kristeller’s work places a humane brake on the excesses of Heidegger’s sensational bid for philosophical fame and reverses Heidegger’s rejection (in the name of primordiality) of the development of human existence within traditional governing frameworks. On 3 November 1933, Heidegger appealed to German students not to let axioms or ideas be the rules of their Being. There could hardly be a more obvious counter-example than the philosophy of Ficino. The Ficinian concepts of amore and volontà, of the universalist and idealist strivings of philosophical man, look like a rebuke to Heidegger’s devalued sphere of Mitsein (»being-with«) and ethical judgement, to the dangerously formal Entschlossenheit (»resoluteness«).31 From this perspective, Kristeller’s work would appear to join the critiques of Heideggerian philosophy mounted by other German-Jewish students who studied with the philosopher at Freiburg or Marburg. Not all these critics took a similar 30 Kristeller claimed to have formed an original historical methodology, the basis of his later work, when he reported on Droysen’s Historik for Heidegger in 1926. Vgl. P. O. Kristeller/David Hollander: »Recollections of my Life«, in: The European Legacy 1 (1996), S. 1866. 31 Vgl. Rüdiger Safranski: Martin Heidegger: Between Good and Evil, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1998, S. 232f.
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line in their critique.32 The philosopher nearest to Kristeller in his general philosophical attitudes would appear to be Karl Löwith. Löwith’s critique of late nineteenth- and twentieth-century German philosophy’s nihilistic abandonment of traditional constraints for the sake of philosophical revolution included a book on Jacob Burckhardt’s historical reconstruction of classical antiquity and the Italian Renaissance (1936).33 It was Löwith, by virtue of living in the same building as Kristeller in Marburg in 1926, who along with Hans-Georg Gadamer introduced Kristeller to Heidegger and his family in person. Like Kristeller, Löwith emigrated in the first instance to Italy and met Giovanni Gentile in Rome, visiting him at Forte dei Marmi.34 The strategy adopted in Löwith’s critique, however, of both Heidegger and Gentile, as it was developed in his memoir of 1939, is not one that Kristeller would have used. Even in the ostensibly apolitical world of German academic philosophy the politics of public speeches and publicly declared commitments could not fail to cause immediate problems for the relationships between German-Jewish students and teachers coming out in favour of fascism. Kristeller alludes in one of his published memoirs to the »big problem« of Heidegger’s Nazism, with specific reference to »at least two pro-Nazi speeches« (of 1933). Later, Gentile’s speech at Florence in praise of the Nazis, and his loudly pronounced decision to follow Mussolini in 1944, would cause him a similar problem.35 From one perspective, Gentile and Heidegger were in danger of blurring the boundaries between rhetorical verbalisation of policy and speculative philosophy, between the role and the function of the »professional rhetorician« who – according to your moral stance – can or cannot be blamed for acting as a mere instrument of various state or dynastic interests, and the role and the function of the speculative philosopher, who should be on a metaphysical or existential plane above political quarrels and culture wars of all kinds. From another perspective, it could be argued that it was figures like Gentile and Heidegger who created the need for a reconstructed and linear tradition of »civic humanism«, in the sense of western, liberal-democratic humanism. For their actions looked dangerously like a form of civic humanism. Their speeches were all about the fact that culture and thought could only be properly nourished and brought to fruition by direct contact with the actuality of society and the responsibility of political action – it is
32 Vgl. Richard Wolin: Heidegger’s Children: Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse, Princeton: Princeton University Press 2001. 33 Vgl. Karl Löwith: Martin Heidegger and European Nihilism, New York: Columbia University Press 1995, besonders S. 1-3 u. 4-8. 34 Vgl. P. O. Kristeller/M. King: Iter Kristellerianum, S. 914f., P. O. Kristeller/D. Hollander: Recollections, S. 1865 sowie K. Löwith: My Life in Germany Before and After 1933: A Report, London: Athlone 1994, S. 87ff. 35 Vgl. P. O. Kristeller/M. King: Iter Kristellerianum, S. 917 u. P. O. Kristeller/M. Mian: Quando la filosofia, S. 34.
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just that their sense of actuality and responsibility was fascist, not liberaldemocratic. The contemporary context sharpened a problem that was of urgent interest to all these scholars. What distinguishes empty or careerist rhetoric from sincere and authentically humane discourse? Within the intellectual culture of idealism, the answer – once again – lies in the making of the humane philosopher, in the individual process of value- or concept-formation. This process can be imagined as a matter of »humanism« or of more strictly speculative and scholarly conceptdevelopment. But once liberal-minded scholars heard philosophical terms at work in Heidegger’s rectoral speeches of 1933, in Gentile’s speech in support of the invasion of Abyssinia in 1935, they either had to find a way of seeing the speeches as empty careerist rhetoric, distinct from the philosophy and the true formation of the philosopher, or they had to re-read the philosophy in the light of the occasional speeches and condemn the whole value-formation behind it as anti-humanistic, as completely distinct from an emergent »civic humanism«. This, I suggest, is the hidden 1930s context for the later 1960s controversy about whether humanism was merely a matter of a rhetorical training that could be used in the service of any interest or state, or an intellectual and civic movement inalienably committed to liberally humane philosophical and political values. From Baron’s point-of-view, Seigel was accusing the humanist intellectual of »treason«, just as accusers from Benda to Hitler to McCarthy had done in diverse circumstances in the contemporary world.36 Kristeller is rarely explicit on this point in his memoirs but the evidence suggests a belief that the speculative philosophies – especially the early or formative philosophies – of Heidegger and Gentile could be evaluated in isolation from their »rhetorical« presentations of those philosophies. Löwith’s critique does not share Kristeller’s strictly idealist premises and takes its cue from external history. For Löwith, the revealed civic applications determine the internal meanings of the system. Heidegger’s philosophy, in fact, becomes a perversion of what would later be called »civic humanism«, a kind of civic neo-Platonism, in which the philosophical essence of Greek learning is offered as an »applied national fundamental ontology«. This applied ontology puts service in knowledge on a par with military and labour service and identifies philosophical intentions and categories with the realisation of a national cause at a particular political moment.37 The moment of 1402, the moment of Leonardo Bruni’s commitment as a humanist to the good, because liberal and republican cause of Florence, became so important to Baron precisely because of moments such as 1933, when intellectuals were judged to have »betrayed« themselves and their calling. It was precisely the 36 Vgl. Jerrold E. Seigel: »›Civic Humanism‹ or Ciceronian Rhetoric? The Culture of Petrarch and Bruni«, in: Past and Present 34 (1966), S. 3-48 u. H. Baron: Leonardo Bruni: Professional Rhetorician or Civic Humanist. 37 Vgl. K. Löwith: My Life in Germany, S. 34-43 u. 88 sowie R. Safranski: Martin Heidegger, S. 241-247 u. 265f.
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parallels between the perceived instrumentality of Ficino’s philosophy in the context of Medicean Florence and the »civic neo-Platonism« of tainted figures such as Heidegger and Gentile that led Garin and Baron, after the war, to exclude Ficino from their pantheon of valued civic humanists. It was such exclusions, on such grounds, that Kristeller’s version of intellectual history aimed to combat. In December 1932, however, Heidegger had not yet made the speeches in question. Indeed, Helmuth Plessner attacked him in 1931 for failing to politicise and nationalise his philosophy.38 At precisely the moment when Kristeller was laying the groundwork for his analysis of Ficino’s Platonic revolution and the forms of its realisation, his supervisor was presenting his own philosophy as a form of ur-Platonic revolution. For Heidegger was absorbed in Platonic philosophy at this time. He lectured on Plato in the winter semester of 1931-32. He even wrote to Karl Jaspers in December 1932 saying that Plato’s ideas are so powerful that his own are becoming blurred. Will he produce something »original«? He starts to read Plato against the grain, taking what he needs for his own philosophy. The notion of a hierarchically graduated world of pure, eternal Being is the antithesis which defines Heidegger’s own thesis about existence and time. The history of approximate participations in the truth of ideas is reduced to a history of interpretative horizons. The Platonic process of spiritual liberation and the upward climb of the soul are extracted from their ethical and metaphysical context. What is left is »the philosophical leader whose mission it is to set a new truth happening into motion for a whole community and to create a new truth relationship«. Only in 1933 would the »new truth happening« be applied to the Nazi revolution – seen by Heidegger as a collective breakout from Plato’s cave.39 If we start to move, then, from a retrospective vantage point to the shifting circumstances of the period of the project’s conceptualisation and realisation in Germany and Italy between 1931 and 1938, the contribution of the Ficino project to the contemporary philosophical discussion cannot be heard as a straightforward rebuke to Kristeller’s patrons. The contribution varies according to the particular juncture at which we catch the project and the particular location from which we view it. From the perspective of Germany in December 1932, one could see Kristeller’s work as the »positive« complement to Heidegger’s »destructive«, post-Kantian innovations. By presenting Ficino’s philosophy as a speculative development of man’s inner existence, Kristeller reconstructs the historical tradition in a way that makes sense of Heidegger’s originality. It is difficult to grasp in the abstract the metaphysics of »presence« which occlude the temporality of the human situation in all western thought. It is easier to follow when put up against a concrete instance of these metaphysics in a historical exposition offered by a student of Heidegger’s. Kristeller shows exactly how Ficino substantialises and objectifies the contemplative life, using Christian teleology 38 Vgl. R. Safranski: Martin Heidegger, S. 206ff. 39 Vgl. ebd. sowie S. 214-224, besonders 221, u. S. 226-233, bes. 233.
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and other traditional materials, as participation in a »pure present«. That is to say, if Ficino’s systematic doctrines, including his epistemology, are re-enacted for you as »pre-modern« appropriations of traditional, existential-ontological conceptual interpretations of »inner consciousness«, you can see that a twentiethcentury philosopher – for whom the thus pre-modernised traditional concepts are no longer meaningful – would need to theorise the same phenomenon of inner consciousness within a modern existential-ontological framework.40 The tradition continues through independent and original developments. The Soul’s relationship to God in the eternal present of truth, as revealed by the Christian logos or ratio Platonica, is re-worked. It becomes Sein’s relationship to human Dasein within the temporality of existence, as revealed in the phenomenological emergence of »unconcealment« (»Unverborgenheit« – Aristotle’s aletheia, for Heidegger the more primordial sense of logos from »concealment« (»Verborgenheit«).41 Did Kristeller believe before 1933 that Heidegger was fulfilling the contemporary desire for an original, valid and modern reworking of the metaphysical and (Christian) existentialist tradition? Heidegger’s highly eclectic formation in ancient, scholastic, Christian and modern philosophy and his precise command of the textual tradition certainly won Kristeller’s respect and he participated in the excitement surrounding Heidegger’s re-awakening of the philosophical spirit.42 In 1926, or 1931-2, when Kristeller took his courses before and after the publication of Being and Time, Heidegger could well have seemed like a modern Pico. In some circles, there was an expectation after the publication of his magnum opus that Heidegger would round off his new account of man in the world and offer a systematic account of his philosophical anthropology as it applied to all spheres of life. Even in retrospect Kristeller was scrupulous about dissociating himself only from the relativism and nihilism of the later Heidegger, not from the promise of his early philosophy.43
40 Vgl. P. O. Kristeller: The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 295 u. 255; ders., Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 278 u. 238 sowie ders., Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino, S. 318 u. 273. 41 Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1953, S. 219; ders., Being and Time, London: SCM Press, 1962, S. 262 sowie T. Kisiel: The Genesis of Heidegger’s Being and Time, S. 506f. 42 Kristeller’s German-Jewish contemporary and acquaintance, Karl Löwith, described Heidegger’s eclectic formation and appeal thus: »He was a Jesuit by education, and became a Protestant in protest; a scholastic dogmatist by schooling, and an existential pragmatist by experience; a theologian by tradition, and an atheist as a scholar; a renegade of his tradition in the guise of the historian. Existentially like Kierkegaard, with a systemic will like Hegel [...].« Vgl. K. Löwith: My Life in Germany, S. 47. Vgl. a. T. Kisiel/John van Buren: Reading Heidegger from the Start: Essays in his Earliest Thought, Albany: State University of New York Press 1994. 43 Vgl. R. Safranski: Martin Heidegger, S. 190 u. P. O. Kristeller/M. Mian: Quando la filosofia, S. 32.
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Within a year of Hitler’s rise to power, however, Giovanni Gentile had read the chapters Kristeller wrote in Berlin and the scholar’s move to Italy was assured. At the same time the Ficino project began to assume its Italian shape, with articles appearing in Civiltà moderna and Giornale critico della filosofia italiana in 1933 and 1934. In order to understand the significance of the placement of Kristeller’s work in these journals, and of the Ficino project as a whole within 1930s Italian intellectual culture, consider an aspect of modern Italian intellectual history that seems strangely anachronistic to secular liberals in England and America. It is an aspect to which Kristeller and Randall drew explicit attention in their 1941 article on the historical and bibliographical background to the study of the philosophies of the Renaissance. They pointed out that the strong anti-clerical feeling of newly-united Italy directed an interest in national achievements of the past towards Renaissance thought in general, and towards great rebels against the church like Giordano Bruno in particular.44 But Roman Catholic theologians in Italy, like Protestant theologians in Germany, were a considerable force in the pre-war period in the historiography not only of theology but of philosophy. The history of Renaissance philosophy became a battleground for »thought wars« in the present. Between 1929 and 1934, the years of the early evolution of Kristeller’s Ficino, the two journals mentioned above were enlisted implicitly or explicitly at almost every level on one side of a suddenly intensified cultural struggle between the ecclesiastical institutions of religious speculation and the secular institutions of philosophical speculation.45 The question of the relationship between contemporary lay and religious philosophies and the problem of the relative roles of church and state in national education had been gathering steam in Italy since the early part of the century. It had been played out in Germany in the Kulturkampf of the 1870s. But it was the 1929 Concordato between church and fascist state which intensified the struggle as a battle with sides drawn up. Gentile consistently claimed that his was a Catholic philosophy, that it was he after all who as Minister of Education had instituted the Catholic University of Milan. In the early 1900s Gentile and Croce had been aligned with the Church against modernism and the interests of avantgarde clerics such as Ernesto Buonauiti, follower of Maurice Blondel. The situation polarised more dramatically after 1925, when Gentile left his ministry. On one side were neo-scholastic Vatican apologists such as Padre Agostino Gemelli and the respected priest and historian, Padre Francesco Olgiati, described by Kristeller and Randall as insistent upon the Christian and medieval elements in Renaissance thought. Gemelli and Olgiati were amongst the founders of the Catholic University of Milan. Ranged against them on the other side, but increas-
44 Vgl. P. O. Kristeller/J. H. Randall, Jr.: The Study of the Philosophies, S. 452. 45 Vgl. Gianfranco Pedullà: Il mercato delle idee: Giovanni Gentile e la Casa editrice Sansoni, Bologna: Il Mulino 1986 u. Simona Giusti: Una casa editrice negli anni del fascismo: La Nuova Italia (1926-1943), Florenz: Olschki 1983, S. 79-101.
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ingly marginalised, was the broad church of Gentilian neo-idealists. In the middle were Catholic neo-idealists such as Armando Carlini.46 The common cause was the search of anti-modernist moderns for a new religion to solve the crisis of western culture through re-education. At stake was hegemony over the history of Italian spirituality and the development of the spiritual life of young Italians in Catholic theological or in independent speculative directions. On one side were theologians who started from revealed doctrine and sought to build thereon a philosophical theology that absorbed secular philosophical experience; on the other side were those who started from the secular philosophical motive and sought to build a new and modern theology that absorbed lay religious experience. The practical political issue was the extent of the role of the clergy in lay education, which Gentile had tried to limit in the interests of instituting a fully secularised space of philosophical education that would coexist with Catholic religious education. But the 1929 Concordato had the effect of rolling back his own riforma in this respect and in 1934 his own works were placed on the Index.47 We can now appreciate the contribution of Kristeller’s »independent« Ficino to the contemporary philosophical discussion in Italy. In general terms, Kristeller used the eclecticism of his own formation in various disciplines and philosophies, including medieval history and thought, to recover the eclecticism of past thinkers. This gave rise to a »historical pluralism« in the study of past philosophy that could help dissolve ideological conflicts between exclusive schools of historical thought in the present.48 The monograph study that should have been published in Italy in 1938 had a more particular force. Kristeller turns Ficino’s Theologica Platonica inside out. In his exposition, instead of being a work which takes a central doctrine of the church – the immortality of the soul – and proves it by philosophical disputation, it becomes a work which starts from the philosophical rationalisation of contemplative experience and demonstrates how this inevitably leads to a belief in immortality that is entirely compatible with Christian doctrine. The result was described by Kristeller as a new ontological moment (referring to Ficino’s symbolism), a new concept of the ontological medium itself, with man at its centre. The position of subordination and dependency in which philosophy was held throughout the Middle Ages is abandoned by Ficino: »Philosophy now stands free and equal beside religion, but it neither can nor may conflict with religion, because their agreement is guaranteed by a common origin and content.« (La filosofia è ora libera e sta sullo stesso piano della religione, e 46 Vgl. Gabriele Turi: Giovanni Gentile: una biografia, Florenz: Giunti 1995, S. 197201, 379-392 u. S. 493f.; Pietro Prini: La filosofia cattolica italiana del Novecento, Rom: Laterza 1996, besonders S. 25ff., 117-127 u. S. 229f. sowie P. O. Kristeller/J. H. Randall, Jr.: The Study of the Philosophies, S. 454. 47 Vgl. G. Turi: Giovanni Gentile, S. 304-337, 392-420 u. S. 465f. 48 Vgl. P. O. Kristeller: »Humanism and Scholasticism in the Italian Renaissance« [1944-45], in: ders., Studies in Renaissance Thought and Letters I, S. 582.
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se essa non può né deve giungere a un dissidio con questa, tale consenso è essenzialmente garantito da un’origine e un contenuto comune).49 Using traditional materials, Ficino manages to produce a distinct role for lay philosophy, a new ontological moment that agrees with religion. Unlike his younger contemporary Pico, he avoids Church condemnation in the process. Gentile may have intended to manage his whole philosophical and educational project along similar lines. Kristeller and Randall (in a passage which goes on to talk about the Catholic historian Olgiati’s reaction against idealism) indeed credit Gentile for having developed greater caution than his followers (such as Saitta) in interpreting the Renaissance philosophy of man as the first expression of a modern idealism set up against Church scholasticism.50 Kristeller’s work for his patron during the 1930s probably had a role in installing this caution. The carefully phrased conclusion to a 1939 article summarising Kristeller’s work on Ficino sounds like a pacificist’s intervention in the contemporary thought wars. Whether consciously designed as such or not, the monograph can be read as a mediation between the opposed positions of figures such as Saitta and Olgiati, a Ficino-esque harmonisation of lay and religious philosophies, of modernity and tradition.51 No harmony was forthcoming in the real world. Antisemitic legislation prevented the monograph’s publication. Whatever Gentile’s intentions, the fortuna of his philosophy in relation to organised religion came to resemble that of Pico’s, not Ficino’s. Kristeller, remember, suggests that Pico in following Ficino chose a set of still more radical and ambitious paths, which pointed more definitely in the direction of the free-floating modern subject. Pico’s self-conscious »originality«, his pursuit of new and deeper concepts, courted the dangers of missionary sensationalism. At the same time Kristeller betrays clear admiration for Pico’s theoretical audacity and originality. It is within this structure of philosophical feeling, which balances care of the tradition and its rigorous philological and historical interpretation with the desire for fundamental speculative renewal, that Ficino is »presented« to a contemporary Italo-German philosophical scene dominated by Gentile and Heidegger and thirsty for the new philosophical theologies they and others were competing to offer.
49 P. O. Kristeller: The Philosophy of Marsilio Ficino, S. 94, 115 u. S. 323 u. ders., Il pensiero filosofico di Marsilio Ficino, S. 88, 113 u. S. 349. Vgl. a. ders., Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 75, 98 u. S. 306f. 50 Vgl. P. O. Kristeller/J. H. Randall, Jr.: The Study of the Philosophies, S. 454. 51 Vgl. Paul Oskar Kristeller: »Florentine Platonism and its Relations with Humanism and Scholasticism« [1939], in: Studies in Renaissance Thought and Letters III, Rom: Edizioni di Storia e Letteratura 1993, S. 47f.
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Conclusion The Anglo-American community of Renaissance studies has bracketed out Kristeller’s commitments as an idealist and existentialist philosopher. Kristeller prepared the ground for this when supervising the American translation of his Ficino book. He left out crucial passages from the methodological introduction, passages which explained the contemporary European philosophical context of his historical work, but which he clearly felt would mean nothing to an American audience. I have suggested that these occluded commitments to the history of speculative ideas and to their active re-interpretation in the present gave Kristeller’s scholarship its edge and its purpose. Kristeller always defined himself not as a historian of the Renaissance but as a combined philosopher and historian of philosophy. This definition is rooted in the relationship between his two Ficino projects of the 1930s, the monograph and the Supplementum. But, translated to the United States, he never again had opportunities to produce work that concretely combined both roles. For the philosophical tradition within which he formed himself, the metaphysical tradition from Plato to Hegel and beyond, was not active in the post-war United States. Ficino in the past and Gentile and Heidegger in the present were by then tainted with the politics of European totalitarianism: Ficino as a political creature of the Medici, Gentile and Heidegger as creatures of modern fascist tyrants. The philosophies that were active in post-war America and Britain – analytic philosophy, language philosophy – were not for Kristeller. The late 1950s and 1960s saw renewed demands that the history of philosophy should enrich critical thought in the present. These were answered in different ways by the historiography of political thought associated with the Anglophone historians Peter Laslett, Quentin Skinner and John Pocock, and by the new historicism of French philosopher Michel Foucault, applied to Renaissance literary studies by Stephen Greenblatt in the late 1970s. The speculative philosophy of interwar Europe arrived in the American academy in the decade between 1965 and 1975, but not, for the most part, in the Philosophy departments. The Yale school re-discovered literary criticism’s »lost relation« – hermeneutic philosophy and its founding father, Heidegger.52 The form this revival took, however, doubtless seemed to Kristeller to derive from the sensationally »original« and vain speculations which his own work on Ficino had sought to contrast with the authentic tradition of independent speculative thought. For Kristeller, this tradition represented a historically continuous and systematic philosophical development of humane values that, like his own intellectual life, had begun with Plato and 52 Vgl. Geoffrey H. Hartman: Easy pieces, New York: Columbia University Press 1985, S. 188. Hartman, a German of Jewish background of the generation after Kristeller’s, is the most authoritative commentator on the re-introduction of what he calls »an intense vein of speculation« into humanistic critical thought from the early 1960s on.
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Plotinus and that, he believed, had ridden out the crises and intellectual fashions of the 1930s as it would ride out all the other catastrophes and traumas of external history, if only others would take up the faith.
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Europas geistige Emanzipation – Die italienische Renaissance in den amerikanischen Publikationen Leonardo Olschkis
Aus Anlaß von Galileo Galileis 300. Todestag erschien 1942 im amerikanischen Bulletin of the History of Medicine ein Aufsatz über die wissenschaftliche Persönlichkeit des berühmten Pisaners, geschrieben von dem deutsch-jüdischen Emigranten Leonardo Olschki. Seinen Ausführungen über die Bedeutung von Galileis Erkenntnissen stellte der Romanist und Kulturhistoriker ein hoffnungsvolles Bekenntnis voran: »In this crucial year of the struggle for the survival of Western civilization astronomers and physicists, technologists and physicians, philosophers and historians in all countries of a war-torn world join in an unanimous commemoration of the third century of Galileo’s passing into eternity. There is no greater evidence of the universal importance of his achievements and of the spiritual solidarity which still determines the intellectual destiny of mankind.«1
Das Entsetzen über die politischen Ereignisse der eigenen Zeit, die Sorge über die aktuelle Bedrohung kultureller Werte, der Aufruf an eine solidarische Gemeinschaft aus Wissenschaftlern aller Nationen und unterschiedlicher Fachrichtungen zum Kampf um den Erhalt einer gemeinsamen westlichen Kultur, die Überzeugung, daß dieser Kampf durch Rekurs auf historische Persönlichkeiten und Phänomene von universeller Bedeutung möglich sei, sowie schließlich die Wahl eines italienischen Wissenschaftlers des späten 16. Jahrhunderts als einer solchen Persönlichkeit – Olschkis große Themen der Jahre seiner Emigration sind in diesem Bekenntnis zusammengefaßt. Auch wenn die Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit in einer Jubiläums-Schrift nahe liegend scheint, spiegelt das 1 Leonardo Olschki: »The Scientific Personality of Galileo«, in: Bulletin of the History of Medicine 12 (1942), S. 248.
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Zitat doch eine besondere Bedingtheit seines wissenschaftlichen Werks durch biographische Erfahrung, wie sie in unterschiedlicher Ausprägung in vielen Arbeiten des Emigranten zu finden ist: Autobiographisch gefärbte Schlüsselstellen, thematische und methodische Entscheidungen sowie die Auseinandersetzungen mit der Forschung des Gastlandes lassen sich als Antworten auf den Schock und die Verlusterfahrungen der Emigration lesen. Eine besondere Bedeutung kam dabei Olschkis Erforschung der italienischen Renaissance zu, in der sich wissenschaftliches Interesse und individuelle Lebensgeschichte trafen. Als der eingangs zitierte Aufsatz erschien, lebte Olschki gerade drei Jahre in den Vereinigten Staaten.2 Infolge von Hitlers Rassengesetzen hatte er 1933 seinen Lehrstuhl für Romanische Philologie an der Universität Heidelberg verloren. Wie viele seiner Kollegen suchte er zunächst einen Ausweg innerhalb Europas. Er kehrte nach Italien zurück, wo er aufgewachsen war, und ließ sich in Rom nieder. Doch obwohl er in Italien dank seiner Familie sowie guter Kontakte zu italienischen Wissenschaftlern über ein stabiles soziales Umfeld und ein funktionierendes wissenschaftliches Netzwerk verfügte, kam er nicht über den Verlust seiner geistigen Heimat – der deutschen akademischen Welt – und seiner universitären Stellung hinweg. Anders als der Humanismus-Forscher Paul Oskar Kristeller, den Olschki bei dessen Integration in Italien unterstützte, bemühte er sich nicht um die italienische Staatsbürgerschaft, sondern zog sich bereits in Rom in die engen Kreise aus Deutschland emigrierter Wissenschaftler zurück, die bei ihren Treffen den Strukturen und Hierarchien deutscher Wissenschaftskultur huldigten. So berichtet der ebenfalls emigrierte Philosoph Karl Löwith in seinen römischen Memoiren, gerade bei Olschki und seinen engsten Freunden »eine eigentliche Emigrantenpsychologie« erlebt zu haben: »[D]ie politischen Verhältnisse ließen sie nicht vom Gewesenen loskommen, und es war unmöglich, mit ihnen zusammen zu sein, ohne daß die Rede sofort auf das deutsche oder jüdische Thema kam.«3 Ende der dreißiger Jahre gewann das Thema eine neue und dramatische Relevanz. Die 1938 von Mussolini erlassenen italienischen Rassengesetze zwangen alle ausländischen Juden, das Land innerhalb einer gesetzten Frist zu verlassen. Als deutscher Reichsbürger mußte sich auch Olschki nach einem neuen Gastland umsehen. Im April 1939 ging er ein zweites Mal in die Emigration. Er verließ Italien und schiffte sich nach den Vereinigten Staaten ein, wo er mit einigen Unterbrechungen bis zu seinem Tod im Dezember 1961 lebte. Die USA galten dem zweifach Vertriebenen als ein sicheres Gastland nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für die von diesen repräsentierten kulturellen Werte. Bereits in Rom hatte er die Überzeugung vertreten, daß die in ihrer Heimat durch Nationalsozialismus, Faschismus, Antisemitismus und Nationalismus bedrohte europäische Kultur nur in den USA noch eine Überlebenschance 2 Zu Olschkis Biographie vgl. Arthur R. Evans: »Leonardo Olschki 1885-1961«, in: Romance Philology 31 (1977/78), S. 17-54. 3 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart: Metzler 1986, S. 92f.
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besitze. Gerade den jüdischen Emigranten komme dabei die besondere Aufgabe zu, diese Kultur in die Staaten zu transferieren, um ihr dort zu neuer Blüte zu verhelfen.4 In expliziter Parallele zu den griechischen Gelehrten, die nach dem Fall von Byzanz nach Italien geflohen waren, stilisierte Olschki sich zum Vermittler europäischer Kultur und interpretierte die eigene Vertreibung als letzte Etappe einer jahrhundertelangen translatio sapientiae, getragen nicht von heimatlosen Flüchtlingen sondern von bewußten Vertretern eines besseren Europa. Diese missionarische Haltung vertrat er sowohl in Emigrantenkreisen, wie auch öffentlich, so in einem Interview mit einer amerikanischen Tageszeitung kurz nach seiner Einreise: »The chunky, light-haired philologist came here not because he was an exile from Italy, but because twenty years of teaching at the Universities of Heidelberg and Rome convinced him ›the United States is the last country in the world where scholarship is respected and free and can be developed‹. He hopes this country will preserve western civilization disappearing abroad under gunfire [...]. ›The United States will, I believe, direct the destiny of mankind by preserving the basis of western culture. This is her job in the world. Like Rome in ancient days which preserved and handed on Greek culture and life, so the United States will save from destruction what makes life worth living.‹«5
Zeitgleich widmete sich Olschki auch als Wissenschaftler dem Kulturtransfer in Richtung Amerika und verfaßte zu Beginn der vierziger Jahre eine kleine Reihe von Artikeln über Kolumbus, die deutlich für sein Bemühen um Integration standen.6 Mit dem genuesischen Seefahrer wandte er sich einem Gegenstand zu, der für sein Gastland von besonderem Interesse war, so daß er berechtigte Hoffnungen hegen konnte, auf Resonanz zu stoßen. Mit Verweisen auf »the discovery of North America« oder »the territory of the United States« wies Olschki in den Artikeln explizit darauf hin, daß es sich um ein spezifisch US-amerikanisches Thema handele.7 Ein aktueller Anlaß war zudem mit dem Jubiläum der Entdeckung Amerikas 1942 gegeben, um das sich seine Publikationen zeitlich gruppierten. Thematisch und methodisch wiederum knüpften sie an seine 1937 in Florenz publizierte geographiegeschichtliche Untersuchung Storia letteraria delle scoperte geografiche an. Darin analysierte der Kulturhistoriker die Berichte
4 Vgl. ebd., S. 93. 5 The Baltimore Sun vom 28.9.1939. 6 Vgl. L. Olschki: »Ponce de León’s Fountain of Youth: History of a Geographical Myth«, in: The Hispanic American Historical Review 21 (1941), S. 361-385; ders., »What Columbus Saw on Landing in the West Indies«, in: Proceedings of the American Philosophical Society 84 (1941), S. 633-659; ders., »In the Wake of Columbus. A Life of Christopher Columbus, by Samuel Eliot Morison, Boston 1942«, in: The Saturday Review of Literature, New York 25.9 (28.2.1942), S. 5 sowie ders., »Hernán Pérez de Oliva’s ›Ystoria de Colón‹«, in: The Hispanic American Historical Review 23 (1943), S. 163-196. 7 Vgl. L. Olschki: Ponce de León’s Fountain, S. 361.
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von Reisenden und Entdeckern – außer von Kolumbus vor allem von Marco Polo – als Quellen für eine schrittweise Erweiterung des geistigen Horizonts der Verfasser. Durch die Verknüpfung geographiegeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen ermittelte er das Verhältnis von Fiktion und Realität in den Berichten und entlarvte individuelle wie zeittypischen Interessen, Wahrnehmungs- und Denkweisen. Im Mittelpunkt seiner Interpretation stand die geistige Emanzipation Europas von Überlieferung und Legenden. Thematik und Methode der Storia letteraria griff Olschki auch in späteren Arbeiten immer wieder auf, jedoch blieben seine Kolumbus-Aufsätze sein einziger Ausflug in die amerikanische Geschichte. Stattdessen wandte sich der Romanist ab Mitte der vierziger Jahre einem ganz neuen Fach zu, der Orientalistik, die, neben der italienischen Kulturgeschichte, zu seinem hauptsächlichen Forschungsgebiet wurde. Olschkis wissenschaftliche wie psychische Entwicklung in den USA, zeigt deutlich, wie sehr die Akkulturation eines emigrierten Wissenschaftlers von seiner institutionellen Integration und damit von der Überwindung des durch die Emigration in den meisten Fällen verursachten Karrierebruchs abhängig war. Seine Suche nach einer befriedigenden Anstellung in den Staaten blieb erfolglos. Sein Alter – zum Zeitpunkt der Einreise war er bereits 53 Jahre alt – die angespannte Situation auf dem akademischen Arbeitsmarkt und seine eigenwilligen Forschungsinteressen, die zwischen »klassischer« Romanistik, Kultur- und Geographiegeschichte lagen und ihn keinem der spezialisierten Departments an den amerikanischen Universitäten eindeutig zuordneten, machten seine Vermittlung, um die sich das Emergency Committee in Aid of Displaced Scholars bemühte, äußerst schwierig. Die Jahre der Suche, unterbrochen durch kurzzeitige Lehraufträge an einem Mädchencollege in Virginia oder der Army School in Oregon, ließen den ehemaligen Heidelberger Lehrstuhlinhaber zunehmend verbittern. Die Erfahrung, daß Amerika ihn, den Vertreter und Vermittler europäischer Kultur, nicht mit offenen Armen empfing, daß sich keine Universität ausreichend für seine Bildung und seine wissenschaftlichen Erkenntnisse interessierte, zerstörte seine Überzeugung von der Möglichkeit einer Kulturtranslation. Nicht mehr auf die USA setzte er nun, sondern ausschließlich auf das bessere, d.h. das emigrierte Europa. So schrieb er im April 1944, als es ihm gelungen war, eine Tätigkeit als Dozent am orientalischen Seminar der Universität Berkeley zu erhalten, an seine Schwester Elvira: »Marco Polo dient, mit Respekt gesprochen, als Feigenblatt. Die rasche Lösung des verwickelten Universitätsproblems ist dem Umstand zu verdanken, daß es im ganzen Department keinen einzigen amerikanischen Professor gibt. Das Ganze ist nichts als eine Demonstration europäischer Solidarität von Seiten der hervorragenden Gelehrten, die mir Gastfreundschaft gewährt haben.«8 8 L. Olschki an Elvira Rosin, 19.4.1944, in: Archivio della Casa Editrice Leo S. Olschki, Florenz, Carteggi famigliari, 1896 [meine Übersetzung, im weiteren zitiert als Cart. famigliari].
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Auch wenn Olschkis orientalistische Arbeiten durchaus als ein Tribut an diese Anstellung zu verstehen sind, die es sozusagen rückwirkend zu legitimieren galt, trugen sie doch auch deutlich eskapistische Züge, wie er selbst gestand: »Meine Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Asien dient mir als ›escape‹ von Europa und ein wenig auch aus Amerika.«9 In einem Umfeld, das er zunehmend als fremd, ja feindlich empfand, schätzte er umso mehr seine Fluchten in eine »ferne Welt, die wie ein Märchenreich wirkt«, wie er an seinen Freund Kristeller schrieb.10 Auch die wissenschaftliche Welt der USA, der er zunächst die hehre Rolle eines letzten Horts von Gelehrsamkeit zugedacht hatte, war ihm zunehmend negativ besetzt. Immer wieder klagte er über den geldorientierten Pragmatismus der amerikanischen Forschung, äußerte sich in Briefen an andere Emigranten vernichtend über die amerikanische Kulturauffassung, der jeder Sinn für Historie fehle, und erklärte die Vernachlässigung der Geisteswissenschaften zu Gunsten praktischer Studien für ein typisch amerikanisches Phänomen. Seine Überzeugung, als Repräsentant europäischer Kultur und Wissenschaft in den Staaten eine besondere Aufgabe zu haben, verlor er nie, doch ging es ihm bald weniger um einen dynamischen und fruchtbaren Transfer als vielmehr um ein exklusives Bewahren und Konservieren, eine Haltung, die sich auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten niederschlug. Es sind Olschkis Arbeiten zur italienischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, wie der eingangs zitierte Aufsatz über Galilei, in denen er seine bereits in Deutschland entwickelten Methoden und Erkenntnisse am konsequentesten bewahrte und gegen die konträren Positionen der amerikanischen Forschung vehement verteidigte. Bereits in Deutschland hatte sich Olschki immer wieder mit der italienischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts beschäftigt. Vor allem in seinen drei Bänden über die Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur (GWL) hatte er seine wichtigsten Thesen über die Genese der modernen Wissenschaft und deren Bedeutung für die Erneuerung der Gesamtkultur Italiens entwickelt.11 Anhand naturwissenschaftlicher, mathematischer, philosophischer und technischer Schriften aus der Zeit zwischen 1400 und 1650 entwarf er darin das Bild eines gewaltigen intellektuellen Läuterungsprozesses von der mittelalterlichen Buchwissenschaft weg hin zur modernen »fast übermenschlichen Sachlichkeit«. Angestoßen wurde dieser Prozeß, der, laut Olschki, für den innovativen Charakter der Epoche verantwortlich war, im 15. Jahrhundert durch technisch versierte Künstler, die von konkreten lebensnahen 9
L. Olschki an Paul Oskar Kristeller, 28.10.1944, in: Columbia University, Butler Library, Rare Books and Manuscript Library, New York, Paul Oskar Kristeller Papers [im weiteren zitiert als POK Papers], Folder Leonardo Olschki. 10 L. Olschki an P. O. Kristeller, 25.9.1949, in: POK Papers. 11 Vgl. L. Olschki: Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur: Bd. 1: Die Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften vom Mittelalter bis zur Renaissance, Heidelberg: C. Winter 1919; Bd. 2: Bildung und Wissenschaft im Zeitalter der Renaissance in Italien, Leipzig, Florenz, Rom, Genf: Olschki 1922; Bd. 3: Galilei und seine Zeit, Halle: Niemeyer 1927.
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Problemen ausgingen und zu deren Lösung praktische Erfahrung, Naturbeobachtung und mathematische Abstraktion verbanden. Mit diesen »experimentierenden Meistern« setzte ein Prozeß geistiger Emanzipation ein, der von den Erfahrungswissenschaften zur reinen wissenschaftlichen Abstraktion führte. Der Triumph der neuen, an wissenschaftlicher Sachlichkeit ausgerichteten Denkweise ist für Olschki im Werk Galileis gegeben, der die Ansätze der experimentierenden Meister zur Vollendung gebracht habe. Nicht Burckhardts Kriterium der Individualität gilt ihm als das eigentlich Neuartige, als das Moderne der Renaissance, sondern die Genese des wissenschaftlichen, sachlichen Denkens, die Emanzipation von traditionellen Lehren und überkommenen Dogmen der von der Kirche geduldeten offiziellen Wissenschaft des Mittelalters. Diese Erneuerung des wissenschaftlichen Denkens verstand er als den eigentlichen Motor der gesamten Erneuerungsbewegung der Renaissance, welche die »Gesamtheit der Bildungsfähigen« ergriffen und »alle Lebens- und Denkbedingungen« betroffen habe.12 Deutlich zeigt sich dabei die Verbindung zu Olschkis geographiegeschichtlichen Arbeiten. Seine Forschungen von Marco Polo bis Galilei sind allesamt unter die Leitidee einer intellektuellen Emanzipation gestellt, einer geistigen Befreiung Europas aus der Begrenzung durch Dogmen, Legenden und Überlieferung, die vom 14. bis zum 16. Jahrhundert alle gesellschaftlichen Schichten und alle kulturellen Bereiche erfaßte. Hierin lag für Olschki die besondere Bedeutung der Renaissance als »gelehrter Gegenwelt«,13 als kulturelles Paradigma im Kampf »for the survival of the Western civilization«. Während die Renaissance in der Weimarer Republik ein regelrechtes Modethema gewesen war, da sie sich als politische und wirtschaftliche Umbruchszeit zum historischen Vergleich mit der eigenen Gegenwart anbot,14 waren in den USA der dreißiger und vierziger Jahre Renaissance-Studien eher unpopulär. In explizitem Widerspruch zur deutschen Tradition nach Burckhardt bestritt die amerikanische Forschung die Deutung der italienischen Renaissance als eigenständiger Epoche und als Beginn der Moderne und interpretierte vor allem das 15. Jahrhundert als Fortsetzung oder gar als Niedergang des Mittelalters. Zahlreiche Studien über mittelalterliche Wurzeln und Vorläufer unterschiedlicher Phänomene, vor allem des italienischen Quattrocento, betonten die Kontinuitäten zum Mittelalter im Gegensatz zur Vorstellung einer Epochenschwelle, wie sie Olschki vertreten hatte. Zwar wurden die drei Bände seiner GWL auch von amerikanischer Seite als ein Meilenstein in der Wissenschaftsgeschichte anerkannt, doch galten die darin vertretenen Thesen als überholt. In Anlehnung an die 12 L. Olschki: Die Literatur der Technik, S. 6. 13 Zur Entwicklung und Bedeutung »gelehrter Gegenwelten« in den Werken deutschjüdischer Emigranten vgl. Kay Schiller: Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2000. 14 Vgl. hierzu auch Reinhart Blomert: Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München: Hanser 1999.
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Arbeiten von Alexandre Koyré und Pierre Duhem sahen führende US-Forscher wie Lynn Thorndike und Dana Durand erst das 16. und vor allem das 17. Jahrhundert als die entscheidende Phase wissenschaftlicher Revolution an.15 Olschki hingegen hatte Koyré und Duhem bereits in seiner GWL wiederholt widersprochen, nicht nur in der Frage nach der Bedeutung des 15. Jahrhunderts, nach Kontinuität oder Bruch, sondern auch in Bezug auf die Träger der wissenschaftlichen Entwicklung. Denn während für Olschki das neue wissenschaftliche Denken mit dem Dilettantismus praktisch orientierter Laien wie der experimentierenden Meister einsetzte, die gerade durch ihre Unabhängigkeit von der zur »geistestötenden und erkenntnislähmenden Dialektik«16 erstarrten offiziellen Wissenschaft dazu in der Lage waren, sprachen Koyré und Duhem – und in ihrem Gefolge die amerikanische Forschung – den Universitäten eine wichtige Rolle als Traditionsträger in wissenschaftlichen Entwicklung zu. Die Ablehnung seines bisherigen Lebenswerkes traf den ohnehin schon verunsicherten Emigranten besonders tief, bot es ihm doch die einzige Möglichkeit, dem Zusammenbruch seiner geistigen Welt einen Moment der Kontinuität entgegenzustellen. Empört schrieb er an Kristeller: »Die ganze Diskussion [um die Renaissance] scheint mir in ihrer Form und jeweiligen Fragestellung abwegig und unfruchtbar, eher ein Produkt der Ratlosigkeit und Verwirrung, als wirklichen Strebens nach positiver Klärung der Tatsachen und Begriffe. Thorndike’s Maximen sind ein bedenklicher Ausdruck akademischer Beschränktheit, von Randall, Johnson e ›compagnia bella‹ gar nicht zu reden.«17
Doch waren es nicht nur Olschkis Thesen, die nicht der zeitgenössischen Richtung amerikanischer Forschung entsprachen. Auch andere Emigranten wie Kristeller, Ernst Cassirer und Hans Baron bezogen bereits Anfang der vierziger Jahre deutliche Gegenpositionen und entfachten eine Debatte, die Olschki im Journal of the History of Ideas verfolgte. Nur zu gerne hätte er seinen eingangs zitierten Artikel über Galilei, der als direkter Beitrag zu dieser Debatte gedacht war, ebenfalls in dieser Zeitschrift veröffentlicht. Daß deren Herausgeber, John H. Randall von der Columbia University, den Aufsatz jedoch nicht akzeptierte, erboste Olschki ungemein und führte dazu, daß er es in den Folgejahren ablehnte, im Journal zu publizieren. Da er sich zudem von den für die Thematik entscheidenden Wissenschaftsorganisationen wie der Medieval Academy of America, aus der er bereits 1942 nach einem angeblichen Affront ausgetreten war, oder der in den frühen fünfziger Jahren gegründeten Renaissance Society of America distanzierte und seine Beiträge zu der Debatte weitgehend nur von anderen Emi15 Zum zeitgenössischen Stand der US-amerikanischen Renaissance-Forschung vgl. Wallace K. Ferguson: The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation, Boston: Houghton Mifflin Co. 1948. 16 L. Olschki: Die Literatur der Technik, S. 27. 17 L. Olschki an P. O. Kristeller, 28.2.1942, in: POK Papers.
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granten rezensiert wurden, blieben seine aus Deutschland importierten Positionen von der US-Forschung relativ unbeachtet. In Olschkis amerikanischen Arbeiten standen drei Aspekte seines Renaissance-Bildes im Mittelpunkt: der revolutionären Charakters der italienischen Renaissance gegen jede Betonung von Kontinuität, ihre Bedeutung als breite, gerade nicht elitäre kulturelle Bewegung, die alle Bereiche und Schichten erfaßte, sowie, damit eng verbunden, ihr Entstehen außerhalb der Universitäten, ja im expliziten Kontrast zu deren Tradition und Lehre. Dabei griff er immer wieder auf die Protagonisten seiner GWL, vor allem auf Galilei und Machiavelli zurück und führte sie – wie übrigens auch Baron in seinem Plädoyer für eine positive Bewertung des 15. Jahrhunderts18 – als Vertreter eines letztlich einheitlichen intellektuellen Emanzipations-Prozesses an. So erschien ein Jahr nach dem bereits zitierten Artikel ein weiterer Aufsatz Olschkis über den Pisaner Forscher.19 Beide Arbeiten verband die Zielsetzung, Galileis intellektuelle Unabhängigkeit und die Bedeutung seiner Erkenntnisse für die Entwicklung moderner Wissenschaftlichkeit zu betonen. Dabei richtete sich Olschki explizit gegen zeitgenössische Arbeiten. Deren »new appreciation of medieval science« habe zu einem einseitigen Fokus auf mögliche Vorgänger Galileis geführt, die Konzentration auf theoretische Wissenschaft zu einer Mißachtung seines Beitrags zur experimentellen Physik. Für den Emigranten handelte es sich dabei ohnehin nicht um neue Erkenntnisse, sondern nur um eine momentane intellektuelle Einstellung, die es zu korrigieren galt: »It is this striking conformity of an effacing criticism that arouses suspicion and suggests the question whether the more conditional appreciation of Galileo’s achievements prevailing in our time depends on intellectual attitudes characteristic of our age or on objective conclusions drawn from verified facts.«20
Damit zielte er vor allem auf einen 1940 im Journal of the History of Ideas veröffentlichten Artikel Randalls, der Galilei in Theorie und Methode der aristotelischen Schule von Padua zuordnete.21 Olschki war sowohl die Annahme, daß Galilei gedankliche Vorläufer gehabt haben könnte, wie die seiner angeblichen Nähe zu einer universitären Schule ein Dorn im Auge. Gegen Randall führt er an, daß der italienische Forscher sich nicht nur gänzlich vom Aristotelismus distanziert, sondern sich auch von alternativen Methoden wissenschaftlicher Spekula-
18 Vgl. Hans Baron: »Towards a More Positive Evaluation of the Fifteenth-Century Renaissance«, in: Journal of the History of Ideas 4 (1943), S. 21-49. 19 Vgl. L. Olschki: »Galileo’s Philosophy of Science«, in: The Philosophical Review 52 (1943), S. 349-365. 20 L. Olschki: The Scientific Personality, S. 249. 21 John H. Randall, Jr.: »The Development of Scientific Method in the School of Padua«, in: Journal of the History of Ideas 1 (1940), S. 177-206.
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tion gelöst habe.22 Gerade seine geistige Unabhängigkeit zeichne ihn aus und verdeutliche den Bruch mit dem Mittelalter. »In his intellectual attitude towards the fundamental problems of natural science and philosophy Galileo represents a new type of scholar and investigator, quite independent of the traditional methods of mediaeval learning and, even as a professor, always unconventional in his activity and behaviour.«23
In seiner Verortung von Galileis Erkenntnissen außerhalb der Universitäten wurde er durch den österreichischen Philosophien und Wissenschaftssoziologen Edgar Zilsel unterstützt, der 1939 ebenfalls in die Staaten emigriert war. Olschki, der in seinem ersten Aufsatz auf dessen Ergebnisse hingewiesen hatte, diskutierte brieflich mit Zilsel bis zu dessen Selbstmord 1944 das Verhältnis von Naturforschung und Universität.24 Dennoch standen sich in der Debatte um die Bedeutung der italienischen Renaissance nicht einfach klare »Lager« bestehend aus Emigranten und amerikanischen Forschern, Epochenschwelle versus Kontinuität, gegenüber. So richtete sich Olschkis zweiter Aufsatz über Galilei gegen Ergebnisse seines ebenfalls emigrierten Freundes Leo Spitzer. Dieser hatte eine begriffsgeschichtliche Verbindung von Aristoteles über dessen mittelalterliche Vermittlung bis hin zu Galilei nachgewiesen und als einen sprachlichen Beweis für dessen Anknüpfen an die mittelalterliche Tradition gewertet.25 Olschki verurteilte die Ausführungen seines Fachkollegen als unvereinbar mit Galileis Errungenschaften und als nicht nachweisbar in den Quellen. Gegen alle Versuche, gedankliche, methodische oder begriffliche Analogien zwischen dem Pisaner und unterschiedlichen philosophischen Schulen zu belegen, stellte er erneut dessen Radikalität des Denkens, seinen neuartigen Ansatz und seine Unabhängigkeit, ja Opposition zu überkommenen Methoden: »It has been reserved to some of our contemporaries to label Galileo as a Paduan Aristotelian or as a Platonist, and even to stress the influence of Neoplatonism on his conceptions of nature. In reality his fundamental conceptions of motion and matter, of geometry and relativity, are just so many radical steps which took the new philosophy of sci-
22 Vgl. L. Olschki: The Scientific Personality, S. 261f. 23 Ebd., S. 251. 24 Vgl. Edgar Zilsel an L. Olschki, 24.10.1942, in: J. Paul Getty Centre for the History of Art and the Humanities, Santa Monica, Leonardo Olschki Papers, Box 2, Folder 1: »Sie haben absolut recht, dass Galileis Leistung nicht aus den Universitäten herauswachsen konnte und ihrem Geist direkt widerspricht. Dasselbe gilt für alle großen Naturforscher bis 1800 [...].« 25 Vgl. Leo Spitzer: »Milieu and Ambiance«, in: Philosophical and Phenomenological Research 3 (1942), S. 1-42. Über Olschkis Kritik an Spitzers Aufsatz ging das freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden emigrierten Romanisten zu Bruch.
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ence and nature definitely out of the traditional schemes of thinking and obsolete methods of investigation.«26
Auch hier bedingt die Biographie den Blick auf die Geschichte. So spiegelt Olschkis zunehmend harte Kritik an den Universitäten als konservative Horte eines erstarrten Denkens, unfähig zu Erneuerung und Fortschritt, seine eigene Enttäuschung über das Ausbleiben wissenschaftlicher Anerkennung in den USA. Galileis geistige Unabhängigkeit gewinnt dabei eine neue Dimension in der Identifikation des sich verkannt fühlenden Emigranten mit dem unangepassten Forscher: »He [Galilei] had always been an outsider in the academic world, just as every independent spirit is wont to be.«27 Vor allem in der Konzentration auf die Geschichte und Entwicklung von Schulen und Universitäten lag für den Romanisten der entscheidende Fehler der von ihm kritisierten Studien. Für ihn, der stets den gesamtkulturellen Charakter der Renaissance hervorgehoben hatte und für den die Vernetzung geistiger und kultureller Werte mit allen anderen Aspekten einer Epoche und Gesellschaft eine persönliche Grundüberzeugung darstellte, die nicht nur die Voraussetzung der von ihm beschriebenen geistigen Emanzipation stellte, sondern auch dem eigenen Schaffen eine tiefere Dimension bot, mußte diese Konzentration am eigentlichen Phänomen der Renaissance vorbei gehen. Ein Fehler, den er auch Kristeller, der wie Randall an der Columbia University lehrte, vorwarf: »[B]ei aller Anerkennung Ihrer klaren und umfassenden Darstellung der RenaissanceKultur, erscheint mir Ihre Betrachtungsweise immer wieder zu sehr in scholastischen und akademischen, gelehrten und fachlichen Grenzen umschrieben, ohne Aus- und Einblicke, die die lebendigen Bedingungen und Beziehungen der Literatur und der Gelehrtheit zur Gesamtkultur aufdecken könnten. [...] [E]s ist mir durchaus klar, daß dieser begrenzte ›approach‹ zu kultur- und geistesgeschichtlichen Fragen besonders typisch für amerikanische Betrachtungsweise ist. In diesem Lande sind kulturelle und geistige Belange vom Gesamtleben der Nation getrennt und besitzen ein Eigenleben ohne Sinn und Wirkung.«28
Dabei übersah Olschki, daß es Kristeller weniger um eine Anpassung an sein amerikanisches Umfeld, als vielmehr um eine grundsätzlich verschiedene Fragestellung ging. Während Olschkis geistesgeschichtlich orientierten Arbeiten möglichst viele Bereiche des kulturellen und geistigen Lebens zu umfassen suchten, konzentrierte sich Kristeller auf die Geschichte der Philosophie bzw. einzelner Philosophen und ihrer Schulen, unabhängig von politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Entwicklungen. Dieser unterschiedliche Zugang führte immer wieder zu Diskussionen zwischen den beiden emigrierten Renaissance-For26 L. Olschki: Galileo’s Philosophy, S. 354f. 27 L. Olschki: The Scientific Personality, S. 257. 28 L. Olschki an P. O. Kristeller, 30.12.1950, in: POK Papers.
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schern. So kritisierte Olschki beispielsweise Kristellers Darstellung des italienischen Averroismus als einer philosophischen Schule – nicht ohne erneuten Seitenhieb auf dessen New Yorker Kollegen. Ihm selbst hingegen galt diese Variante aristotelischer Tradition als Weltanschauung, die gerade in Kreisen, die nicht unter akademisch-scholastischem Einfluß standen, sehr verbreitet war: »Wie es auch sei, [der] Averroismus des 13. und 14. Jahrhunders läßt sich nicht gut lokalisieren und vor allem nicht als eine reine akademische Angelegenheit betrachten. Ich habe [...] nachgewiesen, dass Averroismus als ein ›state of mind‹ und nicht allein als eine Lehre aufzufassen ist. [...] Es ist m.E. eine allgemeine Schwäche des ColumbiaKreises, mit Thorndike und Randall an der Spitze, diese Dinge allzu akademisch zu betrachten. Es handelt sich um eine typisch amerikanische Kulturauffassung, die zwar den Verhältnissen hierzulande entspricht, aber keinesfalls auf das mittelalterliche Europa, auf Geistesgeschichte überhaupt zu übertragen ist.«29
Während Olschki in seinen seit der GWL veröffentlichten Untersuchungen zur Laienkultur und zu den experimentierenden Meistern, zu den Entdeckern und Reisenden immer wieder das Revolutionäre, den Beginn einer intellektuellen Emanzipation seit dem Quattrocento herauszuarbeiten suchte, betrachtete Kristeller Kontinuitäten, Traditionen und langfristige Entwicklungen. Symptomatisch für diese Unterschiede in Ansatz und Bewertung sind Olschkis Anmerkungen zu einem Aufsatz Kristellers über die Bedeutung Augustins in der Früh-Renaissance:30 »Über den großen Einfluß Augustins auf die Renaissance-Philosophie und -Literatur bin ich mir immer im klaren gewesen [...]. Jedoch finde ich diesen Einfluß weniger interessant und charakteristisch als denjenigen, der von rein säkularen antiken Autoren ausging, wie etwa Lukrez. Augustin ist ja im wesentlichen auch für den mittelalterlichen Platonismus verantwortlich, wahrend Lukrez nur in der Renaissance und ganz abseits christlicher Überlieferungen neuentdeckt und verstanden wurde.«31
Wie Olschki hier den Einfluß des neu entdeckten, also nicht über das Mittelalter überlieferten Autors Lukrez betonte, wie er zuvor Galilei zum Vertreter einen neuen Wissenschaft gegen jede mittelalterliche Tradition ernannt hatte, so führte er auch Machiavelli bzw. dessen Werke als Belege für den revolutionären Charakter des geistigen Neubeginns im 15. Jahrhundert an. Seine kleine Monographie über Machiavelli, die 1945 im Universitätsverlag in Berkeley erschien, resümierte unter Berücksichtigung der aktuellen Forschungsdebatte seine Analyse der Werke des Florentiners aus der GWL. Im Mittelpunkt stand erneut der wissenschaftliche Charakter von Machiavellis Schriften und damit Olschkis Kri29 L. Olschki an P. O. Kristeller, 24.7.1950, in: POK Papers. 30 Vgl. P. O. Kristeller: »Augustine and the Early Renaissance«, in: Review of Religion 8 (1943/44), S. 339-358. 31 L. Olschki an P. O. Kristeller, 14.8.1945 , in: POK Papers.
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terium für Modernität. Nicht umsonst hatte er seiner Arbeit den programmatischen Titel Machiavelli the Scientist gegeben. Vor allem im Principe (1513), aber auch in der Arte della guerra (1521) komme, so Olschki, Machiavellis wissenschaftliche Mentalität zum Tragen. Diese zeige sich in der Einbindung praktischer Erfahrungen, der Abstraktheit seines Denkens und seiner Fähigkeit zur Verallgemeinerung.32 Wer den Principe als typischen Fürstenspiegel und damit als ein Werk mittelalterlicher Tradition verstehe – Olschki spielt hier auf Arbeiten der amerikanischen Historiker Allan Gilbert und Henry Butterfield an –, übersehe sowohl den abstrakten Modellcharakter des Werkes als auch die Allgemeingültigkeit seiner Beobachtungen. Eine enge Anbindung an das Mittelalter, die Annahme gedanklicher Vorläufer lehnte Olschki wie schon für Galileis Wissenschaft von der Natur auch für Machiavellis Wissenschaft vom Menschen entschieden ab: »Machiavelli ist der erste Theoretiker, der aus direkter Erfahrung sowohl als Politiker, als auch als Historiker über Politik schreibt. [...] [E]s gibt keinen direkten Vorgänger Machiavellis, der eine ihm ähnliche Mentalität hat und einen wesentlichen Beitrag zu seinem Denken und seinem Stil geleistet haben kann.«33
Die Modernität von Machiavellis Denken zeigte sich für Olschki auch in dessen Unabhängigkeit von jeglicher metaphysischen, moralischen oder religiösen Prämisse. Der Grad intellektueller Emanzipation, den seine Werke aufwiesen, stünde für den Beginn der Renaissance im 15. Jahrhundert. Der von der amerikanischen Forschung unternommene Versuch, Machiavellis Werke allzu eng an das Mittelalter anzubinden, verkannte, Olschki zufolge, deren innovativen Charakter und den revolutionären Aspekt der ganzen Epoche: »Die italienische Renaissance ist eine breite und starke Volksbewegung, eine intellektuelle Revolution, die nur leugnen kann, wer sie ausschließlich im Hinblick auf Bücher, Texte, Schulen und Gelehrsamkeit erfaßt.«34 Olschkis letzten Beitrag zur amerikanischen Debatte um die italienische Renaissance lieferte das 1949 publizierte Buch The Genius of Italy, das »unvermeidliche Italienbuch«, wie er es leicht spöttisch bezeichnete.35 Die Auseinandersetzung mit der italienischen Vergangenheit, die stets eines seiner hauptsächlichen Arbeitsgebiete gewesen war, wurde ihm unter dem Eindruck der eigenen Gegenwart zu einem persönliches Bedürfnis: »mußte ich mich doch von meinen italienischen Schreckgespenstern lösen« (dovevo pur staccarmi dai miei fantasmi
32 Vgl. L. Olschki: »Machiavelli scienziato«, in: Il Pensiero Politico 2 (1970), S. 509535. 33 Ebd., S. 514 [meine Übersetzung]. 34 Ebd., S. 516 [meine Übersetzung]. 35 L. Olschki an Karl Vossler, 9.1.1947, in: Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Nachlaß Karl Vossler, Ana 350, 12A.
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italici), schrieb er an seinen Bruder Aldo.36 Methodisch nahm er im Genius Ansätze wieder auf, die er bereits Ende der zwanziger Jahre in Deutschland entwickelt und erstmals 1929 in einem Aufsatz über das literarische Vermächtnis des Mittelalters formuliert hatte:37 die These von der unerschöpflichen kreativen Energie einer Nation und ihren kulturellen Manifestationen durch die Jahrhunderte. Für die Vorstellung eines dynamisch-schöpferischen Volksgeistes bzw. des Genius eines Volkes griff er auf Ausführungen Herders und vor allem Hegels zurück und verortete sein Werk damit von Anfang an fest in der Tradition deutscher Geistesgeschichte. Wie er in der Einleitung zum Genius ausführte, erlebe der nationale schöpferische Genius nicht einzelne Hochphasen, die von Perioden der Stagnation oder des kulturellen Verfalls abgelöst würden, sondern verlagere seine kreative Energie unter dem Einfluß äußerer Bedingungen stets von einem Betätigungsfeld zum nächsten, ohne dabei an Kraft einzubüßen. Zwar seien die jeweiligen Realisierungen des nationalen Genius – Politik, Dichtung, Philosophie, Musik etc. – in den einzelnen Jahrhunderten als gleichwertige Manifestationen ein und derselben schöpferischen Energie zu verstehen und zu bewerten, doch ließ Olschki keinen Zweifel daran, welcher Epoche der italienischen Kulturgeschichte seine Hommage galt: der Renaissance. Die ausgedehnten Kapitel über Literatur, Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft verraten sein Bedürfnis, in der persönlichen wie allgemeinen Krise in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg diese Kulturwelt zu rekonstruieren und an eine Zeit zu erinnern, in der Italien die Grundlage seiner nationalen Kultur schuf, die ihm »im Reich des Geistes und der Kunst in der abendländischen Welt seinen Rang gesichert hat«.38 Im Rahmen der Forschungsdebatte um die Renaissance wählte Olschki im Genius einen neuen Ansatz, der darauf zielte, der in konventionellen Begriffen festgefahrenen Diskussion eine neue Basis zu geben. Zu diesem Zweck verzichtete er, anders als in seinen früheren Aufsätzen, bewußt darauf, das Wort »Renaissance« zu verwenden und erhoffte sich davon – wie er Kristeller schrieb – eine Klärung des Begriffes ebenso wie des Phänomens.39 Im Hinblick auf das amerikanische Publikum kam er der »Gegenseite« mit dem Kompromiß entgegen, daß es neben den klassischen, weltlichen und individualistischen Zügen der neuen italienischen Kultur eine zwar weniger glänzende, aber dennoch hartnäckige und breite konservative Opposition gegeben habe, deren historische Be36 L. Olschki an Aldo Olschki, 12.2.1947, in: Cart. famigliari, 2781. Zur Bedeutung des Genius vgl. auch Christoph Hoch: »Die italienische Renaissance als Paradigma der deutschen Kulturgeschichtsschreibung. Anmerkungen zum Werk des Romanisten Leonardo Olschki«, in: Anna Comi/Alexandra Pontzen (Hg.), Italien in Deutschland, Deutschland in Italien. Die deutsch-italienischen Wechselbeziehungen in der Belletristik des 20. Jahrhunderts, Berlin: Erich Schmidt 1999, S. 357-388. 37 Vgl. L. Olschki: »Das literarische Vermächtnis des Mittelalters. Ein Vortrag«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte 7 (1929), S. 329347. 38 L. Olschki: Italien. Genius und Geschichte, Darmstadt: Gentner 1958, S. 229. 39 L. Olschki an P. O. Kristeller, 15.2.1954, in: POK Papers.
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deutung nicht übersehen werden dürfe. Die Bedeutung der Epoche, »die man allgemein mit Renaissance bezeichnet«,40 als Beginn der Moderne stellte er jedoch keineswegs in Frage: »Das moderne Italien ist aus dem Widerstreit dieser beiden geistigen Kräfte entstanden.«41 Außer in der erneuten Rückbesinnung auf die italienische Renaissance als positiver Gegenwelt zur zeitgenössischen Katastrophe, äußerte sich Olschkis Auseinandersetzung mit den »fantasmi italici« auch in einer Reihe einzelner Passagen, in denen er seine Darstellung historischer Realitäten, beispielsweise der Glaubensflüchtlinge, mit persönlichen Erfahrungen unterlegte: »Wir können auch mit jenen Auswanderern mitfühlen, die von fremden Gemeinschaften mit Argwohn oder Feindseligkeit aufgenommen und dort zu einem harten Kampf um das nackte Leben gezwungen wurden, und denen womöglich bestimmt war, in der Fremde den gleichen Fanatismus, die gleiche Unduldsamkeit und die gleichen Gefahren zu finden, denen sie kaum entronnen waren.«42
Dennoch erstaunt es, daß Olschki den Genius abgesehen von solch verstreuten Anspielungen auf Vertreibung und Diktatur nicht zu einer wirklichen Abrechnung mit der jüngsten italienischen Vergangenheit nutzte. Seine ohnehin nur sehr knappe Behandlung des italienischen Faschismus tendiert im Gegenteil dazu, den Beitrag Italiens an der europäischen Katastrophe zu minimieren. So gilt ihm der Faschismus gerade nicht, wie es die faschistische Propaganda hatte glauben machen wollen, als jüngste Form des italienischen Genius, sondern nur als Ausdruck einer allgemein-europäischen Neigung der Zeit, das Leben der Nation und die Rechte des Einzelnen der völligen Autorität eines Staates zu unterwerfen. Im Unterschied zu Spanien oder Deutschland habe der italienische Faschismus keine eigene, genuin italienische Ideologie entwickelt. Er sei daher stets nur »ein oberflächliches Experiment« geblieben, an dem das italienische Volk nie mit dem einheitlichen Willen zur aktiven Zusammenarbeit, sondern nur unter dem Druck von Propaganda und Zwang beteiligt gewesen sei.43 Alle Leitgedanken und Wesenszüge des Faschismus seien aus dem Ausland importiert worden, das meiste – vom Paradeschritt über den Kult des Übermenschen bis zur Rassenpolitik – aus Deutschland. Damit übernahm Olschki den offiziellen Standpunkt der italienischen Antifaschisten in den Vereinigten Staaten, daß zwischen dem Faschismus und dem italienischen Volk zu unterscheiden sei. Nicht Italien, sondern Deutschland lastete er auch seine zweite Vertreibung an: »Die Deutschen lieferten schließlich auch das Vorbild der Verfolgungen und Verirrungen ihres Rassewahns zur Entrechtung und Austreibung der kleinen jüdischen 40 41 42 43
L. Olschki: Italien, S. 345. Ebd., S. 262. Ebd., S. 425. Vgl. ebd., S. 554.
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Minderheit, deren Beitrag zum Geistesleben und deren italienischer Patriotismus außer Frage stand.«44
Aus dieser Überzeugung heraus reiste Olschki in den fünfziger Jahren zwar mehrfach zu ausgedehnten Aufenthalten nach Italien, wollte aber nie wieder nach Deutschland zurückkehren. Wie schon in früheren Arbeiten, in denen er sich mit dem Rassismus auseinandergesetzt hatte – beispielsweise in seinem 1916 in der Zeitschrift La Bibliofilia veröffentlichten Artikel Humanitas oder in seinem 1935 in Bari publizierten Buch Struttura spirituale e linguistica del mondo neolatino45 – sprach er das italienische Volk auch im Genius davon frei: Die Einteilung der Menschen nach Rasse- oder Blutsmerkmalen habe sich, so Olschki, in Italien nicht durchsetzen können, da die typische Gesinnung des Italieners weltbürgerlich und kosmopolitisch sei. Vor Eifer und Dogmatismus, wie sie anderen Ländern Verwirrung und Zerstörung gebracht hätten, sei Italien geschützt durch sein »urbanes Empfinden für Schicklichkeit und Maß«,46 das – und hier schließt sich der Kreis zu Olschkis anderen Arbeiten – in der Renaissance entstanden sei. Kein Abrechnen, auch kein Einfordern einer Entschuldigung oder Wiedergutmachung prägte den Genius, sondern vielmehr die ernste Sorge, wie Italien die verheerenden Folgen des faschistischen Abenteuers bewältigen könne, um aus seinem moralischen Vakuum und seiner geistigen Verwirrtheit herauszufinden. Für die Zukunft des Landes, das laut Olschki die dafür notwendige Verbindung zu seiner eigenen Tradition verloren hatte, sah der Emigrant jedoch wenig Hoffnung: »Die Tragödie der Nachkriegsgeneration ergibt sich aus der ernüchternden Erfahrung der Freiheit als eines geistigen Vakuums und der Geschichte als eines ungeheuren Trümmerhaufens.«47 Hatte Olschki kurz nach seiner Einreise in die Staaten noch auf die geistige Solidarität einer internationalen Wissenschaftlergemeinschaft gesetzt, der es durch den Rekurs auf eine glanzvolle Vergangenheit gelingen könne, die gemeinsamen Grundlagen europäischer Kultur zu wahren, blieb nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein hoffnungsvolles Bekenntnis wie das eingangs zitierte aus. Die Kulturwelt der italienischen Renaissance, die geistige Emanzipation Europas konnte ihm angesichts des historischen Trümmerhaufens nicht mehr als Paradigma im Kampf um den Erhalt westlicher Kultur dienen. Konsequenterweise schloß Olschki mit dem Genius seine Erforschung der italienischen Renaissance ab und wandte sich – mit Ausnahme einer kleinen Reihe von Dante-Studien – ausschließlich der Orientalistik zu. Aus dem Entsetzen über die Zerstörung Europas und der Frustration über dessen geringes Interesses an den Wahrern seiner 44 Ebd., S. 555. 45 Vgl. L. Olschki: »Humanitas«, in: La Bibliofilia 17 (1915/16), S. 321-331 u. ders., Struttura spirituale e linguistica del mondo neolatino, Bari: Gius, Laterza & Figli 1935. 46 L. Olschki: Italien, S. 417. 47 Ebd., S. 566.
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Kultur in der Emigration heraus fand er in den fünfziger Jahren seine »gelehrte Gegenwelten« nicht mehr in Europa sondern in Asien.
TARA FORREST
On the Significance of Extraterritoriality in Siegfried Kracauer’s Writings on Film and History*
I. In the years following the publication of Siegfried Kracauer’s Theory of Film. The Redemption of Physical Reality in 1960, the book came under fire by a number of critics, the reactions of whom were particularly hostile. Foremost among those analyses of Theory of Film which, as Miriam Hansen has argued in her introduction to the book, »assumed an unusually condescending tone« were Pauline Kael’s patronising account of Kracauer’s »German pedantry«, and Dudley Andrew’s dismissive references to the »utterly transparent« nature of the concerns addressed in what he describes as Kracauer’s »huge homogeneous block of realist theory«.1 Indeed, as revealed by Richard Corliss’ highly critical account of the book, it appears that Kracauer’s »irredeemable sin« lies in the perceived
* I would like to thank Suhrkamp Verlag and the Deutsches Literaturarchiv in Marbach am Neckar for permission to quote from unpublished materials contained in the Siegfried Kracauer Nachlaß. All translations from German language materials are my own. 1 Vgl. Miriam Hansen: »Introduction«, in: Siegfried Kracauer: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality [1960], Princeton: Princeton University Press, 1997, S. ix; Pauline Kael: »Is There a Cure for Film Criticism? Or: Some Unhappy Thoughts on Siegfried Kracauer’s Nature of Film«, in: Sight and Sound 31.2 (Spring 1962), S. 57; J. Dudley Andrew: Concepts in Film Theory, Oxford, New York: Oxford University Press 1984, S. 19 u. ders., The Major Film Theories: an Introduction, London, Oxford, New York: Oxford University Press, 1976, S. 106. Kracauer’s theory, Andrew argues, »comes down solidly, unmistakably, even fanatically« on the side of realism. Vgl. ebd., S. 129.
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extent to which, in focusing upon the significance of cinematic realism, he »manages to debase the potentialities of film«.2 What is interesting to note is the extent to which Kracauer himself actually anticipated the vehemence of such criticism, despite his own belief in the significance of the project. In a letter written to Rudolf Arnheim in the early stages of the book’s production, Kracauer claims that despite his feeling that he has »found something essential«, »the worst is that [his] whole outlook antagonises most people«, while in a letter written to his good friend Leo Löwenthal upon the completion of the project, Kracauer states that the book »will arouse violent controversies«, and that »the art-minded will, all of them, be against it«.3 One of the main sources of the antipathy expressed by the so-called »artminded« critics anticipated in Kracauer’s letter can be traced to the very specific criteria which he employs in his analysis of the properties and possibilities of the medium. What appears to have particularly inflamed the ire of his critics is the extent to which his delineation of these possibilities is based not upon a comprehensive analysis of cinema as it exists, but on his own conception of what he describes as the task of the medium to »assist [...] us in discovering the material world«.4 »Film«, Kracauer argues in the book, »renders visible what we did not, or perhaps even could not, see before its advent.« It enables us to »redeem this world from its dormant state« by allowing us to »experience it through the camera«.5 In contrast, however, to the claims of »naïve realism« which have been directed against the book, Kracauer’s analysis of the significance of the redemptive task of the medium is bound, not with its capacity to accurately re-present the state of the world as it is, but rather with the camera’s unique capacity to facilitate a mode of perception which is not inflected by the »ideas«, »value judgements«, and »desires« which ordinarily shape our perception and experience of the world.6 In this regard, Kracauer argues in a letter to Lucienne Astruc that 2 Vgl. Richard Corliss: »The Limitations of Kracauer’s Reality«, in: Cinema Journal 10.1 (Fall 1970), S. 22. Kael makes a similar point. Vgl. P. Kael: Is There a Cure, S. 64. 3 Vgl. S. Kracauer to Rudolf Arnheim, 14 September 1951, in: Kracauer Nachlaß, Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar [hereafter cited as Kracauer Nachlaß] u. S. Kracauer to Leo Löwenthal, 29 November 1959, in: Ingrid Belke/Irina Renz (Hg.), Siegfried Kracauer, 1889-1966, Marbacher Magazin 47, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1989, S.117. 4 In 1957 Kracauer described that »which is considered film here and today« as »very remote« from his own interests; vgl. S. Kracauer to L. Löwenthal, 6 April 1957, in: Kracauer Nachlaß. 5 S. Kracauer: Theory of Film, S. 300. 6 Vgl. S. Kracauer: »Tentative Outline of a Book on Film Aesthetics« [1949], in: Volker Breidecker (Hg.), Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky, Briefwechsel: 19411966, Berlin: Akademie 1996, S. 83. In recent years, Kracauer’s Theory of Film has been re-evaluated by critics who have sought to defend the book from the – at times – misleading claims made by the aforementioned critics. Vgl. M. Hansen: Introduction
EXTRATERRITORIALITY IN KRACAUER’S WRITINGS | 173
Theory of Film is a »philosophical venture which goes far beyond film«, while in a letter to Theodor W. Adorno, Kracauer claims that his analysis of cinema in the book functions only as a »pretext« (Vorwand) which enables a much broader exploration of certain aesthetic and philosophical questions.7 As I will explore in this essay, these questions revolve around the extent to which film – in circumventing what Kracauer describes as the highly »abstract« manner in which we ordinarily approach the world – can, in rejuvenating our capacity for perception, play a part in redeeming possibilities for change which have been discarded, and/or left behind by history. Although Kracauer’s analysis of the aesthetic criteria which would need to be harnessed in order for film to be able to contribute to such a task is outlined in great detail in Theory of Film, the broader philosophical and political significance of his argument is more comprehensively elaborated in his final work History: The Last Things Before the Last (which was completed posthumously in 1969 by Kracauer’s friend and associate Paul Oskar Kristeller).8 As revealed in a letter to Löwenthal, Kracauer’s »discovery« of the significance of the relationship between the concerns addressed in Theory of Film and History only occurred while preparing what was to become a chapter of the latter in 1961. »This essay«, Kracauer writes, »as I saw suddenly, is the direct continuation of my Theory of Film.« »The similarities are really amazing (verblüffend). I had gone in this direction completely unconsciously.«9
u. dies., »›With Skin and Hair‹: Kracauer’s Theory of Film, Marseille 1940, in: Critical Inquiry 19 (Spring 1993); Heide Schlüpmann: »Auf der Suche nach dem Subjekt des Überlebens«, in: dies., Ein Detektiv des Kinos. Studien zu Siegfried Kracauers Filmtheorie, Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1998 u. Gertrud Koch: »Space, Time, and Apparatus: The Optical Medium ›Theory of Film‹«, in: dies., Siegfried Kracauer – an Introduction, Princeton: Princeton University Press 2000. 7 Vgl. Siegfried Kracauer to Lucienne Astruc, 10 September 1, 1959 u. S. Kracauer to Theodor W. Adorno, 12 February 1949, in: Kracauer Nachlaß. Vgl. a. S. Kracauer to Rudolf Arnheim, 16 October 1960, in: Kracauer Nachlaß. Here he requests that Arnheim review Theory of Film for the Journal of Aesthetics or the Art Bulletin: »You are one of the very few people who really understand what I want to convey and therefore may lend words to my inmost conviction – that this book reaches far beyond film; that actually it concerns general aesthetics and our whole attitude toward life. And so on. You know what I mean.« Arnheim’s review of the book was published as »Melancholy Unshaped«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism (Spring 1963). Vgl. a. S. Kracauer to Wolfgang Weyrauch, 4 June 1962, in: Kracauer Nachlaß, where he describes his interest in film as »only a hobby« and a »means for making certain sociological and philosophical statements«. In this letter, Kracauer also asks Weyrauch not to introduce him as a »film man«, but as a »cultural philosopher«, a »sociologist«, and a »poet«. 8 Vgl. S. Kracauer: History: the Last Things Before the Last, Princeton: Markus Wiener Publishers 1995. 9 S. Kracauer to L. Löwenthal, 10 February 1961, in: Kracauer Nachlaß. Vgl. a. S. Kracauer to Erika Lorenz, 7 January 1962, in: Kracauer Nachlaß, in which he claims that the prologue to Theory of Film »points to [his] book on history«.
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In Kracauer’s »Introduction« to History, the significance of the relationship between the two books is further confirmed: »[R]ecently I suddenly discovered that my interest in history [...] actually grew out of the ideas I tried to implement in my Theory of Film. In turning to history, I just continued to think along the lines manifest in that book. And all the time I had not been aware of this but, rather, assumed that I was moving on new ground and thus escaping preoccupations which had kept me under their spell for too long a time. [...] I had discovered that I actually became absorbed in history not because it was extraneous to my drawnout previous concerns but because it enabled me to apply to a much wider field what I had thought before.«10
One of the key concerns which binds the books together is Kracauer’s analysis of the significance of an alienated mode of perception which he describes as »extraterritorial«. As Karsten Witte has pointed out, Kracauer’s employment of the term first emerged in the chapter »Die Heimat der Heimatlosen« in Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (a book which Kracauer wrote between 1934 and 1936 under very difficult conditions in exile in France).11 In a passage in this chapter which anticipates his use of the term in History many years later, Kracauer describes the life spent by dandies and exiles in the Parisian boulevards of the 1840s as »extraterritorial« (extraterritorial) – owing to the detached distance which they as »outsiders« maintained in relation to the existing order.12 More than twenty years later, the relationship between exile and »extraterritoriality« emerges again in Kracauer’s analysis (in History) of the transformation in one’s perceptual and experiential relationship to the world provoked by the experience of exile. Once the exile has settled elsewhere, Kracauer writes, »all those loyalties, expectations, and aspirations that comprise so large a part of his being are automatically cut off from their roots. His life history is disrupted, his ›natural‹ self relegated to the background of his mind. To be sure, his inevitable efforts to meet the challenges of an alien environment will affect his outlook, his whole mental makeup. But since the self he was continues to smolder beneath the person he is about to become, his identity is bound to be in a state of flux; and the odds are that he will never fully belong to the community to which he now in a way belongs. (Nor will its members readily think of him as one of theirs.) In fact, he has ceased to ›belong‹. Where then
10 »This discovery«, Kracauer continues, »made me feel happy for two reasons: it unexpectedly confirmed the legitimacy and inner necessity of my historical pursuits; and by the same token it justified, in my own eyes and after the event, the years I had spent on Theory of Film.« Vgl. S. Kracauer: History, S. 3f. 11 Vgl. Karsten Witte: »Siegfried Kracauer im Exil«, in: Exilforschung: Ein Internationales Jahrbuch 5 (1987), S. 138 u. S. Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976. 12 Vgl. ebd., S. 74f.
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does he live? In the near-vacuum of extra-territoriality [...] the exile’s true mode of existence is that of a stranger.«13
As German-Jews, Kracauer and his wife Lili had experienced first hand the effects of exile. Within days of the Reichstag fire of 27 February 1933, the Kracauers fled Berlin to France, where they lived in Paris, and later Marseilles, between 1933 and 1941. As revealed in letters written by Kracauer during this period, the years spent in France (during which time he was interned for a period of two months in camps outside of Paris) were extremely difficult, to say the least.14 In April of 1941 – following a period of nine months spent in »fear and misery« in Marseilles – Siegfried and Lili Kracauer (with the help of Leo Löwenthal and Meyer Shapiro) emigrated to the United States, where they settled in New York until their respective deaths in 1966 and 1972.15 Despite the many difficulties posed by exile, Kracauer’s own experience of »extraterritoriality« clearly had a considerable impact on the development of his conception of a mode of perception through which one’s perspective of the world could be fundamentally altered.16 Although the political significance of Kracauer’s conception of »extraterritoriality« is rendered most apparent in his analysis (in History) of a perceptual state through which one’s conception of both the promise of the past, and the possibilities of the future could be radically transformed, his analysis of the role that film could play in rejuvenating our capacity for perception emerges most clearly in his delineation, in Theory of Film, of the alienating effects produced by the camera.
II. Kracauer argues in the »Preface« to Theory of Film that his analysis of the possibilities of the medium is based »upon the assumption that film is essentially an 13 S. Kracauer: History, S. 83f. 14 Vgl. z.B. S. Kracauer to Walter Benjamin, 24 February 1935, in: W. Benjamin: Briefe an Siegfried Kracauer (Mit vier Briefen von Siegfried Kracauer an Walter Benjamin), hg. v. Rolf Tiedemann u. Henri Lonitz, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1987, S. 82-5. 15 Vgl. S. Kracauer to T. W. Adorno, 12 February 1949, in: Kracauer Nachlaß. For an account of the difficulties faced by Löwenthal and Meyer Shapiro in seeking to secure the Kracauers’ emigration to the United States, vgl. L. Löwenthal, »As I Remember Friedel«, in: New German Critique 54 (Fall 1991), S. 11f. 16 Adorno has argued that Kracauer’s own conception of himself as an »outsider« did not stem solely from his experience of exile, but was also the product of an unhappy childhood during which he was a victim of antisemitism; vgl. T. W. Adorno, »The Curious Realist: On Siegfried Kracauer«, in: New German Critique 54 (Fall 1991), S. 161. Vgl. a. Martin Jay, »The Extraterritorial Life of Siegfried Kracauer«, in: ders.: Permanent Exiles: Essays on the Intellectual Migration from Germany to America, New York: Columbia University Press 1986, S. 153f.
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extension of photography«.17 Kracauer’s conception of the »nature« and »task« of photography is, however, a very specific one, which is bound with his analysis of the camera’s unique capacity to »record and reveal physical reality«.18 The history of photography, he claims, can be divided into two opposing groups – one of which is characterised by »realist« traits, the other by »formative« tendencies. In contrast to the »artist photographers« of the »formative« camp (who are defined by their attempts to produce »artistic creations« which reflect »painterly styles and preferences«), Kracauer argues that the »realist« photographers remain true to the medium insofar as they are driven by a desire to capture »nature in the raw«.19 The conception of »nature« which emerges from Theory of Film is, however, not bound with the natural world. As Kracauer himself points out, throughout the book the term is used interchangeably with »physical reality«, »material reality«, »physical existence«, »actuality«, and »camera reality«, in order to designate photographic scenes which – »alienated from ego-involved frames of reference« – transform our conception and experience of the world.20 The camera, Kracauer states, has an affinity for that which is »fortuitous« and »indeterminate«, and so if photographs are to be »true to the medium«, then »it would seem natural to imagine the photographer as a ›camera-eye‹«, an »indiscriminating mirror« who is »devoid of formative impulses«.21 The figure who had the greatest influence on Kracauer’s conception of the significance of the camera’s capacity to »transcend human vision« was Marcel Proust, whose examination of the alienating effects of photography in In Search of Lost Time had an important impact on the development of the conception of »extraterritorial« perception which stands at the heart of both Theory of Film and History.22 The passage in In Search of Lost Time to which Kracauer refers most frequently appears in volume three of the work, and revolves around the narrator Marcel’s chance encounter with his grandmother, who – »absorbed in thoughts« in the drawing-room – is unaware that her grandson has arrived home. Upon entering the room, Marcel – not having anticipated his grandmother’s presence – is suddenly transformed into a »spectator of [his] own absence«, whose alienated view of the scene, he claims, is comparable to that of a »stranger«, a »witness«, or a »photographer«.23 Marcel argues: 17 Vgl. S. Kracauer: Theory of Film, S. xlix. 18 Ebd., S. 27f. 19 Vgl. ebd., S. 12, 6 u. S. 18. For a more detailed account of the differences which separate the »formative« and »realist« camps vgl. ebd., S. 3-23. 20 Vgl. ebd., S. 28 u. S. Kracauer: Tentative Outline, S. 84. 21 Vgl. S. Kracauer: Theory of Film, S. 19f. u. 14f. 22 Vgl. S. Kracauer: »Entwurf über das Verhältnis direkter visueller Erfahrung und der durch Photographie vermittelten« [undated] u. S. Kracauer to L. Astruc, 10 September 1959, in: Kracauer Nachlaß, in which he describes the prominent role that Proust’s ideas occupy in Theory of Film. 23 Marcel Proust: In Search of Lost Time, London: Vintage 1996, Bd. 3, S. 155f.
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»The process that automatically occurred in my eyes when I saw my grandmother was indeed a photograph. We never see the people who are dear to us save in the animated system, the perpetual motion of our incessant love for them, which, before allowing the images that their faces present to reach us, seizes them in its vortex and flings them back upon the idea that we have always had of them, makes them adhere to it, coincide with it. [...] I, for whom my grandmother was still myself, I who had never seen her save in my own soul, always in the same place in the past through the transparency of contiguous and overlapping memories, suddenly [...] saw, sitting on the sofa beneath the lamp, red-faced, heavy and vulgar, sick, day-dreaming, letting her slightly crazed eyes wander over a book, an overburdened old woman whom I did not know.«24
Proust’s analysis of the rejuvenation in the capacity for perception which emerges from this state of »self-effacement« is not limited, however, to this passage in the book, but is a concern which winds its way like a thread through his entire novel.25 Like Kracauer, Proust’s more general concern lies with the extent to which the memories, value judgements, desires, and expectations which colour and shape our perception of the world prohibit our capacity to conceive of both the promise of the past – and the possibilities of the future – in different terms. »[O]ur eyes«, Marcel claims, »charged with thought, neglect, as would a classical tragedy, every image that does not contribute to the action of the play and retain only those that may help to make its purpose intelligible.«26 While in a passage which anticipates Kracauer’s criticism (in History) of the formativist impulse of »historicism«, Marcel argues that our conception of the possibilities of the present »languish« in the anticipation of a future which the will constructs with fragments of the present and the past, fragments whose reality it still further reduces by preserving of them only what is suitable for the utilitarian, narrowly human purpose for which it intends them.27 This passage is significant, not only because of the extent to which it reveals the important influence that Proust had on Kracauer’s analysis of the shortcomings of »historicism« (the details of which will be elaborated in part three of this essay) but because of the degree to which it foreshadows the criteria which Kracauer employs, in Theory of Film, in his criticism of the utilitarian thrust of much narrative oriented cinema. As per his analysis of the history of photography, Kracauer argues that the history of cinema is also marked by a split between »realist« and »formative« tendencies. This split, he claims, can be traced back to the beginnings of the cin24 Ebd., S. 156f. Kracauer quotes this passage in more detail. Vgl. S. Kracauer: Theory of Film, S. 14. 25 Vgl. S. Kracauer: History, S. 84 sowie z.B. Proust’s description of the painter Elistir, and the effort which he made to »strip himself [...] of every intellectual notion« when painting his subjects. Vgl. M. Proust: In Search of Lost Time, Bd. 2, S. 485. 26 M. Proust: In Search of Lost Time, Bd. 3, S. 156. 27 Vgl. ebd., Bd. 6, S. 224.
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ema and, more specifically, to the divergent conceptions of the possibilities of the medium embodied in the films of Georges Méliès and Louis Lumière. In a similar vein to the realist photographers, Kracauer argues that the »bulk of [Lumière’s] films« (he cites Arrival of a Train, Lunch Hour at the Lumière Factory and Baby’s Breakfast as examples) »recorded the world about us for no other purpose than to present it«. Lumière’s films, he claims, are »detached records« of »nature caught in the act«. Their significance lies in the extent to which they reveal to us the state of the world as captured by the objective eye of the camera.28 In stark contrast to Lumière’s »photographic realism«, Kracauer argues that Méliès’ films are organised around the creation of illusion and fantasy. Like the artist-photographers with whom Méliès is compared, Kracauer claims that – in contrast to the presentation of everyday scenes and phenomena for which Lumiére had become famous – Méliès’ films are based upon »imagined events« which have been staged according to the requirements of »fairytale« narratives and »theatrical« plots.29 This distinction which Kracauer draws – between filmmakers who seek to »exhibit and penetrate physical reality for its own sake«, and those who employ the camera in aid of the creation of a fictional story or universe – is not limited to his discussion of Méliès and Lumière, but is a distinction which forms the basis of his analysis of the realist/cinematic, and formative/theatrical camps into which he divides the history of the medium.30 In contrast to the »open-ended« quality of realist films (which focus upon such »cinematic« subjects as »trees«, »waves«, »buildings«, »passers-by«, and »inanimate objects«), Kracauer argues that the emphasis which the formative/theatrical film places upon storytelling runs counter to the promise and capacities of the medium.31 Drawing on Proust’s delineation of the shortcomings of the utilitarian structure of classical tragedy, Kracauer argues that what is troubling about the theatrical film is the extent to which its tightly woven narrative structure is organised around the creation of a »whole with a purpose«. Every element of the theatrical film, Kracauer writes, »has the sole function of serving that purpose«, and images of the environment, of faces, gestures, and inanimate objects are shown only insofar as they aid, or feed directly into the unfolding of the story.32 Echoing Sergei Eisenstein’s and Alberto Calvalcanti’s concerns (as elaborated in the 1920s and 1930s) about the impact that sound would have on the development of filmmaking, Kracauer argues that the emphasis which the theatrical 28 Vgl. S. Kracauer: Theory of Film, S. 30f. 29 Vgl. ebd., S. 32. 30 Vgl. ebd., S. 69 u. 38: Kracauer argues that »in strict analogy to the term ›photographic approach‹ [...] the cinematic approach materializes in all films which follow the realistic tendency«. 31 Vgl. ebd., z.B. S. 27 u. 170. 32 Vgl. ebd., S. 221 u. 223.
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film places upon dialogue undermines the properties and possibilities of the medium.33 »At the beginning of sound«, he writes, «the screen went ›speech-mad‹, with many film makers starting from the ›absurd‹ assumption that in order to make a sound film it is only necessary to photograph a play.«34 For Kracauer, this emphasis on the spoken word (and the foregrounding of the character with which it is associated) results not only in the abandoning of the inanimate world as a subject, but marks a shift in the history of cinema which he describes as »extremely dangerous«. What troubles him, in particular, about this foregrounding of dialogue and character is the extent to which it »opens up a region of discursive reasoning, enabling the medium to impart [...] those rational or poetic communications« which – because they »do not depend upon pictorialization to be grasped and appreciated« – are not only alien to, but fail to engage the capacities of the medium.35 In contrast to the »utilitarian« structure of the formative/theatrical film, the film practice for which Kracauer argues would be organised around the inclusion of material which has not been »stripped of [its] multiple meanings«.36 The director, Kracauer states, must »alienate« each shot »from any preconceived meaning« in order that each image may »exert its own independent impact« upon the spectator.37 He argues that what is significant about the »suggestive indeterminacy« of images which have not been pressed into the service of narrative action is the extent to which they prompt the spectator to draw upon his or her imagination in an attempt to engage with the image on screen. In a manner reminiscent of Charles Baudelaire’s delineation of imagination as a »faculty« which enables one to apprehend »the intimate and secret relations of things, the correspondences and analogies«, Kracauer argues that the more the imagination of the viewer »is kindled« by the images on screen, the more likely the film will be to »realize the potentialities of the medium«.38 In keeping, however, with his analysis of the significance of the camera’s capacity to extend the spectator’s vision beyond the realm of subjective intention, Kracauer argues that the »correspondences« evoked by the »indeterminacy« of the image are not consciously, but unconsciously generated. In stark contrast to the cultivation of »discursive reasoning« with which he associates the theatrical film, Kracauer argues that the images which the spectator encounters in this con33 Vgl. z.B. Sergei M. Eisenstein/Vsevolod I. Pudovkin/Grigori V. Alexandroff: »The Sound Film: A Statement from USSR« in: James Donald/Laura Marcus/Anne Friedberg (Hg.), Close Up 1927-1933: Cinema and Modernism, Princeton: Princeton University Press 1998, S. 83f. 34 S. Kracauer: Theory of Film, S. 104, who is quoting Cavalcanti here. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 69. 37 Vgl. S. Kracauer: Tentative Outline, S. 87. 38 Vgl. Charles Baudelaire: »Further Notes on Edgar Poe«, in: ders., Selected Writings on Art and Literature, hg. v. Patrice Édouard Charvet, London: Penguin Books 1992, S. 199 u. S. Kracauer: Theory of Film, S. 203.
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text »involve not so much his power of reasoning as his visceral faculties«.39 Pointing to Proust’s analysis of the significance of the experience of the past in the present evoked by involuntary memory as his example, Kracauer states that realist films are »particularly fit to function as [...] ignition spark[s]« which »touch off« a »flight of associations [in the spectator] which no longer revolve around their original source«.40
III. Kracauer’s reference to Proust in his analysis of the spectatorial relationship cultivated by realist cinema is significant, particularly when considered in the light of the sharp distinction which Proust draws between the different experiences of the past evoked by voluntary and involuntary memory. In In Search of Lost Time, Marcel claims that the »desiccated« and »insubstantial« images both preserved and evoked by voluntary memory (which he otherwise refers to as »the memory of the intellect«) do not preserve anything of the »reality« of the past. Located beyond the grasp of the intellect, he argues that the true past »lies hidden« within »some material object« or »in the sensation which that material object will give us« – the location of which can only be discovered by chance.41 This is because the reality of the past consists of impressions (of colours, scents, feelings and sounds) which have been separated by the intellect from the events or moments with which they were associated, because »it could make nothing of them for its own rational purposes«.42 For Marcel, the »essential character« of these impressions (which, like »a propitious breeze«, blow in from the past) is that they cannot be recalled at will, and this – he claims – is the »mark of their authenticity«.43 In History, Kracauer argues that the »consequences« of Proust’s analysis of this distinction between voluntary and involuntary recollection (and the impact which an understanding of this distinction could have on our capacity to conceive of the differences between a historicist and realist historiographical practice) »have not yet been realized«.44 Although traces of the impact which Proust’s distinction had on Kracauer’s thinking are apparent throughout Theory of Film, Proust’s analysis of the extent to which the past is »made arid by the intellect« which seeks to shape it according to »its own rational purposes« is rendered more 39 S. Kracauer: Theory of Film, S. 159. 40 Ebd., S. 68f. u. 165. 41 Vgl. M. Proust: In Search of Lost Time, Bd. 1, S. 51. See also Proust’s analysis of the differences between voluntary and involuntary memory in his letter to Antoine Bibesco of 1912. Vgl. Mina Curtiss (Hg.), Letters of Marcel Proust, New York: Random House 1949, S. 226f. 42 M. Proust: In Search of Lost Time, Bd. 6, S. 221. 43 Ebd., Bd. 1, S. 187 u. 232. For Kracauer’s account of this distinction vgl. S. Kracauer: History, S. 160f. 44 Ebd., S. 160.
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significant when read alongside Kracauer’s analysis (in History) of the task of a realist historiographical practice.45 Although the perception of the past which Kracauer associates with this practice is not determined by impressions evoked by involuntary memory, what defines his conception of a realist historiography is the extent to which the historian is able to engage with historical data in a manner which is not influenced by pre-established intellectual notions about the period. In a similar vein to his analysis of the formative/realist split which characterises his delineation of the history of film and photography, Kracauer argues in History that the history of historiography can also be divided into two groups – one of which is characterised by formative traits, the other by realist tendencies. As per his analysis of the »storytelling bias« of the theatrical film, Kracauer argues that the historians associated with what he variously refers to as the »formativist«, »historicist«, and/or »narrative« camp are characterised by their attempts to construct an appearance of continuity out of a series of incommensurate and discontinuous events, by »synthesizing« a select collection of past occurrences into »a succession of events which lead straight to the present«.46 »The result«, Kracauer argues, »is a more or less closed success story which [...] not only spawns falsifying hindsight but further tightens the bonds between the elements of the narrative, thereby smoothing away all the existing rifts, losses, abortive starts, [and] inconsistencies.«47 Citing the work of Benedetto Croce and R. G. Collingwood as examples, Kracauer argues that what underlies the work of the formativist historians is a tendency to construct history according to the concerns and assumptions of the present. Croce’s »dictum«, he writes, is that »only an interest in the life of the present can move one to investigate past fact«, while Collingwood describes the historian as a »son of his time who ›re-enacts‹ the past out of his immersion in present-day concerns«.48 What troubles Kracauer about this »present interest« theory of the task of historiography is the extent to which the present is conceived of as the endpoint and goal of the past, and »historical truth« as a mere »variable of present interest«.49 Underpinning this conception of historiography is an understanding of history which conceives of the relationship between the past and the present as a continuous and linear process, within which each period or event is represented as another step in history’s march of progress towards the present. Citing Karl Marx’s conception of historical materialism as an example, Kracauer argues that 45 46 47 48
Vgl. M. Proust: In Search of Lost Time, Bd. 6, S. 224 u. 221. S. Kracauer: History, S. 183 u. 170. Ebd., S. 170. Ebd., S. 63, where he quotes Croce and Collingwood. Vgl. z.B. Benedetto Croce: History: Its Theory and Practice, New York: Russell and Russell 1960 u. Robin G. Collingwood: The Idea of History, New York: Galaxy Books 1956. 49 S. Kracauer: History, S. 64. For a more detailed account of Kracauer’s analysis of the »present interest« theory of the task of historiography vgl. ebd., S. 62-79.
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what is troubling about the conception of history as progress which stands at the heart of Marx’s project is the extent to which history is imbued with the »kind of necessity« ordinarily associated with the »workings of nature«.50 For Kracauer, what is reactionary about this evolutionary understanding of history is not only the extent to which it is »bound up with the idea of chronological time as the matrix of a meaningful process«, but the degree to which it precludes one’s capacity to conceive of the possibilities of the future in terms which would challenge the historicist’s delineation of history as progress.51 The alternative conception of the task of historiography outlined by Kracauer in History is built upon his analysis of the significance of realist photography as elaborated in Theory of Film. The task of the realist historiographer, he argues, is to explore the past in the same manner in which the realist photographer explores and penetrates physical reality. In stark contrast to the formative aspirations of the historicists (who seek to shape the past in the image of their own conception and understanding of the period), Kracauer argues that what is crucial to his own conception of the charge of historiography is the extent to which the historian is »able to efface his self in his contacts with the given data«.52 He argues that it is only by »bracketing« himself off from the expectations and assumptions which had previously shaped his understanding of a certain period, that historical data will be able to speak to the historian anew on its own terms. Although Kracauer frequently refers to Marcel’s alienated encounter with his grandmother in his analysis of the significant role that this state of »selftranscendence« occupies in his delineation of the task of a realist historiography, it is the figure of the exile who serves as the model for Kracauer’s conception of the »extraterritorial« state of the realist historian. Like the exile (who, in confronting an »alien environment«, finds himself »cut off« from the expectations and assumptions which had previously »comprise[d] so large a part of his being«) Kracauer argues that »[i]t is only in this state of self-effacement, or homelessness that the historian can [effectively] commune with the material of his concern«.53 »A stranger to the world evoked by [his] sources«, Kracauer states that the historian is »faced with the task – the exile’s task – of penetrating its outward appearances, so that he may learn to understand that world from within.«54 In contrast to the practices of the formativist camp, he argues that the manner in which this is achieved is not via the »outward projections« of the his-
50 Ebd., S. 36. 51 Vgl. ebd., S. 150 u. 37: The »identification of history with nature«, Kracauer writes, »necessarily yields laws which, by definition, not only unduly minimize the role of contingencies of history but, more important, preclude man’s freedom of choice, his ability to create new situations.« 52 Ebd., S. 213. 53 Ebd., S. 83f. 54 Ebd., S. 84. Vgl. a. ebd. Kracauer’s analysis of those »great historians who owe much of their greatness to the fact that they were expatriates«.
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torian, but rather through a process within which he is transformed into a »receiving instrument«.55 »The most promising way of acquiring such knowledge«, Kracauer writes, is for the historian »to heed Schopenhauer’s advice to the art student«: Anybody looking at a picture, Schopenhauer claims, should behave as if he were in the presence of a prince and respectfully wait for what the picture may or may not wish to tell him; for were he to talk first he would only be listening to himself. Waiting in this sense amounts to a sort of active passivity on the historian’s part. He must venture on the diverse routes suggested to him by his intercourse with the evidence, let himself drift along, and take in, with all his senses strained, the various messages that happen to reach him.56 This state of »active passivity« (which Kracauer argues is »a necessary phase of the historian’s work«57) bears a number of similarities to his analysis, in Theory of Film, of the spectatorial state cultivated by realist cinema. Like the viewer of realist film, Kracauer argues that the realist historian’s perceptual and cognitive relationship to his material is characterised by a state of »productive absentmindedness«. The historian, he writes, »opens himself up to the suggestions of his sources« which »ferment in his mind« and, in doing so, precipitate »a broadening of its scope«.58 In a passage reminiscent of Walter Benjamin’s analysis of the conditions under which a radical historical consciousness could manifest itself, Kracauer (quoting Isaiah Berlin) argues that the encounters with the past experienced by the historian in this context »resemble flashes illumining the night« which overwhelm him with a »shock of [...] recognition«.59 Like Benjamin, Kracauer argues that this »shock to the system« is borne out of the perception of a moment in which the historicist’s linear organisation of the past is burst asunder – laying bare not only the »indeterminacy« of historical events, but the extent to which »the idea of a progress of humanity is untenable«.60 »The upshot«, Kracauer writes, »is that the period [with which the historian is concerned] [...] disintegrates before [his] eyes. From a meaningful spatiotemporal unit it turns into a kind of meeting place for chance encounters« within which the possibilities of both the past and the future can be renegotiated and re-explored.61
55 56 57 58 59
Ebd., S.103 u. 85. Vgl. ebd., S. 84. Ebd., S. 85. Ebd., S. 92. Ebd., S. 101. Vgl. a. W. Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. v. R. Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 693-704 sowie S. Kracauer to R. Tiedemann, 21 February 1966, in: Kracauer Nachlaß, where he claims that Benjamin’s thoughts on history are closely related to his own. 60 S. Kracauer: History, S. 150. 61 Ebd.
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In contrast to the tightly organised, linear conception of history outlined by the historicists (in which the present is conceived of as the goal of the past) Kracauer argues that history »is the realm of contingencies, of new beginnings«, and that it is the realist historian’s task to bring to light those »possibilities which [the historicists] did not see fit to explore«.62 If, as Kracauer himself writes, the concerns which he elaborated in History actually »grew out of the ideas [he] tried to implement in Theory of Film«,63 then it is because his delineation of the promise of cinema rests not (as his critics have suggested) on the medium’s capacity to affirm the state of the world »as it is«, but on the extent to which film – in rejuvenating our capacity for perception – can play a part in reanimating our capacity to conceive of the possibilities of both the past and the future in different terms.
62 Ebd., S. 31 u. 6. 63 Ebd., S. 3.
LUDGER SCHWARTE Hannah Arendt. Totale Herrschaft, biographisches Experiment und die Zukunft politischen Denkens
I. Geschichte als Asyl Für Hannah Arendt ist die Herleitung politischen Denkens aus geschichtlichen Quellen zugleich ein Asyl und eine Ressource. In den Krisenmomenten der Geschichte, vor den Revolutionen, habe stets eine Rückkehr der eigentlichen Politik mit einer Rückwendung an die Antike begonnen. Arendts eigene Beschäftigung mit der Antike versteht sich zum einen als der Versuch, die Modelle der neuzeitlichen Revolutionäre zu rekonstruieren, zum anderen aber auch als eine eben solche Rückkehr zur Politik in einem Moment der Krise. Die Krise rührte im Fall der neuzeitlichen Revolutionen daher, daß »die absolute Monarchie so absolut geworden war, daß sie sich von allen anderen Feudalmächten, einschließlich der Kirche, emanzipieren konnte«.1 Für Hannah Arendt ist die Krisenerfahrung einer absolut beherrschten Gegenwart Anlaß für die Frage nach der Möglichkeit politischen Handelns. Die Rückbesinnung auf die Antike ist in dieser Situation zugleich ein Ausweichen und ein Eingreifen. Denn während eine absolut beherrschte Gegenwart den Widerstand nur aus der Erinnerung an vergangene Freiheitsspielräume gewährt, die als Modell und damit als nach wie vor möglich gedacht werden, bietet die Arbeit an der Geschichte zugleich ein Asyl, insofern sie »der Flucht von der Erde in das Universum und der Flucht aus der Welt in das Selbstbewußtsein« die Ursprünge und historischen Kontingenzen aufzeigt.2
1 Hannah Arendt: Ich will verstehen, München: Piper 1996, S. 104. 2 Vgl. H. Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben [1958], München: Piper 1967, S. 15.
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Kann diese Flucht als politischer Akt begriffen werden? Entfaltet der Rückzug ins Verstehenwollen überhaupt eine Wirkung in einer derart dramatischen Situation? »Worauf es mir ankommt, ist der Denkprozeß selber. Wenn ich das habe, bin ich persönlich ganz zufrieden. Wenn es mir dann gelingt, es im Schreiben adäquat auszudrücken, bin ich auch wieder zufrieden. Jetzt fragen Sie nach der Wirkung. Es ist das – wenn ich ironisch reden darf – eine männliche Frage. Männer wollen immer furchtbar gern wirken: aber ich sehe das gewissermaßen von außen. Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen [...], dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.«3
An Scholem schrieb sie, sie habe sich in der Jugend weder für Politik noch für Geschichte interessiert.4 Das hat sich, so ihre Erklärung, erst geändert am 27. Februar 1933, mit dem Reichstagsbrand und den darauf folgenden illegalen Verhaftungen, mit den »Schutzhaften«, bei denen Menschen in Gestapo-Keller und in Konzentrationslager gesperrt wurden. »Dies war für mich ein unmittelbarer Schock, und von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt. Das heißt, ich war nicht mehr der Meinung, daß man jetzt einfach zusehen kann«, erklärt sie in einem Interview vom Oktober 1964.5
II. Biographie Wann ist das Zuschauen, die Vita Contemplativa, nicht mehr genug? Wir sind auf das Handeln in einer pluralen Mitwelt angewiesen, um uns von der Vergangenheit zu befreien, uns einer Zukunft zu versichern, und um überhaupt erst eine eigene Identität zu konstituieren. Wir können handeln, weil wir vergeben und versprechen können.6 Nicht mehr bloß zuzuschauen, sondern aktiv zu handeln, heißt daher, sich selbst in der Vielheit der anderen zu identifizieren. Diese Identitätsbildung ist keine platonische Selbstbeherrschung, sondern ein Prozeß politischen Handelns. Wo politisches Handeln unterbunden wird, kann es keine Identität und keine Befreiung geben. Jede Biographie ist aber auch ein Lernprozeß, nicht notwendigerweise schriftlich niedergelegt, sondern vielmehr eingeschrieben in den Körper: die Ausbildung eines Habitus. In diesen Habitus geht die gesellschaftliche Abrichtung von Zeit und Verhaltensstrukturen mit ein. Die Biographie ist die systematische Organisation von Erfahrungen und eine Äußerung. Sie wählt Ereignisse aus und stellt Verknüpfungen zwischen ihnen her, sie begründet ihr Eintreten und gewährleistet ihre Kohärenz. So werden Er3 4 5 6
H. Arendt: Ich will verstehen, S. 46f. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 48. Vgl. H. Arendt: Vita Activa, S. 302.
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eignisse als Ursachen oder, häufiger noch, als Zwecke gesetzt. Die Biographie ist die Inkorporation von Strukturen des Handelns abhängig von der klassen- und familienspezifischen Ursprungssituation7, sie ist eine Lebensäußerung innerhalb eines sozialen Gefüges. Die Diskursivierung des Lebens, angefangen mit dem Eintrag in Archive, produziert darüber hinaus eine neue Beherrschbarkeit.8 Als typisch neuzeitliche Technik knüpft die Biographie das diskursive Band zwischen dem Leben und der staatlichen Macht.9 Der Delinquent unterscheidet sich durch die Biographisierung von bloßen Rechtsbrechern auch darin, daß er nicht bloß Urheber einer Tat, sondern an sein Verbrechen durch ein Bündel komplexer Fäden (Instinkte, Triebe, Tendenzen, Charakter) geknüpft ist. Was bei der geglückten Tat die Person, ist beim Delinquenten der kriminelle Charakter in seiner Zwangslogik. Obschon Hannah Arendts Terminologie weitgehend die aristotelischen Vorstellungen von Charakter und Personalität des Handelns übernimmt, liegt bei ihr doch die Person nicht der Tat gewissermaßen zuvor, sondern emergiert erst in sozialen Geweben im Laufe von Handlungsfolgen. Die Person ist kein Autor, der seine eigene Lebensgeschichte lediglich auszuformulieren hätte, sondern das Gesicht, das aus den Zufällen der Biographie geprägt wird. Nur die Unabsehbarkeit der Folgen einer Handlung erzeugt eine Geschichte. Alle Gewißheit, auch die Todesgewißheit, ist dafür nebensächlich. Weil wir in eine spannende Geschichte verstrickt sind, deren Ausgang wir nicht kennen, verhalten wir uns keineswegs 7 Vgl. Pierre Bourdieu: Esquisse d’une théorie de la pratique [1972], Paris: Seuil 2000, S. 285. 8 Giorgio Agamben hat bereits darauf hingewiesen, daß Foucaults Konzeption der Biopolitik in Hannah Arendts Vita Activa einen direkten Vorläufer hat, obschon Foucault nie auf sie Bezug genommen hat. Bereits Ende der fünfziger Jahre habe Arendt »den Prozeß analysiert, der den homo laborans und mit ihm das biologische Leben zunehmend ins Zentrum der politischen Bühne der Moderne rückt. Sogar die Veränderung und den Niedergang des öffentlichen Raumes hat Hannah Arendt auf diesen Vorrang des natürlichen Lebens vor dem politischen Handeln zurückgeführt.« Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 13f.: Das Eintreten der zoé in die Sphäre der Polis, die Politisierung des nackten Lebens bilde das entscheidende Ereignis der Moderne. Hannah Arendts Analyse der totalitären Macht fehle eine biopolitische Perspektive, während Foucault seine Untersuchungen nie auf das »Feld schlechthin der modernen Biopolitik [...], das Konzentrationslager und die Struktur der großen totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts« verlegt habe. 9 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 324 (u. Anm. 68): »Die Einführung des ›Biographischen‹ ist von großer Bedeutung in der Geschichte des Strafwesens, weil sie den ›Kriminellen‹ vor dem Verbrechen und letzten Endes unabhängig vom Verbrechen schafft. Und weil von da aus eine psychologische Kausalität die juristische Zurechtweisung von Verantwortung begleitet und durcheinanderbringt. Man begibt sich damit ins Labyrinth der Kriminologie, aus dem man heute noch längst nicht herausgekommen ist: jede determinierende Ursache, welche die Verantwortung nur verringern kann, zeichnet den Urheber des Rechtsbruchs mit einer um so ungeheuerlicheren Kriminalität und macht um so strengere Straf- und Besserungsmaßnahmen notwendig [...].«
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so, als warteten wir nur die schließliche Vollstreckung des Todesurteils ab.10 Das ursprünglichste Produkt des Handelns ist also nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele, sondern nicht intendierbare Geschichten, die sich ergeben. Diese können in Urkunden und Denkmälern verzeichnet werden, sind aber nicht Produkte eines Autors. Um so mehr hängen sie von anderen Akteuren und von Äußerungs- und Registrationstechniken ab. Lebensgeschichten sind Muster, die in ein Bezugsgewebe von Lebensfäden geschlagen werden und den Menschen enthüllen.11 »Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens, dessen Erscheinen und Verschwinden weltliche Ereignisse sind, besteht darin, daß es selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem menschlichen Leben zukommt und die, wenn sie aufgezeichnet, also in eine Biographie verdinglicht wird, als ein Weltding weiter bestehen kann. Von diesem Leben hat Aristoteles gehandelt (Politik 1254 a 7). Denn Handeln und Sprechen [...] sind tatsächlich die beiden Tätigkeiten, die am Ende immer eine Geschichte ergeben, d.h. einen Vorgang, der, wie zufällig und ungefähr in seinen Einzelereignissen und Ursachen er auch immer sich ausnehmen mag, doch schließlich genug Kohärenz aufweist, um erzählt werden zu können.«12
Eine bestimmte Struktur mitmenschlicher Beziehungen, eine künstliche Welt ist die »vorpolitische und prähistorische Bedingung dessen, daß es überhaupt so etwas wie Geschichte im Dasein der Menschheit gibt«.13 Sie ist die äußere Bedingung für die Geburt, für das Auftreten von etwas. Naturvorgänge kennzeichnet ein unermüdlicher Kreislauf, dessen Kreisen und Schwingen keinen Platz für Geburt und Tod läßt. Ebenso wie Wachstum und Verfall sind Geburt und Tod weltliche Ereignisse. Erst wenn Naturvorgänge in die Menschenwelt eintreten, erst wenn Natürliches als Einzelwesen in unsere künstliche Welt versetzt und betrachtet wird, können sie, wie das Herstellen, Anfang und Ende haben.
III. Experiment Die Herstellung dieser Auftrittsbedingungen soll aber nicht dem Ereignis vorgreifen. Die Biographie, von der Hannah Arendt spricht, ist keine Aufzeichnungsapparatur von Lebenskurven. Eine Handlung, die sich ereignet, kann von dem Willen, sie aufzuzeichnen, zu analysieren und zu verstehen, völlig zum Verschwinden gebracht werden. Das weitergehende Umreißen und Untergliedern der Handlung, das Systematisieren einer Wirkung in Mittel und Zwecke als Krite10 Vgl. H. Arendt: Vita Activa, S. 239. 11 Vgl. ebd., S. 226. Auch hier antizipiert Arendts Ablehnung des Autors zugunsten eines »Gewebes« viel von Foucaults späterer Position. 12 Ebd., S. 116. 13 Ebd., S. 227.
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rium des Gelingens, und im engeren Sinne die Überformung des Ereignisses durch die Einrichtung eines Experimentaufbaus, der Beobachtbarkeit durch Quantifikation herstellt, macht das qualitativ Einzigartige der Handlung unsichtbar: Obschon die Existenz des Ziels meiner Handlung erst durch die Handlung hervorgebracht werden kann, setzt das Experiment das Ziel als existent voraus, und zwar im Maßstab der Handlung, der jenseits der Dingwelt ist, im Maßstab eines Denkaktes. »Die Wissenschaft formuliert hypothetische Theorien, mit denen sie aber nicht die Sinnenwelt unmittelbar konfrontiert, sondern die sie benutzt für eine Technik des Experiments, in der das Experiment wiederum als Probe auf die Wahrheit der Theorie gilt; sie hat es, mit anderen Worten, von Anfang bis Ende dieses Verfahrens mit einer ›hypothetischen‹ Natur zu tun.«14
Domestiziert durch den hypothetischen Denkakt wird das Handeln auf das bloße Herstellen und Bestätigen reduziert. Das Experiment gleicht einer Disziplinartechnik. Während die Neuzeit mit der vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, wird sie in der »tödlichsten, sterilsten Passivität [enden], die die Geschichte je gekannt hat«. Das Leben des Einzelnen taucht völlig unter im Strom des Lebensprozesses, das Individuum degradiert zum Animal Laborans in einem »kosmischen Laboratorium«, das dem perfekten kollektiven Handeln der dezidiert unpolitisch auftretenden Wissenschaftler untersteht. »Denn die kaum beachteten, bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückgehenden Vereine und Organisationen, in denen sie sich zu Beginn dieser ganzen Entwicklung zum Zweck der Eroberung der Natur zusammengeschlossen und ihre eigenen moralischen Wertmaßstäbe und ihren eigenen Ehrenkodex entwickelten, haben nicht nur alle revolutionären Umschwünge der Moderne überdauert, sie haben sich als eine der mächtigsten, Macht-erzeugenden Gruppierungen erwiesen, die wir je in der Geschichte gesehen haben. Dabei ist aber nicht zu verhehlen, daß das Handeln der Wissenschaften, da es in die Natur vom Standpunkt des Weltalls hineinhandelt, und nicht in ein Beziehungsgewebe menschlicher Angelegenheiten, gerade die Charaktere des Handelns nicht mitrealisieren kann, die es zu einem so eminent menschlichen Vermögen machen, die Enthüllung der Person auf der einen Seite und das Hervorbringen von Geschichten auf der anderen [...].«15
Die Einrichtung der Welt in eine Experimentalanordnung ist die Disziplinierung der Gesellschaft und der Natur nach Maßgabe einer berechenbaren Wahrheit.
14 Ebd., S. 365. 15 Ebd., S. 413f.
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IV. Arbeit Den Lebensvollzug organisiert zunächst das Arbeiten. Hannah Arendt unterscheidet das Arbeiten vom Herstellen dadurch, daß das Herstellen ein dauerhaftes Produkt hinterläßt, wogegen die Ergebnisse von Arbeit unter Umständen sofort verbraucht werden. Den Unterschied führt sie zurück auf die griechische Entgegenstellung von Handwerkern (heirotechnés) und Sklaven bzw. Haustieren, »die mit ihrem Körper der Notdurft des Lebens dienen«.16 Anlaß der Arbeit liegt in der Notwendigkeit zur Erhaltung des nackten Lebens. Wer arbeitet, ist vom Menschwerden ausgeschlossen und bleibt ein animal laborans.17 Es überrasche daher, so Arendt, daß die Neuzeit nirgends zwischen dem animal laborans und dem homo faber, zwischen der »Arbeit unseres Körpers« und dem »Werk unserer Hände« einen Unterschied gesetzt habe; anstatt dessen nur die Unterscheidung zwischen produktiv und unproduktiv, gelernt und ungelernt, zwischen Kopf- und Handarbeit. Die moderne Produktivität richtet sich auf Waren, auf bleibende Werte, und schon Adam Smith hatte darauf seine Verachtung des »Hausgesindes« gestützt. Im Gegensatz zu jenem Herstellen sei aber die Arbeit immer »unproduktiv«.18 Auf der Verwechslung von Arbeiten und Herstellen beruhe die Glorifizierung der Arbeit in der Neuzeit. Dabei ist es eigentlich nur die Fähigkeit des Menschen, einen »Überschuß« zu produzieren, auf welcher die »Produktivität« beruht. Diese Fähigkeit nennt Marx »die Arbeitskraft«. »Es ist der Kraftüberschuß des menschlichen Körpers, und nicht die Arbeit selbst, worin das eigentlich ›Produktive‹ des Arbeitens besteht.« Im Gegensatz zum Herstellen, das der Welt dauernd neue Gegenstände hinzufügt, ist das von der Arbeitskraft Vergegenständlichte nur ein Abfallprodukt, denn die Arbeit bleibe der »Produktion des Lebens« (Marx) verhaftet.19 Die Arbeitskraft ist Fruchtbarkeit. Da Marx ausschließlich an dem Entfaltungsprozeß der gesellschaftlichen Produktivkräfte als lebendiger Kräfte interessiert war, deren Zeugungs- und Verzehrkapazitäten sich die Waage halten, am Menschen als Gattungswesen also, konnte er alle Tätigkeiten auf den Nenner des Arbeitens bringen. Eigenschaften der Dinglichkeit und Haltbarkeit spielten in seiner Analyse der Tätigkeit keine Rolle. Dieses Fehlen 16 17 18 19
Aristoteles: Politik 1254 b 25. Vgl. H. Arendt: Vita Activa, S. 101. Ebd., S. 104. Marx setzt die Wirtschafts- und Lebensprozesse in unvergleichlicher Radikalität gleich. Der Menschliche Lebensprozeß verläuft in Arbeiten und Zeugen. »Die Voraussetzung, von der Marx ausgeht und die er niemals aus den Augen verliert, ist, daß die Menschen, die ihr eigenes Leben täglich neu machen, anfangen, andere Menschen zu machen, daß sie also ›die Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung‹ leisten [...]. Dadurch daß Marx die Arbeit und die Zeugung zusammensah [...], wird daher deutlich, daß die neuentdeckte ›Produktivität‹ der Arbeit einfach darauf beruht, daß man Fruchtbarkeit und Produktivität gleichsetzte.« Vgl. H. Arendt: Vita Activa, S. 125.
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der Dinge ist einerseits der hegelianischen Zielperspektive seines Arbeitsbegriffs verpflichtet, denn, so Arendt, »wenn alles und jedes ein Objekt des Konsums geworden ist, gibt es Gegenstände und Dinge in einem eigentlichen Sinne überhaupt nicht mehr [...].« Daß der Unterschied zwischen Herstellen und Arbeiten bei Marx keine Rolle spielt, liegt andererseits aber auch daran, daß bis hin zu Marx alle Wirtschaftstheoretiker prinzipiell vom Privateigentum oder zumindest von der individuellen Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums ausgehen. Doch, so wendet Arendt ein, »der bloße Überschuß führt niemals zur Etablierung des Privateigentums«, weil Fülle und Kargheit sich hier abwechseln können, ohne daß die Arbeitsprodukte dauerhafter, aufgehäuft und gespeichert werden können. »Sie können angeeignet werden, aber gerade der Aneignungsprozeß bringt sie zum Verschwinden.« Zudem beobachtet Arendt, daß die frühneuzeitlichen Eigentums-Theorien nicht auf den Schutz alter Rechte aus waren, sondern so aggressiv auftraten, weil es ihnen um ungehinderte Erwerbsrechte ging. »Es handelte sich nicht um Eigentum, sondern um Aneignung und die Aufhäufung von Besitz. Und dies war in der Tat nicht mehr eine Angelegenheit der Verteidigung, sondern des offenen Kampfes, der im Namen des Lebens [...] der Gesellschaft geführt wurde und sich gegen alle Institutionen kehrte, welche den ›toten‹ Bestand der gemeinsamen Welt repräsentierten.«20
Besitz und Eigentum unterscheiden sich daher nicht zuletzt hinsichtlich der Dinge. Warum das Eigentum zu schützen wäre, und nicht der Besitz, ergibt sich aus folgender Überlegung: Erstens ist der Privatbesitz tatsächlich nur dadurch räumlich ungebunden und unendlich ausdehnbar wie schützbar, weil er aus der körperlichen Aneignung herrührt. Zweitens ist »der Körper wahrlich das Urbild allen Eigentums«, weil man ihn nicht teilen könne. Warum kann man den Körper nicht teilen? In ihrer Antwort denkt Arendt die Sexualität und das Körperliche neuzeitlich und setzt daher Privatheit und Intimität gleich: »Nichts ist weniger gemeinsam und entzieht sich mit solcher Bestimmtheit der Mitteilbarkeit als körperliche Freuden und Leiden, die Lust und Unlust des Leiblichen, die sich der Sichtbarkeit und Hörbarkeit und damit der Öffentlichkeit entziehen. Aus dem gleichen Grund gibt es keinen Zustand, in dem der Mensch radikaler aus dem ›Draußensein‹ des Lebens in der Welt vertrieben ist, als wenn er wirklich ganz und gar auf den eigenen Körper zurückgeworfen ist, in ihn gleichsam verbannt ist – wie es ihm in der Sklaverei oder bei unerträglichen Schmerzen geschieht.«21
Entsprechend kann sie den Sensualismus nicht als Befreiung, sondern nur als Disziplinierung der Einbildungskraft deuten: In der Konzentration erfahre man 20 Ebd., S. 130. 21 Ebd., S. 132.
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die Welt nicht, sondern nur Weltlosigkeit, und diese wiederum sei Ausdruck der Versklavung, also menschlicher Gewalttätigkeit. Die einzige Tätigkeit, die diesem Weltverlust entspreche, sei das Arbeiten, in dessen Tun der menschliche Körper, wenn auch aktiv, auf sich selbst zurückgeworfen werde und den Arbeitenden in seinem »schieren Lebendigsein gefangen« halte. Die Öffentlichkeit des Körpers und die Verschwendung der Lüste hat in Arendts Körperkonzeption, die noch ganz der Lockeschen Aneignung verschrieben ist, keinen Platz. Entsprechend harsch fällt der Unterschied aus zwischen Konsumgütern, bei denen Instrumente und Automaten bestenfalls assistieren können (beim Kochen z.B.), und Gebrauchsgegenständen, zu deren Herstellung die Verwendung von Mechaniken und Werkzeugen wesentlich ist. Der Unterschied liegt auch darin begründet, daß der Lebensprozeß, der die Arbeit benötigt, endlos ist, wohingegen die Herstellung ein kontrollierbares Ende hat.22 Arbeiten und Konsumieren ist einverleiben und ausscheiden, aufbauen und zerstören. Der glänzende Aufstieg der Arbeit von der untersten Stufe zum Rang der höchstgeschätzten aller Tätigkeiten begann mit Lockes Entdeckung, daß sie die Quelle des Eigentums sei. Bald darauf ermittelte Adam Smith, daß sie die Quelle des Reichtums ist; bei Marx ist sie der Ausdruck der Menschlichkeit. Alle drei Theoretiker sprachen aber der Arbeit bestimmte Fähigkeiten zu, die nur das Herstellen besitzt.
V. Herstellen Hannah Arendt bekämpft die platonische Illusion, daß man Geschichte oder Politik herstellen könnte, wie man ein Haus baut.23 Die Werktätigkeit des Homo faber, der die Welt herstellt, verleiht auch den zerbrechlichsten Dingen Konsistenz, die er dem Material entnimmt, aus dem er sie verfertigt. Der Herstellungsprozeß wird von einem Modell gegliedert, demgemäß das herzustellende Ding angefertigt wird; es ist ein Vorbild, das die Herstellung leitet und sich außerhalb des Herstellenden befindet. Das Modell ebenso wie die Werkzeuge und Geräte, die der homo faber für sein Herstellen und Fabrizieren benötigt und entwirft, stecken das Feld ab, in welchem Zweckdienlichkeit erfahren werden kann. Der Mensch baut die Umwelt um in eine Umgebung, in der es ihm möglich wird, die Natur als einen Gegenstand objektiv zu betrachten und zu handhaben. Ohne diese gegenständliche eigene Welt gäbe es ewige Bewegtheit, aber keine Objektivität.24 Beim Herstellen bringt ein Mensch Material unter Verwendung zweckdienlichen Werkzeugs in eine durch ein Modell vorgegebene Form, so daß ein Ding als 22 Vgl. Aristoteles: Politik 1253 b 30-1254 a 18. 23 Vgl. H. Arendt: Über die Revolution, München: Piper 1982, S. 307, 311, 331, 338 u. S. 349. 24 Vgl. H. Arendt: Vita Activa, S. 162f.
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sein Produkt entsteht.25 Es ist, anders als beim Arbeiten, ein diesem Vorgang äußerlicher Zweck, so daß der Prozeß Anfang und Ende hat. Die Zweck-MittelRelation darf nicht auf das Politische übertragen werden. Weder dürfen dem Politischen außerpolitische Zwecke vorgeschrieben werden, noch dürfen politische Werkzeuge den Handlungsspielraum einschränken. Das Herstellen erzeugt aber den Rahmen für das Politische, indem es Architekturen als Orte der Begegnung hervorbringt. Es sichert die Dauerhaftigkeit, die Beständigkeit der Welt. Hier bringt Arendt die Besonderheit künstlerischen Herstellens ins Spiel. Ihre Aufgabe kann die Dingwelt nämlich »nur in dem Maße erfüllen [...], insofern sie nicht nur die reine Funktionalität der für den Konsum produzierenden Güter, sondern auch die bloße Nützlichkeit von Gebrauchsgegenständen transzendiert«. Es bedarf einer Spur, damit Worte und Taten als Geschichte bezeugt werden können: »Ohne die Kunst des Bildens und die des Erzählens, könnte das Einzige, was redende und handelnde Menschen als Produkt hervorzubringen vermögen, nämlich die Geschichte, in der sie handelnd und sprechend auftraten, bis sie sich so weit gefügt hat, daß einer sie als Geschichte berichten kann, niemals sich so dem Gedächtnis der Menschheit einprägen, daß sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben.«26
VI. Handeln Arendt zufolge ist es »nur dem Menschen eigen, [seine] Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck zu bringen«. Diese Ausdrucksdimension ist das Besondere an Hannah Arendts Konzept des Handelns: Wenn es auch um einen sehr klassischen Begriff der Person zentriert ist, artikuliert sich doch in der Individualität des Menschen gerade der kulturelle Reichtum der Menschheit überhaupt. Der Begriff des Handelns wird von Hannah Arendt in zwei Bedeutungen verwendet. Zum einen ist das Handeln allgemein derjenige Spezialfall der Kausalität, in dem ein Mensch die Ursache für etwas ist; zum anderen ist Handeln im Besonderen diejenige menschliche Tätigkeit, die dem Politischen entspricht und sich wesentlich zwischen Menschen an einem gemeinsamen Ort abspielt. Im allgemeinen Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe. Der Mensch wiederholt im Handeln die Anfänglichkeit seiner Geburt. »Jede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, sie agiert im Sinne des lateinischen agere, und sie beginnt und führt etwas an im Sinne des griechischen archein.«27 Vor dem anfangenden Menschen »ist nicht Nichts, sondern Niemand«. 25 Vgl. ebd., S. 169: »Das hergestellte Ding ist ein Endprodukt, weil der Herstellungsprozeß in ihm an ein Ende kommt [...], und es ist ein Zweck, zu dem der Herstellungsprozeß selbst nur das Mittel war.« 26 Ebd., S. 212. 27 Ebd., S. 214f.
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Einem verbreiteten Verständnis zufolge beruht alles Handeln auf dem Wollen, aufgrund dessen ein Mensch etwas aus sich heraus bewirkt. Arendt verschiebt nun die Perspektive leicht, in dem sie weniger auf den Willen, als vielmehr auf die Unbestimmtheit des Menschen als Ursprünglichkeit fokussiert. Folglich trägt eine Tätigkeit um so mehr den Charakter des Handelns, je mehr sie in diesem Menschen selbst ihren Ursprung hat und sich nicht auf andere Ursachen zurückführen läßt. Ein Mensch handelt, das heißt: er wirkt, verursacht. Arendt versteht das Handeln zwar als Tätigkeit; indem sie es aber vom Arbeiten und Herstellen absetzt, unterscheidet sich das Handeln um so mehr von rein körperlichen Verrichtungen wie von zweckhaften und damit auch intendierbaren Vorrichtungen. Sprechen und Denken haben mehr mit dem Handeln gemein als mit dem Herstellen und der Arbeit; zwar sind sie ebenso flüchtig, jedoch müssen sie, »um in die Welt als Dinge einzugehen, um als Taten, Tatsachen und Ereignisse [...] sich in der Welt anzusiedeln, [erst] gesehen, gehört, erinnert und dann verwandelt, nämlich verdinglicht werden [...].«28 Die Faktizität dieses Bereichs hängt also zum einen von der Gegenwart anderer Menschen ab (ihre Sinne, ihre Erinnerung), und zum anderen von der Verdinglichung von Akten. Als Ereignisse, abhängig von Gegenwärtigung und Verkörperung, sind Handeln und Sprechen im Wesentlichen unbestimmt. Das Vermögen des Menschen anzufangen heißt, »daß er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, daß [...] das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat [...]. Und diese Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare wiederum beruht ausschließlich auf der Einzigartigkeit, durch die jeder von jedem, der war, ist oder sein wird, geschieden ist, wobei aber diese Einzigartigkeit nicht so sehr ein Tatbestand bestimmter Qualitäten ist oder der einzigartigen Zusammensetzung bereits bekannter Qualitäten in einem ›Individuum‹ entspricht, sondern vielmehr auf dem alles menschliche Zusammensein begründenden Faktum der Natalität beruht, der Gebürtlichkeit, kraft deren jeder Mensch einmal als ein einzigartig Neues in der Welt erschienen ist.«29
Der Individualismus hängt daher weder vom Willen noch vom einem genetischen Fingerabdruck ab, sondern von der äußeren absoluten Verschiedenheit der Geburt. Diese Geburt ist kein Akt des Individuums, sondern gründet im menschlichen Zusammensein, das heißt in der Fabrik des politischen Handelns, dem Gewebe des Menschlichen. Handeln und Sprechen bedürfen einer Bühne. Dort erst zeigt sich die Person, die etwas Neues anfangen kann, anstatt der Gewalt, die immer nur bestehenden Zwecken gehorcht. Eigenschaften können kontrolliert, nämlich verborgen bleiben, wohingegen das, was sich im Handeln äußert, nicht verborgen werden kann:
28 Ebd., S. 113. 29 Ebd., S. 217f.
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»Vom Standpunkt des bloßen Nutzens ist Handeln nur Ersatz für die Anwendung von Gewalt, die sich immer als wirksamer erweist, so wie das Sprechen vom Standpunkt der bloßen Information eine Art von Notbehelf ist. [...] Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren, solange nämlich, als ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und der nicht weniger einmalige Klang der Stimme in Erscheinung traten. Im Unterschied zu dem, was einer ist, im Unterschied zu den Eigenschaften, Gaben, Talenten, Defekten, die wir besitzen und daher so weit zum mindesten in der Hand und unter Kontrolle haben, daß es uns freisteht, sie zu zeigen oder zu verbergen, ist das eigentlich personale Wer-jemand-jeweilig-ist unserer Kontrolle darum entzogen, weil es sich un30 willkürlich in allem mitoffenbart, was wir sagen oder tun.«
Warum entsteht nicht aus der Zusammenballung ungeheuerer Kräfte, wohl aber im Zusammensein als einer Versammlung von Unkontrollierbarkeit Macht?
VII. Macht Hannah Arendt entwirft ein Modell von Macht, das auf der Versammlung von Akteuren beruht. Die Masse der Bevölkerung steigert exponential die Macht des einzelnen Akteurs. Jede Aktion des einzelnen Akteurs steigert die Macht der Masse. Dieser Masse tritt etwas nur dann als Autorität entgegen, wenn es sich nicht auf diese potestas (die angeblich vom Volke ausgehende Macht), sondern, wie im Fall der Senatoren von Rom, auf die Vergangenheit bezieht. Die Autorität von Regierungen, Verfassungsordnungen und Traditionen ist eine solche Gegenmacht. Sie steigert sich, indem sie die Wirkung der Vergangenheit reinszeniert. Diese Gegenmacht hält, wie Arendt mit Montesquieu sagt, die Demokratie in Schranken. Diese Schranken sind allerdings fiktiv und parasitär. Nur die Macht, die von der Bevölkerungsmasse ausgeht, ist produktiv, nur sie kann eine Herrschaftsgrundlage bilden. Die Beschränkung und die Tyrannei können diese Macht nur usurpieren. Jegliche Gewalt muß die Macht, die aus der Versammlung hervorgeht, zerstören. Die Tyrannei zeichnet sich durch das Prinzip der Isolierung durch die systematische Verbreitung gegenseitiger Furcht und allseitigen Mißtrauens aus. Sie verhindert aktiv die Entstehung von Macht innerhalb des gesamten politischen Bereichs.31 Arendt erläutert dies mit den Extremfällen Alle-gegen-Einen und Einer-gegen-alle. Die Gewalt eines Einzelnen kann eine Masse dazu zwingen, auch ohne Überredung Befehle auszuführen; ihre Macht wird schlichte Ohnmacht. »Was Gewalt niemals vermag, ist Macht hervorzubringen. Das heißt, wenn Gewalt erst einmal die Machtstruktur zerstört hat, 30 Ebd., S. 219. 31 Vgl. ebd., S. 256. Arendt beruft sich hier auf Montesquieu: Esprit des Lois, Buch 8, Kapitel 10.
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dann entsteht keine neue Machtstruktur.« Die Machtstruktur ist die Verteilung der Macht, die Einräumung von Handlungsmöglichkeiten, die Möglichkeit der Zustimmung und Ablehnung, die die Grundlage der Herrschaft bildet. Die Situation Alle-gegen-einen kann nicht von einem gewaltbestimmten Einzelnen dominiert werden.32
VIII. Labore totaler Herrschaft Warum fügen sich Menschen dennoch der Herrschaft? Herrschaft ist die Usurpation der Macht. Die totalitäre Beherrschung und die revolutionäre Umwälzung sind die zwei Gegenpole, die den Rahmen für Hannah Arendts politische Philosophie darstellen. Den Totalitarismus kennzeichnet der Bewegungscharakter, der die staatlichen Strukturen aufzehrt, die Partei neuen Typs, die »Zwiebel«Struktur der Organisationen, die Rolle der Geheimorganisationen und die Arbeitslager.33 Mithilfe der Propaganda stillt die Bewegung die Sehnsucht nach völlig in sich konsequentem, verständlichem und voraussagbarem Geschehen und verwandelt so die Bevölkerung aus einer mächtigen in eine manipulierbare Masse.34 Die Massenbewegung, die auf die Errichtung totaler Herrschaft zielt, bildet den absoluten Nullpunkt des Politischen wie auch des Privaten. In der Bewegung ist die Spontaneität des privaten zwischenmenschlichen Bereichs wie die Möglichkeit eines freien Meinungsaustausches vernichtet. Der massenhaften Inkorporation von Befehl und Gehorsam entspricht die Zurichtung des Lebens auf ein Ziel. Denunziation und das Verbot öffentlicher Meinungsäußerung können auch in anderen Staatsformen vorkommen, aber erst der über die Bewegung totalisierte Staatsterror kann den vollständigen Gehorsam erzwingen. Das Wesen des totalitären Regimes ist ein ständiges willkürliches Töten. »Dieses Töten kann und darf nie aufhören, weil die von ihm erzeugte Todesangst das eigentliche Herrschaftsinstrument darstellt. Dieser Terror endet folglich nicht, wenn die Opposition ausgeschaltet ist, sondern wird dann im Gegenteil noch verstärkt.« Terror hört auf, ein bloßes Mittel für die Brechung des Widerstands und die Bewachung der Be32 Vgl. H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München: Piper 1986, S. 934: Gemessen an diesem Modell verwundert sich Arendt an anderer Stelle darüber, »daß die Millionen von Menschen sich widerstandslos in den Gastod haben abkommandieren lassen.« Sie zitiert David Rousset, Les Jours de notre mort, Paris: Édition du Pavois 1947, S. 525: »ces défilés de gens qui vont à la mort comme des mannequins«. 33 Zusammenfassend H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 856. Besonderheit der deutschen KZs war es, die Sinnlosigkeit der Arbeit als Folter einzusetzen. Siehe mit Verweis auf Dostojewski (ebd., S. 889): Dem russischen NKWD ging es um die Erfüllung bestimmter Quoten und Statistiken, obschon die »Produktionskapazität der Lager« lächerlich gering war. 34 Vgl. ebd., S. 746.
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völkerung zu sein, wenn alle wirkliche Opposition liquidiert und die Bevölkerung mobilisiert und in die »Bewegung« eingegliedert ist. Der Funktion der Propaganda gemäß ist der Rassismus oder Antisemitismus gegen jede beliebige andere Doktrin austauschbar, solange das Dogma erhalten bleibt, daß bestimmte Bevölkerungsgruppen »ausgemerzt« werden müssen. Aus dem Vergleich zwischen den Massenmorden der Nazis und der Bolschewisten zeichnet sich eine erstaunliche Parallele ab. Im systematisierten Terror kulminiert die politische Geschichte der Neuzeit: »Totalitäre Regierungen pflegen die Propaganda der Bewegungen durch Indoktrination zu ersetzen, und ihr Terror richtet sich sehr bald [...] nicht so sehr gegen die Gegner, die man durch Propaganda nicht hat überzeugen können, als gegen jedermann. [...] Terror wird zu der spezifisch totalen Regierungsform.«35 Die totalitären Bewegungen haben die Aufgabe, die Propaganda in die Wirklichkeit umzusetzen und die Menschen so zu organisieren, daß sie sich nach den Gesetzen dieser fiktiven Wirklichkeit bewegen. Dabei ist nicht das »Führerprinzip« entscheidend, das auch für autoritäre und militärische Hierarchien gilt, in denen Autorität und Macht planmäßig verteilt ist. Weil aber die totalitären Bewegungen keine stabile Hierarchie, die äußeren Zwängen geschuldet ist, sondern ein loses, ganz dem »Führerwillen« unterstehendes Gebilde ist, das von Eliteformationen zu breiten Sympathisantenschichten gegliedert ist, sind die Mitglieder einer totalitären Bewegung organisatorisch gegen die Außenwelt so abgedichtet, daß sie die außerordentlichen Risiken einer totalitären Politik beharrlich unterschätzen. Diese fluktuierenden Hierarchien, denen ständig neue Schichten und Kontrollinstanzen hinzugefügt werden und deren Machtzentrum sich ständig verschiebt, hat sich aus der Geschichte der Spionage und der Geheimpolizei herausgebildet und entspricht darin den Verschwörungstheorien der Propaganda. Sie sind, nach einem Wort von Alexandre Koyré, Geheimgesellschaften, die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit etablieren.36 Die Aufgabe der Eliteorganisationen war eine fortwährende Radikalisierung nach innen sowie nach außen eine »militaristische Ausdrucksmaskerade«. Ergänzt werden diese vermeintlichen Eliten einerseits durch Parteiabteilungen, die den Staat komplett imitierten und innerhalb der Bewegung eine »vollkommene Scheinwelt« bilden,37 und andererseits durch Rituale, wie die Umzüge auf dem Roten Platz in Moskau oder die Nürnberger Parteitage, die das Erlebnis einer mysteriösen Handlung produzieren, das die Menschen fester aneinander kettet als ein bewußt geteiltes Geheimnis. Zusammen produzieren sie ein dichtes Truggewebe, das jede Tatsachenfeststellung in eine Willenskundgebung auflöst.38 35 Ebd., S. 727. 36 Vgl. ebd., S. 790: Sie zitiert Koyrés Aufsatz »The political function of the modern life«. 37 Vgl. ebd., S. 773ff. 38 Vgl. ebd., S. 794 u. 806f. Es ist erstaunlich, daß Arendt keine systematische Entgegensetzung der totalitären Fiktion, die ganz auf dem Willen der Führer-
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Diese fiktive Welt des Willens erfüllen die Lager. Lager sind nicht einfach Stätten brutaler Verbrechen, sie sind »Höhlen des Vergessens«, in die jeder jederzeit hineinstolpern kann, um in ihnen zu verschwinden, als ob er nie gelebt hätte. Der Anonymität der Opfer entspricht die Sinnlosigkeit der Entscheidung, deren Zweck darin besteht, aller Beweisbarkeit den Boden zu entziehen und dadurch die Herrschaft total werden zu lassen.39 »Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist.«40 Die in den Lagern etablierte totale Herrschaft stützt sich auf die Herstellung von Menschen. Tötung und Abrichtung sind lediglich zwei Verfahren dieser experimentellen Produktion. Diese Labore totaler Herrschaft zielen darauf, die Pluralität der Menschen so zu organisieren, daß sie alle nur einen einzigen Menschen darstellen, weil jeder Mensch auf eine gleichbleibende Identität von Reaktionen reduziert wird, so daß seine »Freiheit« darin besteht, seine Gattung zu erhalten. Nur im Konzentrationslager kann die Spontaneität des Lebendigseins wie in einer Laborsituation ausgeblendet und in ein »Leben nach dem Tod« verwandelt werden, so daß die totale Herrschaftsform mit der Existenz der Lager steht und fällt. Das Lager ist die Mechanisierung der Entrechtung, welche die neuzeitliche Schreckensherrschaft von den alten Formen der Tyrannei trennt. »Der erste entscheidende Schritt auf dem Wege zur totalen Herrschaft ist nichtsdestoweniger die Tötung der juristischen Person, die im Falle der Staatenlosigkeit automatisch dadurch erfolgt, daß der Staatenlose außerhalb allen geltenden Rechtes zu stehen kommt.«41 Spätestens im Nationalstaat wird die Differenz von Staatsvolk und Bevölkerung ein erstrangiges politisches Problem. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Zahl der Flüchtlinge und Staatenlosen, die von keinem Staat repräsentiert wurden und »die sogenannten Menschenrechte verloren hatten«, enorm zu. Diese Menschen wurden von Demokratien und tyrannischen Regimen gleichermaßen als »Abschaum« behandelt und als politische Experimentiermasse, als Menschenmaterial verschoben. Die Minderheiten lebten außerhalb des Rechts oder unter Ausnahmegesetzen. Diese Anomalie findet seinen Ausdruck im Lager.
Persönlichkeit beruht (der diesen Willen als Ausdruck des Naturgesetzes maskiert), und der Individualität der Person durchgeführt hat, »die zu gleichen Teilen von Natur, Willen und Schicksal« gebildet wird. Sie betont: »identische Zwillinge« seien uns unheimlich und betont auch, daß die berechnete und systematische Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde durchgeführt wurde (ebd., S. 933). Hieraus ist ersichtlich, daß nicht nur die »juristische Person« bei der »Transformation der menschlichen Natur« (ebd., S. 940) auf dem Spiel stand, sondern auch die Pluralität des Körperlichen. 39 Vgl. ebd., S. 900f. 40 Ebd., S. 907. 41 Ebd., S. 922.
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»Und keine Paradoxie zeitgenössischer Politik ist von einer bittereren Ironie erfüllt als die Diskrepanz zwischen den Bemühungen wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen, und die Situation der Entrechteten selbst, die sich ebenso beharrlich verschlechtert hat, bis das Internierungslager, das vor dem Zweiten Weltkrieg doch nur eine ausnahmsweise realisierte Drohung für den Staatenlosen war, zur Routinelösung des Aufenthaltsproblems der ›displaced persons‹ 42 geworden ist.«
Die Überflüssigkeit der Menschen wird nicht nur auf juristischem Weg hervorgebracht. Arbeitslosigkeit, Vertreibung, Heimatlosigkeit führen auch in parlamentarischen Demokratien zu jenen »totalitären Tendenzen«, Menschen als überflüssiges Material zu behandeln, so daß zu befürchten steht, daß Konzentrationslager auch noch in Zukunft die »Patentlösung für alle Probleme von Überbevölkerung« darstellen.43 Totale Herrschaft ist systematische und fabrikmäßige Bevölkerungspolitik. Deren »Exekution der objektiven Gesetze von Natur oder Geschichte soll schließlich eine Menschheit produzieren – sei es eine Rassegesellschaft oder eine klassen- und nationslose Gesellschaft , die in sich selbst nur der Exponent der Gesetze ist, die in ihr verwirklicht werden. Hinter dem Anspruch auf Weltherrschaft, den alle totalitären Bewegungen stellen, liegt immer auch der Anspruch, ein Menschengeschlecht herzustellen, das aktiv handelnd Gesetze verkörpert, die es sonst nur passiv, voller Widerstände und 44 niemals vollkommen erleiden würde.«
Die Verachtung des positiven Gesetzes ist motiviert von einer unmenschlichen Gesetzestreue, die sich an die Quellen der Autorität (Natur, Geschichte) bindet. Im Gegensatz zur Stabilisierungsfunktion positiven Rechts, die dem Einzelnen einen Freiraum und dem Zusammenleben Kontinuität hinsichtlich des zeitgebundenen Flusses menschlicher Handlungen schaffen sollen, sind die Quellen der Autorität nun selbst Prozesse der Ausscheidung (z.B. bei Darwin und Marx). Terror wird das Gesetz zur Entfesselung der Naturkräfte. Terror ist immer Ausdruck von Furcht – aber auch der »Eiseskälte« einer Ideologie gewordenen Logik, die, hat sie einmal ihre Prämisse statuiert, prinzipiell von Erfahrungen unbeeinflußbar und von der Wirklichkeit unbelehrbar ist. Die Anziehungskraft der Selbstzwanglogik und des Terrors liegt in der Emanzipation des Menschen von Wirklichkeit und Erfahrung. Je weniger die Menschen in der Welt zu Hause sind, je ›verlassener‹ sie sind, desto inniger flüchten sie sich in das in sich stimmige Netz logischer Deduktionen; aneinandergepreßt, vorwärtsgetrieben von der
42 Vgl. ebd., S. 578. Nur als Verbrecher, Genie oder Star kann der Anormale Gesetzesschutz erlangen. Vgl. ebd., S. 595f. 43 Vgl. ebd., S. 942. 44 Ebd., S. 948.
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Angst, aber auch aufrechterhalten von der nie versagenden Folgerichtigkeit, bleibt ihnen auch noch die Erfahrung des eigenen Todes erspart,45 denn die kulturelle Möglichkeit des Todes liegt schon hinter ihnen. Geburt und Tod verschwinden in der Bewegung. Der Rechtlose hat keine Geburt, hat keine Heimat, keine Umwelt, in die er hineingeboren ist, keine Gemeinschaft.46 Der Verlust der Rechte meint den Verlust der Relevanz und damit der Realität des Gesprochenen; es ist ein Verlust der Sprache, nicht der physischen Kapazität, sondern der Fähigkeit, das Zusammenleben durch Sprechen und nicht durch Gewalt zu regeln. Die Sprachlosen zeigen Reaktionen, äußern Geräusche, »lebende Leichname«. Die Narrenfreiheit macht die Menschen mundtot, unfähig zur Politik.47
IX. Erscheinungsraum Macht wird auch jenseits des eigentlich politischen Bereichs erzeugt, nämlich als Kultur. Diese kulturelle Macht »stiftet und erhält den öffentlichen Raum der Erscheinungen und ist als solche das, was die Welt als ein gegenständliches Gebilde von Menschenhand [...] überhaupt erst lebendig macht; wie schön auch immer die Welt der Dinge, die uns umgibt, sein mag, sie erhält ihren eigentlichen Sinn erst, wenn sie die Bühne für Handelnde und Sprechende bereitstellt, wenn sie durchwebt ist von dem Geflecht menschlicher Angelegenheiten und Bezüge und den Geschichten, die aus ihnen entstehen.«48
45 Vgl. ebd., S. 966 u. 970. Arendt verweist darauf, daß Hitler und Stalin ihre Greuel dadurch legitimierten, daß sie wechselweise »wo gehobelt wird, fallen Späne« oder »Wer A sagt, muß auch B sagen« deklamierten. »Das einzige Gegenprinzip gegen diesen Zwang und gegen die Angst, sich selbst im Widersprechen zu verlieren, liegt in der menschlichen Spontaneität [...]. Alle Freiheit liegt in diesem Anfangenkönnen beschlossen. Über den Anfang hat keine zwangsläufige Argumentation je Gewalt, weil er aus keiner logischen Kette je ableitbar ist, ja, von allem deduzierenden Denken immer schon vorausgesetzt werden muß, um das Zwangsläufige zum Funktionieren zu bringen« (ebd., S. 969f.). 46 Vgl. ebd., S. 612: »Die Rechtlosigkeit hingegen entspringt einzig der Tatsache, daß der von ihr Befallene zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft gehört. Es ist sinnlos, Gleichheit vor dem Gesetz für den zu verlangen, für den es kein Gesetz gibt [...]. Das Recht auf Leben wird erst in Frage gestellt, wenn die absolute Rechtlosigkeit – und das heißt, daß niemand sich bereit findet, Rechte für diese bestimmte Kategorie von Menschen zu garantieren – eine vollendete Tatsache ist.« 47 Vgl. ebd., S. 615. Gerade der Verlust der Relevanz und der Freiheit der Rede von Gewalt macht es aus, daß »die Konzentrationslager häufig den einzigen Platz darstellten, wo es noch einen freien Meinungsaustausch und freie Diskussion gab; das machte sie nicht zu ›Inseln der Freiheit‹, sondern der Narrenfreiheit, der gleichen, der sich die Staatenlosen erfreuten« (ebd., S. 613). 48 H. Arendt: Vita Activa, S. 258. Höchster Ausdruck dieser Vita Activa ist für Arendt Perikles’ Grabrede.
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Dieser Erscheinungsraum fügt die Produkte verschiedenster Tätigkeiten in eine Dingwelt ein, so daß sie nicht isoliert bleiben, und gibt den Tätigkeiten und Angelegenheiten eine Behausung, in der sie ihr Subjektives und Ephemeres verlieren. Die Macht erhält den Erscheinungsraum als ein Zwischen, das aufleuchtet, wenn Menschen sprechend und handelnd beieinander sind, um sich sofort wieder zu verdunkeln, wenn sie sich zerstreuen. Der Erscheinungsraum darf also nicht als eine Voraussetzung des Handelns gewertet werden, sondern als die Konfiguration, in der das Handeln, Dulden und Bezeugen aufeinander abgestimmt sind. Die Macht stiftet eine Öffentlichkeit, in deren Helle Handeln und Sprechen zusammengehören wie das Sichtbare und sein Schatten. Als Aktualitäten prägen sie eine Erfahrungswelt, die ihrerseits eine politische Kunst zuläßt, die nicht herstellend ist (in der es also nicht um Grenzen und Gesetze geht), sondern die den ausführenden Künsten gleichgestellt werden muß, so daß das Resultat mit dem Vollzug seiner Hervorbringung zusammenfällt. Gerade im Sprechen und Handeln der Macht der Öffentlichkeit gegenüber vergegenwärtigen sich die höchsten und größten Möglichkeiten des Menschen. In diesem Zwischen der Handlungen liegt die Bedeutung des Ereignisses, das sie durch Mut und Maßlosigkeit hervorbringen.49 Der Erscheinungsraum beleuchtet und kontrastiert die Größe und Anarchie der Handlung. Denn, im Gegensatz zum sittlichen und moralischen Tun, das nach Maßstäben der Motive und Intentionen, der Ziele und Folgen zu beurteilen ist, untersteht, so Hannah Arendt, »das Handeln seinem Wesen nach ausschließlich dem Kriterion der Größe, und zwar deshalb, weil es gar nicht zustande kommen würde, wenn es nicht das gemeinhin Übliche durchbräche und in das Außerordentliche vorstieße [...] wo alles, was geschieht, so einmalig und sui generis ist, daß es sich unter Regeln nicht mehr subsumieren läßt«.50 Die Polis besteht aus genau diesem Grunde, die materielle Grundlage zu liefern, die die Menschen beständig dazu anhält, das Außerordentliche zu wagen, »in dem schließlich alles, das Böse wie das Gute, zu seinem Recht kommt [...]. Die Größe aber, bzw. der einer jeweiligen Tat in ihrer Einzigartigkeit zukommende Sinn, liegt weder in den Motiven, die zu ihr getrieben, noch in den Zielen, die sich in ihr verwirklichen mögen; sie liegt einzig und allein in der Art ihrer Durchführung, in dem Modus des Tuns selbst«,51 so daß die Einzigartigkeit niemals aus den Zielen oder Folgen, sondern nur aus dem Kollektiv (die in jedes Handeln verstrickte Pluralität) bestimmt werden kann, das die Polis organisiert. Nur hier gewinnen Handlungen und Worte die Größe. Das Größte, dessen Menschen fähig sind, ist die Aktualität, die allen Tätigkeiten eignet, die keinen Zweck verfolgen, die kein Resultat außerhalb ihrer selbst hinterlassen, sondern deren
49 Vgl. ebd., S. 262f.; Ereignis (S. 240), Mut (S. 232), Maßlosigkeit (S. 237). 50 Ebd., S. 261. 51 Ebd., S. 279 zur Pluralität von Handelnden, die in jedes Handeln verstrickt sind.
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volle Bedeutung sich vielmehr im Vollzug selbst erschöpft.52 Daher nennt Arendt das Theater auch »die politische Kunst par excellence«, denn im Gegensatz zu der schriftlich imitierten Handlung wird hier in der Aufführung noch die Lebendigkeit der politischen Sphäre greifbar.53 Das Theater zeigt, wie tief das menschliche Handeln eingebettet ist in eine Mitwelt, in ein Bezugsgewebe zwischen Menschen. Hier zeigt sich auch, wie Handeln und Dulden zusammen gehören; wie das Passive immer die Kehrseite des Handelns ist, wie die Geschichte, die von einem in Bewegung gebracht wird, immer von den Taten und dem Leiden derer handelt, die von ihnen affiziert werden. Aber diese Verteilung ist immer im Schwange, da niemand die Entwicklung dieser Geschichte innerhalb des Handlungsgewebes kontrolliert. »Da Handeln immer auf zum Handeln begabte Wesen trifft, löst es niemals nur Reaktionen aus, sondern ruft eigenständiges Handeln hervor [...]. Schrankenlos wird das Handeln nun aber nicht erst dadurch, daß es sich im Medium der Vielen, also in dem im engeren Sinne politischen Bereich bewegt [...]. Schrankenlosigkeit erwächst aus der dem Handeln eigentümlichen Fähigkeit, Beziehungen zu stiften, und damit aus der ihm inhärenten Tendenz, vorgegebene Schranken zu sprengen und Grenzen zu überschrei54 ten.«
Die Unabsehbarkeit der Folgen einer Handlung rührt besonders daher, daß der Akteur sich selbst unweigerlich ins Spiel bringt, aber in diesem exponierten Zustand anderen gegenüber nie wissen oder berechnen kann, wen er somit zur Schau stellt.
52 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1094 a 1-5; Physik 201 b 31 u. De Anima 417 a 16; 431 a 6. Seine Beispiele sind der Akt des Sehens und der des Flötespielens. In der Poetik sagt Aristoteles, die dramatische Handlung zeichne sich durch Größe (megethos) aus, wenn sie Handeln nachahme, das aus dem Alltäglichen hervorsteche (1450 b 25). Auch das Schöne hebt sich ab und ragt hervor (1450 b 34). Wenn für Aristoteles die höchste Möglichkeit reiner Aktualität in der theoria und im nous besteht, so wird man konsequenterweise worauf Hannah Arendt (Vita Activa, S. 463) nicht achtet beides wiederum als Handeln und Sprechen im öffentlichen Raum zu verstehen haben (und nicht von der neuzeitlichen Interiorität aus). Richtig weist sie darauf hin, daß energeia und entelecheia in engem Bezug zueinander stehen: das Aktuelle, das Wirkliche sei Selbstzweck (Metaphysik 1050 a 22-35). 53 Vgl. ebd., S. 233: »Was sich in der Aufführung zur Geltung bringt, ist dabei nicht so sehr der Gang der Handlung, der sich auch im reinen Erzählen wiedergeben liesse, als das So-und-nicht-anders-Sein der handelnden Personen, die der Schauspieler unmittelbar in ihrem eigensten Medium darstellt. [...] Die ungreifbare Identität der die Handlung darstellenden Personen [kann] nur durch ein Nachahmen des wirklichen Handelns vorgeführt werden, da sie gerade sich aller Verallgemeinerung und demzufolge auch aller Verdinglichung und Transfigurierung in eine anderes Medium entzieht.« 54 Ebd., S. 237f.
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Weil für die klassischen Athener in der Macht dieses Handelns die Bedeutung des Politischen lag, konnten sie alles fabrizierende Herstellen (poiesis) durchaus an Fremde deligieren, auch wenn es sich dabei um die Gesetze oder die Architektur der Stadt handelte. Die Gesetze und die Stadtmauern waren für sie Voraussetzungen des Handelns und Produkte des Herstellens. Das Handeln, der Inhalt des Politischen, tritt folglich in Abhängigkeit von einer äußeren Struktur, die Arendt »den Raum des öffentlichen Bereichs der Polis« nennt, und einer inneren Struktur, die die Gesetze bildeten, in Erscheinung.55 Arendt versteht das Urbane daher als plurale Interaktion in Abgrenzung zur Architektur als ihrer Voraussetzung. Die Polis hatte die Aufgabe, Gelegenheiten bereitzustellen und Chancen zu organisieren, unter denen jeder seine Verschiedenheit in Wort oder Tat zur Schau stellen und in Wettkämpfen Ruhm erwerben konnte. Die Städte sollten das Außerordentliche so häufen, daß es den Gang des Alltagslebens bestimmte. Die Verewigung dieser Taten als Bestimmung der Wirklichkeit oblag nicht nur den Künsten, sondern der ganzen Stadt. Die Polis ist ein organisiertes Andenken, eine Gegenwärtigkeit des Erstaunlichen. »Die Sterblichen, die im Rahmen dieser Organisation handeln, haben sich für das Außerordentliche in ihrem Dasein, das an sich noch vergänglicher ist als sie selbst, einer Wirklichkeit versichert, die nur die Gegenwart einer Mitwelt, das Gesehen- und Gehörtwerden, das vor anderen In-Erscheinung-Treten, verleihen kann; dies ›Publikum‹ in einem Zuschauerraum, in dem aber ein jeder zugleich Zuschauer und Mithandelnder ist, ist die Polis.« Der politische Bereich gleiche einer immerwährenden Bühne, die das »mitteilende Teilnehmen« ermöglicht. Die plurale Interaktion bringt folglich zunächst einen Erscheinungsraum hervor. Dieser ist ein räumliches Zwischen, in dem Menschen nicht nur vorhanden sind, sondern ausdrücklich in Erscheinung treten und sich darstellen können. Der Erscheinungsraum entspricht der Seite des Mithandelns. Nach der Seite des Zuschauens bringt das Handeln nun zweitens den öffentlichen Raum hervor, der noch vor der Gründung der Stadt als der gemeinsam bewohnte Teil der Welt besteht. Dieser öffentliche Raum bringt das Wirklichkeitsgefühl hervor, das »nur dort entsteht, wo die Wirklichkeit der Welt durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist, in der eine und dieselbe Welt in den verschiedensten Perspektiven erscheint«. Die Wirklichkeit ist das Erscheinen-für-alle, auch für diejenigen, die erdulden oder bloß zuschauen. Die Öffentlichkeit ist die Macht, die aus der Versammlung im Erscheinungsraum entsteht, sie ist die Aktualität eines zeitweiligen Übereinstimmens vieler Willensimpulse und Intentionen in der Potenz, Wirklichkeiten zu enthüllen und neue Realitäten zu schaffen. Den öffentlichen Raum nennt Arendt daher auch »den potentiellen Erscheinungsraum zwischen Han-
55 Vgl. ebd., S. 244. Dem hier angedeuteten Unterscheidung von öffentlichem und Erscheinungsraum bleibt Arendt aber nicht treu.
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delnden und Sprechenden« – eine Macht, die sich durch Teilung und lebendiges Zusammenspiel erhöht.56 Damit dessen Wirklichkeit sich nicht wie eine Fata Morgana in der Zerstreuung auflöst, bannt, strukturiert und eröffnet der »politische Körper« mit seinem Machtpotential eine Dauer, in der sich diese Wirklichkeit, auch fern von ihrem Erscheinen, behaupten kann. Das plurale Handeln bringt also drittens einen lokalisierbaren Raum der Mauern, Grenzen und Gesetze, eine Organisation der Nähe und der Offenheit hervor.57 Die Pluralität der Öffentlichkeit ist stets eine Bedrohung für diese Strukturen. In dem Maße, wie feste Strukturen das Handeln organisieren, rauben sie ihm die Offenheit und monopolisieren die Möglichkeit des Anfangs bei bestimmten Berufsgruppen (z.B. Architekten, Politiker). Die Monopolisierung des Handelns läuft darauf hinaus, die Pluralität des Handelns durch die Kontrollierbarkeit des Herstellens zu ersetzen und dadurch »Politik überhaupt abzuschaffen«. Dies verfolgt am radikalsten die platonischen Philosophie (insbesondere im »Staatsmann«), wo die zwei Stadien des Handelns, das »Anfangen« und das »Durchführen« zu zwei getrennten Tätigkeiten werden. Herrschaft, deren Souveränität sich auf die Regelung des Befehlens und Gehorchens durch Gesetze stützt, macht die Handlungsfähigkeit zu einer Frage des Wissens. Die Pluralität des Politischen wird folglich einer Haushaltsorganisation untergeordnet. Diese Unterordnung geschieht allerdings gewaltsam zugunsten einer substantiellen Einheit, die einem von außen an das Politische herangetragenen Maßstab, nämlich der Moralität des Innerseelischen, der Selbstbeherrschung entspricht. Deren Herrschaftslegitimation liegt einzig darin, daß sie im Umgang mit sich selbst Gehorsam etabliert hat und als Kriterium des Gehorsams dienen kann. In dieser Selbstbezogenheit des Gehorsams aber haben die wesentlich auf Alterität aufbauenden Vermögen des Handelns, nämlich zu versprechen und zu verzeihen, keinen Platz.58 Die Handlung und ihre Öffentlichkeit wird durch die Herrschaft absorbiert, die sich durch das Herstellen legitimiert. Dem Herstellen liegen Ideen zugrunde, Maßstäbe, Modelle des Herzustellenden, denen gemäß das menschliche Miteinander technisch geregelt werden kann.59 Diesem Ansatz lastet Arendt den Einzug einer Gewalt in das Politische an, die sich in Zweck-Mittel-Relationen kalkulieren lasse.60 Der 56 Vgl. ebd., S. 249-254. 57 Vgl. ebd., S. 253: »Die einzige rein materielle, unerläßliche Vorbedingung der Machterzeugung ist das menschliche Zusammen selbst. Nur in einem Miteinander, das nahe genug ist, um die Möglichkeit des Handelns ständig offen zu halten, kann Macht entstehen.« 58 Vgl. ebd., S. 302ff. Arendt versteht hier Freiheit wesentlich als das Entbinden von Folgelasten. 59 Vgl. ebd., S. 285ff. 60 Vgl. ebd., S. 294f.: Eine parallele Monopolisierung konstatiert sie einerseits mit Blick auf die Produktion, wo sich mit der industriellen Revolution das Herstellen in Form eines Arbeitsprozesses vollzieht, so daß seine Produkte, eigentlich Gebrauchsgegenstände, konsumiert werden, als seien sie durch Arbeit präparierte Kon-
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Mensch wird ein Element in Prozeß eines experimentellen Fabrizierens. Uhren (allgemein: Apparate und Instrumente) regeln ein Gemeinwesen, den künstlichen kollektiven Menschen und wenden damit das naturwissenschaftliche Experiment auf die Politik an.61
X. Öffentlicher Raum Die Option, die verschiedenen Räume, nämlich den Erscheinungs- und den öffentlichen Raum vom politischen (Körper-) Bereich und der Stadtarchitektur zu differenzieren, eröffnet nur eine einzelne Passage der Vita Activa. Das Buch ist dahingehend nicht konsistent aufgebaut. Meist spricht Hannah Arendt, dem Fokus ihrer Argumentation entsprechend, synonym von öffentlichen und politischen Räumen als dem Bereich der Freiheit und Gleichheit, im Kontrast zur privaten Hierarchie, den die Ökonomie beherrscht. Öffentliche Räume bilden dem Arendtschen Ansatz nach das Gemeinsame aus, indem sie erstens das, was erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar machen, und zweitens eine gemeinsame Welt als ein verbindendes und trennendes Zwischen herausbilden: »Die Polis, also der öffentliche Raum selbst, war der Ort des heftigsten und unerbittlichsten Wettstreits.«62 Arendt denkt den öffentlichen Raum von der politischen Ökonomie her als ein Produkt von Grenzziehungen: »Das griechische Gesetz war wirklich eine ›Gesetzesmauer‹ und schuf als solche den Raum einer Polis [...]. Ohne die Mauer des Gesetzes konnte ein öffentlicher Raum so wenig existieren wie ein Stück Grundeigentum ohne den es einhegenden Zaun; jene
sumgüter. Andererseits wird nun auch die Begegnung mit der Natur, die ursprünglich im Beobachten und Erkennen lag, nun so umgebaut, daß sie das Handeln den Gesetzen des planmäßigen Herstellens unterstellt. »Im Grunde hat dies in die Natur Hineinhandeln bereits mit dem Experiment angefangen, das ja der Natur Bedingungen vorschreibt und natürliche Abläufe provoziert, weil man sich nicht mehr damit zufrieden geben mochte, lediglich zu beobachten, zu registrieren und zu systematisieren. [...] Aus dem Experiment hat sich dann eine immer größere Fertigkeit entwickelt, Elementarprozesse loszulassen, die ohne den Menschen latent geblieben und vielleicht niemals virulent geworden wären, bis hieraus schließlich eine regelrechte Kunst entstand, Natur ›zu machen‹ [...].« Entscheidend ist, daß die Experimentalwissenschaft ebenso wie die neuzeitliche politische Theorie den Prozeßcharakter von allen anderen Eigentümlichkeiten des Handelns (Brüchigkeit etc.) isoliert hat, um Prozesse einzuleiten und Kräfte zu erzeugen, die im Haushalt der Natur nicht vorgesehen sind und dadurch die menschlichen Möglichkeiten ungeheuer zu erweitern. Daß wir über die Natur als Prozeß und als Geschichte nachdenken, weist auf Vicos Scienza Nuova und damit auf das geschichtliche Denken des Ungewissen und Unabsehbaren zurück. 61 Vgl. ebd., S. 375ff.: das Kapitel über den »Sieg des homo faber«, insbes. S. 381. 62 Ebd., S. 53.
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umhegte und beherbergte das politische Leben der Stadt, wie dieser das ›private‹ Leben 63 ihrer Bewohner schirmte und schütze.«
Der öffentliche Raum ist für Arendt mit dem politischen Leben identisch, das sich auf die gemeinsamen Dinge ҏrichtet. Wenn es auch richtig ist, das politische Gewicht von öffentlichen Räumen gegenüber ökonomischen und bürokratischen Strukturen hervorzuheben, welche moderne Staaten dominieren, so vernachlässigt Arendt doch eine genaue Differenzierung von öffentlichen und politischen Räumen, die gerade dann notwendig ist, wenn man sich am Beispiel der griechischen Demokratie inspiriert. Denn die Balance von öffentlichen und politischen Räumen ist, meines Erachtens, gerade die erstaunlichste und charakteristischste Erfindung der griechischen Demokratie.
XI. Politischer Bereich Hannah Arendt präpariert aus ihrer Betrachtung der antiken Polis das Modell einer deliberativen Demokratie. Eine Menge Menschen versammelt sich, streitet miteinander, berät sich; und einigt sich schließlich auf ein Gemeinsames. Dies setzt eine Sphäre voraus, in dem sie sich als Gleiche begegnen können, nämlich den politischen Bereich.64 Die Gleichheit ist zwar ein Produkt menschlichen Handelns,65 doch der Sinn menschlicher Tätigkeiten hängt von dem Ort ab, an dem es sich vollzieht.66 Das Zusammensein impliziert sowohl eine Vielheit von Menschen als auch deren Versammlung an einem Ort. Das Miteinander Sprechen kann zwar auch den Streit meinen, Arendts Modell gemäß aber führt es latent zur Einigung als Erzielen von Übereinstimmung. Arendt nennt die spezifisch politischen Formen des Zusammenseins diejenigen, in denen man sich untereinander bespricht, um dann in Übereinstimmung miteinander zu handeln. Bei Arendt ist also nicht die Einigung überhaupt hinreichend für das Politische, sondern das Handeln in Übereinstimmung.
63 Ebd., S. 78. 64 Vgl. ebd., S. 69 über den »öffentlichen politischen Bereich«; S. 82: »Sphäre«. Vgl. a. H. Arendt: Über die Revolution, S. 354, wo sie den politischen Bereich als Einschränkung mit Freiheitsräumen gleichsetzt, die sie als Erscheinungsräume identifiziert. 65 Vgl. H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 622. 66 Vgl. H. Arendt: Vita Activa, S. 96.
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XII. Revolution »Herrschaft zerstört [...] den politischen Raum, und das Resultat dieser Zerstörung ist die Vernichtung der Freiheit für Herrscher wie Beherrschte. Entscheidend für dieses Zusammensehen von Freiheit und Gleichheit ist, daß Freiheit sich griechischer Auffassung zufolge nur in gewissen, keineswegs allen menschlichen Betätigungen manifestiert, und zwar solchen, die überhaupt nur möglich und realisierbar sind, wenn andere zugegen sind, um sie zu sehen, zu beurteilen und sich ihrer schließlich zu erinnern. Daher bedurfte die Freiheit immer eines eigens für sie erstellten Raumes, in dem Menschen zusammenkommen konnten.«67
Herrschaft zerstört nicht nur die Lust am Handeln, sie zerstört vor allem den Handlungsraum. Außer der Tendenz zur totalen Herrschaft, die diesen Raum vollends unterdrückt, hat die Neuzeit, am Gegenpol, ein weiteres Phänomen hervorgebracht, nämlich die Revolution. Sie richtet sich gegen herrschende Raumaufteilungen. Sie kann deshalb auch den Krieg als das traditionelle Mittel der gewaltsamen Veränderung bestehender politischer Verhältnisse ablösen. Der Geist der Revolution entfaltet sich in den spontanen Assoziationen, in den Räten, in Aktionen und der direkten Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten. Diesen Geist und sein Versprechen will Hannah Arendt bewahren und artikulieren, ist doch die weltweite Ausdehnung des amerikanischen Konstitutionalismus »mit einer manchmal fast beängstigenden Geschwindigkeit wahr geworden. Und in einer solchen sich über die ganze Erde erstreckenden Situation gibt es nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnte, als das, was das Älteste ist und von allem Anfang an, jedenfalls im Abendland, das eigentliche Wesen von Politik bestimmt hat – nämlich die Sa68 che der Freiheit gegen das Unheil der Zwangsherrschaft jeglicher Art.«
Die neuzeitlichen Revolutionen haben zwar die absolute Herrschaft niedergerungen und mit dem Rechtsstaat eine »sichere Behausung« geschaffen. Weil sie aber diese Gesetzesordnung als Herrschaftsinstrument nicht nur gegen die absolute Herrschaft, sondern auch gegen die revolutionären Mächte selbst erlassen haben, aus denen sie hervorgegangen sind, bleibt der Verfassungskult, der am Ende dieser Revolutionen stand, ein höchst zweideutiger Akt. Denn unter Verfassung, Konstitution, kann man »immer noch, im Sinne von Thomas Paine, den konstituierenden Akt verstehen, der einem Regime vorangeht und durch den ein Volk sich als eine politische Gemeinschaft konstitutiert, oder das Resultat dieses Aktes«.69 Die Revolutionäre haben sich stets als Gründer verstanden, die sich auf die Autorität verließen, die aus dem Gründungsakt hervorgehen würde; haben also ein Schriftstück autoritär erlassen und sich dabei auf Gründungslegenden be67 H. Arendt: Über die Revolution, S. 37. 68 Ebd., S. 9. 69 Ebd., S. 262.
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rufen. In Arendts Sicht gehen aus dem rechtsstaatlichen Eindämmen der revolutionären Macht die moderne repräsentative Demokratie als Oligarchie ebenso wie die Ein-Parteien-Herrschaft hervor: »Wie sehr die Ein-Partei-Diktatur bereits im Wesen des Vielparteiensystems angelegt ist«, zeige die französische Revolution, die unter Robespierres zum Kampf zwischen Parlament und Volk wurde.70 Der entscheidende Fehler der amerikanischen Revolution war die Ersetzung der Politik durch die Verfassung, insbesondere durch die Abschaffung der Townhall Meetings: »[Die republikanische Verfassung] gab zwar dem Volke die Freiheit, aber sie enthielt keinen Raum, in dem diese Freiheit nun auch wirklich ausgeübt werden konnte. Nicht das Volk, sondern nur seine gewählten Repräsentanten hatten Gelegenheit, sich wirklich politisch zu betätigen.«71 Der in der Neuzeit spontan sich bildende politische Bereich wird kontrolliert von Berufsrevolutionären, von Berufspolitikern, die gedanklich eben nicht revolutionär sondern in der Tradition befangen waren. Sie konnten Macht nur als Souveränität denken: Die direkte politische Beteiligung, die Demokratie, stand in offenbarem Widerspruch zu allen Theorien dieser Revolutionäre »und, was in diesem Falle vielleicht noch wichtiger war, zu all ihren Überzeugungen über das Wesen von Macht und Gewalt, die sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, mit den herrschenden Mächten teilten. Da sie genau wie alle anderen in den Traditionen des Nationalstaats aufgewachsen waren und die Staatsformen niemals einer kritischen Analyse unterzogen hatten (wenn der Staat nichts ist als eine Funktion der Gesellschaft, verlieren die Unterschiede zwischen den Staatsformen alle Bedeutung), stellten sie sich unter einer Revolution nicht sehr viel mehr vor als den Prozeß der Machtergreifung und Macht identifizierten sie mit dem Monopol der staatlichen Gewaltmittel.«72
Auch wenn die meisten sogenannten Revolutionen es nicht einmal zur Gründung eines Rechtsstaates gebracht haben, so dürfe uns der Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einer Zwangsherrschaft doch nicht dazu führen, »daß man über den bürgerlichen Rechten die politische Freiheit vergißt bzw. die Vorbedingungen des Politischen mit der substantiellen politischen Freiheit gleichsetzt. Solche Freiheit ist nie verwirklicht, wenn das Recht auf aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten den Bürgern nicht garantiert ist.«73 Im Gegensatz zu vielen Tendenzen in ihrem Text neigt Hannah Arendt sich letztlich aber nicht der direkten Demokratie zu, sondern favorisiert eine »elitäre Rätedemokratie«, weil diese den Verantwortlichen und Talentierten eine Chance biete. Auch gegen Arendts Elitebildung gilt es heute wiederum, angesichts globalisierter Hegemonie, an die direkte Demokratie zu erinnern. 70 Vgl. ebd., S. 317. 71 Ebd., S. 302. 72 Ebd., S. 328. Arendt antizipiert hier das berühmte Argument Foucaults »on n’a pas encore coupé la tête du roi«. 73 Ebd., S. 281.
SUZANNE KIRKBRIGHT
Intellectuals of Our Time: The Humanist Approach of Karl Jaspers and Hannah Arendt
Those who fall in love with practice without science are like pilots who board a ship without rudder or compass, who are never certain where they are going. Leonardo da Vinci: Treatise on Painting
Hannah Arendt arrived in Heidelberg at a time when Karl Jaspers’ Philosophy (1931) had been signed and sealed. In his first major work of philosophy, Jaspers defined what he called the »illumination of Existenz«, a modern-day enlightenment project, basically, a humanist conception of mankind. Jaspers’ project did not mark the dawning of a new age. His design was not a philosophical system, but a convincing and systematic study of man’s innate capacity to connect, via open communication, a realm of ideas with the individual’s true potential. In a sense, Jaspers’ idealistic perception of life was inspired by his admiration for Nietzsche’s works, even if his appreciation of the heady propositions of Ecce Homo (1908) rather cooled towards Nietzsche’s literary programme for a new religion. Impressed by Jaspers’ rationalistic appraisal of thinkers such as Nietzsche, in which she saw the fount of humanity, Hannah Arendt accentuated nuances of those ideas, which she had read about in Jaspers’ Existenz philosophy. Acknowledging that her involvement in philosophy only emerged because of Heidegger and Jaspers, she strove to comprehend their works.1 Arendt also raised pertinent questions about the crisis in Nazi Germany, since what confronted them all was a bid for their survival.
1 Vgl. »Fernsehgespräch mit Günter Gaus (1964)«, in: Hannah Arendt: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. Ursula Ludz, München, Zürich: Piper 1996, S. 44f.
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Arendt’s emigration to America in 1941 gave her the rather ambiguous status of homeless cosmopolitan. Her arrival in new surroundings was as challenging as it appeared inspiring. Despite the gradual disintegration of her world, she coined a fitting phrase to describe her observations in the foreign idiom of the English language. At the same time, her loyalty to her intellectual background, including Jaspers who remained in Germany, instilled in the minds of her readers a keen awareness about her engagement with acts of humanity. Her desire was to expose man’s inhumanity towards man and through her work she familiarized herself with the pressures of a rapidly changing world. It is beneficial briefly to consider that world, in order to make some observations about the special way in which these two 20th-century intellectuals confronted the crisis through which they lived.
I. A Biographical Sketch Aged 19, Jaspers gave up his law studies in 1901, to train as a medical doctor. His decision was an act of conscience, based on a firm belief that concentrating on the natural sciences would ultimately serve his various interests in art history and philosophy. In the long term, he hoped to pursue a career in philosophy. He fulfilled his ambition because his medical studies eventually paved the way to a key introduction to his wife, Gertrud Mayer. Jaspers’ first meeting with Gertrud on 14 July 1907 was significant not only because it symbolized the deepening of a dialogue, which had already begun. Gertrud’s brother, Ernst Mayer, was a fellow medical student who became one of Jaspers’ closest friends. Their friendship evolved into the family connection through a marriage partnership, which became the framework of Jaspers’ intellectual existence. Thanks to his discussions with the Mayers on philosophical problems of the time, Jaspers’ marriage marked a new and shared sense of purpose: he hoped to develop not just a scientifically structured philosophy, but to create a language, with the kind of compelling objectivity, based upon an ethically grounded way of life. Gertrud clearly belonged in this intellectual world in Heidelberg, where Jaspers initially began his research in psychiatry. She knew Heinrich Rickert, whose seminars she had attended in Freiburg, where she also met Rickert’s pupil, Emil Lask. Gertrud introduced Jaspers to Heidelberg’s philosophers. Along with her brother, Ernst, she impressed upon her husband the importance of acknowledging the work of Rickert, Lask and Max Weber, among others, for his intellectual development. Jaspers appreciated Gertrud’s Jewish upbringing as a direct contrast to his north German background, in which religion played a relatively minor role. In their marriage, however, the Jaspers’ saw how outdated a Romantic friendship had become: Romanticism was inappropriate for their intellectual aspirations; and Gertrud’s assimilation was not guaranteed solely by her marriage. In that
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sense, their partnership was a modern affair. Their respect for equality was also a way of gaining acceptance for their liaison from the outside world. If it can be called such, the ethos of the Jaspers’ marriage was a surprisingly forwardlooking and liberating experience of release from the pressure to conform to any kind of lingering expectations, which could easily have been imposed by their parents’ generation. The permission for their marriage to take place still had to be obtained from Gertrud’s father, David Mayer. His blessing hinged upon their objectivity about others’ perceptions of a liaison between a Christian and a Jewess. Gertrud, Ernst and their eldest brother, Gustav Mayer, adopted a progressive attitude that their father’s life as religious leader of the Jewish community in their home town of Prenzlau was no longer relevant for their generation. Their unique challenge lay in the prospect of combining a sensation of »otherness«, because of their Jewish identity, with different aspirations to succeed in their chosen field of activity. Gertrud perhaps strove the most to overcome her scruples about her family’s tradition. Even so, she seemed to expect an unconditional acceptance of gradual emancipation from her Jewish roots. Her dedication to the creation of Jaspers’ philosophy was not the outcome of this emancipation. On the contrary, her Jewish milieu and family background gave her the maturity, which was strangely apt for communicating in an open sense her perception of the trials of daily life. In spite of his training in psychiatry, Jaspers’ intellectual work did not develop into psychological analyses. Rather, he compiled a theory of life in the second volume of his Philosophy, which surely owed a great deal to his wife and brother-in-law’s influence.2 The Jaspers’ reality was a world apart from the kind of assimilation into German culture, as for instance, Hannah Arendt portrayed in her biography of Rahel Varnhagen.3 Her study demonstrated how Rahel’s predicament as a German Jewess emerged from an uneasy accommodation with her German counterparts: Rahel’s parvenu status became a self-defeating and existential burden, 2 Jaspers’ theory of life was essentially defined in his exposition of »limit situations« (Grenzsituationen). Vgl. Karl Jaspers: Philosophy, Bd. 2, Existential Elucidation, Chicago: University of Chicago Press 1970, S. 177-222. Jaspers’ family ties indeed had a strong influence on his intellectual work and they are examined in detail in Suzanne Kirkbright: Karl Jaspers: A Biography. Navigations in Truth, London, New Haven: Yale University Press 2004. 3 Arendt’s Rahel biography was finished in 1933 as a thesis for the Habilitation, but she was forced to abandon this work after her arrest by the Gestapo in Berlin, where she had been compiling a coded list of antisemitic remarks for the German Zionist Organization, headed by Kurt Blumenfeld. After her release, Arendt fled the country for Paris. Heinrich Blücher, Arendt’s husband, whom she met in the internment camp in Gurs, and Walter Benjamin, had persuaded her to finish her biography after the war had ended. The biography was first published in English in 1958. Vgl. Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt: For Love of the World, New Haven, London: Yale University Press 1984, S. 91f. u. S. 105f. Vgl. auch Letter 135, September 7, 1952, in: Hannah Arendt/Karl Jaspers: Correspondence 1926-1969, hg. v. Lotte Köhler u. Hans Saner, New York, London: Harcourt Brace 1992, S. 196-201.
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from which Arendt showed Rahel striving for inner release. The impression which Arendt created of Rahel’s pariah status could equally have been linked to the context in which she began work on her biography: the act of writing may be seen as Arendt’s autobiographical quest to work through the failure of her liaison with Martin Heidegger.4 Nevertheless, Arendt’s actual challenge was to seek independence as an intellectual. In this respect, her friendship with the Jaspers’ may have defined only too sharply the degree of self-illumination required to achieve such independence. When Arendt arrived in Heidelberg in 1926 to continue her doctoral studies with Jaspers, she had been thrust into a period of self-questioning.5 She had left Marburg because of Heidegger, but Heidegger had orchestrated her meeting with Jaspers. She continued to learn in correspondence with Jaspers about his systematic enquiry of themes, such as, the problem of guilt, which she connected to her own difficulties of survival. These cannot be fully outlined in such a brief sketch of their biographies, which highlight key differences along with certain affinities, especially in their experience of the crisis in Nazi Germany.
II. A Humanist Revival? On the one hand, Arendt embraced her emigration to America as an opportunity to begin afresh. On the other hand, Jaspers sought solace in his domestic world. He continued to publish and lecture, but his public career was curtailed when at the end of September 1937, he was retired early by the Nazi regime. The Jaspers’ marriage was classified a »privileged mixed marriage«, according to the Nuremberg Laws of September 1935. Jaspers resisted the pressure to divorce Gertrud, not least because his marriage had sustained his ability to research in philosophy. Shortly before his dismissal from his professorship in Heidelberg, Jaspers delivered his last official public lectures on the Philosophy of Existence (1937) at the Goethe House in Frankfurt. Despite the official ban on his publications from 1943, he used the time to reconsider the focus of his work. A capacity for such inner renewal, which characterizes the various phases of Jaspers’ thinking, seems intimately linked to his expectation of communicating with other individuals. Communication was a way of recognizing the limits of one’s individual abilities. In particular, during his retirement, Jaspers scrutinized his conception of ethical situations and made further refinements to his language. Generally speaking, Jas-
4 Vgl. E. Young-Bruehl: Hannah Arendt, S. 85-90. 5 The absence of Arendt’s letters to Martin Heidegger from the period of her decision to leave Marburg leads to this assumption. Heidegger’s letters of 10 January and 29 July 1926 allude to her decision to relocate to Heidelberg. Vgl. H. Arendt/Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hg. v. U. Ludz, Frankfurt/M.: Klostermann 1999, S. 54-58.
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pers and Arendt shared this common desire for refining their language, which suggests an intrinsic rapprochement of their work. Their common interest could be described as an endeavour to inspire a humanist revival, which characterizes their approach in the post-war period. Arendt’s The Human Condition (1958) is one example of her fascination with a question, which she reconsidered in her last major book on the The Life of the Mind (1974). The earlier book seemed to prepare the way for her to answer the question: »Where are we when we think?«6 She framed the matter not in a rhetorical sense. Rather, the query was an echo for the paradigm of The Human Condition, which suggested that the capacity for thought, and its verbal expression, promoted a revolution in the contemporary approach to ideas: in modern times, the thinker is no longer located, as in antiquity, in a world apart from the realm of activity.7 This paradigm had a parallel in Jaspers’ search for redefining the humanist and Enlightenment project of reason. Any allusion to a revival of the capacity to think was beneficial, but Arendt also seemed to suggest that the power of ideas was not an entirely satisfactory solution to the conundrum on the location of thinking. Another representation of this issue was Jaspers’ longstanding distinction of philosophy from the natural sciences. The problem of which way to turn in application to ideas was essentially reflected in his biography: his conviction that research in philosophy was akin to defining a mental picture of a landscape was rooted in a model, where the nearest and dearest partner or friend is not seen in isolation from the more remote areas of scientific discovery. The degree to which scientific problems impact on this model shows how serious Jaspers was about integrating scientific problems into everyday life. While he had experienced a change of heart from training in natural to human sciences, the change of focus did not emerge from an indefinite distinction of philosophy and science. Effectively, the same matter was addressed by Arendt as a case for a reversal of the vita activa and the vita contemplativa. In The Human Condition, she identified a reversal of rational and sensual realms as one of the striking features of modernity. Among other things, such a reversal of action and reflection was studied as a key distinction of rational as against creative processes in the sciences and arts.8 To put the matter differently, Arendt discussed the fabrication of the individual world in modern times as obliging the individual to remake his relationship to 6 H. Arendt: The Life of the Mind, San Diego, New York, London: Harcourt Brace 1978, S. 197. 7 Vgl. H. Arendt: The Human Condition, Chicago, London: University of Chicago Press 1958, especially on »The Permanence of the World and the Work of Art«, S. 167-174. Vgl. a. Hans Jonas: »Handeln, Erkennen, Denken. Zu Hannah Arendts philosophischem Werk«, in: Adalbert Reif (Hg.), Hannah Arendt, Materialien zu ihrem Werk, Wien, München, Zürich: Europa 1979, S. 353-370. 8 Vgl. H. Arendt: The Human Condition, S. 16f.
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suit his milieu. In other words, the humanist revival cannot exist without an intrinsic interconnection of the new with the old. In the year after the 500th centenary of Leonardo’s birth in 1452 in Vinci, Tuscany, Jaspers devoted his attention to studying Leonardo’s contribution as a philosopher.9 He was not purposely engaging in a search for conventional definitions of humanism. Rather, he was restating something that seems to have occurred to him as a young man, when he was first attracted to Leonardo’s paintings. Jaspers’ pilgrimage to Italy in 1902 was one way of exploring for himself what he had learnt in Heidelberg, when he attended Henry Thode’s lectures about Italian Renaissance art in the winter semester of 1901. In the Spring in Milan, he viewed Leonardo’s The Last Supper, without commenting in letters to his parents much about his impressions of Leonardo, Raphael or Michelangelo. But the later essay on Leonardo represented this Renaissance artist as among the foremost representatives of a fruitful interaction of philosophy and science. Traces of Jaspers’ appreciation of this interaction may be detected in his focus on Leonardo’s capacity as an artist to grasp the significance of his subject. Jaspers primarily admired Leonardo’s spirit as a philosopher, whose capacity for learning was conditioned by his independent scholarship – Leonardo had famously avoided the input of learned humanists that influenced Renaissance thinking. Nevertheless, the capacity for science, or a development of scientific method, was clearly different in the Renaissance than the Enlightenment. Jaspers attributed this factor to the breakthrough of Cartesian thought. Yet Leonardo’s art was still believed to hold the key to the practice of science. Jaspers’ fascination with the foundations of modern science identified that the engine of change lay in the particular application of ideas. Both Jaspers, and Arendt as we shall see, accepted some subtle involvement of creative processes in their perception of a modern interpretation of humanism. In Jaspers’ case, the creative impetus could be seen from the way in which his concepts were vital, or lived through. This means to say that his private life was an essential source of stimulation for the development of ideas. Likewise, what seemed to have attracted him to Leonardo’s legacy was that he felt he could learn more from a unique individual who had lived his life as an artist, and whose capacity was to accumulate knowledge about his subject. Leonardo’s vast collections of manuscripts showed that whether as artist or inventor, whether as anatomist, botanist, architect or sculptor, his goal was also more than science. In a certain sense, Leonardo’s representation of the humanist approach was exemplary. His legacy highlighted those essential features, which Jaspers craved to redefine: Leonardo’s reality was an unforgettable way of living up to the art of reconciling his perspective with his subject. Thus, Leonardo was a philosopher, who established a rap-
9 Vgl. K. Jaspers: »Lionardo als Philosoph«, in: ders., Aneignung und Polemik. Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie, hg. v. H. Saner, München: Piper 1968, S. 76-120.
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port between theory and practice through his artistic work. At the same time, the vital point about Leonardo’s science was that his accomplishments were visible within his art. A capacity to visualize a subject, the gift of sight, an artist’s manual dexterity, all of these heightened Leonardo’s understanding of his intellectual priorities. These elements were defined in his posthumous Treatise on Painting: »Practice ought always to be built on sound theory; perspective is the guide and the path to this theory, and without it nothing is done well in painting.«10
III. The Existential Task If the list of Jaspers’ seminars and lectures in 1927 and 1928 is anything to go by, Arendt’s ability to keep an open mind about the crisis she witnessed in Germany prior to her emigration seems to have been linked to her understanding of Jaspers’ work. In these years, Jaspers’ lectures on the »history and present truth of metaphysics« seem to have demonstrated for Arendt the existential dimension of philosophizing.11 A breakthrough into this respect may be dated prior to one of the most productive periods of Arendt’s career: namely, the period from 1958 to 1964. Most of her controversial works, including the Eichmann report, were written and published during these years. At this time, too, Arendt revised the original German text of her doctoral dissertation on Love and St. Augustine. In the revised English text of her thesis, Arendt frequently referred to Jaspers’ metaphor of the Encompassing. Jaspers had referred to this notion in the first volume of Philosophy, but he only explicitly developed the term in his Groningen lectures on Reason and Existenz (1935). This was the first time he used the term as a kind of visual landscape, or »horizon«.12 This idea of the horizon was a visual way of projecting a conception of reality that appears concrete, even though it is anchored within an abstract realm of ideas. Thus, the Encompassing symbolized what Jaspers could have meant by living one’s life in a constant awareness of one’s Existenz. That this higher awareness of one’s full potential in life involved an implicit and complex task of self-understanding was at least accepted as a basis for Arendt’s revised thesis. Here, she appropriated the Jaspersian metaphor of the Encompassing as a way of connecting ideas with what she called the social realm.13
10 Leonardo da Vinci: Treatise on Painting, hg. v. A. Philip McMahon, Princeton: Princeton University Press 1956, S. 39v. 11 An overview of Jaspers’ lectures and seminars is in Joachim-Felix Leonhard: Karl Jaspers in seiner Heidelberg Zeit, Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt 1983, S. 103-106. 12 Vgl. K. Jaspers: Reason and Existenz, London: Routledge & Kegan Paul 1956, especially the second lecture »The Encompassing«, S. 51-76. 13 Vgl. H. Arendt: Love and Saint Augustine, hg. v. Joanna Vecchiarelli Scott u. Judith Chelius Stark, Chicago, London: University of Chicago Press 1996.
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Arendt’s textual revisions appear to have drawn on a profound knowledge of Jaspers’ usage of the Encompassing. Equally, she also reversed the intrinsically idealistic nuance of Jaspers’ terminology. In Philosophy, for instance, he referred to »the encompassing medium of all being«.14 In addition to stating his definition of Existenz implied a »single living individual existing for objective research«15, he also underlined how an individual Existenz was not to be read as a field for penetrating psychological study: »No psychology can describe this unique sense of floating between intramundane and extramundane being. It is a free act of absolute consciousness, a formal translation of the transcending thought as well as an existential brightening of the gloom in which I had to find my way to transcending.«16
Jaspers likened the act of transcending to the individual’s experience of beginning to »climb the path to free philosophizing«.17 Perhaps, he meant that choosing this path could be envisaged as an ultimate reward for the individual who decides to explore the reality of Existenz. He implied that the individual has an obligation to translate any insight obtained during the »climb« into a new attitude towards life. If this idea of an uphill journey suggested a spiritual dimension in any sense, then it seems that to grasp the proportions of this route, it is compelling to interpret one’s idea of an inner self-knowledge: »I know eternally what in this way is never known objectively.«18 Arendt’s revisions of her doctoral thesis appear to have connected this Jaspersian journey with the Augustinian thought that »I have become a question to myself«. Her detailed analysis of St. Augustine’s conception of love led her to a keen appreciation of the existential dimension of thought, as represented in both Heidegger’s and Jaspers’ major works of philosophy. Perhaps, because of her analysis, Arendt came to identify certain shortcomings in this existential way because of its emergence in the pressure house of 1930s Germany. In the course of revising her doctoral thesis, she appropriated the Jaspersian terminology of the Encompassing in critical application to her identification of the social realm. What she proposed instead was »natality«, a socially relevant response to the task, which her teachers appeared to have studied without specific connection to the political context in which they worked. Indirectly, Arendt retained an idea of the individual as a benign and self-effacing person, who is already en route to understanding the ever-moving shape of his destiny. The conditions of man’s na-
14 K. Jaspers: Philosophy, Bd. 1, Introduction to Philosophy, Chicago: University of Chicago Press 1969, S. 61. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 81. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 61.
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tality were that »the beginning and end of his life become exchangeable«.19 Her meticulous, yet unfinished revisions of her doctoral script implied more than a degree of openness for the realm of activity, a characteristic implied in Jaspers’ treatment of Existenz. Arendt embellished her description of the existential task with an introduction to »natality«, which in this text seemed to be her socialanthropological development of an idea of modern man as a social and communicative animal.20
IV. Modern Revolutionaries? Lastly, it seems an open question whether Jaspers and Arendt actually achieved in their later works a revival, or spiritual overhaul of their pre-war ideals. At the Rencontres Internationales in Geneva in 1949, Jaspers unveiled a programme, which today reads like a Kantian treatise on The Conditions and Possibilities of a New Humanism (1949). Perhaps one of the striking features of his speech is that the language hardly differed from Philosophy, which was published two decades beforehand. Jaspers continued to emphasize the reality of a »view to transcendence«, a rallying note on which he concluded this speech.21 Briefly, he discussed in the main body the potential of humanism, which he defined in terms of education, intellectual excellence and high-brow culture, to illuminate the higher purpose of everyday life. Here the individual is defined as a humanist, if he seems to retain a sense of dignity, no matter what kind of upheaval he encounters. It could be argued that this kind of conventional language offered little new material for those non-believers, in the sense that Jaspers sketched the new possibilities of humanism as in the old language of an existential task. It was also plausible that what Jaspers meant by achieving a humanist revival was meaningless to those who were not already aware of the terms of his philosophical works. Nonetheless, the language that he adopted in his speech was a sign of an ongoing transition in his life. At the time of his appearance in Geneva, he had left Heidelberg to begin a new phase of his career at the University of Basel. In Switzerland, he felt a new impetus to his philosophical ambitions. This was notably reflected in his essay about Leonardo, which virtually encapsulates all elements of his approach. The essay was an attempt to draw lessons from the past, without moralizing. In essence, such an open-minded attitude is typical of Jaspers’ approach as a humanist: he was interested in Leonardo as a painter, because he wanted to illuminate Leonardo’s methods as a thinker. Leonardo’s system of the universe, his devotion to the novelty of seeing was, for Jaspers, a plausible reason for Leonardo’s fame. The well-known drawing of 19 H. Arendt: Love and Saint Augustine, S. 57. 20 Vgl. ebd., S. 56f. 21 Vgl. K. Jaspers: »Über Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus«, in: Die Wandlung 4 (1949), S. 734.
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man, sketched by Leonardo in a circle and illustrating human proportions, was the image par excellence of the timeless appeal of Leonardo’s art. Jaspers admired Leonardo’s ability to »create the visibility that was thought in his drawing«.22 The artist’s perception of reality immediately appeals to the spectator. That effect was something that Jaspers regarded as worthy of emulation, but in modern times, the ingenuity and skill of the unique individual is in decline. The achievement of a remarkable personality like Leonardo is therefore overshadowed by the processes of modern science, by a relentless pursuit of knowledge for its own sake. As a result, a thirst for novelty turns into an end in itself; and science and philosophy are seen as entirely separate disciplines. The individual thinker is therefore caught in a trap of greater specialization. His difficulty is to communicate to non-specialists the advances, which have been made possible by modern science. While the Renaissance period was a true impetus to scholarship, it also imposed potential limits upon advancing the boundaries of knowledge, for the vibrancy of 17th-century discoveries by Galileo and Descartes was later lost.23 Galileo’s achievement in his Dialogue on the Two Chief World Systems (1632) was such that he presented his observations with the telescope as a new insight into man’s vision of his place within the universe.24 The proof of Galileo’s discovery was found in the recognition that the telescope enhanced man’s vision.25 The discovery of the heliocentric system gave man an opportunity for a new beginning. As Arendt described it, homo faber had the capacity to discover a new representation of his status and the relationship of theory and practice, or of observation, experiment and reason, was intrinsically dependent upon each other.26 Galileo’s achievement caused his condemnation and obliged him to refute his discovery towards the Church in Rome. His proof of modern man’s changed circumstances and an ability to renew his situation in relation to the world was thanks to the skill of the hand and the perspective of the human eye. A similar shift in the attention afforded to the benefit of human reason occurred in the works of Kant, in which the separation of a thinking and feeling subject appeared to have been resolved by the act of what Jaspers called transcending. Clearly, it is difficult to claim that Jaspers or Arendt were modern revolutionaries, but they were intellectuals whose lives and works remain relevant for our time. Their openness to the past, or their ability to show why the past ought to be studied in the present was a key aspect of their humanist approach. In their work, they 22 K. Jaspers: Lionardo als Philosoph, S. 85. 23 Vgl. Paul Oskar Kristeller: Renaissance Thought and the Arts, Princeton: Princeton University Press 1990, S. 18. 24 Vgl. Maurice A. Finocchiaro (Hg.), Galileo on the World Systems. A New Abridged Translation and Guide, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1997. S. 238. 25 Vgl. Michael Sharratt: Galileo. Decisive Innovator, Cambridge: Cambridge University Press 1994, S. 166. 26 Vgl. H. Arendt: The Human Condition, S. 274.
JASPERS’ AND ARENDT’S HUMANIST APPROACH | 219
sought to renew the basis of communication with great figures and thinkers of the past. In that way, they tried to strengthen the individual’s awareness of his role and responsibility as a communicator. In their eyes, man can still be the author of his destiny. His keenest ambitions are not out of reach and that is why his life is rarely at the mercy of an existential task.
Zu den Autoren WARREN BOUTCHER London, Anglistik, Publikationen zur literarischen und intellektuellen Kultur der Renaissance und Frühen Neuzeit, mit dem Schwerpunkt Montaigne-Rezeption CAROLA DIETZE Gießen, Geschichtswissenschaft, Publikationen zur politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, mit dem Schwerpunkt Leben und Werk Helmuth Plessners ANKE DÖRNER Berlin, Romanistik und Geschichtswissenschaft, Publikationen zur Literaturtheorie und Geschichte der Romanistik im 20. Jahrhundert, mit dem Schwerpunkt Leben und Werk Leonardo Olschkis TARA FORREST Sydney, Kulturwissenschaft, Publikationen zur Film- und Medientheorie mit dem Schwerpunkt Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Alexander Kluge GERALD HARTUNG Leipzig, Philosophie, Publikationen zur Philosophie der Neuzeit und Moderne, mit dem Schwerpunkt politische Philosophie und Kulturphilosophie MARTIN KAGEL Athens, USA, Literaturwissenschaft, Publikationen zur deutschen Literaturgeschichte des 18. und 20. Jahrhunderts und zur literarischen Rezeption des Holocaust SUZANNE KIRKBRIGHT Birmingham, Germanistik, Publikationen zur deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts, mit dem Schwerpunkt Leben und Werk Karl Jaspers HERBERT KOPP-OBERSTEBRINK Berlin, Philosophie, Publikationen zur Philosophie des 20. Jahrhunderts und deutsch-jüdischen Geistesgeschichte, mit dem Schwerpunkt Gershom Scholem und Ernst Cassirer REINHARD MEHRING Berlin, Politikwissenschaft und Philosophie, Publikationen zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, mit Schwerpunkt Carl Schmitt, Thomas Mann und Martin Heidegger
ZU DEN AUTOREN | 222
KAY SCHILLER Durham, Großbritannien, Geschichtswissenschaft, Publikationen zur deutschjüdischen geisteswissenschaftlichen Emigration und zur Geschichte der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren LUDGER SCHWARTE Berlin, Philosophie und Theaterwissenschaft, Publikationen zur philosophischen Ästhetik, politischen Philosophie und Architekturphilosophie des 20. Jahrhunderts
Die Titel dieser Reihe:
Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnêma Derrida zum Andenken April 2006, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-510-3
Ulrike Ramming Mit den Worten rechnen Ansätze zu einem philosophischen Medienbegriff April 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-443-3
Peter Janich (Hg.) Wissenschaft und Leben Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler April 2006, 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-475-1
Reinhard Heil, Andreas Hetzel (Hg.) Die unendliche Aufgabe Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie April 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-332-1
Stefan Blank Verständigung und Versprechen Sozialität bei Habermas und Derrida März 2006, ca. 240 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-456-5
Tobias Blanke Das Böse in der politischen Theorie Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen Februar 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-465-4
Jens Badura (Hg.) Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen Februar 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-364-X
Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.) no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse Februar 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-427-1
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Titel dieser Reihe: Gerald Hartung, Kay Schiller (Hg.) Weltoffener Humanismus Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutschjüdischen Emigration Januar 2006, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-441-7
Christoph Henning Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik August 2005, 660 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 3-89942-367-4
Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge
Hans-Joachim Lenger Marx zufolge Die unmögliche Revolution 2004, 418 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-211-2
Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hg.) Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie 2003, 334 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-159-0
Hans-Joachim Lenger Vom Abschied Ein Essay zur Differenz 2001, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-75-0
Juli 2005, 272 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-273-2
Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie März 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-325-9
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de