Humandifferenzierung: Disziplinäre Perspektiven und empirische Sondierungen 3958322425, 9783958322424

Das Konzept der Humandifferenzierung bezeichnet einen Forschungsansatz zu der Frage, wie Menschen sich unterscheiden: so

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German Pages 372 [373] Year 2021

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Inhalt
Humandifferenzierung. Disziplinäre Perspektiven und transdisziplinäre Anschlüsse • Dilek Dizdar, Stefan Hirschauer, Johannes Paulmann, Gabriele Schabacher
Ordnungsprozesse
Geschichtswissenschaft und gesellschaftliche Differenzierung. Überlegungen zur historischen Erforschung von Differenzierungsprozessen • Johannes Paulmann
Sinnschichten des Kulturellen und die Aggregatzustände der Sprache • Stefan Hirschauer und Damaris Nübling
Kognitive Humandifferenzierung. Sozialpsychologische Perspektiven auf Unterscheidung und Kategorisierung • Roland Imhoff
Die Verwandlung von sudanesischen Geflüchteten in tschadische Flüchtlingsbürger. Eine bürokratische Statuspassage • Andrea Behrends
Grenzverwischung
Translation als Katalysator von Humandifferenzierung. Eine translationswissenschaftliche Bestandsaufnahme • Dilek Dizdar
Translinguale Praktiken als Strategien der Entdifferenzierung. Afrikanistische Perspektiven auf sprachliche Hybridität • Nico Nassenstein
Staging Differences. Interferenzen von Teilnehmerrollen und Humandifferenzierungen im Gegenwartstheater • Friedemann Kreuder und Stefanie Husel
Grenzverwischung. Kategoriale Transgressionen der Schwarz/Weiß- und der Alt/Jung-Unterscheidung im Vergleich • Matthias Krings und Mita Banerjee
Leistung und Devianz um 1900. Über Performances als Praktiken der Humandifferenzierung • Benjamin Wihstutz
Spiel mit Unterscheidungen in Bildstrecken von Zeitschriften • Sabina Fazli und Oliver Scheiding
Außengrenzen
Infrastrukturen und Verfahren der Humandifferenzierung. Medienkulturwissenschaftliche Perspektiven
Zukunftslaboratorien. Technisches Wissen und die Maschinenwesen der Robotik • Herbert Kalthoff und Hannah Link
Gleiche Menschen, ungleiche Maschinen. Die Humandifferenzierung digitaler Assistenzsysteme und ihrer Nutzer:innen in der Werbung • Sascha Dickel und Miriam Schmidt-Jüngst
Die Autorinnen und Autoren
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Humandifferenzierung: Disziplinäre Perspektiven und empirische Sondierungen
 3958322425, 9783958322424

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Dilek Dizdar, Stefan Hirschauer, Johannes Paulmann, Gabriele Schabacher (Hg.)

Humandifferenzierung Disziplinäre Perspektiven und empirische Sondierungen

VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Dilek Dizdar, Stefan Hirschauer, Johannes Paulmann, Gabriele Schabacher (Hg.) Humandifferenzierung

Humandifferenzierung Disziplinäre Perspektiven und empirische Sondierungen Herausgegeben von Dilek Dizdar, Stefan Hirschauer, Johannes Paulmann, Gabriele Schabacher

VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Erste Auflage 2021 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2021 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-242-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

Dilek Dizdar, Stefan Hirschauer, Johannes Paulmann, Gabriele Schabacher Humandifferenzierung. Disziplinäre Perspektiven und transdisziplinäre Anschlüsse . . 7 Ordnungsprozesse Johannes Paulmann Geschichtswissenschaft und gesellschaftliche Differenzierung. Überlegungen zur historischen Erforschung von Differenzierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . 35 Stefan Hirschauer und Damaris Nübling Sinnschichten des Kulturellen und die Aggregatzustände der Sprache . . . . . . . . . . . . 58 Roland Imhoff Kognitive Humandifferenzierung. Sozialpsychologische Perspektiven auf Unterscheidung und Kategorisierung . . . . . . . . . . . 84 Andrea Behrends Die Verwandlung von sudanesischen Geflüchteten in tschadische Flüchtlingsbürger. Eine bürokratische Statuspassage . . . . . . . . . . . . 106 Grenzverwischung Dilek Dizdar Translation als Katalysator von Humandifferenzierung. Eine translationswissenschaftliche Bestandsaufnahme . . . . 135 Nico Nassenstein Translinguale Praktiken als Strategien der Entdifferenzierung. Afrikanistische Perspektiven auf sprachliche Hybridität . . . 160

Friedemann Kreuder und Stefanie Husel Staging Differences. Interferenzen von Teilnehmerrollen und Humandifferenzierungen im Gegenwartstheater . . . . . 183 Matthias Krings und Mita Banerjee Grenzverwischung. Kategoriale Transgressionen der Schwarz/Weiß- und der Alt/Jung-Unterscheidung im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Benjamin Wihstutz Leistung und Devianz um 1900. Über Performances als Praktiken der Humandifferenzierung . . . 230 Sabina Fazli und Oliver Scheiding Spiel mit Unterscheidungen in Bildstrecken von Zeitschriften . . 260 Außengrenzen Gabriele Schabacher Infrastrukturen und Verfahren der Humandifferenzierung. Medienkulturwissenschaftliche Perspektiven . . . . . . . . 287 Herbert Kalthoff und Hannah Link Zukunftslaboratorien. Technisches Wissen und die Maschinenwesen der Robotik . . . . . . . . . . . . 314 Sascha Dickel und Miriam Schmidt-Jüngst Gleiche Menschen, ungleiche Maschinen. Die Humandifferenzierung digitaler Assistenzsysteme und ihrer Nutzer:innen in der Werbung . . . . . . . . . . 342 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . 368

Dilek Dizdar, Stefan Hirschauer, Johannes Paulmann, Gabriele Schabacher

Humandifferenzierung Disziplinäre Perspektiven und transdisziplinäre Anschlüsse Bei zahlreichen Phänomenen unserer Gegenwart geht es um die Differenzierung von Menschen, um die Bewertung von Zugehörigkeiten, um das Machen von Unterschieden: So berücksichtigt die Rasterung der Impfpriorisierung in der Corona-Krise Altersgruppen und ›Systemrelevanz‹, im andauernden Konflikt um die Aufnahme von Geflüchteten in Europa interferieren Herkünfte und Nationen, der Leistungssport trennt Geschlechter auf der Basis von Hormonwerten. Menschen sind sowohl Subjekte wie Objekte von Differenzierungen, sie ordnen sich selbst bestimmten Gruppen zu – durch ihre Kleidung, ihre Frisur, ihre Sprache, ihre Überzeugungen –, ebenso wie sie durch andere Menschen, Institutionen, bürokratische Verfahren, aber auch durch vermeintlich ›harmlose‹ Formulare fremdkategorisiert werden. Derartige Phänomene werden von verschiedenen Disziplinen mit je unterschiedlichen Konzepten untersucht. Dieser Band versammelt fachliche Beiträge, die die Konstruktion, die Formen und den Wandel von Unterscheidungen zwischen Menschen mithilfe des Konzepts der Humandifferenzierung analysieren.1 Dies ist ein Forschungsansatz, der Unterschiede zwischen Menschen als Prozesse der Differenzierung temporalisiert und diese aneinander relativiert. Wir haben Beiträge aus verschiedenen Sprachwissenschaften gewonnen (Germanistische Linguistik, Afrikanistik und Translationswissenschaft), aus holistischen Gesellschaftswissenschaften (Soziologie, Ethnologie, Amerikanistik und Geschichtswissenschaft) sowie Beiträge aus der Sozialpsychologie, Medienkultur- und Theaterwissenschaft. Der Band konzentriert sich vor dem Hintergrund dieses (begrenzten) disziplinären Spektrums auf die Frage, was die unterschiedlichen Denk- und Forschungsmittel der Fächer eines solchen Ensembles zum Thema Humandifferenzierung leisten können. 1 Der Band schließt an die Publikation »Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung« an (Hirschauer 2017). Er greift das Thema der Humandifferenzierung auf und vertieft es mit einer sowohl thematisch als auch disziplinär stark erweiterten Perspektive.

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Wir wollen diese Einleitung nutzen, um zunächst an die Grundzüge des Konzepts der Humandifferenzierung zu erinnern (1). Dann werden wir die Differenz der Perspektiven und besonderen Beiträge verschiedener Fächer illustrieren und darstellen, was das Thema der Humandifferenzierung umgekehrt zur Entwicklung fachlicher Perspektiven beitragen kann (2). Anschließend erörtern wir die Frage inter- und transdisziplinärer Kooperation – den Kulturkontakt disziplinärer Prämissen – (3), bevor wir die Beiträge des Bandes im Einzelnen vorstellen (4).

1. Das Konzept der Humandifferenzierung Humandifferenzierung ist ein ubiquitäres und hochgradig selbstverständliches, aber auch folgenreiches und konfliktträchtiges Phänomen: dass sich Menschen fortlaufend kategorisierend unterscheiden. Kulturelle Phänomene bestehen, anders als Naturphänomene, nicht aus gegebenen Unterschieden, sie basieren auf kontingenten sinnhaften Unterscheidungen. Historische und gegenwärtige Gesellschaften machen solche Unterscheidungen etwa zwischen Tierarten, Pflanzen oder Artefakten. Sie entwickeln mit ihrer Hilfe ganze Ordnungssysteme, die die kognitive Anthropologie als ›Ethnosciences‹ untersucht und als »Ordnung der Dinge in den Köpfen der Leute« (Sturtevant 1964) versteht. Die sozial- und kulturwissenschaftlich relevantesten unter diesen Differenzierungen sind jene, die die Unterscheider selbst voneinander unterscheiden: Diese »Klassifikationen der Klassifizierer« (Bourdieu 1984) markieren die sozialen Zugehörigkeiten von Menschen und definieren zugleich die Zusammensetzung sozialer Gebilde – die ›Ethnosoziologie‹ von Gesellschaften, mit denen sie ihr »Menschenmaterial« (Simmel 1908: 33) klassifizieren und seine sozialen Zugehörigkeiten herstellen. Zu dieser Binnendifferenzierung der Menschen hinzu kommt eine ontologische Außendifferenzierung an den »Grenzen des Sozialen« (Luckmann 1980), die in historisch variablen »Grenzregimen« (Lindemann 2009) verhandelt wird. Diese Außengrenzen verlaufen einerseits zu anderen Lebewesen – etwa zu Haustieren und Menschenaffen, andererseits zu Artefakten – etwa Robotern und Social Bots. Aktuell werden diese Grenzen in tierrechtlichen Debatten bzw. in Technisierungsprozessen herausgefordert. Wo lassen Gesellschaften das Menschliche anfangen und aufhören? Binnendifferenzierungen und Außendifferenzierungen sind miteinander verschränkt, wenn etwa die Unterscheidung von ›Rassen‹ in der Nähe der Mensch/Tier-Unterscheidung vollzogen wird oder wenn einige ›Cyborgs‹ an historische Formen stratifikatorisch distinguierter ›Übermenschen‹ erinnern (Dickel 2018). 8

HUMANDIFFERENZIERUNG

Die Binnendifferenzierung des Menschen verläuft entlang einer Vielzahl von Aspekten, etwa nach Nationalität, Ethnizität, Religion, Geschlecht und Leistung, nach Generationen und Altersgruppen, sozialer Herkunft (Klassen/Milieus) und Professionen, sexueller und politischer Orientierung. Sie umfasst aber auch ganz alltagsweltliche Unterscheidungen nach Bekanntschaft, Attraktivität oder Körpergröße. Solche Differenzierungen sind notwendig in jeder Gruppen- und Gemeinschaftsbildung impliziert, bei Prozessen der Marginalisierung und Stigmatisierung sowie bei allen Formen der Personalauswahl: bei Einstellungen und Beförderungen, Einwanderung und Vermietungen, Zensurengebung und Leistungsmessung, bei der Wahl von Freund:innen, Sexualpartnern und Ehegatten, beim Casting für Film, Theater und TV-Shows, bei der Suche nach WG-Mitbewohnerinnen oder Samenspendern, in Fahndungen und Profilings, bei der Wahl von Politikern in Parteien (nach Regionen, Geschlechtern, ›Flügeln‹), aber auch im Rahmen von existenziellen Entscheidungen in Asylverfahren oder bei der Selektion von zu Rettenden. Einige Humandifferenzierungen wirken als totalinklusive gesellschaftliche Raumteiler mit hohem Konfliktpotenzial, andere als hartnäckig-ubiquitär mitlaufende Schemata des Alltagslebens, wieder andere als nur lokal und temporär relevante Trennungen. Alltagsweltlich werden die Effekte von Humandifferenzierungen als individuelle ›Eigenschaften‹ von Personen und ihre Aggregation als gegebene ›Menschensorten‹ wahrgenommen: Menschen sind im Alltagsverständnis einfach unterschiedlich. Dies sehen die Sozial- und Kulturwissenschaften vielfach anders. Soziologisch beispielsweise distanziert man sich von individuellen ›Eigenschaften‹ i.d.R. so, dass man sie als Merkmal von Mitgliedschaften fasst, als mit anderen geteilte (nicht bloß individuelle) Eigenschaften, die Menschen zu Exemplaren sozialer Gebilde (vor allem von Kollektiven) machen. Solche Mitgliedschaften werden dann allerdings als ›Variablen‹ der empirischen Sozialforschung oder als ›kulturelle Identitäten‹ der Cultural Studies oft erneut implizit reifiziert. Rogers Brubaker (2007) kritisiert dies als einen »Gruppismus«, der in einem unvermittelten Anschluss an alltagsweltliche Differenzierungen aus dem Auge verliert, dass soziale Zugehörigkeiten nicht primär Eigenschaften von Individuen, sondern Eigenschaften der Sozialorganisation sind. Weder die ›Identitäten‹ noch die ›Gruppen‹ können einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Der Begriff der Humandifferenzierung vollzieht daher gegenüber dem Alltagsverständnis ›menschlicher Unterschiedlichkeit‹ zwei über die ›Mitgliedschaft‹ hinausgehende distanzierende Bewegungen. Erstens fokussiert er anstelle der fixierten Eigenschaft oder Differenz die Prozesse der Differenzierung, die die Kategorien und Mitgliedschaften erst hervorbringen und verändern: Menschen voneinander zu differenzieren heißt, sie perzeptiv auseinanderzuhalten und sprachlich zu unterscheiden, 9

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sie praktisch-evaluativ verschieden zu behandeln, sachlich zu trennen, räumlich zu segregieren und institutionell dauerhaft zu separieren. Unterscheidungen werden dabei gezogen (und zurückgezogen), in Wissenssystemen expliziert, in praktischen Gebrauch genommen, mit Interessen besetzt, gegen Widerstände durchgesetzt und zu Schwellen und Grenzen erhärtet. Humandifferenzierung ist ein Prozess der Abstandsvergrößerung: Eine Unterscheidung wird sprachlich und räumlich artikuliert, und sie gruppiert Menschen, die sie mit Wertungen und Interessen besetzen und irgendwann ihre Grenzen kontrollieren (ausführlicher dazu: Hirschauer 2021). Zweitens verschiebt der Begriff der Humandifferenzierung den Fokus von der Aufmerksamkeit für einzelne Mitgliedschaften auf die Koexistenz mehrerer. Gesellschaften nutzen als Ansatzpunkte der Unterscheidung von Menschen u.a. körperliche Invarianten (wie Geschlecht, Hautfarbe und manche Körperformen), biografische Wurzeln (wie familiale, soziale, geografische und generationelle Herkünfte), biografisch gewachsene wie geworfene Anker (etwa sexuelle Selbstentwürfe, politische und religiöse Destinationen), biografische Entscheidungen (wie den Eintritt in Paare, Professionen, Organisationen und Staaten), aber auch individuell zugerechnete situative Performances (vor allem Leistungen, aber auch Groß- und Straftaten). Individuen haben die resultierenden Zugehörigkeiten zu Humankategorien nicht einzeln und isoliert, sondern immer mehrere parallel, gleichzeitig und kombiniert; sie haben sie immer schon als Mehrfachzugehörigkeit. Geht man davon aus, dass Zugehörigkeiten zu Humankategorien grundsätzlich multipel sind, drängt sich die grundlegende Frage ihrer Koexistenz, ihrer Wechselwirkung und ihrer konkurrierenden Relevanz auf: Welche dominiert unter welchen Bedingungen? Wie überlagern, verstärken oder relativieren sie einander? Die Rede von ›Humandifferenzierung‹ löst damit die reifizierende Vorstellung identitätsbegründender menschlicher Eigenschaften in die Erforschung von Unterscheidungsprozessen auf. Sie steht für die Temporalisierung und Relativierung von sozialen Zugehörigkeiten und soll miteinander konkurrierende und interferierende Zugehörigkeiten von Menschen begreifbar machen.2 Die Humandifferenzierung ist neben der Differenzierung gesellschaftlicher Felder und Klassen und der von sozialen Gebilden eine spezifische Form kultureller Differenzierung (so wie die Klassifikation von Objekten oder anderen Lebewesen). Einige der Antworten auf die Frage, warum Humandifferenzierung überhaupt stattfindet, stammen aus der Sozialpsychologie, der kognitiven Anthropologie und Soziologie. Sie konvergieren in der Feststellung einer allgemeinen Ordnungsleistung: 2

Zum Verhältnis von Konkurrenz und Interferenz: Hirschauer 2014 und 2020.

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der Komplexitätsreduktion. Alle Kategorisierungen bannen eine desorientierende Ambiguität und reduzieren die Kontingenz der Weltdeutung (Zerubavel 1996). Vor diesem allgemeinen anthropologischen und kognitionstheoretischen Hintergrund reicht Differenzierung als Komplex von Prozessen aber über das Kategorisieren mehrfach hinaus und wird nicht nur »in den Köpfen der Leute«, sondern in ganz verschiedenen Sinnschichten prozessiert, auf deren Erfassung sozial- und kulturwissenschaftliche Fächer unterschiedlich spezialisiert sind. Humandifferenzierung wird perzeptiv durch kognitive Schemata vollzogen, sprachlich durch Lexeme, Redewendungen und grammatische Strukturen, diskursiv durch Erzählungen, populäre und gelehrte Thematisierungen, praktisch durch situierte Tätigkeiten und habitualisiertes Gebaren, sozialstrukturell durch soziale Gebilde von Organisationen über imaginierte Gemeinschaften bis zu gesellschaftlichen Teilsystemen, und schließlich auch in materiellen Infrastrukturen (Schabacher 2018) aus habituell geformten Körpern, Artefakten und Kommunikationsmedien. Mit einer so erweiterten Perspektive kommt auch der gesellschaftliche Hintergrund in den Blick, aus dem heraus Humandifferenzierung durch die Ausübung von Macht und Herrschaft motiviert ist. Der Begriff der Humandifferenzierung ist damit zugleich elementarer und umfassender angelegt als vergleichbare Konzepte wie Kategorisierung, Klassifikation oder Boundary. Elementarer, insofern er neben soziologischen und ethnologischen Studien auch auf sozialpsychologische und linguistische Forschungen rekurriert (Tajfel/Turner 1979; Lakoff 1987; Aikhenvald 2003), umfassender, weil er Differenzierungsprozesse unterschiedlicher Institutionalisierungsstufen untersuchbar macht. Während etwa wissenssoziologische Studien seit der klassischen Arbeit von Durkheim und Mauss zur »primitive classification« (1903) oder der ethnologische Schlüsseltext von Barth zu ethnischen Gruppen (1969) meist mit expliziten Klassifikationssystemen beginnen, und ungleichheitssoziologische Studien im Anschluss an Bourdieu mit bereits kondensierten Boundaries (Lamont/Molnar 2002), zielt das Konzept der Humandifferenzierung über Klassifikation und Grenzbildung hinaus auf vielschichtige Prozesse, die die Reichweite einzelner Fächer übersteigen.

2. Disziplinäre Beiträge zum und Impulse durch das Konzept Humandifferenzierung Humandifferenzierung taucht als impliziter Forschungsgegenstand in fast allen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen auf und wird dort auf je unterschiedliche Weise bearbeitet. Einige dieser Fächer sind in ihren jeweiligen Traditionen auch schon lange mit den konzeptuellen 11

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Grundlagen der Humandifferenzierung befasst (etwa mit Kategorisierungsprozessen), andere können unmittelbar an das Konzept der Humandifferenzierung anschließen. In diesem Abschnitt wollen wir solche verschiedenen disziplinären Anschlüsse am Fall der in diesem Band versammelten Disziplinen in zwei Hinsichten beleuchten: zum einen in Hinblick auf die Frage, welche grundlegenden Perspektiven und Beiträge ein Fach zum Thema bieten kann, zum anderen in Hinblick auf die Frage, welche Impulse das Konzept der Humandifferenzierung umgekehrt für die Entwicklung des jeweiligen Faches schaffen kann. In welcher Weise wird die Frage der Humandifferenzierung in den Fächern produktiv gemacht, woran kann sie fachintern anschließen, welche Diskussionen kann sie anstoßen? Dabei lässt sich die Produktivität der Humandifferenzierung als ausgearbeitetes Konzept auf mehreren Ebenen beobachten: Sie betrifft neue Gegenstände, den Wechsel von Beobachtungsperspektiven, grundsätzliche Theorieperspektiven und methodische Erweiterungen, aber auch die fachpolitische Ausrichtung. Beginnen wir mit der Sozialpsychologie. Sie hat seit jeher elementare konzeptuelle Beiträge zum Thema Humandifferenzierung gemacht: mit ihren Theorien sozialer Identität, ihren Studien zu basalen Prozessen vorbewusster Kategorisierung und deren Randbedingungen in der Salienz von Kategorien, in Stereotypen, Vorurteilen und Gruppenprozessen. Umgekehrt erlaubt das Konzept der Humandifferenzierung dem Fach vor allem eine größere Aufmerksamkeit auf die grundlegende Tatsache, dass es Unterschiede zwischen Unterscheidungen gibt. Während die Sozialpsychologie, die weniger differenztheoretisch orientiert ist als andere Fächer, normalerweise davon ausgeht, dass die vorsprachliche Mechanik des Unterscheidens immer die gleiche ist und nur jeweils andere ›Objekte‹ verarbeitet, ermöglicht es der Ansatz der Humandifferenzierung, den angestammten Fokus des Fachs auf das Individuum in gesellschaftlich und historisch variable Kontexte einzubetten. Theoretische Prämissen wie etwa die sogenannte Akzentuierungsannahme, der zufolge Unterschiede zwischen Gruppen überschätzt, solche innerhalb von Gruppen dagegen unterschätzt werden, lassen sich so in Abgleich mit empirischen Fällen aus unterschiedlichen Kontexten präzisieren, aber auch relativieren. Die Sprachwissenschaften beschäftigen sich mit dem zentralen Medium der Kategorisierung und stellen in ihren verschiedenen Spezialisierungen grundlegende Fragen und methodische Instrumente zur Erforschung der Humandifferenzierung bereit. Die Systemlinguistik untersucht mithilfe von sprachhistorischen, diskurs- und korpuslinguistischen Methoden, wie elementare Unterscheidungen sprachlich fixiert und verstetigt oder aber fluidisiert werden. Humandifferenzierung als Forschungsgegenstand bietet dem Fach umgekehrt eine Perspektive, seine oft disparat erscheinende Zweiteilung in Sprachsystem und -gebrauch zu überwinden, indem skalar organisiert untersucht wird, wie 12

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Basisunterscheidungen emergieren und sprachlich fixiert werden. Die sprachliche Binnendifferenzierung des Menschen und die Abgrenzung des Mensch(lich)en nach außen organisiert sich auf allen sprachlichen Ebenen entlang einer Skala von flüchtig-diskursiven Reflexen über zunehmende Musterbildungen bis hin zu lexikalischen und onymischen Festschreibungen und grammatisch sedimentierten Strukturen. Zu fragen ist: Wie und in welchen Sinnschichten lassen sich historische und gegenwärtige Humandifferenzierungen in sprachlichen Strukturen aufdecken? Welche Unterscheidungen haben es ins Lexikon, in die Phraseologie, ins Nameninventar geschafft und welche sind in die unzugänglicheren Tiefen der Grammatik abgesunken, d. h. in Syntax, Wortbildung, Genussystem und Flexion? Welche wurden wieder ausgeschieden? Untersuchungen von Differenzierungen nach Stand und Status, nach Alter, Verwandtschaft und Geschlecht können hier über Jahrhunderte eingespielte Ordnungen rekonstruieren, die sich mit Kreuzungen von Humandifferenzierungen erklären lassen. Die Sozio- und Ethnolinguistik sowie die Mehrsprachigkeitsforschung dynamisieren den Sprachbegriff im Sinne einer umfassenderen Kommunikationsforschung, um Vermischung, Vielheit und Wandel in den Blick zu nehmen. Sie tragen zur Humandifferenzierungsforschung bei, indem sie nach der Sprechpraxis von Akteur:innen und der sprachlichen Performanz ihrer sozialen Zugehörigkeiten fragen. Dabei forscht die Ethnolinguistik über Differenzierungen in (post-)kolonialen Kontexten, in denen sprachliche und ethnische Grenzen ausgehandelt werden, was sie für Sprachmobilität, sprachbiographische Hybridität und für die Rolle des Sprechens in Prozessen der Gemeinschaftsbildung sensibilisiert. Umgekehrt kann das Forschungsprogramm der Humandifferenzierung etwa in der Afrikanistik einerseits koloniale Kategorisierungsprozesse von Sprachen beleuchten. Die Erforschung der Selbstverortungen von Sprecher:innen kann etwa dabei helfen, ihrer eingeübten Einordnung entlang nationaler oder ethnischer Grenzen aktuelle Entdifferenzierungsprozesse entgegenzustellen und Sprachgrenzen zu hinterfragen. Andererseits erlaubt die Forschung zu Humandifferenzierung auch einen kritischen Außenblick auf postkoloniale Sprachpolitiken in Afrika, die sich vielerorts stark an kolonialem Sprachimport orientieren. Die Translationswissenschaft untersucht und reflektiert, ganz fokussiert auf kulturelle Differenz, die vermittelnde Kulturtechnik der Übersetzung im Kontakt von Sprachgemeinschaften (etwa im Kontext von Migration, Handel und Diplomatie). Dabei werden heterolinguale mündliche und schriftliche Äußerungen und deren Sprecher:innen zueinander in Beziehung gesetzt. Das Fach erhält von der Humandifferenzierungsforschung einen entscheidenden theoretischen Impuls für die kritische Reflexion bisher kaum befragter Prämissen wie etwa der Gegebenheit sprachlicher und kulturellerer Humandifferenzen, aber auch 13

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ontologischer Differenzen zwischen humanen und non-humanen Entitäten. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, das sinngenerierende Potenzial von Translationsprozessen neu zu denken. Zugleich gewinnt die Translationswissenschaft einen methodisch geeigneten Ausgangspunkt für eine größere Distanznahme von alltagsweltlichen und bürokratischen Präkonstruktionen ihres Gegenstands. Darauf ist sie angewiesen, um einen analytisch fruchtbaren Zugang zu aktuellen und gesellschaftlich relevanten Erscheinungsformen von Translation zu gewinnen: Phänomene wie Migration und Digitalisierung sind ohne eine Berücksichtigung der mit ihnen verbundenen Praktiken der Humandifferenzierung translationswissenschaftlich nicht sinnvoll zu begreifen. Die Theaterwissenschaft als Wissenschaft von den Aufführungen aller Art untersucht situierte Ereignisse, die in der Begegnung performativer Darstellungsmittel und eingespurter Rezeptionshaltungen entstehen. Sie kann dadurch das situative ›Wie‹ von Differenzierungsprozessen in starker Nuancierung vor Augen führen. Umgekehrt gibt es drei Hinsichten, in denen das Konzept der Humandifferenzierung für das Fach produktiv wird. Methodisch erlaubt eine sozialwissenschaftlich informierte Erforschung von Humandifferenzierung erstens eine Erweiterung der theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse um ethnografisch ausgerichtete Untersuchungsdesigns, die ihr Augenmerk auf die Materialität, Körperlichkeit und Prozesshaftigkeit von Humandifferenzierungspraktiken legen. Dies weckt zweitens das Interesse an einer theaterwissenschaftlichen Institutionen- und Organisationsforschung. Hier stellen sich Fragen nach humandifferenzierenden Praktiken in der Ausbildung darstellender Künste (etwa Auswahlkriterien für Schauspielschulen), in der Relation von Vorder- und Hinterbühne, bei der Zusammensetzung von Ensembles (sozial-politische Ansprüche an Inklusion, Diversität und Gleichstellung einerseits, Stückekanon und Rollenfächer andererseits). Drittens erschließt die Perspektive der Humandifferenzierung der Theaterwissenschaft auch neue Gegenstände. Die Geschichte der Performancekulturen etwa ist dann nicht allein auf ästhetische Fragen und künstlerische Praktiken zu beziehen, sondern auch auf die öffentliche Darbietung von Körperkategorien und Leistungsfähigkeit. Scheinbar weit entfernte Genres wie die Freakshow, der Leistungssport, der Zirkus und das Varieté rücken auf diese Weise enger zusammen und werden zu Gegenständen einer historisch vergleichenden Analyse. Auch in der Amerikanistik, der kulturwissenschaftlichen Nordamerikaforschung, fällt das Konzept der Humandifferenzierung auf fruchtbaren Boden, da sie sich schon lange mit der ethnischen und religiösen Binnendifferenzierung der imaginierten US-amerikanischen Nation und ihren literarischen und populären Diskursen befasst. Das Fach konfrontiert sich wie die US-amerikanische Gesellschaft selbst stark mit Fragen nach Race, Class und Gender. Die politische Debatte darüber, auf 14

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welche Weise Menschen kategorisiert werden, führte allerdings dazu, dass sich das Fach verstärkt mit identitätspolitischen Kämpfen von Minderheiten um kulturelle Anerkennung identifizierte (Lilla 2017). Vor diesem Hintergrund sind theoretische und empirische Studien zu der Frage, wie Unterscheidungen zwischen Menschen gezogen und zurückgezogen, in praktischen Gebrauch genommen und mit Interessen besetzt werden, hochgradig anschlussfähig. Der vergleichende Ansatz des Konzepts der Humandifferenzierung kann entscheidend dazu beitragen, den identitätspolitischen Bias der Amerikanistik zu korrigieren. Denn das Konzept de-essenzialisiert Differenzen und bietet ein theoretisches In­ strumentarium, das es erlaubt, die Ambivalenzen, Grenzziehungen und Zugehörigkeiten in der Unterscheidungspraxis der US-amerikanischen Gesellschaft sowie ihre Reinheitsfantasien zu erforschen. Dadurch fungiert Humandifferenzierung auch als ein wichtiges forschungsstrategisches Korrektiv: Denn es kann als ein Problem der US-amerikanischen Differenzforschung angesehen werden, dass ihr Grad an Spezialisierung es nahezu verunmöglicht, Dialoge zwischen den einzelnen »Differenzfeldern« zu führen. Studien verorten sich entweder in den Ethnic Studies oder den Age Studies, in den Disability Studies oder den Queer Studies. Vereinzelte Brücken gehen dabei über den statischen Ansatz der Intersektionalität kaum hinaus.3 Hier stellt der Ansatz der Humandifferenzierung ein auf Synergien zielendes Feld neuer Ausrichtung dar, das als Export der europäischen Differenzierungsforschung in die US-amerikanische Forschungslandschaft eingebracht werden kann. Die Medienkulturwissenschaft nähert sich dem Thema mit einem Grundverständnis von Medien als transformativen Mediatoren und von Kulturtechniken als materialen, in Infrastrukturen gebundenen Verfahren und Körpertechniken für den operativen Vollzug von Klassifizierungen. Anknüpfungspunkte an das Konzept der Humandifferenzierung gibt es auf drei Ebenen. Erstens zeigt sich der Ansatz der Humandifferenzierung als Vermittlungsangebot zwischen medienanthropologischen und technikzentrierten Ansätzen und damit zwischen Sozial- und Technikdeterminismus. Statt hier eine Entweder-oder-Entscheidung zu fordern und entsprechende Aprioris zu postulieren, ermöglicht das Konzept, danach zu fragen, wie Medien Differenzen zwischen Menschen machen, wie Humankategorien operativ werden und welche Effekte dies generiert. Zweitens lassen sich an Foucault geschulte medienwissenschaftliche Debatten 3

Dieser Ansatz übersieht mit seinem Fokus auf soziale Ungleichheit viele

Humandifferenzierungen und er übergeht deren faktische Verdrängungskonkurrenz. Anstelle einer Großkreuzung weniger Boulevards finden sich empirisch auch viele kleinere Straßen und Wege, die eingeschlagen werden, sowie ganz andere Verkehrssysteme, die sich in multiplen Schnittpunkten begegnen. Zu dieser Kritik s. Müller (2011) und Hirschauer (2014: 175ff.).

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um Machteffekte, Gouvernementalität und Subjektivierung durch Medientechnologien auf ihre Rolle in Differenzierungsprozessen beziehen und so weiter präzisieren. Insbesondere bezogen auf die auch in den Medienwissenschaften einflussreichen ›Studies‹ (Gender Studies, Queer Studies, Postcolonial Studies etc.) eröffnet der Ansatz der Humandifferenzierung über die rezipierte Intersektionalitätsdebatte hinaus Anschlüsse, die jenseits aktueller Phänomene auch die Historisierung und den transkulturellen Vergleich von Differenzierungsphänomenen einschließen. Schließlich zeigen sich drittens Anknüpfungspunkte des Konzepts der Humandifferenzierung im Hinblick auf die stärker praxeologisch ausgerichteten Debatten um Mediennutzungsweisen. Hier lassen sich Kulturtechniken des Unterscheidens mit Überlegungen zu Darstellungsformen, Repräsentationslogiken sowie Partizipationsmodi von Medientechnologien und Infrastrukturen verknüpfen. Die Ethnologie gehört mit ihrem kulturvergleichenden Wissen über kulturelle Klassifikation, Stratifikation und Ethnotaxonomien sowie deren symbolische Repräsentation und rituelle Performanz schon immer zu den Grundlagenwissenschaften der Humandifferenzierung. Sie verfolgt das Ideal eines empirisch-induktiven Vorgehens, das sich in erster Linie von den Akteuren des Feldes und deren Unterscheidungen leiten lässt. Das Fach begegnet Vorsortierungen wie im Intersektionalitätsansatz angesichts seines inhärenten Eurozentrismus sowie seiner Topdown-Logik, die Kategorien wie Race, Gender, Class, Age, Citizenship etc. apriori setzt, mit Skepsis. Das offenere Programm der Humandifferenzierung bietet dem Fach dagegen die Möglichkeit neuer theoretischer Perspektivierungen. Zum einen eröffnet es ethnologischen Studien eine Vergleichsoptik, die lokal-situiertes Wissen mit ähnlich gelagerten Fällen in Beziehung setzen kann. Zum anderen ergibt sich hier die Möglichkeit, zwei zentrale Säulen des Fachs – das Kulturelle und das Gesellschaftliche – zu verbinden, die bislang oft mit unterschiedlichen Selbstverständnissen von Forscher:innen einhergingen (Kultur- versus Sozialanthropologie). Die Migrationsethnologie etwa beschäftigte sich bis in die 1990er Jahren hinein besonders mit dem Kulturellen, also Fragen nach Identität, Aushandlung, Sinnstiftung usw. Die transnationale Wende und die jüngsten Entwicklungen, die das Thema Flucht stärker in den Vordergrund rückten, machen sozialanthropologische Perspektiven bedeutsamer, die sich mit Recht, Policies, Bürokratie, Institutionen, Organisationen usw. beschäftigen. Der Ansatz der Humandifferenzierung erlaubt es, sowohl die gesellschaftliche Dimension von Migration (z.B. die rechtliche Verfestigung von Migrationskategorien und deren bürokratische Operationalisierung) wie auch deren kulturelle Seite (Fragen der Bedeutungsstiftung, des Auszuhandelnden, der Emotionen und Affekte) in den Blick zu nehmen und damit die Ebene des Kulturellen und des Gesellschaftlichen aufeinander zu beziehen. 16

HUMANDIFFERENZIERUNG

Auch die Geschichtswissenschaft hat sich schon lange für Differenzierungen interessiert: mit der Erforschung ihrer Gewordenheit und des steten Wandels von kulturellen und sozialen Unterscheidungen, der Analyse ihrer Kontextabhängigkeit und Spezifizität sowie der Geschichte von Begriffen und der politisch-sozialen Sprache. Das Fach hat Kontinuität und Veränderungen strukturmächtiger Differenzen vor allem anhand politischer Konflikte und gesellschaftlicher Regulierungen untersucht: zunächst geschichtswürdige Eliten und namenlose Gruppierungen, dann in der Sozialgeschichte gesellschaftliche Ordnungen, wie die Stände- oder Klassengesellschaft, und Unterschichten sowie in der Kulturgeschichte zunehmend Deutungen, Repräsentationen, Alltagspraktiken und Randgruppen. Der Ansatz der Humandifferenzierung stärkt die inzwischen breit ausgebauten kulturgeschichtlichen Perspektiven auf die Vergangenheit sozialer Verhaltens- und Denkweisen. Er systematisiert und theo­ retisiert die Untersuchung von Unterscheidungen zwischen Menschen, indem er die Aufmerksamkeit auf ihre Prozesshaftigkeit und Wandelbarkeit lenkt. Das führt zu einer doppelten konstruktivistischen Wende: Zum einen werden bislang implizit angenommene Differenzierungen als explizit hergestellte Humandifferenzierungen untersuchbar, zum anderen lässt sich diese Untersuchung mit einer Reflexion darüber verbinden, wie geschichtswissenschaftliche Analysekategorien die Erforschung von Differenzierungen in der Vergangenheit prägen. Die Geschichtswissenschaft gewinnt dadurch – und bietet damit zugleich anderen Disziplinen – eine Einsicht in die zeitliche und räumliche Situiertheit alltäglicher, weit verbreiteter und historisch verfestigter Phänomene und die Zeitgebundenheit wissenschaftlicher Begrifflichkeit. So wirkt sie disziplinären und gegenwartsverhafteten Universalismen entgegen. Die Soziologie schließlich gehört mit ihren Theorien der Rollendifferenzierung, der wissenssoziologischen Untersuchung von Klassifikationssystemen und dem mikroanalytischen Interesse an ›membership categorization‹ (Sacks 1995) zu den Disziplinen, die seit jeher Beiträge zum Grundlagenwissen über Humandifferenzierung gemacht haben. Ein elaborierter Ansatz der Humandifferenzierung eröffnet ihr nun die Möglichkeit, weitgehend getrennt koexistierenden Konzepten sozialer Differenzierung – der funktionalen Differenzierung von Teilsystemen und der stratifikatorischen von Klassen sowie der Differenzierung von sozia­ len Gebilden (wie Interaktionen, Gruppen, Netzwerke, Organisationen etc.) – die für das Fach wichtigste Form kultureller Differenzierung zur Seite zu stellen: die Herstellung jener Ethnosoziologien, die das Alltagsleben bestimmen. Ihre Erforschung kann die leitenden Intuitionen anderer Differenzierungstheorien durch die Frage verbinden, mit welchen Verfahren und Relevanzen sie Menschen unterscheiden. Wie rekurrieren funktionale Teilsysteme selektiv auf welche Humandifferenzierung (man denke nur an den Sport und das Bildungssystem)? Wie entwickeln sich 17

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evaluative Asymmetrisierungen über Stigmatisierungen und Diskriminierungen zu stabilen hierarchischen Ordnungen? Wie sind verschiedene Formen der Humandifferenzierung an soziale Gebilde wie Paare, Familien, Vereine oder imaginierte Großgemeinschaften (Nationen, Konfessionen, Ethnien, Generationen) konstitutiv gekoppelt? Darüber hinaus ermöglicht es die Theoretisierung der Humandifferenzierung der Soziologie, von Varianten anthropologischer Grundlegungen in einem Wesen des Menschen auf empirische, ethnoanthropologische Fragen umzustellen, die die vielfältigen Bezüge und Lebensumstände in den Vordergrund rücken, in die Menschen gestellt sind: ihre Relationen untereinander, zu sozialen Gebilden und gesellschaftlichen Strukturen sowie zu Artefakten und zu anderen Lebewesen, in denen sie sich selbst begegnen und verändern. Indem der Ansatz der Humandifferenzierung einfache Unterscheidungsprozesse fokussiert und ›vom Kopf auf die Füße‹ stellt, ermöglicht er eine Korrektur soziologischer Vorstellungen vom Menschen als mit sich selbst identischer Entität. Diese Liste von Fächern, die zum Thema Humandifferenzierung beitragen und von ihm Impulse beziehen können, ist natürlich unvollständig. Auch andere Disziplinen sind auf die eine oder andere Weise schon immer mit Humandifferenzierung befasst. Das gilt etwa für die Rechtsund Religionswissenschaft, die Politologie, die Humangeografie und die Literaturwissenschaften, aber auch für die Erziehungswissenschaft mit ihren Themen der interkulturellen Pädagogik und der heterogenen Lerngruppen.

3. Über transdisziplinäre Kooperation Mit ihren je unterschiedlichen Institutionen, Diskursen und Kommunikationsroutinen (des Schreibens, Publizierens, Diskutierens) und mit ihrer je spezifischen Geschichte und Agenda sind Disziplinen selbst wissenskulturelle Ordnungssysteme, die Gemeinschaften mit vertrauten Konflikten und idiosynkratische Selbstverständnisse ihrer Vertreter:innen hervorbringen. Disziplinen formen mit ihrer Geschichte und ihren Sozialisationswegen ebenso leistungs- wie beharrungsstarke Imaginationen ihres Weltausschnitts, sie halten dazu an, die Wirklichkeit auf je spezifische Weise zu sehen, zu verstehen und zu artikulieren. Interdisziplinäre Kooperation lässt sich vor diesem Hintergrund unterschiedlich ambitioniert betreiben. Man kann Disziplinen bilateral oder trilateral ins Gespräch bringen, man kann sie aber auch in spezifischen Themen multilateral verknüpfen. Interdisziplinarität in diesem Sinne stellt auf der Basis von Arbeitsteiligkeit spezielle thematische Brücken zwischen mehreren, mitunter vielen Fächern her. 18

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Eben dies haben die verschiedenen Studies (wie die Gender Studies und Ethnicity Studies) getan,4 die sich wissensgeschichtlich quer zu den Disziplinen etabliert haben und auf die sich das Forschungsprogramm der Humandifferenzierung als seine Voraussetzung beziehen kann. Die genannten ›Studies‹ bilden interdisziplinär aufgestellte Forschungsfelder. Man könnte auch von einer Interdisziplinarität erster Ordnung sprechen. Sie stiftet eine Art Sockel kulturwissenschaftlicher Interdisziplinarität, weil sie Fächer in spezifischen Forschungsgebieten für die wechselseitige Rezeption geöffnet hat. Während auf dieser Basis eine interdisziplinäre Expertise über partikulare Formen der Humandifferenzierung heranwuchs, entstand zugleich eine Einengung des Blickwinkels, die andere Differenzierungsformen ausblendete oder subordinierte. Der Preis für multidisziplinäre Kooperation war eine starke thematische Spezialisierung. Die ›Studies‹ sind dadurch selbst zu einflussreichen Optiken geworden, die die Humandifferenzierung nicht nur als impliziten Gegenstand, sondern als Motor und Effekt haben. Die Differenzierung von Menschen ist eine zunehmend genutzte lebensweltliche Ressource der Selbststrukturierung von Wissenschaft geworden – viel stärker als dass sie auch expliziter Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung wäre. Sie hat die Sozial- und Kulturwissenschaften stärker im Griff, als dass sie sich in deren Griff befände. Der Ansatz der Humandifferenzierung versucht daher, Brücken zwischen den verschiedenen Studies zu generieren, indem er die verschiedenen Differenzierungslinien (Alter, Konfession, Ethnizität usw.) in einen gemeinsamen theoretischen Bezugsrahmen überführt. Wir wollen diese Interdisziplinarität zweiter Ordnung mit einem Begriff versehen, der oft nur für außerakademische Grenzüberschreitungen oder für Kooperationen über Maximaldistanzen (wie mit den Ingenieurwissenschaften)5 verwendet wird. Das Konzept der Humandifferenzierung steht für einen transdisziplinären Referenzrahmen. Es sucht eine epistemologische und terminologische Basis, auf der disziplinäre Perspektiven weiterentwickelt, miteinander konfrontiert und ineinander übersetzt werden können. Transdisziplinarität entsteht in unseren Augen vor dem Hintergrund eines anspruchsvollen Translationsprozesses. Dieser bearbeitet Kommensurabilitätsprobleme zwischen unterschiedlichen 4

Natürlich können sich ganze Disziplinen nominell zu ›Studies‹ anglisieren

– etwa die Amerikanistik zu ›American Studies‹, bestimmte Kulturwissenschaften zu ›Cultural Studies‹ – wir bezeichnen hier als ›Studies‹ jene Forschungsfelder, die sich gestützt auf je spezifische Formen der Humandifferenzierung voneinander differenziert haben: etwa die Gender Studies, die Race and Ethnic Studies, die Disability Studies, die Queer Studies, die Indigenous Studies, die Age und Fat Studies usw. 5 Oder mit »nicht-akademischen Wissensproduzenten« (Wissenschaftsrat 2020: 18).

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Begriffssystemen und theoretischen Referenzrahmen in vielsprachigen Interaktionen. Für Michel Serres (1974) sind die Zirkulation von Wissensformen und das grenzüberschreitende Arbeiten in den Wissenschaften »Übersetzungen«. Dieser Arbeitsmodus ist nicht selbstverständlich, er braucht einen »translatorischen Denkstil« (Dizdar 2015: 203), der über Arbeitsteilung hinaus auch die Logik der fachlichen Einteilungen und Grenzen problematisiert. Transdisziplinarität kombiniert nicht nur Wissensbereiche verschiedener Fächer unter einem thematischen Aspekt, sie bringt auch ihre konzeptuellen Grundlagen in dialogischen Kontakt und in eine Auseinandersetzung, in der jedes Fach seine Stärken wie seine blinden Flecken erfahren kann. Transdisziplinäres Arbeiten drängt Fachvertreter:innen dazu, die gedanklichen Prämissen und methodischen Routinen ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu reflektieren und ihre disziplinären Alleinvertretungsansprüche zu relativieren, um das, was he­ rausfordert und konkurriert, als etwas entdecken zu können, das man selbst gut gebrauchen kann – eine Erfahrung, die für die disziplinäre Kooperation in den Naturwissenschaften schon lange selbstverständlich ist. Die transdisziplinäre Beschäftigung mit Humandifferenzierung erschließt dann nicht nur Möglichkeiten fachlicher Ergänzung, sondern auch gegenseitiger korrigierender Beobachtung. Disziplinen verfolgen unterschiedliche methodische und theoretische Erkenntnisstrategien und sie besitzen ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeitlichkeit ihres Untersuchungsgegenstands. So haben stark aktualitätsbezogene S­ ozial- und Kulturwissenschaften (wie die Ethnologie und Soziologie) ein Flüchtigkeitsproblem (Bergmann 1985) mit ihrem hier und jetzt emergierenden und verschwindenden Gegenstand, dem sie mit der schriftlichen, auditiven und visuellen Aufzeichnung ihrer Daten zu begegnen versuchen. Dagegen haben historisch orientierte Wissenschaften (wie die Geschichts- und Literaturwissenschaft oder die historische Linguistik) ein Zugänglichkeitsproblem für die Teilhabe an vergangenem Leben, dem sie durch die hermeneutische und semiotische Analyse seiner materiellen Spuren und seiner administrativen, literarischen, filmischen Repräsentationen zu begegnen versuchen. Die Verständigung zwischen solchen an entgegengesetzten Bezugsproblemen gewachsenen Fachgruppen kann durch das Konzept aufgefächerter Sinnschichten gewinnen, in denen kulturelle Differenzierungen prozessiert und dadurch verfestigt oder verändert werden. Diese systematische Auffächerung differenziert und unterläuft auch den oft bemühten Dualismus von ›kulturellen‹ und ›sozialen‹ Phänomenen, so dass die verschieden positionierten Fächer leichter miteinander ins Gespräch kommen. Die Humandifferenzierungsforschung kann disziplinäre Grenzen dabei auch aufs Spiel setzen, indem sie fachliche Beiträge zu einem 20

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kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramm bündelt, in dem Grundbegriffe und analytische Perspektiven dieser Fächer nicht nur verknüpft, sondern auch umgearbeitet werden. Der intensive Kontakt zwischen verschiedenen Fachkulturen macht einigen Fächern neue Theorieangebote und erweitert den empirischen Horizont und die Themenvielfalt anderer. Das Konzept der Humandifferenzierung bietet einen epistemologischen und terminologischen Ausgangspunkt für eine neue Form der Integration kulturwissenschaftlicher Fächer, indem er diese als verwandte Disziplinen einer Kulturwissenschaft positioniert und miteinander über den Gegenstand der Humandifferenzierung in einen vielsprachigen Dialog bringt. Die dabei nötigen Übersetzungen, die Irritationen und Verhandlungsprozesse zwischen den Fächern, sollten sich als ein ergebnisoffener Austausch zwischen Diskursen ereignen, der intellektuelle Neuorientierungen für alle Beteiligten zur Folge hat.6

4. Übersicht über die Beiträge Die Aufsätze spezifizieren ihre fachlichen Perspektiven auf das Thema Humandifferenzierung auf verschiedene Weise: Einige beziehen ein Fach als Ganzes auf das Thema, andere stellen konzeptuelle Fragen und bidisziplinären Dialog ins Zentrum (so gibt es ein Tandem aus Amerikanistik und Ethnologie, zwei Tandems aus Linguistik und Soziologie) und wieder andere präsentieren empirische Sondierungen aller Art. Die erste Gruppe von Beiträgen widmet sich den Ordnungsleistungen, die Humandifferenzierungen erbringen, indem sie Menschen kategorisieren und klassifizieren und damit gesellschaftliche Komplexität reduzieren. Solche Ordnungsprozesse besitzen eine historische Dimension, finden sozial-kognitiv statt, werden in sprachlichen Sinnschichten prozessiert und bürokratisch umgesetzt. Die Beiträge erläutern jeweils aus disziplinärer Perspektive, wie Geschichtswissenschaft, Sozialpsychologie, Sprachwissenschaft und Soziologie sowie Sozialanthropologie das ordnende Unterscheiden analysieren. 6

Auch die Entstehung dieses Bandes verdankt sich einem in unserem Sin-

ne transdisziplinären Prozess. Seine Aufsätze emergierten vor dem Hintergrund der laufenden Diskussionen des ›Forums Humandifferenzierung‹ an der JGU Mainz als Beiträge einer Online-Tagung im Juni 2020, die zur Beförderung der Diskussion vorab als Manuskript-Skizzen distribuiert, dann mündlich diskutiert wurden, bevor sie zunächst in einem internen Peer Review der Beiträger:innen, dann in einem Review der Herausgeber:innen überarbeitet wurden. Der Band – einschließlich dieser Einleitung – ist Ergebnis dieses transdisziplinären Peer Reviews.

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Der Beitrag von Johannes Paulmann gibt einen Überblick über die konzeptuellen Perspektiven, mit denen die Geschichtswissenschaft sowohl langfristige Entwicklungen als auch zeit- und raumspezifische Formen gesellschaftlicher Differenzierung erforschte: unter dem Blickwinkel der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche, als stratifikatorische Differenzierung im Sinne sozialer Ungleichheit von Bevölkerungsgruppen und als soziokulturelle Differenzierung durch Bildung von Gemeinschaften. Darüber hinaus wurde im Fach auf das Konzept der Intersektionalität rekurriert und versucht, es zu historisieren. Diesen Perspektiven liegen verschiedene Annahmen über epochale Einteilungen und historischen Wandel vormoderner und moderner Gesellschaften zugrunde, sowie ein Verständnis, das dazu neigt, europäische Entwicklungslinien für alle Gesellschaften in der Welt zu unterstellen. Abschließend schlägt der Aufsatz einen historisch-anthropologischen Zugang zu wandelbarer Vergesellschaftung durch Prozesse der (Ent-)Differenzierung vor. Mithilfe dieses epochal und geografisch offenen Ansatzes kann ein Narrativ für die Geschichte gesellschaftlicher Differenzierung entwickelt werden, das zum einen die widerspruchsvolle und vielschichtige Geschichte des Unterscheidens kontextsensibel erfasst und zum anderen geeignet ist, Fragen, Methoden und theoretische Bausteine aus anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen produktiv aufzunehmen und umgekehrt an diese weiterzugeben. Der konzeptuell orientierte Aufsatz von Stefan Hirschauer und Damaris Nübling befasst sich mit Institutionalisierungsprozessen der Humandifferenzierung. Er elaboriert das Konzept der Aggregatzustände des Kulturellen, um den Grundgedanken der Pluralität von ontologischen Zuständen eines Phänomens mit der Idee seiner Gestalttransformation in der Zeit zu verbinden. Die Heuristik der Aggregatzustände will die dichotome Trennung sozialer und kultureller Phänomene durch eine Auffächerung in Sinnschichten aufheben, in denen die Phänomene prozessiert werden. Unterschieden werden hierbei sprachliche Strukturen, Diskurse, Imaginationen, situierte Praktiken, soziale Strukturen und materielle Infrastrukturen. Der Beitrag fokussiert den Gestaltwandel von Differenzierungsphänomenen in diesen verschiedenen Sinnschichten. Die Ordnungsprozesse in ihnen können gleichsinnig und damit redundant verlaufen, komplementär wirken oder aber auch unabhängig voneinander funktionieren. Das Auf- und Abtauchen von Unterscheidungen und ihr Übergang in andere Aggregatzustände kann derart als ein vielschichtiger Prozess in der Zeit analysiert werden. An den Aggregatzuständen der Sprache führt der Aufsatz den Erkenntnisgewinn der Heuristik vor. Er erläutert eine Reihe von Pfaden der Bildung und Verfestigung von Sprachgebrauchsmustern: die Lexikalisierung und Phraseologisierung, die Ausbildung von Genres und die Grammatikalisierung. Dabei wird in vielen sprachlichen Prozessen immer wieder die Geschlechterunterscheidung 22

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thematisiert, weil sie hochredundant auf fast allen sprachlichen Ebenen enthalten und sogar in die Grammatik diffundiert ist. Am Ende postuliert der Aufsatz eine Antwort auf die Frage nach sozialem Wandel: In je mehr Sinnschichten ein kulturelles Phänomen gleichzeitig prozessiert wird, desto eher bleibt es stabil; bei abnehmender Zahl der Schichten oder einer gegenläufigen Operation zwischen verschiedenen Schichten wird Wandel wahrscheinlicher. Roland Imhoff fokussiert in einem zweiten Überblicksaufsatz die Sinnschicht kognitiver Schemata, also die Ordnung der Dinge in den Köpfen von Individuen. Die Sozialpsychologie verortet die Differenzierungsleistung im vorsprachlichen Bereich, wenn sie die kognitiven Akte untersucht, mit denen Menschen ihre soziale Umwelt in Sorten und Sparten einteilen und ihnen andere Menschen zuteilen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Prinzipien der kognitiven Operation des Differenzierens. Basisannahme ist eine Informationsökonomie, in deren Rahmen die Unterteilung der Umwelt in vorgestellte Kategorien es Menschen ermöglicht, soziale Situationen vorhersehbar und damit besser begreifund kontrollierbar zu machen. Die Sozialpsychologie untersucht diese vorsprachlichen Ordnungsprozesse experimentell, um Unterscheidungen jenseits der verbal verfügbaren Kategorien zu erfassen. Die vorhandenen Studien besitzen eine begrenzte Erklärungskraft, weil sie meist Humandifferenzierungen wie Gender oder Ethnie nachzeichnen, von deren Relevanz die meisten überzeugt sind. Sie erklären aber nicht, warum welche Kategorien in bestimmten Konstellationen salient werden. Sozial­ psychologisch wird unterschieden zwischen Stereotypen (also Annahmen, wie Menschen einer Kategorie beschaffen sind), Vorurteilen (der Bewertung von Menschen dieser Kategorie) und Diskriminierungen (ihrer Ungleichbehandlung). Die Sozialpsychologie kann einen derart sequenziellen Ablauf von der Kategorienbildung bis zum Verhalten kognitiv erforschen, sofern ihm physische, sichtbare Ansatzpunkte zugrunde liegen. Für nicht sichtbare oder nicht eindeutig erschließbare Kategorisierungen stößt sie an Erkenntnisgrenzen und benötigt Erklärungen aus Disziplinen, die sprachliche und kommunikative Unterscheidungen analysieren, um ein überzeugendes Modell für kognitive Ordnungsprozesse zu entwickeln. Andrea Behrends führt in ihrem empirischen Forschungsbeitrag vor, wie ethnologische Forschungen bürokratische Ordnungsprozesse betrachten. Sie untersucht eine organisierte Statuspassage mit Blick auf die Auflösung einer ungewissen Zugehörigkeitsdefinition (»Flüchtling«) in die neue Zugehörigkeitskategorie des tschadischen »Flüchtlingsbürgers«. Der Beitrag analysiert den Kategorienwechsel im Lager von Bredjine (Tschad), bei dem die Betroffenen einen Komplex von achtzehn Hallen durchlaufen: Der Überprüfung des bisherigen Flüchtlingsstatus folgt die Überprüfung der Richtigkeit der gemachten Angaben sowie die 23

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biometrische Erfassung und das Aushändigen des erstellten Ausweisdokuments. Das mehrfache Überprüfen der Dokumente verweist dabei nicht nur auf mögliche Störungspotenziale innerhalb des Prozesses (etwa Manipulation für eigene Zwecke), der Kategorienwechsel hat auch unvorhergesehene Folgen: Als Erleichterung gedacht, um sowohl Staatsbürgerschaftsrechte im Tschad wie auch die Lagerversorgung in Anspruch nehmen zu können, erwiesen sich die vorläufigen tschadischen Pässe als Hindernis bei der temporären Rückkehr in den Sudan, da die Betreffenden als Nicht-Sudanes:innen erkannt und deshalb anders besteuert werden. Die Phaseneinteilung zeigt das Bedürfnis der UN-Organisation nach eindeutiger Zugehörigkeitszuweisung, während die ethnologische Beschreibung erkennen lässt, wie die erfassten Menschen ihre Zugehörigkeit manipulierten und für eigene Zwecke zu nutzen suchten. So wird deutlich, dass weder die tschadische Regierung noch die UN-Organisation als Staatsersatz Souveränität über die Zuweisung der Zugehörigkeit besitzen, sondern im Ordnungsprozess verschiedene Akteure, Verfahren und Apparate interagieren und sich in situativ kontingenter Weise verändern. Auch dieses Ergebnis verweist auf das Zusammenwirken verschiedener Sinnschichten. Mit Grenzverwischungen beschäftigen sich die Beiträge der zweiten Sektion, d. h. mit der Überblendung, dem Abbau und der Transgression von Grenzen unterschiedlicher Humankategorien. Sie setzen sich aus ihren disziplinären bzw. bidisziplinären Perspektiven mit begrifflichen und methodischen Fragen der Beobachtung und der Beschreibung solcher Grenzbearbeitungen auseinander. Dilek Dizdar untersucht die Rolle, die die vermittelnde Kulturtechnik Translation in Prozessen der Humandifferenzierung spielt und spannt ein Netz zur Sondierung des Gegenstandsbereichs einer translationswissenschaftlichen Humandifferenzierungsforschung auf. Ausgehend von der im alltäglichen Umgang im Vordergrund stehenden Funktion von Translation als einem Instrument der Überwindung von Sprachgrenzen und Kommunikationshürden, problematisiert sie zunächst die Denkvoraussetzungen, die dieses Translationsverständnis mit sich führt. Hierzu gehören eine verdinglichende Perspektive auf Sprachen als intern homogene und nach außen hin klar abzugrenzende Einheiten, die Annahme eines Bedeutungstransfers sowie einer medialen Transparenz, die einen Zugang zu einer »originären« Aussage und deren Sprecherin gewährleistet. Der Beitrag zeigt, wie diese Aspekte die Spielarten von Translation bestimmen und in humandifferenzierenden Prozessen, an denen Translation beteiligt ist, wirksam werden können. Er plädiert für eine stärkere Berücksichtigung der symbolischen Funktionen und des politischen Potenzials von Translation, die er als Voraussetzung für eine translationswissenschaftliche Humandifferenzierungsforschung versteht. Exemplarisch zeigt der Beitrag auf, wie so die vielfältigen Wirkungsfelder und 24

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-modi translatorischer Prozesse und deren Produkte in den Blick genommen werden können. Hierfür ergänzt er seine translationswissenschaftliche Perspektive durch einen sozial- und kulturwissenschaftlichen Zugang. Nico Nassensteins Aufsatz über translinguale Praktiken als Strategien der Entdifferenzierung untersucht aus einer afrikanistischen Perspektive hybride und transsemiotische Praktiken von Sprecher:innen am Beispiel von Kontexten fluider Sprachverwendung in Uganda. Dafür verbindet der Beitrag eine kritische Diskussion verschiedener theoretischer Konzepte zu sprachlicher Hybridität (Codeswitching, Translanguaging, Metrolingualism, Polylanguaging, Multivocality, Bilanguaging, Bricolage und andere) mit Fragen zu einer ethnolinguistischen Methodik für die Untersuchung von Humandifferenzierungen. Besonderes Augenmerk gilt unterschiedlichen Formen des Differenzabbaus in »Verflüssigungsperformanzen«, die von Sprecher:innen eng verwandter und sich stark ähnelnder Sprachen genutzt werden können, um Grenzen durch Assimilierung und Verwischung aufzuheben. Hierbei wird translinguale Kommunikation hinsichtlich der Ziele von Sprecher:innen in der Interaktion unterteilt in Mimikry, Mimesis und spielerisch-transgressive Aneignung von Sprache. Dass sich das Unterscheidungskriterium der Nationalität etwa zwischen Sprecher:innen des Kinyarwanda (der Sprache von Ruanda) und des Kirundi (der Sprache von Burundi) weder ethnisch noch sprachlich rechtfertigen lässt und beide Sprachen gegenseitig verstehbar sind, macht die Fälle besonders interessant für die Beforschung der strategischen und politischen Relevanzen translingualer Praktiken. Friedemann Kreuder und Stefanie Husel entwickeln einen Rahmen für eine theaterwissenschaftliche Untersuchung von Humandifferenzierungspraktiken. Als besonders geeignete Beobachtungssituationen nehmen sie postdramatische Theaterprojekte in den Blick, in denen reflexiv mit der Theatersituation gespielt und sozial experimentiert wird. Indem die feldspezifischen Teilnehmerrollen des Theaters (Publikum, Darsteller, Figur) mit Humandifferenzierungen ethnischer, religiöser oder nationaler Zugehörigkeit gekreuzt werden, wird in solchen Projekten nicht bewusst zugängliches prozedurales Wissen aktiviert, das in der Körperpraxis verankert ist. Um Praktiken der Humandifferenzierung und deren Herauf- und Herabspielen im Verdichtungsraum des Theaters in mikrologisch situativen Zusammenhängen untersuchen zu können, plädieren Kreuder und Husel für die Erweiterung des theaterwissenschaftlichen Methodenrepertoires der phänomenologischen und semiotisch ausgerichteten Aufführungsanalyse um eine sozialwissenschaftlich informierte ethnografische Verfahrensweise. Anhand einer Analyse des immersiv-spielerischen Projekts Enjoy Racism (2018) beschreiben sie, wie Funktionsrollen in Konflikt mit mitgebrachten und situativ hochgespielten Humandifferenzen geraten. Flüchtige Humandifferenzierungen, wie 25

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sie etwa in Körperhaltungen oder in der Mimik manifest werden, können so eingefangen und für die Humandifferenzierungsforschung nutzbar gemacht werden. Matthias Krings und Mita Banerjee widmen sich in ihrem konzeptuell orientierten Beitrag aus einer disziplinären Tandemperspektive von Ethnologie und Amerikanistik vergleichend den individuellen Überschreitungen von Grenzen der Alters- und Rassendifferenzierung. Sie zeigen, wie Praktiken des »Passing« in beiden Differenzierungsformen ähnlichen Prinzipien zugrunde liegen. Dafür skizzieren sie zunächst die Besonderheiten der Alters- und Rassendifferenzierung. Während die Logik der Rassendifferenzierung der binären Schwarz/Weiß-Unterscheidung folgt, können Alterskategorien auf juristischer, biologischer und sozialer Grundlage entstehen. Transgressionen sind in beide Richtungen möglich: Doing race kann ein Weißwerden Schwarzer und ein Einschwärzen Weißer bedeuten; doing age offenbart sich in Praktiken des Sich-Jüngermachens oder umgekehrt im äußerlichen Sich-Ältermachen, wie es bei der trendbewussten Übernahme eines Merkmals wie grauen Haaren der Fall ist. Die im Beitrag beschriebenen Personen »lehnen« sich in Differenzierungen »hinein«, indem sie an sichtbaren Dimensionen, d. h. an äußeren Merkmalen arbeiten, um Zugehörigkeiten zu verbergen, zu vermischen oder zu modifizieren. Dabei bleiben die kategorialen Grenzen intakt, Versuche der Individuen, sie zu de-essenzialisieren, stoßen auf Grenzen. Die vergleichende Untersuchung demonstriert die grundsätzliche Durchlässigkeit von Humankategorien und die Ähnlichkeit von Strategien der Transgression in den analysierten Formen der Humandifferenzierung. Benjamin Wihstutz beschäftigt sich mit der Performanz von Humandifferenzierungen nach Leistung und Devianz. Sein Gegenstand sind verschiedene Genres von Leistungsschauen, die um 1900 aufkommen: Weltausstellungen und Völkerschauen, Olympische Spiele, Zirkus und Sideshows mit dressierten Tieren und Menschen. Im Anschluss an eine Begriffs- und Diskursgeschichte der Leistung erläutert er an diesen Praktiken, wie Leistung und Devianz (im Sinne von Erfüllung und Abweichungen von Verhaltensnormen) performativ eng aufeinander bezogen wurden. Das im Begriff der Leistung enthaltene Gleichheitsversprechen entdifferenziert zunächst, indem die Leistungskategorie andere Unterscheidungen in den Hintergrund schiebt, dann aber differenzieren die damit verbundenen Festlegungen von Normen und Abweichungen in den inszenierten Praktiken auf neue Weise zwischen Menschen. Durch Beobachtung und die Zuschreibung von Normen und Abweichungen seitens des Publikums wurden die Darbietungen bewertet und wirkten damit humandifferenzierend. Die behandelten Leistungsschauen unterschieden so zwischen Zivilisierten und Primitiven, bürgerlichen Amateuren und proletarischen Profis, Tieren und Menschen und zwischen körperlich behinderten und nicht behinderten Menschen. Es lassen sich typisierend 26

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mehrere Modi des (Ent-)Differenzierens erkennen: Kontrastierung, Distinktion, Transformation und Kompensation. Der Aufsatz zeigt, wie Humandifferenzierungen durch Aufführung und Beobachtung nicht vorgeführt, sondern tatsächlich erst geschaffen und vollzogen werden. Sabina Fazli und Oliver Scheiding untersuchen die Inszenierung von Ambiguität in Bezug auf Geschlecht und Vorstellungen körperlicher Normalität und Devianz am Fall von Bildstrecken in Lifestyle-Magazinen. Dafür orientieren sie sich in einem Close Reading an der ästhetischen Eigenlogik der Magazine und nehmen das Zusammenspiel von Medium und Inhalt in den Blick. Insofern als die von ihnen beobachteten Strecken bewusst auf eine Irritation der Betrachterin zielen und mit ihren Sehgewohnheiten spielen, bieten sie eine besonders ergiebige Quelle für die Untersuchung der in Szene gesetzten Gender- und Disability-Kategorien. Sie loten als Wahrnehmungsexperimente für Humanunterscheidungen durch gewollte Verunsicherung die kategorialen Grenzen aus, indem sie Mikro-Unterscheidungen in ästhetisch durchgearbeiteter Form präsentieren. Nach Fazli und Scheiding sind sie daher nicht nur als ästhetische und mediale Umsetzungen von Humankategorisierungen zu verstehen. Vielmehr verfestigen oder verwischen sie kategoriale Grenzen und fungieren somit als Schauplätze der Grenzbearbeitung. Anhand von zwei Beispielen aus britischen Lifestyle- bzw. Mode- und Kunstmagazinen und einem US-amerikanischen Künstlermagazin zeigt der Beitrag, wie Unterscheidungen in einem ironischen und uneindeutigen Modus dargeboten oder Differenzierungen in einer Modestrecke durchdekliniert werden können und wie eine Zeitschrift als Ganzes zu einem queeren, uneindeutigen Raum werden kann. Die dritte Sektion des Bandes unter dem Titel Außengrenzen versammelt drei Beiträge, die Humandifferenzierung von ihren Außenrändern her beleuchten. Im Zentrum stehen Verflechtungen von Mensch und Maschine in hybriden Mensch-Technik-Interaktionen, bei denen Humandifferenzierung nicht mehr von einem intentional unterscheidenden bzw. sich unterscheiden-wollenden Anthropos aus gedacht wird, sondern als Leistung und Effekt solcher Interaktionskonstellationen begegnet. Gabriele Schabacher untersucht aus Perspektive der Medienkulturwissenschaft ausgehend von der aktuellen Diskussion um den racial bias von Gesichtserkennungssoftware den Zusammenhang von Humandifferenzierung und digitaler Überwachung. Aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive richtet sie das Interesse damit auf Infrastrukturen und Verfahren der Fremdkategorisierung von Menschen. Anhand von drei Theoriekonzepten – Medien, Kulturtechniken und Infrastruktur – skizziert sie zunächst, inwiefern Materialität, Operativität und Vernetzung für die Untersuchung von Humandifferenzierungen bedeutsame Aspekte sind. Im Anschluss nimmt sie mit dem Großstadtbahnhof einen besonderen Typus von Überwachungsregimen in den Blick: Als 27

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öffentliche Knotenpunkte sich kreuzender Verkehrsströme sind Bahnhöfe von ihren Anfängen an mit der Kontrolle und Regulierung von Menschenmengen befasst und lassen sich insofern als exemplarische Infrastrukturen der Humandifferenzierung verstehen. Als Fallbeispiel dient ein bundesdeutscher Pilotversuch zur Gesichtserkennung, der am Bahnhof Berlin Südkreuz intelligente Videoanalyse testet. Der Beitrag hebt die Datafizierung durch global vernetzte Überwachungsinfrastrukturen hervor, die auf der Rückseite der vermeintlich einfacheren, automatisierten Verfahren neue Komplexitäten und Unsicherheiten entstehen lässt, die wiederum neue Formen des Unterschieden-Werdens nötig machen. Herbert Kalthoff und Hannah Link beschäftigen sich mit der technisch-materiellen Modellierung von sozio-humanoiden Servicerobotern aus wissenssoziologischer Perspektive. Sie richten ihr Augenmerk auf die Entwurfs- und Designpraxis der Robotiklabore, die sie als Arbeit an der Zukunft menschlicher Interaktion mit humanoiden Artefakten verstehen, und fragen danach, welche Vorannahmen über den Menschen, seine Umwelt und seine Kultur in die Entwicklung dieser Roboter eingehen. Auch wenn die humanoide Robotik ›den Menschen‹ nicht als Ganzen nachbilden will, müssen die Roboter menschenähnliche Eigenschaften (etwa Körpermerkmale wie Augen) aufweisen und so in reduzierter Form als Referenz nutzen. Der Beitrag kontrastiert drei aktuelle Ansätze der Robotikforschung: Während die emergente Robotik den Menschen als lernfähige Entität modelliert, setzt die neuronale Robotik auf Kognition und Wahrnehmung, die analoge Robotik auf den Menschen als Bewegungskörper. Ein solches instrumentelles Verständnis, menschliche Eigenschaften als Werkzeuge zu nutzen, um bestimmte Problemstellungen zu entwickeln, führt allerdings zur ›Wiederkehr‹ eines vergleichsweise ›allgemeingültigen‹ Menschenbildes. Heutige Roboter sind deshalb entdifferenzierte Artefakte ohne Geschlecht, Klasse, Ethnie, Mitgliedschaft etc. Diese Maschinenwesen binden die Menschen, für die sie entworfen sind, auf veränderte Weise in die durch sie induzierte technische Ausdehnung des Humanen ein, so dass es sich gleichzeitig um eine neue Form der Sozialität handelt. Im abschließenden Beitrag untersuchen Sascha Dickel und Miriam Schmidt-Jüngst aus soziologischer und linguistischer Sicht die massenmediale Inszenierung von Sprachassistenzsystemen wie Siri, Cortana und Alexa. Ihr Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass solche Artefakte nicht als bloße Gebrauchsgegenstände oder Werkzeuge vermarktet werden, sondern vielmehr innerhalb von Visionen posthumaner Interaktion in spezifische soziale Positionen rücken. Sie fokussieren damit eine Unterscheidungspraxis an den Außengrenzen des Humanen, die das Verhältnis von Mensch und Maschine weder auf eine einfache Unterscheidung noch auf eine schlichte Symmetrisierung reduziert, sondern vielmehr ein ganzes Beziehungsgeflecht entfaltet. Sie unterziehen den Werbeclip zum 28

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SuperBowl 2020, der Amazons Sprachassistenzsystem Alexa vermittels der Darstellung einer Welt »#Before Alexa« illus­triert, einer detaillierten Analyse. Die soziale Positionierung von Alexa, so können sie verdeutlichen, zeichnet sich durch eine Ambiguität zwischen dienender Unperson und kommunizierender Person aus. Denn einerseits übernimmt Alexa Dienstleistungsaufgaben im Sinne einer asymmetrisch-stratifizierten Rollenpositionierung, andererseits stellt sie als Markenname und multilokale Präsenz eine übermenschliche Position dar. Die Ungleichbehandlung von Mensch und Maschine (Alexa als Hausangestellte) ist dabei ihrerseits mit dem Versprechen verbunden, auf der Seite der menschlichen Beziehungen zu einer Symmetrisierung von Statusdifferenzen beitragen zu können. Alle Beiträge teilen neben dem Thema der Humandifferenzierung auch eine im weiteren Sinne kulturwissenschaftliche Orientierung. Die Fächer, denen sie entstammen, haben es mit Wirklichkeiten zweiter Ordnung zu tun: etwa mit Gemeinschaften, die primär auf einem Glauben an ihre Existenz beruhen, die imaginiert, diskursiv beschworen, performativ inszeniert, institutionell ausstaffiert werden. Die epistemologische Gemeinsamkeit dieser Fächer als Kulturwissenschaften liegt – gleichgültig, ob diese explizit mit dem Kulturbegriff im Titel oder als Sozial- oder Geisteswissenschaften auftreten – in der Kontingentsetzung, reflexiven Beobachtung und Rekonstruktion kultureller Unterscheidungen. Sie teilen einen epistemologischen Kulturalismus. Er bezieht sich auf die Frage, woher Ordnungen stammen. Idealtypisch forschen Naturwissenschaften unter der Annahme, dass die Dinge ihre in der Natur gegebene Ordnung haben, Kulturwissenschaften unter der Prämisse, dass die Dinge nicht ›ihre‹ Ordnung haben, sondern variable und von Menschen geschaffene Ordnungen. Sie unterstellen, eine anthropogene Brechung aller Ordnungen, die, wie zu Beginn dieser Einführung gesagt, eben erst durch sinnhafte Unterscheidungen entstehen.

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D. DIZDAR / S. HIRSCHAUER / J. PAULMANN / G. SCHABACHER

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Ordnungsprozesse

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Geschichtswissenschaft und gesellschaftliche Differenzierung Überlegungen zur historischen Erforschung von Differenzierungsprozessen Gesellschaftliche Differenzierungen unterliegen historischem Wandel: Das betrifft die Anordnung in Stände, Klassen oder Schichten ebenso wie die Einteilung in große gesellschaftliche Felder wie Politik, Religion oder Gesellschaft selbst. Auch soziale Gebilde wie Gruppen, Netzwerke oder Organisationen zeigen unterschiedliche historische Ausprägungen und verändern sich. Die folgenden Überlegungen geben einen Überblick zur geschichtswissenschaftlichen Erforschung von Differenzierungsprozessen. Der Einstieg zeigt am Beispiel der religiös-konfessionellen Differenzierungen die Beziehungen zwischen theoretischer Orientierung, historischen Entwicklungen und epochalen Einteilungen der europäischen Geschichte (1). Anschließend werden die Perspektiven erläutert, unter denen die Geschichtswissenschaft in Deutschland seit den 1960er Jahren sowohl langfristige Entwicklungen als auch zeit- und raumspezifische Formen der Differenzierung erforscht hat: unter dem Blickwinkel der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche (2), als stratifikatorische Differenzierung im Sinne sozialer Ungleichheit von Bevölkerungsgruppen (3) und als soziokulturelle Differenzierung durch Bildung von Gemeinschaften (4). Darüber hinaus hat sie auf ein Konzept der Intersektionalität rekurriert, das stratifikatorische Differenzierung und die Differenzierung durch Bildung von Gemeinschaften kombiniert, und es historisiert (5). Diesen Perspektiven liegen verschiedene Annahmen hinsichtlich von epochalen Einteilungen und Konzepten historischen Wandels zugrunde (insbesondere der Vormoderne und der Moderne) sowie oft ein Gesellschaftsverständnis, das europäische Entwicklungslinien für alle Gesellschaften in der Welt unterstellt. Außerdem berücksichtigen sie in unterschiedlicher Weise historische Prozesse, Strukturen und das Handeln der Akteure. Und sie besitzen Relevanz für die Deutung der Gegenwart. Abschließend wird mit der historischen Anthropologie eine Forschungsperspektive vorgestellt (6). Sie öffnet den Blick dafür, wie Menschen sich in der Vergangenheit voneinander unterschieden, indem sie Unterschiede zu anderen benannten, markierten, festzuschreiben und zu erhalten versuchten, oder aber – im Gegenteil 35

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– danach strebten, sie zu verschleiern, zu negieren, zu überbrücken und zu überwinden.1 Von besonderem Interesse sind hier die historischen Praktiken des Unterscheidens und deren Reichweite.

1. Historische Differenzierungstheorien und die Gegenwart Die verschiedenen Theorien zur Vergangenheit gesellschaftlicher Differenzierungen sind von gegenwärtigen wissenschaftlichen Zugängen geprägt, weil auch Historiker:innen ihre eigene Zeit nie ganz hinter sich lassen können. Umgekehrt kann die Analyse historischen Unterscheidens zu durchaus gegensätzlichen Schlussfolgerungen bezogen auf die Gegenwart führen. Zeitgenössische Analysen und die empirischen Untersuchungen der Vergangenheit stehen daher in einem unauflöslichen Wechselverhältnis. Zum Einstieg in die Überlegungen zur historischen Erforschung von Differenzierungsprozessen sei diese Problematik exemplarisch am Umgang mit religiös-konfessionellen Unterscheidungen in der Vormoderne erläutert.2 Damit soll beispielhaft verdeutlicht werden, wie vor dem Hintergrund der funktionalen Differenzierung je nach epochalem Forschungsschwerpunkt vor oder nach der Zeit um 1800, also jener epochalen Wende, die als Übergang von einer stratifikatorischen zu einer funktional differenzierten Gesellschaftsordnung gilt, verschiedene Bedingungen für den gesellschaftlichen Umgang mit Differenz in den Blick geraten. Die Untersuchung von Differenzkategorien in der langen Dauer ermöglicht, Aktualisierungen und Überlagerung von historischen Differenzkategorien zu verstehen. Die europäischen Gesellschaften in der Frühen Neuzeit kannten verschiedene Verfahren im Umgang mit religiös-konfessionellen Differenzen, eine der zentralen Unterscheidungen, die in der Epoche zwischen der europäischen Expansion und Reformation und der Französischen Revolution immer wieder heftige Konflikte auf zahlreichen Feldern anleitete und auch heute wieder etwa in der westlichen Auseinandersetzung mit dem Islam aufgerufen wird (Stollberg-Rilinger 2016): Erstens gab es Versuche, die jeweilige politisch-territoriale Herrschaft legitimatorisch mit einer bestimmten Glaubenswahrheit zu verknüpfen und eine religiös 1 Der vorliegende Überblick hat von den Diskussionen im Rahmen des Forschungsprogramms »Umgang mit Differenz in der europäischen Neuzeit« am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte profitiert (siehe Leibniz-Institut für Europäische Geschichte 2018). Die Forschungsliteratur kann in diesem Beitrag nicht umfassend nachgewiesen werden; Literaturangaben geben lediglich Hinweise für die weitere Lektüre. 2 Zur Vormoderne als Epochenbegriff Jaser, Pohlig & Lotz-Heumann (2012).

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homogene Untertanenschaft herzustellen, indem abweichende Positionen marginalisiert und ihre Anhänger vertrieben oder zur Konversion gezwungen wurden. Diese Form des Umgangs mit konfessionellen Unterschieden ließ viele Gruppen zu Glaubensflüchtlingen werden – von den Mudéjares auf der iberischen Halbinsel während der Reconquista und der Vertreibung der Morisken 1609 über die Hugenotten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis zu den Salzburger Exulanten von 1731.3 Da vollständige Homogenität nicht zu erreichen war, führten die Homogenisierungsmaßnahmen auch immer wieder zum Verstellen, zum Abtauchen in den Untergrund oder auch zum demonstrativen Märtyrertum. Zweitens konnte der religiöse Konfliktstoff durch die Differenzierung zwischen öffentlicher und privater Religionsausübung entschärft werden, wobei die abweichende, private Religionspraxis unsichtbar bleiben sollte und ihre Anhänger im politisch-öffentlichen Leben benachteiligt wurden.4 Minderheiten zahlten für ihre religiöse Duldung in der privaten Sphäre mit besonderer politischer Loyalität gegenüber der sie schützenden Obrigkeit. Hieran lässt sich ein Ansatz zur gesellschaftlichen Differenzierung zwischen religiöser und politischer Ordnung erkennen, die für die europäische Frühe Neuzeit nicht selbstverständlich war. Theologische Kompromisslosigkeit, die zwischen innerem und äußerem Glaubensbekenntnis nicht unterscheiden wollte, begünstigte dabei die Überordnung der Politik über die Religion, indem sie indirekt die friedensstiftende Rolle der Herrscher stärkte. Drittens kam es zu Friedensschlüssen, die gegenseitige Religionsfreiheit garantierten, wenn zwischen verfeindeten Konfessionsparteien innerhalb eines Herrschaftsgebildes eine Art Machtgleichgewicht herrschte. Diese Religionsfreiheit war in der Regel ein ständisches Privileg, nicht ein individuelles Recht. Die Institutionen des bis 1806 existierenden Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation funktionierten dementsprechend nach Paritätsregeln: Die Verfassung und die politischen Körperschaften waren hier mit Konfessionsgegensätzen gleichsam imprägniert. Da die konfessionellen Unterscheidungen nicht aufgehoben, sondern in Verfahren perpetuiert wurden, konnten sie allerdings auch immer wieder in offene Konflikte münden. Eine denkbare vierte Variante, nämlich die religiöse Neutralität staatlicher Institutionen, konnte in der Frühen Neuzeit nur schwerlich praktiziert werden, weil Herrschaft nicht ausreichend entpersonalisiert war. Im Alten Reich wurde das Prinzip cuius regio, eius religio von 1555 nicht überall umgesetzt, sondern konnte vor allem in protestantischen 3 Allgemein zu Glaubensflüchtlingen Bahlcke (2008); zu den hier exemplarisch genannten Harvey (2005); García-Arenal (2016); Schunka (2019); Walker (1997). 4 Zur begrifflichen Unterscheidung von öffentlicher, privater und häuslicher Religionsausübung um 1600 siehe Voigt-Goy (2021).

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Gebieten auch zu unterschiedlichen Formen der Duldung abweichender Konfessionen innerhalb eines Herrschaftsterritoriums führen. Der Westfälische Frieden fasste die Praktiken 1648 vertraglich so, dass sich zumindest die katholischen, lutherischen und reformierten Untertanen einem Konfessionswechsel des Fürsten nicht mehr anschließen mussten. Sie wurden aber (weiterhin) jeweils nach ihrer verschiedenen Konfessions- und Religionszugehörigkeit abgestuft klassifiziert und besaßen gegebenenfalls unterschiedliche Vorrechte.5 In den europäischen Herrschaften kam bestimmten Konfessionen staatsrechtlich bis in das 19. Jahrhundert und teilweise darüber hinaus ein nahezu ausschließliches Monopol zu. Erst später war staatliche Neutralität (nicht notwendig eine Gleichbehandlung, wie das Beispiel der sogenannten Freikirchen zeigt) sowohl gegenüber den verschiedenen großen christlichen Konfessionen als auch gegenüber Angehörigen jüdischen Glaubens möglich. Das schloss fortgesetzte gesellschaftliche Diskriminierung und eine Rückkehr zu staatlicher Unterdrückung bis zu Vertreibung und Vernichtung keineswegs aus. Aus der Analyse dieser Verfahrensweisen zog die Frühneuzeithistorikerin Barbara Stollberg-Rilinger den Schluss, dass religiöse Verschiedenheit in der Frühen Neuzeit nur begrenzt »versöhnt« werden konnte, weil Recht, Politik und Religion nicht ausreichend entflochten waren, also die funktionale Differenzierung der Gesellschaft nicht vollzogen war. »Versöhnte« Verschiedenheit sei erst möglich, wenn potentieller Streit über religiöse Differenzen »in formalisierten und für alle Beteiligten gleichen rechtlichen Bahnen« ausgetragen werden könne (Stollberg-Rilinger 2016: 203). Rechtsgleichheit und rechtlich-säkulare Verfahren sind demnach Errungenschaften der Moderne, die es erlauben, mit religiösen Unterschieden friedlich umzugehen. Formal-rechtliche Entschiedenheit und Eindeutigkeit im Umgang mit religiöser Differenz und ihren politischen Folgen können allerdings – so meine Perspektive aus der Betrachtung der letzten gut 200 Jahre – gleichzeitig Differenzen verfestigen, verstärken und kleine Unterschiede dramatisieren. Das zieht möglicherweise ein Handeln nach sich, das gesellschaftliche und politische Gegensätze vertieft. Es gilt also, die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht nur für rechtlich abgesicherte Verfahren im Umgang mit religiöser Differenz zu schaffen, sondern auch für eine individuell und kollektiv tragbare Ambiguität und Dissimulation (Paulmann 2016). Die Aufforderung zur Toleranz in Sonntagsreden ist dafür weniger wirksam als eine inszenierte Differenz im Verein mit praktizierter Ambiguität, die 5 Zur Entwicklung vom »Cuius regio, eius religio«-Prinzip zur gestuften Religionsfreiheit des Westfälischen Friedens siehe Horst Dreier (2018: 64–77); zu den Untertanenrechten Schneider (2001); für die europäische Verfestigung konfessioneller Pluralität te Brake (2017: 280–316).

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Unterschiede bis zu einem gewissen Grad verschleiert, ohne sie zu versöhnen, und auf mehr »Ambiguitätstoleranz« setzt, als gegenwärtig praktiziert werden kann (Bauer 2011, 2018; Stollberg-Rilinger 2013). Für das 21. Jahrhundert ist daher ein Blick auf die erfolgreichen, aber auch die gescheiterten Verfahren und Praktiken der Frühen Neuzeit durchaus lehrreich. Mit anderen Worten: Von der Frühen Neuzeit lernen, heißt Differenzierung praktisch einzuüben, nicht Differenzen zu »versöhnen«. Die beiden Beobachtungen – die (fehlende) Voraussetzung rechtlich-säkularer Verfahren des Entscheidens im Umgang mit Differenzen und die (anhaltende) Notwendigkeit praktizierter Ambiguität und Unentschiedenheit – widersprechen einander nicht, aber sie zeigen, dass abhängig vom jeweiligen epochalen Sehepunkt unterschiedliche Phänomene in den Blick geraten. Die Frühneuzeitforschung betont die späte und allmähliche Herausbildung rechtlich-säkularer Verfahren im Umgang mit religiöser Differenz, während mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert eine Entwicklung zur Herstellung von Eindeutigkeit und ein Zwang zum Bekenntnis erkennbar wird. Daraus lässt sich für die Gegenwart – unter Berufung auf die Praktiken der Dissimulation in der Frühen Neuzeit – mehr Ambiguitätstoleranz und entsprechende Verhaltensmuster fordern. Die gesellschaftlichen Schlussfolgerungen, die sich auf historische Erkenntnisse stützen, denen ihrerseits die Theorie der funktionalen Differenzierung von Religion, Politik und Recht zugrunde liegt, werfen somit auch Fragen zum historischen Hintergrund von gesellschaftstheoretischen Ansätzen auf. Welche Differenzierungstheorien werden zu bestimmten Zeiten entworfen und warum werden sie wann auf die Vergangenheit angewandt oder auch nicht? Vergangene wie gegenwärtige Gesellschaften können nicht nur hinsichtlich ihrer funktionalen, stratifikatorischen und soziokulturellen Differenzierung analysiert werden, die Theoriebildung selbst erfolgt in historisch spezifischen Kontexten von Differenzierung. Auch für die mit diesem Band verfolgte Theoriebildung der kulturellen Humandifferenzierung, also des sinnhaften Unterscheidens, kann man fragen, warum sie gerade in der Gegenwart vorangetrieben wird.6 Ist es der besondere Globalisierungs- und Individualisierungsdruck in westlichen Gesellschaften, der die Theoretisierung des elementaren Vorgangs des Unterscheidens zwischen Menschen anregt? Ist es die Einsicht und Erfahrung, in einer ethnisch und religiös diversifizierten Migrationsgesellschaft zu leben? Oder ist es ein Bewusstsein avancierter Individualität mit vielfältigen Möglichkeiten der Selbstbeschreibung? Mit diesen Fragen ist nicht eine normative 6 Vgl. Heintz (2017) für eine Erklärung des Bedeutungsverlusts bzw. -gewinns von Unterscheidungskategorien und ihrer Thematisierung seit den 1960er Jahren mit Bezug auf Identitätssemantiken in der funktional differenzierten Gesellschaft, die soziale Sichtbarkeit von kategorialer Zugehörigkeit und die globalen Veränderungen von Personenkategorien.

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Orientierung von Gesellschaftsanalyse beabsichtigt, wie dies im Falle des Intersektionalitätsansatzes tendenziell geschieht, sondern ein Versuch der Selbsthistorisierung wissenschaftlicher Theoriebildung, der aber wohl erst von künftigen Historiker:innen wirklich fundiert erfolgen kann. Hingewiesen werden sollte lediglich darauf, dass nicht nur die Untersuchung der Vergangenheit, sondern auch die Gegenwartsanalyse standortgebunden und damit historisch situiert ist. Betrachten wir im Folgenden die eingangs erwähnten vier verschiedenen Perspektiven auf historische Formen der Differenzierung im Einzelnen.

2. Funktionale Differenzierung – eine Theorie der (Vor-) Moderne In historischer Perspektive scheidet die Theorie der funktionalen Differenzierung die europäische Geschichte in Vormoderne und Moderne mit der Herausbildung einzelner, autonomer Teilsysteme von Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst u.a. (Luhmann 1997: 707– 776). In dem Maße, in dem diese Funktionssysteme bestimmte Anforderungen an Personen stellen, wirken sie einerseits gesellschaftlich unterscheidend, indem sie Menschen in ihren Rollen nach Leistung und beruflichen Kompetenzen (in Politiker, Richterinnen, Unternehmer, Professorinnen, Pfarrer, Künstlerinnen u.a.) differenzieren. Andererseits inkludieren sie alle Mitglieder in ihren sogen. Publikumsrollen (als Wähler, Bürgerinnen, Kunden, Studierende, Gläubige, Museumsbesucher u. a.). Die Theorie bietet ein Modell für die Analyse der europäisch-westlichen Gesellschaften vor allem im 20. Jahrhundert. Anders als die Exklusion etwa in Klassengesellschaften betont sie die Leistungsanforderung und die Rollen der Individuen, von denen Einzelne je nach lebensgeschichtlicher oder situativer Zugehörigkeit zu einem Teilsystem mehrere einnehmen oder wählen müssen bzw. können. In der Geschichtswissenschaft ist die funktionale Differenzierung, eng mit der Modernisierungstheorie verknüpft, verwendet worden, um den epochalen Unterschied der modernen Gesellschaften seit der Zeit um die Französische Revolution gegenüber den früheren Epochen zu fassen (Passmore 2011). Die kategorische Einteilung in frühneuzeitliche und spätneuzeitliche Gesellschaften mithilfe der funktionalen Differenzierung ist allerdings genauer zu betrachten. Ein allgemeines Problem ist, dass Historiker:innen die funktionale Differenzierung als historischen Prozess oft als Schablone akzeptieren, ohne ihn genauer zu untersuchen7, 7 Die deutschsprachige »Historische Sozialwissenschaft«, die auf das 19. und 20. Jahrhundert fokussierte, war seit den 1960er Jahren stark von der

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und damit die Segmentierung der Geschichtswissenschaft nach Epochen verstärken. Einen Kritikpunkt bildet die Annahme, dass Gesellschaften der Zeitgeschichte komplexer seien als frühere. Diesem Eindruck unterliegen Historiker:innen der späteren Zeit gerne, wenn sie der Theorie funktionaler Differenzierung und ihrer eigenen mehr oder weniger eingestandenen Unkenntnis folgen. Die obenstehenden Beobachtungen zur Herstellung von Eindeutigkeit durch moderne, rechtlich-säkulare Verfahren und der Bedeutung von Ambiguitätstoleranz sollten dem ein Fragezeichen hinzufügen und auf die Komplexität der gesellschaftlichen Differenzierungen in der europäischen Vormoderne verweisen. Weiter wäre genauer zu bestimmen, wie sich der Übergang von der vormodernen zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft vollzog. Schon Luhmann hat darauf verwiesen, dass der Wandel eigentlich unwahrscheinlich war (Luhmann 1997: 707), etwas was Historiker:innen wie Gesellschaftstheoretiker:innen vergessen, wenn sie eine gleichsam logische Abfolge unterstellen. Wo bleiben die historischen Akteure in dieser soziologischen Großtheorie, wer waren die Akteure des gesellschaftlichen Wandels? Diese Frage richtet sich vor allem an Historiker:innen, die umfassende, langfristige historische Prozesse beschreiben, denn die Geschichtswissenschaft neigt ansonsten gewöhnlich dazu, auf die handelnden Individuen und Gruppen zu fokussieren. Der Einwand kommt aber auch aus der Soziologie selbst (Schimank 2005, 2006). Grundsätzlich ist kritisch nach der Reichweite der funktionalen Differenzierung zu fragen und dabei nicht nur zu untersuchen, wo und wie sie in Europa zum Tragen kam (etwa in urbanen oder ländlichen Gesellschaften), sondern auch zu erforschen, inwieweit dieser historische Wandel ein europäisch-westlicher gewesen ist. Historiker:innen, die sich mit den kolonialen und imperialen Beziehungen Europas zum »Rest der Welt« befassten, haben lange in Begriffen der »Expansion« gedacht. Dabei spielten nicht nur ökonomische und politische Machtbeziehungen eine Rolle, sondern auch kulturelle hinsichtlich der Konzepte und Theorien, mit denen fremde Gesellschaften von den historischen Akteuren verstanden wurden. Hörte Europa für Historiker:innen implizit etwa dort auf, wo keine vergleichbare funktionale Differenzierung, etwa zwischen Religion und Politik, einsetzte, und endet Europa auch heute immer noch dort? Inzwischen existiert ein programmatisches Bewusstsein für den Eurozentrismus in der Geschichtswissenschaft, so dass die historischen »Verflechtungen« in beide Richtungen analysiert werden und Europa als eine Provinz in der Welt verstanden wird (Conrad et al. 2013; Adam et al. 2019). Es gilt allerdings, auch im Sinne Dipesh Chakrabartys, die Provinzialisierung durch Europa nicht aus dem Blick zu Modernisierungstheorie angeleitet, während sich international andernorts bereits Modernitätskritik regte – siehe Iggers (2007: 65–74).

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verlieren, also zu berücksichtigen, dass europäische Konzepte und Theorien in die »Provinzen« der Welt getragen und dort übernommen und den Umständen angepasst wurden. Hinsichtlich der funktionalen Differenzierung wäre also zu prüfen, inwieweit sie eine eurozentrische Theorie ist, die zwar die Weltgesellschaft denkt, aber unterstellt, dass die gesellschaftlichen Prozesse überall gleich ablaufen. Ist diese Annahme für eine historisches Verständnis von nichteuropäischen Gesellschaften und für die Entwicklung einer Weltgesellschaft angemessen (vgl. Gißibl/Löhr 2017)? Diese Frage richtet sich an Historiker:innen wie an Gesellschaftstheoretiker:innen. Gehen wir historisch von der funktionalen Differenzierung aus, dann stellt sich in der Gegenwart die weiterführende Frage, ob sie aktuell noch die vorherrschende Form der großen gesellschaftlichen Teilungen bildet (Baecker 2007). Entwickeln sich nicht etwa durch den Wandel der elektronischen Kommunikation andere vorherrschende Prinzipien der Differenzierung, wie etwa die unterschiedliche Stellung in Netzwerken, die gesellschaftliches Leben und Handeln bestimmen und die zunehmend die funktionalen Teilsysteme überspannen? Zugespitzt: Nähern wir uns in Teilen vielleicht wieder personalen Differenzierungsformen der Frühen Neuzeit (vgl. mit Blick auf Patronage Emich 2015)? Seit wann und warum beginnen Grenzen zwischen den Teilsystemen sich aufzulösen? Noch einmal anders gewendet: Was war eigentlich der zeitgenössische Hintergrund für die Theorie der funktionalen Differenzierung? Wir sollten auch diese Theoriebildung historisieren und fragen, wie sie in den zeithistorischen Kontext des Kalten Krieges und des Umbruchs der 1970er Jahre eingebettet war.

3. Stratifikatorische Differenzierung – eine Theorie der sozialen (Un)Gleichheit Der zweite Ansatz, gesellschaftliche Unterscheidungen historisch zu erforschen, gilt der stratifikatorischen Differenzierung. Diese ist eine Form der hierarchischen Differenzierung, die den Platz von Personen in der Gesellschaft als »oben«/»unten« oder »weiter oben«/»weiter unten«, aber auch als »zentral« und »peripher« bestimmt. Im Mittelpunkt des Interesses der historischen Forschung in stratifikatorischer Perspektive stehen soziale Ungleichheiten. Die Geschichtswissenschaft hat sich hier intensiv mit der frühneuzeitlichen ständischen Gesellschaft und der Klassengesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt. Beide Formen der Schichtung sind dynamisch, denn entgegen der aus der Perspektive der späten Neuzeit immer wieder unterstellten Statik war auch die ständische Gesellschaft ausgesprochen beweglich (Schulze 1988). Hinsichtlich 42

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sozialer Mobilität boten hier vor allem Universität, Klerus, Staatsverwaltung, Militär und Handelsgesellschaften Aufstiegsmöglichkeiten. Es lohnt, einmal systematisch umgekehrt zu fragen, also Statik in der späten Neuzeit in den Blick zu nehmen, d.h. die selbstverständliche Annahme ihrer eigenartigen Dynamik zu bezweifeln, und zwar nicht lediglich mit Blick auf den Erhalt der politisch-gesellschaftlichen Macht von Eliten. Eine Ausgangsthese hinsichtlich sozialer Ungleichheit ist, dass im Rahmen der ständischen Gesellschaft sozialer Aufstieg (also das Überwinden von ungleichen Bedingungen) möglich, aber legitimationsbedürftig war, während in der nachfolgenden Gesellschaftsordnung, sofern sich ein Ideal von Gleichheit bzw. Chancengleichheit durchgesetzt hatte, fortbestehende Ungleichheit erklärungsbedürftig wurde. Weiter und politisch gedacht ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Partizipation (Behrisch 2018; vgl. Diner 2000: 46–47, 65–67), denn Gleichheit kann anti-plural wirken, erlaubt aber zugleich die demokratische Partizipation prinzipiell Gleicher. Umgekehrt sorgt Ungleichheit für Pluralität, beschränkt aber Partizipation auf eine ausgewählte Elite. In der historischen Forschung zur sozialen Ungleichheit sind mehrere Schlüsselkategorien identifiziert worden. Als eine fundamentale Unterscheidung in der ständischen Gesellschaft gilt, »dass die soziale Lage von Individuen und Gruppen und deren Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen in der ständischen Gesellschaft ganz erheblich auf dem jeweiligen Maß an gesellschaftlichem Ansehen bzw. ›Ehre‹ beruhte, die einer Person oder Personengruppe von ihrer sozialen Umwelt zugeschrieben wurde.« (Füssel/Weller 2011: 6, 10; Backmann 1998) Ehre erlaubte eine graduelle Unterscheidung, nicht nur eine binäre zwischen Ehrhaftigkeit und Ehrlosigkeit. Im Ancien Régime wurden soziale Ordnung und Hierarchien insbesondere mit Mitteln symbolischer Kommunikation sichtbar gemacht und bekräftigt (Stollberg-Rilinger 2008, 2019). Rangund Präzedenzkonflikte gelten daher als ein weiteres Strukturmerkmal der ständischen Gesellschaft. Ein wesentlicher Teil ihrer inneren Dynamik rührte aus den immer wieder auftretenden Distinktionskämpfen unterschiedlicher sozialer Gruppen. Eine weitere Schlüsselkategorie der Differenzierung war »potestas«, also die legitime Teilhabe an Herrschaftsgewalt. Sie ist ebenfalls als »dominierende« frühneuzeitliche Fundamentalkategorie (Hohkamp 2002) gesehen worden. Hinzufügen sollte man Religion und Konfession, auf die eingangs bereits hingewiesen worden ist (Bähr/Kühnel 2018: 20–21). Wie verhält es sich nun mit sozialer Ungleichheit, mit dem unterschiedlichen Maß an Ehre, der Teilhabe an der Herrschaftsgewalt oder der religiösen Zugehörigkeit in der späteren Neuzeit? Dass Ehre auch im 19. Jahrhundert eine bedeutende, wenngleich nicht eine umfassend die gesellschaftlichen Beziehungen, wohl aber Genderunterscheidungen strukturierende Rolle spielte, ist 43

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bekannt (Frevert 1991; Paulmann 2000: 102–104, 171–173). Konfessionsunterscheidungen prägten die Gesellschaften von den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts bis weit in das 20. Jahrhundert, während Religionszugehörigkeit in den letzten Jahrzehnten erneut zur gesellschaftlich-politischen Differenzkategorie geworden ist. Weiter gefragt: Gibt es auch für die spätere Neuzeit ähnlich zentrale Unterscheidungen für die gesellschaftliche Positionierung von Personen? Welche sozialen Differenzierungen würden wir als Strukturmerkmal bezeichnen? Wenn wir die Verfügung über wirtschaftliche Ressourcen und den Zugang zu Märkten als Grundlage für die kapitalistische Klassengesellschaft betrachten, wäre nach den früheren Debatten um Klasse(n), Klassenlage und Klassenbewusstsein (Iggers 2007: 70–73, 80–86; Kocka 1990) ein aktueller Vorschlag, systematisch »Leistung« als zen­ trales Maß historisch zu untersuchen (Verheyen 2018). Wie wurde Leistungsfähigkeit ausgebildet, gepflegt oder wiederhergestellt? Welche Ordnungssysteme (Schule, Betriebe, Sportwettkämpfe etc.) für Leistungen entstanden? Welche individuellen oder auch gruppenbezogenen Differenzierungen nach Leistung wirkten gesellschaftlich ein- oder ausschließend? In welchen Zusammenhängen und wann verliert oder verlor Leistung ihren strukturbildenden Charakter? Damit wären wir wieder in der Gegenwart angelangt: Gibt es heute überhaupt noch zentrale Maßstäbe für gesellschaftliche Differenzierungen? Oder haben sie durch Vorgänge der Individualisierung, Pluralisierung, Selbstinszenierung und Digitalisierung ihren Orientierungswert verloren?

4. Soziokulturelle Differenzierung – eine Theorie der Identitätskonstruktion Ein dritter Ansatz, gesellschaftliche Unterscheidungen historisch zu erforschen, ist die kulturell-soziale Differenzierung durch Gesellung und Gruppenbildung. Sie beruht auf einer Form der Unterscheidung, die die Anbindung von Personen zu Kollektiven durch Unterstellung und Herstellung von Ähnlichkeit und die Nichtanbindung durch die Konstruktion von Andersartigkeit oder Abweichung bestimmt. Es geht soziologisch gesprochen also um Mitgliedschaft, d. h. die mit anderen geteilten, nicht bloß individuellen Eigenschaften von Menschen, welche sie zu Exemplaren sozialer Gebilde (vor allem von Kollektiven) machen (Hirschauer 2014). In der Geschichtswissenschaft ist der mit kollektiver Mitgliedschaft verbundene Identitätsbegriff kritisch reflektiert worden (Niethammer 2000). Identität wird in der Geschichtswissenschaft als Identifizierungspraktik, nicht als analytisch oder historisch vorgegebene Kategorie verstanden. 44

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Als alternative analytische Begriffe zur »Identität« verwenden der Soziologe Rogers Brubaker und der Historiker Frederick Cooper (2000) erstens Identifikation und Kategorisierung, womit Prozesse der Statuszuschreibung untersucht werden können; zweitens Selbstverständnis (self-understanding) und gesellschaftliche Verortung (social location), um die situative Subjektivität zu erfassen; schließlich drittens Gemeinsamkeit (commonality), Verbundenheit (connectedness) und Gruppenzugehörigkeit (groupness), mit denen Vergemeinschaftung und das subjektive Zusammengehörigkeitsgefühl erschlossen werden sollen. In der historischen Analyse von Identifizierungspraktiken stehen die Akteure und die Prozesse im Mittelpunkt, Binnendifferenzierungen, unterschiedliche Ausdrucksformen und Ausprägungen von Identität werden von Anfang an mitgedacht. Auch kann zwischen Selbst- und Fremdidentifikation unterschieden werden, wenn Identität und Status durch Zeichen oder Papiere und die daran geknüpften Ordnungsstrukturen zugeschrieben werden. Die Praktiken waren auch ein Element relationaler Ansprüche im Prozess der kulturellen Souveränitätspolitik im Sinne der Selbstbehauptung und des Deutungsanspruchs gesellschaftlicher Gruppierungen (Feindt et al. 2017). Zugehörigkeit als ein weiteres zentrales Konzept, das in der Geschichtswissenschaft gängig geworden ist, um die soziale (Gruppen)Differenzierung zu untersuchen, legt ein besonderes Gewicht auf die Perzeption und Praktiken der Akteure sowie ihre Relationen zueinander (Hirschauer 2017). Zugehörigkeit wird verstanden als »eine emotionsgeladene soziale Verortung, die durch das Wechselspiel (1) der Wahrnehmungen und der Performanz der Gemeinsamkeit, (2) der sozialen Beziehungen der Gegenseitigkeit und (3) der materiellen und immateriellen Anbindungen oder auch Anhaftungen entsteht« (Pfaff-Czarneka 2012: 12, Hervorhebungen JP). Die hier soziologisch definierte Zugehörigkeit bildet für Differenzbeschreibungen einen wesentlichen Teil von kollektiven Identitätskonstruktionen. Historische Formen der Bildung von Gesellungsformen waren zum Beispiel Familien, Clans, Klientel- und Patronagesysteme, Bruderschaften, Freundschaften, Netzwerke, Landsmannschaften, Vereine u.a. In der historischen Forschung sind in diesem Zusammenhang mehrere Forschungsperspektiven verfolgt worden: Identitäts- und Alteritätsforschung (u.a. Fludernik/Gehrke 1999, 2004); postkoloniale Hybridität;8 Pluralisierung und Autorität (Oesterreicher et 8 Hybridität als postkolonialer Leitbegriff propagiert ein anderes Verständnis als die Identitätspraktiken. Sie dient als Leitbegriff zur Bezeichnung von kulturellen Misch- und Gemengelagen und als positiver Gegenbegriff zu Vorstellungen kultureller Reinheit. Hybridität ist auch abgegrenzt gegenüber der Begrifflichkeit des Multikulturalismus, der mit seinen zentralen Kategorien der Integration, Akkulturation oder Assimilation tendenziell eine Vielheit separierbarer Kulturen nahelegt. Der Begriff der Hybridität betont

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al. 2003; Höfele et al. 2013), damit auch in europa- und globalgeschichtlicher Perspektive die Untersuchung von Prozessen der Marginalisierung (Dejung/Lengwiler 2016). Allgemeiner formuliert ist von einer relationalen Perspektive auf die Geschichte der Gesellschaft gesprochen worden: Im Mittelpunkt stehen hier soziale Differenzierungen, die erst durch Beziehungen zwischen Individuen und Personengruppen konstituiert und konstruiert werden (Füssel 2015; Epple 2017; Friedrichs 2018). Die Erforschung soziokultureller Gruppenbildungen tendiert dazu, Unterschiede kleiner zu machen, weil sie eher Zugehörigkeit durch Ähnlichkeit als Exklusion durch Abweichungen im Fokus hat. Obgleich die Gruppenbildung epochenübergreifend untersucht werden kann, wäre auch hier nach der epochalen Spezifik und den epochenübergreifenden Gemeinsamkeiten zu fragen: Wie fest waren soziale Anhaftungen und Anbindungen? Lässt sich mit Identifizierung und Selbstverständnis in allen Gesellschaften gleichermaßen arbeiten oder müssten nicht die historische Entwicklung und Wandelbarkeit der Vorstellung von der Individualität und damit die soziale Konstitution des Individuums als Teil eines historischen Vorgangs Berücksichtigung finden?9

5. Intersektionalität als Historisierung von Kreuzungen sozialer Ungleichheit In der Geschichtswissenschaft ist auch das Konzept der Intersektionalität aufgegriffen und dabei entgegen seinem ursprünglich statischen Ansatz (Crenshaw 1994) so verändert worden, das kontingente Differenzkonjunkturen in den Blick geraten. In den Kultur- und Sozialwissenschaften nicht kulturelle Diversität und deren Möglichkeit, sondern kulturelle Differenz und deren Artikulationsbedingungen. Es lassen sich zwei Spielarten von Hybridität in der kulturwissenschaftlich-politischen Debatte unterscheiden: Ein kritisch-emanzipatorisches Verständnis von Hybridität als Strategie und Möglichkeit subalterner Differenzartikulation, subversiver Aneignung und Amalgamation sowie der kritischen Infragestellung von Asymmetrien und binären Oppositionen; und ein liberal-permissives Verständnis von Hybridität als anerkennende Inwertsetzung von Marginalität und Vermischung, die als Produktivfaktor zunehmend kapitalistisch und politisch verwertet wird (Feindt et al. 2017: 29–30). 9 Zur Kritik an der Vorstellung, dass das (westliche) Individuum Hauptbezugspunkt historischer Vorgänge sei, siehe schon Medick (1984: 318) mit Bezug auf Geertz; neuere historische Forschungen betrachten die These von der Entdeckung des Individuums in der Renaissance kritisch, siehe Groebner (2004) u. Vowinckel (2011: 7–15 u. 26–38).

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fand Intersektionalität vor allem in der Genderforschung, in Untersuchungen zu Rassismus/Ethnizität, aber auch in Studien, die religiöse oder konfessionelle Kategorien in den Mittelpunkt rücken (wie die jüdischen Studien oder die Protestantismus- bzw. Katholizismusforschung) Verwendung; es spielt auch für die Area Studies eine gewisse Rolle, sofern ein bestimmter Raum »seinem Charakter nach« als ein besonderer gedacht wird. Diese verschiedenen Studien fokussieren auf eine bestimmte Differenzkategorie, die sie als dominant betrachten. Sie sind häufig interdisziplinär orientiert, so dass die historische nur eine von mehreren Perspektiven auf die Entwicklung, Wirkung und in vielen Fällen politisch geforderte Überwindung der untersuchten Differenz hergibt. Die jeweils bestimmende Unterscheidungskategorie wird in der Regel als diskriminierend oder als eine Ungleichheit produzierende Unterscheidung angesehen. Auch geschichtswissenschaftliche Forschungen zur Intersektionalität neigen zwar dazu, die jeweilige Kategorie als epochenübergreifend wirkmächtig anzusehen, beachten jedoch im Sinne der historischen Semantik durchaus den historischen Wandel der als maßgeblich angenommenen Differenzkategorie (z.B. Bethencourt 2014). Historiker:innen erkennen im Sinne des Intersektionalitätsansatzes im Allgemeinen auch, dass meist nicht nur eine besondere Differenzkategorie für soziale Gruppenbildungen und Stratifikation sowie das Handeln von Personen eine Rolle spielte. Welche zugeschriebene Eigenschaft salient war, bestimmen sie zeitlich und räumlich kontextabhängig. Während bei einem eher schlichten Verständnis die Addition mehrerer, feststehender Unterscheidungskategorien, die den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen bestimmter Gruppen einschränken, im Mittelpunkt des Interesses steht (Palm 2018), haben Historiker:innen das Konzept – allerdings unter Beibehaltung des Begriffs – weiter zu entwickeln versucht, indem sie die Kontingenz und die Konjunkturen im Zusammenwirken von Differenzkategorien betrachten. Intersektionalität soll demnach nicht nur als Mehrfachbenachteiligung, sondern als ein Zusammenspiel, aber auch Gegeneinander mehrerer Differenzkategorien verstanden werden. So lassen sich erstens Differenzierungsprozesse im Sinne der Herstellung von Verschiedenartigkeit (nicht nur Ungleichheiten) untersuchen und zweitens auch Privilegierung (und nicht nur Marginalisierung) durch das Zusammenwirken mehrerer Kategorien und die Verbindung von Privilegierung der einen mit der Marginalisierung der anderen analysieren. Das erlaubt drittens vor allem verschiedene Ebenen zu betrachten: die Mikroebene der (alltäglichen) Interaktion von historischen Akteuren, die Ebene der gesellschaftlich-politischen Strukturen (Instanzen, Infrastrukturen, Normsysteme) und schließlich auch die Ebene der Wahrnehmungen, Vorstellungen und Repräsentationen. Damit geraten historisch spezifische Konstellationen in den Blick der Untersuchung. Historisch soll dann viertens gefragt werden, wie sich 47

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das Gewicht von bestimmten Kategorien mittel- oder längerfristig veränderte, wie Leitkategorien sich durchsetzten und welche vormaligen Unterscheidungen gleichsam an den Rand gedrängt wurden. So werden historische Konjunkturen, sowohl im Sinne eines Aufs und Abs als auch im Sinne eines Zusammenwirkens kontingenter Differenzkategorien, erkennbar. Schließlich lässt sich fünftens die Kategorienbildung historisch begreifen, d.h. die Kategorien selbst nicht als gegeben verstehen, sondern sie als Wechselspiel verschiedener Unterscheidungen auf unterschiedlichen Ebenen – als werdend, sich verfestigend oder auch auflösend – betrachten. Historische Prozesse der (Ent)Differenzierung geraten damit in den Fokus. Diese (neueren) Überlegungen zu einer historischen Intersektionalitätsforschung haben sich vom Konzept der Intersektionalität, das die Kreuzung von Formen sozialer Ungleichheit, die vorab strukturtheoretisch festgelegt werden, wesentlich entfernt. Sie kommen dem Konzept der Humandifferenzierung sehr nahe und verweisen unter anderem auch direkt auf den Zugang des undoing gender von Stefan Hirschauer (Bähr/ Kühnel 2018: 26). Bemerkenswert ist, dass hier Historiker:innen schreiben, die sich mit der Frühen Neuzeit, also den gut drei Jahrhunderten vor 1800 und der sogen. Vormoderne beschäftigen.10 Die kategoriale Trennung der Epochen, die auf der Theorie der funktionalen Differenzierung beruht, scheint bei der Historisierung des Konzepts wenig sinnvoll, wenn nicht gar hinderlich für historische Untersuchungen von Humandifferenzierung und der Frage, wie Menschen sich voneinander unterscheiden.

6. Historische Anthropologie – ein methodischer Zugang zur Vergesellschaftung durch (Ent)Differenzierung Eine »Geschichte der Differenzen« ist eine Geschichte der Neuzeit unter der Perspektive, wie Menschen sich voneinander unterschieden, indem sie Unterschiede zu anderen sprachlich benannten und performativ markierten, durch Regeln festzuschreiben und in Verfahren oder institutionell zu erhalten versuchten oder aber danach strebten, Unterscheidungen zu verschleiern, zu negieren, zu überbrücken und zu überwinden. Für dieses Erkenntnisinteresse bietet die Historische Anthropologie einen geschichtswissenschaftlichen Zugang. Er ermöglicht, an aktuelle sozial- und kulturwissenschaftliche Entwicklungen anzuknüpfen, und lässt sich gut mit sozial- und gesellschaftstheoretischen Fragen der Humandifferenzierung verbinden. Historische Anthropologie ist ein ab den späten 10 Siehe allgemeiner auch Kallenberg (2012) sowie im Rahmen migrationsgeschichtlicher Studien Kallenberg (2011) und Schrover/Moloney (2013).

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1970er in der deutschen Geschichtswissenschaft sich etablierender sozial- und kulturgeschichtlicher Zugang. Die Historiker:innen, die ihn programmatisch und empirisch vorantrieben, grenzten ihn vom Paradigma der Historischen Sozialwissenschaft ab. Sie wollten nicht deren »zentristischer und unilinearen historischen Sichtweise« folgen, die soziale Phänomene nach ihrer Stellung im Zentrum bzw. am Rande des Geschehens im Rahmen der großen Prozesse von Modernisierung, Industrialisierung und des Aufbaus von bürokratischen Anstalts- und Nationalstaaten einordnete (Medick 1984: 301–302). Eine solche, sozial­wissenschaftlich inspirierte Perspektive stellte die subjektiven und objektiven Dimensionen historischer Vorgänge einander dichotomisch gegenüber und gewichtete die Wirkmächtigkeit der Verhältnisse stärker als die Handlungskompetenz und den Eigensinn der Personen. Diejenigen, die einen historisch-anthropologischen Ansatz verfolgten, strebten hingegen danach, das Wechselverhältnis von Erfahrungen und Wahrnehmungen mit den Lebens-, Produktions- und Herrschaftsverhältnissen zu erforschen. Historische Anthropologie betont daher die andauernde, kulturelle Herstellung von Strukturen, Handlungszusammenhängen und gesellschaftlichem Selbstverständnis. Diese waren somit sowohl ein veränderlicher, zeitlich und räumlich spezifischer Bestandteil als auch zugleich ein Ergebnis des Verhaltens, der Perzeption und Erfahrung von bestimmten Personen und Personengruppen (Medick 1984: 295–297). Gegenstand der historisch-anthropologischen Forschungsinteressen bildeten zunächst die vermeintlichen »Verlierer« und Randerscheinungen der Modernisierung, also etwa die Gruppen und Schichten, die im Laufe der säkularen Umwälzungen pauperisiert und ausgegrenzt wurden, volkskulturelle Äußerungen und Denkweisen oder die Geschichte der Frauen (Medick 1984: 300–303). Man widmete sich dem »Fremden« immer auch außerhalb Europas, zunächst vor allem aber in der eigenen, europäischen Geschichte. Ein deutlicher epochaler Schwerpunkt lag auf der Frühen Neuzeit, deren Erforschung für die Entwicklung dessen, was als wissenswert und geschichtsrelevant erschien, in der Folge wesentliche Impulse für eine Erneuerung des Gesamtfachs gab. Die Forschungsinteressen weiteten sich über die Jahre aus (Burschel 2012). Wichtig blieben körper- und geschlechtergeschichtliche Ansätze, die Untersuchung des alltäglichen, »kleinen Lebens« sowie die Analyse von Selbstzeugnissen und Bild- und Medienwelten. Hinzu kamen Bereiche wie die Geschichte der Gewalt, die Wirtschaftsgeschichte, die Wissensgeschichte, die Globalgeschichte oder die Geschichte der materiellen Kultur.11 Die Historische Anthropologie, wie sie sich in Deutschland stark angeregt vor allem von der englischsprachigen Sozial- und 11 Viel zitiert neben dem Aufsatz von Medick (1984) wurde in der deutschen Forschung Habermas/Minkmar (1992). Die Etablierung der Historischen

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Kulturanthropologie etabliert hat, kann als eine Kulturgeschichte verstanden werden, und zwar im Sinne von Kultur als Lebenspraxis, nicht als abgegrenztes Handlungsfeld. Im programmatischen Postulat des Historikers Hans Medick spielte 1984 die Interpretation symbolischer Formen und ihres gesellschaftlichen und politischen Gebrauchs – orientiert an Clifford Geertz – eine große Rolle. Symbolische Formen sollten das Problem der Unzugänglichkeit von »fremden«, d.h. vergangenen subjektiven Erfahrungen überwinden, denn das hergebrachte hermeneutische Verfahren historischen Arbeitens setzte eine kulturelle Einheit und die Kontinuität des Erfahrungszusammenhangs voraus, die jedoch gerade nicht mehr als gegeben galten. So wichtig die semiotische Entschlüsselung vielfältiger und hierarchischer Bedeutungsstrukturen für historisch-anthropologische Forschungen auch weiterhin ist, lässt sich doch eine praxeologische Tendenz beobachten: Das Interesse richtet sich verstärkt auf historische Praktiken, Handlungsmuster, Verhaltensweisen und Routinen, über die materielle Ressourcen und soziale Beziehungen mobilisiert und damit Handlungsoptionen eröffnet wurden (Burschel 2012: 159; Freist 2015). Ausgangspunkt sind also nicht mehr die gesellschaftlichen Gruppen oder Subjekte, sondern das Haushalten, das Konsumieren, das Streiten oder eben das Unterscheiden (Füssel 2015: 136). In der Historischen Anthropologie, wie sie hier verstanden wird, steht nur scheinbar »der Mensch« im Mittelpunkt, denn ihre Fragestellungen richten sich keineswegs auf das »Wesen des Menschen« oder elementare, biologienahe und zugleich universal verbreitete Verhaltensweisen wie Geburt, Ernährung, Reproduktion, Kämpfen und Sterben.12 Vielmehr zielen sie auf »historisch veränderliche Wissensformen des und über den Menschen« (Tanner 2012). Es geht also um die historisch gewordene und wandelbare Pluralität der Menschen. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Frage, »wie sich Menschen vergesellschaften und dabei das symbolisch vermittelte Soziale produzieren, das sie prägt, auf das sie sich aber nie reduzieren lassen« (ebd.). Die zentrale Problemstellung lautet demnach, »wie Menschen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten und medialen Konstellationen in ein reflexives Selbstverhältnis geraten, das es ihnen ermöglicht, sich in einer spezifischen Weise als handelnde, denkende und fühlende Subjekte zu verstehen und sich immer wieder neu zu ›erfinden‹.« (ebd.) Jakob Tanner hebt hier drei Themenfelder hervor, die in der Historischen Anthropologie behandelt werden: Erstens die Formen und medialen Bedingungen menschlicher Selbstbeschreibungen sowie den Wandel von Anthropologie vollzog sich und zeigte sich in der seit 1993 erscheinenden Zeitschrift Historische Anthropologie: Kultur – Gesellschaft – Alltag. Köln: Böhlau. 12 Deutliche Abgrenzung von einer ontologischen Anthropologie schon bei Medick (1984: 299–300).

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Menschenbildern (siehe z. B. Stornig/Becker: 2018); zweitens soziale Praktiken, kommunikative Interaktionsmuster sowie die symbolischen Formen und Machtbeziehungen, die das Gesellschaftliche strukturieren und regulieren; drittens die Historizität der menschlichen Natur. Die Historische Anthropologie steht einem soziologischen Ansatz wie der Humandifferenzierung nahe. Beide wählen einen dezidiert kulturellen Zugang zur Analyse von Gesellschaften. Sie erforschen symbolische Formen und ihren gesellschaftlichen und politischen Gebrauch; sie unterscheiden verschiedene Ebenen (oder Sinnschichten) von den situativen Praktiken über die Verfestigung in intersubjektiven Identifizierungen und die Beschreibungen von Zugehörigkeit bis hin zu den symbolischen Ordnungsentwürfen von Gesellschaften. Historisch-anthropologische Forschungen haben seit den 2000er Jahren insbesondere auch Distinktionspraktiken in der ständischen Gesellschaft untersucht (Füssel/Weller 2005; Carl/Schmidt 2007) und dabei die innere Dynamik der ständischen Gesellschaft durch permanentes Unterscheiden herausgearbeitet. Die Auseinandersetzungen um die Unterscheidungen wirkten in der Regel nicht ordnungsstürzend, sondern wurden vom Bemühen um die Bestimmung des jeweiligen Platzes in den bestehenden Kategorien und Klassifikationen geführt. Der historisch-anthropologische Ansatz ist schließlich in jüngster Zeit im Sinne einer globalen Mikrogeschichte erweitert worden (Trivellato 2011; Medick 2016; Gwinn 2016; Levi 2017). Damit ist in erneuerter Form zum einen die Frage nach der synchronen und diachronen Reichweite von Vorstellungen und Praktiken gestellt und zum anderen das Problem der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Untersuchungsebenen aufgeworfen worden. Gegenüber den deutschen Debatten zwischen Alltags- und Sozialgeschichte in den 1980er und 1990er Jahren, in denen Mikro- und Makrogeschichte, Agency und Struktur sowie Zustandsbeschreibung und Veränderungsprozesse einander gegenüberstellt wurden, werden das Zusammenwirken, die Perspektiven und die Auswahl der verschiedenen Ebenen inzwischen kritisch reflektiert, einschließlich ihrer Konstruktion durch die Forschenden (Kallenberg 2012: 98–101; de Vries 2019). Die Ebenen reichen von den subjektiven, situativen und lokalen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Praktiken, ihrer Verfestigung und Institutionalisierung in Normsystemen und Kontrollinstanzen bis zu den unter Umständen weltweit sich ausbildenden Infrastrukturen und Möglichkeitsbedingungen (Bertrand/Calafat 2018). Untersuchungen, wie Mikro-, Meso- und Ma­kroformen zusammenwirkten, stellen nicht nur erhebliche analytische, sondern für Historiker:innen auch narrative Herausforderungen. Sie zwingen außerdem dazu, über die Reichweite von zeitgenössischen Kategorien und Praktiken nachzudenken: in räumlicher Hinsicht über die Grenzen europäischer Denk- und Verhaltensweisen, in temporaler Hinsicht über die verschiedenen Geschwindigkeiten 51

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ihres Wandels und die daraus resultierenden Konflikte.13 Die Fragen nach den Ebenen und den Reichweiten, die in der globalen Mikrogeschichte aktuell aufgeworfen werden, beziehen sich auf allgemeine geschichtswissenschaftliche Probleme. Sie verweisen auf die konkreten (historischen) Kontexte und Konstellationen, für die sich Historiker:innen interessieren und in denen Menschen, auch wenn sie Unterscheidungen treffen, agieren, durch Praktiken Handlungszusammenhänge und Strukturen herstellen, bestätigen oder modifizieren und ein gesellschaftliches Selbstverständnis ausbilden. Die Erforschung der Humandifferenzierung gewinnt durch diese Perspektive, indem sie nicht nur das Fortwirken oder Verschwinden historischer Unterscheidungen erkennt, sondern auch die Verwandlung gegenwärtiger Differenzierungen in Geschichte reflektiert. Die historisch-anthropologisch inspirierte Analyse von historisch wandelbarer Vergesellschaftung durch (Ent)Differenzierungen könnte einen epochal und räumlich offenen Ansatz darstellen, der zum einen kein Narrativ für die Geschichte gesellschaftlicher Differenzierung vorgibt oder voraussetzt, sondern es erst entwickelt. Vom Standpunkt der Gegenwart aus ergibt sich eine widerspruchsvolle und vielschichtige Geschichte des Unterscheidens, die in zahlreichen Bezügen in die Vormoderne zurückreicht. Zum anderen erlaubt ein solcher Ansatz einen kontextsensiblen Zugang, der historische und gegenwartsnahe Konstellationen und Konjunkturen erkennen lässt. Er wäre offen für europäische und nichteuropäische Untersuchungen sowie die Beziehungen zwischen bzw. die Entwicklung dieser historisch-räumlichen Unterscheidung. Schließlich wäre eine solche geschichtswissenschaftliche Forschung geeignet, Fragen, Methoden und theoretische Bausteine aus anderen Disziplinen aufzunehmen und auch an diese weiterzugeben.

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Stefan Hirschauer und Damaris Nübling

Sinnschichten des Kulturellen und die Aggregatzustände der Sprache Bei der Beschreibung von Institutionalisierungsprozessen haben eine Reihe soziologischer ›Klassiker‹ auf eine Metaphorik zurückgegriffen, die an die Physik der Aggregatzustände erinnert. So sprach Georg Simmel vom »Kristallisationsgrad« sozialer Phänomene und davon, dass die »Verfestigungen« gesellschaftlicher Systeme auf dem »ewigen Fließen und Pulsieren« des interaktiven Austauschs ruhen (1992/1908: 33). Peter Berger und Thomas Luckmann sprachen für die Entstehung übersubjektiver Sinnzusammenhänge (wie vorher schon Alfred Schütz) von der »Sedimentierung« von Sinn und von der Institutionalisierung habitualisierten Verhaltens als »Erhärtung« (1969: 63, 72ff.).1 Richtete sich die soziologische Metaphorik auf die Verwandlung flüchtiger Sozialität (Interaktionen bei Simmel, subjektive Sinnstiftung in der Sozialphänomenologie) in dauerhafte Strukturen, so bezeichnet der physikalische Begriff des Aggregatzustands unterschiedliche materielle Zustände eines Stoffes (fest, flüssig, gasförmig, plasmatisch), die sich durch Änderungen von Temperatur oder Druck ineinander verwandeln können. Flüssigkeiten kondensieren oder verdampfen, Festkörper erstarren oder schmelzen, Gase sublimieren oder resublimieren. Ein und dasselbe Element erscheint in Gestalten unterschiedlicher Festigkeit. Wir wollen in diesem Aufsatz die Heuristik der Aggregatzustände für die Sozial- und Kulturwissenschaften explizieren – zum einen, weil sie sich über die Soziologie hinaus auch in anderen Fächern findet (wie wir für die Linguistik zeigen werden),2 zum anderen, weil sie den interdisziplinären Dialog dieser Fächer unterstützen kann. Die Aggregatzustände 1 Die Metaphorik findet sich auch in jüngeren Texten: Zygmunt Bauman (1999: 52ff.) fasste die »Klebrigkeit« des sozial Fremden als einen Zustand, der den Einheimischen je nach eigenen Ressourcen mal flüssiger, mal zäher erscheint. Andreas Reckwitz begreift Praktiken und Diskurse »als zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen« (2008: 202). Andreas Glaeser (2014) entfaltet Berger/Luckmanns Metaphorik der Erhärtung: Handlungen gerinnen zu Institutionen (210), was Stabilität erhöht, aber auch verknöcherte Konventionen schaffen kann (228): »different kinds of institutions inevitably combine to make flows more or less viscous« (231). 2 Zu Fluiditätsmetaphern in der Geschichtswissenschaft s. Gänger (2017), in der Wissenschaftsforschung Mol/Law (1994).

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des Kulturellen verbinden nämlich den Grundgedanken einer Pluralität von ontologischen Zuständen eines Phänomens, die nach unterschiedlichen disziplinären (bes. methodischen) Weltzugängen verlangen, mit der Idee seiner Gestalttransformation in der Zeit. Wir werden im Folgenden zuerst die Heuristik der Aggregatzustände des Kulturellen explizieren (1): Wir werden das Bezugsproblem identifizieren, das sie lösen soll (1.1), dann seine beiden fruchtbaren Elemente der Vielschichtigkeit und des Gestaltwandels herausarbeiten (1.2), um anschließend die institutionelle Verstetigung kultureller Phänomene präziser bestimmen zu können (1.3). Dann werden wir den Fokus auf Aggregatzustände innerhalb der Sprache zuziehen (2) und Institutionalisierungsprozesse in vier ›Erhärtungspfaden‹ beschreiben: als stabilisierende Normierung beim Ausbau vom Dialekt zur Standardsprache (2.1), dann innerhalb des Sprachsystems als Lexikalisierung (2.2), Genrebildung (2.3) und unterschiedlichen Prozesse der Grammatikalisierung (2.4). Ein kurzer Ausblick schließt unseren Beitrag ab (3).

1. Die Heuristik der Aggregatzustände des Kulturellen 1.1 Das Bezugsproblem Die vorgeschlagene Heuristik gilt einem Bezugsproblem, das schon innerhalb von Disziplinen, besonders aber im interdisziplinären Dialog auftauchen kann: den fachlichen Reduktionismen, die etwa alles kulturelle Geschehen in Kommunikation oder in Diskursen aufgehen sehen, auf Kognitionen oder auf Performances zentrieren. Zur Überwindung solcher Monismen werden oft Dualismen vorgeschlagen, die Soziales und Kulturelles trennen: Das gilt für die Unterscheidung von Gesellschaft und Kultur (bei Kroeber/Parsons 1958), von Gesellschaftsstruktur und Semantik (bei Luhmann 1980), von einer ›symbolischen‹ und einer ›sozialen‹ Ebene (etwa bei Wimmer/Lamont 2006) oder für die Differenzierung eines ganzen Faches, der Ethnologie, in Sozial- und Kulturanthropologie. Wie bei allen dualen Unterscheidungen ist aber oft nicht leicht zu sagen, was auf welche Seite fallen soll und wie es denn vermittelt wird. Fruchtbarer scheint es, Kulturelles und Soziales nicht dichotom zu trennen, sondern durch Auffächerung anzunähern. Hilfreich ist dabei die Grundannahme einer ontologischen Heterogenität kultureller Phänomene, wie sie Bruno Latour (2007) favorisiert und auch schon in Foucaults Begriff des Dispositivs (1976) anklang. Kulturelle Phänomene sind kaum jemals nur Diskurseffekte oder kognitive Schemata, es sind auch 59

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praktisch vollzogene, körperlich sowie in Artefakten und Infrastrukturen materialisierte Phänomene. So begreift etwa Rogers Brubaker (2007: 22) imaginierte Gemeinschaften als ein Konglomerat heterogener Elemente: »praktische Kategorien, situatives Handeln, kulturelle Redensarten, kognitive Schemata, diskursive Deutungsmuster, organisatorische Routine, institutionelle Formen, politische Projekte und zufällige Ereignisse«. Analog existieren Paarbeziehungen als interaktive Praxis, als Jahresritual und Beziehungsgedächtnis, als Narrativ des Kennenlernens, als literarischer und filmischer Liebesdiskurs, als warengestützte Affektivität, als Komplex rechtlicher Regelungen usw. Und staatliche Grenzen bestehen aus sprachlichen Verständigungsschranken, aus kartografischen Repräsentationen, aus einer Geltungsgrenze von Gesetzen, aus imaginierter Alterität bei ihrer Überschreitung, aus Praktiken, die eben diese Durchlässigkeit für Güter und Personen kontrollieren, sowie aus Grenzposten, Fahnen und Schlagbäumen. Um diese Vielschichtigkeit kultureller Phänomene umfassend zu betrachten und analytisch zu ordnen, empfiehlt sich eine analytische Auffächerung von Sinnschichten, in denen sie prozessiert werden. In einer ersten Annäherung kann etwa so unterschieden werden: •







Sprachliche Strukturen umfassen Prägungen von unterschiedlicher (meist längerer) Halbwertzeit: von okkasionellen Wortbildungen und lockeren Sprachgebrauchsmustern über lexikalisierte Begriffe und etablierte kommunikative Gattungen bis hin zu historisch persistenten grammatischen Strukturen, die sich dem Zugriff der Sprechenden entziehen. Alle unterhalten enge Verbindungen zu kognitiven Schemata und diskursiven Repräsentationen. Diskurse i.S. andauernder kohärenter Thematisierungen gibt es auf ganz unterschiedlichen Niveaus: als große mythische Erzählungen, als schriftgelehrte Spezialdiskurse (in Wissenschaft, Jurisprudenz und fiktionaler Literatur), oder als populäre Diskurse, die ihre Deutungsmuster stärker oral (in Form von Redensarten, Sprichwörtern, Alltagsmythen und -narrativen) oder visuell (etwa in den Massenmedien) artikulieren. Imaginationen und kognitive Schemata (Erwartungen, Rahmen, Skripte, stereotype Sicht- und Hörweisen) sind zu einem guten Teil mentale Entsprechungen diskursiver Repräsentationen und sprachlicher Kategorien. Sie erfassen unmittelbar das Selbst und sind von dort z.T. als Einstellungen und Annahmen erfragbar, z.T. nur in ihm als bildliche Vorstellung, affektive Haltung oder körperliche Empfindung wirksam. Situierte Praktiken (des Kommunizierens, Interagierens, Arbeitens, Spielens etc.) bilden die Sinnschicht der beobachtbaren Verhaltensweisen. Sie reichen von routinisierten Tätigkeiten, Sprechweisen 60

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und habitualisiertem Gebaren, das sich auf verkörpertes Wissen stützt, bis zu ostentativen Performances, die kulturelle Phänomene körperlich repräsentieren. Soziale Strukturen sind Assoziationen von Aktivitäten, Akteuren und Aktanten (etwa Interaktions-, Weisungs- oder Lieferketten), die stabile soziale Formen ausbilden können: von dyadischen Beziehungen, Gruppen und imaginierten Gemeinschaften über Netzwerke und Organisationen bis zu arbeitsteiligen gesellschaftlichen Teilsystemen. Materielle Infrastrukturen schließlich bieten den Praktiken und Diskursen eine vergleichsweise dauerhafte ›Hardware‹ aus sozialisatorisch und habituell geformten Körpern, aus Artefakten, Technologien und Kommunikationsmedien, Systemen für den Personen- und Warentransport sowie aus Bauwerken bis hin zu Stadtlandschaften mit ihren Versorgungs- und Entsorgungssystemen (für Wasser, Energie, Müll).

Anders als in der soziologischen Tradition, die das fluide Handeln, Interagieren und die subjektive Sinnstiftung von individuellen Akteuren den geronnenen Strukturen gegenüberstellte, erscheinen Individuen eher zur Gänze von diesen Sinnschichten durchzogen und fragmentiert. So können Körper und Verhalten in einer Gewohnheit oder affektiven Haltung stecken, über die das ›politische Bewusstsein‹ der verbalisierten Einstellung weit hinaus ist und in der unbewusste Schemata oder grammatische Strukturen (s. 2.4) das Tun viel stärker disponieren als es die überzeugendsten Diskurse vermögen.3 Aus der Perspektive einer Sinnschicht (d.h. in der Sichtweise der auf sie fokussierenden Disziplinen) lassen sich die jeweils anderen als subordinierte Beiträger beschreiben. So kann man Diskurse ins Zentrum stellen, die ihre sprachlichen und materiellen Infrastrukturen nutzen,4 in sozialen Netzwerken zirkulieren und Sprecher und Autor:innen zu 3 So ist die affektiv erlebte (visuelle und akustische) Attraktivität eine Sinnschicht, in der die Geschlechterdifferenz viel stärker reproduziert wird als dominanten Diskursen und bemühten Bewusstseinszuständen lieb ist. Die Diskurse eilen den Einstellungen voraus, die versuchen, dem Verhalten die Richtung vorzugeben, dem aber die Gefühle weit hinterherhecheln. Ullrich Beck sprach in den 80er Jahren zur Beschreibung des emanzipatorischen Konservatismus bei Männern von »verbaler Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre« (1986: 169). 4 Wir verwenden in diesem Absatz einen weiten Begriff von Infrastrukturen als hintergründig gesicherter Funktionsbedingungen in Relation zu etwas Fokussiertem (Star 1999: 381f., s. dazu auch Schabacher in diesem Band). Im Vergleich der Charakteristika von Sinnschichten wollen wir den Infrastrukturbegriff für hergestellte materielle Kultur reservieren.

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ihrem praktischen Vollzug mobilisieren. Man kann aber auch die Praktiken ins Zentrum stellen. Aus ihrer Perspektive stellen sich Diskurse als ihre semantischen Infrastrukturen dar, die sie ebenso wie materielle In­ frastrukturen brauchen, um soziale Netzwerke und Institutionen hervorzubringen, die sie selbst fortschreiben. Man darf bei solchen Zen­ trierungen – etwa zugunsten des making – nur die jeweils andere Seite nicht vergessen: Ohne die Infrastrukturen anderer Sinnschichten bestünde die Praxis nur aus plankenloser Improvisation, sie gewinnt ihre Orientierung u.a. aus sprachlichen Strukturen, kognitiven Schemata, Beziehungen und Artefakten. 1.2 Vielschichtigkeit und Gestaltwandel Die Pluralität der ontologischen Zustände einer physikalischen Sache lässt sich für die Sozial- und Kulturwissenschaften also erstens als Vielschichtigkeit der Existenzweise sinnhafter Phänomene übersetzen. Sinnschichten haben keine scharfen Grenzen, sondern zonenhafte Übergänge (sie bilden Schnittstellen), die sie füreinander durchlässig machen. Andererseits haben sie aber auch eine gewisse Selbständigkeit, wenn Prozesse einmal eigendynamisch einer kognitiven oder diskursiven, einer praktischen oder technischen Logik folgen. So können Vorurteile (kognitive Schemata) auf nächtlichen Straßen hartnäckig und automatisch Bedrohlichkeit auf Ethnizität zurechnen, auch wenn Kriminalstatistiken anderes besagen. Oder es können sich signifikante Geschlechterdifferenzen im Auge der Betrachterin halten, auch wenn Verhaltensweisen sie gar nicht mehr hergeben. Die relative Selbständigkeit erlaubt also auch Trägheit – jenen Hysteresis-Effekt, den Bourdieu (1976) den Entstehungsbedingungen von spezifischen Habitusformen zuschrieb: Differenzierungen können andauern, obwohl ihre ursprünglichen sozialen Bedingungen abgestorben sind: z.B. wenn sich im Affekthaushalt von ehemals Disprivilegierten trotz ihrer rechtlichen Gleichstellung als ein Erbe der Zurücksetzung Minderwertigkeitsgefühle halten. Die relative Selbständigkeit von Sinnschichten erlaubt aber auch unabhängige Variation: Im Arbeitermilieu können die Sozialbeziehungen gegenüber Ausländern offen, die Sprüche dagegen rassistisch-ruppig sein, während im Bildungsmilieu zivilisiert gesprochen wird, die eigenen Kinder aber schulisch auf Abstand zu bildungsfernen Ausländern gebracht werden. Oder es kann eine scharf dichotomisierende Sprache im nationalistischen Diskurs Osteuropas durch Mischehen, Zweisprachigkeit, Migration, Assimilation und ethnopolitische Indifferenz konterkariert werden (Brubaker 2007: 84). So kann sich ein Phänomen der Humandifferenzierung wie Rassismus oder Nationalismus in einer Sinnschicht der Gesellschaft entfalten, in einer anderen auf gegenläufige Prozesse stoßen. 62

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Das zweite Element der Heuristik der Aggregatzustände ist der Gestaltwandel, der ein kulturelles Phänomen ebenso kontinuiert wie transformiert. Ein Beispiel sind körperliche Grenzüberschreitungen von Männern gegenüber Frauen, die in einen politischen Diskurs gehoben wurden, der mit dem Schweigen bricht, in dem sie lange stumm vollzogen und erduldet wurden. Sie waren lange ein unhinterfragtes Vorrecht (»eheliche Pflicht«), dann eine habituell erduldete Unart (»Schwerenöter«), sie sind aktuell primär Straftat und Ereignis für diskursive Empörung (»Sexist«) und enden voraussichtlich in einer kurzen konflikthaften Interaktionsepisode unter Ebenbürtigen (»Idiot/in«). In der historischen Zeit können Unterscheidungen zwischen Menschen also in verschiedenen Sinnschichten auf- oder abtauchen und zugleich in andere Aggregatzustände übergehen. Manche werden z.B. in Sprachen grammatikalisiert, von Experten expliziert und diskursiv verflüssigt; andere werden deinstitutionalisiert und Interaktionen übergeben; wieder andere sedimentieren eine Zeitlang in Habitus, in Institutionen und Artefakten. Diagnostiziert ein Fach einen Relevanzverlust in einer Sinnschicht (etwa im rechtlichen Diskurs), kann eine Unterscheidung in eine andere verschoben worden sein (etwa in den Habitus); diagnostiziert ein anderes eine Dramatisierung, so beschränkt sie sich vielleicht auf den medialen Diskurs. Das Abtauchen in andere Sinnschichten kann sich auch als ein Abdrängen vollziehen. Einige Sinnschichten wirken eher wie unscheinbare Hinterbühnen. Das gilt grundsätzlich für Infrastrukturen und grammatische Strukturen, aber es gilt auch für bestimmte Einstellungen (etwa magische und verschwörungstheoretische), die diskursiv entmutigt werden und daher unterhalb der Schwelle des Diskurses verharren. So wird eine Differenzierung wie die Geschlechterunterscheidung durch diskursive Delegitimierung im Recht und in der Wissenschaft nicht vollständig abgebaut, sie wird zuerst in die diskursive Latenz gedrängt und in Interaktionen (Heintz/Nadai 1998) und im privaten Leben reproduziert. Bemerkenswert ist aber auch die Abdrängung der Gewalttätigkeit in weitgehend pazifizierten Gesellschaften in exzessive Gewaltdarstellungen in Kriminalromanen und -filmen, Videospielen und Kampfsportarten. Die Zivilisierung der Umgangsformen lässt die Gewalt in Literatur und Film auswandern. Je befriedeter eine Gesellschaft, desto blutiger scheinen ihre Gewaltfantasien.5 Der historische Gestaltwandel kultureller Phänomene wirft die Frage auf, wie Sinnschichten in Bezug auf die Reproduktion eines Phänomens 5 Analog: Je gewaltfreier und zivilisierter die Geschlechterbeziehungen, umso stabiler werden die entsprechenden kognitiven Erwartungen, und desto lauter die Protestdiskurse gegen Gewaltakte. Dass Diskurse, indem sie öffentliche Aufmerksamkeit absorbieren, täuschen können, war auch die Botschaft

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zusammenwirken. Der Normalfall dürfte sein, dass Prozesse in verschiedenen Sinnschichten gleichsinnig verlaufen und auf diese Weise redundant an der Stabilität eines kulturellen Phänomens arbeiten. Solche Formen der Differenzverstärkung dürften für stark traditionsgebundene Sozialität typisch sein. Es kann aber auch unter modernen Bedingungen dazu kommen. Ein Beispiel aus der Genderlinguistik: Gewisse Verhaltensdifferenzen im Sprechstil von Männern und Frauen (sog. Genderlekte), die eher in verschiedenen Statuspositionen wurzeln (dominantes vs. submissives Sprechen), können durch Etikettbücher normativ auf Geschlechter zugerechnet und gefordert werden, aber auch kognitiv durch differenzfeministische Diskurse hyperstereotypisiert werden (»Männer und Frauen sprechen verschiedene Sprachen«). Wenn Hörer:innen dann sowohl normativ als auch kognitiv erwarten, dass Männer und Frauen verschieden sprechen, werden sie – im Sinne der selbständigen Operation kognitiver Schemata – auch sehr ähnliches Sprechen eher verschieden hören. Es ergibt sich ein differenzverstärkender Zy­klus: Zwei Diskurse, die an gelegentliche Verhaltensdifferenzen anschließen, stellen kognitive Schemata so ein, dass diese Verhaltensdifferenzen überzeichnet wahrgenommen werden. Eine institutionelle Konsequenz könnte dann eine Parallelorganisation sein: dass etwa im Schulunterricht zur Vermeidung der unterstellten ›verbalen Dominanz von Jungen‹ immer abwechselnd gesprochen werden soll.6 Anders als in solcher redundanter Reproduktion steht der Fall der abgedrängten Gewalttätigkeit eher für eine Reproduktion kultureller Phänomene auf Basis komplementärer Beziehungen zwischen Sinnschichten. So wie das staatliche Gewaltmonopol alltagsweltliche Zivilität ermöglicht (Elias 1939), so entlastet auch der Wohlfahrtsstaat, der sich grundsätzlich um die Schwachen kümmert, die Menschen von alltäglicher Empathie, erlaubt aber auch der Jobcenterangestellten soziale Härte. Umgekehrt könnte ein sozialstaatlich kaum eingehegter Kapitalismus (wie in den USA) mit einer stärkeren Moralisierung von Einstellungen einhergehen, die antisoziale gesellschaftliche Strukturen diskursiv und habituell kompensieren müssen, insbesondere wenn Wohlhabende ihren Erfolg auch moralisch ertragen können wollen. Einstellungen des Schauspielers Will Smith (The Late Show 2016) zur Besänftigung des antirassistischen Protestes gegen Polizeiübergriffe in den USA: »Racism isn’t getting worse, it’s getting filmed.« 6 Goffman (1977) nannte den Mechanismus solcher zirkulärer Stabilisierung von Phänomenen zwischen Sinnschichten »institutional reflexivity«: Sozio­ materielle Arrangements (wie die Geschlechtersegregation von Toiletten oder Sportarten) schaffen Gelegenheiten für praktische (interaktive) Geschlechtsdarstellungen, die ein stereotypes kognitives Wissen von der Zweigeschlechtlichkeit bestätigen, das wiederum zur Legitimation der institutionellen Arrangements verwendet werden kann.

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und Haltungen hängen eben an Diskursen, die sich wiederum zu Gesellschaftsstrukturen verhalten. Eine dritte mögliche Beziehung zwischen Sinnschichten ist in ihrer unabhängigen Variation impliziert: Gegenläufige Entwicklungen in unterschiedlichen Sinnschichten (z.B. der rechtliche Rückbau und der ästhetische Aufbau einer Unterscheidung) können auf Prozesse der Dein­ stitutionalisierung hinweisen: dass starke Aktivitäten in einer Sinnschicht – etwa ein Overdoing von Performances, eine hohe Diskursintensität – als kompensatorische Überproduktion erscheinen, die den Selbstverständlichkeitsschwund eines kulturellen Phänomens anzeigt. Der Gestaltwandel eines Phänomens in unterschiedlichen Sinnschichten enthält also ebenso die Möglichkeit der Deinstitutionalisierung wie der Restabilisierung. Redundanz, funktionale Äquivalenz (Komplementarität) und kompensatorische Überproduktion ließen sich dann auf einem Gradienten der Deinstitutionalisierung ansiedeln. 1.3 Dauerhaftigkeit und Institutionalisierung Wie verhalten sich die Sinnschichten des Kulturellen nun zur Frage der Zeitbeständigkeit eines kulturellen Phänomens, die klassische soziologische Überlegungen zur Institutionalisierung mit ihrer physikalischen Metaphorik der Gerinnung, Verfestigung, Erhärtung etc. beschrieben? Auf den ersten Blick stellen sich die Sinnschichten des Kulturellen selbst als Aggregatzustände dar: Architektonische oder körperliche Strukturen scheinen schwerer änderbar als gesprochene Formulierungen oder Kleidungsstile. Oralität ist flüchtiger als Literalität, Diskurse driften in größerer Volatilität als gesellschaftliche Teilsysteme. Bei genauerer Betrachtung gibt es große Unterschiede der Zeitbeständigkeit aber nicht nur zwischen Sinnschichten, sondern auch innerhalb derselben. Praktiken umfassen ein Spektrum von stark habitualisiertem Gewohnheitshandeln, normativ vorgeschriebenen Tätigkeiten und strategisch gerichtetem Handeln bis zu spontan improvisiertem Verhalten. Elemente materieller Kultur umfassen neben relativ beständigen Infrastrukturen wie Bauwerken und Wasserstraßen auch Kulissen und Gebrauchsgegenstände, bis hin zu solchen, denen die Obsoleszenz zugunsten eines kurzen Lebens von vornherein eingebaut wurde. Diskurse reichen von täglich erneuerten Leitartikeln und kurzlebigen Floskeln über Redensarten mit unterschiedlicher Halbwertzeit bis zu Texten, die mittels Speicherung, Auratisierung und hermeneutischer Wartung über Jahrtausende stabilisiert werden. Ob etwas Bestand hat, hängt also auch an Praktiken der Verdauerung, die es stabilisieren oder nicht. Solche Instandhaltung kann aus der technischen Wartung von Artefakten bestehen (Schabacher 2018), aus der Kanonisierung von Texten, der Pflege 65

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und Verrechtlichung von Beziehungen oder der Arbeit am kulturellen Gedächtnis durch Archivierung und Musealisierung. Die Zeitbeständigkeit liegt also nur z.T. in der Materialität eines Mediums (z.B. Stein, Schrift, Rede) begründet, vor allem wird sie durch bestimmte Praktiken hergestellt, also durch sozialisierte, routinierte und erfindungsreiche Akteure. Aus deren Perspektive stellt sich die unterschiedliche historische Zeitbeständigkeit eines kulturellen Phänomens als variable Reversibilität und Disponibilität dar: Manches erscheint als nicht verfügbare, unumstößliche Tatsache, anderes als strategisch kurzfristig vermeidbar, Drittes wieder nur als langfristig veränderbar. Ronald Jepperson (1991) hat für Akteure eine Unterscheidung zwischen acting und enacting als Reproduktionsmechanismus von Institutionen angeregt. Birgitta Nedelmann (1995: 24) schließt so daran an: »Ent-Institutionalisierung (bedeutet), den Reproduktionsmechanismus einer Institution von habitualisiertem Vollzug auf strategisches Handeln umzustellen; internalisierte Werte und Normen explizit zu begründen und zu rechtfertigen; … (dann) wird der Bestand der Institution schließlich immer mehr davon abhängig sein, ob er von individuellen Handlungsakten gestützt wird; … die Mikro-Fundierung wird zur Überlebensfrage.« Stabile kulturelle Phänomene werden also durch habitualisiertes Routinehandeln (enacting) reproduziert, labilisierte eher durch bewusstes, gezieltes und begründungsbedürftiges Handeln (acting). Die Sinnschichten scheinen kulturellen Phänomenen also ein je verschiedenes, aber überlappendes Spektrum von Verdauerungschancen zu bieten. Dabei dürften kulturelle Phänomene fast immer zugleich (redundant) in mehreren Sinnschichten unterschiedlicher Materialität prozessiert werden. Sie existieren eben in verschiedenen Gestalten. Und es scheint, dass die Art, vor allem aber die Anzahl und Kombinatorik der Sinnschichten, in denen ein Phänomen prozessiert wird, zusammen ihren Institutionalisierungsgrad ausmachen, also zu seiner Verdauerung beitragen. So dürfte zwar im Allgemeinen die Schriftlichkeit gegenüber der Mündlichkeit oder die Delegation von praktischen Routinen an Artefakte mit erhöhter Zeitbeständigkeit einhergehen, während die Tilgung von Statusunterschieden aus Gesetzen und ihre Prozessierung in interaktiven Aushandlungen mit einer Labilisierung (Verflüssigung) verbunden ist. Andererseits kann die kompensatorische Sinnproduktion und die Verzahnung von Sinnschichten auch viel effektiver für Stabilisierung sorgen. Vielschichtigkeit z.B. der Rassenunterscheidung heißt eben, dass sie nicht nur in Gestalt von Gesetzen (rechtlichen Diskursen), pejorativen sprachlichen Kategorien und mündlichen Äußerungen (›hate ­speech‹) existiert, sondern auch in affektgeladenen kognitiven Schemata (racial profiling), sozialem Meidungsverhalten, Zugängen zum Arbeitsmarkt, urbanen Siedlungsstrukturen und Denkmälern sklavenhaltender 66

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Philanthropen. Je redundanter, desto stabiler. Insgesamt gibt es also einen indirekten Zusammenhang zwischen den Sinnschichten, in denen eine Unterscheidung auftritt, und dem Grad ihrer Institutionalisierung. Wie also kann die klassische soziologische Metaphorik in eine kulturwissenschaftliche Begrifflichkeit überführt werden? Die Aggregatzustände des Kulturellen dürfen nicht wie Aggregatzustände der Materie unmittelbar in Härtegraden gedacht werden. Man könnte sagen, die Klassiker der Soziologie lebten noch in der Zeit des ›ewigen Eises‹, während Zeitgenoss:innen des Klimawandels wissen müssen, dass Eis zwar hart ist, sich aber lokal bedrohlich schnell verflüssigen kann. Beständig ist ein kulturelles Phänomen, wenn es in vielen Sinnschichten prozessiert wird. Seine Verflüssigung und Verflüchtigung oder seine Erhärtung hängen nicht unmittelbar an der Materialität kultureller Prozesse, also da­ ran, ob sie etwa sprachlich, körperlich oder technisch vollzogen werden. Dies ist die Präzisierung, die die Heuristik der Aggregatzustände des Kulturellen einer alten soziologischen Metaphorik bieten kann.

2. Die Aggregatzustände der Sprache Im Folgenden werden wir unser systematisches Interesse zweifach spezifizieren. Erstens werden wir eine diachrone Perspektive auf Institutionalisierungsprozesse von Humandifferenzierungen einnehmen und dabei Teilprozesse der Erhärtung (bzw. Fluidisierung) betrachten, wie es in verschiedenen Sozial- und Kulturwissenschaften etwa die Habitualisierung, die Legitimierung und die Infrastrukturierung fluider Prozesse wären. Zweitens wollen wir (primär am Beispiel des Deutschen) an die Sinnschicht der Sprache heranzoomen, um in größerer Genauigkeit als bisher zu zeigen, wie Verfestigungen kultureller Formen die Agency (die Handlungsträgerschaft) von der Praxis auf Strukturen verschiebt, denen sie aber auch wieder entwunden werden kann. Auch in der historischen Gebrauchs- und Systemlinguistik lässt sich die (De-)Institutionalisierung sprachlicher Strukturen als Verhärtung bzw. Fluidisierung beschreiben: als ein Wechsel unterschiedlicher Ebenen, die zwischen Sprechpraxis und Sprachsystem liegen. Der Grundgedanke ist hier, dass die Usualisierung von Äußerungen zur Entstehung von Sprachgebrauchsmustern führt, die mit ihren Typisierungen Anteil an der Festigung und Verstetigung von Wahrnehmungsweisen haben (Tienken 2015: 464). Dabei emergieren einerseits ständig neue Gebrauchsmuster, Textsorten und kommunikative Gattungen aus laufenden Diskursen (Linke 2010; Tienken 2015), andererseits zeigen sich in erstarrten Strukturen der Grammatik längst entschwundene Praktiken und Relevanzen, die diese Strukturen einmal erzeugt haben und noch die 67

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zeitgenössische Sicht auf die Welt vorstrukturieren. Parole und Langue, die linguistische Entsprechung von Handlung und Struktur in der Soziologie, werden insofern als wechselseitig verschränkt erkennbar. Musterbildungen finden sich auf verschiedenen Ebenen der Sprache: von intonatorischen Mustern über Lexeme bis hin zu grammatischen Strukturen. Dabei gibt es eine Reihe von Pfaden der Bildung und Verfestigung von Sprachgebrauchsmustern: von prosodischen Konventionen über feste Wortbildungs- und Flexionsmuster bis zu Klangmustern in Vornamen. Im Folgenden sollen drei typische Pfade dargestellt werden: die Lexikalisierung und Phraseologisierung (2.2), die Ausbildung von Genres (2.3) und die Grammatikalisierung (2.4). Zuvor betrachten wir jedoch die Ausbildung, Festigung und Normierung einer singulären Standardsprache (2.1). 2.1 Vom Dialekt zur Standardsprache Viele Sprachen haben ihre Erzählung, welchen einstigen Dialekt oder Regiolekt sie, u.a. durch Schriftlichkeit, zu einer Nationalsprache ausgebaut und verfestigt haben: So erzählt sich das Spanische aus dem Kastilischen entstanden, das Deutsche aus ostmitteldeutschen Varietäten. Dem Jiddisten Max Weinreich wird das Bonmot zugeschrieben: »Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Flotte«. Sprachen sind hochgradig normierte Zeichensysteme und fußen auf bis zu drei institutionellen Säulen: einer verbindlichen Orthografie, einem Wörterbuch und einer Grammatik. Diese drei infrastrukturierenden Normierungsinstanzen bannen Ambiguität, indem sie die sicht- und die hörbare Sprache uniformieren, fixieren und kodifizieren. Der Duden – erstmals 1880 erschienen als »Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache« – entstand im Gefolge der Reichsgründung 1871 und der Ersten Orthographischen Konferenz von 1876. Rasant verbreitete er sich innerhalb kürzester Zeit in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz. 1959 folgte die Duden-Grammatik, die sich selbst als deskriptiv versteht, indem sie Sprachwandel berücksichtigt und alle paar Jahre aktualisiert wird. Die Darstellung grammatischer Varianten, die regionale, stilistisch-funktionale oder sprachhistorische Verschiebungen spiegeln, stoßen aber auf eine Nachfrage (nicht nur an Schulen) nach einer einheitlichen, verbindlichen und stabilen Norm, die dichotom richtig von falsch seziert. Dialekte sind dagegen multipel fluide: Sie sind nicht normiert, existieren nur im flüchtigen Medium der Mündlichkeit und unterscheiden sich durch minimale, meist phonetische Merkmale (auch wenn diese scharf registriert werden können) von Nachbardialekten. Ihre regionalen Grenzen verschieben sich im Laufe der Jahre und verwischen weitgehend im 68

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heutigen Zeitalter der Regiolekte (als großräumige Varietäten zwischen Dialekt und Standard). Das Luxemburgische führt musterhaft vor Augen, wie ein im 19. und 20. Jh. westmoselfränkischer, vielfach binnendifferenzierter Dialekt über eine angleichende Entdifferenzierung schließlich zur National- und Amtssprache Luxemburgisch (Lëtzebuergesch) ausgebaut wurde und die beiden anderen Nationalsprachen Französisch und (mehr noch) Deutsch verdrängt (Gilles 2019). Das bisherige von der Eifel bis Luxemburg reichende moselfränkische Dialektkontinuum wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jhs. durch Divergenzentwicklungen zweigeteilt, die die rechtliche Staatengrenze auch zu einer sprachlich konturierten (und linguistisch nachweisbaren) Grenze werden lässt (Gilles 1999). Offiziell wurde Lëtzebuergesch 1984 als Nationalsprache deklariert, woran die 1971 gegründete Initiative »Actioun Lëtzebuergesch« maßgeblichen Anteil hatte. Während die Eifel das alte Dialektkontinuum fortsetzt und dort durch standarddeutsche Überdachung Regiolekte entstehen, etabliert sich in Luxemburg immer mehr die Sprache der Hauptstadt als Zielvarietät, an die sich die Dialekte angleichen. Stark unterstützt wird diese Uniformierung seit den 1980er Jahren durch vermehrtes Schrifttum: Immer mehr Textgattungen, darunter die Bibel, erscheinen auf Lëtzebuergesch, ebenso die publizierten Parlamentsreden. 1999 wurde die erste Orthografie verabschiedet. In den neuen Medien ist Luxemburgisch als Schreib- und Sprechsprache omnipräsent (Korrekturprogramme homogenisieren die Schreibung) und verdrängt dort Französisch und Deutsch, deren stabilste funktionale Domänen noch im juristischen (Frz.) bzw. schulischen Sektor (Dt.) und in der Wissenschaft (beide) bestehen: Auch wenn 47% der Einwohner:innen zugewandert sind (v.a. aus Portugal), so sprechen auch diese Luxemburgisch als Hauptverkehrssprache. Predigten in der Kirche und Reden in der Abgeordnetenkammer erfolgen mittlerweile nur noch in dieser jungen Sprache, ebenso die (bislang französische) großherzögliche Weihnachtsansprache ans Volk. Seit 2007 bietet das »Lëtzebuerger Online Dictionnaire« eine präskriptive Lexikografie, u.a. indem es entscheidet, welche der zahlreichen Entlehnungen aus dem Französischen bzw. Deutschen in die Sprache hineindürfen oder draußenbleiben müssen.7 Im Gegensatz zu solchen Standardisierungen gibt es natürlich auch Fälle des Rückbaus verschrifteter Sprachen. So ist das Niederdeutsche, das zur Hansezeit als Schrift- und Hauptverkehrssprache eine enorme 7 Grammatikografische Initiativen bestehen etwa in der »Lëtzebuergesch Grammaire« von Schanen/Zimmer (2012). Interessanterweise bildet meist eine Orthografie die erste Normierungsanstrengung: Das härtere, beständigere, dazu (weithin) sichtbare Medium der Schrift scheint wichtiger als eine einheitliche Grammatik.

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kommunikative Reichweite hatte (von Norddeutschland bis weit nach Skandinavien und ins Baltikum), heute kaum noch mehr dialektal zu greifen. Eine andere Art der Fluidisierung liegt in der Praktik des Translanguaging in Kampala/Uganda, das als entdifferenzierendes Kontrast­ szenario zum Luxemburgischen gesehen werden kann (s. Nassenstein in diesem Band). 2.2 Lexikalisierung Lexikalisierung in einem weit gefassten Sinn meint die Entstehung von 1) Lexemen, 2) Phrasen, 3) gebräuchlichen Kollokationen und 4) Wortbildungen in der Sprechpraxis. Eine wichtige Instanz des Lexikalisierungspfades sind Wörterbücher, die das Vokabular schriftlich inventarisieren und damit sowohl kodifizieren und offizialisieren als auch verstetigen. 1) Lexikalisierung i.e.S.: In der Sprech- und Schreibpraxis vorgenommene Unterscheidungen verdichten sich in Lexemen (vulgo: Vokabeln), die als Schablonen der Wahrnehmung und Einteilung der Welt wirken: Brüder und Schwestern, Junge und Alte, Dicke und Dünne. Einerseits sind sie Produkte, andererseits Katalysatoren von Kategorisierungen. Man kann sie als Fertigbauteile verstehen, die Resultat häufiger Wahrnehmungsmuster sind und gleichzeitig durch ihre Verfügbarkeit entsprechende Wahrnehmungen nahelegen, präformieren und verstetigen. Irrelevant gewordene Kategorien werden ausrangiert (Junker, Frauenzimmer, Backfisch) oder erfahren semantischen Wandel (»er ist noch Jungfrau«). Neu benötigte werden entweder über Wortbildungen (s. u.) generiert (Elternteil, Karrierefrau) oder durch Entlehnung aus Prestigesprachen importiert. So wurden in den letzten Dekaden zahlreiche Anglizismen zur Verfeinerung der Altersdifferenzierung entlehnt: Kid, Teenager, Twen, aber auch Senior/in – mit einer kategorialen Lücke, in der sich mit den 30–65-Jährigen als unbenannte Altersklasse nicht zufällig die Klassifizierer der anderen befinden (Linke 2003). Simplizia als nicht weiter zerlegbare Basiseinheiten verraten besonders viel über Unterscheidungen und Grenzziehungen. So bündelt das Deutsche, indem es zwischen Frauen und Männern sowie Mädchen und Jungen unterscheidet, die Klassifizierung nach Alter und Geschlecht in einem einzigen Lexem und ordnet überdies die Alters- über die Geschlechtsinformation. Denn man kann zwar Alte und Junge geschlechtslos unterscheiden, aber nicht über Geschlecht informieren, ohne über das Alter zu reden. Dabei ist es aufschlussreich, ob eine Unterscheidung (wie die nach Geschlecht) lexikalisch-simplizisch (nicht weiter zerlegbar: Frau), morphologisch-derivationell (Ärztin), morphologisch-kompositionell (Kamerafrau) oder syntagmatisch (weiblicher Passagier) realisiert wird. Denn aus diesen Strukturen lässt sich erschließen, ob das Interesse an 70

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dieser Information (in der Liste: nach hinten hin) abebbt, die soziale Relevanz der Unterscheidung also zurückgedrängt wird. Dies kann auch sprachpolitisch befördert werden. Ein Beispiel ist die Relevanzabschwächung einer Behinderung für die Personenkategorisierung – von »Behinderten« und »behinderten Menschen« zu »Menschen mit Behinderung« –, die Stigmatisierungen durch Reduktion auf dieses Merkmal vorbeugen will. Die um diskriminierungsvermeidendes Sprechen bemühte Sprachpolitik geht dabei von der Annahme aus, dass Wörter als Sprechhandlungen »Appellationen« leisten (Hornscheidt 2019) und Vorstellungen prägen. Das Deutsche liefert auch ein Beispiel für effektiven sprachpolitisch induzierten Wandel: Bis in die 1970er Jahre zerfielen erwachsene Frauen in Fräuleins und Frauen. Durch das Ausscheiden des Fräuleins konnte man sich des Zwangs entledigen, Frauen danach zu unterscheiden, ob sie verheiratet sind oder nicht.8 Im Hinblick auf unsere Auffächerung von Sinnschichten ist hier aber auch an einen Einwand gegen die Wirksamkeit von Sprachpolitik zu erinnern: dass sie sowohl die Politik als auch die Sprache in ihrer gesellschaftlichen Durchschlagskraft überschätzen könnte. Die performativen Effekte von Sprechakten müssen sich genauso relativieren lassen wie Annahmen von der Durchschlagskraft gesellschaftlicher oder grammatischer Strukturen. Die offene Frage ist eben, wie eng oder lose bestimmte Sinnschichten tatsächlich verbunden sind: Befördert die Politisierung der Sprache (zu einer entscheidungsabhängigen Sache guten gemeinsamen Willens) einen effektiven sozialen Wandel oder kann sie nur eine konsequentere (inklusive) Höflichkeit etablieren, die die Anforderungen an die Wahrung des schönen sozialen Scheins etwas anheben?9 2) Phraseologisierung: Längere sprachliche Mehrworteinheiten können als Ganze zu idiomatischen Phrasen erstarren. Der Gebrauch 8 Ein Beispiel aus Afrika: Im Ruanda des 20. Jhs. sorgten die belgischen Kolonialherr:innen durch Körpervermessungen und Unterstellung unterschiedlicher Abstammungen für eine Rassifizierung von Klassen- bzw. Tätigkeitsdifferenzierungen der Hutu (Ackerwirtschaft), Tutsi (Viehzüchter) und Twa (Jäger-/Sammler:innen), Zugehörigkeiten, die damals durch Tätigkeit und Heirat gewechselt werden konnten. Nach dem Genozid 1994 wurden diese drei ethnisierenden Kategorisierungen in Ruanda verboten. Auch hier versucht man, die Eigenlogik dieser Sprechpraxis und ihre Effekte auf die sozialen Beziehungen zu unterbinden (Hornscheidt 2019). 9 Die Autor:innen dieses Textes sind sich hier nicht einig, also lassen wir sie mal getrennt sprechen: SH: Inklusivere Höflichkeit ist nicht geringzuschätzen. Zwar ist Höflichkeit nicht emphatische Anerkennung, nur Minimalrespekt, eine Wahrung sozialer Formen, von deren doppelten Boden alle wissen. Aber sie besteht dennoch aus sozial dringend erforderlichen kleinen Lügen zur Euphemisierung der Wirklichkeit.

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von Sprichwörtern etwa enthebt die Sprecherin der Begründung, der phraseologisch geronnene Wahrheitsgehalt wird kollektiv geteilt und gegen Zweifel immunisiert (Lüger 1992). Sprichwörter sind Konserven früherer Wissensbestände. Viele verkümmern in ihrer Bedeutung, werden nicht mehr gebraucht und verschwinden, andere dagegen werden noch heute geteilt und substituieren, klug gesetzt, viele Argumente: »Man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten«, »Andere Länder, andere Sitten«, »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«. Zahlreiche Phraseologismen gehen auch in Wörterbücher ein, die dadurch Stereotype konservieren und für ihre Hysteresis sorgen: »Selbst ist der Mann!« 3) Kollokationen sind Wortverbindungen, die (in unterschiedlichen Graden) gemeinsam auftreten (z.B. alte Jungfer, alter Sack, junges Ding). Dabei können sie mit der Zeit lexikalisieren, indem sie eine Bedeutung annehmen, die sich nicht mehr aus den Einzelbedeutungen zusammensetzt (kalter Kaffee, runder Tisch). Kollokationen zwischen Substantiv und Attribut indizieren die Tiefe der Sedimentierung von Unterscheidungen: Was wird ins Lexem gegossen (gilt als Substanz), was wird (als Beigabe) attribuiert? In Substantiven werden oft Humandifferenzierungen wie ›Rasse‹, Geschlecht, Ethnizität, Nationalität oder Behinderung artikuliert, allerdings mit wichtigen Hierarchisierungen: So spricht man eher von einem deutschen Juden als von einem jüdischen Deutschen, von einer schwarzen Amerikanerin als von einer amerikanischen Schwarzen (Hornscheidt 2019: 150). 4) Wortbildungen sind dagegen in einem einzelnen Wort verdichtete und konventionalisierte Informationskomplexe. Sie kombinieren häufig Kookkurrierendes (Jungunternehmer, Deutschtürke, Schwarzafrikaner) und können einstigen Kollokationen entstammen. Bei häufigem Gebrauch können sie ebenfalls lexikalisieren und eine ›dritte‹ Bedeutung entfalten, die sich nicht mehr aus der ihrer Glieder (Morpheme) zusammensetzt DN: Für Wilhelm Busch ein »zierliches Betrügen«. Aber Sprachpolitik geht insofern über Höflichkeit hinaus, als man die nur face to face, nicht gegenüber Dritten braucht. ›Behinderte‹ waren ja zu unserer Schulzeit noch ›Krüppel, Spastis‹ etc. Ich kann mir keine Zivilisationsleistung ohne vokabulären Austausch vorstellen. SH: Einverstanden, aber wie weit reicht die moralisch gutwillige Sprachkosmetik in die Einstellungen und Affektlagen hinein? Und wie soll sich Ablehnung äußern, wenn nicht sprachlich? Z.B. gegen ›feine Pinkel‹, ›alte Säcke‹, ›intrigante Weiber‹ und ›freche Rotznasen‹? DN: Wenn die Haltung zu Gruppen negativ bleibt, dann ist die Pejorisierung des sprachlichen Nachschubs natürlich nur eine Frage der Zeit. Dann wird halt statt des ›Asylanten‹ der ›Migrationshintergrund‹ negativ konnotiert. Aber bei den ›Senioren‹ scheint dieser Dominoeffekt beendet zu sein. Liegt das an den ›reichen Alten‹?

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(so wie Frauenzimmer oder Tatsache). Ein für die Geschlechterdifferenzierung wichtiges Wortbildungsmuster ist die Movierung (die Markierung eines ›Geschlechtswechsels‹ mittels Suffix ›-in‹ oder Kompositionsglied ›-frau‹), die es bis auf wenige Ausnahmen nur als Einbahnstraße von männlichen zu weiblichen Bezeichnungen gibt. Es ist ein hochproduktives Wortbildungsmuster, das Frauen jeweils das sprachlich markierte Geschlecht zuweist und einen abgeleiteten, sekundären Status verleiht. Eigennamen (Paul → Paula) spielen bei dieser Regel ebenfalls mit (s. 2.4). Auch wenn sich die Geschlechter in den Sinnschichten der Praktiken und Erwartungen (Rollen) angenähert haben, so bremst die tiefer in der Grammatik verankerte Morphologie diesen Wandel durch die Trägheit ihrer Strukturen, die alte gesellschaftliche Ordnungen auch in zeitgenössischen Geschlechterverhältnissen auf subtile Weise weiterticken lassen. Der Fall des Ostfriesischen zeigt allerdings, dass bei hohem Bedarf an Generierung von Jungen- aus Mädchennamen morphologische Res­ triktionen durchbrochen werden können: Vermutlich um Söhne nach weiblichen Vorfahren nachbenennen zu können, haben sich hier neben Feminin- auch Maskulinmovierungen herausgebildet (Katharina → Ka­ tharinus, Greta → Gretus, Grethard). In Ausnahmefällen kommt es sogar zur direkten Vergabe von Männernamen an Mädchen bzw. Frauennamen an Jungen (Nübling 2019). Dass das doing kinship hier ausnahmsweise vor dem doing gender rangiert, ist möglich, weil die Geschlechterdifferenzierung in kleinen ostfriesischen Siedlungen nicht zwingend über Namen sichergestellt werden musste: Wo jede(r) jede(n) kennt, tut es auch das interaktionsgeschichtliche Personengedächtnis, also eine andere Sinnschicht. 2.3 Genrebildung Bei der Konsolidierung von Sprechpraktiken zu kommunikativen Gattungen (wie Tischgespräche, Klatsch, Anekdoten, Ansprachen, Trauerritualen) werden spezifische Formen ausgebildet (etwa durch Tonfall, Mimik, initiierende Äußerungen), die die Sprecher:innen informieren, an welcher Art von Kommunikation sie gerade teilnehmen (Bergmann 1987). Auch bei der Konsolidierung schriftlicher Diskurse zu festen Textsorten werden solche, die eigene Erkennbarkeit und Erwartbarkeit sichernde Formen ausgebildet (etwa das Textdesign, die Syntax, die Lexemwahl oder formelhafte Wendungen). Betrachten wir als empirische Fälle nur, wie Personen in Grußformeln als Beziehungspartner gekennzeichnet und in Geburts- und Todesanzeigen biografisch angekündigt bzw. verabschiedet werden. Begrüßungen und Verabschiedungen sind Grenzstellen der Interaktion, an denen Teilnehmer:innen ihre soziale Beziehung indizieren und 73

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verändern können. Grußformeln werden dabei in verschiedenen Sinnschichten redundanzerhöhend miteinander verschränkt: sprachliche Äußerungen, ihre Prosodie (Stimmführung), Mimik, Blicke, händische Gesten und Berührungen (Hirschauer 2016: 63f.). Grußformeln haben sich in den letzten beiden Jahrhunderten fundamental gewandelt, indem mitvollzogene Standes-, Alters- und Geschlechterunterscheidungen verschwunden sind, neuerdings (im Zuge des Tschüssens und unterschiedslosen Hallo-Sagens) auch die soziale Distanz: ›Warme‹ Grüße (z.B. »Liebe Grüße«) und das sog. Wettergrüßen (»Sonnige Grüße aus Mainz«) emotionalisieren ebenso wie die zunehmende Körperkontaktierung. Schröter (2016) dokumentiert in ihren Studien zur Geschichte des Abschiedsgrußes im 19. und 20. Jahrhundert den sukzessiven Abbau einer Reihe von sozialen Unterscheidungen. So zogen sich religiöse Relikte einstiger Segnungen (»Behüt dich Gott«, »geh mit Gott«) zunächst auf katholische Gebiete zurück, bevor sie (abgesehen von regional begrenzten Formen wie dem bairischen »Pfüeti« und dem schweizerischen »Grüezi«) von profanen Grüßen abgelöst wurden, die die Befristung der Trennung verschweigen oder minimieren, indem sie baldiges Wiedersehen in Aussicht stellen: »Machs gut, bis bald, bis dann«. Ferner ist eine Destratifizierung und Degenderisierung vormals inegalisierender Abschiede zu verzeichnen, die mit Verbeugungen und anderen Unterwerfungsgesten (Handküssen) einhergingen: »Meine Hochachtung; Ihr gehorsamer Diener; ich habe die Ehre« wurde im 18. Jh. von statusniedrigen an höhergestellte Männer entrichtet. Einige dieser Grüße, vor allem der Handkuss, erfuhren temporär eine geschlechterdifferenzierende Funktionalisierung, indem sie nur von Mann zu Frau zu entrichten waren. Umgekehrt wurde »Auf Wiedersehen« im 19. Jh. seitens adliger Personen geäußert, bevor es sich zu einem generellen Distanzgruß entwickelte und heute durch den Abbau sozialer Distanz seinem Ende entgegenblickt. Gegenwärtig etablieren sich informelle, Vertraulichkeit und soziale Nähe stiftende Grüße wie »Tschüss, Ciao, bis morgen«, korrelierend mit zunehmender Duzfrequenz. Gleichzeitig schöpfen sie das Prestige von Fremdsprachen ab (Ciao, Byebye). Grußformen internationalisieren sich. Die Geburtsanzeige hat sich aus einer Entbindungsanzeige entwickelt, in der es ausschließlich um die geglückte Niederkunft einer Mutter ging und das Kind als peripheres namenloses Nebenprodukt erschien. Die Freude galt der gesunden Mutter (die »glückliche Entbindung« konnte sogar »von einem todten Mädchen« erfolgt sein (Linke 2009). Im 20. Jh. trat die Entbindung in den Hintergrund, das zunehmend individualisierte Kind in den Vordergrund. Dies manifestiert sich auch in Umbesetzungen des Subjekts der Mitteilung: Es spricht nicht mehr nur der Ehemann, sondern (ab dem frühen 20. Jh.) beide Eltern, später (ab den 1970ern) auch die Geschwister, und heute kann als sprechendes Agens 74

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das Kind selbst im Mittelpunkt stehen (»Ich bin umgezogen!«; »Endlich bin ich da!«). Auch die Todesanzeige verfügt als etablierte Textsorte inzwischen über klare Erkennungszeichen: Ein schwarzer Rand und ein zentrierter Name reichen aus. Aber auch ihre Muster zeigen historischen Wandel. So hat sich die Todesanzeige als buchstäbliche Mitteilung eines Todesfalls (oft mit genauesten Todesumständen) zur Traueranzeige gewandelt, in der sich die Trauernden thematisieren und den Tod eher tabuisieren (was am Namen der Todesanzeige noch nichts geändert hat). Das Muster »NN ist gestorben« wandelt sich – mit entsprechenden Subjektumbesetzungen – zu »Wir trauern um NN« (Linke 2001). Natürlich können sich kommunikative Gattungen und Textsorten nicht nur wandeln, sie können auch ganz obsolet werden, z.B. der sog. Neujahrsbrief im 19. Jh., in dem Kinder zum Jahresende ihre Eltern hofierten, ihnen dankten und Besserung gelobten (Linke 1996). Auf der anderen Seite emergieren beständig neue Textsorten, in den letzten Jahren z.B. geteilte Erzählungen im Internet, etwa zu Geburts- oder Krankheitserlebnissen, die auf Konsens und Kommentierung anderer angelegt sind, von Emotionalität und Ablehnung von Expertenwissen geprägt sind (Tienken 2015). Solcherart narrativ vorgegebenes Erleben homogenisiert und standardisiert Erfahrungen. 2.4 Grammatikalisierung Grammatikalisierung bezeichnet die sukzessive (sich über Jahrhunderte, manchmal Jahrtausende erstreckende) Entstehung grammatischer Strukturen. Dabei gibt es unterschiedliche Grade der Verregelung des Sprechens und der Verfestigung sprachlicher Formen von der Pragmatisierung 1) über die Syntaktisierung 2) und Morphologisierung 3) bis zur Phonologisierung 4). Dieser sog. Grammatikalisierungspfad führt vom Sprechen mit begrenzter Wahlfreiheit sprachlicher Mittel bis zu einem (unbewussten) Zwang, der die Agency der Sprechpraxis fast vollständig auf Strukturen verlagert. Vor allem bei sog. grammatischen Kategorien wie Kasus, Numerus, Tempus, Person und Genus wird die Obligatorisierung vormals frei wählbarer sprachlicher Muster zu einem regelrechten Auskunftszwang, zu dem sich die Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg verpflichtet hat. Von den Humandifferenzierungen haben es nur das Geschlecht (s.u.) und Teile des Status in die Tiefen der Grammatik geschafft. 10 Die meis10 In manchen asiatischen Sprachen wird das Statusgefälle zwischen Sprecher:n und Hörer:n grammatisch angezeigt. So kennt das Japanische spezielle Honorativpräfixe an Verben. Aber auch im Deutschen finden sich

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ten anderen (etwa Alter und Ethnizität) werden lexikalisch realisiert und sind allenfalls in Kollokationen, Wortbildungen oder Phraseologismen verfestigt. Grammatische Kategorien werden dagegen hochredundant (vielfach kongruierend) ausgedrückt, sind unverhandelbar und unhintergehbar sowie von hoher Stabilität. Man kann nicht tempus-, kasus- oder genuslos sprechen. Wenn Kategorien grammatikalisiert wurden, waren sie einmal von hoher Relevanz. 1) Pragmatisierung: Die Pragmatik steht am äußeren Rand der Grammatik und umfasst u.a. die angemessene Verwendung sprachlicher Zeichen. Korrektes pragmatisches Verhalten war früher in Anstandsbüchern normiert. Ein für das Thema der Humandifferenzierung wichtiger Aspekt sind Anredeformen. Sie sind eng mit anderen Sinnschichten (vor allem mit sozialen Beziehungen) verwoben und dadurch relativ leicht wandelbar. Die Ständegesellschaft hatte ein statusmarkierendes fünfstufiges Anredesystem, dessen Adressierungen nicht reziprok verwendet wurden (Simon 2003). So hat z.B. der Herr den Diener geduzt oder geerzt, dieser hat seinen Herrn geihrzt. Seit dem 19. Jh. hat sich dies allmählich zu einem zweistufigen System entwickelt, in dem das Duzen und Siezen (abgesehen von Anreden zwischen Erwachsenen und Kindern) stets symmetrisch praktiziert wird und weniger Status als soziale Distanz zu Fremden indiziert. Aber auch diese Distanz wird im Zuge der Informalisierung vieler sozialer Beziehungen weiter abgebaut. Anredeformen spiegeln und performieren wie symmetrisierte Grußformeln die Demokratisierung der Gesellschaft. 2) Syntaktisierung: Die Syntax regelt die Anordnung von Wörtern in Äußerungen. Schon die Verfestigung freier Wortstellungsmöglichkeiten zu festen Abfolgen (etwa zu stilistischen Zwecken) trägt zur Syntaktisierung bei und bildet ein Sprachgebrauchsmuster. Eine für die Humandifferenzierung relevante Form sind Binomiale. Da Menschen nicht in Akkorden sprechen können, müssen sie bei Aufzählungen Serialisierungen vornehmen. Diese erfolgen meist unbewusst, besonders im Fall fester Paarformeln (Kind und Kegel). Solche Abfolgen sind als Rangfolgen lesbar (hier: eheliche vor unehelichen Kindern). An den semantischen Prinzipien sind soziale und kognitive Faktoren beteiligt, z. B. Mensch vor Tier (Herr und Hund), Statushöhere vor Statusniederen (Herr und Knecht), Grammatikalisierungen von Respekt und hierarchischem Abstand (Simon 2003). Gesiezt werden auch Einzelperson im Plural: Sie haben Ihren Schirm vergessen. Indem der Plural des Anredepronomens Sie auf ansonsten atypische Weise mit dem Singular kombiniert wird, wird ›Respekt‹ ausgedrückt: Sie [Pl.] blöder Idiot [Sg.]! (statt der erwartbaren Kongruenz: *Sie blöden Idioten). Auch Vorgängerkonstruktionen des 19. Jh.s arbeiteten mit solch einer höflichkeits­indizierenden Singular-Plural-Inkongruenz: »Wünschen die Dame noch einen Kaffee? Haben der Herr wohl geruht?«. Der Numerus wird damit zum Ausdruck von Respekt »zweckentfremdet« bzw. »parasitär« genutzt.

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Erwachsene vor Kindern (Mutter und Tochter), belebt vor unbelebt (Pferd und Wagen), positiv vor negativ (Freud und Leid). In der Geschlechterdifferenzierung dominiert bis heute – mit vier- bis achtmal so hoher Frequenz – ein male-first-Prinzip. Es hat sich auch bei Schwulen vor Lesben mit 80% eingestellt und existiert bei den Adjektiven männlich vor weiblich zu 73%. Auch bei den Tieren stellt der Mensch das Männchen zu 90% vor das Weibchen. Bei Kindern und Eltern wird dieses starre Muster jedoch aktuell fluidisiert. Während in den 1950er Jahren stabil Jungen vor Mädchen rangierten, halten sich seit der Jahrtausendwende beide Abfolgen die Waage. Auch in den Familientermini gibt es Hinweise auf syntaktische Fluidisierung (Deinstitutionalisierungen). So kippt ab den späten 1970er Jahren die Abfolge Väter vor Mütter zugunsten eines heute dominierenden Mütter vor Väter. Bei den kindzentrierten Kosewörtern Mama/Mami und Papa/Papi galt schon immer ein female-first, was im 21. Jh. noch zunimmt. Auch Omas stehen zu 81% vor Opas (Rosar 2019). Binomiale spiegeln und prozessieren also sowohl tradierte als auch sich verändernde Geschlechterordnungen. 3) Morphologisierung: Die Morphologie regelt die Abfolge von Morphemen – den kleinsten bedeutungstragenden Einheiten – innerhalb von Wörtern (wie etwa im oben erwähnten Fall der Movierung von Arzt zu Ärztin). Auch hier lässt sich die Relevanz von Formverfestigungen für die Humandifferenzierung gut am Fall der Geschlechterdifferenz illus­trieren. Die Unterscheidung von Genera in vielen Sprachen war eine zunächst gänzlich geschlechtsindifferente Form der Nominalklassifikation, die in den indoeuropäischen Sprachen vermutlich erst spät mit der Geschlechterdifferenzierung von Menschen verknüpft wurde. Jüngere Forschungen zeigen, dass es im Deutschen bei der Bezeichnung von Personen einen engen Zusammenhang gibt: Die soziale Geschlechterdifferenzierung ist durch ihre enge Anbindung an die sprachlichen Genera grammatikalisiert. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass an die 100% der Männerbezeichnungen Maskulina und der Frauenbezeichnungen Feminina sind (der Onkel, der Mönch – die Tante, die Nonne), sondern auch darin, dass das weibliche -in-Suffix das betreffende Wort immer ins Femininum verschiebt und dass genuslose Adjektive, die substantiviert werden, ein Genus erhalten (müssen), das direkt auf das Geschlecht der Person verweist: der vs. die Alte, Kranke, Behinderte. Umgekehrt erzeugen Inkongruenzen zwischen Genus und Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen sozial verachtete bzw. nicht vollwertige Gesellschaftsmitglieder. Das gilt für die (männliche) Lusche, Tunte, Memme, Schwuchtel; den (weiblichen) Vamp, Hausdrachen, Besen; und auch für (weibliche) Neutra wie das Weib, Mädchen, Fräulein, Frauenzimmer, Model, Girl, Pin-up und das Merkel (Nübling 2017). Genusgrammatische Devianz reflektiert und produziert subtil soziale Devianz. Dabei ist die Kategorie Genus noch rigider in die Grammatik eingefräst als Kasus oder Numerus. Bei ihnen bestehen noch beschränkte 77

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Wahlmöglichkeiten, denn Nominativ oder Akkusativ sind keinem Sub­ stantiv inhärent, sie werden von den Sprechenden gewählt. Dagegen gehören alle Substantive nur einem festen Genus an. Es ist so unverhandelbar wie unhintergehbar, es erzwingt im Fall von Personenbezeichnungen eine Geschlechterdichotomisierung. Dieser Nexus ist nicht einfach eng, er ist kristallin. Die Agency geht hier von der Grammatik aus.11 4) Phonologisierung. Die Phonologie regelt die Kombination der kleinsten sprachlichen Bausteine, der an sich bedeutungslosen Laute (Phoneme). Ähnlich wie die DNA nur aus einer begrenzten Anzahl an Basen und Nukleotiden besteht, setzt sich Sprache aus einer begrenzten Menge an Lauten zusammen (im Deutschen 36). Sie bilden das Rohmaterial, auf dem das gesamte Zeichensystem Sprache aufbaut (die Alphabetschrift repräsentiert diese Laute grob durch ebenso bedeutungslose Buchstaben). Die Relevanz von Lauten für die Humandifferenzierung lässt sich gut an Rufnamen illustrieren. Vornamen indizieren grundsätzlich sehr viele soziale Unterscheidungen (darunter Generation, Schicht, Konfession, Nationalität und Ethnizität),12 in fast allen Fällen auch wieder Geschlecht. Die wichtigsten phonologischen Geschlechtsunterschiede im Deutschen lauten: Frauennamen sind im Schnitt länger als Männernamen. Ihr Akzent liegt fünfmal so häufig auf einer anderen als der ersten Silbe (Katharína, Sabíne). Sie enthalten auch mehr Vokale und enden zu fast 80% auf a oder -e, während Männernamen sehr häufig konsonantisch enden. Diese phonologischen Muster sind Folge bzw. Nebenprodukt morphologischer Strukturen: Wie bereits erwähnt, lassen sich aus vielen Männernamen über das Suffix -a oder -e Frauennamen ableiten. Oft springt dabei der Akzent automatisch auf eine hintere Silbe, von Mártin zu Martína, von Míchael zu 11 Um diesem Zwang zu entgehen, braucht es schon sprachpolitische Initiativen mit Staatsmacht. Die schwedische Regierung hat vor wenigen Jahren das neue geschlechtsneutrale Pronomen hen (3. Person Singular) eingeführt, das auch durch die Aufnahme in die Svenska Akademiens Ordlista offizialisiert wurde (etwas, das im Deutschen noch für viele undenkbar scheint). Dagegen dürfte das allen Substantiven inhärente (Nominal-)Genus gegen Sprachpolitik immun sein. 12 So wird etwa das Passing von Weißen zu Schwarzen neben Melanininjektionen u.a. auch durch akustisch einschwärzende Namenwechsel prozessiert (s. Krings/Banerjee in diesem Band). Wie stark Namen als hörbare Ethnizitätsmarker dabei als ähnlich unhintergehbar gelten wie sichtbare Körpermerkmale, zeigt die Anfrage der AfD im Saarländer Landtag 2019 nach den häufigsten Vornamen von ›Messerstechern‹. Eine offizielle Polizeistatistik hatte ›deutsche Männer‹ als größte Tätergruppe identifiziert. Die AfD vermutete, es handle sich um Deutsche mit Migrationshintergrund. Als ›kriminellste‹ Namen erwiesen sich aber Michael, Daniel, Andreas, Sascha, Thomas und Christian. Von welchen phonologischen Mustern dabei auf welche Ethnizität geschlossen wird, ist bislang nicht erforscht.

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Michaéla. Diese phonologische Begleiterscheinung wurde nach und nach mit einer Geschlechtsbedeutung belegt, so dass vokalreiche, längere Namen mit Akzent auf einer hinteren Silbe mehrheitlich als weiblich gelesen werden, auch wenn sie unbekannt sind. Ebenso werden unbekannte kurze, konsonantenreiche Namen übereinstimmend männlich gelesen.13 Uminterpretationen an der Schnittstelle von Morphologie und Phonologie haben hier morphologisch (durch ›verweiblichende‹ Suffixe) verursachte phonologische Effekte (viele Vokale, längere Formen, andere Betonungen) zu spezifischen Klangmustern verfestigt, die anschließend mit ›Weiblichkeit‹ assoziiert wurden, während die Klangmuster morphologisch unveränderter Namen (viele Konsonanten, kürzere Formen, Initialakzente) ›männlich‹ aufgeladen wurden. Tiefer können Informationen nicht absinken. Die solchermaßen differenzierten Namenregister können dann auch noch in einer anderen Sinnschicht, nämlich durch rechtliche Normen als strikt segregierte Inventare abgesichert werden, die gegengeschlechtliche Namen untersagen. Allerdings können solche Restriktionen auch wieder hintergangen werden: Eltern, die bereits mit nivellierten Geschlechtsrollen aufgewachsen sind, unterlaufen die starke Differenzierung in den rechtlichen Diskursen, indem sie in der Praxis der Namengebung für ihre Kinder Rufnamen ›androgynisieren‹ bzw. degenderisieren: Sie wählen zunehmend solche Namen aus den beiden Inventaren, die ähnlich klingen, also aus einem ähnlichen lautlichen »Stoff« gewirkt sind: Monika und Norbert heißen heute eher Mia und Noah (Nübling 2018). Dass bei so vielen sprachlichen Prozessen immer wieder gerade die Geschlechterunterscheidung thematisiert wird, liegt daran, dass sie wie keine andere Humandifferenzierung hochredundant auf fast allen sprachlichen Ebenen enthalten und sogar in die Tiefen der Grammatik diffundiert ist. Man darf sich also nicht täuschen lassen, wenn sie aus dem juristischen Diskurs vollständig vertrieben und im politischen schon lange unter Druck geraten ist.

3. Ausblick Wir haben in unserer Betrachtung der Sinnschicht des Sprachlichen unseren Akzent auf die Verfestigung von Prozessen zu Strukturen gelegt. Daher sei daran erinnert, dass natürlich nichts stabil ist, das nicht dynamisch stabil 13 Gerhards (2003) hat eine US-amerikanische Studie (Lieberson/Mikelson 1995) repliziert, in der es darum ging, 16 unbekannten Namen aus New York ein Geschlecht zuzuweisen. Dies hat zu großen Übereinstimmungen geführt. Nur bei Namen auf -i waren sich die Testpersonen unsicher. Eine solche Koseendung gilt für beide Geschlechter (Susi, Wolfi) und verdeckt das ›sprachliche Genital‹.

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gehalten wird. Auch Institutionen sind stets in the making, sie beruhen auf gewohnten Praktiken und erneuerungsbedürftigen Vereinbarungen. Als ein vorläufiges Fazit unserer Überlegungen wollen wir zuerst festhalten, wie vielschichtig Institutionalisierungen eines kulturellen Phänomens wie der Humandifferenzierung konzipiert werden müssen. Sprachliche Kategorien werden in situierten Praktiken verwendet, um Menschen zu identifizieren und um soziale Beziehungen einzugehen oder zu meiden; sie werden in Wahrnehmungsmustern und Sprachgebrauchsmustern, in Redensarten und Sprichwörtern verstetigt, in nonverbalen Verhaltensweisen habitualisiert und in Kleidungsstücken und anderen Artefakten verdinglicht, sie werden in administrative Vorgänge eingepflanzt, von Organisationen aufgegriffen, durch Massenmedien verbreitet und in Gesetze gegossen. Institutionalisierung ist in diesem Sinne eine Extension in viele Sinnschichten, Deinstitutionalisierung eine Kontraktion: ein Rückzug von Differenzierungen aus Sinnschichten (z.B. aus Gesetzestexten und Konventionen), in die sie vormals eingeflochten waren. Für die Frage sozialen Wandels bzw. sozialer Stabilität lässt sich daher ganz allgemein postulieren: In je mehr Sinnschichten ein kulturelles Phänomen gleichsinnig prozessiert wird, desto eher bleibt es stabil; nimmt die Zahl der Schichten ab und/oder die Widersinnigkeit der Operationen in den Schichten zu, wird Wandel wahrscheinlicher. Natürlich wirft so ein Vorschlag zahlreiche Anschlussfragen auf: Wie würde sich die Durchquerung von Aggregatzuständen, die wir in diesem Aufsatz exemplarisch für die Sinnschicht der Sprache durchgeführt haben, für Diskurse, Praktiken oder materielle Infrastrukturen darstellen? Wie sind die Spielräume für menschliche Agentivität in den jeweiligen Sinnschichten? Wie lassen sich die Grenzen und Übergänge zwischen ihnen bestimmen? Wie sind z.B. die Schnittstellen zwischen Diskurs und Praxis (Reckwitz 2008), Kognition und Verhalten, Phonologie und Morphologie, Menschen und Maschinen (Lipp/Dickel i.E.) beschaffen? Ferner fragt sich, ob sich Sinnschichten theoretisch so systematisch miteinander verknüpfen lassen wie Goffman dies für Praktiken, kognitives Wissen und institutionelle Arrangements skizziert hat. Es fehlt an einem dynamischen Modell, wie kognitive, sprachliche, soziale und technische Prozesse ineinandergreifen, sich gegenseitig auslösen und verzahnt sind. Welche Trigger oder Scharniere könnte es geben? Dies sind Fragen für eine interdisziplinäre sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung. In dieser sollten die Sinnschichten des Kulturellen zum einen die konzeptuelle Offenheit für verschiedene Theorievokabulare und disziplinäre Methodenkompetenzen unterstützen, zum anderen die empirische Offenheit für die gegenstandsspezifische historisch-geografische Existenzweise von kulturellen Phänomenen. Insgesamt sollen sie die Verständigung der Sozial- und Kulturwissenschaften über die sozialen Härtegrade sinnhafter Phänomene, über die mehr oder weniger fluiden oder geronnenen Formen ihrer Prozessierung in unterschiedlichen Sinnschichten erleichtern. 80

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Roland Imhoff

Kognitive Humandifferenzierung Sozialpsychologische Perspektiven auf Unterscheidung und Kategorisierung Menschen sortieren ihre soziale Umwelt. Sie unterscheiden in bestimmten Hinsichten zwischen anderen Menschen und ordnen diese bestimmten Kategorien zu (Männer, Alte, Snobs, Verrückte…). Weiterhin entwickeln Menschen bestimmte Vorstellungen davon, wie diese Kategorien beschaffen sind, oder genauer, wie typische Exemplare (Prototypen) dieser Kategorie (Deutsche penibel, Frauen emotional; Rosch 1978) beschaffen sind. Schließlich entwickeln sie Einstellungen zu diesen Kategorien – sie mögen oder verabscheuen bestimmte Menschensorten und behandeln sie auf Basis dieser Vorurteile unterschiedlich, sie diskriminieren. Es ist eine geteilte Position der versammelten Fächer kulturwissenschaftlicher Provenienz, dass nichts an diesen Kategorien natürlich oder zwangsläufig ist. Entgegen der Alltagsannahmen basieren Unterscheidungen anhand von Geschlecht, Ethnizität, Rasse oder Alter nicht auf der Wahrnehmung schon vorher existierender kategorialer Unterschiede, sie müssen aktiv generiert und durch Prozesse der Humandifferenzierung geschaffen werden. Die Sozialpsychologie und ihre Tradition der sozialen Kognition unterscheiden sich jedoch von der Mehrzahl der kulturwissenschaftlichen Fächer darin, wo diese Leistung der Differenzierung verortet wird, welcher Produktionsstandort von Differenz also fokussiert wird. Während zahlreiche Ansätze sich um Diskurse und Praktiken – von alltäglichen Sprechakten bis hin zu staatlich festgelegten Kategorien (für z.B. unterschiedliche Sorten von Einwandernden) – und insofern um in sozialen Situationen oder Schriftstücken beobachtbare Differenzierungsleistungen drehen, nimmt die soziale Kognition die individuelle Informationsverarbeitung, »die Ordnung der Dinge in den Köpfen der Leute« (Sturtevant 1964) ins Visier. Ein vorsprachliches Antezedens solcher Diskurse und Praktiken ist, so eine leitende Annahme, der kognitive Akt der Einteilung der Umwelt in Sorten und Sparten und die kognitive Zuteilung von Menschen zu solchen Sorten und Sparten. Die sozial-kognitive Perspektive ist deshalb erklärungsbedürftig, weil sie sich mit eingeübten kulturwissenschaftlichen Betrachtungen reibt. Der kulturwissenschaftliche Blick auf die Prozesse des Doing und Undoing schärft den Fokus meist auf öffentlich stattfindende, im 84

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Diskurs artikulierte oder auch im Privaten geäußerte Kategorisierungen: in Sprechakten, Zeitschriften, persönlichen Kommunikationen, bildlichen Inszenierungen und Gesetzen. Linguistisch lässt sich zum Beispiel analysieren, wie Sprechakte bestimmte Differenzen erzeugen, akzentuieren oder auch herunterfahren. Der sozial-kognitive Blick hingegen richtet sich auf informationsverarbeitende Individuen, auf ihre Versuche, Sinn in die Welt zu bringen, indem sie ihre soziale Umwelt unterscheiden, kategorisieren und stereotypisieren. Diese Ordnung kann, muss aber den Kopf nicht verlassen, muss nicht handlungsanleitend werden, sich nicht im Diskurs äußern. Die kognitive Ordnung der Welt kann aus ihrer primären situativen und biografischen Wahrnehmung »bottom-up« entstehen, meistens wird das allerdings nicht der Fall sein. Kulturelle Prozesse, Normen und Sprache vermitteln Unterscheidungen und Kategorien »top-down« (sie suggerieren kulturell bereits gefestigte Sortierprinzipien). Das primäre Interesse des Studiums der kognitiven Humandifferenzierung richtet sich deshalb auf den Akt des Kategorisierens selbst (die Differenzierung) und nicht sein Produkt, die Inhalte bestimmter Humandifferenzierungen (die Differenzen). Anders als in auf bestimmte Leitdifferenzen spezialisierten studies (z.B. gender studies, ethnic studies, disability studies) geht es also nicht so sehr um eine konkrete Form der Differenz (Ethnizität, Geschlecht, Alter), sondern um allgemeine Prinzipien der kognitiven Operation des Differenzierens. Was sind situative Determinanten, die eine Unterscheidung nahelegen oder eine Humandifferenzierung besonders relevant erscheinen lassen? Und unter welchen Bedingungen werden stabile kategoriale Sichtweisen heruntergefahren (Flade et al. 2019)? Im Folgenden werden schlaglichtartig sozial-kognitive Perspektiven auf Prozesse der Humandifferenzierung dargestellt. Ein besonderer Fokus liegt auf der Beschaffenheit der Informationsökologie, also der Struktur, in der sich die soziale Umwelt präsentiert. Sind bestimmte Displays besonders selten oder häufig? Gibt es Merkmale, die sich kontinuierlich darbieten (ein Gradient von stoppelkurzem bis zu hüftlangem Haar) oder in einer bestimmten Häufung (entweder Kurzhaarschnitt oder lange Wellen)?

1. Kategorien »sehen« Es ist eine grundlegende Einsicht moderner Sozial- und Kulturwissenschaften, dass im Alltagsgebrauch als mehr oder weniger natürlich gegebene Unterscheidungsdimensionen wie Geschlecht oder Nationalität nicht einfach da sind, sondern durch Menschen und Institutionen geschaffen werden. Sie sind kein »Ding in der Welt«, sondern eine 85

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»Perspektive auf die Welt« (Brubaker et al. 2004). Der psychologische Fokus liegt hierbei auf dem individuellen Menschen. Jede noch so stabil in Institutionen und Praktiken verankerte Unterscheidung muss durch Menschen hindurch und von ihnen reproduziert werden, damit sie ihrer Lebensrealität nicht äußerlich bleibt. Die staatliche Eintragung eines Geschlechts in Personendokumente als solche zeitigt keine großen Konsequenzen für das Alltagsleben der meisten Menschen. Erst die Tatsache, dass Menschen in Begegnungen sich als geschlechtliche Individuen wahrnehmen, und aufeinander mit bestimmten Schemata und Vorstellungen von adäquatem oder funktionalem Verhalten – gegenüber einer Frau, einem Mann oder einer nicht in dieses binäre Schema passenden Person – reagieren, macht die geschlechtliche Humandifferenzierung lebendig und zu einer ubiquitären Alltagsrealität. Obwohl in diesem Beispiel das Verhalten das Schwergewicht der gesellschaftlichen Reproduktion ist, folgt dieses Verhalten notwendigerweise dem Erkennen, der kognitiven Kategorisierung. Ohne dass ich mein (oder meinem) Gegenüber einem (oder ein) Geschlecht zuordne, kann ich mein Verhalten nicht daran anpassen. Auch Staaten sortieren Menschen, etwa nach Steuerklassen, aber die Kategorie bleibt im Alltag der Menschen irrelevant, weil Menschen andere Menschen nicht anhand dieses Sortierprinzips erkennen und kategorisieren, auch weil kein wahrnehmbarer Marker dies indiziert. Kategorisierung schließt also an Wahrnehmungen an, die eine zunächst amorphe Masse von Menschen und Objekten kognitiv kartieren, aufspalten und zu diskreten Einheiten zusammenschieben (Zerubavel 1996). Dies erschafft eine Ordnung der Dinge und der Menschen. Dieser Begriff von Kategorisierung ist erläuterungsbedürftig. Soziolog:innen würden ggf. argumentieren, dass der soeben beschriebene Prozess ein bloßes Unterscheiden ist und die Kategorisierung erst ins Spiel kommt, wenn diese Unterscheidung zu einer sprachlichen Etikettierung gerinnt, wenn es also Bezeichnungen für diese Kategorien gibt (Hirschauer 2021). Kategorisierung ist hier die Zuordnung von Menschen zu beschreibbaren Kategorien. In der sozialpsychologischen Tradition wird der Begriff der Kategorisierung anders verwendet. Erstens ist hier die Zuordnung von Individuen zu einer Kategorie nicht von einer sprachlichen Etikettierung abhängig; zweitens impliziert der Begriff nicht nur die Zuordnung Einzelner zu bereits feststehenden Kategorien, sondern schon die Unterteilung der sozialen Umwelt in vorgestellte Kategorien. Im Folgenden wird dieser Begriff erläutert. Kategorisierung wird in sozialpsychologischer Perspektive als notwendiger Prozess verstanden, der Welt Sinn zu geben und die zu verarbeitenden Informationen zu reduzieren. Solch eine Sortierung findet also bereits auf der Ebene des Individuums statt und muss nicht erst durch Kommunikation generiert werden. Kategorien erlauben es, über viele Instanzen hinweg allgemeine Konturen zu erkennen und so sparsam zu 86

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kommunizieren. Die Kategorie »Stuhl« erlaubt es mir, ein ganzes Potpourri unterschiedlich aussehender Objekte anzusprechen, die durch ihre Funktion (Sitzgelegenheit für eine Person in aufrechter Haltung) vereint sind, ohne die jeweils mannigfaltig verschiedenen einzelnen Objekte benennen (oder auch nur kennen) zu müssen. Das gleiche Prinzip der Pragmatik und Informationsökonomie, so eine Annahme der sozia­ len Kognition, liegt auch der Verwendung sozialer Kategorien zugrunde. Ich muss nicht jede einzelne zum Studium eingeschriebene Person in ihrer individuellen Einzigartigkeit kennenlernen, wenn ich mit Hilfe des vereinfachenden aber ökonomischen Hilfskonstrukts der »Studierenden« gut zurechtkomme. Soziale Situationen werden vorhersehbar und damit besser und mit weniger Aufwand begreif- und kontrollierbar, wenn ich kategoriale Information (ein Obdachloser, eine Polizistin) nutze, um das Verhalten meines Gegenübers zu antizipieren (fragt nach Spende, will meinen Ausweis sehen). Wie der individuelle Hintergrund der Person ist, was sie dazu bewogen hat, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, welche Erwartungen sie an das Leben hat, all diese zusätzlichen Informationen sind nicht zwingend nötig, um mich in einer Umgebung zurechtzufinden, die immer schon mehr Informationen beinhaltet, als ich prozessieren kann. Ohne die Fähigkeit zu kategorisieren, könnten wir nicht funktionieren, weder in der physischen Welt noch in unserem sozialen und intellektuellen Leben (Lakoff 1987; Schütz/Luckmann 1979). Natürlich sind solche Ordnungsprozesse nicht auf die kognitive Kartierung der sozialen Umwelt von Individuen beschränkt. Auch In­ stitutionen (Bürokratien, Bibliotheken etc.) kategorisieren notwendigerweise, um Ordnung in ihre jeweilige Welt zu bringen. Die Frage ist also nicht, wer Ordnung in die Welt bringt, sondern auf welche dieser Instanzen der neugierige Blick gerichtet ist.

2. Kategorisierung »messen« Auch wenn viele kulturwissenschaftliche Disziplinen den Begriff des Messens nicht prominent nutzen, so verwendet jede Wissenschaft der Humandifferenzierung Kriterien, um entscheiden zu können, ob und wie sehr eine Differenz gebraucht oder aufgerufen wird. Während dies bei sprachlicher Humandifferenzierung vergleichsweise offensichtlich ist (der Gebrauch etikettierender Begriffe wie »Alte«, »Männer«, »Ausländer« oder »Infizierte«), ist dies im Rahmen der vorsprachlichen kognitiven Humandifferenzierung (wie bei präverbalen Praktiken) weniger deutlich. Wie wissen wir, nach welchen Kriterien Menschen ihre soziale Umwelt sortieren, in welche Schubladen sie das Gesehene sortieren? Sie zu fragen würde bedeuten, sie auf diejenigen Unterscheidungen zu 87

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beschränken, die sie verbalisieren können, zu denen sie ein verfügbares Etikett zur Hand haben. Und die Frage an sich mag schon Prozesse des Nachdenkens anstoßen, die jegliche Spontanität bei tatsächlichen Kategorisierungen zunichtemachen würde. Die experimentelle Sozialpsychologie hat hier verschiedene Vorschläge gemacht, wie verhaltensbasierte Maße solche deliberativen Prozesse des Nachdenkens und der Verfügbarkeit umgehen können. Ein Zugang besteht darin, Personen dargebotene Bilder anderer Menschen durch möglichst schnellen Tastendruck einer Kategorie zuordnen zu lassen (Quinn/ Macrae 2005). Je schneller das geht, umso automatischer und geübter ist diese Form der Unterscheidung, so die Logik. Häufig getroffene Unterscheidungen (z.B. die nach dem Geschlecht) sind eingeübt und deswegen schnell. Trotz der generellen Plausibilität dieses Ansatzes bleibt die hier erfasste Kategorisierung eine responsive, eine auf Aufforderung hin ausgeführte. Vorselektierte Rubriken können schnell eine Eigendynamik entwickeln, wie sich an der Zuordnung von Bildern durch so genannte Clickworker zu äußerst fragwürdigen Taxonomien zeigt, die sich dann wiederum im automatisierten Labeln solcher Bilder durch KI-Systeme fortschreibt, die an eben jenen Zuordnungen trainiert werden (Crawford/Paglen 2019). Zwei weitere Zugänge versuchen sich dem Thema deshalb über den Grad der Verwechslung innerhalb vermeintlicher Kategorien zu nähern. Die hier zugrunde gelegte Logik ist, dass Exemplare als untereinander ähnlicher wahrgenommen werden, je enger diese Exemplare zu einer Kategorie zusammengefasst werden. Diese kategorie-begründende Ähnlichkeit überstrahlt die jeweiligen Unterschiede innerhalb der Kategorie und versämtlicht sie zu Exemplaren einer Kategorie. Der kognitive Ressourcen sparende Vorteil der Kategorisierung liegt ja gerade darin, die sinnstiftenden Gemeinsamkeiten einer Kategorie zu erinnern und idiosynkratische Abweichungen zu vergessen. Ein Ausdruck davon ist der so genannte Cross-Race-Effect. Bereits früh in der Literatur berichtet (Feingold 1914) und auch im Alltagswissen gut verankert ist das Phänomen, dass Menschen Personen ihrer eigenen ethnischen Kategorie besser auseinanderhalten können, als die einer fremden Kategorie. Für eineN typischeN DeutscheN sehen alle Chinesen gleich aus, während Günther Jauch und Jörg Pilawa gut auseinanderzuhalten sind; für Chinesen ist es genau andersherum. Dieses Prinzip kann man ausnutzen, indem man Personen eine größere Anzahl von Gesichtern zeigt (z.B. 20 afro-amerikanische und 20 euro-amerikanische) und ihnen nach dieser Lernphase diese Bilder erneut präsentiert, allerdings jetzt durchmischt mit zuvor noch nicht dargebotenen Gesichtern, und sie entscheiden lässt, ob dieses Gesicht bereits gezeigt wurde. Typischerweise ist es in solchen Versuchsaufbauten tatsächlich so, dass weiße Probanden in diesem Fall korrektere Erinnerungen an die 88

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euro-amerikanischen Gesichter haben (also neue Gesichter korrekterweise als noch nicht gesehen klassifizieren und dargebotene Gesichter korrekterweise als bereits gesehen) als an die afro-amerikanischen Gesichter (von denen mehr neue als bereits gesehen und mehr dargebotene als nicht gesehen fehlklassifiziert werden). Für diese weißen Probanden sind die schwarzen Gesichter einander also zu ähnlich, um sie auseinanderhalten zu können. Dies wird als Hinweis darauf aufgefasst, dass sie weniger als Individuen wahrgenommen denn als Kategorie versämtlicht wurden (Hugenberg et al. 2007), als Konglomerat austauschbarer Individuen, über die sich generalisieren lässt. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht unumstritten. Es ließe sich argumentieren, dass hier notwendige und hinreichende Bedingung miteinander vermengt werden. Zwar stimmt es, dass eine Kategorisierung im Sinne des Abspeicherns von Gemeinsamkeiten und Ignorierens von Differenzen zu einem solchen Muster führen würde (Kategorisierung also hinreichend wäre für ein derartiges Muster), es gibt jedoch auch andere Erklärungen als die Kategorisierung (sie ist also nicht notwendig). Die kognitionspsychologische Erklärungsalternative setzt auf die perzeptuelle Expertise. Vor dem Hintergrund ihrer individuellen Wahrnehmungsgeschichte sind Menschen an unterschiedlichen Entscheidungsoperationen geeicht. Die große Anzahl von Lexemen für unterschiedliche Arten und Beschaffenheiten von Reis im Japanischen zum Beispiel mag als Hinweis dienen, dass dies eine dort relevante und auch geübte Unterscheidung ist. Menschen lernen zu differenzieren, was kulturell differenzierenswert erscheint. So lernen Kinder in Asien von frühauf, Menschen mit vermeintlich asiatischem Äußeren auseinanderzuhalten, während schwedische Kinder das für vermeintlich nordische Gesichter lernen. Diese erlernte Expertise, bestimmte Arten von Gesichtern besser voneinander unterscheiden zu können als andere, mag auf den ersten Blick nur schwer unterscheidbar sein von der Annahme, dass es sich um eine kognitiv repräsentierte Kategorie handelt. Ein wichtiger Unterschied wäre aber die Generalisierung über Exemplare einer Kategorie. Die Tatsache, dass ich unterschiedlichen Wein nicht voneinander unterscheiden kann, bedeutet nicht notwendigerweise, dass ich ein mentales Konstrukt für diese schlecht unterschiedenen Getränke habe, über das ich generalisierte Annahmen treffe. Ohne Übung kann ich die Menschen mit verbundenen Augen nur anhand ihrer Stimmen schwer voneinander unterscheiden und verwechsele sie. Ich lege jedoch nicht notwendigerweise einen neuen Eintrag in meinem internen Katalog von Menschensorten an. Eine klarere Option für ein indirektes Maß spontaner Anwendung von Kategorien, das nicht gleichermaßen ›kontaminiert‹ ist durch unterschiedliche Übung darin, Gesichter auseinanderzuhalten, ist das so genannte Who-Said-What-Paradigma (WSW; Taylor et al. 1978). In einem typischen Versuchsaufbau haben die Teilnehmer:innen erst einmal nur 89

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die Aufgabe, einer Unterhaltung von zumeist acht Personen zu folgen. Jede der Personen meldet sich mehrmals (meist sechsmal) zu Wort. Anschließend erhalten die Teilnehmer:innen nun die unangekündigte Aufgabe, für jede Aussage zu bestimmen, welche der beteiligten Personen sie getätigt hat. Hier gibt es nun die Möglichkeit, dass die jeweilige Teilnehmerin sich korrekt erinnert, wer eine Aussage getätigt hat und eine richtige Antwort gibt. Oder sie weiß es nicht und rät einfach (und hat so in einem Achtel der Fälle einen Zufallstreffer). Sie könnte aber bereits während der Unterhaltung die Gesprächsteilnehmer:innen nicht nur als acht Individuen wahrgenommen haben, sondern als Angehörige z.B. zweier Kategorien. In diesem Fall mag sie sich nicht mehr erinnern, von wem die Aussage war, aber dennoch eine Erinnerung haben, zu welcher Kategorie die betreffende Person gehört. Dann muss zwar auch geraten werden, wer genau die Aussage getätigt hat, aber infrage kommen jetzt nur noch die vier Exemplare der gleichen Kategorie (und so in einem Viertel der Fälle ein Zufallstreffer). Umgekehrt heißt dies nun, dass wenn Teilnehmer:innen mehr Intra-Kategorie-Fehler machen (also Aussagen einer Person der Kategorie A einer anderen Person der Kategorie A zuzuordnen) als Inter-Kategorie-Fehler (Aussagen einer Person der Kategorie A einer Person der Kategorie B zuzuordnen), dies ein indirekter Hinweis darauf ist, dass sie die Sprecher:innen bereits während der Unterhaltung nicht als Individuen, sondern als Exemplare einer Kategorie wahrgenommen haben. Kurz, sie haben kategorisiert. Für Unterscheidungsdimensionen wie Geschlecht (Arcuri 1982; Taylor et al. 1978; Vescio et al. 2004), race (Biernat/Vescio 1993; Hew­ stone et al. 1991; Stangor et al. 1992), Alter (Lieberman et al. 2008) oder sexuelle Orientierung (Walker/Antaki 1986) zeigt sich ein robustes Muster häufigerer Intra- als Interkategorienfehler, es wird also kognitiv kategorisiert. Kulturell sehr ubiquitäre Differenzierungen wie die nach Geschlecht lassen sich mit diesem experimentellen Paradigma schon bei sehr jungen Kindern nachzeichnen (ab drei Jahre; Bednarek/Shutts 2017; Weisman et al. 2015). Im Widerspruch zu den referierten Befunden der stärkeren Kategorisierung von Fremdgruppen relativ zur Eigengruppe zeigte sich eine solche Asymmetrie in typischen WSW-Befunden nicht. Kategorisierung ist hier – empirisch betrachtet – eine Medaille mit zwei Seiten. Der Grad, mit dem dunkelhäutige Sprecher:innen als Schwarze versämtlicht werden, ist vergleichbar dem von Weißen. Dies spricht jedoch nicht gegen die Validität des Verfahrens, da aktuelle Untersuchungen zeigen, dass dies auf die wiederholte Darbietung einzelner Sprecher:innen zurückzuführen ist. Die initial fehlende perzeptuelle Expertise zur Unterscheidung z.B. schwarzer Gesichter wird aufgeholt, wenn Proband:innen die Individuen nicht einmal, sondern sechsmal wiederholt dargeboten bekommen (so wie es in alltagsweltlichen Prozessen beim Kennenlernen passiert). Durch 90

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diese Kompensation verschwinden Asymmetrien in der Wiedererkennung (Flade/Imhoff 2020). Dieses Paradigma ist deshalb so elegant, weil es nachzeichnen kann, entlang welcher Linien die Bearbeiter:innen die ihnen präsentierten Personen sortieren und kategorisieren, ohne sie danach zu fragen, und auch ohne, dass die Bearbeiter:innen selbst eine introspektive Einsicht oder die Fähigkeit zur Verbalisierung einer Kategorie erlangen müssen. Gleichzeitig ist es nicht frei von Problemen. Ein erstes Problem ist die deutliche Limitation, dass Forschende zumeist nur das herausbekommen, was sie an Stimuli hineingesteckt haben. Die acht Sprecher:innen werden ja nicht zufällig ausgewählt, sondern meist gezielt auf Basis nicht weiter reflektierter Intuitionen, um die Kategorisierungshypothese der Forschenden zu überprüfen. Konkret mag ein Psychologe vier Gesichter auswählen, die ihm prototypisch weiß erscheinen und vier, die seinem Bild eines prototypischen Schwarzen entsprechen. Damit wird jedoch eine häufig unreflektiert bleibende artifizielle Informationsökologie geschaffen, die aufgrund einer nicht-repräsentativen Auswahl von Stimuli auch nur bedingt ökologisch valide ist, d.h. nicht zwingend den Wahrnehmungs- und Kategorisierungsalltag der Menschen abbildet. Konsequent zu Ende gedacht, ließe sich so eine vollkommen künstliche Realität erschaffen, in der es nur ein einziges Merkmal gibt, das ein lumping von jeweils vier Individuen zu einer »Gruppe« erlaubt. Eine Stimulusauswahl von acht sich ähnelnden Bildern, die sich vor allem darin unterscheiden, ob die Abgebildeten einen Schnurrbart tragen oder nicht, würde mit großer Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis zeitigen, in dem Schnurrbartträger häufiger miteinander als mit bartlosen Personen verwechselt werden und umgekehrt. Der Schluss, dass Gesichtsbehaarung eine relevante Form der Humandifferenzierung antreibt, wäre aber eine vermutlich inadäquate Übergeneralisierung. Menschen können dieses Merkmal nutzen, wenn die Konfiguration der Informationsökologie es besonders salient macht. Das heißt nicht, dass sie dies üblicherweise tun. Ein zweites Problem ist die geringe Erklärungskraft, die in solchen Befunden liegt. Es scheint so, als diene dieses elegante Verfahren vor allem dazu, Humandifferenzierungen, von deren Relevanz die meisten überzeugt sein dürften (v.a. Geschlecht und race) auch auf diese Art und Weise nachzuzeichnen. Wir lernen also, welche Kategorien gebildet werden (können), jedoch ohne eine Erklärung, ohne ein Modell von Kausalität und Konstellation, warum bestimmte Kategorisierung unter welchen Konstellationen überhaupt vordergründig werden.

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3. Warum bestimmte Kategorisierungen? Einer der wenigen Versuche, hier Abhilfe zu schaffen und einen Erklärungsversuch zu wagen, wie – in diesem Fall – Kinder sich Kategorien aneignen, liefert die Developmental Intergroup Theory (Bigler/Liben 2006). Diese ist zwar auf die Entwicklungsaufgabe des Erkennens sinnvoller Menschensorten zugeschnitten, liefert aber gegebenenfalls auch Hinweise darauf, was allgemeine Determinanten des Herauf- oder Herunterfahrens einer Differenzierung sein könnten. Kinder versuchen – wie alle Menschen – Sinn aus ihrer sozialen Umwelt zu machen. Dazu müssen sie die schier endlose Anzahl menschlicher Anderer in eine übersichtlichere Ordnung bringen. Die Theorie schlägt nun vier Aspekte vor, die Kinder nutzen, um zu entscheiden, was sinnvolle Sortierkriterien sein könnten. Dazu zählen die Autorinnen zuallererst die perzeptuelle Unterscheidbarkeit. Es muss also der Wahrnehmung zugängliche Eigenschaften geben – eine andere Hautfarbe, Augenform, Körperbau, eine andere Sprache, Tonlage, ein besonderer Geruch. Zusätzlich bestimmend ist zweitens der numerische Minderheitenstatus. Zur Kategorie wird, was anders ist als der Rest, was als Figur vor dem ubiquitären Hintergrund salient hervorsticht. Die mit ihren Beinen laufenden Menschen erscheinen so erst einmal nicht erwähnenswert. Menschen in Rollstühlen hingegen stechen hervor und sind qua ihrer numerischen Minderheitsposition besonders (und ähnliches ließe sich für abweichende Pigmentierung, die seltenere rote Haarfarbe etc. argumentieren). Diese ersten beiden Hinweise können sich rein aus der Struktur der Informationsökologie ergeben, also der Beschaffenheit und Zusammensetzung der sozialen Umwelt. Diese Aspekte erlauben es also, »bottom-up« zu kategorisieren. Die zwei weiteren Aspekte werden durch die kindliche Beobachtung anderer menschlicher Akteure erschlossen. Zum einen ist dies die Erfahrung, dass es einen Begriff, ein sprachliches Label für eine Kategorie gibt. Dieses wird nicht notwendigerweise blind übernommen, aber als Hinweis genutzt, dass es sich um eine sinnvolle Sortierung handeln könnte, wenn es eine extra Bezeichnung dafür gibt (z.B. »die Obdachlosen«, »die Jugendlichen«). Schließlich, so die vierte Annahme, sind Kinder auch sensitiv für subtilere Hinweise, wie die unterschiedliche Behandlung von Menschen einer vermeintlichen Kategorie durch andere, sie lesen an der unterschiedlichen Behandlung ab, ob dies eine relevante Kategorie ist. Diese Theorie liefert einige Hinweise darauf, was Menschen dazu bringt, bestimmte Möglichkeiten der Sortierung von Menschen in Kategorien einzuüben, zu übernehmen, anzuwenden. Gleichzeitig ist die Informationsökologie hier immer schon kulturell vorsortiert. Im Idealfall gibt es bereits eine z.B. visuell unterscheidbare Minderheit mit einer Bezeichnung, die eine dramatisch andere Behandlung erfährt. Was fehlt, 92

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ist eine gute Beschreibung dessen, welche Kategorien in alltagsnahen– also nicht durch Forscherannahmen vorselektierten – Informationsökologien salient werden und welche konstellierenden Faktoren hierfür entscheidend sind. Hierfür bedarf es eines belastbaren Modells, das Aussagen darüber erlaubt, welche von mehreren möglichen Kategorisierungen in bestimmten Situationen die Oberhand gewinnen. Ausgehend davon, dass viele Humandifferenzierungen kulturell geprägt und von Individuen eingeübt und erprobt werden, stellt sich die Frage, wann sich welche dieser Möglichkeiten durchsetzt, wann eine Unterscheidung zugunsten einer anderen nach vorne gespielt wird. Hier braucht es Forschungsdesigns, in denen unterschiedliche Humandifferenzierungen (z.B. Geschlecht, race und Alter) miteinander in Konkurrenz treten. Auf der dadurch zu erlangenden empirischen Grundlage ließe sich dann eine beschreib- und testbare Theorie darüber zu entwickeln, welche situativen Konstellationen (motivationaler oder informationeller Natur) bestimmen, dass sich eine Unterscheidungsmöglichkeit gegenüber den anderen durchsetzt oder dass eine salient wird. Nichts an bestimmten Markern (z.B. Hautfarbe, Uniform, Rollstuhl) ist an sich salient und legt von allein eine bestimmte Humandifferenzierung nahe. Salienz ist vielmehr immer eine Funktion der Relation eines Gegenstands zu seiner Umwelt. Offene Haare sind an sich kein salientes Kriterium für Kategorisierung, aber eine Trägerin offener Haare sticht in einer großen Menge von Tschador tragenden Frauen heraus. Die lokale Verteilung von Mehrheit und Minderheit erzeugt also Salienz. Ob Pigmentierung der Haut ein hervorstechendes Merkmal ist, das sich zur Kategorisierung anbietet, hängt vermutlich davon ab, ob sie in der Informationsökologie eine nahezu überlappungsfreie Distinktion in nur zwei Kategorien erlaubt (wie im Südafrika der Apartheid) oder eine kontinuierliche Verteilung sanft ineinander übergehender Schattierungen aufspannt (wie in Angélica Dass’ Humanae-Projekt). Salienz ist also Effekt einer Informationsökologie, dem Zusammenspiel des Dargebotenen, das Aufforderungscharakter zur Anwendung bestimmter Humandifferenzierungen bereithält. Diese sind weder willkürlich und frei gewählt noch kommen sie erst mit dem Akt des Unterscheidens in die Welt. Sie sind in der Konfiguration der Umwelt angelegt.

4. Warum Kategorisieren – Stereotype als »Wissen« über die Welt Der ökonomische und funktionale Mehrwert davon, die uns umgebende soziale Umwelt in Kategorien einzuteilen, liegt darin, auf Basis dieser Kategorien das Verhalten anderer vorhersagen oder zumindest abschätzen 93

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zu können, genauso wie unser eigenes Verhalten gegenüber anderen anpassen zu können. Dazu reicht es jedoch nicht aus, Menschen in Schubladen zu sortieren, die ich mit einem leeren Etikett beklebe, auf das allenfalls ein Name dieser Kategorie kommt. Ich muss die Repräsentation dieser Kategorie mit Vorstellungen davon anfüllen, was Exemplare dieser Kategorie ausmacht, wie sie sich verhalten. Ich muss Generalisierungen über diese Kategorie treffen. Was nützt es mir, dass da eine Sorte Mensch ist, wenn ich nicht weiß, wie sie beschaffen ist? Dieses Wissen nennen Sozialpsycholog:innen Stereotype. Stereotype betreffen also die Verknüpfung einer Kategorie mit einer ihren Exemplaren unterstellten Eigenart. Professoren sind zerstreut, Drogennutzer:innen ungepflegt, schwule Männer ästhetisch anspruchsvoll und Bibliothekarinnen schüchtern. Der unterstellte Vorteil im Sinne des vielzitierten kognitiven Geizkragens (cognitive miser) ließe sich umgangssprachlich fassen als »Kennst Du einen, kennst Du alle.« Nun müssen nicht länger für jedes einzelne Individuum alle seine Eigenarten gespeichert und erinnert werden. Stattdessen kann vom kategorialen Label (z.B. schwul) auf alle Exemplare generalisiert werden und so Verhalten vermeintlich adäquat angepasst werden (besser kein gerahmtes Bild von IKEA als Gastgeschenk). Funktional ist ein solches Vorgehen natürlich nur, wenn die da­rauf fußenden Entscheidungen nicht nur ressourcensparend, sondern auch hinreichend akkurat sind. Vor diesem Hintergrund gibt es eine im Fach kontrovers geführte Debatte, ob Stereotype (tendenziell) auf einem wahren Kern (kernel of truth) aufbauen oder komplett arbiträr und fiktiv sind. In der ersten Variante würden leichte, aber bestehende Mittelwertunterschiede tatsächlicher Eigenarten zwischen Kategorien (schwule Männer interessieren sich durchschnittlich mehr für Ästhetik als heterosexuelle Männer) kognitiv einfach vergrößert und bis zu dem Punkt akzentuiert, an dem es keine Überlappung zwischen den Kategorien mehr gibt, so dass jeder schwule Mann für ästhetisch interessierter gehalten wird als jeder heterosexuelle Mann. Stereotype sind in dieser Sicht also bloße Übertreibungen. Dem widersprechen Ansätze der zweiten Variante, die argumentieren, dass Stereotype gar nicht aus tatsächlichen Eigenarten der Exemplare einer Kategorie, sondern aus soziostrukturellen Gegebenheiten bzw. dem durch diese erzwungenen Verhalten erschlossen werden. Weil patriarchale Regime die Reproduktionsarbeit Frauen zugeschoben haben, und Frauen entsprechend mehr fürsorgliche Arbeit verrichten, leiten Menschen daraus ab, dass sie – dispositional – fürsorglicher und emotionaler sind (social role theory; Koenig/Eagly 2014). Weil Fernsehmoderatoren häufig als Quizmaster fungieren, halten wir sie für intelligent (Ross et al. 1977). Hier ist das Vertrauen auf Stereotype also nicht funktional in dem Sinne, dass wir tendenziell richtig damit liegen, wie die stereotypisierten 94

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Personen wirklich »sind«. Vielmehr liefern Stereotype hier eine überzufällig akkurate Einschätzung, wie sie sich verhalten – nur eben nicht aufgrund natürlich gegebener Unterschiedlichkeit, sondern aufgrund soziostruktureller Zwänge und Gegebenheiten, z.B. der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Schwule Männer, so könnte man das obige Beispiel aufgreifen, interessieren sich nicht wirklich für Kunst und Ästhetik, sondern werden von einer latent homophoben Gesellschaft aus Schützen- und Fußballvereinen vertrieben, bis nur noch Galerien und Museen übrigbleiben. Das Stereotyp entsteht also aus einer Fehlattribution, die das aus sozialen Strukturen und Zwang resultierende Verhalten einer inneren Haltung (Interesse) zuschreibt. Diese Positionen sind hier klarer dargestellt, als es sich empirisch verhält. Die – häufig moralisch aufgeladene – Debatte um den kernel of truth ist vielleicht gar nicht zielführend, weil die Menschen sich in ihren Stereotypen einrichten und danach verhalten können (im Sinne einer self-fulfilling prophecy), unabhängig davon, ob diese sich aufgrund schon vorher bestehender Unterschiedlichkeit entwickelt haben oder nicht. Hier wäre auch zu klären, was denn der Zeitpunkt Null wäre? Gott- oder gen-gegebene Eigenschaften von Geburt an? Die Herausbildung (sub-)kultureller Eigenarten einer Kategorie noch bevor auf sie bezogene gesellschaftliche Stereotype entstehen? Je nachdem, wo der Pflock eingeschlagen wird, können so Schlüsse generiert werden. Es erscheint also müßig zu diskutieren, ob Stereotype eine hilfreiche Approximation an das sind, was die jeweiligen Exemplare der stereotypisierten Kategorie ausmacht oder nicht. Dennoch bleibt hier erneut die Aufgabe der Memorierung und Sortierung beeindruckender Datenmengen bestehen. Für jede relevante Kategorie muss eine Reihe passender Stereotype erschlossen (oder übernommen) und erinnert werden. In komplexen Gesellschaften und in Anbetracht der theoretischen und praktischen Diversität möglicher Attribute scheint dies erneut das eigentliche Ziel sparsamer sozialer Informationsverarbeitung zu gefährden. Vor diesem Hintergrund haben einige Autor:innen vorgeschlagen, dass es bestimmte Kardinalstereotype geben könnte, also bestimmte Attribute, die Menschen besonders an Kategorien interessieren. Da wäre einerseits, ob die Ziele und Interessen anderer mit unseren eigenen kompatibel und sie uns ergo freundlich gesonnen sind (Wärme), und andererseits, ob sie die Fertigkeiten und Möglichkeiten haben, diese Ziele zu erreichen (Kompetenz) (Fiske et al. 2002). Aus diesen zwei Dimensionen können nun vier idealtypische Kombinationen erstellt werden, so dass sich Kategorien von Menschen finden, die beneidet werden (kalt aber kompetent; z.B. Reiche, Juden, Asiaten), solche, die bemitleidet werden (warm, aber inkompetent; z.B. Alte, Kranke), und solche, denen wir mit Verachtung begegnen (kalt und inkompetent; z.B. Obdachlose, Junkies). Der vierten Kombination, warm und kompetent, wird mit Bewunderung 95

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und Wohlwollen begegnet, sie ist jedoch vor allem der eigenen Kategorie vorbehalten (z.B. weiße Männer). Dieses Stereotype Content Model (­Fiske et al. 2002) ist in seiner Sparsamkeit sowie seinem Potential, aus nur zwei Attributen Emotionen und Verhaltensweisen gegenüber einer großen Zahl an Kategorien zu prognostizieren, äußerst einflussreich, aber ebenfalls nicht unumstritten. So besteht ein erster Einwand darin, dass diese beiden Dimensionen (Wärme und Kompetenz) vielleicht die relevanten Kardinaldimensionen sein mögen, dies aber nicht hinreichend gezeigt wird, da die Befragten in den dem Modell zugrundeliegenden Studien stets nur gebeten wurden, eine Reihe sozialer Kategorien mit Blick auf diese beiden Dimensionen – und keinen anderen – zu beurteilen (Koch et al. 2016). Ein zweites Problem ist, dass Wärme eigentlich nicht wirklich ein Attribut einer Kategorie von Menschen ist, sondern eher Ausdruck einer sozialen Beziehung und damit eher eine Evaluation und Bewertung denn eine zugeschriebene Eigenschaft (Imhoff/Koch 2017). Diese Unterscheidung zwischen einer nicht notwendigerweise evaluativen Eigenschaft und einer Evaluation spiegelt sich auch in den Begriffen des Stereotyps und des Vorurteils (s. nächsten Abschnitt). Der Begriff der Wärme scheint zwischen der Definition eines Stereotyps und dem davon abzugrenzenden Begriff des Vorurteils zu liegen.

5. Andere aufgrund einer kategorialen Zuschreibung bewerten: das Vorurteil Ausgehend vom sozial-kognitiven Informationsverarbeitungsmodell sind Menschen nun zu Kategorien zusammengefasst und diese mit ihnen unterstellten Attributen versehen. Der nächste und im sozialen Zusammenleben so folgenreiche Schritt ist nun die Bewertung dieser Kategorien, ihre Wahrnehmung als freundlich, liebenswert oder bedrohlich, gefährlich und verachtenswert. Obwohl dies in der Alltagssprache (und leider auch manchen Lehrbüchern) munter durcheinandergeht, lohnt es sich, hier zu differenzieren: Stereotype, so der Vorschlag, beziehen sich auf Annahmen darüber, wie Exemplare einer Kategorie beschaffen sind, welche Attribute sie haben (unabhängig davon, wie diese jeweils bewertet werden). Vorurteile hingegen implizieren eine eindeutige Bewertung einer Kategorie (unabhängig davon, welche vermeintlichen Eigenschaften sie hat). Klarerweise können bestimmte Attribute (z. B. kriminell oder selbstlos) evaluative Implikationen haben, notwendig ist das jedoch nicht. Tatsächlich zeigt sich, dass Stereotype im weitesten Sinne gesellschaftlich geteiltes Wissen sind, unterschiedliche Befragte also zu ähnlichen Einschätzungen hinsichtlich der Attribute einer Kategorie 96

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kommen. Vorurteile hingegen, also differentielle Bewertungen von Kategorien sind sehr viel weniger konsensuell und geteilt (Koch/Imhoff et al. 2020). Welche Kategorien von Menschen wir mögen und welche nicht, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie ähnlich wir sie zu uns selbst einschätzen (Imhoff/Koch 2017), und ebenso ist gegenseitige Kooperation abhängig von wahrgenommener Ähnlichkeit (Koch/Dorrough et al. 2020). Vorurteile haben auch die engste Beziehung zur behavioralen Komponente der Unterscheidung von Menschensorten: der Diskriminierung. In der sozialpsychologischen Tradition meint Diskriminierung hier nicht den Akt des Unterscheidens, sondern tatsächlich manifeste Ungleichbehandlung, wie zum Beispiel Personalauswahlentscheidungen in (fiktiven) Bewerbungsprozessen (Quillian et al. 2017), unterschiedliche Zumessung von Strafmaß (Blair et al. 2004) oder unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, unbewaffnete Avatare in Computerspielen fälschlicherweise zu erschießen (Correll et al. 2014). Vorurteile gelten hier als kognitiv-affektive Vorläufer solcher Handlungen. Entsprechend sind insbesondere Personen, die negative Einstellungen zu oder negative Assoziationen mit der jeweiligen Kategorie hegen, geneigt, z.B. einen großen Abstand zu einem marokkanischen Avatar an einer Bushaltestelle in der virtuellen Realität aufrecht zu erhalten (Dotsch/Wigboldus 2018) oder übergewichtige Bewerberinnen systematisch zu benachteiligen (Agerström/ Roth 2011). Insbesondere mit der zunehmenden Ächtung von offener Diskriminierung kam es in den 1970er Jahren zu der Beobachtung, dass auch in Umfragen und Studien weniger Vorurteile geäußert wurden, die Gesellschaft also vermeintlich egalitärer wurde. Dieser optimistischen Interpretation lässt sich allerdings auf zwei Arten widersprechen. Einerseits ist denkbar, dass Menschen nach wie vor die gleichen Ressentiments und Vorurteile empfinden, aber gelernt haben, dass es sich nicht gehört, sie auch offen zu äußern. Sichtbar machen kann man solch eine Konstellation, indem man Situationen kreiert, in denen negative Äußerungen gegenüber Angehörigen einer diskriminierten Kategorie auch anders attribuiert werden können, als auf Vorurteile. So gaben weiße Amerikaner in einem Lernexperiment einem (tatsächlich eingeweihten) ›Lerner‹ weniger elektrische Schocks, wenn dieser schwarz war als wenn er weiß war. Hatte eben jener Lerner sich jedoch zuvor über die Probanden beleidigend geäußert, drehte sich das Muster um: Nun erhielt der schwarze Lerner deutlich mehr Bestrafung als der weiße (Rogers/Prentice-Dunn 1981). Die Ergebnisse lassen sich dahingehend interpretieren, dass das vermeintlich egalitäre (oder sogar Weiße benachteiligende) Verhalten im Experiment ohne Beleidigung nur eine Anpassung an die wahrgenommene Norm war, sich nicht rassistisch zu verhalten. Durch die Beleidigung jedoch konnten Probanden ihre negativen Gefühle und Handlungen jenseits 97

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von Rassismus rechtfertigen und sahen in ihrer starken Bestrafung des schwarzen Lerners auch keine Verletzung egalitärer Normen. Die zweite Möglichkeit, der Interpretation verschwindender Vorurteile skeptisch zu begegnen, ist forschungsorganisatorisch ungleich folgenreicher: die Postulierung impliziter Vorurteile sowie impliziter Stereotype. Demnach haben die Menschen nicht einfach ihnen bewusste Vorurteile und Stereotype, deren Äußerung sie aber häufig unterdrücken, sondern auch noch implizite Vorurteile und Stereotype, die unbewusst operieren. Diese Überzeugungen wären der Introspektion nicht zugänglich (ich weiß nicht, dass ich Vorurteile habe), sie beeinflussen Verhalten automatisch (ich kann sie nicht kontrollieren), sie basieren auf wiederholten Erfahrungen und sind nur schwer änderbar (sie sind träge), und sie operieren schnell und effizient (sie benötigen kaum kognitive Ressourcen). Dieses Konzept und die sozialpsychologische Forschung dazu ist eine Erfolgsgeschichte vor allem der 1990er und 2000er Jahre. So wurden verschiedene Möglichkeiten entwickelt, solche impliziten Vorurteile und Stereotype zu messen, um dann zu untersuchen, wie sie mit Verhalten zusammenhängen. Die populärste Messmethode, der implizite Assoziationstest (Greenwald et al. 1998), besteht aus Kategorisierungsaufgaben mittels Tastendruck. Probanden sollen zum Beispiel Wörter danach kategorisieren, ob sie Positives oder Negatives konnotieren (z.B. glücklich, Frieden, Vergnügen, Misserfolg, schrecklich, Qual). In einem weiteren Durchgang werden dann zum Beispiel Gesichter danach sortiert, ob sie schwarz oder weiß sind (oder z.B. Städte danach, ob sie in West- oder Ostdeutschland liegen). In einer ersten kombinierten Serie müssen positive Wörter und schwarze Gesichter auf die eine Seite sortiert werden, während negative Wörter und weiße Gesichter auf die andere sortiert werden müssen. In der zweiten Serie ist die Kombination vertauscht: auf positive Wörter und weiße Gesichter muss mit einer Taste reagiert werden, auf negative Wörter und schwarze Gesichter mit der anderen. Verglichen werden nun die Fehlerraten und Reaktionsgeschwindigkeit der beiden Durchgänge. Je nachdem in welchem Durchgang Probanden weniger Fehler machen und sie schneller sind, wird erschlossen, welche Kombination für sie leichter und intuitiver war (für weiße Probanden meist die Serie mit positiven Wörter und weißen Gesichtern auf der einen, negativen Wörtern und schwarzen Gesichtern auf der anderen Seite). Dies wird als Maß für implizite Vorurteile interpretiert. (Für Demonstrationen: https://implicit. harvard.edu/implicit/germany/takeatest.html). Mit einer geeigneten Messmethode ausgestattet, ließ sich Forschung dazu betreiben, unter welchen Umständen solche impliziten Vorurteile verhaltenswirksam werden. Theoretisch eingebettet war dies in Zwei-Prozess-Modelle menschlichen Verhaltens (z.B. Strack/Deutsch 2004), wonach zwei separate Systeme menschliches Verhalten steuern: 98

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ein schnelles, automatisches, impulsives System (wo implizite Vorurteile verortet werden können) und ein langsameres, ressourcenaufwändigeres, aber flexibleres System (wo internalisierte Normen, Pläne und bewusste Überlegungen verortet werden können). Wenn zum Beispiel das ressourcenaufwändige System durch Ablenkung (oder Alkoholeinfluss) blockiert wird, können egalitäre Normen nicht mehr greifen und Menschen verhalten sich in Übereinstimmung mit ihren impliziten Vorurteilen (Hofmann et al. 2008). Menschen, denen es gar nicht wichtig ist, sich an egalitäre Normen zu halten, verhalten sich als weiteres Beispiel so, wie ihre gemessenen impliziten Vorurteile es vermuten lassen würden (Fazio/Olson 2004). Und schließlich gibt es bestimmte Verhaltensweisen, die sich nur schwer willentlich kontrollieren lassen und in denen sich deshalb implizite Vorurteile direkt niederschlagen, wie Blinzeln (Dovidio et al. 1997), nonverbale Freundlichkeit (Dovidio et al. 2002) oder physiologischer Stress in Anwesenheit eines dunkelhäutigen Avatars (Dotsch/Wigboldus 2008). Geadelt wurde dieses Forschungsparadigma nicht zuletzt dadurch, dass unter US-Präsident Obama, das Thema Implicit Bias auch auf die politische Tagesordnung gebracht wurde und in zahlreichen Reden und Hintergrunddokumenten des Weißen Hauses darauf rekurriert wurde (Handelsman/Sakraney 2015). Mittlerweile hat sich jedoch Ernüchterung breitgemacht. Zum einen gibt es keine starke Evidenz dafür, dass »implizite« Vorurteilen introspektiv unzugänglich sind, im Gegenteil die meisten Menschen können diese sehr akkurat berichten (Gawronski et al. 2006; Hahn et al. 2014). Zum anderen mehren sich die Zweifel, wie stark die erwähnten Maße tatsächlich mit beobachtbarem Verhalten zusammenhängen (Oswald et al. 2015; für eine Replik Greenwald et al. 2015). Aus der in diesem Aufsatz eingenommenen Per­spektive bleibt selbst bei konstatierten Zusammenhängen mit Verhalten (Kurdi et al. 2019) das Problem der responsiven Erfassung. Kategorien werden in einem impliziten Assoziationstest als gegeben vorausgesetzt, die dargebotenen Bilder oder Wörter sollen eindeutig kategorisierbar sein, es besteht die Möglichkeit, »Fehler« zu machen (wenn man z.B. einen Menschen mit dunkler Hautfarbe als Weißen kategorisiert). Aus Sicht der kognitiven Humandifferenzierung werden so von Forscher:innen in die Messmethode hineingesteckte Kategorien lediglich (in unterschiedlicher Leichtigkeit) reproduziert. Ob die dort per Instruktion verlangte Humandifferenzierung aber tatsächlich diejenige ist, die in konkreten Situationen verhaltensanleitend wirkt, sollte so tatsächlich u.a. von der situativen Salienz dieser Differenz abhängen.

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6. Henne, Ei und andere Tiere Bis hierhin habe ich die kognitive Humandifferenzierung und ihre Auswirkungen relativ holzschnittartig als sequentiellen Ablauf von Kategorisierung, Stereotypisierung, darauffolgenden Vorurteilen und schließlich diskriminierendem Verhalten dargestellt. Es gibt vieles, was für die Plausibilität dieser Reihenfolge spricht: Es müssen überhaupt erst einmal Kategorien vorhanden sein, bevor ich diesen Attribute unterstellen kann. In dem Maße, wie die Bewertung von Kategorien aus ihrer Ähnlichkeit zur Beurteiler:in erschlossen wird, müssen natürlich Vorstellungen davon vorhanden sein, wie diese Kategorie beschaffen ist, welche (ähnlichen oder unähnlichen) Eigenschaften ihre Exemplare haben. Und schließlich ist es eine kulturelle Binsenweisheit, dass Vorurteile deshalb problematisch sind, weil aus ihnen diskriminierendes Verhalten erwächst. Es existieren jedoch gleichermaßen gute Gründe, diese Einbahnstraße kognitiver Humandifferenzierung kritisch zu betrachten. So können Stereotype auch als nachgeschobene Rechtfertigungen für schon zuvor bestehende Antipathien und Sympathien gesehen werden (Crandall et al. 2011). In einer ähnlichen Logik können Handlungen den Ausgangspunkt für an diese Handlungen angepasste Ansichten darstellen. Psychologen sprechen von kognitiver Dissonanzreduktion, wenn Menschen ihre Meinungen, die nicht im Einklang mit ihrem Verhalten stehen, an ihr Verhalten anpassen. Menschen essen Tiere aus Gründen der Ernährung oder des Genusses und passen in der Folge ihre Vorstellung davon, wie nicht-menschliche Tiere sind, an (Bilewicz et al. 2011). Teilnehmer eines Computerspiels, die eine außerirdische Spezies ausgerottet haben, halten diese anschließend für weniger menschenähnlich und emotional komplex als Teilnehmer, die erfahren, dass diese Spezies an einer Seuche gestorben ist (Castano/Giner-Sorolla 2006). Der behaviorale Schwanz wackelt also gelegentlich mit dem kognitiven Hund. Diese Rekursivität kratzt ein wenig am Idealtypus des kognitiven Geizkragens als unvoreingenommenen Sortierer der sich ihm bietenden Möglichkeiten im Auftrag der maximalen Komplexitätsreduktion. Wenn ich nicht erst einmal gelassen auf die Welt schaue, Ordnung schaffe und mich dann effizient zu ihr verhalte, sondern durch mein Verhalten in die Welt geworfen bin und im Nachhinein versuche, dem ganzen Sinn zu geben, bleibt vielleicht nicht mehr viel übrig von der planend überlegenden Informationsverarbeitung. Das ändert jedoch nichts daran, dass Kategorien vereinfachende Hilfskonstrukte bleiben. Um dem eigenen Verhalten Sinn und Legitimität zu verleihen, wird einer ganzen Kategorie von Objekten oder Menschen ein So-Sein unterstellt. Noch komplizierter wird es bei genauerer Betrachtung der Beziehung zwischen Kategorisierung und Attributzuschreibung. So ist völlig 100

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unklar, auf welcher Basis Menschen in der sozialen Umwelt unterschieden und kategorisiert werden sollen, wenn die Individuen keine einfach wahrnehmbaren Merkmale haben, anhand derer sie kategorisiert werden können. Hier könnte man sich damit behelfen, dass es physische, sichtbare, für Unterscheidungen unmittelbar zugängliche Ansatzpunkte der Humandifferenzierung gibt, die für Kategorisierung genutzt werden (auf Basis von biologischen Invarianten oder dem Alter als biografischem Stadium). Das mag bei Kategorisierungen, die sich eindeutig an physiologische Marker wie Hautfarbe oder Körpererscheinung anhaften, noch funktionieren. Für zahlreiche andere Kategorien, die Menschen unterscheiden, ist dies jedoch kein sinnvolles Modell. Kategorisierung nach sexueller Orientierung zum Beispiel setzt am Selbstbekenntnis zum konstituierenden Begehren an. Diese ist aber nicht sichtbar oder eindeutig erschließbar. Hier reicht der individuelle Blick auf die Welt nicht aus, es braucht Kommunikation und sprachliche Festlegung. Eben wegen solchen dem sozialpsychologischen Zugang inhärenten Begrenzungen kann ein überzeugendes Prozessmodell kognitiver Humandifferenzierung nicht gut im disziplinären Vakuum gedeihen. Es braucht die Einsichten und Reibungsflächen mit kulturwissenschaftlichen Perspektiven, mit inhaltlich konkreteren und reicheren Fällen, an denen psychologische Prozessannahmen sich bewähren oder scheitern können. Und es braucht außerdisziplinäre Expertise, um Hinweise zu erhalten, welche Kategoriekandidaten mit welchen Eigenschaften unter welchen Voraussetzungen zu welchen Aggregatzuständen gerinnen. Jedoch wird auch umgekehrt eine kulturwissenschaftliche Theorie der Humandifferenzierung ohne ein psychologisches Verständnis von Unterscheidungsprozessen unvollständig bleiben. Denn alle Differenzierungen müssen letztendlich, um sich erfolgreich gesellschaftlich zu reproduzieren, durch individuelle Menschen hindurch, die versuchen, sich in einer komplexen Welt durch Sortierung von anderen Menschen Ordnung zu verschaffen und zurechtzufinden.

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Die Verwandlung von sudanesischen Geflüchteten in tschadische Flüchtlingsbürger Eine bürokratische Statuspassage In diesem Beitrag betrachte ich – aus einer langzeitlich angelegten sozial­ anthropologischen Forschung hervorgehend – eine spezifische, bürokratisch organisierte Statuspassage im Osten des zentralafrikanischen Tschad. Nach knapp anderthalb Jahrzehnten der internationalen humanitären Intervention sollte dort 2015 der Flüchtlingsstatus von mehreren hunderttausend Menschen wieder rückgängig gemacht und mithilfe einer großangelegten Maßnahme in einen hybriden Übergangsstatus als tschadische Flüchtlingsbürger überführt werden.1 Mir erscheint dieser Vorgang in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen interessiert mich die Praxis der Auflösung einer bürokratischen Zugehörigkeitsdefinition. Was wird getan, um den Status von Menschen in politisch-wirtschaftlicher Hinsicht so zu verändern, dass sich ihre Lebensumstände den Vorstellungen von Hilfsorganisation und Staat anpassen? Zum anderen geschieht hier der Versuch, Zugehörigkeitskategorien und deren Wirkung eindeutig festzulegen, in einer Region, in der Zugehörigkeiten historisch sehr flexibel waren und sind. Dies mag der Ungewissheit und den schwierigen Lebensbedingungen der Menschen geschuldet sein, wohl auch der marginalisierten Position innerhalb der beiden angrenzenden Staaten, Tschad und Sudan. Die hier lebenden Menschen müssen die Implikationen bestimmter Zugehörigkeiten immer im Auge behalten, so auch den neuen 1 Die Bezeichnung von Menschen, die zwangsweise migrieren, wurde in neuerer Zeit viel diskutiert. Der Begriff »Flüchtling« wird zurecht dafür kritisiert, die Person hinter ihrer Handlung zu verdecken bzw. ihre Eigenverantwortung und Entscheidungskompetenz zu verringern, während »Geflüchtete« leicht euphemistisch eine Eigenaktivität von Personen in (extrem) krisenhaften Situationen unterstellt. In diesem Beitrag geht es vor allem um die institutionalisierte Verwendung des Begriffs, dessen Konnotationen von den Institutionen und den so Bezeichneten nicht kritisiert werden (vor allem da es im Englischen und Französischen mit »réfugié« bzw. »refugee« diese Feinunterscheidung auch nicht gibt). Daher verwende ich im Rahmen des Textes weitgehend den Begriff »Flüchtling« und verwende »Geflüchtete«, wenn es nicht um die institutionsgebundene Bezeichnung geht.

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Flüchtlingsstatus. Wie beeinflusst diese traditionelle Flexibilität den administrativen Versuch der unzweideutigen Statusfestlegung? Der Aufsatz geht dabei über die gängige Betrachtung von Fluchtsituationen hinaus, in denen Flüchtlingscamps häufig isoliert betrachtet werden. Er will die Dynamik von Camps, Hilfs- und anderen Institutionen aus einem breiteren Blickwinkel betrachten, der die Menschen innerhalb und außerhalb der Camps und auch die Zeiten vor und nach einer Intervention mit bedenkt. In der sozialwissenschaftlichen Flüchtlingsforschung liegt ein großes Augenmerk darauf, wie Menschen Kategorisierungen erleben. Dabei wird darauf geachtet, wie administrative Kategorisierungen dazu führen können, dass sich Zugehörigkeiten verändern und die Bandbreite möglicher Handlungen wie z.B. der Zugang zu Dienstleistungen oder auch die Erfahrung der Realität erweitert oder eingeschränkt werden. Die Kategorisierungen eröffnen aber auch neue Selbstwahrnehmungen und schaffen Raum für kreative Anpassungen (Hacking 1995), insbesondere auch in Situationen von Flucht und Vertreibung (Hammar 2014). Die Kategorie »Flüchtling« ist eine Zuordnung, die auf Staatsangehörigkeit basiert – und sie stellt in Bezug darauf eine von verschiedenen Formen der Devianz dar. Während z.B. Grenzgänger/Pendler, Schmugg­ler, Rückkehrer, Rebellen, feindliche Soldaten oder illegale Migranten schon länger zu diesen Hybriden zählen, ist die Kategorie »Flüchtling« erst seit dem Zweiten Weltkrieg institutionell fest verankert. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bezieht sie sich auf außerhalb ihrer Heimatländer befindliche schutzbedürftige Personen, die sich in ihren nationalen Zugehörigkeitskontexten nicht mehr sicher fühlen und daher gezwungen waren, ihr Land zu verlassen. Inzwischen differenziert das UN Flüchtlingskommissariat (UNHCR), das weltweit die Definitionsmacht in diesen Fragen beansprucht, auch nach sogenannten Binnenflüchtlingen. Im öffentlichen Diskurs haben sich auch weitere Unterscheidungen durchgesetzt, wie z.B. die Flucht aus ökonomischen Gründen oder aufgrund von Umweltkatastrophen. Flüchtlinge sind per Definition eine temporäre Kategorie. Weltweites Ziel soll es sein, die so Kategorisierten möglichst bald wieder in einen festen Zugehörigkeitskontext zurückzuführen – ein wie Long (2011) zeigt häufig langandauernder und komplexer politischer Prozess. Die Voraussetzung einer staatlichen und territorialen Zugehörigkeit führt dabei zu einer Reihe von Anomalien, wie Feldman (2012) am Fall der Identifikationen von Flüchtlingen aus Palästina darstellt, die nach der Gründung des Staates Israel 1948 heimatlos wurden. Sie rekon­struiert anhand von UNO-Archivdaten aus den 1950er und 1960er Jahren, wie sich der Status der Palestine refugees in Jordanien, Syrien und dem Libanon gerade zu Beginn dieser langfristigen Intervention ständig änderte: im Rahmen neuer Regulierungen, aber auch dadurch, dass sich ihre Wahrnehmung von Verlust oder der Langfristigkeit der Situation immer wieder änderte, was sich auch auf ihre politischen Ansprüche auf Anerkennung auswirkte. Feldman 107

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hebt besonders den aktiven Einfluss der palästinensischen Geflüchteten auf die Anpassung internationaler Hilfsprogramme an ihre Bedürfnisse hervor. Anders als Feldman stellt Zetter (1991, 2007) anhand seiner Forschung zu Rückführungsprogrammen in der zyprischen Flüchtlingskrise fest, dass die als Flüchtlinge Bezeichneten gerade nicht an der Definition ihres Status beteiligt waren. Er betont die Vulnerabilität der Betroffenen gegenüber den Implikationen der Kategorie und die dynamischen Identitätsprozesse, die sich daraus ergeben. Seiner Ansicht nach führt das Etikettieren einer Person als Flüchtling zu einem »process of stereotyping which involves disaggregation, standardization, and the formulation of clear cut categories« (Zetter 1991: 44), der zu einer Abtrennung (delinkeage) führt und eine individuelle durch eine stereotypisierte Identität ersetzt. In ähnlicher Weise zeigt Tallio (2004), wie Personen, die als Flüchtlinge kategorisiert sind, zu einem späteren Zeitpunkt in eine neue Kategorie, z.B. die der – ebenfalls in rechtlicher Hinsicht eindeutig definierten – Rückkehrer, »hineingleiten« können. Sowohl Zetter als auch Tallio heben Methoden und Folgen einer Kategorisierung als international anerkannte:r Geflüchtete:r hervor, die den Zugang zu staatlichen Schutz- oder Hilfsverfahren strukturieren sollen. Mit dem folgenden Beispiel möchte ich – ähnlich wie Feldman – zeigen, dass dieser Prozess des Übergehens nicht einseitig ist, sondern dass langfristige Perspektiven der involvierten Akteure sowie ihre Mehrfachzugehörigkeiten in den Prozess einfließen. Auf der Basis dieser Untersuchung schlage ich eine interaktive und prozessorientierte Perspektive auf die Herausbildung und Revision der Kategorie des Flüchtlings vor.

1. Ungewisse Kategorien im tschadisch-sudanesischen Grenzgebiet Nachdem das UNHCR im Tschad viele Jahre die Flüchtlingskategorie angewandt und stabilisiert hatte, sollte der Übergang von »Flüchtlingen« in »Flüchtlingsbürger« es der Organisation ab 2015 ermöglichen, sich allmählich aus der Interventionssituation zurückzuziehen. Zu diesem Zweck wurden in dem sandigen Wüstenrandgebiet in jedem der zwölf Flüchtlingslager Anlagen aus miteinander verbundenen Hallen aufgebaut, in denen die Technologie für Computer und biometrische Lesegeräte zum Fingerabdruck- und Irisscan sowie zur Strom- und Wasserversorgung untergebracht und eine kontrollierende Befragung von täglich an die tausend Personen durchgeführt werden konnte. Dieser Prozess sah vor, dass die überwiegend aus dem Sudan stammenden Personen, denen es nicht möglich war, sicher in ihr Herkunftsland zurückzukehren, stattdessen eine Übergangszugehörigkeit erhielten: durch einen vorläufigen tschadischen Pass, die carte d’identité de réfugié, der ihnen gleichzeitig die Möglichkeit 108

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offenhielt, bei Bedarf das Standbein zu wechseln und für eine Weile weiterhin humanitäre Hilfe in den Flüchtlingslagern in Anspruch nehmen zu können. In einem weiteren Verfahren sollten unter dem Titel seeds for solutions gemeinschaftlich wirtschaftende groupe­ments [Arbeitsgemeinschaften] aus lokaler Bevölkerung und Campbewohner:innen gegründet und durch materielle Hilfen gefördert werden (UNHCR 2015). Der für diesen Beitrag relevante Moment der Statuspassage bezieht sich auf den Durchgang durch einen temporär aufgebauten Gebäudekomplex aus größeren und kleineren Hallen, in denen alle zu erfassenden Personen an unterschiedlichen Stationen Auskunft über ihre Situation geben sollten. Als Einzelperson und in Gruppen wurde ihr aktueller Status überprüft und die Umschreibung vorbereitet. Viele Menschen hatten bis zu dreizehn Jahre in den Camps verbracht hatten, sie hatten rationierte Nahrungsmittel erhalten sowie Ausbildungen absolviert oder Schulen besucht. Daher markierte die Aktion einen besonderen Moment auf einem langen Weg, der damit angefangen hatte, dass sie erst als Flüchtlinge definiert und damit in einer besonderen bürokratischen Form als Personen geschaffen worden waren. Die Entscheidung für den allmählichen Ausstieg aus der humanitären Unterstützung in dieser Region hängt auf der einen Seite mit der finanziellen Situation der UN-Agentur zusammen: Einsätze, die über viele Jahrzehnte andauern, sind mit hohen Kosten verbunden. Da diese komplexen und langfristigen Einsätze weltweit eher zu- als abnehmen, wird an verschiedenen Stellen versucht, Hilfssituationen vorsichtig zu beenden. Der andere Grund liegt in dem Wunsch, eine ungewisse Kategorie – die der potentiellen Staatenlosigkeit von Langzeitflüchtlingen – aufzuheben. Ähnlich anderen temporären Kategorien (z.B. Initiand:innen, Schwangere oder Patient:innen) sollte ihr Status nun transformiert und schließlich aufgehoben werden. Im Fall der Geflüchteten liegt es nah, diese Aufhebung über die Zuordnung zu einem ›richtigen‹ Staatsgebiet vorzunehmen. Weil aber das UN-Hilfswerk über die Zeit des Einsatzes so intensiv an der praktischen und rechtlichen Aufrechterhaltung des Flüchtlingsstatus gearbeitet hatte, hatten auch die so Kategorisierten sich im Lauf der Jahre an diese Regelungen und Praktiken angepasst, sie übernommen, umformuliert, an ihre gewohnten Praktiken und Regelungen adaptiert – wenn sie sie nicht (zeitweise oder permanent) zurückwiesen. Diese Adaptionen flossen nun auch in die Umkehrung dieses Status ein. In der sozialanthropologischen Analyse des Prozesses liegt die Chance, die manchmal schwer fassbaren und oft übersehenen Momente zu verstehen, in denen bestimmte institutionalisierte Unterschiede an Bedeutung verlieren und neue Beziehungen entstehen können. Um diese Momente zu finden, nehme ich die Bedeutung und Flexibilität von Humankategorisierungen als Ausgangspunkt. Wie definieren Menschen Zugehörigkeiten auf pragmatische Weise neu? Wie werden Kategorisierungen revidiert, wie neue Unterscheidungen etabliert? Und wie können 109

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Anthro­polog:innen diese Momente des doing und undoing von Differenzierungen begreifen und theoretisieren? Der Ansatz der Mainzer DFG-Forschungsgruppe »un/doing differences« ist für diese Fragen von zentraler Bedeutung. Indem sie verschiedene Situationen der Zugehörigkeit und der Differenzbildung aufgreifen, heben die Forscher:innen nicht nur jene Prozesse und Praktiken hervor, die zum »doing von Unterscheidungen« beitragen, sondern auch jene, die deren Aufhebung beabsichtigen und herbeiführen oder zumindest Kategorisierungen in den Hintergrund stellen, während andere hervorgehoben werden (Hirschauer 2014). Dabei sind zwei Aspekte von Bedeutung: Die Art und Weise, wie Unterscheidungen sich aufeinander beziehen und gegenseitig verstärken, führt erstens zu einer relativ stabilen Relevanzstruktur innerhalb der vielen möglichen Differenzierungen, die Menschen in einem bestimmten Umfeld vollziehen; und zweitens führt es zu einer Prozessstruktur, in der Unterscheidungen zu bestimmten Zeitpunkten aktualisiert oder unwichtig gemacht werden, so dass sie in den Hintergrund oder Vordergrund treten. Grundlage für diesen Beitrag ist eine Forschung, die sich über den Zeitraum vor, während und nach dem Darfur-Krieg (2000 bis heute) erstreckt, mit zahlreichen Forschungsaufenthalten im tschadisch-sudanesischen Grenzgebiet, überwiegend in Dörfern und Städten auf der tschadischen Seite der Grenze. Für die hier vorgestellte Untersuchung stelle ich die Phase von 2014 bis 2017 in den Vordergrund, den Zeitpunkt, zu dem das Flüchtlingshilfswerk begann, den Abzug aus dem Gebiet zu planen. In meiner Darstellung der Vorgehensweise des UNHCR, diesen Übergang für die Campbewohner:innen zu bewerkstelligen, beziehe ich mich auf Erzählungen meines Forschungspartners Brahim Mahamat Ali, mit dem ich im Frühjahr 2016 in der tschadischen Hauptstadt N’Djamena verabredet war. In dieser Zeit wurde aus sicherheitstechnischen Gründen von einer Reise in die Grenzregion zum Sudan abgeraten. Brahim lebt und arbeitet in der Grenzregion und hat über die Jahre meiner Forschung mit mir gearbeitet. Mit seiner Hilfe habe ich in dem Gebiet seit 2001 immer wieder und über viele Jahre hinweg mit den Menschen gelebt und an ihrem Alltag teilgenommen, wiederholt Interviews durchgeführt, Informationen gesammelt und Ergebnisse diskutiert. Während des Darfurkriegs war er zudem als Mitarbeiter einer der zentralen durchführenden NROs im Grenzgebiet an dem Aufbau der Geflüchteten-Infrastruktur beteiligt und betreute auch die Arbeit von »gemischten« Arbeitsgruppen, den groupements. Im Prozess der Transformation des Flüchtlingsstatus hat er mit einem Team von Bauleuten die Hallen in vier der zwölf Flüchtlingslager aufgebaut, die Technologie installiert und den Prozess an verschiedenen Stellen betreut. Hunderte seiner Fotos dienten uns als Grundlage tagelanger Gespräche, in denen ich versuchte, alle Einzelheiten des Prozesses zu verstehen. In der folgenden Darstellung 110

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des bürokratischen Übergangsprozesses berufe ich mich auf seine Schilderungen und Erfahrungen, sowohl in Bezug auf seine formelle Arbeit mit den Hilfsorganisationen als auch auf seine informelle Position als Vermittler und Übersetzer zwischen den Organisationen, der lokalen Bevölkerung und den Bewohner:innen der Flüchtlingscamps. Meine Notizen während der Gespräche gebe ich als wörtliche Rede wieder, die französische Originalversion habe ich ins Deutsche übersetzt.

2. Flexible ethnische Zugehörigkeiten Hintergrund für die aktuelle Situation sind die seit 2003 eskalierenden unterschwelligen Spannungen in der westsudanesischen Region Darfur. Im Februar 2003 attackierten darfurische Rebellen eine Militärstation und lösten damit eine extrem brutale Reaktion der sudanesischen Regierung aus, die die Region bombardieren ließ und bewaffnete Reitermilizen gegen die Bevölkerung aufhetzte. Mit dem Angriff hatten die Rebellen den Anspruch gestellt, die marginalisierte Situation der Region sichtbar zu machen und in der Folge an den international vermittelten Friedensverhandlungen beteiligt zu werden, die seit 2002 in der sudanesischen Hauptstadt Khartum zwischen der Regierung des Sudan und der südsudanesischen Rebellenbewegung SPLM (Sudan People’s Liberation Movement) abgehalten wurden. Die Rechnung ging nicht auf. Während die beiden Verhandlungsparteien in Khartum 2005 das sogenannte umfassende Friedensabkommen (Comprehensive Peace Agreement) unterzeichneten, befand sich Darfur bereits in einem Krieg, der bis heute nicht zu einem Ende gekommen ist. Das Abkommen selbst war nach ebenfalls über zwanzig Jahren des Krieges zwischen dem Norden und dem Süden des Landes zustande gekommen und enthielt Regelungen für eine Übergangsregierung inklusive eines wealth-and-power-sharing agreements zwischen den Kriegsparteien. Zudem eröffnete es der Bevölkerung im Süden des Sudan die Option, nach sechs Jahren für oder gegen eine Abspaltung zu stimmen, was 2011 dazu führte, dass der erdölreiche Süden des Landes unabhängig wurde. Enttäuschend für andere marginalisierte Regionen war, dass das agreement nur für den Süden des Landes galt. Auf andere, ebenfalls marginalisierte Regionen hatte das nationale Abkommen daher sehr problematische Auswirkungen, insbesondere auch auf die westsudanesische Region Darfur (Harir 1994; Hadi 2014). Der Konflikt eskalierte nach dem Rebellenangriff, als die sudanesische Regierung lokale Milizen gegen die Zivilbevölkerung einsetzte und Dörfer bombardieren ließ. Die Menschen flohen zunächst über die Grenze in nahegelegene tschadische Dörfer. Nachdem das UNHCR 2004 zwölf großangelegte Lager eröffnete, zog die Mehrheit von ihnen dorthin weiter. Heute bilden diese Camps kleine Städte 111

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mit 20.000 bis 40.000 Bewohner:innen. Der Konflikt dauert nach lokalen Einschätzungen auf der sudanesischen Seite der Grenze weiter an; auf der tschadischen Seite gilt die Lage allerdings als stabilisiert. Von über einhundert Hilfsorganisationen, die nach 2004 in dem Konfliktgebiet tätig waren, blieben nach 2011, als die sudanesische und die tschadische Regierung ein Friedensabkommen unterzeichneten und gemeinsame Truppen im Grenzgebiet einsetzten, nur die größten internationalen Organisationen zurück. Dazu gehören vor allem das U ­ NHCR, das Welternährungsprogramm (WFP) und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF). Trotz der Ausstiegsversuche verwalten sie nach wie vor die zwölf verbleibenden Flüchtlingscamps, indem sie die Dienstleistungen an eine (inzwischen stark reduzierte) Anzahl von Nichtregierungsorganisationen (NRO) vertraglich weitergeben und ihre Hilfsgüter immer weiter zurückfahren. Nach zwanzig Jahren der humanitären Intervention im Grenzgebiet von Sudan und Tschad steht die Zugehörigkeit zur Kategorie »Flüchtling« in Wechselwirkung mit anderen Unterscheidungen, die auf einer Vielzahl von flexiblen Beziehungsnetzen und Differenzierungslinien basieren. Eine grundsätzliche Unterscheidung verläuft über den divergierenden Zugang zu Land. Wer Landbesitz überzeugend dokumentieren kann (z.B. durch anerkannte Genealogien oder amtliche Kaufverträge), kann dort Landwirtschaft betreiben, Rinder oder Kamele züchten oder beides miteinander verbinden. Dabei sind Formen der Landnutzung und Besitzverhältnisse ausschlaggebend für teilweise kooperative, häufig aber auch konfliktreiche Beziehungen.2 Ohne Landbesitz oder die Aussicht darauf werden die Tätigkeiten zu einer Form der unselbständigen oder abhängigen Arbeit (als Erntehelfer:in, Träger:in oder ähnliches), die vor allem bei jungen Menschen dazu führt, dass sie sich eher als (saisonale) Migranten außerhalb des Gebiets betätigen oder sich als Händler:innen etablieren. Die berufliche Ausrichtung und die auf das Land bezogenen Tätigkeiten hängen eng mit einer ethnischen Zuschreibung zusammen (Barth 1969): Menschen, die hauptsächlich als Hirten tätig sind, definieren ihre Zugehörigkeit als »arabisch« und werden auch von anderen so wahrgenommen, während die ansässigen Eigenbezeichnungen als z.B. Masalit, Fur, Maba, Zaghawa oder Tama im gängigen Stereotyp eher auf bäuerliche Tätigkeiten oder eine Kombination aus Landwirtschaft und Viehzucht verweisen. Ungewöhnlich für dieses Gebiet ist allerdings die relativ einfache Möglichkeit des Wechsels der Tätigkeit, die dann ebenfalls mit einem – zumindest temporären – Wechsel der ethnischen Zugehörigkeit und des Wohnorts einhergehen kann. In den Familiengeschichten der 2 Die britische Kolonialmacht im Sudan und die französische Kolonialherrschaft im Tschad haben auf diese Besitzverhältnisse massiv Einfluss genommen, was in den aktuellen Auseinandersetzungen nach wie vor spürbar ist (Harir 1994; Flint/de Waal 2005; Prunier 2005; Mamdani 2009)

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Grenzbevölkerung kommen immer wieder Personen vor, die ihre ethnische Zugehörigkeit durch Wohnort- und Tätigkeitswechsel temporär geändert haben und auch von anderen als zugehörig betrachtet wurden (in den Erzählungen oft mit dem Zusatz, zum chef der entsprechenden Gruppierung auserkoren worden zu sein). Wer also den Landbau aufgibt und sich im Rinderzüchten versucht, kann von einem Fur zu einem Araber werden, wie auch Barth (1967: 23) in Bezug auf Haalands (1967) Forschungen aus den 1960er Jahren in diesem Gebiet feststellt.3 Ein weiterer Aspekt der ethnischen Differenzierung ist die gesprochene Sprache. Wer als Kind in einer lokalen Sprache sozialisiert wurde (z.B. Maba oder Masalit), kann später mit größerer Selbstverständlichkeit die ethnische Zugehörigkeit zu der entsprechenden Gruppe für sich in Anspruch nehmen. Die meisten Grenzbewohner:innen sprechen allerdings mehrere lokale Sprachen sowie einen lokalen arabischen Dialekt, der neben der Kolonialsprache Französisch als lingua franca auf Märkten oder in der staatlichen Verwaltung angewandt wird. Um eine ethnische Zugehörigkeit zu »wechseln«, ist es hilfreich, auch die Sprache der jeweiligen Gemeinschaft zu sprechen, es ist aber nicht zwingend notwendig. Personen, die sich als »arabisch« bezeichnen, sind häufig auch dadurch erkennbar, dass sie keine weitere lokale Sprache beherrschen, gleichwohl ist die Kenntnis einer anderen Sprache kein Hindernis für den langfristigeren Zugehörigkeitswechsel z.B. durch eine Beschäftigung als Viehzüchter:in, Bäuer:in oder Händler:in.4 Äußere Merkmale sind Zeichen, die eher subtil und häufig nur von Einheimischen auf den ersten Blick erkannt werden. So gibt es bestimmte Muster an Gesichtsnarben, die auf eine ethnische Zugehörigkeit 3 Abdul-Jalil kritisiert Barth und Haaland für ihre zu simplifizierende Kategorisierung anhand ökonomischer Tätigkeiten. Stattdessen hebt er hervor, »while the economy is an important factor in ethnic dynamics, it is by no means the only one. However, ethnic groups may be defined in terms of occupation only when this criterion is relevant in a given situation. Other criteria, or a combination of them, may be more relevant in other situations, in which case they should not be ignored for the sake of the first one« (1984: 66). 4 Während meiner Forschung wurde mir von Personen berichtet, die in der Vergangenheit im Lauf ihres Lebens mehrfach die ethnische Zugehörigkeit gewechselt haben, je nachdem mit welcher Tätigkeit und an welchem Wohnort sie sich gerade aufhielten. Ein Wechsel wurde häufig durch einen individuellen Abspaltungsprozess ausgelöst – nach einer Flucht oder dem Wunsch nach Veränderung. In diesen Geschichten betraf der Wechsel allerdings eher Lebensphasen und war in allen Beispielen nicht dauerhaft. Kinder solcher Individuen hatten aber einen erleichterten Zugang zu Mitgliedern unterschiedlicher Zugehörigkeitsgemeinschaften, da sie sowohl durch die Sprache, aber auch durch die tiefergehende Kenntnis von Verwandtschafts- und Senioritätsverhältnissen einen höheren Zugehörigkeitsstatus für sich beanspruchen konnten (Behrends 2017).

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hinweisen können oder eine bestimmte Farbe in der Kleidung, vor allem dem von Männern getragenen Turban, der als Zugehörigkeitsmerkmal gelesen werden kann. Während einige Merkmale je nach Zugehörigkeitssituation geändert werden können, sind andere Unterscheidungen eher langfristig, wie unter anderem das Bildungsniveau, die zugehörigkeitsbedingten Zugangsmöglichkeiten zu staatlichen Behörden oder die Ausrichtung des (überwiegend islamischen) Glaubens, z.B. als Sufismus oder Wahhabismus (Seesemann 2005). Diese Unterscheidungen stehen in Wechselbeziehung zueinander und sie treten in verschiedenen Situationen in den Vorder- oder Hintergrund. Wenn neue Möglichkeiten der Zugehörigkeit angeboten werden, können sie, wie ich im Folgenden zeigen möchte, in diese flexible Praxis integriert werden.

3. Von »Flüchtlingen« zu »Flüchtlingsbürgern« In den neuesten Bemühungen des UNHCR, die Flüchtlingskategorie wieder aufzulösen, legte die Hilfsorganisation erhöhtes Augenmerk auf die verschiedenen anderen Zugehörigkeiten der Campbewohner:innen, wie ihre »ethnische-« oder die Familienzugehörigkeit. Im Zuge der Verwandlung von Flüchtlingen zu Flüchtlingsbürger:innen sollten sie auf verschiedenen Dokumenten, Fotos und Beglaubigungen registriert und festgelegt werden. Zusammen mit der biometrischen Erfassung trugen sie auf staatlicher Ebene und auf der Ebene der UN-Agentur dazu bei, die Staatsbürgerschaft der Campbewohner:innen und damit ihren rechtlichen Status im Tschad neu zu definieren. Dabei waren zwei Grunddokumente ausschlaggebend, die jede Person vorweisen musste: Die c­ arte de ration enthält die Anzahl der Familienmitglieder und die Nummer des Wohnblocks im Flüchtlingslager und musste bislang immer bei der Verteilung der Lebensmittel vorgelegt werden. Die carte de famille enthält die Namen aller Familienmitglieder. Jede als »Flüchtling« registrierte Person besaß diese beiden Karten, ohne die sie sich nicht für das erwünschte Endprodukt des Prozesses, die carte d’identité de réfugié au Tchad (den Ausweis als Flüchtlingsbürger:in), qualifizieren würden. Im Gegensatz zu anderen UNHCR-Maßnahmen, die weitgehend ohne Beteiligung der tschadischen Regierung verlaufen,5 war hier von Beginn an eine enge Zusammenarbeit geplant, auf der Grundlage eines gemeinsamen Interesses daran, die Mobilität und die Nationalität der (neuen) Bevölkerung zu kontrollieren. Da der eigentliche Registrierungsprozess 5 Im Gegensatz zu UNICEF, das wie ein Ministerium unter tschadischer Regierung geführt wird, bleibt bei UNHCR-Operationen eine höhere Unabhängigkeit von nationalen staatlichen Entscheidungsprozessen erhalten (private Kommunikation durch eine tschadische UNICEF-Mitarbeiterin im März 2016).

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zur Änderung der Staatsbürgerschaft einer Person führte, war die tschadische Nationale Kommission für die Wiedereingliederung von Geflüchteten und Repatriierten (CNARR) eng in den Prozess einbezogen. Für die Durchführung war eine ausgefeilte technische Infrastruktur nötig, die alle Personen, die bisher als Flüchtlinge registriert waren, durchlaufen mussten. Als Brahim mir seinen ersten Eindruck der Hallen schilderte, verglich er sie mit den labyrinthisch ineinander verwobenen Höfen und Räumen, die man im Osten des Tschad in den Häusern reicher Leute findet, von außen fast unzugänglich, aber von innen unerwartet groß und vielfältig. »Wenn man die Hallen von innen betrachtet, könnte man sie mit einem großen Haus oder einer Villa vergleichen. Es gibt darin große Räume und nicht viel Platz dazwischen. Wie in einem Haus gibt es Latrinen und Stellen, an denen man Wasser trinken kann. In dem Camp in Bredjine haben wir auch ein Restaurant eingerichtet, nur für die Techniker, und einen Bereich, in dem man eine Pause machen, frische Luft schnappen und beten kann. Die Geflüchteten haben von dieser Ergänzung profitiert, da sie Waren zum Verkauf mitgebracht haben, wie Tee, Kaffee, Kuchen und unseren lokalen Hirsebrei.« Hier sollte die genaue Anzahl der Geflüchteten gesammelt, Schwankungen in Zahl und Aufenthaltsorten erhoben sowie die ortsspezifischen Kosten und der Bedarf an Lebensmittelrationen projiziert werden. Doch obwohl die Erfassung und Re-Kategorisierung aller Personen in den zwölf existierenden Camps standardisiert ablaufen sollte, unterschied sich jede der Installationen. Erfahrungen aus den vorherigen Aufbauten flossen in die jeweils weiteren Strukturen ein und führten zu leicht veränderten Prozessen. Dieser Aspekt ist interessant, da die Anwendung standardisierter Infrastrukturen auch als ein Prozess der Translation von Interventionsmodellen verstanden werden kann (Behrends et al. 2014; Behrends 2020). Bei der Translation – der Übertragung des Standardmodells auf Einzelfallsituationen – ging es den ausführenden Personen auf Seiten der UN-Organisation offensichtlich auch darum, die Reaktionen der Menschen zu beobachten und den Prozess bei der nächsten Implementierung des Modells zu verfeinern, was bedeutete, dass die Umstände des Verfahrens sich jedes Mal etwas voneinander unterschieden – auch wenn der entscheidende Ausweis am Ende derselbe blieb. Letztendlich war der Prozess, der unilinear und bürokratisch sein sollte, dicht mit lokalen Eigenheiten des jeweiligen Flüchtlingslagers, den Wünschen der dortigen Bevölkerungen sowie Widerständen oder Verbesserungsvorschlägen verwoben. Der fein abgestimmte Aufbau war als Versuch intendiert, eine Situation der Wiederholbarkeit, Vorhersehbarkeit und Ordnung zu schaffen, um jegliche Manipulation, Umdeutung oder Beeinflussung durch die beteiligten Personen, sowohl die zu Registrierenden als auch die Helfer:innen, zu verhindern. Dennoch fanden Veränderungen sowie Manipulationsversuche ständig statt. Einige waren geringfügig und für die Registrierung 115

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selbst belanglos. Beispielsweise hatte man erkannt, dass diejenigen, die tagelang in den Hallen arbeiteten, während der langen Tage hungrig und durstig wurden, und die Geflüchteten sowie die Bevölkerung in der Umgebung wurden gebeten, für den Verkauf von Lebensmitteln zu sorgen. Dass sich hier bereits die anvisierte Vermischung der zugeschriebenen Rollen (in diesem Fall als »Einheimische« oder »Flüchtlinge«) durch die gemeinsame Tätigkeit als Händler:innen oder Lebensmittellieferant:innen manifestierte, war eventuell ein gewünschter Nebeneffekt dieser Maßnahme. In späteren Aufbauten der Passage wurden kleine lokal organisierte Restaurants gleich von Beginn an einbezogen. Es gab aber auch umfangreichere Versuche, den Prozess zu manipulieren. Einige der Campbewohner:innen versuchten, Freunde oder Verwandte von außerhalb der Camps registrieren zu lassen, obwohl sie nicht dazu berechtigt waren. »Die jungen Leute wollen normalerweise alle die carte nationale de réfugié au Tchad erhalten, um frei überallhin reisen zu können. Das vor allem. Und manchmal bringen die Geflüchteten ihre sudanesischen Verwandten mit, um sie auf ihrer Karte neu anzumelden, aber das wird abgelehnt« (Brahim). Der primäre Wunsch, registriert zu werden, um sich frei bewegen zu können, entsprach dem Ziel des UNHCR, während ihr zweiter Wunsch, weitere Familienangehörige auf ihre Karte zu bekommen, nicht geteilt wurde. Neben dem Verhindern des unerwünschten Hinzufügens von Personen, sollten auch »Geistereinträge« aus den Flüchtlingsakten gelöscht werden. Dazu zählten Personen, die das Camp längst verlassen hatten, offiziell aber noch Lebensmittelrationen erhielten, sowie mögliche Doppelregistrierungen von Personen, die sich in verschiedenen Camps registriert hatten. Manche hatten trotz ihrer Registrierung die Lager bereits verlassen und planten eine Zukunft im Tschad. Dennoch hatten sie ihre »Flüchtlingsexistenz« nicht aufgegeben. Um die Listen der registrierten Flüchtlinge zu aktualisieren und den Status der Personen zu überprüfen, musste Brahim den Menschen manchmal an ihre tatsächlichen Wohnorte in den umliegenden Dörfern oder Städten folgen. Dort strich er dann einige von der Flüchtlingsliste und registrierte sie stattdessen als »integriert« (integré). Dabei stieß er häufig auf Widerstand. Die ehemaligen Campbewohner:innen weigerten sich, ihren Flüchtlingsstatus aufzugeben, obwohl sie anscheinend in den Dörfern der Umgebung ein neues Leben angefangen hatten. Sie beharrten darauf, immer noch »Flüchtlinge« zu sein und definierten die Kategorie auf diese Weise nach ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen um. Nach Hacking (1999: 168) machten sie sich die Kategorie zu eigen, indem sie alternative Bedeutungen schufen und andere vermieden, die den Zugang zu den damit verbundenen Dienstleistungen potenziell einschränken könnten. Die Kategorie erhielt damit eine »Realität«, die, so Hacking, auch von denjenigen anerkannt werden muss, die die eigentliche Definitionsmacht zu halten glauben. 116

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Der Registrierungsprozess sollte also dazu führen, dass die bisher auf das Camp fixierten Personen nunmehr die Camps kontrolliert verlassen durften, aber im Bedarfsfall dennoch auf Hilfsangebote der Camps zugreifen konnten. Tatsächlich fand diese Mobilität aber schon seit langem statt, auch mit dem Wissen des Flüchtlingshilfswerks und seiner Partnerorganisationen. Der Prozess legalisierte daher eigentlich nur bereits etablierte Alltagspraktiken, hatten die Campbewohner:innen doch seit Beginn ihres Aufenthaltes im Tschad immer wieder das Gelände der Camps verlassen, um auf der Suche nach Weidefläche oder Ackerland mit den Anwohner:innen der umliegenden Dörfer ins Gespräch zu kommen (Behrends 2014). Ihre Lebensmittelrationen waren dabei ein willkommenes Tauschmittel gewesen. Trotz ihrer bürokratischen Form handelte also auch die Organisation pragmatisch und lebensweltlich – also auf die lokalen Erfahrungen und die Umweltbedingungen reagierend – um die selbst kreierten Differenzen zwischen den Menschen innerhalb und außerhalb des Camps zu verringern. Das Hauptziel dieser Initiative bestand darin, die Integration der beiden Gemeinschaften unabhängig von ihrer früheren Kategorisierung als »Flüchtlinge« und »Aufnahmebevölkerung« zu gewährleisten und sie langsam zusammenzuführen.

4. Die Statuspassage Der gesamte Prozess war umfangreich und dauerte etwa zwei Stunden pro Person, die Warteschlange vor dem Betreten nicht mitgezählt. Mit etwa tausend zu bearbeitenden Anträgen pro Tag sollte der Prozess so schnell wie möglich abgeschlossen werden, um Kosten zu minimieren, aber auch um weitere Debatten zu vermeiden, bevor mit dem Inte­ grationsprogramm fortgefahren werden konnte. Auf diese Weise sollten 200.000 Geflüchtete in weniger als einem Jahr registriert werden. Sobald die Menschen in die Hallen eintraten (siehe Abb. 1), glich die Passage einem Parcours, der nur eine Richtung vorsah und an dessen Ende Menschen das Gelände nach einigen Stunden als neu kategorisierte:r Flüchtlingsbürger:in verließen. Der Prozess hat drei Phasen: Eine erste Phase der Überprüfung des bisherigen Status als »Flüchtlinge« (Hallen 1–6), eine zweite Phase der Überprüfung aller bis dahin gemachten Aussagen auf ihre Richtigkeit (Hallen 7–12) und eine dritte Phase der biometrischen Erfassung zur Vorbereitung und Aushändigung des neuen Dokuments (Hallen 13–18). Dieses Verfahren ist auf ein physisches und verwaltungstechnisches Durchlaufen des Prozesses in eine Richtung angelegt. Die wiederholte Kontrolle der Dokumente (die ich im Folgenden aufzeige) beweist aber auch, dass es in der Praxis auch Störungen, Stoppregeln und Zurückweisungsmöglichkeiten gab, die den unidirektionalen 117

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Verlauf unterbrachen. Das zeigt meines Erachtens zweierlei: zum einen das Bedürfnis der UN-Organisation, eine Zugehörigkeitszuweisung durchzuführen, die so eindeutig ist wie möglich. Auf der anderen Seite deutet die vermutete Möglichkeit der Störung darauf hin, dass die zu erfassenden Menschen ihre Zugehörigkeit zum Flüchtlingsstatus manipulieren und für selbstdefinierte Zwecke nutzen möchten.

Abb. 1: Die ersten Personen betreten den Parcours der Anlage zur Änderung des Flüchtlingsstatus im UN-Flüchtlingslager von Bredjine, Tschad, und werden per Handschlag begrüßt.

Die erste Phase des Prozesses begann in den Hallen eins und zwei mit der Überprüfung aller Personen. Halle eins war lediglich eine kleine Eintrittshalle, in Halle zwei wurden die zwei bereits erwähnten Ausweise eingesammelt, die die bisherigen Campbewohner:innen bereits besaßen, und auf ihre Gültigkeit hin überprüft: die carte de ration (eine Berechtigung zur Nahrungsmittelverteilung) sowie die carte de famille (Familienkarte). »Hier soll Betrug verhindert werden.« (Brahim) Präventiv sollten alle diejenigen ausgeschlossen werden, die nicht berechtigt waren, sich dem Prozess zu unterziehen. Die Namen der berechtigten Personen wurden auf einer Liste eingetragen. Halle drei war sehr geräumig, mit einem großen Wartebereich. Etwa dreißig Familien konnten sich dort gleichzeitig aufhalten, bevor sie zu einem der runden weißen Plastiktische gerufen wurden, die in meinen Augen einen Hauch von sauberer Modernität, aber auch Vorläufigkeit 118

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ausstrahlten. Sie konnten jederzeit und schnell abgebaut und an einem anderen Ort wiederaufgebaut werden. Alle Personen wurden hier einzeln zu den Computern geführt, wo Assistent:innen ihre Karten einsammelten und sie dann zum nächsten freien Tisch brachten, an dem die Anzahl der anwesenden Familienmitglieder mit den Namen verglichen wurde, die auf der Familienkarte angegeben waren. Hier ging es zunächst um die Überprüfung der weiterhin bestehenden Berechtigung, als »Flüchtling« zu gelten. Wenn jemand auf der Familienkarte gelistet, aber nicht anwesend war, wurde nachgefragt: »Wo ist dieser Monsieur hier?« Falls er mit einer Abb. 2: Registrationsbestätigung eines sogenannten carte de libération, eiweiblichen Familienoberhauptes und ner Berechtigung zum Verlassen ihrer Angehörigen des Camps verreist war, konnte der Name auf der Familienkarte bleiben. Falls jemand ohne diese Berechtigung nicht anwesend war, wurde der Name gestrichen. In der vierten Halle wurden Fotos aller Familienmitglieder gemacht und auf einer Registrierungsbestätigung zusammen abgebildet. In der fünften Halle wurden fehlerhafte Karten korrigiert. Nicht registrierte Kinder konnten hier beispielsweise nachgetragen werden; alle, auf die dies nicht zutraf, konnte zur nächsten Halle weitergehen. Allerdings gab es hier eine Besonderheit, eine Möglichkeit der Unterbrechung: »Nur in dieser Halle gibt es eine porte special [Spezialtür]. Nach der eingehenden Überprüfung aller Papiere konnten ab hier nur diejenigen weitergehen, die sich als Flüchtlinge qualifizierten. Alle anderen werden hier entlassen« (Brahim). In der anschließenden sechsten Halle sollten diejenigen registriert werden, die alt, krank, schwanger oder zu schwach waren, um persönlich zu erscheinen – die vulnérables, wie Brahim sie nannte: »Hier können die Leute sagen, dass jemand zu ihnen kommen soll, um ihre Verwandten in ihrem Haus zu registrieren. Wir nennen es ›recensement physique‹ [körperliche Zählung]. Man muss die Person sehen, um sie zu registrieren.« Auch hier ging es darum, sicherzustellen, dass niemand registriert wurde, der nicht persönlich erscheinen konnte, selbst um den Preis, sie oder ihn im eigenen Haus aufsuchen zu müssen. Nach dieser ersten, gründlichen Erfassung und Bestätigung bzw. Ablehnung des bisherigen Status als »Flüchtlinge«, fand 119

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in den folgenden sechs Hallen (7–12) eine Überprüfung des bisher Aufgenommenen statt. Diese Phase des Prozesses könnte als eine Zwischenphase betrachtet werden, als ein Innehalten, Überprüfen und eventuelles Nachholen von Prozessen aus Phase eins. Erst nach diesem Überprüfungsprozess, der die oben genannte Umkehrung des Parcours aufgrund von Störung oder Zurückweisung auslösen konnte, kam die Statuspassage in ihre letzte Phase, die Vorbereitung des neuen Ausweises. Die erste Form der Überprüfung in Phase zwei waren Interviews, die in der siebten Halle durchgeführt wurden. Hier wurde die Biographie und regionale Herkunft erfragt, und im Zusammenhang damit die individuellen Gründe für die Flucht in den Tschad. »Etwa zehn Fragen. Um zu überprüfen, ob sie wirklich Sudanesen und nicht vielleicht doch Tschader sind. Aber einige Tschader sind trotzdem immer noch dabei, die die Situation im Sudan sehr gut kennen. Selbst die Leute der NRO kennen den Unterschied nicht.« Er selbst, so Brahim auf meine Nachfrage, könne das erkennen.6 Wie valide seine Behauptung im Einzelfall auch ist, sie bezieht sich sicher nicht auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen tschadischen und sudanesischen Staatsbürger:innen oder darauf, dass die Sprache diesen Unterschied verraten würde. Die tschadische Grenzregion ist aufgrund langjähriger Migrationsgeschichten in den Sudan dem sudanesischen Arabisch näher als der Rest des Landes – und die afrikanischen Sprachen des Grenzgebiets unterscheiden sich nicht entlang der (ohnehin noch recht jungen) Landesgrenze. Es sind vielmehr die Details: bestimmte Arten von Kleidung, die eher auf sudanesischen als tschadischen Märkten angeboten werden, besondere Schuhe (die beliebten pantoffelartigen Schlappen aus dem Sudan, die im Tschad als vrai léopard bezeichnet und dort nur schwer zu finden sind), kleine Gegenstände, wie Messer oder Schmuck, die auf regionales Handwerk hinweisen. Vielleicht würde Brahim die Familiengeschichte von jemandem durch den Namen erkennen 6 Um die Übereinstimmung der Geschichten von Geflüchteten zu überprüfen, stellen juristisch speziell ausgebildete UNHCR-Mitarbeiter:innen Fragen zu Kriegsereignissen, die an anderer Stelle ausführlich dokumentiert worden sind. Sie kennen z.B. den genauen Zeitpunkt eines bestimmten Angriffs, welche Dörfer betroffen waren, das Ausmaß der Zerstörung usw. Wenn die Person, die den Flüchtlingsstatus beansprucht, sagt, sie habe dieses Ereignis miterlebt oder sei wegen eines bestimmten Ereignisses geflohen, und ihre Aussage nicht mit den dokumentierten Fakten übereinstimmt, kann der Status »Flüchtling« entzogen werden. In N’Djamena habe ich solche Interviews miterlebt und beobachtet, wie sehr das Ergebnis vom guten Willen des Interviewenden oder von der persönlichen Beziehung zum/r Antragsteller:in abhängt, die während des Gesprächs entsteht. Meines Wissens wurden diese Interviews und die darauffolgenden Kategorisierungen nie von Personen geführt, die wie Brahim mit der lokalen Situation vertraut sind, sondern immer von Außenstehenden, die sich über die besagten Dokumentationen zu den fraglichen Ereignissen informieren.

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oder – was wahrscheinlicher ist – er würde sich an die Person erinnern. Ich fand es oft überraschend, wie gut sich die Menschen im Grenzland mit Namen, individuellen Geschichten und Beziehungen auskennen. In der achten Halle werden die chefs de famille [Familienoberhäupter] getrennt von den anderen befragt, wiederum um »die Wahrheiten der einen und der anderen zu überprüfen«, wie Brahim es nannte. Neben dieser Gegenüberstellung von Aussagen, passt sich die Flüchtlingsorganisation meines Erachtens mit dem Herausheben der Ältesten auch an lokale Hierarchievorstellungen an. Die Vermutung ist: Wenn der Familienchef, ob Mann oder Frau, es sagte, müssen es auch die anderen Familienmitglieder als offiziell akzeptieren. Niemand könnte dann später behaupten, dass es nur ein jeune, ein junger Mensch gewesen sei, der etwas über die Familie ausgesagt hat, das vielleicht intern nicht autorisiert war und daher später ein Grund für Gegenklagen sein könnte. In der neunten und zehnten Halle (aufgrund der großen Menge an Personen waren es hier zwei Hallen mit derselben Funktion) wurden erneut Fotos gemacht, diesmal Gruppenfotos von der gesamten Familie und zusätzlich noch einmal von jedem ihrer Mitglieder – wobei der Unterschied zu den Fotos in der vierten Halle in der Ausrichtung auf das neue Dokument besteht, dem Ausweis für »tschadische Flüchtlingsbürger«. Zudem ging es hier (wie die nächste Halle zeigen wird) auch um eine Möglichkeit der Überprüfung: Sollten die Fotos auf den beiden Dokumenten nicht übereinstimmen, würden die Personen zurückgeschickt, um den Prozess noch einmal zu durchlaufen. Auch in diesen Befragungen waren die jeweiligen Familienoberhäupter gefragt, die vollständige persönliche Angaben zu ihrer Familie machen sollten – Name, Vorname, Geburtsdatum, Geburtsort, Kartennummer, Wohnblocknummer, Anzahl der Familienmitglieder und Familienregistrierungsnummer – woraufhin ein Stammbaum erstellt wurde. In der elften Halle fotokopierte das technische Personal alle Dokumente und verglich die Informationen, »um zu sehen, ob die aktuellen Dokumente mit den früheren übereinstimmen. Wenn z.B. jemand ein Dokument innerhalb der Hallen absichtlich zerstört hat, können sie das hier überprüfen. Alles, was die Menschen bis hierher erhalten haben, muss vollständig vorhanden sein« (Brahim). Auch die zwölfte Halle war ein Ort der Kontrolle des Registrierungsprozesses selbst: Hier wurde überprüft, ob jemand einen der vorherigen Schritte übersprungen hatte. Da jeder Schritt mit einem neuen Dokument attestiert wurde, konnten diejenigen herausgefiltert werden, die eine oder mehrere Hallen übersprungen hatten. Nur wenn alle Schritte wie vorgeschrieben durchgeführt worden waren, wurden die Karten mit einem kleinen Loch versehen, um die erreichten Meilensteine zu bestätigen. Wenn etwas fehlte, wurden die Personen in die andere Richtung zurückgeschickt, um die fehlenden Schritte nachzuholen. 121

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Die abschließende dritte Phase der Überführung aller Personen, die bis hierher gekommen waren, war weitgehend von solchen Störungen befreit. Nun ging es um die Durchführung und um die (biometrische) Erfassung aller Personen für die neue Zugehörigkeitsform als tschadische Flüchtlingsbürger:innen. Den Anfang machte ein Wartebereich in der dreizehnten Halle für die darauffolgende Nummer vierzehn, in der nun schließlich die biometrische Registrierung erfolgte. Hier wurden Fingerabdrücke und Iris-Scans genommen, um die carte d’identité de réfugié vorzubereiten. Damit wurde eine neue Akte angelegt, die in der sechzehnten Halle ausgedruckt werden musste. (In Halle fünfzehn standen die Generatoren für die Stromerzeugung der Anlage.) In der sechzehnten Halle wurden die Dokumente auch archiviert. Hier hatten nur die Techniker:innen Zugang. Erst in Halle siebzehn wurden die Akten persönlich ausgehändigt, im »hangar de distribution de dossier«, zusammen mit den neuen Ausweisen. Der achtzehnte Raum war ein schlichter Verbindungskorridor, der von Halle siebzehn nach außen führte. Nachdem sie achtzehn Hallen durchlaufen hatten, war der sowohl von der Organisation verordnete, aber auch von den bisherigen Geflüchteten gewünschte Übergangsstatus erreicht. Sie hatten nun das Recht, als tschadische Bürger:innen zu reisen und sich niederzulassen, wo immer sie wollen, und behielten gleichzeitig das Recht, weiterhin internationale Nothilfe zu erhalten, wenn sie benötigt wurde. Manche Abläufe waren von Camp zu Camp unterschiedlich. Im Camp Bredjine gab es keine schattenspendenden Bäume, so dass drei weitere Hallen als Wartebereiche für diejenigen gebaut wurden, die den Parcours betreten sollten. »Aber die Leute benutzten sie nicht«, sagte Brahim lachend, »weil sie befürchteten, sie würden ihre Runde verpassen. Sie zogen es vor, in der Sonne zu warten.« Warum die Leute die schattigen Wartehallen nicht angenommen haben? Ich vermute, dass es in der Erfahrung der Geflüchteten liegt: Am Ende der Schlange zu stehen oder außerhalb der Sichtweite zu sitzen und zu warten, könnte dazu führen, dass eine neue Wendung des Verfahrens verpasst wird, ähnlich einer Gleisänderung an einem überfüllten Bahnhof in Europa. Falls etwas knapp wird, profitieren diejenigen, die früh da sind. Manchmal ist es natürlich auch genau andersherum, aber das Verhalten der Wartenden indiziert ihren Eifer, jede neue Wendung der Hilfspolitik zu antizipieren und entsprechend daran teilzunehmen. Während der gesamte Prozess darauf ausgerichtet war, die externe Kontrolle zu erleichtern, beinhaltete er aber auch einige Elemente, in denen das Wissen der internationalen Organisation und der Menschen, die in und außerhalb der Camps lebten, zusammenkamen. So zeigte die Registrierung sowohl in Familiengruppen als auch als Einzelpersonen oder die Befragung der Familienoberhäupter getrennt von einzelnen Familienmitgliedern ein Wissen über soziale Strukturen, welches sich die 122

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Organisation im Lauf der jahrelangen Unterstützung in der Region angeeignet hatte. Außerdem könnte man behaupten, dass die neue und eingeschränkte Version der tschadischen Staatsbürgerschaft, für die der komplexe Re-Kategorisierungsprozess durchgeführt wurde, die Menschen (lediglich) legal in die Lage versetzt hat, das zu tun, was sie lange zuvor inoffiziell getan hatten: das Camp zu verlassen, um außerhalb Land und Broterwerb zu finden. Die extrem gründliche Erfassung macht auch den politischen Aspekt der Kategorisierung deutlich. Im Sinne Foucaults (2006) Definition der Biopolitik bezieht sie den Körper mit ein und macht Menschen zu Subjekten bestimmter Regierungsformen. Allerdings deutet die Tatsache, dass ein solch engmaschiges Regime eingerichtet werden musste, auch darauf hin, dass die Aktivitäten der Geflüchteten einer immer engeren Kontrolle bedurften. Offensichtlich ging man ja davon aus, dass einige versuchen würden, die Karten zu bekommen, ohne offiziell dazu berechtigt zu sein. Die porte speciale in Halle fünf, durch die Personen, die sich nicht für die neue Staatsbürgerschaft qualifizierten, ausgesondert wurden, deutet auf das antizipierte tinkering, das Stören und Herumpfuschen, hin. Die gesamte zweite Phase des Prozesses, von Halle sieben bis zwölf, war komplett dieser Kontrolle gewidmet: durch die gründliche Überprüfung und das Kopieren aktueller und früher registrierter Dokumente, die Bestätigung der Planmäßigkeit aller durchlaufenen Schritte durch ein speziell geformtes, gestempeltes Loch in diesen Dokumenten, oder die wiederholten und immer gründlicheren Befragungen, bei denen die Menschen auch als Sudanes:innen durchgegangen sind, obwohl Brahim sie für Tschader:innen hielt – all das weist auf die ausgetüftelten Bemühungen hin, die tatsächliche Berechtigung zum Erhalt des Flüchtlingim-Tschad-Status festzustellen. Im Gegensatz zu dieser komplexen Einführung einer neuen Staatsbürgerschaftskategorie (die man als Machtinstrument des Staates und der Flüchtlingsorganisation verstehen kann), stehen allerdings die Möglichkeiten, mit diesem neuen Status in der Praxis umzugehen. In einem späteren Gespräch mit Brahim im Februar 2017 erklärte er mir, dass die carte nationale de réfugié au Tchad unbeabsichtigte Folgen habe: Sie sollte den ehemals auf die Lager und deren Versorgung beschränkten Personen, den »Flüchtlingen«, eine Möglichkeit der Eingliederung durch die Staatsbürgerschaft auf Probe geben, während derer sie sowohl Anrecht auf die Lagerversorgung behielten als auch Staatsbürgerschaftsrechte in Anspruch nehmen konnten, wie z.B. die Ansiedlung außerhalb der Lager oder die Reisefreiheit im Land ohne eine carte de liberation, den Berechtigungsschein, die Lager zu verlassen. Als Mittel zur Reisefreiheit innerhalb des Tschad gedacht, erwies sie sich aber zum Beispiel als Nachteil, wenn Menschen vorübergehend in den Sudan zurückkehrten. »Mit dem Ausweis wurden sie an der Grenze anders besteuert«, erklärte er, 123

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»da sie nicht mehr behaupten konnten, Sudanesen zu sein.« Deshalb begann die tschadische Nationalkommission für die Aufnahme und Wiedereingliederung von Flüchtlingen und Rückkehrern (CNARR) damit, zeitlich begrenzte Passierscheine, sogenannte sauf-conduits, zu verteilen, die garantieren sollten, dass die Personen bei Reisen das Vertrauen des tschadischen Staates und der UN-Organisation genossen, die aber keine Staatsbürgerrechte beinhalteten. Aber auch diese eingeschränkte Bewegungsfreiheit erwies sich als nutzlos, so dass einige der geschäftstüchtigeren ehemaligen Campbewohner:innen dazu übergingen, sich illegal tschadische Geburtsurkunden zu beschaffen, um damit vollwertige tschadische Pässe zu erhalten – Brahim meinte »vor allem die big men‚ die wichtigen Männer.« Das Resultat war, dass man 2017 kaum noch einen tschadischen Pass bekam, unabhängig davon, ob man zu den ehemaligen Geflüchteten oder den geborenen tschadischen Staatsbürger:innen gehörte. Pässe wurden zu einer seltenen Ware, die von der Präsidentschaft immer strenger kontrolliert wurde – ein Faktor, von dem einige, vermutlich fälschlich, dachten, er hinge mit dem vorübergehenden Einreiseverbot für tschadische Staatsbürger in die USA zusammen, das 2017 durch die Trump-Administration verhängt wurde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Versuch, die Kategorisierung als Flüchtling rückgängig zu machen, Akteure miteinander in enge Beziehung gesetzt hat –Campbewohner:innen, Campleitung, die UN-Organisation und staatliche Behörden im Tschad sowie die Bevölkerung außerhalb der Flüchtlingslager. Brahim und seinen Kolleg:innen kam in diesem Prozess die Rolle von kulturellen Übersetzer:innen zu. Durch seine Erzählungen stellte ich fest, dass er sich sowohl mit den Zielen der internationalen Organisation identifizieren konnte als auch mit deren Zielgruppe. Er konnte sowohl die Kategorien übersetzen als auch deren Bedeutung durchleuchten. Angesichts einiger Unregelmäßigkeiten beschloss er zu schweigen. Er sagte zum Beispiel nichts, wenn er bemerkte, dass die internationalen NRO Mitarbeiter:innen im Regis­trierungsprozess Personen glaubten, Sudanes:innen zu sein, während er wusste, dass sie eigentlich aus dem Tschad kamen. Oder er und seine Kolleg:innen konnten als »Flüchtlinge« kategorisierte Personen bei ihren Besuchen in den Dörfern von der Liste streichen und als integriert erklären, wenn sie feststellten, dass diese nun dort lebten – sie konnten aber auch verfügen, dass sie noch Lebensmittelrationen benötigten und ihre Namen auf der Liste belassen. Im Prozess der Umkategorisierung der Campbewohner:innen brachte er Innovationen ein, wenn er es für nötig erachtete – allerdings in kleinem Maßstab, doch mit potentiell bedeutenden Konsequenzen für die Bevölkerung innerhalb und außerhalb der Lager – wie zum Beispiel die Möglichkeit innerhalb der Hallen des Parcours Handel zu treiben und Lebensmittel zu kaufen. Der Prozess, verschiedene Formen der Zugehörigkeit zu überkreuzen, zwischen verschiedenen Codes (Rottenburg 2005) zu 124

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wechseln und dabei an den Kontrollmechanismen eines Flüchtlingsregimes zu basteln, sie zu verbiegen, ihnen auszuweichen oder sich ihnen zu widersetzen, zeigt eine beträchtliche Kontingenz. Statt von einem rigiden Flüchtlingsregime zu sprechen, bevorzuge ich daher das Konzept des eingespielten »Praxisregimes« (Thévenot 2001)7, wobei sich die Praxis auf die jeweilige Betrachtungsweise der Realität der handelnden Individuen oder Gemeinschaften bezieht, und darauf, wie diese Betrachtungsweise mit anderen in Wechselbeziehung steht.

5. Die Instrumente der Klassifizierung Meine Interpretation der oben beschriebenen Prozesse deutet darauf hin, dass sich sowohl Bereitstellung als auch Entgegennahme von humanitärer oder Not-Hilfe im tschadisch-sudanesischen Grenzgebiet in weit komplexere Richtungen entwickelt hat als jene Einbahnstraße (Subjektivierung der Empfänger und Ermächtigung der Geber) als die humanitäre Interventionen bislang oft charakterisiert werden. Darin wird vorausgesetzt, dass humanitäre Organisationen den Staat ersetzen und dadurch neue Subjekte erschaffen, wie z.B. die mit HIV/AIDS infizierte Person, den Flüchtling oder die vulnerable Person, die Hilfe benötigt und sich im Gegenzug den Regeln von Hilfsregimen voll und ganz unterwerfen muss.8 Unter Verweis auf die »hidden truths of sovereign power« zitiert Beckett (2013) das Diktum, dass nur der Souverän über einen Ausnahmezustand entscheiden und einen Notstand ausrufen könne (ebd.: 88). Trotz seiner Kritik an Hilfsorganisationen, die sich durch ihre Definitionsmacht zu staatsähnlichen Konfigurationen herausbilden, wundert er sich allerdings auch darüber, wie Kritiker:innen humanitärer Interventionen territoriale Souveränität und den Nationalstaat in einer »oddly conservative« Form verteidigten (ebd.: 90). 7 Über individuelle oder gemeinschaftliche Praxis hinausgehend, bezieht sich der Begriff »Praxisregime« auf eine Vielfalt von Erfahrungen, Wissen und Erwartungen. Thévenot (2001: 38) behauptet, dass »pragmatisches Engagement … nicht nur die Bewegungen eines Akteurs berücksichtigt, sondern auch die Art und Weise, wie seine Umgebung auf ihn reagiert und wie er diese Reaktionen in Betracht zieht«. Er sieht den Pragmatismus nicht als eine stabile Kraft, sondern als »die von zeitgenössischen Gesellschaften geforderte Fähigkeit, von einer pragmatischen Orientierung zu einer anderen überzugehen, je nach situationsspezifischen Arrangements« (Thévenot 2001: 71, Übersetzung AB). 8 Zur Subjektivierung durch Hilfsmaßnahmen vgl. z.B. McFalls 2010. Für eine kontrastierende Sichtweise, die eher meinem Argument der gegenseitigen Anpassung entspricht, siehe Beckett 2013, Glasman 2017, Redfield 2014 und Ticktin 2006.

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Beckett dekonstruiert schließlich das Bild der staatsähnlichen Souveränität von Hilfsorganisationen, indem er darstellt, dass auch in diesen Machtkonstellationen Relationalität und einzelne Interaktionen prozessbestimmend sind. In ähnlicher Weise stellt Glasman (2017) die historische Entwicklung von UNHCR-Klassifikationen in den Vordergrund, über die er sagt, dass sie sich während unterschiedlicher Nothilfeeinsätze kontinuierlich an die jeweiligen Situationen neu anpassen. Indem er sich auf das konzentriert, was während »states of exception/emergencies« entsteht, vergleicht er die historische Entwicklung der Flüchtlingsagentur mit James Scotts (1998) Darstellung staatlicher Regime, die Modernität dadurch erreichen wollen, dass sie ihre Bürger und Bürgerinnen lesbar machen. Im Anschluss an Scott, der »categories, formats, processes of standardization and rationalization« als Mittel formuliert hat, um eine Bevölkerung erst lesbar und schließlich kontrollierbar zu machen, argumentiert Glasman, dass das Flüchtlingshilfswerk ebenfalls Bevölkerungen entsprechend seinem Schutzmandat anordnet. In einer Art Übersetzung werden dabei komplexe, nicht lesbare und multiple lokale Ansprüche in Standardkategorien übertragen »that can be recorded, compared and used« (2017: 4). Wenn Glasman also die Behörde mit dem Staat vergleicht, anstatt ihre Souveränität als Ersatz für den Staat zu betrachten, zeigt er auch, wie sie in ähnlicher Weise in verschiedene Unteragenturen und Akteure aufgeteilt ist. In seiner Analyse behauptet er, dass das UNHCR in einer dezentralen und fragmentierten Weise agiere, mithilfe einer großen Reihe weiterer Akteure – »states of varying sizes and strength, UN agencies with different mandates, NGOs with diverse interests, refugees committees with varying representation and so on« (2017: 18). Anstatt eine Machtasymmetrie zu postulieren, die davon ausgeht, dass sie Hilfssubjekte erschafft, beruft sich Glasman auf den stark vernetzten Charakter der UNHCR-Interventionen, deren Ursprung »not so much in the means of protection« liege, als vielmehr in dem »quasi-monopoly it holds over the means of classification« (ebd., Hervorh. AB). Damit soll nicht geleugnet werden, dass Hilfsregime auch zu Unterdrückung führen können, wie in de Waals (1989) beeindruckender ethnographischer Analyse von Hilfsorganisationen in den 1980er Jahren, die auf der sudanesischen Seite des hier betrachteten Grenzgebiets durch ihre Hilfe eine Hungersnot verursachten. Er argumentiert, dass die Hilfsorganisationen sich ein falsches Bild der Situation gemacht hätten: Sie hatten nicht erkannt, dass die Menschen, die hilfsbedürftig in die ­UNHCR-Camps kamen, keine Dürre-, sondern Kriegsflüchtlinge waren, und dass sie nicht nach Hause zurückkehren konnten, sobald der Regen einsetzte – womit die Hilfsorganisationen aber gerechnet hatten, wie de Waal vermutet. Neuere Darstellungen von Ausnahmezuständen erlauben demgegenüber einen genaueren Blick darauf, wie entstehende Verbindungen und Zusammenhänge während solcher Situationen zu 126

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neuen Machtkonstellationen beitragen, »both reproduce(ing) and transform(ing) … existing structures« (Beckett 2013: 98). Die relationale Perspektive aufgreifend, sollte dieser Beitrag zeigen, dass weder die tschadische Regierung noch die Hilfsorganisationen absolute oder souveräne Macht über ihr Interventionsgebiet besaßen. Stattdessen transformierten sich beide durch das, was Sassen (2013) die nationalstaatlichen »shadows« nennt, indem sie einen größeren Kreis von Akteuren in den Blick nahmen und so darauf abzielten, die Bedingungen zu offenbaren, die ansonsten »blurry« zu bleiben drohten, wie Sassen (ebd.: 39) es in Bezug auf ihre erweiterte Auslegung des Begriffs »territory« ausdrückt, der über eine nationalstaatliche Definition hinausgeht.

6. Zuordnungen rückgängig machen Durch die administrative Handhabung und die Institutionalisierung der Art und Weise »to sort things out« (Bowker/Star 1999), können Kategorisierungen als sich gegenseitig ausschließend erscheinen und institutionell Zugehörigkeiten definieren, während gleichzeitig Kategoriengrenzen »from different worlds meet, adjust, fracture, or merge« (1999: 16). Sie können auch, wie Barth (1969) aufzeigt, während eines Konflikts starrere Formen annehmen, in denen Formen der Zugehörigkeit zu Mechanismen gewaltsamen Ausschlusses degenerieren können (siehe auch Schlee 2004). In Anlehnung an Hirschauer (2014) kann ihre Begrenztheit in der Praxis eben sowohl »hergestellt« als auch »rückgängig gemacht« werden, da bestimmte kategorisierende Handlungen der eingangs erwähnten doppelten Kontingenz von Relationalität und Temporalität unterliegen. Die Analyse von Prozessen des Kategorisierens macht sichtbar, wie Kategorisierungen aus Situationsdeutungen entstehen. Wer ist daran beteiligt? In verschiedenen Praxisregimen bezeichne ich »kollektive Akteure« als das Ensemble a) von Menschen, die ihre Zugehörigkeiten unterschiedlichen Institutionen, Gemeinschaften und Orten zuschreiben. Diese Menschen werden b) von Technologien beeinflusst, die Prozesse regulieren, Regeln anwenden und Legitimitäten verteilen, um Menschen zu gruppieren. Dabei kommen c) Dinge oder Geräte zur Anwendung, die jeweils eine Geschichte des Organisierens in sich tragen. Frühere Verfahrensprozesse anderer Regierungen bleiben als Sedimente in diese Geschichten involviert und sie erhalten neue Bedeutungen in aktuellen Prozessen. Im tschadisch-sudanesischen Grenzgebiet eröffnet die Untersuchung von Kategorisierungsprozessen die Möglichkeit zu verstehen, wie Menschen – je nach individueller Positionierung auf ganz unterschiedliche Weise – Überleben in Kriegs- und Vertreibungssituationen 127

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organisieren. Es eröffnet auch die Möglichkeit zu verstehen, wie internationale Organisationen wie das UNHCR dazu kommen, sich den Überlebenspraktiken der Menschen vor Ort anzupassen. Die Bewegung kollektiver Akteure erzeugt immer neue Situationen und Konstellationen, die neue Wege des Definierens, Anordnens und Verschiebens von Wissen und damit neue Kategorisierungen von Menschen in Gang setzen. In einer Krisensituation, die durch Krieg und Vertreibung ausgelöst wird, trifft eine Vielzahl von Akteuren, Technologien, Verfahren und Geräten aufeinander, mit sehr unterschiedlichen Auffassungen von der Realität und davon, wie man in ihr überleben kann. Dabei scheint vor allem das Bedürfnis der Menschen im Vordergrund zu stehen, möglichst flexibel auf unterschiedliche Zugehörigkeiten und auf ihre Implikationen zugreifen zu können. Meine Frage zu Beginn des Beitrags aufgreifend, meine ich, dass diese Flexibilität der Zugehörigkeit Teil des Wissens der Menschen ist, die in kontinuierlich ungewissen Lebenssituationen immer wieder alternative Wege finden müssen, um darin zu überleben und ihre Angehörigen zu unterstützten. Eine genauere Untersuchung des Kategorisierens zeigt, wie verschiedene Akteure, Verfahren und Geräte interagieren und wie ihre gegenseitigen Einflüsse und ihr gegenseitiges Verständnis Erwartungen und Praktiken für das weitere Leben und die Gestaltung der Zukunft beeinflussen. Die Prozesse, die ich in diesem Beitrag aufgezeigt habe, stellen den Versuch dar, eine Kategorie – die des »Flüchtlings« – am Ende eines langen Prozesses der Durchsetzung und Stabilisierung wieder rückgängig zu machen. Die Verhandelbarkeit der Kategorie wird durch die zeitlich veränderlichen Beziehungen der beteiligten Akteure sichtbar: Während in der Zeit der ersten Installierung der Flüchtlingslager ein strikte Trennung zwischen »Flüchtlingen« und anderen Kategorien wie »Einheimische«, »Rebellen«, »einheimische Mitarbeiter:innen in NROs« usw. getroffen wurden, griff die hier beschriebene Maßnahme sowohl auf die bereits etablierten, aber bislang illegalen Praktiken der Lagerbewohner:innen zurück, als auch auf die Zeit vor den Lagereröffnungen. Denn auch damals hatten sich die Menschen, die aus dem Sudan geflohen waren, zunächst in den grenznahen Dörfern und Städten angesiedelt – und erst die hohe Anzahl der Geflohenen machte eine solche »spontane Ansiedlung«, wie es im UN-Jargon heißt, zunehmend schwierig und rief das Flüchtlingswerk auf den Plan. Ein Fazit dieses Beitrags ist daher, dass Kategorisierungen von Differenz und Zugehörigkeit in Situationen von Krieg und Vertreibung nicht nur in stärker und schwächer institutionalisierter Form neu entstehen, sondern sich auch überlappen und sich im Laufe der Zeit in kontingenter und situationsbedingter Art und Weise verändern. In Bezug auf die beschriebene Statuspassage liegt aus anthropologischer Sicht eine Assoziation mit Arnold van Genneps (1909) Übergangsriten nahe, also mit durch Rituale markierten Veränderungen im menschlichen 128

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Lebenslauf, die er unter der damals aktuellen strukturalistischen Perspektive untersucht hat. Gemeinsam, so van Gennep, sei den verschiedensten Riten, dass die teilnehmenden Personen zunächst eine Ablösung durchlaufen (hier: der Eintritt in den Parcours des UNHCR nach stundenlanger Wartezeit in der Hitze vor den Hallen), dann eine ritualisierte Übergangsphase durchlaufen, die van Gennep »liminal« nennt, also eine Grenzerfahrung, die oft mit unterschiedlichen Prüfungen verbunden ist (hier: das mühsame Durchschreiten der Hallen in Gruppen und als Einzelpersonen, die eingehende und wiederholte Überprüfung von Dokumenten, die einer tatsächlichen Prüfung gleichen, da manche sie wiederholen müssen oder ausgeschlossen werden), und schließlich die Austrittsphase als Mitglied einer neuen Humankategorie (hier: die Aushändigung des neuen Ausweises mit dem temporären Status als »Flüchtling mit tschadischer Staatsbürgerschaft« und der physische Austritt aus den Hallen). Während van Gennep aber von konsensuellen Handlungen einer als homogen vermuteten Gemeinschaft ausging, handelt es sich in meinem Beispiel um eine Begegnung von unterschiedlichen Akteursgruppen, die die Zugehörigkeit zu Kategorien nicht nur unterschiedlich, sondern auch kontingent und flexibel interpretieren, indem sie sie situativ und relational mit unterschiedlichen Erfahrungen und Absichten verbinden. Daher ist der in drei Phasen aufteilbare Prozess zwar durchaus eine Status­ passage, aber eben eine, die neben der Überführung von Menschen in eine neue Kategorie verwaltungstechnisch auch schlicht das nachvollzieht und legalisiert, was die Bewohner:innen der Grenzregion (sowohl innerhalb als auch außerhalb der Camps) schon zuvor praktiziert hatten. Bei dem Übergang hat die UN-Organisation daher mit großem Aufwand eine verwaltungstechnisch institutionalisierte Zugehörigkeit rückgängig zu machen versucht und dabei auf lebensweltliche Praktiken der Menschen zurückgegriffen. Dass durch das Quasi-Ritual des Verwaltungsvorgangs aber die unterschiedlichen Ansichten und lebensweltlichen Wahrnehmungen bestehen blieben, spielt bei der konsensuellen Passage, auf die sich van Gennep bezieht, keine Rolle. Gerade das ist meines Erachtens der interessante Punkt der bürokratischen Statuspassage, die ich in diesem Beitrag untersucht habe: die lebensweltlich flexibel bleibende Handhabung von Zugehörigkeiten in Krisensituationen sowohl auf Seiten der Institutionen als auch der Bevölkerung.

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Grenzverwischung

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Translation als Katalysator von Humandifferenzierung Eine translationswissenschaftliche Bestandsaufnahme »Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede, in der, auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten immer sich als Einheit gegenüberstellt. Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren, und zieht danach die Kreise seiner geistigen Verwandtschaft, sondert die, wie er, Redenden von den anders Redenden ab. Diese, das Menschengeaschlecht in zwei Classen, Einheimische und Fremde, theilende Absonderung ist die Grundlage aller ursprünglichen geselligen Verbindung« (W. von Humboldt 1994: 164)

Sprachfähigkeit hat als Inbegriff der Symboltätigkeit des Menschen kulturhistorisch immer schon eine besondere Rolle für die Markierung der ontologischen Außengrenzen des Humanen gespielt (animal symbolicum bei Cassirer 1996). Als Unterscheidungskriterium war Sprachfähigkeit aber auch historisch wirksam, um andere Völker als Barbaren, d. h. als »unverständlich Stammelnde« (Trabant 2008: 242; Stichweh 2010), oder im Fall der amerikanischen ›Indianer‹ als Papageien zu bezeichnen, die keine eigene Sprache haben (Hanke 1937: 84). Darüber hinaus fungiert die Differenzierung zwischen Einzelsprachen und ihren Sprechenden in der abendländischen Tradition als ein Prototyp gemeinschaftsbildender Humandifferenzierung (Humboldt 1994: 164; Borst 1957: 17). Ein Sinnbild für diese Rolle ist die alttestamentarische Geschichte vom Turmbau zu Babel, in der Gott die durch eine gemeinsame Sprache konstituierte Einheit des Menschengeschlechts in eine Vielzahl von Sprachgemeinschaften zersprengt, die sich dann wechselseitig nicht mehr verstehen können. Daraus folgen ethnische Diversität und räumlich manifestierte Gruppenbildung (Gen 11:1–9 EÜ). Die babylonische Erzählung von der Entstehung der Einzelsprachen beschreibt die sprachbezogene Vergesellschaftung so erstens als eine fundierende Form der Humandifferenzierung: Menschen sind anders und sich fremd, wenn sie nicht »dieselbe« Sprache sprechen. Zweitens koppelt sie gegenseitige Verständlichkeit an die Zugehörigkeit zur selben 135

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(Sprach)Gemeinschaft: Wenn Menschen anderen Sprachgemeinschaften angehören, können sie sich nicht verständigen, sie werden dem »Gesetz der Übersetzung« (Derrida 1997: 129) unterworfen.1 Übersetzung überwindet die durch die Trennung von Sprachen entstandenen Kommunikationshürden. Das Primat der Verständigung weist die instrumentell-kommunikative Funktion von Translation als ihre zentrale Aufgabe aus,2 was ihrer Handhabung in der Alltagswelt entspricht: Patient:innen müssen vor medizinischen Eingriffen aufgeklärt werden, Zeug:innenaussagen müssen vom Gericht verstanden werden, das Nobelpreiskomitee muss Texte unterschiedlicher Provenienz sichten, und um ein Gerät zu bedienen, muss die übersetzte Gebrauchsanleitung verständlich sein. Insofern sie einem übergeordneten Kommunikationsziel dient, erscheint Translation gegenüber der Botschaft neutral. Als erfolgreich gilt sie vor allem dann, wenn sie nicht als Translation erkannt wird (»geschmeidiger Text«, »flüssige Übersetzung«) und sich in ihrem Vollzug gewissermaßen selbst negiert (Krämer 2008). Diese Transparenzerwartung wird nun aber von der Komplexität konterkariert, die tatsächliche Dolmetsch- und Übersetzungsprozesse an den Tag legen. Darin werden unterschiedliche kulturelle Referenzrahmen, Diskurssysteme, Weltanschauungen und Kommunikationsanliegen der Beteiligten in unterschiedlichen medialen Formen und triadischen Konstellationen aufeinander bezogen und ineinander übersetzt. Die Translationswissenschaft hat sich aus dieser Komplexitätserkenntnis heraus entwickelt und sich mit ihrem Fokus auf Prozesse des »Transfers« von ihren Ursprungsdisziplinen – der Linguistik und der Literaturwissenschaft – distanziert. Übernommen hat sie von diesen eine mikro- und makrolinguistische Sensibilität für die vergleichende Analyse mündlicher und schriftlicher Sprache und die hermeneutische Präzision, die sie für die Untersuchung eines breiten Spektrums an Textsorten – zu denen Gebrauchsanweisungen und Software heute ebenso gehören wie Literatur, Opernlibretti oder Comics – durch Anleihen aus anderen Disziplinen ergänzt. 1 Nach Derrida ist die babylonische Sprachverwirrung Fluch und Segen zugleich: Sie steht für Differenzaffinität, unterbricht die koloniale Gewalt und den sprachlichen Imperialismus, den die Semiten durch die Universalisierung ihres Idioms einführten. Übersetzung steht für Differenz, die zu überbrücken sodann notwendig und zugleich unmöglich wird (Derrida 1997: 129). 2 Translation wird in der Translationswissenschaft als Dachbegriff für das Übersetzen und Dolmetschen und deren Mischformen verwendet (Kade 1968). Das Fach organisiert seine Forschung und sein Personal entlang von zwei Leitunterscheidungen. Die erste trennt zwischen mündlicher und schriftlicher Translation, die zweite zwischen menschlicher und maschineller Translation.

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Gleichzeitig ist sie lange einem schriftinduzierten Translationsverständnis treu geblieben, das die Beforschung von situierten Praktiken der Translation verzögert hat. Die Organisation ihrer akademischen Institutionen und Forschungsprogramme nach Nationalsprachen und das strukturalistische Erbe der Disziplin haben es zudem erschwert, einen kontingenzaffinen Zugriff auf Sprache und Sprachzugehörigkeiten zu entwickeln. Beforscht wurden Texte und Sprachsysteme, und die Konzeptualisierung von Translation stützte sich zunächst auf Sender/Empfänger-Modelle, die zur Darstellung von Kodierungsverfahren und Möglichkeiten der sprachlichen Äquivalenzfindung dienten. In ihrer Anfangszeit war die Translationswissenschaft daher geradezu menschenleer.3 Die Ersetzung von Äquivalenztheorien durch handlungstheoretische und funktionalistische Ansätze rückte die Akteure mit ihren Kommunikationsabsichten und Interaktionen in den 1980er Jahren in den Vordergrund (Holz-Mänttari 1980; Reiß/Vermeer 1984). Dazu hat vor allem auch die Aufnahme der großen Diversität an Dolmetschmodi und -settings in den Untersuchungsbereich beigetragen (Pöchhacker 2000), die das humankategoriale Spektrum erweitert (durch Kinderdolmetschen, Aktivismus, Kriegs- und Katastrophendolmetschen usw.) und die Diszi­ plin durch die stärkere Integration sozialwissenschaftlicher Methoden bereichert hat. Postkoloniale Ansätze schließlich ließen durch ihre Figuration von Translation als Sinnbild der Differenzerfahrung die Frage nach Macht und asymmetrischen textuellen, sprachlichen und kulturellen Beziehungen auf den Plan treten (z.B. Arrojo 1997; Spivak 2000; Niranjana 1992; Kothari 2003; Sturge 2007). Die Translationswissenschaft führt heute in den meisten ihrer Ansätze den Themenbereich Humandifferenzierung mit, systematisch beschäftigt hat sie sich mit der Frage nach der Rolle, die Translation in Prozessen der Humandifferenzierung spielt, allerdings noch nicht. Der vorliegende Beitrag stellt einen ersten Versuch dar, diese Lücke zu schließen. Für die Entwicklung einer translationswissenschaftlichen Perspektive auf Humandifferenzierung wendet er sich erstens dem Verhältnis zwischen Sprachdifferenz und Translation zu. Der Beitrag verfolgt dabei die These, dass Translation nicht einfach präexistierende Sprachdifferenzen überwindet, sondern auch eine Katalysatorfunktion in sprachbezogenen Kategorisierungsprozessen spielt. Um diese in den Blick zu nehmen, ist es erforderlich, den Sprachbegriff zu dynamisieren und die Kontingenz von Grenzziehungen deutlich zu machen. Darüber 3 Dafür wurde sie aber von Maschinen bevölkert. Die Realisierung maschineller Übersetzung war ein zentraler Anlass, die Translationswissenschaft überhaupt erst als wissenschaftliche Disziplin entstehen zu lassen. Vgl. etwa Koller (1979: 79), der die frühe Translationswissenschaft als »Hilfsdiszi­plin« der maschinellen Übersetzung bezeichnet hat.

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hinaus rückt der Beitrag Funktionen von Translation ins Zentrum, zu denen neben der instrumentellen auch die bisher vernachlässigten symbolischen und strategischen Funktionen gehören. Er möchte so den Wirkungsformen der Inszenierung von Sprachdifferenz Rechnung tragen, die für die Beforschung der translatorischen Humandifferenzierung besonders interessant sind. Zunächst aber ist ein Blick auf die Konstitution und Funktion von Sprachdifferenz zu werfen.

1. Sprachen und sprachbezogene Humandifferenzierung Durch Selbst- und Fremdzuordnung zu Sprachgemeinschaften unterscheiden sich Menschen als ›normal‹ oder ›Andersredende‹ (i. S. Humboldts). Sie schließen aus phonetischen und paralinguistischen Merkmalen auf regionale Zugehörigkeiten, aus dem Einsatz von Gebärden auf Behinderung. Sie setzen spezialisierte Lexeme ein, um ihre Profession zu markieren und bemühen eloquente Syntax und Stilistik, um Intelligenz oder Schöngeist an den Tag zu legen. Die Spielarten des Sprechens können grundsätzlich den unterschiedlichsten Zuordnungen von Menschen als Marker dienen, und ihre Hierarchie ist variabel: Die Beherrschung eines Slangs ist für die Aufnahme jugendlicher Neuankömmlinge in einer Klassengemeinschaft wichtiger als das fehlerfreie Sprechen der Standardvarietät, die sie wiederum für gute Noten im Deutschunterricht benötigen. So divers die Maßstäbe der Humandifferenzierung und die Größenordnungen der Gemeinschaften sind, die sie bilden, so unterschiedlich kann die »Spracheinheit« und deren Relevanz für die Sprechenden sein. Das Kontinuum reicht von Familiensprachen, z.B. den Gebärdensprachen, die sich in Familien mit gehörlosen Kindern entwickeln (homesign, Hill et al. 2019) bis hin zur transnationalen Lingua Franca und dem globalen Business Talk.4 Der situativen Wandelbarkeit dieser Hierarchie und der Vielfalt an möglichen Aggregatzuständen der Humandifferenzierung (Hirschauer 2017), an denen unterschiedliche Formen des Sprechens beteiligt sind, stehen die institutionell festgeschriebenen Nationalsprachen entgegen, wie sie uns in der Alltagswelt, dem Bildungssystem und der Bürokratie begegnen. Die Art und Weise, wie Sprache institutionell bearbeitet wird, reifiziert den nationalstaatlichen Bias und die damit zusammenhängende monolinguale Norm, aus deren Sicht Mehrfachzugehörigkeiten 4 Zum Beispiel Swahili/Kiswahili als regionale Lingua Franca, Hoch-/Standardarabisch als zweckspezifische Lingua Franca, World/International/Global English als delokalisierte Standardvarietät mit den World Englishes wie Euro English und Indian English als regionalen Varietäten.

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als Ausnahmen und sprachliche Hybridität als Unzulänglichkeit gelten (»eine Person, eine Sprache«; Busch 2010: 10). Die Vorstellung, Translation fände »zwischen« intern homogenen und nach außen hin scharf abgegrenzten Sprachen bzw. Sprachgemeinschaften statt, erweist sich als konstitutiv für diese Norm: Insofern Gemeinschaften sich immer von einem ›Außen‹ unterscheiden müssen, ist Translation auch eine indirekte Bestätigung von imaginierten nationalen und ethnischen Gemeinschaften, die jeweils durch eine gemeinsame Sprache zusammengehalten werden – sie unterstützt insofern sogar die Entstehung nationaler, ethnischer und sprachlicher Einheiten (Sakai 2018), denen Menschen ›zugehören‹. Sie sind dann Angehörige einer Nation, eines Volks und einer Sprachgemeinschaft, die sich in Translationsprozessen als füreinander jeweils ›fremde‹ begegnen können.5 Für die Humandifferenzforschung muss der Frage, wie sich Sprechende in ›vorhandene‹ Einzelsprachen einordnen, die Frage vorgeschaltet werden, was für die Beteiligten jeweils ›eine Sprache‹ bedeutet, wo sie beginnt und endet (Derrida 2003: 21–22) und wie ›Sprachschubladen‹ mit Aufschriften wie ›Englisch‹ oder ›Dari‹ überhaupt entstehen. Anstatt von Sprachstrukturen und distinkten Spracheinheiten auszugehen, denen Sprechende zugeordnet sind, wird der Fokus so auf die Menschen verschoben, die sich und andere kategorisieren. Durch eine reflexive Dis­ tanz zu Sprachbegriffen, in denen die Zugehörigkeit von Menschen zu nationalstaatlich formatierten, monolingualen Sprachgemeinschaften als eine immer schon geregelte und »natürliche« Ordnung erscheint (Silverstein 1996; Bonfiglio 2010) wird so zugleich ein naturalisierender Blick durch einen kontingenzbewussten Zugang ersetzt, in dem die Frage nicht sprachwissenschaftlich autoritativ beantwortet, sondern empirisch geöffnet wird. Der Kritik an systemlinguistischen Sprachbegriffen und an der wissenschaftlichen Handhabung von »Sprachen«, als wären sie Dinge in der Welt (Davidson 1992: 256) steht allerdings der alltägliche und in­ stitutionelle Umgang mit Sprache entgegen, der eben dies tut: Sprachen 5 Offiziell multilinguale Staaten wie Kanada, Schweiz oder Belgien ordnen Sprechende Sprachgemeinschaften zu, welche in Translationsbeziehungen zueinander stehen, ohne dass sie sich notwendigerweise wechselseitig als ›fremd‹ kategorisieren. Zwar gibt es in Kanada ›Frankophone‹ und ›Anglophone‹, doch beide sind zumindest auch Kanadier:innen, werden also in einer ›höheren‹ Zugehörigkeit aufgehoben. Diese Zugehörigkeit erhält symbolischen und institutionellen Ausdruck durch die translationspolitische Regel, alle Protokolle des kanadischen Parlaments in die jeweils andere Sprache übersetzen zu müssen. Translation kann demnach Unzugehörigkeiten anzeigen, sie kann aber auch Zugehörigkeiten ›höherer‹ Stufe herstellen – weshalb sie sich sowohl für ethnopluralistische wie auch für multikulturalistische Agenden eignet.

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werden von Menschen nicht nur genutzt, d. h. bewohnt, bewältigt und beherrscht. Sie überleben, müssen gerettet und gepflegt werden, sie werden gesammelt und gelistet, unterrichtet und gelernt, gestrichen und addiert. Ihre Vielfalt wird mit Biodiversität verglichen, sie werden als kulturelles Gut und Speichermedium für das kollektive Gedächtnis geehrt und verdammt; viele sind dem Tode geweiht.6 Für ihre Erfassung und Bearbeitung ist es nötig, dass Sprachen einen Namen haben. Nicht alle schaffen es auf offizielle Listen, und die Umstände der Namensgebung sind hochkomplex. Die Frage nach den Sprachschubladen kann historisch und pragmatisch verstanden werden – wann sind diese »Glottonyme« (Goebl 1979) entstanden und was veranlasst Sprechende und Hörende, Menschen in Sprachschubladen zu stecken? Im Alltag denken Menschen nicht oder selten darüber nach, welche Sprache sie gerade sprechen – sie sprechen einfach, so wie sie atmen oder schwimmen. Erst aufgrund faktischer oder antizipierter Reaktionen von anderen tritt Sprache als eine bestimmte Sprache ins Bewusstsein. Dabei dienen Glottonyme wie Beschriftungen auf Schubladen oder Klingeln dazu, in heterolingualen Konstellationen Sprechende zu sortieren, ihnen den Weg für Kommunikationszugänge zu sichern und sie ansprechbar zu machen, etwa wenn beim Museumsbesuch der richtige Sprachknopf auf dem Audioguide gedrückt werden muss, damit die Informationen verstanden werden. Sprachnamen reduzieren Komplexität und sichern die Handhabbarkeit von Kommunikation. Umgekehrt können Angehörige einer Gemeinschaft für ihre eigene Abgrenzung eine Sprache »erfinden«, die sie durch eine Benennung konsolidieren, wie es beim Hundeshagener Kochum der Fall ist, das von Wandermusikanten als Geheimsprache entwickelt wurde, um sich gegenseitig über Gefahren zu informieren und den Gruppenzusammenhalt zu stärken (Weiland 2003). Die Sprachnamen fungieren als mehr oder weniger klare Kategorien und können für verschiedene Sprechende variierende Entsprechungen haben; auch die Kategorisierungsprozesse, die sie anstoßen oder an denen sie teilnehmen, sind variabel. 6 Die Linguistik verbindet den Begriff ›Sprachtod‹ mit dem Tod des letzten muttersprachlichen Sprechers einer Sprache, weshalb solche Individuen als letzte Exemplare einer Gemeinschaft von Linguisten sorgfältig gehegt und für die Archivierung bemüht werden. Sprechende stellen daher das wichtigste ›Speichermedium‹ für eine Sprache dar. Eine sterbende Sprache, von der keine schriftlichen Aufzeichnungen oder Tonaufzeichnungen vorliegen, gilt als ›ausgestorben‹. Die meisten Sprachen sterben einen natürlichen Tod (durch Sprachkontakt, Auswanderung usw.), andere fallen einem Linguizid zum Opfer, wenn ihre Sprachgemeinschaft ausgerottet oder das Sprechen der Sprachen verboten wird. Schätzungsweise werden im 21. Jahrhundert zwischen 50 und 90 Prozent der etwa 6.000 bis 7.000 lebenden Sprachen aussterben (Crystal 2000: 3).

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Die Selbst- und Fremdzuordnung von Menschen zu Sprachen kann terminologisch als sprachbezogene Humandifferenzierung gefasst werden. Auf ihrer elementarsten Stufe tritt sie als ein situationsverhafteter und nicht bewusstseinspflichtiger Unterscheidungsakt auf. In Metropolen etwa gehört die vorbewusste Unterscheidung von andersklingenden Sprechenden zum unauffälligen Hintergrundrauschen: Wo keiner damit rechnen muss, für die anderen zum Interaktionspartner zu werden, ist Indifferenz die Normaleinstellung gegenüber fremden Klängen. Bedient sich die Sortierung von Menschen nach Sprachen jedoch expliziter Kategorien wie ›Deutsch‹, ›Arabisch‹ oder ›Farsi‹, so kann von sprachbezogener Humankategorisierung gesprochen werden. Solche Kategorien generalisieren einen situativen Unterscheidungsakt, indem sie ihn sprachlich darstellen und dadurch für weitere Situationen verfügbar halten. Sie stellen Differenz auf Dauer. Auf diese Weise kann z. B. die Bedienung im Lokal den Gästen die entsprechenden Speisekarten reichen: Sie sieht und hört die ›Engländer‹ schon und greift mit sicherer Hand ins richtige Fach: ›Englisch‹. Und Angestellte von Einwanderungsbehörden können die Neuankömmlinge in Formularen sprachlich ›abhaken‹, um ihre Herkunft festzustellen und eine Verdolmetschung zu beauftragen. Die Kategorisierung von Menschen nach Sprachen bedient sich dabei zum einen sprachlicher Indizes: Glottale Laute führen zur Feststellung der Sprache als ›Arabisch‹, aus der Häufung von hellen runden Vokalen (ü, ö) wird auf ›Türkisch‹ geschlossen. Ähnliches geschieht bei Akzenten in der ›Fremdsprache‹, wenn über phonetische und paralinguistische Interferenzen Zuordnungen vorgenommen werden: Der Singsang im Deutschen weist die Sprecher:in als Muttersprachler:in des Italienischen, die Verwechslung des bilabialen Plosivlauts b mit dem labiodentalen Frikativ v weist sie als Spanischsprecher:in aus. Sprachbezogene Kategorisierung kann auch als Teil oder Resultat einer Kette von Zuschreibungen erfolgen, ohne dass jemand gesprochen hat, zum Beispiel kann ein physischer Marker sprachbezogene Inferenzen erzeugen: Kopftuch – Arabischsprecherin. Auch Hautfarbe, Augenform, Körpergröße und nonverbales Verhalten (etwa wenn sich jemand bei der Begrüßung höflich verbeugt) führen zur Zuschreibung von Sprachzugehörigkeiten. Wie wirkmächtig diese Zuordnungsketten und Kongruenzerwartungen sind, zeigen Reaktionen auf »Abweichungen«. Ein virtuos bayrisch sprechender Kabarettist ist erst dann eine besondere Attraktion, wenn er schwarz ist oder einen türkischen Namen trägt. Die Frage nach der Zuordnung von Hochdeutsch und Kiezdeutsch zu einem Jugendlichen mit Hiphop-Hose oder einem Mann im mittleren Alter, der einen Anzug trägt, wird für die meisten Menschen eindeutig zu beantworten sein. Sprachbezogene Humankategorisierungen bilden Kategorienakkorde oder nehmen an diesen teil, und sie können Dissonanzen erzeugen. Das Verhältnis der unterschiedlichen Kategorien, die aufgerufen werden und 141

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sich verketten, gerät schnell durcheinander, sobald durch Translation in einen anderen Referenzrahmen gewechselt wird. Der Einsatz von Translation kann Zuordnungen auflösen, neu konstruieren, oder Differenzierungsstufen gänzlich ignorieren. In der Verdolmetschung in die deutsche Behördensprache ist der Unterschied zwischen unterschiedlichen Spanischvarietäten oder einem mehr oder weniger eloquenten Sprachgebrauch nicht zu erkennen. Insofern sprachbezogene Humankategorisierungen sich sprachlicher Kategorien bedienen (›Japanisch‹, ›Usbekisch‹), stehen sie in einem doppelten Verhältnis zu Sprache: Sie sortieren Menschen mit Sprache nach ›Sprache(n)‹. Sie machen Sprache nicht nur zum Thema, sie werden auch sprachlich vollzogen. Sprachlich vollzogen werden aber alle Humankategorisierungen, auch diejenigen, die nach Geschlecht, Alter, Nationalität etc. erfolgen. Daher ist das Sprechen als Marker von Sprache als Modus Operandi des Differenzierens zu trennen. Während also alle Kategorisierungen von Menschen nach ›Sprache‹ sprachlich vollzogen werden, sind umgekehrt nicht alle Humankategorisierungen sprachbezogen. Durch ihre Sprachlichkeit können Humankategorisierungen auf alle Sinnschichten von Sprache zurückgreifen (von Anredeformen über Gendermarker und grammatische Möglichkeiten inkludierender und exkludierender Redeformen) und in unterschiedlichen Aggregatzuständen auftauchen (Hirschauer/Nübling in diesem Band). Sie können so auch auf nicht- und vorsprachliche Formen der Humandifferenzierung rekursiv zurückwirken (Imhoff in diesem Band; Lakoff/ Johnson 1980) und stehen in einem wechselseitigen Verhältnis mit anderen kulturellen Sinnschichten. Während es für sprachliche Humandifferenzierung keine Vielheit von Sprachen braucht, ist die Konstatierung von Sprachdifferenz Voraussetzung für sprachbezogene Humandifferenzierung. Dabei spielt Translation nicht nur im oben beschriebenen theoretischen Sinn eine grundlegende Rolle, dass nämlich die Feststellung einer Differenz zwischen Sprachen Kontakt, Vergleich(barkeit) und Translation voraussetzt und in einer imaginären Situation vor der babylonischen Sprachverwirrung die Vorstellung von Einzelsprachen (Artunterschieden einer Gattung, Sakai 2013) nicht gegeben wäre. Auch die Beobachtung der Translationspraxis liefert Anlass dafür, Translation als Katalysator für sprachbezogene Humandifferenzierung zu fassen. Der Bedarf an Übersetzungs- und Dolmetschleistungen erfordert nämlich im Vorfeld eine praktikable Sortierung der Adressierten und Dolmetschenden und motiviert den Kategorisierungsprozess. Eine Verdolmetschung kann nur beauftragt werden, wenn klar ist, für welche Sprache sie eingesetzt werden soll (Dizdar 2019).

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2. Versämtlichung, Homogenisierung und Nivellierung Im Rahmen der Bearbeitung von Sprachdifferenz – verstanden als Resultat sprachbezogener Humankategorisierungen – in alltagsweltlichen und in­ stitutionellen Zusammenhängen übernimmt Translation in der Regel eine versämtlichende Funktion. Der Translationsbedarf führt zu einer Kategorisierung von Sprechenden, die dem eigentlichen Übersetzungs- oder Dolmetschprozess vorgeschaltet ist. Besteht beispielsweise in einer Behörde Bedarf an Translation, werden Sprechende, die zu adressieren sind, zunächst einer im Verzeichnis erfassten Sprache zugeordnet, damit Übersetzer:innen oder Dolmetscher:innen bestellt werden können. Es erfolgt im Vorfeld also eine erste, der eigentlichen Translation vorgeschaltete Übersetzung in Form einer Überführung der individuellen oder kollektiven Fälle in die behördliche Struktur – und die »scheinbar universalistische Sprache des Staates« (Mokre 2015: 22). Differente Sprechweisen werden so zunächst »übersetzbar« gemacht (»Anglophone«); die Versämtlichung führt zur Nivellierung differenzierter Sprechpraktiken zugunsten einer institutionell und pragmatisch begründeten Bemühung um eine ›hinreichende‹ Verständigung. Die monoglottistische Rahmung von Sprachen (Silverstein 1996), in der Nationalsprachen nicht nur aus symbolischen Gründen (Bourdieu 2012) priorisiert werden, sondern vor allem, weil sie für Klarheit und Transparenz stehen (Blommaert 2009: 421), erweist sich damit als eine Voraussetzung für die institutionelle Bearbeitung von Translation. Nicht determinierbare Sprachgrenzen und eine zu große Anzahl von Einzelsprachen würden die Organisation von Translation unmöglich machen. Die Infrastrukturen der Bürokratien geben den Rahmen für die Optionen und die Auswahlprozesse vor. Wie in anderen Bereichen auch gilt hier: Je differenzierter die Aufteilung, desto schwieriger wird der Umgang mit Kategorien. Kategorisierungen folgen dem Prinzip der Ökonomie. Die von Antragstellenden gesprochene Arabischvarietät ist für die instrumentelle Bearbeitung von Informationen irrelevant. Informationsmaterial, Formblätter usw. werden auf ›Arabisch‹ erstellt, worunter sämtliche Varietäten subsumiert werden. Wenn eine nationalsprachliche Bestimmung nicht möglich ist und eine anerkannte ›Standardsprache‹ fehlt, muss eine Variante gewählt werden, die dadurch indirekt zum Standard erhoben wird (z.B. ›Kurmanci‹ zu ›Kurdisch‹). Die bürokratisch motivierte Tendenz zur Versämtlichung bedeutet aber nicht, dass durch sie verschwundene Differenzierungen nicht relevant werden können: Wenn im Rahmen von Asylverfahren die Glaubwürdigkeit der Antragstellenden in Bezug auf ihre Herkunftsregion überprüft werden soll, erhält die Unterscheidung der Varietäten selbst Informationswert: Sie steigt in der Relevanzhierarchie der Unterscheidungen auf. Welche Sprachen für die Translation zur Verfügung stehen, ist aus der Perspektive der Humandifferenzierungsforschung insofern relevant, als 143

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diese Sprachgemeinschaften konstruieren und vorgeben, wie Sprechende adressiert werden. Zum Beispiel arbeiten Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende in Deutschland mit Listen über ihre Herkunftsländerzuständigkeiten, die mit der Bereithaltung von Translationsdienstleistungen in Verbindung stehen. Besonders interessant sind hier die Residualkategorien, die auf die generelle Logik von Klassifikationssystemen hinweisen. Star/Bowker (2007: 274) beschreiben sie als Zwischenkategorien und Sammelplätze für Übriggebliebenes. Residualkategorien durchkreuzen die Logik der Klassifikationsstringenz durch ihren unbestimmten, ambigen Status. In Hamburg gibt es zum Beispiel die Kategorien »sonstige afrikanische Staaten« und »sonstige asiatische Staaten«. Die Hamburger Sozialbehörde subsumiert analog hierzu »verschiedene afrikanische Sprachen«, und es werden Sprach- und Kulturmittelnde für »sonstige afrikanische Sprachen« gesucht. In Trier gibt es neben »staatenlos« und »ungeklärt« sogar die Kategorie »sonstige australische Staaten« (FRSH 2016). Man kann an diesem Lapsus sehen, wie stark Asylbehörden Sprachen mit Staaten identifizieren und welche Wirkungsmacht Klassifikationssysteme haben: Die Systematik listet die folgenden »sonstigen«-Kategorien: 199 Sonstige europäische Staaten/299 Sonstige asiatische Staaten/399 Sonstige amerikanische Staaten/499 Sonstige afrikanische Staaten/599 Sonstige australische Staaten. Es fehlen noch »sonstige antarktische Staaten«, die die Ordnungszahl 699 bekämen. Es liegt auf der Hand, dass die Zuordnung von Sprechenden in die vorgegebenen Kategorien stark von ihrer Selbstzuordnung abweichen kann. Die translationsvorbereitende Homogenisierung von Sprache steht im Kontrast zur Wandelbarkeit von Sprachbiographien, zu heteroglossen Repertoires und zu leiblichen und emotionalen Aspekten individuellen Sprechens (Busch 2010: 21; vgl. Nassenstein in diesem Band).7 Der Einsatz einer Sprache kann eine politische Bedeutung haben (»Ich spreche Katalanisch«), ebenso der Verzicht darauf, wie im Fall der algerischen Schriftstellerin Assia Djebar, die in ihrem literarischen Schaffen zehn Jahre pausierte, um nicht in der Sprache der Kolonialherren zu schreiben. Es können traumatische Erlebnisse und starke Emotionen mit der Sprachwahl verbunden sein, wie im Fall von Juden, die nach dem Holocaust 7 Die Kehrseite der Homogenisierung ist die Teilung von Sprachen, die aus linguistischer und pragmatischer Sicht nicht erforderlich wäre. Die deutschen Behörden listen Dari als Nationalsprache für Menschen aus Afghanistan und Farsi für Iraner. Linguistisch sind beide dem Neupersischen zugeordnet und für Sprechende gegenseitig verständlich. Wenn Afghan:innen aus politischen oder persönlichen Gründen (zum Beispiel, weil sie auf der Flucht negative Erfahrungen in Iran gemacht haben) es nicht ablehnen, arbeiten Farsidolmetscher:innen häufig für sie – von denen sich viele für beide Sprachen zertifizieren lassen.

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auf ihre deutsche Muttersprache verzichtet haben (Hass 1996: 61). Derartige Aspekte werden höchstens bei gedolmetschten Therapiesitzungen oder expliziten Äußerungen von Autor:innen thematisch.8 Im bürokratischen und alltagsweltlichen Umgang stehen sie im Hintergrund, da sie für den Zweck der Verständigung in der Hierarchie der Funktionen von Sprache und Translation vergleichsweise uninteressant sind. Die Orientierung und Verständlichkeit suchende Fremdkategorisierung von Sprachen fällt notwendig grobschlächtiger aus als die fluide, idiosynkratische Selbstkonstitution von Sprachgemeinschaften.

3. Verständigung, Transfer, Vertretung In der auf Verständigung ausgerichteten Translation ist ihr Vermittlungscharakter in der Regel nicht sichtbar, was vor allem für die schriftlichen Translationsformen gilt, bei denen die Rezipient:innen oft nicht bemerken, dass der ihnen vorliegende Text ein Translat ist. Diese mediale »Unsichtbarkeit«, die Heller (2013) auf Heidegger aufbauend als »performative Unauffälligkeit« bezeichnet, stellt eine Struktureigenschaft von Translation und eine Bedingung für ihr Funktionieren dar. In der postessenzialistischen Translationswissenschaft, die den machtblinden Äquivalenztheorien mit Forderungen nach translatorischer Sichtbarkeit begegnen, wird dies häufig übersehen. Die Kritik postkolonialer Ansätze richtet sich vor allem auf die Rolle, die Translation in kulturhegemonialen Ideologien spielen kann. Durch die Priorisierung von Flüssigkeitsstrategien im Übersetzen (»klingt wie ein Original«, »ist eine flüssige Übersetzung«) würden sprachliche, ästhetische und kulturelle Differenzen nivelliert, und Lesenden würde ein wichtiger Teil der Fremdheitserfahrungen vorenthalten, die übersetzte Literatur bereithält (Venuti 1995). Das Plädoyer für die Sichtbarmachung der translatorischen Signatur weist den medialen Charakter von Translation zurück und interessiert sich nicht für alltägliche Translationssituationen, in 8 Tribe/Morrissey (2003) zeigen, wie die Varietäten des Französischen bei Geflüchteten aus afrikanischen Ländern in Asylanhörungen zu negativen Entscheidungen führen können, wenn Dolmetschende nicht in der Lage sind, die Besonderheiten z. B. des kongolesischen Französisch zu erkennen (2003: 207). Patel (2003) führt an, wie manche Geflüchtete in der Therapie als »silenced« auftreten, da sprachliche Zugehörigkeit selbst ein Ausgangspunkt und Grund für Foltererfahrungen sein kann. Papadopoulos (2003) thematisiert dolmetschende Therapeuten und die Relevanz soziokultureller Faktoren wie z.B. Bildungshintergrund, Zugehörigkeit zur gleichen Sprachgemeinschaft wie die Klient:in sowie die Rolle eigener Erfahrungen mit der Sprache von Flucht und/oder Folter.

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denen nichtliterarische Textsorten und multimodale Kommunikationsformen zum Einsatz kommen.9 Denn während grammatische Interferenzen, die eine ›fremde‹ Sprachstruktur durchscheinen lassen und die Lesbarkeit erschweren, in einer Lyrikübersetzung einen Reflexionsprozess anstoßen können, sind sie in einer Verdolmetschung bei Gericht eher hinderlich. Wenn die Translation einen Botencharakter hat, bedeutet dies allerdings auch, dass die Transparenz mit dem Potenzial einer Unterbrechung dieser Transparenz einhergeht. In der analytischen Trennung von instrumentellen und symbolischen Formen der Translation ist diese Duplizität von Transparenz und Opazität (Krämer 2008: 337) zu berücksichtigen. Sie bedeutet, dass ›randständig‹ wirkende und zunächst der Verständigungsbemühung nachgeordnete Aspekte (nonverbales Verhalten, Stimme, Kleidung der dolmetschenden Person, Typographie usw.) eine Spur (Derrida) bzw. einen semantischen Überschuss (remainder, Lecercle 1990) erzeugen können, der sich auf die ›Botschaft‹ auswirkt und unvorhergesehene Sinneffekte erzeugt (vgl. Dizdar 2014). Die mediale Funktionsweise von Translation, bei der die Überwindung von Kommunikationshürden im Vordergrund steht, wird von einer weiteren zentralen Prämisse gestützt, nämlich der Transferannahme. Sie besagt, dass Translation aus einer iterativen Realisierung besteht, in der Zeichenbedeutungen in als äquivalent angenommenen Zeichengestalten übertragen werden. Translation ist ein Wiedersagen, eine interlinguale Paraphrase, eine »Reproduktion«; ihr kommt ein mimetischer Charakter zu, was für ihre mündlichen und schriftlichen Formen gleichermaßen gilt. Ein Großteil der translationswissenschaftlichen Begriffsdiskussion kreist um die Frage nach der Beschaffenheit dieses Transfers und nach Formen der Ähnlichkeitsbeziehung. Der Gegenstandsbereich ist im Laufe der Disziplingeschichte beträchtlich gewachsen, womit auch eine starke Diversifizierung der Transfervarianten einhergegangen ist. Neben intralingualer Translation (z. B. Übersetzen in Leichte Sprache) spielen heute multimodale Formen, vor allem auch die maschinelle Übersetzung, eine wichtige Rolle, für die der Transfer anders beschrieben werden muss als beim Dolmetschen, etwa in Katastrophensituationen. Auch beim Literaturübersetzen stehen andere Aspekte im Vordergrund als bei der Übersetzung von juristischen oder wissenschaftlichen Texten. Ob als Transfer oder als eine Operation der »geregelten Transformation« (Derrida 1986: 58) 9 Die Translationswissenschaft hat sich umfangreich mit der translatorischen Signatur und Stimme befasst und bezüglich der Strategien, die Übersetzer anwenden, um sich ideologisch oder ästhetisch von dem Autor des Originals abzugrenzen, Ergebnisse vorgelegt (Stimme/Voice, vgl. Hermans 1996; Munday 2008). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Forschung zu Neuübersetzungen, wo auch Distanzierungsstrategien gegenüber Autoren voriger Übersetzungen beobachtbar sind.

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verstanden, Translation folgt stets einer bestimmten Systematik, sie erfolgt nicht willkürlich. In Anlehnung an Toury (1980) ist es für die hier entwickelte Perspektive sinnvoll, die Annahme eines erfolgten Transfers als eine Zuschreibung durch die Interaktionspartner:innen zu fassen. Es interessiert hier weniger, ob etwa einem als Translat deklarierten oder als solches genutzten Text tatsächlich ein Ausgangstext vorausgegangen ist. Diesen zu identifizieren ist nicht nur für die Translationsgeschichte oft eine Herausforderung; auch die multilinguale Textproduktion in Unternehmen und der EU bringt das Verhältnis von Vor- und Nachzeitigkeit von als Übersetzungen präsentierten Texten und ihren »Originalen« durcheinander. Die Transferunterstellung ist hier vielmehr vor allem interessant, weil sie eine Doppelung von Zuschreibungen hervorbringt: Wenn zwei Menschen nebeneinanderstehen und abwechselnd so sprechen, dass es jeweils für einen Teil der Zuhörenden unverständlich ist, wird von den Hörenden in der Regel unterstellt, dass die zweite Person das Gleiche sagt wie die erste. Da aber die Sprecher:innenposition geteilt ist, entstehen leicht Unsicherheiten, was die Zuordnung von Aussagen betrifft. Wer ist mit »wir« gemeint? Stammt die nicht korrekte Verwendung einer Anrede von der Vortragenden oder der Dolmetscherin? Akzente werden, wie die Stimme, in der Regel als körperliche Eigenschaften der sprechenden Person verstanden, während semantische Inhalte dem »Original« zugeordnet werden. Die Transferunterstellung macht gezielte Manipulation möglich, wie es bei Zensur oder bei ideologischen Eingriffen in Übersetzungen der Fall sein kann: Es bedarf einer translationsanalytischen Anstrengung auf Grundlage eines Textvergleichs, um festzustellen, dass eine in der AKP-Regierungszeit entstandene Übersetzung von Saint Exupérys Der kleine Prinz ins Türkische einen im Original nicht enthaltenen zusätzlichen Abschnitt über die Grausamkeit des Staatsgründers Atatürk enthält. Die Annahme eines Transfers kann sogar gänzlich eine Illusion sein, wie in der Szene aus dem Benigni-Film Das Leben ist schön (1997), in der ein Vater in einem Konzentrationslager die Lagerregeln, die der SS-Mann vorträgt, für seinen kleinen Sohn in die Regeln eines lustigen Spiels »dolmetscht«, ohne Deutsch zu verstehen. Des Weiteren ist für die Humandifferenzierungsforschung die mit dem medialen Charakter und dem Transferanspruch verbundene Vertretungsfunktion interessant, die Translate und dolmetschende Menschen oder Maschinen übernehmen. Die deutsche Übersetzung eines Pamuk-Romans lesen lediglich Translationsexperten als einen Text von Gerhard Meier. Sie vertritt den türkischen Text quasi in seiner Abwesenheit und gewährt den Lesenden Zugang zu ihm. Dolmetschende sprechen im Namen von anderen – in ihrer Ausbildung lernen sie, die Sätze der Vortragenden in direkter Rede, also in der ersten Person Singular, zu formulieren. Wer als Dolmetscher:in auftritt, verspricht, als Sprecher:in zurückzutreten 147

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und die Position einer anderen Person einzunehmen. Handelt es sich um einen Einsatz im (bilateralen) Gesprächsdolmetschen, wechselt diese Position hin und her, wie bei Schauspielern, die auf der Bühne in verschiedene Rollen schlüpfen.10 Für dieselbe Person kann die Dolmetscher:in Kompliz:in und Kontrahent:in zugleich sein (Bahadır 2010, 2021a). Die Angewiesenheit der beteiligten Akteure auf die Dolmetschleistung bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, diese Leistung zu kontrollieren, und die Seitenwechsler-Eigenschaften der Dolmetschenden machen sie zu ambivalenten und fragwürdigen Figuren, die in der Geschichte mit Schmuggler:innen und Verräter:innen in Zusammenhang gebracht wurden. Auch in der Gegenwart werden Translatoren verfolgt, verurteilt und getötet (Ledwidge 2011: 197). Anders als bei gedolmetschten Interaktionen treten Ausgangstextautor:in und Translator:in in schriftlichen Formen der Translation selten gemeinsam in Erscheinung. Ausgenommen sind zwei- oder mehrsprachige Texte wie Gebrauchsanweisungen, Internetseiten oder sprachdidaktische Literatur. Für methodologische Zwecke erscheint es sinnvoll, mehrsprachige Texte, deren Genese unklar ist, die aber in alltagspraktischen Zusammenhängen gemeinsam auftreten und mit einer ähnlichen Funktion versehen sind, als Translationen in den Blick zu nehmen. Dies ist vor allem für die Beantwortung der Frage wichtig, wie durch den Einsatz heterolingualer Texte sprachbezogene Humandifferenzierung erfolgt. Ein ähnliches Format oder der gleiche Erscheinungsort (ausgelegte Formulare, nebeneinander hängende Plakate) liefern zum Beispiel Hinweise dafür, dass eine Ähnlichkeitsbeziehung intendiert ist oder von den Beteiligten angenommen wird. Solche Texte können als Translate untersucht werden, ohne dass notwendigerweise die Frage nach dem »Ausgangstext« oder »Transfer« beantwortet werden muss. Aus translationswissenschaftlicher Sicht mag dieser methodische Kunstgriff kühn anmuten, schließt aber einerseits an Tourys Konzept der Pseudotranslation an (Toury 1980), das es ermöglicht, Texte, die als Übersetzungen präsentiert werden, obwohl sie ›Originale‹ sind, als Translate zu untersuchen, sowie an den deklarativen Ansatz von Hermans (1999), der das Beispiel autorisierter Texte anführt, die zu Äquivalenten erklärt werden (»equivalence is declared, not found«). Andererseits nutzt es die Perspektive des Linguistic Landscaping, das sich mit Sichtbarkeit, Funktion und Rahmung von Sprache und Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum befasst (vgl. Landry/Bourhis 1997), um einen weiteren Schritt in der Überwindung 10 Dolmetschende haben mit Schauspieler:innen gemeinsam, dass sie »zwischen sich und der Existenzform eines Anderen vermittel[n]«. In Dolmetschsituationen ist jedoch die Möglichkeit einer »intellektuellen Reflexionssteigerung« bezüglich der Illusionserzeugung, die im Theaterrahmen entsteht, kaum gegeben (Kreuder 2017: 241).

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des philologischen Bias in der Translationswissenschaft zu gehen und den Umgang mit Sprachdifferenz in alltagsweltlichen Zusammenhängen in den Blick zu nehmen.

4. Die Konstruktion von Translationsadressat:innen Translation konstruiert einzelne Menschen oder Menschengruppen als Adressierte, indem sie sie auf eine für sie verständliche Weise ansprechbar macht. In einer heterolingualen Sprachgemeinschaft stellt die Indizierung eines Bedarfs nach oder des Einsatzes von Translation Menschen als Translationsbedürftige heraus.11 Für Geschäftsleute oder Diplomat:innen ist die Anwesenheit von Dolmetscher:innen ein Statussymbol, das sich nicht jeder leisten kann. Hingegen kann der Einsatz von Übersetzungsmaschinen als Geringschätzung empfunden werden, etwa wenn Politiker:innen sie verwenden, um Corona-Informationen in Tweets an sprachliche Minderheiten adressieren zu können.12 Eltern werden auf dem Informationsabend einer Schule vielleicht lieber auf ein Translationsangebot verzichten – um nicht als Fremde aufzufallen und mögliche Inferenzen zu vermeiden (geflüchtet, integrationsunwillig, ungebildet usw.). Während auf der einen Seite alle Menschen in der globalisierten Welt Translation nutzen und durch Google Translate, DeepL oder babelfish ihre einfache und maximale Verfügbarkeit gegeben ist, die die Relevanz von Sprachdifferenz in vielen alltäglichen Situationen minimiert (Rozmyslowicz 2019, 2020), ist ihre Bereitstellung auf der anderen Seite in vielen Bereichen und Situationen, in denen der Bedarf durchaus bestünde, nicht vorgesehen. Institutionalisierte Kommunikationssituationen orientieren sich an der Mehrheitsgesellschaft und an der ihr entsprechenden Sprachnormalität. Dieser Umstand spiegelt sich in der Organisation der translationsbezogenen Abläufe und der (Nicht)Verfügbarkeit der sie tragenden symbolischen und materiellen Artefakte wider. Die meisten Museen sind für Sehende konzipiert, der Zugang für Blinde durch Audiodeskription erfordert nachträglich einen zusätzlichen, logistischen Aufwand; in kaum einem deutschen Gerichtssaal befinden sich Dolmetschkabinen (in Konferenzräumen von Businesshotels schon), und Krankenkassen sehen kein Vergütungssystem 11 Was sie auch als ›integrationsunwillig‹ erscheinen lassen kann: Siehe den von Schäffner analysierten Diskurs in Großbritannien über die steigenden staatlichen Kosten für Translationsleistungen, die von Migranten in Anspruch genommen werden (Schäffner 2008). 12 So ist zumindest aus den Reaktionen auf einen Tweet des Wiener Bürgermeisters Michael Ludwig zu schließen: ‹https://twitter.com/oliverastajic/ status/1335942963248173059?s=24›.

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für Dolmetschdienstleistungen vor. Die Auffälligkeit von Translationsbedürftigen hängt mit einer solchen Ausnahmelogik zusammen. Sie sind wie Gehbehinderte, die eine Krücke benötigen. Auf der anderen Seite des Kontinuums der Translationsadressat:innen befinden sich diejenigen, die die für sie erstellten Translate nicht benötigen oder nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Ein Beispiel dafür ist die Translationspolitik der Europäischen Union, die sich die Mehrsprachigkeit und die Gleichstellung ihrer Amtssprachen auf die Fahne geschrieben hat. Sie versucht, eine Einheit in der Diversität (Europamotto: »In Vielfalt geeint«) über Translation sicherzustellen. EU-Verordnungen und Rechtsdokumente werden in allen 24 Amtssprachen veröffentlicht. Außerdem sieht die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vor, dass EU-Bürger:innen in einer der 24 Sprachen mit den Organen der EU korrespondieren können, und die Parlamentstagungen werden in alle Amtssprachen gedolmetscht (Europäische Union 2020). Besonders beachtenswert an diesem Fall ist, dass die EU die übersetzten Rechtsdokumente nicht als Übersetzungen ausweist, und daher offiziell von einer »Veröffentlichung in allen Amtssprachen«, nicht von Übersetzungen, die Rede ist. Aus Sicht der EU sind alle Bürger gleichermaßen (nicht) translationsbedürftig. Sie verbindet die Pflege der Sprachenvielfalt und das Bemühen um die sprachliche Gleichbehandlung der Bürger:innen mit dem Versuch, die Angewiesenheit auf Translation nicht als Ausnahmefall zu begreifen. (Nicht-)Verfügbarkeit von Translation kann also eine anerkennende oder abweisende Geste gegenüber bestimmten Gruppen von Sprechenden, ihr Einsatz mehr oder weniger auffällig und relevant für die weitere Kategorisierung von Menschen sein. Die Gebärdensprachdolmetscher:in, die die lautsprachlich dargebotenen Informationen in der Bildschirm­ ecke bereitstellt, macht deutlich, dass die Gehörlosen zu den intendierten Adressat:innen der Nachrichtensendung gehören. Dass Wahlmaterial in den USA in über 20 Sprachen vorliegt (US Census Bureau 2016), ist eine Bemühung um politische Partizipation und Egalität. Dass die Führerscheinprüfung in Österreich nun nicht mehr auf Türkisch belegt werden kann, dafür aber auf Englisch, Slowenisch und Kroatisch, stattet bestimmte Sprachzugehörigkeiten mit Übersetzungsprivilegien aus. Wenn Translation als Mittel der Inklusion und gesellschaftlichen Teilhabe eingesetzt wird, markiert sie in einer Art performativem Widerspruch zugleich die Differenz zwischen jenen, die auf Translation angewiesen sind und jenen, die es nicht sind (vgl. Bahadır 2021b) und zwischen jenen, denen Translation gestattet wird, und jenen, denen sie nicht gestattet wird.

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5. Steigerung der Agentivität und Partizipation Ähnlich einer Prothese erweitert Translation den Handlungsraum des Menschen und ermöglicht Autonomie, wie es beim Einsatz von Übersetzungsmaschinen der Fall ist. Das Delegieren der Kommunikation an eine (menschliche oder maschinelle) Übersetzer:in bedeutet aber, dass die Sprechenden die Kontrolle über ihre Selbstdarstellung verlieren, weshalb Menschen oft auf Translation verzichten. Eine Interview­partner:in gibt an, sie ziehe es vor, in der Kommunikation mit Behördenvertreter:innen Englisch zu sprechen, auch wenn ein Dolmetscher zur Verfügung stünde. Ihr fließendes Englisch nutzt sie als Gegengewicht in einer asymmetrischen Kommunikationssituation und verzichtet auf eine Delegation ihrer Agentivität. Indem sie ihre Kommunikationspartnerin, deren Englischkenntnisse geringer sind, in Verlegenheit bringt, kehrt sie die Asymmetrie gewissermaßen um. Sie wirkt so ihrer Fremdzuordnung entgegen, ist keine Sprachunkundige mehr, weist auf ihren Bildungsstand hin und wehrt sich gegen die Nivellierung der Differenz zu anderen arabischsprachigen Geflüchteten und eine auf sprachbezogene Humandifferenzierung aufbauende Kette von Inferenzen (sozialer Status, Bildungsstand usw.). In heterolingualen Kommunikationssituationen, in denen die Möglichkeit, auf eine Drittsprache auszuweichen, nicht besteht, stellt Translation die einzige Möglichkeit dar, anderssprechenden Menschen den gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen und Rechten zu gewähren. Besonders virulent wird dies in Kommunikationszusammenhängen, in denen existenzielle Fragen verhandelt werden: Gespräche bei Behörden, vor Gericht oder bei Ärzt:innen, wo über das Bleiberecht oder einen medizinischen Eingriff entschieden wird. In der Sprachgerechtigkeitsforschung wird Translation als ein derivates Sprachrecht beschrieben, das eine Voraussetzung zur Wahrnehmung übergeordneter Rechte darstellt (Vgl. Rubio Marín 2007): Die Verdolmetschung in einem Gerichtsverfahren ist Voraussetzung für ein faires Verfahren, die Translation im Krankenhaus sichert die informierte Einwilligung in einen Eingriff und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. In der Rechtsprechung wird jedoch nach Einsatzfeldern und Kategorien von Translationsbedarfsträger:innen unterschieden. Zum Beispiel haben hörbehinderte Menschen nach dem Sozialgesetzbuch (§ 17 Abs. 2 SGB I) das Recht, bei der Ausführung von Sozialleistungen, ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen die Gebärdensprache zu verwenden. Die für Sozialleistungen zuständigen Leistungsträger:innen sind hier zur Übernahme der Kosten verpflichtet, während eine vergleichbare Regelung für Patient:innen, die der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sind, fehlt. Für Strafverfahren hingegen gibt es seit 2010 eine Richtlinie (2010/64/ 151

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EU) über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen. Die Gesetzgeber:in humandifferenziert hier also in Bezug auf die Art der Kommunikationshürde und die Beschaffenheit der Fremdsprache der Sprechenden (Translation in Gebärdensprache und Leichte Sprache vs. interlinguale Translation in differente Lautsprachen) und damit indirekt zwischen In- und Ausländer:innen, zwischen normal und behindert sowie hinsichtlich der Kommunikationsfelder. Während Beschuldigte und Zeug:innen translationsberechtigt sind, trifft dies für Patient:innen nicht zu (die selbst für die Verständigung sorgen und wenn nötig die Kosten übernehmen sollen). Die Bereitstellung von Translation durch den Staat steht im Zusammenhang mit seinen Interessen und den Interessen seiner Institutionen. Als im März 2020 die Corona-Pandemie ausbricht, rückt die Bedeutung der Mitwirkung aller Gesellschaftsmitglieder für die Wahrung der öffentlichen Gesundheit in den Vordergrund. Dafür muss die Informierung und Aufklärung in möglichst vielen Sprachen, die in Deutschland gesprochen werden, erfolgen. In einem rasanten Tempo veröffentlichen Bundes- und Landesbehörden sowie NGOs mehrsprachiges Informationsmaterial. Die Bewohner von Asylunterkünften und ausländische Lohnarbeiterinnen geraten als potenzielle Risikoträger ins Visier und werden zu Translationsadressatinnen, deren Partizipation an den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ein öffentliches Interesse darstellt. Daran zeigt sich, dass Gesellschaften die Heterolingualität ihres Personals mitunter erst einmal entdecken und feststellen müssen, dass ein Teil ihrer Population bisher von der Partizipation an gesellschaftlich relevanten Kommunikationen ausgeschlossen war. Unter Pandemiebedingungen werden dann selbst hartgesottene Monolingualist:innen zu der Einsicht in die Notwendigkeit von Translation gezwungen.

6. Die politische Wirksamkeit sprachbezogener Humandifferenzierung Am 10. Juli 2020 verkündete der türkische Staatspräsident Erdoğan in einem Video über seinen offiziellen, englischsprachigen, Twitter-Account den Beschluss darüber, dass die Hagia Sophia als »Großmoschee« für das islamische Gebet wieder geöffnet werde. Es folgte auf Twitter eine schriftliche Mitteilung mit dem Siegel und der Unterschrift des Staatspräsidenten. Übertitelt ist diese Meldung mit einem Zitat aus dem eingebetteten Text: »Hagia Sophia’s doors will be, as is the case with all our mosques, wide open to all, whether they be foreign or local, Muslim or non-Muslim.« (Turkish Presidency 2020) Auf Erdoğans persönlichem Twitter-Account erschien neben einer türkischen Botschaft zu diesem Anlass außerdem noch ein arabischsprachiger Text. Der in der 152

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englischen Version beteuerten Offenheit und Inklusion steht dort die Aussage gegenüber, die Hagia Sophia sei ein Zeichen der Rückkehr zur Al Aqsa Moschee und das Ereignis ein Gruß an alle Städte, die »unsere Zivilisation« symbolisierten – »von Bukhara bis Andalusien« (vgl. Moussa 2020). Die so gesteuerte internationale Berichterstattung über die Umwidmung der Hagia Sophia liefert ein besonders augenscheinliches Beispiel dafür, wie auf Sprache bezogene und sprachlich vollzogene Differenzierungspraktiken in politischen Zusammenhängen Adressierte (und Sprechende) konstruieren und über deren Zugehörgkeit zu einer Sprachgemeinschaft weitere Zuordnungen (religiös, weltanschaulich, politisch) vornehmen oder unterstellen können. Translationswissenschaftlich interessant wird dieser Fall vor allem durch die Nebeneinanderstellung der beiden Texte im gleichen Medium und Layout, die sie als Varianten ein und desselben Textes erscheinen lässt und die Differenz zwischen ihnen beobachtbar macht. Einen vergleichbaren Fall sprachbezogener Humandifferenzierung liefert der Inhaber einer McDonalds-Filiale in Mannheim. Als diese schließt, hängt er Schilder zu den nächstgelegenen Restaurants auf Deutsch und Türkisch an die Tür, um die Kunden auf Alternativen hinzuweisen. Das auf dem türkischsprachigen Schild empfohlene Lokal ist ein anderes als auf dem deutschsprachigen. Während die türkischsprechenden Adressierten in ein Viertel geschickt werden, das als sozialer Brennpunkt bekannt ist, verweist das deutschsprachige Schild auf ein Lokal im gehobenen Einkaufsviertel (Goldapp 2017), was eine Diskriminierungs-Debatte entfacht. Während bei diesen beiden Fällen eine mehr oder weniger bewusste Nutzung des politischen Potenzials translatorischer Humandifferenzierung vorliegt, kann es auch zu ihrer nachträglichen Politisierung kommen: Die Übersetzung der deutschen Verpackungsaufschrift einer österreichischen Milchmarke ins Türkische sollte aus Sicht des Unternehmens nur ein neues Marktsegment erschließen. Das Sortieren und Übersetzen folgte hier der Logik des ökonomischen Feldes. Diese Maßnahme stieß aber bei offenbar patriotisch Gesinnten auf empörte Gegenwehr, die die türkische Etikettierung als »Einbetonierung« von »Parallelwelten« deuteten und befürchteten, Türkisch könne noch zur Amtssprache in Österreich werden.13 So wurde Translation entgegen den Intentionen ihrer Veranlasser zu einem Politikum. Wem steht welche Sprache zu? Was darf durch wen und für wen übersetzt werden? Dies sind Fragen, die eine humandifferenzorientierte Translationsforschung stellen muss. Und es gibt sogar Beispiele für einen Translationszwang in Form einer Verweigerung des Originalitätsstatus: Victor Klemperer notierte in seinem Tagebuch 13 Vgl. https://www.krone.at/217084.

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(Lingua Tertii Imperii, 1947) eine Beobachtung über den Aushang der »12 Thesen wider den undeutschen Geist« an deutschen Universitäten im Jahre 1933. Deren siebte forderte dazu auf, deutsche Publikationen von ›jüdischen‹ Autoren als ›Übersetzungen‹ aus dem Hebräischen zu kennzeichnen. Das Label ›Übersetzung‹ diente hier – darin der Funktion des Judensterns ähnlich – als sichtbares Zeichen der Unzugehörigkeit. Dass die humandifferenzierenden Eigenschaften der Translation politisch bewusst genutzt werden können, lässt sich auch aus historischer Perspektive gut beobachten. Translation ist in der Konstruktion von nationalen, ethnischen und religiösen Gemeinschaften wirksam. In historischen Prozessen des Nation Building fungiert sie als Geburtshelfer (Cary 1962) und nimmt in der Ausgestaltung von Nationalsprachen und -kanons eine zentrale Rolle ein (Dizdar/Gipper/Schreiber 2014), wie gegenwärtig etwa auch am Fall von Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Slowenisch und Montenegrinisch beobachtet werden kann. Translation wird eingesetzt, um Integrationsprozesse zu steuern und Identitätspolitik zu betreiben, sie kann Zusammenhalt schaffen und zu gesellschaftlichen Antagonismen beitragen. Im Fall der Übersetzung heiliger Texte sind Translate für die Erweiterung oder Konsolidierung religiöser Gemeinschaften im Einsatz. Sie können Agenten hegemonialer Interessen oder des Widerstands gegen solche werden. Gemeinschaften nutzen sie als Schauplatz für den Kampf um fremd- oder selbstbestimmte Zugehörigkeiten, wie es in der feministischen Translation oder bei Translationsbewegungen in postkolonialen Kontexten der Fall ist (Niranjana 1992: 16–18). In diesen Zusammenhängen, in denen Translation auf eine regelverändernde Neuerung und die Konstruktion, Erweiterung oder Abgrenzung von Gemeinschaften abzielt, wird ihr politisches Potenzial besonders deutlich. Subtiler wirkt diese in alltagsweltlichen Zusammenhängen, in denen Translationsprozesse die Informationsgesellschaft durchdringen und für die öffentliche Meinungsbildung eingesetzt werden, so etwa in der internationalen Berichterstattung und der Lokalisierung von Texten der Nachrichtenagenturen.

7. Schlussbemerkungen Die Differenzierung nach Sprachgemeinschaften kann je nach Situation und Relevanz unterschiedliche Aggregatzustände annehmen. Im urbanen Alltag von Metropolen sinkt die Wahrnehmung von Sprachdifferenz unter die Aufmerksamkeitsschwelle und gibt kaum Anlass zur Sortierung von Sprechenden. Sie erzeugt selten einen manifesten Translationsbedarf. Entsteht ein solcher doch, hat Translation kontextabhängige Funktionen und Effekte. Wenn Touristen mithilfe von Übersetzungsmaschinen nach dem Weg fragen, hat die Kategorisierung von Sprechenden 154

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einen ephemeren Charakter und bleibt relativ folgenlos. In bürokratischen Zusammenhängen hingegen, etwa in Asylverfahren, werden Personen sprachlich »festgestellt« (im doppelten Sinne des Wortes), um Zugehörigkeiten zu ermitteln und Kommunikation sicherzustellen. Diese Fremdzuordnungen durch Bürokratien können folgenreich sein. Sprachdifferenz ist also nicht gleich Sprachdifferenz. Sie bedeutet nicht in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen dasselbe. In der Wirtschaft sind Sprachgemeinschaften Zielgruppen und die Translation ein Instrument, diese zu erreichen. In der Politik stellen sie, je nach Sprach- und Translationsregime, eine potenzielle Wählerschaft dar und die Translation ein Instrument zum Stimmenfang. In einer Pandemie wird Translation zum Instrument der öffentlichen Gesundheit und Compliance. Translation hat politische Effekte. Einzelne Personen, wie der türkische Staatspräsident, oder Institutionen, materielle und symbolische Infrastrukturen sind an translatorischen Humandifferenzierungsprozessen beteiligt. Translate und Translatoren können in historisch beobachtbaren Langzeitprozessen und situativen Konfigurationen zu Agenten der Humandifferenzierung werden. Translation konstruiert Adressierte, die als Translationsbedürftige oder als Translationsprivilegierte und nach vorgegebenen Einzelsprachen sortiert werden. Dabei kann die Differenzierung von Lauten und Artikulationsmustern eine Rolle spielen, ebenso können aber Unterschiede zwischen Varietäten, die von großen Sprachgemeinschaften gesprochen werden, nivelliert werden. Neben ihrer Funktion als Verständlichmacherin erfüllt Translation symbolische Funktionen. Diese sind dort besonders gut zu beobachten, wo Translation sich an Sprechende richtet, die sie für die Verständigung nicht benötigen. Symbolisch wirken kann Translation in unterschiedlichen Feldern. Ihr Einsatz kann für identitätspolitische Zwecke, Aktivismus und für die Indizierung eines partizipativen Umgangs mit Bürger:innen stehen, und er kann zu Diskriminierung und Ausgrenzung führen. Translation kann kulturelle Identitäten zuweisen oder Zustimmungsbereitschaft mobilisieren, zu gesellschaftlichen Antagonismen beitragen, soziale, sprachliche und kulturelle Grenzen ziehen und verschieben.

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Nico Nassenstein

Translinguale Praktiken als Strategien der Entdifferenzierung Afrikanistische Perspektiven auf sprachliche Hybridität 1. Humandifferenzierung und translinguale situative Performanz Differenzierungsprozesse und Entdifferenzierungsprozesse bedingen sich im Erhärten und Verflüssigen von sprachlichen Grenzen gegenseitig, und »jedes doing einer Unterscheidung trägt das undoing – die Verdrängung und Negation – anderer Unterscheidungen schon in sich« (Hirschauer/ Boll 2017: 12). In machtasymmetrischen Begegnungszusammenhängen wie beispielsweise dem Kolonialismus in Afrika wurden zahlreiche Differenzen zwischen Ethnien, sozialen Gruppierungen und Sprachen erst durch arbiträr gezogene Trennlinien geschaffen, sodann kontinuierlich konsolidiert und oftmals als gegebene Differenzen instrumentalisiert. Einige Beispiele mögen dies demonstrieren: So lässt sich beispielsweise die vermeintlich ethnische Unterscheidung zwischen Angehörigen der ugandischen Bakhonzo und kongolesischen Banande weder kulturell noch sprachlich, sondern lediglich entlang der ehemals kolonialstaatlichen und nun nationalen Grenzziehung zwischen beiden Gruppen festmachen. Das Unterscheidungskriterium der Nationalität zwischen Sprecher:innen des Kinyarwanda (der Sprache von Ruanda) und des Kirundi (der Sprache von Burundi) lässt sich wiederum weder ethnisch noch sprachlich rechtfertigen; beide Sprachen sind gegenseitig verstehbar und stehen in dialektalem Verhältnis zueinander, wurden durch missionarische Eingriffe entlang kolonialer Trennlinien jedoch zu Nationalsprachen stilisiert und symbolisieren heute zwei politisch wichtige Einzelsprachen. Im Genozid in Ruanda 1994 wiesen beispielsweise die beiden größeren ruandischen Bevölkerungsgruppen der Hutu und Tutsi weder nationale noch sprachliche, sondern lediglich einige kulturtechnisch voneinander abweichende Praktiken auf – politisierte kulturhistorische und imaginierte phänotypische Merkmale, teils kolonial verwurzelt, trugen jedoch maßgeblich zum grausamen Völkermord der einen an der anderen Gruppe bei. Die schon fast beliebig austauschbaren Beispiele zeigen, dass 160

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Prozesse wie Ethnogenese und Sprachgenese geschehen, wenn die politische Identifikation von imaginierten Gemeinschaften auf der Grundlage spezifischer Indizes gelingt (vgl. Anderson 2006), die sich letztendlich auf der Basis von geopolitischen Machtungleichheiten verfestigen (lassen). Sprachliche Fremdkategorisierungen waren und sind in Subsahara-Afrika (und anderen Teilen der Welt) dabei oft von der europäischen Sprachpolitik des 19. Jahrhunderts geprägt: Das oft monolinguale Verständnis von Sprache oder Sprecher:in, im Entstehen europäischer Nationenbildung assoziiert mit lokal fest verorteten Individuen, ist selten anwendbar auf vielsprachige Gesellschaften im Globalen Süden, lag der kolonialen Sprachpolitik jedoch in vielen Fällen zugrunde. Kategorisierungspraktiken von SprecherInnen wurden vom Globalen Norden in die kolonisierten Teile der Welt übertragen, obwohl Konzepte wie »Muttersprache«, »Erstsprache« (oder »L1-Sprache«) oder auch »Nationalsprache« wenig Passgenauigkeit aufwiesen. Auer (2017: 291) spricht hier von der essenzialistischen Bindung von Sprache an Nation, Makoni/Pennycook (2007: 1, Hervorh. im Original) bezeichnen die Prozesse gar als ›Erfindungen‹ oder Konstrukte: This […] starts with the premise that languages, conceptions of languageness and the metalanguages used to describe them are inventions. […] First, languages were, in the most literal sense, invented, particularly as part of the Christian/colonial and nationalistic projects in different parts of the globe.

Sprachen, so Makoni/Pennycook (ebd.) weiter, seien nicht nur linguistische, sondern immer auch soziale Konstrukte, wobei die Erfindung von Sprachen zudem an die Etablierung metadiskursiver Regime und an dominante Sprachideologien geknüpft sei. Kritische Verfechter eines Ansatzes, der oft als ›Repertoire approach‹ bezeichnet wird, lehnen sich an Dell Hymes’ (1964) Grundlagen der »Ethnografie des Sprechens« bzw. der »Ethnografie der Kommunikation« und an Gumperz’ Arbeiten (1965, 1972) an. Sie bestätigen zwar, dass Kategorien wie ›Sprache A‹ und ›Sprache B‹ nützliche Konzepte für Linguisten seien, angewandt auf Sprecher:innen aber denkbar unpassend, da deren sprachliche Repertoires eher einem Ressourcenpool glichen denn einem Feld getrennter Einzelsprachen. Gumperz (1972: 20– 21) beschreibt diesen als »totality of linguistic resources [...] available to members of particular communities«; später untermauert in neueren Studien wie Matras (2009) und Lüpke/Storch (2013). Während die Beschäftigung mit trennbaren und benennbaren (Einzel)sprachen immer auch impliziert, dass Sprachen grundsätzlich separierbar, zählbar und vermischbar seien, macht die Theorie von heteroglossischen kommunikativen Repertoires (rekurrierend auf Bakhtin 1981, u.a.) mehrsprachiger Sprecher:innen andere Ansätze denkbar (siehe Gumperz 1965, 161

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u.a.). An diese Idee des kommunikativen Repertoires als Totalität der sprachlichen Ressourcen einer Person, die in jeder Äußerung daher auch »unsortiert« Verwendung finden können, docken auch rezentere Studien translingualer Sprachverwendung als neue Strömungen innerhalb der Soziolinguistik maßgeblich an.1 Die Benennungen und Einordnungen emergenter hybrider Sprachpraktiken sind vor allen in urbanen Räumen divers und äußerst variabel: Während einige Linguisten entstehende Zwischensprech-Praktiken als »hybride Register« (Hurst-Harosh 2020; auch Nassenstein 2020a) bezeichnen, so haben andere (Kerswill/Wiese i.E.) für ähnliche Kontexte das Label »UCD (urban contact dialects)« vorgeschlagen. In Europa werden die rezenten urbanen Sprachpraktiken mehrheitlich migrantischer Jugendlicher oft als »Multiethnolekte« (Nortier/Svendsen 2015) beschrieben, teilweise in Verbindung mit kontrovers diskutierten Labels wie »Kiezdeutsch« (für deutsche urbane Jugendsprache, siehe Wiese 2012). Hierbei liegt die Gefahr einer »Naturalisierungsfalle« (Auer 2017: 291) nahe, hybride sprachliche Formen automatisch als Ausdruck hybrider, fluider oder ambiguer Identitäten zu werten und derartige soziale Selbstverortungen automatisch aus diesen abzulesen. Sprachliche Hybridität in Phonologie und Morphosyntax, beispielsweise, kann nach Auer (ebd.) jedoch im Gegenteil sehr verfestigte Identitäten indizieren. Im vorliegenden Beitrag soll aus einem anderen Blickwinkel vor allem auf die performative Dimension hybrider Sprache als kontextgebundenes Aufbrechen von Sprachgrenzen im Fall historisch verfestigter Fremdkategorisierungen geschaut werden.2 Sehr unterschiedliche Gründe können zu oben genannten kreativen, fluiden Mischformen von Sprache beitragen, so beispielsweise fortschreitende Urbanisierung, Ingroup-Identitätsschaffung, soziale Stigmatisierung und ökonomische Marginalisierung. Sprachliche Entdifferenzierung und das Spiel mit Ähnlichkeiten kann hier auch als Folge von oder Reaktion auf fixe Fremdkategorisierungen und historische Differenzeinschreibung gelesen werden. 1 Hier sollte keine Verwirrung aufkommen: Wie von Auer (i. E.) beobachtet, orientieren sich auch frühe Arbeiten zum Codeswitching teilweise an Gumperz’ Studien. Die Kritik an »named languages« – trennbaren, zählbaren und benennbaren Einzelsprachen (wie im 19. Jahrhundert imaginiert und dann festgeschrieben) – sei zudem nicht gleichzusetzen mit der konzeptuellen Kritik an den ›Codes‹ des Codeswitchings. Von Sprecher:innen selbst verwendete Glottonyme, so Auer, können durchaus einen emischen Zugang zu Sprachideologien bieten. 2 Hier sei angemerkt, dass Auer (2017) in seinem innovativen Beitrag Praktiken des Doing Difference beleuchtet, während sich dieses Kapitel hingegen mit Ausprägungen des Undoing Difference in Interaktionssituationen beschäftigt.

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Ausgehend von der Idee von Agentivität angetriebener hybrider Performanz wird im vorliegenden Beitrag die Hypothese aufgestellt, dass translinguale und transsemiotische Praktiken auch strategisch genutzt werden können, vor allem, wenn Sprecher:innen eng verwandter und sich stark ähnelnder Sprachen durch Assimilierung Differenzen verwischen oder verschmieren. Wie ich zeigen möchte, hat die soziale Bedeutung der Prozesse des Undoing meist mit den fest etablierten oder sich etablierenden Fremdkategorisierungen von Sprecher:innen zu tun, die auf individuellen Einschätzungen, gängigen gesellschaftlichen Diskursen oder institutionalisierten Prozessen basieren. Dabei wird es einerseits um translinguale Praktiken (siehe 2.2–2.5) gehen, die Sprachgrenzen verschieben, verwischen oder karikieren, andererseits jedoch um das intendierte Ziel des Verwischens: Hier unterscheidet der vorliegende Beitrag je nach konkreter Situation hybride Sprachpraktiken hinsichtlich strategischer Mimikry, Mimesis und aneignendem Spiel. Andererseits geht es hierbei jedoch nicht nur um Differenzabbau von Sprachen in einem empirischen Kontext in Ostafrika und um Differenzminimierung durch Verähnlichung.3 Vor allem geht es um soziale Kategorien von Sprecher:innen, auf die ein bestimmtes Sprachverhalten verweist, bzw. für die es symbolisch einsteht. Während translinguale Sprachverwendung vor allem eine Verflüssigung von Sprachgrenzen abbildet, dient diese Verflüssigung in vielen Kontexten beispielsweise der Täuschung oder Camouflage individueller Sprecher:innen, d.h. einem Verschmieren und Verwischen von Sprecheridentitäten, wobei Sprache die performative Ebene der Aushandlung darstellt. Diese Sprecheridentitäten und -rollen sind oft politisch und historisch geprägt; von Kolonialität, Migration sowie Konflikt – und oszillieren zwischen komplexen Selbstverortungen und Fremdkategorisierungen. Karrieren von verweisenden Indizes hin zu gefestigten Markern spielen hierbei eine zentrale Rolle, da Marker etablierte Kennzeichen darstellen, die soziale Zugehörigkeiten abbilden. In der Pragmatik und Ethnolinguistik ist in den letzten zwei Jahrzehnten das Konzept der Indexikalität ins Interesse der Forschung gerückt (Silverstein 1979, 2003), das ebenfalls Karrieren sich verhärtender Verweise auf soziale Images 3 Dieses konzise Kapitel stützt sich einerseits auf eine Diskussion und Sortierung theoretischer Konzepte der Soziolinguistik, andererseits auf erste empirische Daten, die während der frühen Aufenthalte einer Pilotforschung in Kampala, Uganda, gesammelt wurden. Ich danke hierbei vor allem allen Interviewpartnern und denjenigen, die die Pilotforschungen logistisch und organisatorisch möglich gemacht haben. Überdies bin ich den Kolleg:in­ nen des »Forums Humandifferenzierung« für ihre wertvollen und präzisen Kommentare dankbar, die zur Überarbeitung des vorliegenden Beitrags geführt haben. Auch die Herausgeber:innen haben maßgeblich zur besseren Verständlichkeit und Struktur dieses Textes beigetragen.

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abbildet. Das Konzept der Indexikalität geht ursprünglich auf Bar-Lillel (1954; »indexical expressions«) zurück, wonach Sprache immer relational zum Sprecher zu sehen sei: Sprache gewinnt erst konkrete Bedeutung durch den Verweis auf spezifische (außersprachliche) Kontexte. Während Labov (1972) von »indicators« spricht, die zu »markers« werden und sodann zu »stereotypes«, differenziert Silverstein (2003) die beiden Stufen »n-th-order indexical« und »n+1-th-order indexical«, wo hingegen Blommaert (2005), Johnstone u.a. (2006) und Spitzmüller (2016) die folgenden drei Abstufungen unterscheiden: 1) »observable linguistic practice (first-order indexicality)«, 2) »reflexive perception (second-order indexicality)« und 3) »ideological conceptualization (third-order indexicality)«. Für eine Anwendung dieser Modelle auf einen spezifischen soziolinguistischen Kontext, siehe auch Nassenstein (2020b), für einen Überblick siehe Johnstone u.a. (2006: 82–83) und für eine Diskussion von Indexikalität im Kontext von Humandifferenzierung vor allem Auer (2017).4 Neben der Verfestigung differenzindizierender Merkmale spielen auch semiotische Prozesse bei sprachlichen Differenzierungsprozessen eine Rolle, die von Irvine/Gal (2000) als sprachideologische Instrumente beschrieben werden, und unterschieden werden in ›iconization‹, ›fractal recursivity‹ und ›­erasure‹. Für den vorliegenden Kontext des Undoing ist vor allem erasure von Interesse, von Androutsopoulos (2007: 124–125) als ›Löschung‹ übersetzt und wie folgt definiert: »Variationsphänomene, die den Modellvorstellungen von Laien oder Experten nicht entsprechen, werden dadurch heruntergespielt, so dass Gruppen oder Sprachen als einheitlich erscheinen«. Erasure tritt also auch dann auf, wenn sprachliche Verflüssigungsperformanzen differenznegierend wirken und Indizes oder Marker verwischt werden und Indexikalität (der Verweis von Sprachpraxis auf bestimmte Personentypen) nicht länger erkennbar oder wahrnehmbar ist. Eine zentrale Frage, welcher der vorliegende Beitrag nachgeht, ist somit die nach sozialer Bedeutung translingualer Praktiken in der Interaktion, wenn diese von Sprecher:innen als Werkzeug des Undoings von Differenzen (im Sinne einer temporären Verähnlichung) eingesetzt werden.

4 In Auers (2017: 294–95) Beitrag zu Ordnungen der Indexikalität geht dieser auch auf Enkodierung ein, ein von Agha (2003) als ›enregisterment‹ betiteltes Phänomen, das Salienz bestimmter Merkmale verstärkt und ihnen eine bestimmte soziale Bedeutung zuweist. Dieser Ansatz ist im Kontext von Stereotypisierungen und Fremdkategorisierungen für eine theorieorientierte Humandifferenzierung ebenfalls von Interesse.

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2. Translinguale Praktiken: Theoretische Konzepte Die Soziolinguistik hat sich in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten nicht nur intensiv mit Globalisierungsprozessen, Migration und Mobilität auseinandergesetzt, sondern vermehrt auch mit so genannten languaging-Prozessen. Pennycook (2016) fasst diese in einem Überblickskapitel unter dem Titel »trans-super-poly-metro movement« zusammen, als Sammelbegriff von Translanguaging, Superdiversität (in diesem Beitrag nicht diskutiert), Polylanguaging und Metrolingualism, die mit Ausnahme von Superdiversität allesamt fluide Kontexte von Sprachverwendung in bestimmten Gemeinschaften jenseits von fixen Sprachabgrenzungen konzeptualisieren. Pennycook (ebd.: 202) fasst diese unter dem richtungsweisenden Schlagwort eines »Translanguaging Turn« in der Soziolinguistik zusammen, sich auf García/Li Wei (2014) berufend, die einen ähnlichen Trend beobachten. Jeder Ansatz weist jedoch, wie in den folgenden Abschnitten dargestellt, feine ideologische Unterschiede auf, die jedem neuen Schlüsselterminus eine eigene Prägung verleihen. Als geeigneter Oberbegriff für einen theoretischen Überblick bietet sich Canagarajahs (2013) »Translingual Practice« an, die dieser mit Bezug auf individuelle und kreative, sprachliche Normen übertretende Realisierungen (von Global Englishes) wie folgt beschreibt (und sowohl mündliche wie auch schriftliche Kommunikation miteinschließt); We believe that for communication to be efficient and successful we should employ a common language with shared norms. [...] We also believe that languages have their own unique systems and should be kept free of mixing with other languages for meaningful communication. I consider these assumptions as constituting a monolingual orientation to communication. [...] There is a long history of texts and talk that have meshed languages. [...] Recent forms of globalization have given more visibility to such forms of communication. Transnational contact in diverse cultural, economic, and social domains has increased the interactions between languages and language groups. Migration has involved people taking their heritage languages to new locales and developing repertoires that were not traditionally part of their community. Technological developments have facilitated interactions between language groups and offered new resources for meshing languages with other symbol systems [...] on the same »page«. (Canagarajah 2013: 1–2, Hervorh. im Original)

Während einige Autoren explizit nach den Merkmalen fragen, die Enkodierung und Zuschreibung zu bestimmten Gruppen erlauben (»Aber woher kommen die sprachlichen Merkmale, die in solchen Prozessen enkodiert werden?« Auer 2017: 294), werden im vorliegenden Beitrag nur 165

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wenige ausgewählte stilistische oder saliente sprachliche Merkmale explizit diskutiert, vielmehr liegt der Fokus auf den unterscheidbaren Strategien von Sprecher:innen in der Interaktion. 2.1 Codeswitching ›Codeswitching‹, das bei den beiden oder mehreren verwendeten Sprachen von Sprecher:innen von einer matrix language und einer embedded language ausgeht, beschreibt Interaktionen, bei denen Morpheme, Lexeme etc. als »constituents from language B [...] into a frame constituted by the rules of language A« (Muysken 2007: 320) eingefügt werden (insertional codeswitching). Bei anderen Formen des Code­ switching werden lediglich Diskursmarker eingefügt (discourse marker switching), oder ganze Satzteile lose aneinandergefügt, teils ohne grammatische Passung (alternational switching). Während die meisten Linguisten keinen signifikanten Unterschied zwischen ›Codeswitching‹ und ›Codemixing‹ machen, sehen einige den Unterschied in lediglich lexikalischen Einfügungen (mixing) in Opposition zu einem Wechsel der operativen Sprache des gesamten Satzes (switching); siehe auch Gafaranga (2007: 22–27) für eine Zusammenfassung verschiedener Positionen.5 Code­switching hat oft mit sozialen Faktoren und Gruppenidentität zu tun, wie Gardner-Chloros (2009: 5) ausführt. Myers-Scottons (1998: 231) »markedness model« geht dabei von der Markiertheit einer Sprache für bestimmte soziale Zwecke und weniger Markiertheit der anderen Sprache, da gängiges und weit verbreitetes Kommunikationsmittel, aus (ein Modell, das jedoch vermehrt kritisiert wurde). Ein typisches Beispiel für Codeswitching weist das folgende Beispiel auf, in dem die verschiedenen Elemente noch klar den beiden involvierten Sprachen Kinyarwanda (der am weitesten verbreiteten Sprache Ruandas sowie offizielle Sprache) und Französisch (der kontextabhängig dominierenden Sprache während der belgischen Kolonialzeit, heute auch wieder offizielle Sprache) zuzuordnen sind. Beide ›Codes‹ sind hierbei unterscheidbar; aus einer Codeswitching-Perspektive besteht am vorliegenden Beispiel kein Zweifel über zwei getrennte, von bilingualen Sprecher:innen verwendete Einzelsprachen.

5 Sicherheitshalber sollte an dieser Stelle angemerkt werden, dass codemixing und mixed languages nicht das gleiche Phänomen beschreiben; auch Gafaranga (2007) in seiner Studie zum Kinyarwanda macht dies nicht sehr transparent, da er teils von language mixing spricht, aber wohl auf code­ switching/codemixing rekurriert (z.B. auf S. 25).

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Beispiel (1) (aus Gafaranga 2007: 30) (unmarkiert Kinyarwanda; kursiv Frz.) A: ni mukuru (.) nta ibi bya compétivité ashyiramo B: hmm A: agakora- agatourna uko ashaka B: à son rythme A: à son rythme [A: he’s mature (.) he’s not into competition B: hum A: he works- prints as he wants B: on his own pace A: on his own pace] Im angeführten Beispiel sind sowohl insertional codeswitching (compétivité; tourn-) erkennbar als auch alternational codeswitching (à son rythme). Wie in den folgenden Abschnitten weiter ausgeführt, ist Code­ switching ein rein soziolinguistisches Phänomen, da es primär um Verschiebungen im ›Code‹ geht, also von Sprache, Dialekt oder Register, um den Wechsel von Codes in der Interaktion, wohingegen beispielsweise Translanguaging auch soziokognitive Komponenten miteinschließt: Linguisten, die sich mit Translanguaging beschäftigen, sehen sprachliche Kognition als ein integriertes Ganzes an, in dem die Person unterschiedliche Sprachen nicht trennt, wenn er/sie mit anderen Sprecher:innen kommuniziert oder aus mehrsprachigem, multimodalem Input Bedeutung zieht. Dies wird im Folgenden, verglichen mit ähnlichen Ansätzen, noch weiter ausgeführt. 2.2 Translanguaging Beres (2015: 107) führt den Begriff ›Translanguaging‹ auf Cen Williams, einen walisischen Erzieher, zurück, der diesen Mitte der 1990er-Jahre geprägt habe, als direkte Lehnübersetzung aus dem Walisischen (trawsieithu). Mit Translanguaging verband Williams vor allem eine didaktische Methode, basierend auf der »systematic alternation of two languages, so that children receive information in one language and produce a piece of work in the other language«. Als Beispiel nennt Beres, auf Williams verweisend, einen auf Walisisch gelesenen Text, der sodann auf Englisch diskutiert wird. Beide Sprachen in derselben Unterrichtsstunde systematisch alternierend anzuwenden, soll Kindern dabei helfen neues Wissen effizienter zu lernen, zu verarbeiten und auch auf der jeweils anderen Sprache zu internalisieren. Hier ist anzumerken, dass zur Zeit der Prägung von 167

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Translanguaging Englisch und Walisisch als Sprachen in direkter Opposition in Hinblick auf ihr Prestige und ihren Status galten, die Differenz also nicht hätte deutlicher sein können. Baker (2003) und in den Folgejahren auch Ofelia García (2009) siedeln das Konzept im pädagogischen Bereich bilingualer Lerner:innen an, von wo aus es sich zu einem weithin rezipierten Konzept der Soziolinguistik (und der Angewandten Sprachwissenschaft) jenseits des Klassenraums entwickelte (siehe García 2009; García/Wei 2014) und vermehrt Anwendung in Debatten von Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt gefunden hat. Während Codeswitching von getrennten Einzelsprachen in mehrsprachigen Interaktionssituationen vornehmlich bi- oder multilingualer Sprecher:innen ausgeht, versteht Translanguaging die gesamten sprachlichen Ressourcen eines Sprechers/einer Sprecherin als ein System, wobei Sprachabgrenzungen für das Individuum situativ keine Rolle spielen. García fasst zusammen: Translanguaging is the act performed by bilinguals of accessing different linguistic features or various modes of what are described as autonomous languages, in order to maximize communicative potential. It is an approach to biliangualism that is centered, not on languages as has often been the case, but on the practices of bilinguals that are readily observable in order to make sense of their multilingual worlds. Translanguaging therefore goes beyond what has been termed codeswitching, although it includes it. For me, the concept extends what Gutiérrez and colleagues have called ›hybrid language use‹, that is a ›systematic, strategic, affiliative, and sense-making process...‹ [...], which is important for all bilinguals in multilingual contexts. (García 2009: 140).

Beres (2015: 108) beschreibt Garcías Zugang zu Translanguaging vor allem auch als ein soziales Verständnis – von Individuen geprägt, die »meaning-making signs« kreativ, frei und mit ihrer eigenen Stimme (»everyone is given a voice«) verwenden, vor allem auch Minoritäten, deren Sprachen ansonsten oftmals marginalisiert sind; Translanguaging erscheint daher als hierarchiefreie hybride Sprachpraxis. Die Weiterführung und stetige Modifizierung des Konzepts adressiert Beres (ebd.: 109), der ausführt, dass andere Linguisten Translanguaging durch ihre eigenen Definitionen angereichert hätten, wie beispielsweise Canagarajah (2011), der von codemeshing spricht, Otsuji/Pennycook (2010), die zu Metrolingualism arbeiten und Li Wei (2011), der seinen Zugang Translanguaging space nennt. Laut Beres (2015) reflektieren diese Zugänge allesamt die Flexibilität einer ähnlichen Konzeptualisierung von Sprache, mit einigen wenigen Abweichungen (siehe auch 2.3–2.5). García/Kleyns (2016: 13) Ausführungen helfen dabei, Translanguaging-Praktiken von Codeswitching-Praktiken auf konzeptueller Ebene zu differenzieren. Sie erklären ihr Modell wie folgt: 168

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Code-switching also relies on the idea that there are two language systems, but indicates that bilinguals transgress these all the time by alternating languages that are still seen as autonomous, closed systems with their own linguistic structures. [...] Code-switching relies on the notion of named national languages (the external view) rather than on the ways in which bilingual speakers deploy their own linguistic resources (the internal view). In contrast, for us, translanguaging refers to the deployment of a speaker’s full linguistic repertoire, which does not in any way correspond to the socially and politically defined boundaries of named languages. That is why we annotate the features (F) of the speaker’s linguistic repertoire with a nominal number (n), and we do not designate L1 or L2. The features of a bilingual’s repertoire simply belong to the bilingual speakers themselves who have one language system, and not to the languages. [...] In the translanguaging model, named languages like English, Spanish, and Russian are recognized as having material and social reality, but not linguistic reality [...] . (García/Kleyn 2016: 14, Hervorh. im Original)

Beispiel (2) soll das Konzept von Translanguaging anhand eines Interview­exzerpts aus Uganda demonstrieren, und in Analogie zu García/Kleyns (ebd.) Modell zeigen, dass die sprachlichen Ressourcen nicht länger Einzelsprachen zuzuordnen sind, bzw. die genaue Zuordnung und Trennung für den Sprecher keine Rolle spielen. Auf metasprachlicher Ebene werden unterschiedliche Termini für ›Straße‹ genannt, die alle aus verschiedenen Varietäten (Kinyarwanda, Rufumbira, Kinyabwisha) stammen, jedoch den gleichen semantischen Gehalt haben und allesamt austauschbar erscheinen. Das gleiche gilt für phonetische Realisierungen im Adjektiv gake ›klein‹. In all diesen Fällen können sich Sprecher:innen durchaus über Unterschiede bewusst sein, sie sind jedoch alle Teil des sprachlichen Repertoires und können nach Belieben und Kontext verwendet oder ersetzt werden, wenn dies der Kommunikation und dem strategischen Ziel der Interaktion dienlich erscheint. Beispiel (2) (Interviewexzerpt, März 2017) »Et là vraiment il n’y a plus une grande différence. Quand ils arrivent là, ils appèllent ça ›on devient comme une grande famille‹, hano turi murugo, they are home. Un Munyabwisha [Kongo] va venir, un Hutu de Masisi [Kongo] va venir, tu arrives à Bakuli, tu parles kinyarwanda, tu arrives à Bakuli, tu parles kirundi, tu sauras pas vraiment si on parle ›kinyarwanda‹ ou ›kirundi‹. Tu peux dire umuhanda, umuhare, ibarabara, dans la même phrase, on comprend tout, ça ne fait pas une différence. On parle anglais, français, kinyarwanda, kirundi, même luganda... si tu appèlles une petite chose gake, gace, gakeya, tu peux mélanger!«

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[Und da gibt es keine große Differenz mehr. Wenn sie ankommen, nennen sie das ›wir werden wie zu einer großen Familie‹, hier sind wir zu Hause [Kinyarwanda], sie sind zu Hause. Ein Munyabwisha kommt, ein Hutu aus Masisi [beides Kongo] kommt, du kommst nach Bakuli, du sprichst Kinyarwanda, du sprichst Kirundi, du weißt nicht mehr wirklich, ob man Kinyarwanda oder Kirundi spricht. Du kannst umuhanda, umuhare, ibarabara [für ›Straße‹] sagen, im selben Satz, wir verstehen das alle, das macht keinen Unterschied. Wir sprechen Englisch, Französisch, Kinyarwanda, Kirundi, sogar Luganda.... ob du nun eine kleine Sache gake, gace, gakeya [›klein‹] nennst, du kannst mischen!] In den Folgejahren nach der weithin positiven Rezeption des Translanguaging-Konzepts wurden vermehrt auch kritische Stimmen laut, welche die Problematik adressierten, dass eine Negierung von Einzelsprachen sowohl aus pragmatischen (anwendungsbasierten) als auch sprachkonzeptuellen Gründen schwierig, oft unpraktisch und teilweise unangebracht sei. Wolff (2018: 18), trotz seiner Anerkennung für die innovative Ausrichtung der »neuen« Soziolinguistik, fasst zusammen, dass benennbare abgrenzbare Sprache dennoch essenziell sei, und in vielerlei Hinsicht auch als Referenzpunkt bestehen bleiben müsste. Eine Sprache als separate, benannte und zählbare Entität sei demnach (a) a theoretically useful concept for heuristic and taxonomic purposes, (b) a socio-psychological and sociocultural reality, (c) a very convenient concept for public discourse, and (d) an unavoidable notion for legitimate and necessary language activism and critical assessment of the essential ideological dimension located in language itself.

Kritiker des neuen Ansatzes, der in zahlreichen rezenten Studien im Fokus stand und weiterhin steht (siehe z.B. Jaspers/Malai Madsen 2019; Pennycook 2016), kritisieren oft die Unschärfe des Translanguaging-Begriffs und fragen, inwiefern sprachliches Material denn nicht mehr klar einer Sprache zuzuordnen sei (als unklarem »Mischverhältnis«, anders als beim Code­ switching). Oft schließen sie jedoch die konzeptuelle und holistischere soziokognitive Perspektive nicht in die Debatte ein. Translanguaging kann Codeswitching durchaus umfassen und miteinschließen, Codeswitching allerdings nicht Translanguaging. Im Folgenden sollen einige weitere vergleichbare, aber weniger rezipierte Ansätze in aller Kürze skizziert werden. 2.3 Metrolingualism Die urbane Verkaufslandschaft der Märkte in Sydney, Australien, wird von Otsuji/Pennycook (2010) (und dann von Pennycook/Otsuji 2015 in einer umfassenderen Studie) als ›sprachlicher Spielplatz‹ verstanden 170

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und als »[...] metrolingual multitasking, a term we use to capture the ways in which linguistic resources, everyday tasks and social space are inter­twined« (Pennycook/Otsuji 2015: 2–3). Sprachliche Brocken in Verkaufsgesprächen werden verstanden als voneinander losgelöst und als lernbar für alle Passanten im urbanen Raum (Japanisch im Sushirestaurant, Italienisch via Pizzakarte, Mandarin auf dem Markt), sind jedoch nicht länger an sprachlichen Kompetenzmodellen in Einzelsprachen festgemacht. Der Lernprozess ist offen und spielerisch, als urbanes Austesten von Sprache, wobei Sprachgrenzen überwunden werden, soziale Kategorien von Sprecher:innen verschwimmen. Die Stadt stellt demzufolge ein enormes Repertoire zur Verfügung: [T]his focus brings together metrolingual practices and the city, it is about getting things done, everyday language use and local language practices in relation to urban space [...]. The focus on metrolingualism is part of our attempt to understand linguistic resources in relation to the city, to show how everyday multilingualism operates in markets, cafés, streets, shops and other social city scapes [...] metrolingualism describes the ways in which people of different and mixed backgrounds use, play with and negotiate identities through language. (ebd.: 3)

2.4 Polylanguaging Jørgensen (2008) hat mit Blick auf die mehrsprachigen und sich aus globalen Repertoires im Hip Hop-Kontext zusammenfügenden Sprechstile dänischer Jugendlicher den Begriff des Polylanguaging geprägt. Außer dem kreativen Spiel mit sprachlichen Elementen, die nicht die eigenen sind (sondern bspw. amerikanischem Rap entstammen) und die sich junge Sprecher:innen kurzzeitig aneignen (ähnlich dem Crossing, Rampton 2010), beschreibt Jørgensens Konzept auch transkulturelle »Flows«, die als multiethnolektale Praxis ethnische Kategorisierungen überbrücken und sprachliche Marker, die ansonsten auf ethnische Identität verweisen, außer Kraft setzen. 2.5. Multivocality, Bilanguaging, Bricolage und andere Konzepte Während Higgins’ (2009) Konzept der multivocality der Heteroglossie nach Bakhtin (1981) nahekommt und ähnlich wie Pennycook die Variabilität von Weltsprachen wie Englisch in lokalen Kontexten untersucht, schlägt Mignolo (2000) mit seinem Terminus Bilanguaging eine kritische dekoloniale Perspektive auf Sprache vor, vor allem mit kritischem Kurs auf monolinguale Sprachpolitiken des Globalen Nordens, die weiterhin den ehemals kolonisierten Süden (»global designs«) in Form 171

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exoglossischer Politik bestimmen. Galliker (2014: 40–41) bedient sich des bekannten Begriffs der Bricolage und erklärt diesen als eine Art »Montageprinzip mit der Grundstruktur Vorgabe–Übernahme–Transformation als zentrales Element jugendlichen Sprechens« auf lexikalischer, phonologischer und morphologischer Ebene in ihrer Studie zu Jugendlichen und deren Sprache in der Deutschschweiz. Sie versteht das kommunikative Repertoire von jungen Sprecher:innen, die Sprachgrenzen aushebeln und aufbrechen, als kreativen Werkzeugkasten, der je nach Sprecherbedarf Manipulation und konzeptuelle Entlehnung zulässt. Einige weitere Konzepte haben weniger internationale Popularität bei Linguisten erlangt, die sich mit »Aggregratzuständen von Sprache« beschäftigen, d.h. mit Aspekten von Fixiertheit/Festigkeit vs. Verflüssigung/ Fluidität im Kontext von Sprachabgrenzungen. Darunter fallen unter anderem Translingual writing (Horner u.a. 2010), das bereits erwähnte Codemeshing (Canagarajah 2011), Flexible bilingualism (Creese/Blackledge 2011) und einige weitere.

3. Strategien der Verwischung: Motivation und soziale Bedeutung Dass Translanguaging auf die Hybridisierung (als »Zwischensprech«) von Sprachen passend angewandt werden kann, ist bereits deutlich geworden – vor allem im Gegensatz zu etablierten Konzepten wie dem Codeswitching. Allerdings bildet Translanguaging nicht die Motivationen von Sprecher:innen, d.h. ihre Agentivität in vor allem differenzabbauenden (verwischenden) oder negierenden Praktiken ab, es fehlt also die Deutung der Entdifferenzierungsmechanismen. Die Praktiken des Translanguaging schaffen zwar ein nicht länger komplett segmentier- oder trennbares transsemiotisches (Zwischen-)System, beleuchten aber weder Sprecherintention noch die soziale Bedeutung der sprachlichen hybriden Praktiken. Wenn translinguale Praktiken die konzeptuelle Fassung darstellen, sind die im Folgenden diskutierten Einzelstrategien sozial motivierte stilistische Operationen: Diese resultieren entweder in temporärer Differenznegation (undoing) von Sprachgrenzen, sie können jedoch auch zur Rückentwicklung fest etablierter Differenzen führen, hin zu einem dauerhaften diffusen Zustand (für eine genaue Darstellung der Temporalitäten dieser Unterscheidungen, siehe auch Hirschauer 2020). Hierbei werden im Folgenden zentrale Operationen anhand eines empirischen Beispiels diskutiert, das dem konkreten Forschungskontext in der ugandischen Hauptstadt Kampala entnommen ist, wo die Sprecher zweier hochgradig ähnlicher Bantusprachen, Kinyarwanda und Kirundi, im 172

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Kontext von Handel, in Bars und an Busbahnhöfen aufeinandertreffen.6 Beide Sprachen wurden im kolonialen System zu zwei separaten Systemen stilisiert und sodann im Zuge ihrer Sprachwerdung zu den nationalen und offiziellen Sprachen der beiden Nationen Ruanda und Burundi. Im Folgenden befasse ich mich mit der Tatsache, dass diese Sprachgrenzen im Zusammenhang mit Fluchtmigration ins benachbarte Uganda aufgebrochen, karikiert und verflüssigt werden.7 3.1 Mimikry durch Täuschung Bei Mimikry handelt es sich laut Bhabha (1994: 86) um eine »double articulation«, die vor allem im kolonialen Diskurs und gleichzeitig als Folge von Machtausübung zu sehen ist, die selbst aber auch Machtstrukturen reflektiert. Bei Kinyarwanda-Kirundi-Sprechern in Kampala geht es bei Mimikry vor allem um Täuschung oder Camouflage, um ein Verschleiern der eigenen Herkunft, oder aber um ein Aufzeigen von 6 Im Stadtviertel Bakuli in Kampala interagieren Passanten, Busse wechselnde Durchreisende, Straßenverkäufer, Striptease-Tänzerinnen, Prostituierte, Taximotorradfahrer und Kneipenbesucher miteinander, die lediglich eine kurze Zeit an belebten Orten verbringen und im besten Fall »fleeting relationships« teilen. Diese sind teilweise als kurze Interaktionen definiert, teilweise dennoch gefärbt von emotionaler Abhängigkeit und Intimität (nach Morrill, Snow/ White 2005, zitiert in Gregory 2005). Wenngleich das Transitviertel keine fixe community of practice etabliert und oftmals von Anonymität gekennzeichnet ist, ist auch bei kurzzeitig verweilenden Durchreisenden bekannt, dass dort Kinyarwanda und Kirundi gesprochen wird; dies lädt je nach wirtschaftlichem Interesse von Sprecher:innen zu kommunikativer Tarnung und Täuschung ein. 7 Der Vollständigkeit halber sollte hier aufgelistet werden, welche weiteren Regiolekte, oder Sprachvarietäten, zum Kinyarwanda und Kirundi jenseits des ruandischen und burundischen Staatsgebiets gehören (wenngleich Sprecher:innen dieser Sprachen oft betonen eine »vollkommen andere/unähnliche« Varietät zu sprechen, die mit Standard-Kinyarwanda oder normiertem Kirundi nichts zu tun habe. Linguistisch sind alle folgenden jedoch als Varietäten des Kinyarwanda-Kirundi zu werten, siehe Nassenstein 2019): 1. In Südwest-Uganda: Rufumbira, gesprochen von den Bafumbira, und im Namen auf das Mfumbiro-Massiv, so der ehemalige Name für die Virunga-Vulkane, verweisend. 2. Im nördlichen Ostkongo: Kinyabwisha, auf das Toponym Bwisha verweisend und von den Banyabwisha im Konfliktgebiet gesprochen; im südlichen Ostkongo: Kinyamulenge, von den Banyamulenge-Viehzüchtern in den Hügeln der Haut-Plâteaux gesprochen, ebenfalls in einem Kontext bewaffneten Konflikts, 3. in Tansania, südlich von Burundi bis zum Tanganyika-See: Giha, von den Baha gesprochen, und als tansanische Sprache aufgelistet, in vielen Studien jedoch ohne direkten Bezug zum Kinyarwanda-Kirundi dargestellt. Einige dieser Bezeichnungen tauchen in den angeführten Feldnotizen und Beispielen auf.

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Differenz, indem der Andere explizit öffentlich imitiert wird, und auf unterscheidungswirksame Merkmale hingewiesen wird, wie auch von Lacan (zitiert in Bhabha 1984: 125) festgestellt: »The effect of mimicry is camouflage [...] It is not a question of harmonizing with the background, but against a mottled background, of becoming mottled – exactly like the technique of camouflage practised in human warfare«. Laut Bhabha (1984: 127) weist Mimikry, oft mit Spott einhergehend, eine Ambivalenz auf (»almost the same, but not quite«). Beispiel (3) gibt den metalinguistischen Austausch eines Kongolesen (ein Sprecher der Varietät Kinyabwisha) und eines Burunders (ein Sprecher des Kirundi) wieder, die in einer Bar in der ugandischen Hauptstadt über eine Gruppe junger Männer am Nebentisch sprechen, und dabei die für sie emblematische Aussprache der Varietät Rufumbira kurzzeitig übernehmen und die Gesellschaft am Nebentisch imitieren. Dabei werden einige saliente Merkmale kopiert, die von der Verwendung im Standard-Kinyarwanda und im Kirundi abweichen: 1) das Habitualis-Suffix -aga für gewohnheitsmäßige Handlungen; 2) die Realisierung der Negation mit aspiriertem Plosiv [tʰ] anstelle eines glottalen Frikativs mit plosivem Verschluss [ht]; 3) das Lexem iseente für ›Geld‹, anstelle des gebräuchlichen amafaranga im Kinyarwanda und Kirundi. Beispiel (3) (Dialogexzerpt, aufgenommen am 30.3.2017) A: »Ces sont des Bafumbira. Tu penses pas? Ouiii, ces sont des Bafumbira.« [Das sind Bafumbira. Denkst du nicht? Jaaa, das sind Bafumbira.] B: »Ça peuvent être des rwandais.« [Das können Ruander sein.] A: »Oyaaa! Bavugaga ng’abafumbira, umva! ›Ntabwo [ntʰabgo] dufite iseente‹...« [Nein! Sie sprechen {imitiert Rufumbira} wie Bafumbira, hör zu! ›Wir haben kein Geld‹... {imitiert Rufumbira}.] B: »Écoute, les gens qui viennent de la frontière Ouganda-Rwanda, tout près, ils sont toujours comme ça... Tu vois, ces sont des villageois.« [Hör zu, die Leute, die von der Grenze Uganda-Ruanda kommen, ganz nah, die sind immer so... Du siehst (doch), das sind Dörfler.] A: »De Cyanika. Oui, des Bafumbira! Les rwandais, quand ils parlent, ils font toujours des gestes, ils parlent comme ça... {gestikuliert mit den Händen}« [Aus Cyanika. Ja, Bafumbira! Ruander, wenn sie sprechen gestikulieren sehr, sie sprechen so {gestikuliert mit den Händen}.] Die Mimikry der Personen am Nebentisch nähert die Sprache der beiden Sprecher zwar derjenigen der Nachbarn an und baut scheinbar 174

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Differenzen ab, beinhaltet jedoch Provokation, Spott und imitiert vor allem sprachliche Marker, die auf Dörflichkeit, Rückständigkeit und Ärmlichkeit verweisen. Hier erfolgt sowohl eine Evaluation als eine Verzerrung, die auch Statusunterschiede und Macht abbildet. Dies korreliert mit Deumerts (2018: 12) Charakterisierung sprachlicher Mimikry als einer ›Poetik der Störung‹, die Differenz und Alterität selbstbewusst betont und hervorkehrt (ebd.: 10). Bei genauer Betrachtung fällt daher überraschend auf, dass die vermeintliche Praxis der Differenznivellierung keineswegs entdifferenzierend wirkt, sondern im Gegenteil das Augenmerk unmittelbar auf die sprachlichen Unterschiede lenkt, durch imperfekte und überspitzte Imitation. 3.2 Mimesis durch sprachliche Akkommodation CAT, oder »communication accommodation theory«, beschreibt die Anpassung der eigenen sprachlichen Realisierung an die des Gegenübers und stellt eine Form von »interpersonal accent convergence« dar, als »the interviewee’s convergence with the interviewer« (Giles et al. 1991: 5) und somit eine teilweise Anpassung an die Umgebung (um nicht weiter aufzufallen), oder eine ›kreative Nachahmung‹, die somit als mimetisch interpretiert werden kann. Zudem hilft CAT um das Gegenüber zu täuschen und Differenz zu verwischen, bzw. zu negieren. Das folgende Beispiel basiert auf einer ethnografischen Vignette aus der Feldforschung in Kampala, dem Feldtagebuch entnommen. In diesem Beispiel passt ein Kirundi-Sprecher, der erst vor wenigen Jahren aus Burundi aufgrund von Fluchtmigration nach Uganda gekommen ist, seine phonologische Realisierung der des ruandischstämmigen Mannes am Nebentisch an, der den Unterschied zwischen einem Burunder und Ruander scheinbar nicht mehr machen kann (siehe Bsp. 4). Beispiel (4) (Feldnotizen, 29.03.2017) »I am sitting with E.N., my Burundian friend and contact, in a small corner bar in Kampala. A seemingly intoxicated customer nearby listens to our conversation, which is held in French with snippets in French and Kirundi. We talk about mixing languages as it happens frequently in the neighborhood Bakuli. [...] The man at the next table addresses E. and greets him with »Bite?«, answered by E. with the common greeting »Ni byiza«. They chat for a while, and I notice E.’s meaningful looks toward me. I ask him »So, he has spent a long time here?« »Yes, but he is from there« (he means Rwanda). He laughs. »Maybe he doesn’t make a difference between Kirundi and Kinyarwanda. He has spent a long time here, but he is from there. Actually, that’s the problem of many Rwandese who 175

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were born here in Uganda or raised here or who grew up here. If you have been here for 20 years, and you were 25 years old [when you came], you can’t make a difference between Kinyarwanda and Kirundi.« I ask E.: »So, even if they hear the language, they may think it’s the same?« »Yes, they think it [Kirundi] is Rwandese [i.e. Kinyarwanda].« A waiter brings E. a cold beer, but he complains that he actually wanted a warm one, in English. E. explains that the man had thought he would speak to a Munyarwanda, a Kinyarwanda-speaker, which E. as a Kirundi-speaker did not contest. Instead, he slightly changes his intonation and adapts his phonology, especially the emblematic lack of palatalization of velar stops in Kirundi, as I notice, when replying to the man’s questions, and when asked where he was from he replies: »From a small village in southern Rwanda«. The man nods, continuing to sip his beer. I want to know why E. did not tell the truth and why he did not state that he was actually Burundian. He laughs and tells me that at times it would be simply a strategic move: As the man had no idea about Burundi and Kirundi, and already assumed that the language spoken by E. was Kinyarwanda, he played along. Who knows what this could still be useful for.« Mimetisch ist hierbei vor allem die Sprecherintention zu werten, sich perfekt dem sprachlichen Hintergrund anzupassen, ohne die strategische sprachliche Assimilierung aufzulösen oder die Indexikalität der salienten sprachlichen Merkmale in Frage zu stellen. Nach Deumerts (2018: 10) Beschreibung, angelehnt an Bakhtin, sind sowohl Mimesis als auch Mimikry als »double-voicing« zu charakterisieren, wobei sie unter Mimesis eine Art von Kreativität versteht, die semiotische Formen als Zeichen von Gleichheit rekontextualisiert, wie auch im diskutierten Fallbeispiel deutlich wird. Wenn Mimesis ein »uni-directional double-voicing« darstellt, da ein Sprecher die Stimme eines/einer anderen derart nutzt, dass Übereinstimmung mit der ursprünglichen Äußerung besteht, muss Mimikry als »vari-directional double-voicing« beschrieben werden, so Deumert (ebd.), eine ›Wiederholung von Gleichheit als Unterscheidung‹ mit neuen emergenten Bedeutungen im Moment der Wiederholung selbst. 3.3 Spielerische Aneignung von Sprechweisen durch Crossing Crossing bezeichnet einen Prozess, den Rampton (1995, 2010) definiert als »code alternation by people who are not accepted members of the group associated with the second language that they are using (code switching into varieties that are not generally thought to belong to them)« (2010: 485). Hierbei bedient sich oft innerhalb einer Gruppe ein Sprecher eines emblematischen Sprechstils eines anderen Sprechers, beispielsweise bestimmter Intonationskonturen, einer Hyperkorrektur 176

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zweier Phoneme (wie /l/ und /r/), oder anderer emblematischer Akzentmerkmale. Damit soll entweder Gruppenidentität konsolidiert werden, als eine spielerische Form von Verspottung und Hohn, oder die Gruppenidentität soll aufgebrochen und in Frage gestellt werden. Die kurzzeitige Aneignung sprachlicher Merkmale anderer kann im untersuchten Stadtviertel in Kampala häufig beobachtet werden, wenn an einem Tisch über Sprache Differenz ausgehandelt wird, und auf mokierende Art und Weise der Sprechstil des Gegenübers kurzzeitig angenommen wird. Beispiel (5) beleuchtet eine Situation, in der ich in Kampala (am 27. März 2018) in Stella’s Bar (Namasuba) mit Kinyarwanda- und Kirundi-Sprecher:innen Bananenbier trank. Gefragt nach meinem Forschungsinteresse, berichtete ich der gemischten Gruppe von Ruandern, von denen die Mehrheit bereits länger in Uganda war, und kürzlich migrierten Burundern, vom Thema des Aufbrechens von Sprachgrenzen zwischen Kinyarwanda und Kirundi. Befragt, wie sie selber diese Grenzen sähen, bzw. wo sie sie verorten würden (in Lexik, Morphologie oder Syntax etc.), antwortete mir ein Kinyarwanda-Sprecher sodann mit getragener Stimme auf vermeintlichem Kirundi und von allgemeinem Gelächter begleitet. Die kurzzeitige Aneignung von Kirundi gelang ihm, indem er die Intonation imitierte und mit dem Lokativadverb i muhira ›zu Hause‹ die Kinyarwanda-Entsprechung mu rugo ersetzte. Auffällig war hierbei vor allem die Wortwahl murundi/barundi, da der Begriff auf Kirundi neben der eigentlichen Bedeutung ›Burunder‹ in der Jugendsprache gleichermaßen ›Idiot‹ bedeuten kann (im Sinne von ›Hinterwäldler‹). Beispiel (5) (Dialogexzerpt, aufgenommen am 27.3.2018) »Hano turí mu... i muhira, twese turí barundi. Ntabwo mbona itandukaniro riri hagati ya kinyarwanda n’ ikirundi.« {mit Kirundi-Intonation} [Hier sind wir zu… zu Hause, wir sind alle Burunder. Ich sehe keinen Unterschied, der zwischen Kinyarwanda und Kirundi existiert.] Auer (2017: 291) fasst im Hinblick auf das Crossing zudem zusammen, »dass mit offensichtlich unzureichenden, also aus Teilnehmerperspektive nicht-authentischen Mitteln soziale Mitgliedschaft indiziert wird. Aus der Differenz zwischen ›authentischer‹ und imitierender Sprache ergibt sich der pragmatische und soziale Effekt der sprachlichen Grenzüberschreitung«. Damit meint Auer, dass die Unterscheidung von einer bewussten Stilisierung als Mittel der Distanzierung »und andererseits der (bewussten oder unbewussten) Akkommodation an die Sprache der ›legitimen‹ Sprecher« (ebd.: 291) äußerst schwierig ist. Während beide Fälle denkbar sind, kann Crossing im vorliegenden Fall eher als bewusste Stilisierung und spielerisch-spöttische Distanzierung gewertet werden – somit als eine Form von Transgression – denn als Akkommodation (wie 177

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für 3.2 analysiert). Der temporäre Seitenwechsel des Senders ist hierbei deutlich markiert und wird vom Empfänger nicht als authentisch wahrgenommen; dennoch geht es um Gruppenzugehörigkeiten und Dynamiken performierter Soziabilität (anders als im Fall von Mimikry in 3.1).

4. Ausblick: Das Spiel mit Ähnlichkeiten auf translingualer Ebene Praktiken sprachlicher Hybridität lassen sich in den Interaktionen mehrsprachiger Sprecher:innen je nach soziolinguistischer Herangehensweise unterschiedlich fassen und beschreiben. In vielen Begegnungskontexten ist eine Beschränkung auf verwischende Sprachgrenzen allein analytisch nicht ausreichend: Vielmehr als um hybridisierte Sprache (durch Translanguaging, Metrolingualism, Polylanguaging etc.) geht es um das Spiel von Sprecher:innen mit Ähnlichkeiten und um eine spielerische Assimilierung (d.h. eine vermeintliche Verähnlichung von Sprachen), die oft jedoch feine Unterschiede überspitzt offenlegt oder performativ karikiert. Vor allem Mimikry, Mimesis und auf temporäre Aneignung abzielende spielerische Praktiken weisen ein subversives Potenzial auf; die Agentivität der Kategorisierten tritt in den Vordergrund und starre zugeschriebene Identitäten werden umgekehrt, bisweilen werden sogar Machtverhältnisse gekippt – zumindest können Rollen in der sprachlichen Interaktion invertiert werden. Die diskutierten Strategien weisen deutlich auf, dass nicht immer, wenn eine Assimiliation oder Verähnlichung geschieht (z.B. durch translinguale Sprachpraxis), auch tatsächlich semantische oder semiotische Differenz abgebaut oder minimiert werden muss. Vielmehr wird diese möglicherweise sogar hochgefahren. Deumert (2018: 10) erkennt in Praktiken der Mimikry und Mimesis eine Kreativität, die Raum für Rekontextualisierung von bereits Dagewesenem bietet; diese Rekontextualisierung spiegelt sich in der Wahrnehmung, Performanz und Repräsentation von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit wider; durch Wiederholungs- und Wandelprozesse. Das kreative Spiel mit (Un)ähnlichkeiten und Verähnlichung/Entähnlichung ist auch in Prozessen sprachlicher Humandifferenzierung erkennbar und analysierbar. Wie Hirschauer (2017: 50) bemerkt, erlauben »Hybrid-Phänomene [...] eine neue Perspektive auf die Purifizierungsanstrengungen und Abstandsgebote, mit denen Kategorien laufend auseinandergehalten werden«. Die Indexikalität sprachlicher Marker, Differenzeinschreibungen und Kategorienbildung in hegemonialen Systemen reflektieren in diesen Zusammenhängen oft Machtasymmetrien. Dennoch erfordert eine Analyse von translingualen Praktiken theoretische Unterfütterung von Seiten der Humandifferenzierung; vor allem, weil viele soziolinguistische 178

TRANSLINGUALE PRAKTIKEN ALS STRATEGIEN DER ENTDIFFERENZIERUNG

Studien bei der Verwischung von sprachlichen Grenzen keinerlei Fremdkategorisierungen von Sprecher:innen untersuchen. Als weitreichende Frage bleibt offen, inwiefern die Untersuchung translingualer Praktiken gleichermaßen konstruktiv zu einer Theorie der Humandifferenzierung beitragen kann. Die Erforschung sprachlicher Marker im empirischen Kontext der ugandischen Hauptstadt Kampala ist eng verwoben mit imaginierten politischen, ethnischen und historischen Grenzziehungen – das Thema des Aufbrechens von Sprachgrenzen und Aneignen anderer Sprechstile wird folglich auch transdisziplinäres Interesse generieren.

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Friedemann Kreuder und Stefanie Husel

Staging Differences Interferenzen von Teilnehmerrollen und Humandifferenzierungen im Gegenwartstheater Im Gegensatz zu anderen Institutionen, die primär auf der Basis sprachlicher Strukturen, schriftgelehrter Spezialdiskurse oder populärer Diskurse Humandifferenzierung praktizieren, wird diese im Theater vor allem mittels situierter Praktiken des Körpers und seines Umgangs mit Dingen vollzogen und vorgeführt (vgl. den Theaterbegriff bei Fiebach 2002). Theater ist damit ein wesentlicher Teil von cultural performances (Singer 1959). Seit Mitte des 16. Jahrhunderts differenziert das Theater durch die Professionalisierung von Darsteller:innen und die Passivierung der Zuschauer zwischen zwei zentralen Teilnehmerrollen der Aufführung: Ein sitzendes Publikum betrachtet, seit Ende des 19. Jahrhunderts sogar aus einem verdunkelten Zuschauerraum heraus, geschulte Menschendarsteller (Kreuder 2017). Der Theaterrahmen brachte damit traditionell eine klare Separierung zum einen von Darstellungs- und Wahrnehmungspraxis, zum anderen von Fiktionalität und Alltagsrealität mit sich (Goffman 1977). Gleichzeitig konfrontiert das Theater seine Besucher:innen mit gesellschaftsweiten Humandifferenzierungen aller Art, die es ihnen im Rahmen dramatischer Handlung vor Augen führt, reflektiert und reproduziert (Kreuder et al. 2017; Voss 2017), wobei die vor praktischer Involvierung geschützte Publikumsrolle gerade der affektiv enthemmten Anteilnahme am Spiel dient. Selbst in der traditionellsten Theateraufführung geht es dabei nie nur um ein bloßes Zuschauen, sondern ebenso um ein affektiv-leibliches Wahrnehmen (vgl. Fischer-Lichte 2004; Roselt 2013): Zuschauer:innen erleben Darsteller:innen bei der Verkörperung dramatischer Rollen, die bestimmten Humankategorien entsprechen, und stehen zugleich unter wechselseitiger Beobachtung sowie in zwischenleiblicher Beziehung zueinander (vgl. Husel 2014: 243– 268). Das Theater ist also immer schon ein Ort, an dem sowohl auf als auch vor der Bühne soziale Zugehörigkeiten reflektiert und verhandelt, aber auch erlebt werden. Dass Humandifferenzierung schließlich auch hinter der Bühne geschieht, zeigen aktuelle Diskurse, die eine mangelnde Diversität von Schauspiel-Ensembles (etwa in Bezug auf Ethnizität, Geschlecht, Behinderung, etc.) im deutschen Sprechtheater kritisieren (zum nicht praktizierten colour blind casting im deutschen Sprechtheater vgl. Voss 2018). 183

FRIEDEMANN KREUDER / STEFANIE HUSEL

1. Experimentelle Theaterformen als ethnografische Herausforderung Nun entstehen derzeit, anknüpfend an Wirkungsversprechen der Theateravantgarden der 1930er und 1960er Jahre (Warstat 2011), zahlreiche postdramatische Theaterformen, die sich über ihre Abgrenzung vom traditionellen Drama hinaus gerade die feldspezifischen Teilnehmerrollen (Zuschauer versus Darsteller/Figuren) sowie die an selbige gekoppelte Differenzierung von Alltagsrealität und Fiktion als ästhetisches Material zunutze machen. Die beiden wichtigsten formalen Merkmale solcher Arbeiten bestehen erstens in der Herausforderung und/oder dem Ästhetisieren der triadischen Differenzierung von Darstellern, Figuren und Zuschauer:innen sowie zweitens in ihrem Selbstverständnis als soziale, kulturelle, v.a. aber ästhetische Experimentalanordnungen (zur Experimentalität vgl. Schramm 2006a, b). Konkret spielen diese zeitgenössischen Theaterformen reflexiv mit der Theatersituation und experimentieren sozial, indem in ihren Aufführungen eine feldspezifische Differenzierung der Teilnehmerrollen (z.B. Zuschauerin versus Figur/Darsteller/Rolle) mit ubiquitären Humandifferenzierungen nach ethnischer, religiöser, nationaler u. a. Zugehörigkeit ins Spiel gebracht und gekreuzt wird. Als ästhetische Experimente zielen solche Theaterprojekte mithin auf die Explikation ästhetischen Wissens – also eines in der Körperpraxis von Situationsteilnehmern verankerten und bewusst kaum zugänglichen, prozeduralen Wissens darüber, wie Darstellung und Wahrnehmung vonstattengehen (zur Somatisierung des Wissensbegriffs vgl. Hirschauer 2008). Theaterwissenschaftlich etabliert ist die Erforschung künstlerischer Experimentalanordnungen aus der Perspektive der philosophischen und phänomenologischen Ästhetik als Situationen (Lehmann 1999), in denen Handlungen und Verhalten von Akteur:innen und Zuschauer:innen aufeinander einwirken und die Beziehungen zwischen ihnen ausgehandelt werden (sollen) (Fischer-Lichte 2004: 61). Auch bestehen erste Ansätze zur Erforschung der jüngsten Entwicklung partizipativer und immersiver Formate hinsichtlich des Spiels mit der Auflösung von Distanz seitens der Produzenten sowie eines emphatischen körperlichen Erlebens partizipierender Zuschauer (Bieger 2007; Machon 2013). Diskurse, die der Partizipation ein kritisches Potenzial absprechen und mithin vor manipulativer Vereinnahmung des Publikums warnen, stehen dabei Positionen gegenüber, die Teilhabe als eine erweiterte Form der Rezeption verstehen (Prinsloo 2017; Warstat 2015; Kolesch et al. 2019). Eine Erforschung der Wahrnehmungskonventionen, routinisierten Praktiken, der konkreten Materialität sowie der Machtverhältnisse, kurz der Regime der Künste (vgl. Ranciére 2006), die in derartigen 184

STAGING DIFFERENCES

experimentierenden Theatersettings zugleich wirken und zur Reflexion gelangen sollen, steht allerdings noch aus (vgl. zur Sinnlichkeit des Sozialen und zur Praxis des Sehens die Vorarbeiten von Prinz 2014; Göbel/ Prinz 2015). Hierfür bedarf es einer Erweiterung des theaterwissenschaftlichen Methodenrepertoires, da das Instrumentarium einer phänomenologisch und semiotisch ausgerichteten Aufführungsanalyse hier häufig nicht mehr greift. Insbesondere im Hinblick auf den – für die Theaterwissenschaft zentralen – Begriff der Aufführung als einer zeitlich und räumlich geschlossenen Einheit, sowie bezüglich der Idee eines gemeinschaftlich schauenden (und nur schauenden) Publikums und eines unhintergehbar subjektiven Erlebnisses der Theatererfahrung, muss die Theaterwissenschaft sich und ihre Methoden neu erfinden (vgl. Kolesch 2017; Balme/Szymanski-Düll 2020; Wihstutz/Hoesch 2020). Diesem methodologischen Desiderat lässt sich mit einer sozialwissenschaftlich informierten, ethnografischen Verfahrensweise begegnen, die auf die Vielheit experimentierender Darstellungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten mit methodologischer Heterogenität und Flexibilität antwortet (vgl. hierzu auch Husel 2020). Im folgenden Beitrag soll daher anhand einer dichten Aufführungs-Beschreibung zu Enjoy Racism! des Schweizer Künstlerduos Thom Truong aufgezeigt werden, dass aufgrund der spezifischen Logik des Feldes theaterwissenschaftlichen Forschungsfragen nur dann effektiv nachgegangen werden kann, wenn die dort ausgeführten und/oder vorgeführten Praktiken der Humandifferenzierung in ihrer ganzen Materialität, Körperlichkeit, Prozesshaftigkeit und Kontingenz erforscht werden. Hieran anschließend diskutieren wir, inwieweit und mit welcher Auswirkung sich Arbeiten wie die Beschriebene in den Rahmen eines »ethischen Regimes der Kunst« im Sinne Jaques Rancières (Rancière 2006: 87) einordnen lassen. Schließlich plädieren wir dafür, die aufgeworfenen Fragen zukünftig im Rahmen differenzierter, ethnographisch inspirierter Studien zu untersuchen, in denen nicht nur Aufführungen situativ untersucht, sondern auch Spielplanplatzierung bzw. Fördergeldbeschaffung, Casting/Dramaturgie/Produktion, Proben, Aufführungen und mediale sowie Publikumsresonanz wechselweise in den Fokus der Aufmerksamkeit treten. Neben dem Mehrwert eines solchen Imports sozial- und kulturwissenschaftlicher Methodologie in die Theaterwissenschaft, verspricht ein solches Vorgehen umgekehrt eine Bereicherung sozialwissenschaftlichen Vokabulars, indem Modelle der sozialen Rolle mit Blick auf eine stark veränderte Theaterlandschaft weiter justiert werden – stammen doch die älteren Schriften zum dramaturgischen Ansatz der Soziologie (z.B. Goffman 1959) mehrheitlich aus den 1950er und 1960er Jahren und schleppen insofern im Rahmen von Theaterpraxis und Theaterforschung längst überholte Ideen von Rollenübernahme und Figurenbildung mit sich. In 185

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seinem jüngeren Essay »Footing« (erschienen in der Aufsatzsammlung Forms of Talk, 1981) schlägt Erving Goffman vor, Gesprächssituationen und ihre Teilnehmerrollen sehr viel feinteiliger zu untersuchen, als dies durch die »primitiven« Begriffe des Sprechers und des Hörers vorgegeben sei; in diesem Rahmen behandelt er auch Publika und Bühnenvorführungen. Goffman erweitert das sozialwissenschaftliche Beschreibungsvokabular hierfür um die Konzepte des »participation status« bzw. »participation framework« sowie um das mit den Arten und Weisen der Teilnahme eng verquickten Begriffes »production format«: Jede Kommunikation teilt (mehr oder minder implizit) mit, auf welche Weise sie rezipiert werden kann, sie formt insofern Teilnehmerschaft und prägt Teilnehmerrollen. Weiterhin mahnt Goffman an, die kaum ermessliche Bandbreite potentieller »Einbettungen« analytisch zu berücksichtigen, die menschliche Kommunikation in der Lage ist zu vollziehen, und die dazu führt, dass der aktuellen Situation ferne Sachverhalte aktualisiert und lokalisiert werden: »It was recommended that one can get at the structural basis of footing by breaking up the primitive notions of ­hearer and speaker into more differentiated parts, namely, participation ­framework and production format. Then it was suggested that this picture must itself be complicated by the concept of embedding and an understanding of the layering effect that seems to be an essential outcome of the production process in speaking« (Goffman 1981: 153). Entsprechend ließe sich in den von uns untersuchten Fällen die Rede von der Darstellung und der Wahrnehmung im Rahmen der ganzen Theaterveranstaltung zum einen sozialwissenschaftlich informiert, zum anderen aber mit theaterwissenschaftlich disziplinärem Feingefühl für die Zwischentöne und Abstufungen, für Stil, Rahmen, Winke/Indizes und das momenthafte Spiel um die Teilnehmerrollen der gebotenen Situation untersuchen. Hierbei kann Theater für die sozialwissenschaftliche Perspektive – insbesondere in seiner experimentierenden, postdramatischen Spielart – gerade das im genannten Aufsatz Goffmans adressierte situative und performative (sowie äußerst komplexe) ›Wie‹ der Humandifferenzierung vor Augen führen. Lässt sich doch bereits in traditionellen Theateraufführungen nachvollziehen, welche Darstellungsweise und/oder Reflexion von Humandifferenzierung durch Zuschauer:innen angenommen und bereitwillig nachvollzogen werden, wer unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte Figur verkörpern kann, und wer nicht. Wenn Zuschauer bzw. Publikumsteilnehmerinnen darüber hinaus dazu motiviert werden, eine Art Bühnenrolle in künstlerischen Experimenten einzunehmen, ermöglicht dies umso deutlichere Einblicke in die flüchtige und performativ hervorgebrachte Materialität von Humandifferenzierung: So setzen Körperhaltungen und Bewegungen, Gesten, Mimik, Stimmlagen und Affektpräsentationen Humandifferenzierungen überhaupt erst in Szene. Entsprechend lässt sich dem 186

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soziologischen Diskurs die feine Nuanciertheit theatraler Sprech- bzw. Darstellungsweisen wie auch das spielerische Moment jeder damit verbundenen (Teilnehmer-)Rollenübernahme in ihrem liminoiden Charakter (Turner 1977: 40; Kreuder/Husel 2018) erschließen. Besonderen analytischen Mehrwert verspricht dabei das in der Theaterwissenschaft selbstverständliche Interesse am triadischen Setting aus Zuschauerin, Darstellerin und Figur, das sich gewinnbringend mit Goffmans Idee eines unlösbaren Zusammenhangs von »production format« und »participation status« verbinden lässt; führt doch eine Veränderung im Verhältnis von Figur und Darsteller automatisch auch zu einer Neujustierung in der situativen Teilnahme von Zuschauern, wie es Erika Fischer-Lichte bereits beispielhaft an einem Klassiker der Performance Kunst, Thomas Lips von Marina Abramović (Galerie Krinzinger, Innsbruck 1975) zeigte: In dem Moment, in dem die Performance keine Unterscheidung mehr zwischen einer möglicherweise dargestellten Performer-Figur und der körperlich anwesenden Darstellerin ermöglichte, da Abramović das Bewusstsein verloren hatte, musste sich der Status der Zuschauer zwangsläufig ändern, vom Publikum einer künstlerischen Performance hin zu den besorgten Mitmenschen, die Abramović medizinischer Versorgung zuführten (Fischer-Lichte 2004: 9–22).

2. Herauf- und Herunterspielen von Humandifferenzierungen Das Spektrum der heute im experimentierenden Theater gebotenen, herausgeforderten bzw. auf den ersten Blick gar aufgelösten traditionellen Teilnehmerrollen beginnt mit leichten Modifikationen des vormals Üblichen – indem Darsteller:innen z.B. nicht mehr eine dramatische Figur verkörpern, sondern scheinbar als ›sie selbst‹ auftreten bzw. als Vertreter:innen einer marginalisierten Gruppe in Szene gesetzt werden (vgl. Wihstutz 2012), oder indem Zuschauer nicht mehr im Zuschauerraum verharren, sondern ihrerseits inszenierte Räumlichkeiten begehen. Am anderen Ende des Spektrums findet sich eine weitgehende Inversion des Aktivitäts- und Erlebensmonopols der traditionellen Theatersituation in Formaten, die den Zuschauern immersive Extremerfahrungen anbieten, und/oder im (schützenden und begrenzenden) Theaterrahmen Gruppendynamiken durch das Übernehmen von sozial inakzeptablen Szenerien und Handlungsanweisungen erlebbar machen, indem sie beispielweise die Grenzen zwischen BDSM-Club und Theatererfahrung erodieren (wie etwa in der Produktion Wir Hunde des Künstler-Duos SIGNA auf den Wiener Festwochen 2016; vgl. Wihstutz 2018), oder die Teilnehmer 187

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gegeneinander ausspielen (»Wir« versus »die Anderen«) – so geschehen beispielsweise durch die zum Ende der Aufführung durch das Publikum per Diskussion zu treffende, hochpolitische Entscheidung zur Informationspolitik im Rahmen von machina eXs Arbeit Lessons of Leaking (Theater Freiburg, 2018). Inhaltlich lassen sich zwei – in jeder Aufführung unterschiedlich stark ausgeprägte – künstlerische Ausrichtungen ausmachen, die die theatrale Auseinandersetzung mit Humandifferenzierung rahmen: einerseits das Betonen, andererseits das Relativieren von Humandifferenzen. Einige Theaterproduktionen verhandeln schwerpunktmäßig mit klar formuliertem aufklärerischen Anspruch Prozesse der Reproduktion von Humankategorien, die hierfür »heraufgespielt« werden – zum Beispiel, indem Rassismus praktisch erlebbar inszeniert wird. So werden in der Inszenierung Enjoy Racism des Künstlerduos Thom Truong (Impulse Theaterfestival 2018, vgl. Unterpunkt 3.) Zuschauer:innen unter genauer Inaugenscheinnahme ihrer Augenfarbe in zwei Gruppen aufgeteilt und gegeneinander sowie gegen ein ›farbiges‹ Darsteller-Ensemble ausgespielt. Andere experimentierende Theaterformate sind hingegen durch ihren immersiven Charakter und durch Aufrufe zur Partizipation als eine affektmobilisierte handelnde Gemeinschaft gekennzeichnet. Hierbei sind aus dem Alltagsleben mitgebrachte Humankategorisierungen durch das Agieren in der spontanen Spielgemeinschaft relativiert – also »heruntergespielt«: So ist das Publikum in der Produktion »£¥€$« der belgischen Gruppe Ontroerend Goed beispielsweise eingeladen, in Sechsergruppen die wirtschaftliche Verantwortung für ein Land zu übernehmen, indem mit- und gegeneinander am Spieltisch dessen Kapitalströme reguliert werden – wobei schließlich gemeinsam der Crash des simulierten Wirtschaftssystems verschmerzt werden muss. Gleichzeitig wird an ihrer Stelle die temporäre spielerische Differenzierung zwischen den (Mit)Spielern und der Außenwelt performativ verstärkt, und so eine intensiv erlebbare Differenz zwischen den Insidern der Spielgemeinschaft und den Außenstehenden hergestellt. Aus dem Publikum wird also scheinbar eine Gemeinschaft geformt. Bei zeitgenössischen experimentierenden Theaterprojekten lassen sich demgemäß Praktiken der Humandifferenzierung in komprimierter Weise und in situ beobachten, gewissermaßen in einem theatralen »Verdichtungsraum« (Wehrle 2015: 16). Auf diese Weise lässt sich die grundsätzliche Praxis des situativen Herauf- und Herabspielens von Humandifferenzierungen – das Verstärken, Reflektieren und/oder Nivellieren von Unterschieden – im Rahmen mikrologischer situativer Zusammenhänge erforschen; dies kann möglicherweise auf ähnlich gelagerte meso- und makrogesellschaftliche Rahmenbedingungen übertragen werden – wie etwa das Hervorbringen gesellschaftlicher »Blasen«. Zeigen lassen sich hier unter Umständen die hochgradig situativ kontingenten 188

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Praktiken der Übernahme und ›Einbettung‹ (vgl. Goffman 1981: 147) von Teilnehmerrollen, Darstellungs- und Wahrnehmungshaltungen, die letzten Endes zur Verfestigung von Humandifferenzen führen. Unter den Theaterproduktionen, die Humandifferenzen explizit bearbeiten, um Sensibilität für marginalisierte Gruppen zu schaffen, sind besonders diejenigen forschungsträchtig, die dies mit dem Versprechen eines aufklärerischen Perspektiv- oder gar Seitenwechsels verbinden: Denn eines der wichtigsten Themen zahlreicher zeitgenössischer Theaterprojekte besteht in der theatralen Untersuchung von Machtstrukturen und den zugehörigen Prozessen von Ermächtigung und/oder Marginalisierung, wobei Rezipienten aus einer wahrnehmungspraktischen Bewusstlosigkeit bzw. aus mangelnder Sensibilität o.ä. herausgeführt werden sollen. Indem etwa tatsächliche Vertreter:innen stigmatisierter Gruppen (Sinti, Muslime, delinquente Jugendliche, usw.) als ›sie selbst‹ mündig vor ein Theaterpublikum treten, sollen diesem die eigenen Wahrnehmungsroutinen vor Augen geführt und dadurch durchbrochen werden. Indem die Zuschauer:innen sich selbst zeitweise in der Rolle von stigmatisierten Opfern oder stigmatisierenden Tätern erleben, soll Sensibilität für Situationen und Positionen geschaffen werden, die marginalisierende bzw. diskriminierende Formen der Humandifferenzierung hervorbringen. Diese Theaterarbeiten explizieren Humandifferenzierungen hierfür und versuchen, sie zu bearbeiten, um ihre Genese als kontingent auszuweisen, sie für das Publikum kognitiv erschließbar und damit eventuell sogar aktiv beeinflussbar zu machen. Besonderen Erkenntnisgewinn verspricht hierbei der Nachvollzug, wie gesamtgesellschaftlich geführte Diskurse situativ und theatral relevant gemacht werden und dabei temporäre und erst im Spiel entstehende feldspezifische Humandifferenzierungen – Bühnenrollen/ Figuren sowie Teilnehmerrollen des Theaters – mit den vom Publikum mitgebrachten, gesellschaftsweiten Humandifferenzierungen interferieren. So übersetzte beispielsweise der Autor, Dramaturg und Regisseur Björn Bicker die Rede von der »Bedrohung des christlichen Abendlandes« durch die »Flüchtlingskrise« nicht nur in theatrale Spielformate, sondern auch in Angebote zur Übernahme bestimmter Teilnehmerrollen im Rahmen des Projekts Munich Welcome Theatre (Münchner Kammerspiele, 2015/2016). In diesem zugleich künstlerischen wie politischen Projekt suchte er gemeinsam mit Malte Jelden die Kammerspiele zu einem Modellprojekt umzustrukturieren, das u.a. vorsah, im Rahmen einer aktiven Patenschaft für ein Wohnprojekt Geflüchtete auch in die Arbeits- und Gestaltungsprozesse des Theaters einzubeziehen, wobei offenbar rasch die Grenzen des institutionell Tragbaren erreicht waren: Denn übrig blieb vom Projekt lediglich dessen ursprünglicher Auftakt, ein »Open Border Kongress« bei dem »KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und AktivistInnen« auftraten (vgl. zu diesem Thema 189

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die Darstellungen des Projektes auf den Webseiten von Björn Bicker, der Kulturstiftung des Bundes sowie der Münchner Kammerspiele).

3. Enjoy Racism! Ein stärker immersiv-spielerisches Projekt richtete das Künstlerduo Thom Truong mit seiner Arbeit Enjoy Racism beim Impulse Theater Festival 2018 aus, das im Folgenden etwas eingehender analysiert werden soll (der Beschreibung zu Grunde liegt der Besuch der Veranstaltung durch Stefanie Husel am 22.06.2018 in Mühlheim an der Ruhr): Hier wurden Besucher:innen in eine »blauäugige« und eine »braunäugige« Gruppe unterteilt, wobei die tatsächliche Augenfarbe der Besucher peinlich genau in Augenschein genommen wurde und dem Spiel als Grundlage diente. Es lässt sich anmerken, dass schon durch die Inspektion des Auges die traditionelle Zuschauer-Rolle eine Thematisierung erfuhr und zur Disposition stand. Vorgenommen wurde die Unterteilung durch zwei Mitglieder des Darstellerensembles, eine Frau mit ›asiatischem‹ und einem Mann mit ›afrikanischem‹ Aussehen. Der kritische Blick auf tatsächliche Augenfarben machte weiterhin schon von Anfang an deutlich, dass praktische Konsequenzbefreitheit im Rahmen der besuchten Theaterveranstaltung nicht in jeder Hinsicht gelten würde und dass die konkreten Körper der Anwesenden (nicht nur deren kulturelle Bedeutung) durchaus ›eine Rolle spielen‹ sollten. Während die Gruppe der blauäugigen Zuschauer in einen Raum mit Sitzgelegenheiten und Buffet geführt wurde, wurden die Braunäugigen in einen engen Kellerraum verbracht, der keine Sitzgelegenheiten oder andere Annehmlichkeiten bot. Beide Gruppen konnten die jeweils anderen über eine Leinwandprojektion sehen. Während die Inszenierung sich darauf für eine Weile hauptsächlich im Raum der Blauäugigen abspielte, verblieben die Braunäugigen eher in einer passiven Zuschauhaltung. Eine Showmasterin, bzw. Workshopleiterin trat im Raum der blauäugigen Besucher auf und stellte sich als »Marie-Claire Blanche« vor; sie trug eine geblümte Bluse, weiße Handschuhe, eine blonde Perücke und helles Make-up. Dennoch blieb sichtbar, dass die so hergerichtete Schauspielerin ›im echten Leben‹ als ›schwarz‹, bzw. ›afrikanisch‹ betrachtet würde. Für eine Weile schwor »Marie-Claire Blanche« in elitärem Duktus die Blauäugigen auf deren Privilegiertheit ein, um schließlich darauf hinzuführen, dass nun – im Rahmen eines künstlerischen Experiments zu Rassismus und Diskriminierung, die Braunäugigen (»the Brownies«) in den Raum geholt würden. Es wurden Regeln genannt, auf welche Weise die Minderprivilegierten dann zu diskriminieren seien (»Betrachtet Sie nicht als Menschen«..., etc.), damit der Rassismus einmal so richtig genossen 190

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werden könne (»Enjoy Racism«!). Tatsächlich wurden hie‑rauf – zum Teil unter Protest der Besucher – die Braunäugigen in den Raum gebeten und in der Mitte des Stuhlkreises platziert, in dem die Blauäugigen bislang saßen, wobei das Licht dramatisch gedimmt wurde; allerdings setzte sich »Marie-Claire Blanche« nun unerwartet zu den Braunäugigen und entledigte sich ihrer Bluse, Handschuhe und Perücke, unter gebannter Stille schminkte sie sich ab. Das Licht ging wieder an, und die Braunäugigen und Blauäugigen wurden aufgefordert, ihre Positionen zu tauschen. Nachdem dies geschehen war, umrundete die nun abgeschminkte Showmasterin die Gruppe, jetzt eher militärisch rau artikulierend; sie befahl den nun abgegrenzten Blauäugigen, den Mund zu halten, zu Boden zu blicken, etc. Hierauf brandete endgültig innerhalb kürzester Zeit Protest auf. Die auf solche Weise Angesprochenen begannen vehement, das Mitspielen zu verweigern, sie folgten den ›Befehlen‹ nicht, suchten die Konfrontation. Schließlich wurde die Situation durch »Marie-Claire Blanche« und die übrigen Figuren/Ensemblemitglieder zunächst in eine Diskussion überführt und schließlich beendet. Unter expliziter Bezugnahme auf die als blue eyes – brown eyes exercise bekannt gewordenen Interventionen von Jane Elliott, die seit den 1970er Jahren zu einem Standard der Anti-Diskriminierungsarbeit geworden sind, führen Thom Truong die Teilnehmer des Abends Enjoy Racism zu einer den ursprünglichen Interventionen Elliots regelrecht entgegengesetzten Erfahrung: Elliot zielte darauf ab, rassistische Markierung und Diskriminierung auch für im Alltag nicht rassistisch diskriminierte – also ›weiße‹ – Mitwirkende affektiv erlebbar zu machen, und auf diese Weise darauf zu verweisen, dass Rassismus als nicht zu naturalisierende, kulturell erlernte Praxis jedem jederzeit widerfahren könne, dabei aber gewissermaßen reversibel bzw. situationsabhängig veränderbar sei, kurz ›verlernt‹ werden könne. Besucher der Inszenierung Enjoy Racicsm hingegen wurden zu der weit weniger erquicklichen Pointe geführt, dass sie, die im echten Leben privilegierten, unmarkierten ›Weißen‹, selbst in der Welt des Spiels nicht stigmatisierbar sind – unbeeindruckt setzten sie sich in der Performance gegen zugeschriebene Minderwertigkeit zur Wehr, nur allzu hörbar äußerte der eine oder die andere dabei rassistische Klischees, bei denen die Hörerin sich fragen musste, ob diese nun den Figuren des Spiels oder den ›tatsächlich‹ rassistisch markierbaren Schauspielern, insbesondere der Darstellerin der Showmasterin »Blanche« galten.1 In Theaterarbeiten wie der beschriebenen treten also unterschiedliche Differenzierungsformen miteinander in Korrespondenz, interagieren miteinander bzw. führen ihre Interferenzen vor Augen: So geraten in der 1 Selbstverständlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Arbeit ausschließlich von »weißen« Zuschauer:innen besucht wurde. Allerdings wurde die Inszenierung bislang nur in Deutschland und der Schweiz

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beschriebenen theatralen Spielsituation die situativen Funktionsrollen der Theatermacher bzw. Spielfiguren und des Publikums bzw. der Mitspieler in Konflikt mit der unabhängig vom Theaterspiel mitgebrachten und situativ »hochgespielten« Humandifferenz des Gesichtstyps, bzw. der Hautfarbe als eines Markers von »Rasse«. Besucher werden mit dem praktischen Entstehen diskriminierender Grenzziehung konfrontiert, ja sie werden dazu animiert, selbst zu diskriminieren (bzw. sich als Diskriminierte zu erleben): Sie lassen sich beispielsweise dazu hinreißen, die Bühnenfigur »Marie-Claire Blanche« mit potentiellen Rassismen anzusprechen, die eigentlich der Darstellerin gelten, zum Beispiel, wie in der hier beschriebenen Aufführung, mit: »Du gehörst doch selbst zu den Brownies« – eine Replik, die, ausschließlich im Kontext des Spiels um den fiktiven Workshop betrachtet, nur die Braunäugigkeit »Marie-Claire Blanches« kommentiert, ja darauf antwortet, dass die Figur die Gruppe der Braunäugigen zuvor mit dieser Bezeichnung tituliert hatte. Allerdings bezieht sich der Begriff auf den tatsächlichen, empirisch anwesenden Körper und die Augenfarbe der Darstellerin – und auf diese Weise möglicherweise auch auf den Rest ihrer körperlichen Existenz. In diesem Kontext betrachtet, als die Ansprache einer Frau mit dunkler Hautfarbe und braunen Augen, wird aus der Bezeichnung für ein süßes Schokogebäck ein sowohl rassistischer als auch sexistischer Angriff, und wirkt in ganz anderer und weit massiverer Weise beleidigend, als es der Fall war, wenn zuvor die (von der farbigen Frau gespielte) Figur eine gemischtgeschlechtliche Gruppe weißhäutiger Menschen mit braunen Augen so bezeichnete. Darüber hinaus spielen auch noch weitere, eher gesellschaftliche Differenzierungen in die Situation hinein, die von den Theatermachern vermutlich nicht intendiert und auch kaum steuerbar sind. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass nur einige wenige Besucher sich zu Rädelsführern im halb ernsten, halb gespielten Konflikt aufschwingen und sich zu kompromittierenden Äußerungen wie der zitierten hinreißen lassen; möglicherweise sind dies diejenigen Besucher, denen die Inhalte antirassistischer Diskurse fremd sind, und die insofern falsch einschätzen, inwieweit ihr Verhalten für den Insider als »typisch privilegiert« lesbar wird, sobald sie bestimmte potentiell sich anbietende Rollen im Spiel bereitwillig ausfüllen, vielleicht auch Personen, die sich mit den Dynamiken in Rollenspiel-Situationen nicht auskennen, und nur aus diesen Gründen ein Mitspiel-Verhalten zeigen, bei dem sie als rassistisch oder zumindest massiv unsensibel geoutet bzw. vorgeführt sind. Insofern rückt in den Aufführungen neben der Übersetzung ubiquitärer Diskurse in konkrete situative Praktiken von Diskriminierung auch die Unterscheidung in aufgeführt und richtete sich entsprechend an ein mehrheitlich »weißes« Publikum.

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mehr oder minder spezifisch gebildete Besucher in den Fokus. Indem die Humandifferenzierung nach ›Rasse‹ hier weitere, etwa nach ›Geschlecht‹ oder/und ›Leistung‹ mit sich zieht, kann das Spiel nachgerade zu einem »Stereotypen-Judo« hinsichtlich der wechselseitigen diskriminierenden Askriptionen eskalieren. In Aufführungssituationen von Theaterprojekten wie Enjoy Racism, die Humandifferenzierung explizit bearbeiten und sie mit den Teilnehmerrollen der theatralen Spielsituation interagieren lassen, können also in situ Praktiken des Herauf- und Herabspielens von Humandifferenzen in ihrer mannigfachen Kontingenz beobachtet werden; zum Beispiel lässt sich nachvollziehen, welche Darstellungsformen zu welchen Teilnahmeangeboten führen, es wird diskutabel, welche Dispositionen der Mitspieler möglicherweise dafür sorgen, dass etwa bestimmte Mitspielangebote umgesetzt und andere ignoriert werden. Darüber hinaus erlauben solche Projekte hinsichtlich ihres Produktionsprozesses, zum Beispiel mit Blick auf ihre Planungs- und Finanzierungsphase, in ihrer Nachbesprechung und medialen Resonanz, Einblick in die Art und Weise, wie sich hier abstrakte und großskalige Humandifferenzen – im genannten Beispiel »Rasse« – diskursiv abbilden, auf welche Weise sie in unterschiedliche kulturelle Sinnschichten übersetzt werden, etwa in ästhetische Programme und Handlungsweisen, um schließlich wiederum in neue gesellschaftliche Diskurse und neue mediale Formen überführt zu werden – z.B. in Feuilletonartikel, Seminararbeiten oder Stammtischgespräche. Mithin rückt die Transformation der kulturellen Existenzweisen dieser Humandifferenzierungen und deren Bedingungskonstellationen im Prozess der Produktion und Rezeption besagter zeitgenössischer Theaterinszenierungen in eine heuristische Perspektive: Mit Blick auf Theaterproduktionen wie die beschriebene lässt sich dann fragen, welche politischen, wirtschaftlichen, technisch-praktischen Voraussetzungen überhaupt dazu führen, dass bestimmte Humandifferenzen im Theater reflektiert werden; baben beispielsweise Projekte mit verstärkt aufklärerischem Gestus bessere Chancen, finanziell gefördert bzw. im Spielplan platziert zu werden? Und welche Differenzierungserfahrungen werden hierbei als irritierend wahrgenommen, welche ereignen sich hingegen »unter dem Radar« der Aufmerksamkeit des Publikums?

4. Aufklärung oder Verdummung? Mit Blick auf den aufklärerischen Gestus von Theaterarbeiten wie der oben beschriebenen bleibt weiterhin die Forschungsfrage nach der tatsächlichen gesellschaftlichen Reichweite in Anbetracht der feldspezifischen »blinden Flecken« bestehen: Mit welchen Folgen und auf wessen 193

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Kosten sind ästhetische Situationen dazu in der Lage, Humandifferenzierungen – zumindest temporär – zu bearbeiten? Werden Diskriminierungen wirklich durchschaubar gemacht und/oder situativ überwunden, oder tun sich vielmehr neue Machtgefälle auf? So deuten – mit Andreas Reckwitz’ Theorie zur Herstellung sozialer Wertigkeit in der zeitgenössischen spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten gesprochen – Kulturalisierungsprozesse (Reckwitz 2017: 371– 442) im institutionellen Feld von Freien/Theatern, Kunsthallen und Festivalbetrieben darauf hin, dass eine individualisierende »Hyperkultur« dort in tendenziell vergemeinschaftenden »Kulturessentialismus« radikal umzuschlagen vermag und vice versa: So geht es beispielsweise im kleinen und ökonomisch prekären Feld der Theaterpraxis und im davon oft abhängigen Feld ihrer akademischen Untersuchung vor allem anderen um Valorisierung und die damit zusammenhängende Verteilung von Fördergeldern, Aufmerksamkeit sowie anderen, äußerst knappen Ressourcen. Ferner lässt sich beobachten, dass die Teilnahme an einschlägigen Events gerade der neuen Kunstszene partizipativen Theaters als exkludierende, tendenziell vergemeinschaftende Praxis ausagiert wird: Eine sich individualistisch distinguierende Elite einer postmodern verklärten »Hyperkultur« organisiert sich und valorisiert gemäß latenter, tendenziell tribalistischer Strukturen. So ließe sich die viel beachtete Inszenierung von Shakespeares Hamlet durch Christoph Schlingensief (Schauspielhaus Zürich, 2001; vgl. Umathum 2002), bei der ausstiegswillige Neonazis auftraten, unter diesem Blickwinkel wie folgt abstrahieren: Eine Gemeinschaft großbürgerlicher und geldadeliger, kaum hyperkulturell gebildeter älterer Semester findet sich im Rahmen einer hochgradig etablierten und institutionalisierten Veranstaltung zusammen (und beobachtet sich dabei), wie sie der Inszenierung eines jugendlich-intellektuellen enfant terrible des Off-Kulturbetriebs (einem Liebling hyperkulturell aufgestellter Bohemiens) beiwohnt, die sich ihrerseits mit sozial und kulturell devianten (wenn nicht gar delinquenten) Individuen befasst, die wiederum einer Szene kulturessenzialistischer Prägung zugehören. Auch und gerade im Rahmen solch komplexer Verhandlungen kulturalisierender Praktiken lässt sich entsprechend nach dem Wissens-Machtgefälle zwischen Akteur:innen und Zuschauer:innen fragen. Inwieweit sind situativ-reflexive Inszenierungen wie die beschriebenen als die »neue Bühne der Gleichheit« zu verstehen »[…] wo unterschiedliche Performances sich ineinander übersetzen« (Rancière 2015: 33, Hervorh. FK/ SH), wie Jacques Rancière sie als die Innovation der Gegenwartskunst in seiner wegweisenden Schrift Der emanzipierte Zuschauer feiert? Benötigt doch eine ethische Ästhetik wie die beschriebene gerade die Gleichheit der übersetzerischen Fähigkeiten, wobei »die gemeinsame Macht der Gleichheit der Intelligenzen [...] die Individuen [verbindet], sie ihre intellektuellen Abenteuer untereinander austauschen [läßt]« (ebd.: 27f.). 194

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Hierfür bedarf es, so Rancière »[…] der Zuschauer, die die Rolle aktiver Interpreten spielen, die ihre eigene Übersetzung ausarbeiten, um sich die ›Geschichte‹ anzueignen und daraus ihre eigene Geschichte zu machen. Eine emanzipierte Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von Erzählern und von Übersetzern« (ebd.: 33). Voraussetzung solch wahrhaft aufgeklärter, intellektueller Abenteuer ist allerdings für Rancière – jenseits der pseudo-emanzipativen »Teilhabe an einer in der Gemeinschaft verkörperten Macht« – dass die Theatersituation gerade Individuen (und ihre Teilnehmerrollen) »voneinander getrennt hält, sofern sie alle fähig sind, die Macht aller zu verwenden, um ihren eigenen Weg zu gehen« (ebd.: 28). Rancière beschreibt also die geregelte Sicherheit einer traditionellen Theatersituation mit klaren Teilnehmerrollen als Grundvoraussetzung für eine Interaktion in intellektueller Gleichwertigkeit, während er dem Spiel mit situativer Vergemeinschaftung u. Ä. misstraut. Der wahrhaft aufklärerischen Ästhetik stellt Rancière hierbei Strategien der »Verdummung« gegenüber (ebd.: 20), die ein Wissens- und Machtgefälle zwischen Produzenten und Rezipienten verfestigen und aufrechterhalten. Entsprechend lässt sich an dieser Stelle die Frage präzisieren, die immersiv-experimentellen Theaterarbeiten wie der oben beschriebenen gestellt werden könnte: Müssten manche solcher Arbeiten, obgleich mit aufklärerischem Gestus agierend, nicht auch mit Blick auf ihre latenten Strukturen der »Verdummung« untersucht werden? Beispielsweise indem auf Unterschiede in der Vorbildung von Theaterbesuchern in Bezug auf deren Praxiswissen verwiesen wird; kann in Veranstaltungen »Mitspielkompetenz« (Reichertz 1989) durch die Besucher hergestellt werden – oder wird coram publico beschämende Degradation vorgeführt? Besagte künstlerische Gemengelagen könnten mithin symptomatisch beschrieben und analysiert werden für eine theaterästhetische Wende hinsichtlich der Regime der Künste (Rancière 2006: 87) seit Beginn des neuen Millenniums. Wird doch von zahlreichen Theatermachern und -theoretikerinnen ein »ethisches Regime der Künste« vorangetrieben, das Formen von Kunst in Bezug auf ethische Kriterien/Normen von ›gut‹ oder ›schlecht‹ betrachtet und beurteilt. In Frage gestellt und modifiziert wird hierbei das traditionelle »ästhetische Regime der Kunst«, aus dessen Perspektive Rancière grundsätzlich argumentiert – mit dessen von Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts (1795) her gedachtem ästhetischen Versprechen von Gleichheit und Freiheit. Einer solchen Vorstellung von Gleichheit, die nicht in der Politik realisiert werden kann, sondern nur auf der Ebene des von sozialen und politischen Zusammenhängen freien sinnlichen Erlebens, wirkt das von Rancière beschriebene neue ethische Regime der Künste entgegen. In einer auf Fragen der Humandifferenzierung zielenden und deren jeweilige Aktualisierungen in situ untersuchenden theaterwissenschaftlichen 195

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Analyse ließen sich Kunstformen mit ethischem und aufklärerischen Gestus hinsichtlich ihrer tatsächlichen empirischen Reichweite sowie hinsichtlich ihrer ggf. implizit mit-realisierten Differenz und Diskriminierung verstärkenden Effekte untersuchen, wobei mit Blick auf R ­ ancières Ausführungen darauf fokussiert werden könnte, ob möglicherweise latente Strukturen der »Verdummung« auch (und gerade?) in Arbeiten mit explizit ethischer Sendung wiederfindbar sind.

5. Schluss: Aufführungsanalytische Feinarbeit und theaterethnografische Verfahrensweise Solchen und ähnlichen Forschungsfragen wird wohl nur effektiv nachgegangen werden können, wenn theaterwissenschaftliche Studien sich in ihrer Beobachtung der Aufführungssituation eine erweiterte methodische Perspektive erschließen, die in der Lage wäre, die Mikro-Logik situativ gebotener und/oder angenommener Teilnahme durch Publikumsmitglieder sowie das »Produktions-Format« (vgl. Goffman 1981) darstellerischer Äußerungen zu untersuchen. Dies würde möglich durch eine Erweiterung der üblichen Zugriffe semiotischer und phänomenologischer Art, beispielsweise mittels (auto)ethnografischer Verfahrensweisen, die sich der Logik des beforschten untersuchten Feldes »anschmiegen« (vgl. Husel 2019, 2020). Denn erst in einem erweiterten Verständnis der interund übersituativen Anschlüsse aufführungsinterner Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen wird nachvollziehbar, wie Humandifferenzierungen im Sinne von globalen Raumtrennern wie ›Rasse‹ oder ›Geschlecht‹, etc. situativ aufgerufen, rekrutiert, besetzt (oder gar ausgesetzt) werden. Um eine entsprechende Perspektive zu entwickeln, könnten als thematisch einschlägig identifizierte Projekte im Idealfall von ihrer konzeptionellen Entwicklung an mitverfolgt werden, um die Übersetzungsschritte nachzuvollziehen, die Humandifferenzen im Rahmen ihrer künstlerischen Bearbeitung erfahren, um schließlich in Aufführungssituationen aufzutauchen und wiederum von Publika verarbeitet zu werden. Hierbei könnten fünf Stationen im Prozess der Aufführungsgenese gesonderte Aufmerksamkeit erfahren: 1) Spielplanplatzierung (im Falle von Staats-/Stadttheater-Projekten) und/oder Projektanträge zur Mitteleinwerbung (im freien Theater, der Festivalszene): Welche Projekte werden aufgrund welcher thematischen Ausrichtung zur Spielplangestaltung, bzw. Förderung in Betracht gezogen und auf welche Weise wird hierbei mit Humandifferenzen umgegangen? Aus welchem Grund also wurde beispielsweise die oben besprochene Produktion Enjoy Racism auf bestimmte Festivals eingeladen, gefördert? 196

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2) Casting, Dramaturgie und Produktion: Welche Darsteller werden aus welchen Gründen gecastet (Geschlecht, Ethnizität, Sprache etc.), welche dramaturgischen Entscheidungen führen zur praktischen theatralen Bearbeitung welcher Humandifferenzen und welche Produktionsumstände schreiben sich in die Inszenierungen ein? Welchen Einfluss hatte also beispielsweise die Besetzung der Workshopleiterin in Enjoy Racism durch die Darstellerin Ntando Cele, bzw. aufgrund welcher Produktionspolitik wird hier in Ankündigungen von einer Regiearbeit von Thom Truong gesprochen, während die ihrerseits erfolgreiche Performerin Cele, die mit Sicherheit durch die Ausgestaltung ihrer Figur entscheidenden Einfluss auf die Performance hat, lediglich als Darstellerin geführt ist? 3) Probenprozess: Welcher inneren Logik folgt die künstlerische Arbeit – nach welchen Relevanzen werden Darstellungsmittel und Spielvorgaben ausgewählt, kombiniert, verworfen oder fixiert? Welche Übersetzungspraktiken materieller, diskursiver und physischer Art sind zu beobachten, die Humandifferenzierung in ihrer je spezifischen Zurichtung lokalisieren bzw. »im Projekt halten«; zu diesem Zweck müssten beispielsweise Interviews mit Künstlern und/oder Probenbesuche der analysierten Produktion angestrebt werden. 4) Aufführungen: Den üblichen aufführungsanalytischen Blickwinkel der Theaterwissenschaft erweiternd, ließe sich an dieser Stelle spezifisch nach den temporären Besetzungen angebotener, künstlerisch gestalteter Teilnehmerrollen (i. S. v. Goffmans participation frameworks) durch Zuschauer/Besucherinnen fragen – entstehen doch humandifferenzierte Zugehörigkeiten nicht nur über die Herkünfte von Menschen, sondern immer auch über »Einsätze, die (im Sinne Bourdieus) in ein feldspezifisches Spiel involvieren« (Hirschauer 2017: 33). Für den Kontext konkreter Aufführungssituationen werden entsprechend all jene Praktiken, Diskurstechniken, Rahmenbedingungen und Artefakte interessieren, die den jeweiligen Teilnehmern im Feld der untersuchten Aufführungen den Anschluss an humandifferenzierende Diskurse ermöglichen, erleichtern, erschweren oder verwehren. Im besprochenen Beispielfall wären Mitspielzüge wie die oben diskutierte Ansprache der Darstellerin Cele, bzw. der Figur Blanche als »Brownie« besonderer analytischer Sorgfalt zuzuführen, z.B. indem das Gespräch mit dem betreffenden Zuschauer/Mitspieler gesucht würde. 5) Publikums- und mediale Resonanz: Welche Aneignungen und diskursiven »Rückübersetzungen« von Humandifferenzierung nehmen die Teilnehmer der Aufführungssituationen für sich und/oder für eine Öffentlichkeit vor? An dieser Stelle ließen sich die medialen Besprechungen von Enjoy Racism untersuchen und/oder Publikumsbefragungen durchführen. Im Rahmen einer solcherart ethnographisch erweiterten Untersuchungsweise würde der Prozess der Produktion und Rezeption der beforschten Theaterprojekte in umfassender Weise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Die Aufführungsanalyse, sonst Kernstück 197

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theaterwissenschaftlicher Forschung, würde entsprechend eingebettet in ein sowohl temporal als auch methodisch breiter aufgefächertes, theater­ ethnografisches Untersuchungsdesign. Die genannte Forschungshaltung ergibt sich dabei aus dem grundlegenden Interesse an der Logik des Feldes selbst, an den hier waltenden Kräften und Praktiken der Humandifferenzierung, die – in ihrer ganzen Materialität, Körperlichkeit und Prozesshaftigkeit – erst in einem breiteren diskursiven, materiellen und temporalen Zusammenhang sinnvoll beschreibbar werden, wie er sich in den fünf Phasen der Projektgenese abbildet. Theaterästhetische Fragestellungen, beispielsweise im Zusammenhang mit dem o.g. »Regimewechsel« in den Künsten, könnten in empirisch ›tiefer gelegter‹ Art und Weise untersucht werden. Und der sozialwissenschaftlichen Differenzierungsforschung könnte die Theaterwissenschaft umgekehrt Einblicke eröffnen in das wohl flüchtigste Moment der Humandifferenzierung – Körperhaltungen, Bewegungen, Gestik, Stimmlagen, Affektpräsentationen – und zwar im Rahmen der Untersuchung der temporären und erst im Spiel entstehenden Interferenzen des feldspezifischen triadischen »production format« (Goffman 1981) wie Bühnenrollen und Figuren sowie der zugehörigen Teilnehmerrollen, bzw. »Participation Frameworks« (ebd.) und vom Publikum mitgebrachten, gesellschaftsweiten Humandifferenzierungen.

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Matthias Krings und Mita Banerjee

Grenzverwischung Kategoriale Transgressionen der Schwarz/Weiß- und der Alt/Jung-Unterscheidung im Vergleich »He’s one of us, but he doesn’t want to admit he’s one of us«, soll Charlie Parker über Anatole Broyard nach einer flüchtigen Begegnung im New Yorker Washington Square Park gesagt haben (Gates 1996). Broyard war jahrzehntelang einer der einflussreichsten Literaturkritiker der USA. Er wurde 1920 als Schwarzer geboren, wechselte im Alter von 18 Jahren seine kategoriale Zugehörigkeit, indem er auf einer Sozialversicherungskarte bei Hautfarbe ›weiß‹ ankreuzte, und lebte bis zu seinem Tod 1990 als Weißer. Seine Hellhäutigkeit und ein ostentatives ›doing being white‹ machten es möglich. Henry Louis Gates Jr. (1996) bezeichnet Broyard, der sich in einer Reihe von Essays zwischen den Zeilen mit seinem passing auseinandersetzte, ohne es jemals explizit zu machen, als »Scheherazade of racial imposture«. Für viele seiner Freunde war Broyards passing dennoch ein offenes Geheimnis. In dieser Hinsicht ähnelt Broyards passing as white dem passing as young, das viele US-amerikanische Celebrities mithilfe von kosmetischen Operationen betreiben, womit sie die körperlichen Spuren ihres tatsächlichen Alters kaschieren. Solche Operationen finden oft unter höchster Geheimhaltung statt (Perrotta 2017), was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht doch ein offenes Geheimnis wären, das von der Boulevardpresse entsprechend genährt wird. In unserem Beitrag untersuchen wir individuelle Überschreitungen kategorialer Grenzen im Kontext der Alters- und der Rassendifferenzierung. Hierfür ziehen wir sowohl historische als auch rezente Fälle heran, die überwiegend in den USA situiert sind und denen gemeinsam ist, dass sie die Alt/Jung- bzw. die Schwarz/Weiß-Unterscheidung herausfordern. Solche seltenen Fälle der Transgression sind instruktiv, weil sie die grundsätzliche Permeabilität von Humankategorien vor Augen führen. Dadurch machen sie auch die Kontingenz und Kon­ struiertheit der Differenzierungen deutlich, die für sie konstitutiv sind. Außerdem gehen wir davon aus, dass auch der Vergleich der beiden Differenzierungen – anhand des ›Seitenwechsels‹ als tertium comparationis – lohnend sein kann. Indem wir eine Differenzierung durch eine 201

MATTHIAS KRINGS / MITA BANERJEE

andere lesen, erhoffen wir uns, etwas Neues über die Eigenlogik und -dynamik der jeweiligen Differenzierung zu erfahren.1 Wir betrachten Alter und ›Rasse‹ aus der Perspektive des praxistheoretisch grundierten Forschungsparadigmas der Humandifferenzierung (Hirschauer/Boll 2017). Dies bedeutet, dass Alter und ›Rasse‹ nicht einfach biologische Tatsachen sind, sondern soziale Konstruktionen, die in spezifischen sozialen Praktiken hervorgebracht werden. Menschen sind nicht einfach ›schwarz‹ oder ›alt‹, ›weiß‹ oder ›jung‹ – sie werden durch sozio-kulturelle Praxis dazu gemacht und machen sich auch selbst dazu. Wenn wir im Folgenden also von ›doing age‹ und ›doing race‹ sprechen, trägt das dem Umstand Rechnung, dass in den Kulturwissenschaften bereits seit geraumer Zeit das, was herkömmlich als biologische Eigenschaften oder körperliche Merkmale von Personen gedacht wurde, als Vollzugswirklichkeit konzeptualisiert wird (Hirschauer 2014; West/ Zimmerman 1987). Dies bedeutet, dass ›Rasse‹ und Alter, bzw. die Zugehörigkeit zu einer von mehreren Kategorien der jeweiligen Humandifferenzierung (bspw. ›Schwarz‹ oder ›Weiß‹, ›Jugendlicher‹ oder ›Erwachsener‹), in interaktiven Prozessen erst hervorgebracht werden müssen. Personen, die kategoriale Grenzen ausdehnen (z.B. erwachsene ›Berufsjugendliche‹) oder sich einer anderen Kategorie zugehörig fühlen (z.B. Weiße, die als Schwarze leben), sind in dieser Hinsicht besonders instruktiv. Denn in solchen Fällen gehen Fremd- und Selbstklassifikation auseinander und sollen durch mehr oder weniger ostentatives doing being young bzw. doing being black zur Deckung gebracht werden. Von diesen Fällen kann man zum einen etwas darüber lernen, wie kulturelle Praxis aussieht, die gesellschaftlich als einer bestimmten Alterskategorie ›angemessen‹ konstruiert bzw. als ›weiß‹ oder ›schwarz‹ rassialisiert wird. Zum anderen zeigen die öffentlichen Debatten, die sich an solchen Fällen entzünden, dass in populären Diskursen Essenzen, hier Abstammung und Geburtsdatum, höher rangieren, um Zugehörigkeit zu reklamieren, als kulturelle Performanzen. Im Folgenden gehen wir zunächst auf die Eigentümlichkeiten der Rassen- und der Altersdifferenzierung ein und erläutern grundlegende Unterschiede und Gemeinsamkeiten (1). Sodann stellen wir Fälle des doing race dar, welche die kategoriale Grenze der Schwarz/Weiß-Unterscheidung von ›Schwarz‹ nach ›Weiß‹ (2) und in umgekehrter Richtung queren (3). Der gleichen Logik folgen auch die beiden nächsten Kapitel, die Fälle des doing age vorstellen, wobei zunächst Fälle der Verjüngung Älterer behandelt werden (4), um danach nach inversen Praktiken Ausschau zu halten (5). Im anschließenden Kapitel erfolgt eine 1 Für wiederholte Lektüre und konstruktive Kritik in verschiedenen Entwicklungsstadien dieses Aufsatzes danken wir Tobias Boll, Heike Drotbohm, Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff und Benjamin Wihstutz.

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rekapitulierende Diskussion der Fälle in vergleichender Absicht (6), um zum Fazit zu kommen (7).

1. Rassendifferenzierung und Altersdifferenzierung ›Rasse‹ ist eine Fiktion, die im Kontext von Sklaverei und Kolonialismus ins soziale Leben gesprungen ist und sich dort – obwohl selbst lebenswissenschaftlich längst widerlegt – hartnäckig hält. ›Rasse‹ wird an der Körperoberfläche, an Hautfarbe, Haarstruktur und Gesichtszügen festgemacht, die als Marker kategorialer Zugehörigkeit dienen, aber auch tief im Inneren des Körpers verortet, wie nicht zuletzt die Rückkehr des Rassediskurses in Teilen der Genetik zeigt (Plümecke 2013). Das Konzept ›Rasse‹ ist niemals ein unschuldiges gewesen, sondern ad originem rassistisch. Menschen zu rassialisieren heißt, sie in unterschiedliche Kategorien zu sortieren, die mit unterschiedlichem Wert versehen und hierarchisch organisiert sind. Rassialisierung bezeichnet ferner eine Extension rassistischer Unterscheidung in der Gesellschaft, sodass die Rasselogik vom Körper auf andere Sinnschichten wie kulturelle Praxis, räumliche Ordnung oder Gesetzestexte übergeht, was zur graduellen Härtung der Differenzierung führt (›schwarze Wohnviertel‹, ›weiße Zugabteile‹, ›Indian Reservations‹ u.ä.). Die Rassendifferenzierung kennt eine je nach Zeit und Raum variable Anzahl von Kategorien. In Linnés Sytema naturae (1758) sind es noch vier, in den USA, auf denen unser Hauptaugenmerk liegt, sind es im 20. Jahrhundert fünf Kategorien, die routinemäßig auf Formularen und im alle zehn Jahre stattfindenden Zensus abgefragt werden: Euro-American, African American, Asian American, Hispanic und American Indian. Für diese Kategorien werden in der Fremd- und Selbstbeschreibung oft auch die farblichen Synonyme ›Weiß‹, ›Schwarz‹, ›Gelb‹, ›Braun‹ und ›Rot‹ verwendet. Auch der Zensus von 2020, der 14 Kategorien zur Auswahl stellt, ist bei genauerer Betrachtung nach wie vor durch diese fünf Kategorien des ›ethno-racial pentagon‹ (Hollinger 1995: 23) grundiert.2 Kategorien wie ›bi-racial‹ oder ›multi-racial‹ 2 Auf dem Zensusformular wird Frage Nr. 8 nach ›Hispanic origins‹ vor Frage Nr. 9 nach ›race‹ gezogen, wobei der Hinweis erfolgt, dass Personen beide Fragen beantworten müssen (»For this census, Hispanic origins are not races«). Frage Nr. 9 nach der ›rassischen‹ Selbstkategorisierung gibt – in dieser Reihenfolge – die Kategorien ‚›White‹, ›Black‹ und ›American Indian/Alaska Native‹ vor, jeweils mit einem Feld, in dem die ethnische oder nationale Abstammung handschriftlich eingetragen werden soll. Darauf folgen 9 Kästchen, in denen asiatische Nationalitäten oder Ethnizitäten vorgegeben werden bspw. ›Chinese‹, ›Japanese‹ oder ›Asian Indian‹, ohne jedoch die übergeordnete Kategorie ›Asian‹ zu benennen. Es folgen noch zwei handschriftlich

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werden auf den Erhebungsbögen zwar nicht explizit angeboten, seit dem Zensus des Jahres 2000 besteht jedoch die Möglichkeit, mehr als eine der 14 Kategorien anzukreuzen, sodass Mehrfachzugehörigkeit zumindest bürokratisch eingeräumt wird. Die Schwarz/Weiß-Unterscheidung, um die es im Folgenden im engeren Sinne gehen soll, bringt zwei der fünf Kategorien des ethno-racial Pentagon ins Spiel. Historisch wurde eine Person, die weiße und schwarze Vorfahren hatte, sich also zwischen den kategorialen Polen ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ befand, als Mulatto, Quadroon, Octoroon oder Hexadecaroon bezeichnet, je nach generationellem Abstand zu einem schwarzen Vorfahren. Erst die Hypodeszendenz-Regel, die in der Periode der Jim Crow-Gesetzgebung festgeschrieben wurde, sorgte dafür, dass solche Personen als ›schwarz‹ klassifiziert wurden, mochten sie auch noch so hellhäutig sein. Durch diese sogenannte ›one drop rule‹ wurde der Raum zwischen den Kategorien ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ juristisch de facto aufgehoben. Die Schwarz/Weiß-Unterscheidung basiert historisch also auf einer rein/unrein-Unterscheidung (Douglas 1966), die deutlich im Weißsein zentrierte. Wenn im US-amerikanischen politischen Diskurs der Gegenwart Schwarze und Weiße nach wie vor als binäre Opposition behandelt werden, zeigt sich darin eine Spur der juristisch längst obsoleten rassistischen Hypodeszendenzregel. Die Altersdifferenzierung basiert auf drei ineinander verschränkten Logiken: Alter ist, erstens, eine numerisch bestimmbare Größe auf einer kalendarischen Skala, deren Startpunkt mit der Geburt bürokratisch fixiert wird. Dieses kalendarische Alter taucht als juristisches Alter in bürokratisch verfassten Gesellschaften in einer Reihe von Dokumenten mit subjektivierenden Effekten auf, die individuelle Lebensläufe begleiten: Geburtsurkunde, Führerschein, Sozialversicherungsausweis, Reisepass, Zensusformular, Sterbeurkunde, um nur die wichtigsten zu nennen. Das juristische Alter einer Person beeinflusst außerdem deren Lebensweg, in dem es beispielsweise den Eintritt ins Bildungssystem (Einschulung), vollwertige Teilhabe an Politik, Wirtschaft und sozialem Leben (Volljährigkeit) oder den Austritt aus dem Berufsleben (Verrentung) festlegt. Daneben gibt es, zweitens, ein biologisches Alter. Dieses ist medizinisch gerahmt und basiert im Kern auf der Vorstellung individuellen Lebens als biologischem Prozess, der durch Entstehen, Wachsen, Verfallen und Sterben gekennzeichnet ist. Biologisches Altern geht je nach Lebensstil – gemessen am kalendarischen Alter früher oder später – mit bestimmten körperlichen Merkmalen einher – darunter sichtbare, wie Falten, graue Haare, Haarverlust oder ein krummer Rücken, und eher unsichtbare, auszufüllende Felder, die mit ›Other Asian‹ bzw. ›Other Pacific Islander‹ überschrieben sind und schließlich ein freies Feld, in das ›Some other race‹ eingetragen werden kann (U.S. Census Bureau 2020).

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wie Demenz, Inkontinenz oder Hypertonie. Die biologische Alterung des menschlichen Körpers stellt einen unhintergehbaren Fakt, eine ontologische Essenz dar. Man kann sie zwar nicht aufhalten, ihr Eintreten aber – gemessen am kalendarischen Alter – durch Ernährung, Fitness und Vorsorge in einem gewissen Rahmen verschieben und ihre optischen Effekte zumindest kaschieren. Drittens gibt es ein soziales Alter, das mit Alterskategorien benannt wird (›Kind‹, ›Jugendlicher‹, ›Erwachsener‹, ›Senior‹, ›Greis‹), die wiederum mit unterschiedlichen sozialen Rollen verbunden sind. Mit fortschreitendem juristischen Alter wechseln Personen von einer Alterskategorie in die nächste und ändern ihr soziales Alter, sofern sie sich ›altersangemessen‹, d.h. den normativen Rollenerwartungen entsprechend verhalten. Die Alt/Jung-Unterscheidung bringt also im Gegensatz zur Unterscheidung von Schwarzen und Weißen, die auf zwei Kategorien der Rassendifferenzierung basiert, nicht einfach zwei herkömmliche Kategorien der Altersdifferenzierung ins Spiel. ›Jung‹ und ›alt‹ sind zunächst nur relative Attribute, die keiner Alterskategorie in toto entsprechen: Im Vergleich zu Teens sind Twens alt, im Vergleich zu ›reifen‹ Erwachsenen jedoch jung. Aufgrund dieser Relativität der Alt/Jung-Unterscheidung können Fälle, in denen sich Personen jünger oder älter ›machen‹ als sie ihrem juristischen und sozialen Alter gemäß ›eigentlich‹ sind, in Bezug auf (fast) alle Alterskategorien auftreten. Fälle einer derartigen kategorialen Transgression implizieren ein doing age, das unterschiedliche Sinnschichten involvieren kann: Dokumente (Geburtsdatum im Pass fälschen), Körper (Facelifting, Haare färben), Habitus und Kleidung (›berufsjugendliches‹ oder ›altbackenes‹ Auftreten). Wie zu zeigen sein wird, lassen sich vergleichbare Praktiken des doing race im Kontext von kategorialen Wechseln im Rahmen der Schwarz/Weiß-Unterscheidung ebenfalls beobachten.

2. Doing race I: Das ›Weißwerden‹ Schwarzer Wer in einer von »rassischer Herrschaft« (Wacquant 2001) geprägten Gesellschaft lebt, hat es potenziell leichter im Leben, wenn er weiß ist. Das gilt für die durch Sklaverei und Segregation gekennzeichnete Vergangenheit der USA und es gilt bis in die Gegenwart: Racial Profiling und polizeiliche Übergriffe, von denen schwarze Bürger:innen weit häufiger betroffen sind als weiße, zeugen davon. Ähnliche Unterschiede zeigen sich in Bezug auf Einkommen, Ausbildung, Wohnort und in der Rechtsprechung. In Eduardo Bonilla-Silvas Worten: »racial considerations shade almost everything in America« (2010: 2). In einem solchen Kontext ist der ›rassische‹ Seitenwechsel, das sogenannte racial passing 205

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(as white), für African Americans eine historisch gewachsene Option, die eigenen Lebenschancen und die ihrer Nachkommen zu verbessern. Die Praxis lässt sich vereinzelt bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, nahm an Häufigkeit jedoch erst im ausgehenden 19. Jahrhundert zu (Cutter 2018). In der auf den Bürgerkrieg und die Abschaffung der Sklaverei (1865) folgenden Phase der ›Reconstruction‹ konnten schwarze US-Amerikaner:innen erste Erfolge im Kampf um Gleichstellung erzielen, die sie jedoch in der anschließenden langen Periode der legalisierten Segregation (1880 bis 1954) wieder einbüßten. In den Südstaaten sicherten die sogenannten Jim Crow-Gesetze die weiße Vorherrschaft und degradierten Schwarze zu Bürgern zweiter Klasse. Nix und Quian (2015: 4), die historische Zensus-Daten ausgewertet haben, schätzen, dass zwischen 1880 und 1940 etwa 19 Prozent der männlichen schwarzen Bevölkerung ›weiß‹ wurden. Dies bedeutet, dass sie die Frage nach ›race‹ oder ›color‹ im alle zehn Jahre stattfindenden Zensus und in anderen offiziellen Dokumenten mit ›weiß‹ beantworteten. Voraussetzung dafür war eine geeignete körperliche Beschaffenheit, helle Haut und als ›weiß‹ kategorisierte Gesichtszüge, weshalb sich dieser Spielraum für interkategoriale Mobilität auch nur für einen kleinen Teil der schwarzen Bevölkerung öffnete. Der Schlüssel zum erfolgreichen Seitenwechsel war der Bruch mit der eigenen Vergangenheit und allen Personen, welche die Abstammung des Überwechslers kannten. Er ging mit dem Umzug in eine mehrheitlich von Weißen bewohnte Gemeinde einher, meist in die Nordstaaten, sowie mit der Übernahme kultureller Praxis, die als ›weiß‹ rassialisiert wurde. »Race by association« war das Prinzip, das auch vor Gericht Weißsein beweisen konnte (Gross 2008: 9). Wer ausschließlich mit Weißen zusammenlebte und ihren Lebensstil pflegte, musste weiß sein. Der Kategorienwechsel konnte dauerhaft oder zeitlich begrenzt sein, laut Nix und Quian (2015) wechselten 10 Prozent der 19 Prozent, die zwischen 1880 und 1940 weiß geworden waren, später wieder zurück in ihre ursprüngliche Kategorie. Gründe dafür waren vielfältig, darunter die permanente Furcht vor Enttarnung und die emotionale Herausforderung, die eigene Herkunft zu leugnen, was ja auch einen Bruch mit Verwandtschaft und Freunden bedeutete, oder schlichtweg die Erkenntnis, in weißer Gesellschaft »niemals wirklich glücklich gewesen zu sein» (Lee 1955: 261). Das Thema wurde vielfach in Literatur und Film behandelt. Zum einen hat es tragisches Potenzial: In Imitation of Life (1934, ­Remake 1959) leugnet die Tochter ihre Mutter; ein als weiß kategorisierter schwarzer Professor verliert seinen Job wegen eines Rassismusvorwurfs in The Human Stain von Philip Roth (2000). Zum anderen ist die Rassendifferenzierung bis in die Gegenwart hinein konstitutiv für US-amerikanische Lebenswirklichkeit. Insofern ist Passing auch keineswegs passé (Cutter 2018). Der erfolgreiche Kampf um Bürgerrechte der 1950er 206

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und 1960er Jahre und die Black Power-Bewegung der folgenden Dekade haben zwar zur Verbesserung der Lebensumstände der schwarzen Bevölkerung geführt, ›racial justice‹ und die erhoffte Ära des ›postracialism‹, in der die Rassendifferenzierung obsolet ist, haben sich jedoch bis heute nicht eingestellt. Gegenwärtig gilt Passing allerdings weniger als ein Thema der Hautfarbe als eines der kulturellen Performanz. African Americans sprechen in diesem Kontext von ›Acting white‹, womit ein Habitus bezeichnet wird, der die gesellschaftlich dominanten Werte und Normen verkörpert, die in diesem Diskurs als ›weiß‹ rassialisiert werden. In der negativen Bewertung mittelständischer bürgerlicher Verhaltensweisen als ›acting white‹ lässt sich eine selbstexkludierende Form von doing race erkennen, die das Aufrechterhalten kategorialer Grenzen fördert und den sozialen Aufstieg Schwarzer letztlich behindert (Fordham 1996: 22). Bewertungen des Passing haben sich im Lauf der Zeit gewandelt und hängen von der Positionalität der Sprecher ab (Kennedy 2001). Für fliehende Sklaven war Passing ein riskanter Akt der Befreiung und Ermächtigung, nach der Abschaffung der Sklaverei ein Mittel zum sozialen Aufstieg in einer von Rassismus geprägten Gesellschaft. Weiße Sklavenhalter und ihre Nachfahren in der Jim Crow-Periode behandelten Passing als einen kriminellen Akt, der durch strafrechtliche Verfolgung eingehegt werden musste, da er den Status quo der rassistischen sozialen Ordnung gefährdete. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Passing zu einem regelrechten Angsttraum weißer US-Amerikaner:innen. »Southern w ­ hites … became paranoid about invisible blackness« (Williamson 1995: 103). Im Kontext eugenischer Diskurse musste von der Möglichkeit unentdeckter Anderer innerhalb der eigenen Gruppe eine permanente Bedrohung ›rassischer Reinheit‹ ausgehen. African Americans nehmen Passing nicht erst seit der schwarzen Emanzipationsbewegung der 1960er Jahre, die u.a. mit dem Slogan ›Black is beautiful‹ gegen die Abwertung schwarzer Körper kämpfte, ambivalent wahr. Einerseits gilt es als subversive, widerständige Praxis, die rassistische Strukturen unterläuft, andererseits als opportunistisches, auf individuellen Vorteil ausgerichtetes Verhalten, das in die Nähe des Verrats an der eigenen Gruppe gerückt wird (Fordham 1996: 23). »Trying to forgive Blacks who pass is difficult«, bekennt Ronald E. Hall, Professor für Sozialarbeit und Psychotherapie an der Michigan State University und selbst schwarz. »I feel that by passing, they have cursed the memory of every dark-skinned person on their family tree« (Hall 1995a: 475). Passing wird hier also als ein undoing blackness interpretiert, das als Verrat an einer als gemeinsam unterstellten Zugehörigkeit gewertet wird. Das Bleichen oder Aufhellen der Haut mit Hilfe von Cremes, Tabletten oder Injektionen, das manche Schwarze in den USA und anderen Weltregionen betreiben, wird ähnlich ambivalent diskutiert. Hall (1995b: 207

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99) erkennt im »Bleaching syndrome« eine Reaktion schwarzer Individuen auf rassistische Unterdrückung und die damit verbundene Abwertung von ›schwarzer‹ bzw. Aufwertung von ›weißer‹ Hautfarbe. Kolorismus, wie die Privilegierung von helleren gegenüber dunkleren Hauttönen schwarz rassialisierter Körper genannt wird, tritt sowohl innerhalb als auch außerhalb schwarzer Gemeinschaften auf. Die Privilegierung von Hellhäutigkeit lässt sich bis in die Zeit der Sklaverei zurückverfolgen, als hellhäutige Schwarze bevorzugt für Hausarbeit und damit in größerer Nähe zu den weißen Herrschenden eingesetzt wurden. Kolorismus gilt als eng mit der Rassendifferenzierung verflochten, insofern Kolorismus die rassistische Hierarchisierung einzelner Humankategorien in den Binnenraum rassialisierter Gruppen übersetzt (Monk 2014). Forschungen aus den USA und Brasilien weisen nach, dass hellhäutige Personen innerhalb schwarzer Bevölkerungsgruppen im Bildungssektor, auf Arbeits-, Wohnungs- und Beziehungsmärkten privilegiert werden (Hunter 2007). Die Praxis des Hautbleichens wird herkömmlich koloristisch gerahmt, als Ausdruck eines durch ›weiße‹ Überlegenheitsideologie induzierten Selbsthasses (Hall 1995b) oder Folge mangelnder Bildung und geschickter Marketingstrategien der Kosmetikindustrie (Charles 2012). Jüngere Ansätze deuten Hautbleichen dagegen nicht als doing race, sondern als doing class, als performativen Ausdruck von Klassenzugehörigkeit und einer durch ›braune‹ Zwischentöne markierten Kosmopolitanität (Fritsch 2014; Tate 2016). Dadurch wird das Hautaufhellen als eine Schönheitspraxis erkennbar, die keineswegs darauf aus ist, die eigene Herkunft zu verleugnen. Pointiert lässt sich festhalten: Bleaching zielt nicht auf Passing ab, sondern ist am ehesten als eine Form von beautification zu verstehen. Will man das Aufhellen schwarzer Körper als Praxis der Anverwandlung beschreiben, dann am ehesten als solche, die sich an einem ›braunen‹ Idealkörper orientiert, wie er beispielsweise von Pop­ikonen wie Beyoncé zur Schau gestellt wird. Inwieweit sich darin letztlich doch ein Effekt des Kolorismus zeigt, bleibt zu hinterfragen, schließlich wurde auch Beyoncé im Laufe ihrer Karriere zunehmend hellhäutiger (Paris 2015). Bemerkenswert ist, dass die Valorisierung von Hellhäutigkeit unter African Americans genderisiert ist. Als Attraktivitätsmarker gilt Hellhäutigkeit in erster Linie für Frauen (Parmer/Smith Arnold 2004: 18). Eine nennenswerte Ausnahme stellt Michael Jackson dar, der im Laufe seiner Karriere nicht nur zunehmend hellhäutiger wurde, sondern sich auch einer Reihe kosmetischer Gesichts-Operationen unterzog, die ihm ›kaukasische‹ Züge verleihen sollten (um im US-Idiom zu bleiben). Festzuhalten bleibt, dass nicht alle Akte eines doing color mit versuchten Kategorienwechseln in Zusammenhang zu bringen sind. Manche beanspruchen das, andere dienen ›nur‹ der Kosmetik und können bestenfalls als ästhetische Anleihen verstanden werden. 208

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3. Doing race II: Das ›Einschwärzen‹ Weißer Der Seitenwechsel in umgekehrter Richtung scheint – zumindest auf den ersten Blick – weit seltener vorzukommen. Das Bild weitet sich, betrachtet man nicht allein prominente Fälle von doing blackness wie das doing being black weißer Akademikerinnen, sondern ebenfalls Formen des doing blackness Weißer, welche die Entlehnung kultureller Artefakte und Praktiken betreffen, die im öffentlichen Diskurs als ›schwarz‹ rassialisiert werden. Bevor doing blackness zu einer Option für Weiße werden konnte, musste das Schwarzsein und kulturelle Praktiken, die damit assoziiert werden, zunächst einmal als attraktiv wahrgenommen werden – wenn auch nicht gesamtgesellschaftlich, so doch zumindest in bestimmten Teilen der weißen Mehrheitsgesellschaft. Der Erfolg afro-amerikanischer Musikstile, der sich im 20. Jahrhundert vom Jazz über Rock’n’Roll und Soul bis zum Hiphop einstellte, ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, da er zur Charismatisierung von Schwarzsein beitrug. Historische Vorläufer weißer Seitenwechsler lassen sich in weißen ›Hipstern‹ ausmachen, die sich in den 1940er Jahren zur Kultur der schwarzen Jazzer hingezogen fühlten (Mailer 1957). Obwohl die Materialität des Körpers hierbei keine Rolle spielte, da sich die Anverwandlung in erster Linie auf den Lebensstil der schwarzen Vorbilder bezog, machte die Nähe zu Schwarzen diese Weißen in der öffentlichen Wahrnehmung »nahezu schwarz« (Breisinger 2008: 94–95). Hier zeigt sich die überkommene Logik von ›race by association‹ in umgekehrter Richtung. Die abfällige Bezeichnung ›Wigger‹ für Weiße, die ein doing blackness betreiben, also kulturelle Praktiken übernehmen, die als schwarz rassialisiert werden, ist in diesem Kontext entstanden.3 Die soziale Funktion der abwertenden Bezeichnung besteht in der Abgrenzung nach außen und der Kohäsion nach innen. ›Wigger‹ stellen eine für die Perpetuierung der Schwarz/Weiß-Unterscheidung ›gefährliche‹ Zwischenkategorie dar, da sie die kategoriale Reinheit gefährden, die sowohl von weißen Suprematisten als auch von schwarzen Afrozentrist:innen, wenn auch auf je unterschiedliche Weiße, propagiert wird. In der Gegenwart wird Weißen, die Rastazöpfe tragen, oder weißen Rappern wie Eminem vorgeworfen, sich habituell und stilistisch 3 Anders gerahmte historische Vorläufer lassen sich in temporären Passing-Experimenten von weißen US-Journalist:innen ausmachen, die in den 1960er Jahren eine Art existenziellen investigativen Journalismus betrieben, wie er in Deutschland von Günter Wallraff bekannt gemacht wurde; bspw. John Howard Griffin, der sechs Wochen als Schwarzer in den Südstaaten verbrachte (Black Like Me 1961) oder Grace Halsell, die einen ähnlichen Selbstversuch in Harlem durchführte (Soul Sister 1969).

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an ›schwarzer Kultur‹ zu bedienen. Wenn schwarze Kulturkritiker:innen solche Übernahmen als kulturelle Aneignung bezeichnen, betreiben sie ein doing blackness, insofern sie bestimmte kulturelle Objekte mit einer vermeintlichen blackness ausstatten und dadurch rassialisieren. Kulturelle Aneignung gilt als illegitim, weil sie aus einer privilegierten Position heraus vollzogen wird, die nicht auf geteilte historische und aktuelle Unterdrückungs- und Diskriminierungserfahrungen rekurrieren kann (Jackson 2019). Greg Tate (2003a) bringt diese These im Titel des Sammelbands Everything but the Burden: What White People are Taking from Black Culture auf den Punkt. Die Bürde des Schwarzseins bestehe in den USA darin, dass African Americans historisch Menschen- und Bürgerrechte ebenso verwehrt wurden wie ökonomische Teilhabe, und Spuren dieser Ungleichbehandlung trotz Bürgerrechts- und Black Power-Bewegung bis in die Gegenwart hinein existierten. Gleichzeitig sei aber das, was die USA der Welt als genuin amerikanisch ›verkaufe‹ – Musik, Tanz, Mode, Humor, Spiritualität, Basisdemokratie, Slang, Literatur und Sport – »in Ursprung, Konzeption und Inspiration« genuin schwarz (Tate 2003b: 3). Weiße hätten dieser Lesart zufolge also »alles, außer der Last« übernommen, die damit verbunden ist, schwarz zu sein. Im Zeitalter der durch soziale Medien wie Instagram und ­YouTube veränderten Aufmerksamkeitsökonomie lassen sich vermehrt auch körperliche Anverwandlungen nicht-schwarzer ›Celebrities‹ beobachten. Für ein Bild oder ein Video machen weiße Musikerinnen, Models oder Influencerinnen mit Hilfe von Kleidung, Makeup, Frisuren oder Tanzschritten temporär Anleihen an schwarz rassialisierter Körperlichkeit. Diese Form des ›doing blackness‹ wird im aktivistischen Diskurs als Strategie zur Generierung von ›Likes‹ und Sponsorenverträgen kritisiert und als blackfishing bezeichnet. »After tuning and posting their photos, they can wipe off their makeup, take out their inserts, and reenter the real world as white women. Not only is it an extraordinarily exploitative and problematic situation, but it’s hard to catch. Some of these ›blackfish‹ look more like overly tanned white women who are playing into racial stereotypes, but others look very convincing« (Lutz 2019). Für solche Formen temporärer Mimikry kann also misslingendes doing being black von gelingendem unterschieden werden. Die US-Amerikanerin Rachel Dolezal, die ihre weiße Herkunft kaschierte und Passing (as black) betrieb, ging in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter (Brubaker 2016). Ihr Fall, der in Folge ihres Zwangsoutings im Juni 2015 breit in der US-amerikanischen Öffentlichkeit diskutiert wurde, zeichnet sich durch eine gesteigerte Form der dauerhaften körperlichen Anverwandlung, ein auf Dauer gestelltes doing being black mit Haut und Haaren aus. Hierin Schwarzen vergleichbar, die sich in früheren Dekaden als Weiße ausgaben, ging Dolezals Camouflage noch weit über das rein Körperliche hinaus. Sie erfand sich einen schwarzen Vater, 210

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gab sich einen afrikanischen Namen, leitete eine Ortsgruppe der National Association for the Advancement of Colored People, verkehrte bevorzugt unter Schwarzen usw. usf. Nach ihrem Zwangsouting begründete sie ihr Verhalten mit Verweis auf die emotionale Nähe zu ihren schwarzen Stiefbrüdern und eine positive Identifikation mit schwarzer Kultur. »›It’s not a costume […] I don’t know spiritually and metaphysically how this goes, but I do know that from my earliest memories I have awareness and connection with the black experience, and that’s never left me. It’s not something that I can put on and take off anymore‹« (Dolezal in Samuels 2015). Im Lauf der öffentlichen Debatte, in der ihr Fall kontrovers mit der nahezu zeitgleich publizierten Gender-Transition des ehemaligen 10-Kämpfers Bruce Jenner als Caitlyn Jenner diskutiert wurde, begann Dolezal sich als ›transracial‹ zu bezeichnen (McFadden 2015). Wie Brubaker (2016: 21–39) in seiner Synopse der Debatte gezeigt hat, wurde Dolezals Behauptung einer gefühlten Zugehörigkeit zur Humankategorie ›Schwarz‹ mehrheitlich zurückgewiesen, und zwar von Stimmen aus ganz unterschiedlichen Lagern. Weitgehende Einigkeit herrschte darüber, dass ›transracialism‹, im Sinne eines Analogismus zu ›transgenderism‹, nicht existieren könne. Neben Vorwürfen von Betrug, Maskerade und stereotyper Repräsentation schwarzer Körperlichkeit, wurde ihr von schwarzen Frauen wiederholt auch eine Variante des ›Alles-außer-der-Last-Arguments‹ vorgeworfen: »Rachel Dolezal may have perfected her performance of black womanhood, and she may be connected to black communities and feel an affinity with the styles and cultural innovations of black people. But the black identity cannot be put on like a pair of shoes. Our external differences from the white majority might be how others categorize us as black, but it’s the thread of our diverse lived experiences that make us black women« (Walters 2015). In Äußerungen wie dieser scheint die Innen/außen-Unterscheidung eines vergemeinschaftenden Diskurses durch. Solche Formen des doing blackness unterschlagen, dass sich Schwarze auf Basis ihres Äußeren durchaus auch selbst als solche kategorisieren (und nicht nur fremdkategorisierende ›andere‹) und dass sich keineswegs alle Schwarzen in einer gemeinsamen Versklavungsgeschichte wiederfinden wollen (Reese 2018), sondern nur die Aktivisten und Aktivierten unter ihnen. In den Körper eingeschriebene, habitualisierte Erfahrung, die sowohl von Generationen auf die Einzelne herabgekommen als auch durch biografisch Erlebtes geprägt ist, wird hier also gegen eine als oberflächlich wahrgenommene Mimikry in Stellung gebracht.4 In dieser Hinsicht lohnt der Vergleich mit einem außeramerikanischen Fall. Die Einschwärzung des deutschen ›Models‹ Martina Big lässt sich 4 Vgl. dazu auch den ähnlich gelagerten Fall der ›weißen‹ Professorin für African American History Jessica Krug, die sich als ›Schwarze‹ ausgab, der im September 2020 publik wurde (Noor 2020).

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am treffendsten als hypertroph bezeichnen. Im Gegensatz zu Dolezal, die erheblichen Aufwand betrieb, um ihre weiße Herkunft zu kaschieren, ist für Big die Transition von einem weißen in einen schwarzen Körper mittels Melatonin-Injektionen und kosmetischen Manipulationen expliziter Bestandteil ihrer Selbstinszenierung. Vor dieser Verwandlung unterzog sich Big bereits einer anderen: der vom ›flachbrüstigen‹ Mädchen zum ›Busenwunder‹. Beide Verwandlungen werden auf ihrer Homepage und ihrem Facebook-Account in Wort und Bild auf ähnliche Weise inszeniert. So begrüßt Big Besucher:innen ihrer virtuellen Präsenz mit einem Bild, das sie vor dem ikonischen Schriftzug der Hollywood Hills zeigt, womit sie sich symbolisch in die Nähe der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie rückt. Das Bild ist aus drei Versionen des gleichen Motivs zusammengesetzt. Die aktuellste und größte setzt ihr schwarzes ›Makeover‹ in Szene. Davon umrahmt werden zwei kleinere ältere Versionen, die sie als weiße Frau vor bzw. nach der Brustvergrößerung zeigen. »I think on this collage you can recognize my evolution very well«, kommentiert sie in etwas holprigem Englisch den Upload auf Facebook (24.7.2017). Auch jenseits dieses Bilds setzt Bigs visuelle Selbstinszenierung auf kontrastive Bildpaare im Vorher-nachher-Stil oder Bildstrecken, die ihre Verwandlung graduell vor Augen führen. Sprachlich wird jede weitere Verwandlungsetappe als Erfolgsmeldung annonciert: »I have great news. I had a further fill up (breast augmentation). My breasts are now even BIGGER and firmer« (10.5.2020); »I have made the next step in my transformation to a black woman. I was at the hairdresser and he had coloured my hair black« (18.5.2017). Diese Kopplung von künstlich hergestellter ›hyper-femaleness‹ und ›hyper-blackness‹ erinnert an ältere Praktiken des ›self-enfreakment‹, die von Freakshow-Darsteller:innen genutzt wurden, um sich als Figuren des quintessenziell Anderen zu inszenieren (›The tattooed Lady‹ oder ›The world’s fattest Lady‹; Bogdan, 1996), wobei die Gemeinsamkeit im Körpereinsatz und der dauerhaften körperlichen Manipulation liegt. In Bezug auf ihr Schwarzwerden liegt auch der Vergleich zum Blackfacing nahe, jener abwertenden und stereotypen Darstellung Schwarzer durch weiße Minstrel-Performer, die in den USA im 19. Jahrhundert aufkam. Was das Hypertrophe der Inszenierung betrifft, könnte man vielleicht auch von ›racial Drag‹ sprechen. Auf Bigs Facebook-Seite äußern sich Besucher:innen aus aller Welt, darunter auch viele African Americans, befremdet über Bigs Schwarzwerden. Die Kritik reicht vom Vorwurf der Fetischisierung schwarzer Weiblichkeit über den des Blackfacing bis hin zur Pathologisierung. Analog zur Kritik an Dolezal erfolgt auch der Verweis darauf, dass ihr die gelebte Erfahrung als schwarze Frau fehle. Martina Big setzt solchen Vorwürfen zum einen wie Dolezal die Behauptung entgegen, sich wirklich als schwarze Frau zu fühlen (»I’m a black woman with heart and soul«, 212

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23.7.2017), zum anderen die Beglaubigung ihres kategorialen Wechsels durch schwarze Freundinnen. Ein Jahr nach ihrer Transition reist sie nach Kenia, lässt sich dort auf einen Swahili-Namen taufen (Malaika Kubwa, wörtlich ›großer Engel‹, als Vor- und Zuname eher ›Malaika Groß‹, 25.3.2018), tanzt mit Massai und behauptet in deren ›Stamm‹ aufgenommen worden zu sein (»I’m very happy to be a Masai now« , 22.4.2018). Im Kontext der jüngeren Black Lives Matter-Proteste beginnt sie, sich auch politisch zu äußern: «Since I am now a black woman, it is important for me to draw attention to the fact that in many countries black people are disadvantaged and oppressed« (28.6.2020). Eine kleine Auswahl der über 100 Kommentare zu diesem Post, die – vertraut man den Profilbildern und reflexiven Äußerungen – mehrheitlich von schwarzen US-Amerikanerinnen stammen, gibt einen Eindruck von der Bandbreite der Reaktionen. When you’ve paid to have a service/procedures over a prolonged period to alter your skin complexion you have not endured what Black Culture has been impacted by At All and posting this when Racial Tension and Racial Trauma is Historically in pain is egregiously on your part and a mockery and insult of our Black Culture and History and you should remove your post. You are not a Black Woman (Stefanie Davis) YOU WILL NEVER BE A REAL BLACK WOMAN LIKE MICHAEL JACKSON WAS NEVER WHITE. You can alter your appearance all you want honey. Unless you were created by a black parent you’re not entitled to call yourself black (Lakeisha Lynette Tinsley). Thank you for standing with us!! I feel you were not born black but you are a proud black woman now. Let the haters hate!!! (Zandera ­Jackson-Brock) Hi Martina – thank you for ur support. As I imagine you are learning being Black is more than a coloring. It is a calling, an assignment. Thank you for choosing to join us in our journey. You could have chosen to cosmetically display any Black feature. You chose the skin you are in. That speaks volumes. May the gift of melanin give you power for your assignment to humanity (Rose Satchell)

Nimmt man Martina Bigs Äußerungen ernst, und eine ganze Reihe ihrer Facebook-Kommentator:innen tut dies, geht ihre Verwandlung mit einer positiven Identifikation mit Blackness einher. Hierin liegt die Vergleichbarkeit ihres Falls mit dem von Rachel Dolezal. Unterschiede bestehen im nationalen Kontext und im Modus, in dem der Seitenwechsel vollzogen wird: kaschieren und camouflieren bei Dolezal, ausstellen und inszenieren bei Big. Martina Big mag zwar ein Phänomen sein, das ohne Soziale Medien kaum denkbar wäre, ihrer dunklen Haut kann sie sich dennoch nicht so einfach entledigen wie ein weißer Blackface-Performer, 213

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der sich nach der Show abschminkt, oder eine weiße Dreadlockträgerin, die sich die Haare schneidet. Big hat hier höhere Investitionen in die Authentifizierung ihres Claims. Sie ist auch jenseits ihrer medialen Bühne, d.h. im Alltag ›schwarz‹, wobei der Begriff in diesem Fall sogar wörtlich zu nehmen ist. Ihre Hautfarbe ist so dunkel geraten, dass sie weniger einem der unzähligen Hautfarbtöne schwarzer Menschen ähnelt, als einer rassistischen weißen Phantasmagorie zu entspringen scheint. Letztlich lassen sich das gemäßigte Braun Dolezals und das hypertrophe Schwarz Bigs nicht nur mit unterschiedlichen Motivationen in Verbindung bringen – ein Leben als schwarze Frau versus eines als Darstellerin einer weißen Schwarzen, sondern auch als Verweis auf die Herkunft aus unterschiedlichen sozialen Milieus deuten.5 Festzuhalten bleibt, dass Dolezal und Big, wenn auch auf je eigene Weise, die Idee des ›transracialism‹ mit Leben füllen. Big sagt dazu: »The age in which one must stay in the race for a lifetime in which one was born is over. I do not ask that everyone advocate[s] my transformation. I just want you to accept that I’m now a real black woman« (14.1.2018).

4. Doing age I: Sich jünger machen als man ist Seitenwechsel können bekanntlich nicht nur in Bezug auf ›Rasse‹ vollzogen werden. Gerade die Transgender-Debatten der letzten Jahre haben gezeigt, wie politisch aufgeladen generell körperliche Transformationen in Bezug auf sozio-kulturelle Zugehörigkeiten sein können. Wie sieht es aber aus, wenn ältere Menschen sich jünger machen oder umgekehrt jüngere Menschen das Altwerden durch körperliche Transformationen scheinbar vorwegnehmen? Die Alt/Jung-Unterscheidung scheint in Bezug auf kategoriale Transgressionen zunächst weniger politischen Sprengstoff zu bergen und weist bei näherer Betrachtung doch interessante Parallelen auf. Wie eingangs bereits dargestellt, ist es sinnvoll, die Differenz ›Alter‹ analytisch in drei verschiedene Dimensionen aufzuspalten: Das juristische Alter, das auf einer numerischen Zählung von Lebensjahren basiert, das soziale Alter, das eine Reihe von Alterskategorien unterscheidet, an die bestimmte soziale Rollen und damit verbundene Verhaltenserwartungen gekoppelt sind, und das biologische Alter, das Alterung auf Basis biologischer Prozesse meint. Herkömmlich werden diese drei Dimensionen von Alter als untrennbares Bündel wahrgenommen. So lassen sich Alterskategorien (soziales Alter) mehr oder weniger trennscharf auf einer 5 Während Dolezals moderate Performanz die Spur der weißen Mittelklasse in sich trägt, ist Bigs überzeichnete Selbstinszenierung als schwarze Barbie-Puppe eher von einer schrillen Jahrmarktsästhetik geprägt.

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bestimmten Spanne von Lebensjahren abbilden (juristisches Alter), die wiederum mit einem dafür mehr oder weniger typischen Erscheinungsbild und einer physischen Konstitution einhergehen (biologisches Alter). Praktiken der Verjüngung lassen sich auf der Ebene aller drei Dimensionen beobachten. Doing being younger kann sich 1) auf äußere Zeichen des biologischen Alters beziehen (Kosmetik oder Facelifting) sowie auf die körperliche Konstitution insgesamt (Fitnesstraining, Achtsamkeitsübungen), 2) auf die Zugehörigkeit zu einer Alterskategorie, z.B. indem eine vestimentäre, sprachliche oder sonstige den Lebensstil betreffende Praxis gepflegt wird, die herkömmlich mit einer jüngeren Alterskategorie verbunden wird, und 3) auf das juristische Alter, indem das Geburtsdatum verschwiegen, in Dokumenten gefälscht oder der Versuch unternommen wird, es offiziell korrigieren zu lassen. Beim Zusammenspiel dieser drei Dimensionen gilt, dass es herkömmlich eine Art Konsistenzforderung gibt, die im Konzept der Altersangemessenheit von kultureller Praxis auf den Punkt gebracht wird. Die im folgenden dargestellten Fälle zeigen doing age bzw. doing being younger mit Bezug auf jeweils mindestens eine der drei Dimensionen von Alter. 1) Auf die Bearbeitung der sichtbaren Zeichen biologischer Alterung zielt eine ganze Industrie, die insbesondere Frauen mit Anti-Aging-Produkten von Schminke über Anti-Falten-Cremes bis hin zu kosmetischen Operationen versorgt. »Aufgrund der zugewiesenen Geschlechterrollen wird Alter traditionell in Bezug auf Frauen als das Fehlen von etwas (›nicht mehr jung‹) definiert, während Männer im Alter durchaus Prestigegewinn erfahren können« (Maierhofer 2007: 112). Dieser ›double standard of aging‹ (Sontag 1972) lockert sich zwar im 21. Jh., sodass sich auch Männer zunehmend kosmetischen Operationen unterziehen, der größte Verjüngungsdruck lastet jedoch nach wie vor auf Frauen. ›Schönheitschirurgen‹ versprechen, dass sich, sofern früh genug mit der Behandlung begonnen wird, »zwischen 40 und 60 die Pausetaste drücken« lässt (Perrotta 2017). Dabei werden – wohlgemerkt – nur die sichtbaren Marker körperlicher Alterung chirurgisch mehr oder weniger invasiv bearbeitet, in tieferen Körperschichten ablaufende Alterungsprozesse bleiben unberührt. Den ›koloristisch‹ grundierten, an einem weißen Idealkörper orientierten Gesichtsoperationen Michael Jacksons vergleichbar, sind ›ageistisch‹ grundierte kosmetische Operationen an einem jugendlichen Idealkörper orientiert. Man könnte Facelifting als ein versuchtes Passing bezeichnen: dem ›Passing as white‹ entspräche dann das ›Passing as young(er)‹. Allerdings ist bereits in Jacksons Fall fraglich, ob die chirurgische Manipulation tatsächlich einem kategorialen Wechsel oder nicht eher der Schöpfung eines interkategorialen Kunstwesens dienen sollte. Auch ›ageistisch‹ grundierte kosmetische Operationen zielen normalerweise nicht auf einen pauschalen Kategorienwechsel (etwa vom Erwachsenen zum Jugendlichen), der alle drei Dimensionen des Alters 215

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umfasst. Vielmehr geht es darum, mit den sichtbaren äußeren Markern biologischer Alterung lediglich eine Altersdimension zu bearbeiten. Bei sogenannten Celebrities, und hier vor allem bei Schauspielerinnen, sind Schönheitsoperationen längst eher die Regel als die Ausnahme. Schlagzeilen machen sie nur dann, wenn sie, wie im Fall der Hollywoodschauspielerin Meg Ryan, misslingen. »Bitte nicht lächeln: Meg Ryan schockte bei einer Preisverleihung in New York die Zuschauer mit ihrem völlig entstellten Gesicht«, titelt der ›Stern‹ auf seiner Website anlässlich der Tony Awards 2016 und nimmt damit Bezug auf einen verbreiteten Topos, wonach bestimmte kosmetische Behandlungen mimischen Ausdruck erschweren (Stern 2016). »Sie ist nicht das einzige Botox-Opfer«, heißt es weiter, und wie zum Beweis werden zwölf weitere Celebrities durch »Vorher-Nachher-Schiebe-Bilder« dem ästhetischen Urteil der Leserinnen ausgesetzt. Mit ähnlichen visuellen Verfahren wird bis heute auch Jacksons kosmetische Verwandlung exponiert. Unter dem Titel »Schönheits-OPs: Stars im Grusel-Look« finden sich in der »Star-Datenbank« des Fernsehsenders Kabel eins auch zwei Vorher-Nachher-Bilder von Jackson. Die Bildunterschrift des Vorher-Bildes arbeitet sogar mit einem Spannungsbogen, der nach dem Weiterklicken auf das Nachher-Bild aufgelöst wird: »Er ist wohl das abschreckendste Beispiel überhaupt: Michael Jackson ließ sich vom hübschen Afroamerikaner mit dunklem Teint ... / ... zum blassen Schreckgespenst operieren. Schade um sein Gesicht!« (Kabel eins o.D.). Solche Bildstrecken adressieren die Schadenfreude des Publikums, scheinen sie doch visuelle Evidenzen dafür zu liefern, dass alle Menschen ihre biologische Alterung und ›rassische‹ Zugehörigkeit akzeptieren müssen, da sich diese, der Hybris der Stars zum Trotz, nicht aufhalten bzw. ändern lässt. Darin scheint eine konservative Sakralisierung des Körpers durch: Wer der Natur (oder Gott) ins Handwerk pfuscht, wird dafür bestraft. Wenn sich gewöhnliche Erwachsene mittleren Alters ihr Gesicht mit Botox-Injektionen oder chirurgischen Eingriffen glätten lassen, erhoffen sie sich ein Erscheinungsbild, das herkömmlich mit den Angehörigen einer jüngeren Alterskategorie in Verbindung gebracht wird. Damit muss aber nicht zwingend auch eine mit dieser Alterskategorie assoziierte kulturelle Praxis übernommen oder das juristische Alter durch beharrliches Verschweigen des Geburtsdatums vermeintlich getilgt werden, ganz im Gegenteil: In fortgeschrittenem Alter noch jung auszusehen wird positiv bewertet, notwendige Voraussetzung dafür ist aber, dass das juristische Alter der betreffenden Person zumindest grob bekannt ist. Komplimente wie ›Für sein Alter hat er sich gut gehalten‹, ›Sie sieht deutlich jünger aus als sie ist‹, oder ›Man sieht ihr das Alter nicht an‹ funktionieren bei unbekanntem Geburtsjahr schlichtweg nicht. 2) Praktiken der Verjüngung, die sich auf die soziale Dimension des Alters beziehen, lassen sich etwa bei Eltern beobachten, die situativ die 216

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Jugendsprache ihrer Kinder übernehmen, bei Müttern, die auch dem Aussehen nach zur besten Freundin ihrer Tochter werden wollen oder Vätern, die anfangen, mit ihrem 20jährigen Sohn Marathon zu laufen. Im Vergleich mit diesen moderaten, alltäglichen Beispielen der Verjüngung stellt der Fall der 85-Jährigen African American Ernestine Shepherd, die als »älteste Bodybuilderin der Welt« firmiert (Guiness Book of Records 2010), sicherlich einen Extremfall dar, der aber dennoch symptomatisch für eine Grenzverschiebung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Altersdifferenzierung ist (à la ›70 ist das neue 60‹). Shepherd bearbeitet zwei Dimensionen des Alters: die biologische und die soziale. Anders als ›Facelifting‹ geht ›Weightlifting‹, sprich Fitness-Training auch unter die Haut. Auf ihrer Website beschreibt Shepherd, dass die Biologie des Alters durch körperliche Disziplin ausgehebelt werden könne. Alter sei für sie optional, nicht verpflichtend: »›being out of shape‹ as we age truly is merely an option – NOT a mandate!«6 Ihre Selbstinszenierung entspricht zutiefst dem meritokratischen Ideal der USA: Nicht von ungefähr lautet der Titel ihrer Autobiographie Determined, Dedicated, Disciplined to Be Fit: The ›Ageless‹ Journey of Ernestine Shepherd (2016). Hier kommt nicht nur der Verweis auf die Selbstdisziplin ins Spiel, die seit Benjamin Franklins Zeiten fest in der US-amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist (Paul 2014), sondern auch eine Art Verheißung, die biologische Dimension von Alter durch Anstrengung und sportliche Leistung außer Kraft setzen zu können. Der amerikanische Traum wird hier ›ageistisch‹ umgedeutet: Shepherd gibt ihren Followern Trainingstipps an die Hand, die sie sozusagen vom ›agebound‹ Loser zum ›ageless‹ Achiever machen können. Aufgrund ihrer Lebensjahre würde Shepherd herkömmlich der sozialen Alterskategorie ›Seniorin‹ zugeordnet. Bodybuilding ist eine kulturelle Praxis, die traditionell nicht mit dieser, sondern mit Alterskategorien verbundenen wird, denen juristisch deutlich jüngere Personen angehören. Insofern Shepherd als Über-80-Jährige Bodybuilding betreibt, entlehnt sie also ein altersrollenspezifisches Verhalten einer jüngeren Alterskategorie und verjüngt sich dadurch – zumindest in dieser Hinsicht – nicht nur biologisch, sondern auch sozial. Sie dehnt dadurch die Kategorie ›Seniorin‹ aus und verschiebt die Grenzen dessen, was für diese Kategorie als altersangemessenes Verhalten gelten kann – zunächst einmal nur für sich selbst. Ihr Vordringen als Ältere in eine Domäne, die lange Jüngeren vorbehalten schien, wird nicht stigmatisiert, sondern mit verschiedenen Formen sozialer und ökonomischer Anerkennung belohnt: durch Verträge mit Sportstudios, Werbeaufträge und eine stetig wachsende Schar von jugendlichen Followern. 6 Offizielle Website von Ernestine Shepherd: https://ernestineshepherd. net/?p=4.

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Ihre Autobiografie und deren Vermarktung positionieren sie als Rollenmodell für soziale und Fitness-basierte biologische Verjüngung, das zum Nacheifern anregen soll. Bemerkenswert dabei ist, dass trotz der Anspielung auf die scheinbare biografische Inaktivsetzung der Altersdifferenz im Buchtitel (»›Ageless‹ Journey«), ihr Alter gleich doppelt markiert wird, und zwar in seiner juristischen und biologischen Dimension: durch den Verweis auf ihre Lebensjahre, der in Textform immer wieder erfolgt, und ihre ergrauten Haare, die sie nicht färbt. Dadurch, dass ihr Alter auf diese Weise sichtbar bleibt, tritt ihre ungewöhnliche Altersperformanz umso deutlicher in Erscheinung. In dieser Hinsicht ähnelt Shepherds doing age Bigs doing race: das im Sinne des juristischen Alters bzw. der Herkunft ›Eigentliche‹ wird nicht kaschiert, sondern dessen ›Bearbeitung‹ durch Bodybuilding bzw. Melatonin-Injektionen in Szene gesetzt. 3) Im Hinblick auf die juristische Dimension von Alter ist der Fall des niederländischen Motivationstrainers Emile Ratelband instruktiv, der 2018 versuchte, sich offiziell 20 Jahre jünger machen zu lassen. Dazu verklagte er seine Heimatgemeinde Arnhem, sein Geburtsjahr standesamtlich von 1949 auf 1969 zu ändern. Im Gegensatz zu Shepherd ging es ihm dabei nicht einfach nur um die Möglichkeit, sein Alter zukünftig mit Bezug auf jede der drei Altersdimensionen kaschieren zu können, vielmehr zielte er auf eine behördlich attestierte Rekategorisierung vom Senior zum Erwachsenen. In seiner Begründung verwies der damals 69-Jährige auf »die Einschätzung seiner Ärzte, wonach sein biologisches Alter zwischen 40 und 45« liege (ntv 2018). Nachrichtenmeldungen ist zu entnehmen, dass er auch im Hinblick auf das soziale Alter einen Lebensstil pflegte, der weniger zu einem ›Senior‹ als zu einem ›reifen Erwachsenen‹ passte, sein biologisches und sein soziales Alter also konsistent waren. Lediglich das bürokratisch fixierte juristische Alter stand der von ihm angestrebten vollständigen Verjüngung entgegen. Bereits einige Jahre vor seiner Klage hatte er versucht, seine Mindestrente zurückzuweisen, um nicht offiziell als ›Rentner‹ geführt zu werden (ntv 2018). In seiner Klage auf Änderung seines Geburtsdatums verwies Ratelband zum einen darauf, dass ihn sein juristisches Alter gegenüber Jüngeren diskriminiere, bspw. bei der Kreditvergabe oder auf Beziehungsmärkten: »Ich bin ein junger Gott, ich kann alle Mädels haben, die ich nur will – aber nicht, nachdem ich ihnen gesagt habe, dass ich 69 bin« (ntv 2018). Zum anderen griff er den transsexuellen Topos der ›gefühlten Zugehörigkeit‹ auf, der bei Geschlechtswechslern als Grund für eine offizielle Rekategorisierung anerkannt ist, und versuchte diesen auf die Altersdifferenzierung zu übertragen. »We live in a time when you can change your name and change your gender. Why can’t I decide my own age?« zitiert ihn die BBC (2018). Das Gericht wies seine Klage ab: »›Herr Ratelband hat die Freiheit, sich 20 Jahre jünger als sein wirkliches Alter zu 218

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fühlen und sich entsprechend zu verhalten‹«, hieß es in einer Mitteilung des Gerichts in Arnheim. Aber die Änderung seines Geburtsdatums würde dazu führen, dass 20 Jahre Aufzeichnungen aus dem Register der Geburten, Todesfälle, Ehen und eingetragenen Partnerschaften verschwinden würden. ›Dies hätte eine Vielzahl von unerwünschten gesetzlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen‹« (Spiegel 2018). Ratelbands Fall ist instruktiv, weil er darauf verweist, dass Differenzen in unterschiedlichen Aggregatzuständen vorliegen können, die sich durch verschiedene Grade an sozialer ›Erhärtung‹ auszeichnen (s. Hirschauer/ Nübling in diesem Band). Anders als das biologische Alter, das an den Körper gebunden ist, der durch bestimmte Formen des doing age manipuliert werden kann, und auch anders als das soziale Alter, das durch kulturelle Performanz verändert werden kann, liegt das juristische Alter in einem hohen Härtegrad vor: Behördliche Verwaltungsakte, die es schriftlich beurkunden, und amtliche Dokumente, die es fortschreiben, lassen sich nur schwer ›erweichen‹ – um im Bild zu bleiben. Dass dies zumindest im Fall des Namens oder des Geschlechts heute dennoch möglich ist, hängt damit zusammen, dass daran nicht unmittelbar Rechte und Pflichten geknüpft sind, wie dies beim Alter – in seiner juristischen Dimension – der Fall ist, an das u.a. Schulpflicht und Wahlrecht gebunden sind. Erwachsene/r ist eine zentrale, juristisch wirksame Alterskategorie und Erwachsensein ist geradezu eine stille Implikation von Staatsbürgerschaft.

5. Doing age II: Sich älter machen als man ist Emil Ratelband, Ernestine Shepherd und Meg Ryan versuchten sich auf je unterschiedliche Weise jünger zu machen. Die Valorisierung der ›Jugend‹ und die Devalorisierung des ›Alters‹ und des Lebensendes machen es unwahrscheinlich, dass sich umgekehrt auch junge Menschen älter machen als sie sind. Und doch lassen sich einige Fälle finden. Zunächst kommen ›altkluge‹ Kinder in den Sinn, die mitreden und ähnliches Gehör finden wollen wie Erwachsene, aber auch Jugendliche, die ihre Schülerausweise oder ähnliche Dokumente hinsichtlich ihres Geburtsdatums fälschen, um Zugang zu Alkohol oder Einlass zu Erwachsenen vorbehaltenen Orten zu erhalten. Sie betreiben ein doing being older, das die juristische Dimension des Alters betrifft. Sieht man von der Frage der (Il)legalität einmal ab, lässt sich dabei von einer Inversion dessen sprechen, was auch Ratelband anstrebte: die Änderung des Geburtsdatums in offiziellen Dokumenten, um Zugangsbarrieren abzubauen; im Fall von Ratelband Zugang zu Kredit- und Beziehungsmärkten, im Fall der Jugendlichen zu Kneipen, Diskotheken oder Spielotheken. 219

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In Bezug auf die biologische Dimension des Alters ist ein neuer Frisurentrend bemerkenswert, bei dem sich junge Frauen ihre Haare künstlich grau färben lassen. Der sogenannte Granny Hair-Style kam um 2015 im Kontext von High Fashion Shows auf, wurde dann von US-amerikanischen ›Celebrities‹ wie Kelly Osborne, Pink, Lady Gaga und Rihanna popularisiert, bis er sich auch in breiteren modebewussten Kreisen durchsetzte. Die Prozedur des freiwilligen Ergrauens ist aufwendig und kostspielig. Es braucht bis zu neun Stunden, um eine junge Frau hinsichtlich ihrer Haarfarbe altern zu lassen, wofür Preise bis zu 700 Dollar aufgerufen werden (CBSN 2015). Wie der Hairstylist David Frank aus Scottsdale, Arizona, beschreibt: »Lately I have had a lot of women come in with pictures of the ›granny‹ hair trend, where the hair is toned silver or grey. In fact, on the day I’m writing this, when I search ›grey hair‹ on the internet, there are more pictures of bleached hair toned grey than actual grey hair. They are a fashio­ nable alternative to more traditional platinum or champagne toners. . . . First, in order to get to a silver or grey, the hair must be lightened to a very pale yellow, almost white. If you have artificial color on your hair, this is very unlikely to happen. In an effort to avoid having to color your hair, you will have to undergo the most time consuming, expensive, and damaging color process you have ever had« (Frank o.D.).

Graue Haare gelten herkömmlich als ein wesentlicher Marker höheren Alters. Nicht von ungefähr ist es aufgrund des allgemeinen Verjüngungsdrucks genau dieses Zeichen biologischer Alterung, das gewöhnlich als erstes bekämpft wird, um das Älterwerden zu kaschieren. Wenn junge Frauen nun also absichtlich ergrauen, kann darin eine Form des doing age ausgemacht werden. »I feel like a superchic older lady, but in a young lady’s body«, sagt eine junge Frau, die in einem New Yorker Friseursalon vom Sender CBSN (2015) befragt wird. An die Frisurenmode schließt zwischenzeitlich auch ein ›Granny Style‹ genannter Kleidungstrend an, sodass sich das doing being older junger Frauen auch auf das Entlehnen vestimentärer Praktiken der Alterskategorie ›Seniorin‹ bzw. ›Oma‹ ausdehnt. Die Website Lifestyle Magazin (2017) beschreibt diesen Trend: »Beim Granny Style geht es weitgehend darum, einen altmodischen, aber klassischen Style zu kreieren, den eure Oma so genau übernehmen würde. Cardigans treffen auf lange Strickjacken, Karottenhosen auf biedere Maxiröcke (gern auch mit Plissee-Falten, Falten und Kräusel) und klassische Blusen auf Pullunder und Westen. Granny eben.« Damit das spielerische doing being older mit Hilfe kultureller Marker der Seniorenkategorie nicht in ein doing being old kippt, das modische Zitat nicht Gefahr läuft, mit dem Original verwechselt zu werden, gilt es jedoch aufzupassen: »Der Granny Style ist dabei wahrscheinlich nicht für jeden von euch etwas und wer die Granny grauen Haare schon mitgemacht hat, sollte 220

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von ihm ein wenig Abstand halten, denn sonst könnte man [sie] auch tatsächlich wirklich mit einer Oma verwechseln« (Lifestyle Magazin 2017). Der ›Granny Style‹ stellt also eine Gratwanderung dar, wenn das eigentliche Ziel – modische Distinktion gegenüber mehr oder weniger Gleichaltrigen – nicht verfehlt werden soll. Um in dieser Hinsicht zu funktionieren, darf das eigentliche Lebensalter nicht durch overdoing Granny Style kaschiert werden. Insofern ist es die Jugend, nicht das Alter, die hier Konjunktur hat. Das Ergrauen jüngerer Frauen kann als eine Umkehrung des doing age von Ernestine Shepherd verstanden werden. Shepherd bedient sich ebenfalls eines Accessoires – der Fitnesshantel –, bei dem man lange davon ausging, es passe nicht zu Senioren; dadurch aber wurde ihr Alter nicht weniger evident, sondern im Gegenteil umso sichtbarer. Analog greifen junge Frauen nun zu einer Haarfarbe, die sie in der Inkongruenz zwischen grauem Haar und jungem Gesicht umso jünger erscheinen lässt. Dass graues Haar und altbackene Kleidung gegenwärtig zu einer Mode werden konnten, hängt auch mit einer Verschiebung der Alterswahrnehmung zusammen, die sich in den USA und anderen Gesellschaften des globalen Nordens seit mehreren Jahrzehnten abzeichnet. Solchen Verschiebungen spürte eine Ausstellung im Frankfurter Museum der Weltkulturen 2018 unter dem bezeichnenden Titel Grey Is the New Pink nach. Die Ausstellung machte es sich zum Ziel, den Wandel von Altersvorstellungen und -darstellungen weltweit zu untersuchen; sie tat dies vor allem anhand von Fotografien, aber auch Texten in Form von Selbstbeschreibungen Älterer. Der Titel stellt einen aufschlussreichen Nexus zwischen dem aktuellen Modetrend und einer gesellschaftlichen Umwertung des Alters her. Er bemüht eine der Modewelt entlehnte Metapher, die auf den Granny Hairstyle anspielt, dabei – pars pro toto – jedoch ebenfalls nahelegt, fortgeschrittenes Alter sei etwas, dass man nicht verstecken müsse, sondern im Gegenteil stolz zur Schau tragen könne. Die Fittness-Ikone Ernestine Shepherd oder die noch ältere und mindestens ebenso bekannte Mode-Ikone Iris Apfel sowie viele weitere ältere (Micro)Celebrities sind Akteure wie Profiteure dieser Umwertung, die sich in erster Linie auf die Ausdehnung dessen bezieht, was als für Seniorinnen angemessener Lebensstil gilt. Historisch lassen sich Bezüge zum Pro-Age-Movement der Gray Panthers herstellen. Die 1970 in den USA von der Altersaktivistin Maggie Kuhn gegründete Bewegung lehnt sich in ihrer Namensgebung explizit an die Bewegung der Black Panthers an, die bereits zuvor für die Rechte schwarzer US-Amerikaner:innen eingetreten war (Kuhn/Long 1991). Analog zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung zog die Pro-Age-Bewegung gegen Formen der Altersdiskriminierung ins Feld und kämpfte für die Rechte der ›Grauen‹ (Iresearchnet.com o.D.). Gegenwärtig greifen (vornehmlich weiße) Frauen mittleren Alters weltweit den historischen 221

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Slogan ›Black is beautiful‹ der schwarzen Bürgerrechtsbewegung wieder auf, wenn sie sich unter dem Slogan ›Gray is beautiful‹ oder ›Gray is gorgeous‹ auf Social-Media-Plattformen zusammenschließen. Dort posten sie Selfies, die ihr graues oder ergrauendes Haar ähnlich stolz in Szene setzen, wie seinerzeit schwarze Bürgerrechtsaktivist:innen ihre Afro-Frisur. Solche Frauen mittleren Alters reagieren auf den Granny Hairstyle durchaus mit Zustimmung: »Women of all ages are embracing the silver-gray hue that hair tends to turn as we age, and often doing it well before the hair is actually at that point. If you’re currently graying, though, then you’ve arguably never been more on-trend than now« (Dozdowski 2020). Dass sie die Altersmimikry junger Frauen, die sich die Haare ›verfrüht‹ grau färben, nicht als grayfishing begreifen, markiert wiederum einen wesentlichen Unterschied gegenüber (heutigen) schwarzen Aktivist:innen, die temporäre körperliche Anverwandlungen Weißer als blackfishing kritisieren. Das verweist zum einen darauf, dass sich in der Social Media-Ökonomie mit dem temporären Ältermachen vermutlich weniger Klicks und Likes generieren lassen als mit dem temporären ›Einschwärzen‹, zum anderen darauf, dass sich kategoriale Zugehörigkeit im Kontext der Altersdifferenzierung noch nicht in politisierbare soziale Zugehörigkeit übersetzt hat. Im Gegensatz zur racial identity gibt es (noch?) keine age-group identity.

6. Diskussion Die Gemeinsamkeit der hier untersuchten Fälle kategorialer Überquerung im Kontext der Schwarz/Weiß- bzw. der Alt/Jung-Unterscheidung besteht zunächst einmal darin, dass sie Inneres und Äußeres sowie Natur und Kultur auf ähnliche Weise zueinander ins Verhältnis setzen. Da Differenzierungen generell in verschiedenen Aggregatzuständen auftreten, beziehen sich auch die hier beobachteten Praktiken auf verschiedene Aggregatzustände von ›Rasse‹ und Alter. Wenn kategorial Andere doing being white/black bzw. doing being younger/older betreiben, kann sich das, erstens, auf entsprechend konnotierte kulturelle Praxis erstrecken, zweitens aber auch auf Manipulationen der äußeren Hülle des Körpers. Solche Formen des doing race bzw. doing age gehen unter die Haut, greifen mehr oder weniger tief ins Körperinnere ein: Injektionen, die Melaninproduktion anregen oder unterdrücken, kosmetische Chirurgie, die Haut strafft oder erweitert, Fitnesstrainings, die molekulare Strukturen verändern. Drittens lassen sich doing age und doing race auch im Zusammenhang mit amtlichen Schriftstücken beobachten. Die vorgestellten Fälle kategorialer Über- und Verquerung basieren auf doings, die teils nur einen Aggregatzustand, teils aber auch mehrere 222

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involvieren. Wir möchten sie noch einmal in dieser Hinsicht Revue passieren lassen und dabei auch ihre unterschiedlichen Modalitäten herausstellen. 1) Racial Passing, gleich welcher Richtung, involviert alle Aggregatzustände, zielt es doch auf ein V e r b e r g e n der ›eigentlichen‹ kategorialen Zugehörigkeit. In dieser Hinsicht gilt: Hautfarbe, Habitus und Ausweis müssen konsistent sein. Die Humankategorien ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ bleiben dabei intakt. 2) Beim sogenannten Acting White geht es darum, den körperlichen Aggregatzustand von ›Rasse‹ zugunsten eines als ›weiß‹ rassialisierten Habitus in den Hintergrund treten zu lassen. Die Verbindung von ›schwarz‹ rassialisierten Körpern mit ›weiß‹ rassialisierten Verhaltensweisen kann als kategoriales V e r m i s c h e n gedeutet werden, wobei zusätzlich auch zwei unterschiedliche Aggregatzustände im Spiel sind. Gleiches zeigt sich in umgekehrter Richtung im Fall der ›Wigger‹ und weißen Dreadlocks-Träger. Für Rasse-gläubige Suprematisten und Afrozentristen geht von solchen doings insofern eine Gefahr aus, als sie kategoriale Grenzen v e r w i s c h e n und damit tendenziell auch die Kategorien an sich in Frage stellen. 3) Beim Bleaching geht es um das M o d i f i z i e r e n nur eines rassialisierten körperlichen Markers: der Hautfarbe. Rahmt man es als doing beauty hätte es sein Äquivalent im Bräunungsbemühen Weißer; rahmt man es als doing race lässt es sich mit Dolezals Selbstbräunung und Bigs Einschwärzung vergleichen. Die ästhetische Anverwandlung kann sich sodann auch auf weitere körperliche Marker wie Frisur und Haarfarbe ausdehnen. Insofern herkömmlich unterschiedlich rassialisierte Körper einander durch diese Praxis ähnlicher werden, weichen kategoriale Grenzen ebenfalls auf. Bei den vorgestellten Fällen von doing age lassen sich die gleichen Modi ausmachen: 4) Kosmetische Manipulationen beziehen sich auf den körperlichen Aggregatzustand von Alter. Werden sie von Älteren ausgeführt m o d i f i z i e r e n sie die Altersmarker Haut und Haare (Facelifting, Botox-Injektionen, Haarefärben), was der Verjüngung und meist auch dem V e r b e r g e n des ›eigentlichen‹, juristisch verbrieften Alters dienen soll. Dabei bleiben die Alterskategorien intakt. Wenn sich Jüngere hingegen die Haare grau färben, dient dies in erster Linie der modischen Distinktion. Aus der sich daraus ergebenden Diskrepanz zweier Marker, die für unterschiedliche Alterskategorien stehen – glatte Haut für jüngere, graue Haare für ältere Frauen – ergibt sich auch hier ein partielles kategoriales V e r m i s c h e n , und zwar auf der Ebene der sichtbaren Altersmarker. 5) Der Fall der 85-Jährigen Fitnessikone zeigt, wie sich alterskategoriale Grenzen auch auf der Ebene von Altersrollen v e r w i s c h e n lassen, indem Praktiken (Bodybuilding) entlehnt werden, die herkömmlich mit einer anderen Alterskategorie assoziiert werden. 6) Der Fall des Niederländers Ratelband stellt schließlich eine, wenn auch gescheiterte, Analogie zum Racial Passing dar, insofern Ratelband 223

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ein V e r b e r g e n seines Alters über die Aggregatzustände Körper und Lebensstil hinaus auf amtliche Schriftstücke ausdehnen wollte. Die De-Essentialisierung von als natürlich gerahmten Unterschieden ist zwar weit vorangeschritten und das nicht nur in akademischen Diskursen, sondern auch in Teilen der Öffentlichkeit. Die auf das Zwangsouting von Rachel Dolezal folgende öffentliche Kontroverse über das Konzept ›transracialism‹ zeigt jedoch, dass der Wählbarkeit kategorialer Zugehörigkeit – zumindest in Bezug auf die rassialisierte Unterscheidung – durchaus (noch) Grenzen gesetzt sind. Die Schwarz/Weiß-Unterscheidung erweist sich trotz weitgehender Einigkeit darüber, dass ›Rasse‹ eine soziale Konstruktion ist, als hartnäckig und stabil. Das liegt zum einen daran, dass die Unterscheidung bis in die Gegenwart hinein sozial folgenreich ist und zum anderen, dass sie zur Basis sozialer Figuration geworden ist, sodass aus Kategorien soziale Gebilde – Gemeinschaften – geworden sind, deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit (im US-amerikanischen Kontext würde man von ›identity‹ sprechen) u.a. aus geteilten Erfahrungen wie der der Unterdrückung und dem Kampf dagegen ableiten und insofern ein doing race betreiben. Die kategorialen Grenzen der Altersdifferenzierung werden deutlich weniger durch kontrovers geführte öffentliche Debatten kontrolliert, als dies für die Rassendifferenzierung der Fall ist. Diskursive Einhegungen für altersunangemessenes Verhalten bzw. die Abwertung kosmetischer Chirurgie als altersmäßiges ›Betrügen‹ und ›Über-das-wahre-AlterHinwegtäuschen‹ lassen sich gleichwohl finden. Ihre Legitimität erhalten solche doings durch die Verquickung mit Gender: In einem gewissen Ausmaß gehört es zu einem gelungenen Frausein dazu, nicht altern zu wollen, damit zu kokettieren, etc. Die ›oberflächliche‹ Klassifikation von Individuen im Rahmen der Altersdifferenzierung kann zwar durch eine Reihe kultureller Praktiken wie Facelifting oder Bodybuilding manipuliert werden, der Fall des Niederländers Ratelband hat jedoch gezeigt, dass das in der Geburtsurkunde materialisierte juristische Alter unhintergehbar ist. Dies trifft auch für die USA zu. Im Gegensatz zu Europa wird in den USA zwar auch ›Rasse‹ amtlich dokumentiert, da dies in der Gegenwart jedoch in Form von Selbstzuschreibungen erfolgt (auch im Zensus), ist die ›rassische‹ Zugehörigkeit – zumindest auf Ebene solcher Dokumente – weit weniger fixiert als Alter. Zugespitzt kann man sagen: Bei Alter steht das Eigentliche auf dem Papier, das Uneigentliche im Gesicht, bei ›Rasse‹ ist es umgekehrt. Recht und zivilgesellschaftlicher Alltag sind eben verschiedene Domänen.

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7. Fazit Grenzen können von zwei Seiten überquert werden. Im Hinblick auf das Verhältnis der beiden Richtungen, aus denen eine Grenze, die zwei Kategorien voneinander scheidet, überquert werden kann, sind wir auf eine gewisse zeitliche Abfolge gestoßen. Die Grenze muss offenbar zuerst durch Personen überquert werden, die von der stigmatisierten Seite kommen und zur destigmatisierten überwechseln. Ein Zwischenschritt, in dem die Stigmatisierten selbst an der Umwandlung ihres Stigmas in Charisma (Lipp 2010) arbeiten (»black is beautiful« oder »gray is gorgeous«), bereitet dann auch die Überquerung der Grenze in umgekehrter Richtung vor. Dabei gilt, dass die kategorialen Grenzen durchaus intakt bleiben, Umwertungen wie sie in den Slogans zum Ausdruck kommen, verlagern in erster Linie die Wertgrenze.7 Für einzelne Mitglieder der privilegierten Kategorie scheint es dadurch allmählich attraktiv zu werden, sich aus dem Repertoire der Marker der stigmatisierten Kategorie zu bedienen und sich diesen kulturell und körperlich anzuverwandeln. Auf diese Weise werden Dreadlocks oder graue Haare ›sexy‹ oder ›cool‹ und lassen sich als Distinktionszeichen von Mitgliedern jener Kategorien verwenden, die herkömmlich nicht damit assoziiert werden – Weiße bzw. Jugendliche oder junge Erwachsene. Die entlehnten Marker werden dabei zumindest teilweise ihrer ursprünglichen Bedeutung entleert. Im Fall der Rassendifferenzierung geht die körperliche Anverwandlung – das zeigen die Beispiele von Rachel Dolezal und Martina Big – noch deutlich über partielle Übernahmen hinaus und kann totalen oder sogar hypertrophen Charakter annehmen. Dabei wird die kategoriale Zugehörigkeit jedoch auf Sichtbares reduziert. Die kategorialen Ver- und Überquerungen, die wir in diesem Aufsatz untersucht haben, kreisen also um Personen, die sich in Dimensionen der Differenzierungen ›hineinlehnen‹, in denen die kategoriale Zugehörigkeit vergleichsweise einfach manipulierbar ist: Wenn Schwarzsein nur bedeutet, dass man stark pigmentierte Haut haben muss, ist das einfacher zu realisieren als eine Abstammung nachzuweisen. Wenn Altsein eine Frage der Ästhetik und Kosmetik ist, ist das einfacher zu handhaben als der Verfall von Zellen und die Versteifung der Wirbelsäule. So wird Hautfarbe zum zentralen Marker rassialisierter Differenz, Haarfarbe zu dem des Alters. Erst hier kann die Manipulation ansetzen: Sie wäre ohne die Reduktion von Differenzen auf äußere, d.h. sichtbare Merkmale undenkbar, wozu letztlich auch alle Formen des ostentativen doing being x gehören. Während die Gegner dieser Praxis tendenziell essentialistisch argumentieren und 7 In umgekehrter Richtung, wenn Schwarze sich als Weiße oder Ältere sich als Jüngere ausgeben, bleibt nicht nur die kategoriale, sondern auch die Wertgrenze intakt.

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Abstammung bzw. das Geburtsdatum als fixe Größen hochhalten, basieren kategoriale Transgressionen von der privilegierten in die disprivilegierte Richtung auf »hyperkulturellen« Lesarten (Reckwitz 2017) von ›Rasse‹ und Alter. Dunkle Hautfarbe und graues Haar, als signifikantestes unter den äußerlich sichtbaren Merkmalen höheren Alters, werden dadurch auf das Niveau von Accessoires herabgestuft, die man sich wie eine neue Handtasche umhängen kann.

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Benjamin Wihstutz

Leistung und Devianz um 1900 Über Performances als Praktiken der Humandifferenzierung Die Leistungsgesellschaft ist in Verruf geraten. Galt das Leistungsprinzip einmal als Garant für gleiche Chancen (McClelland 1961) oder gar für Solidarität (Eppler 2011), wird heute unter den Stichworten Postfordismus und Neoliberalismus häufig Kritik an einer Gesellschaft geäußert, die das Leistungsdenken sowie maximale Flexibilität und Verfügbarkeit auf alle Bereiche des Lebens übertragen hat (Distelhorst 2014: 12). Die »Tyrannei der Leistung« (Sandel 2020) liege darin, so ein zentraler Kritikpunkt, dass jene links liegen gelassen und für »überflüssig« erklärt werden, welche die Leistung des »allseits geforderten […] unternehmerischen Selbst« nicht erbringen können (Bude/Willisch 2008: 11). Menschen, die etwa aufgrund von sozialer Benachteiligung oder psychischer Probleme, Behinderung oder chronischer Krankheit, bestimmte Anforderungen nicht oder nur in geringem Maße erfüllen, finden sich am unteren Ende der Leistungsgesellschaft wieder. Bedingungsloses Grundeinkommen, Entschleunigung und Resonanz (Rosa 2016) werden als Gegenmittel ins Spiel gebracht. Doch die Geschichte der Leistung, ihrer Valorisierung und die mit ihr verbundenen Praktiken der Humandifferenzierung, also jener Prozesse der Klassifizierung, die Menschen von Menschen unterscheiden lassen, sind weitaus komplizierter, als es sich aus einer politisch aufgeladenen, sozialkritischen Perspektive vermuten lässt. Gemäß Foucaults Diktum einer »Geschichte der Gegenwart« (Foucault 1976: 43) ist es das Anliegen dieses Aufsatzes, in Abstand zu solch zeitgenössischen Debatten einen historischen Blick auf kulturelle Praktiken der Leistungsdifferenzierung und ihrer Inszenierung zu werfen. Der vorliegende Beitrag befasst sich aus Sicht der Performance Studies mit verschiedenen Genres von Leistungsschauen, die als performative Praktiken der Humandifferenzierung untersucht werden und in der Zeit um 1900 in Europa eine auffallende Konjunktur erleben: Massenveranstaltungen wie die Weltausstellungen und die Olympischen Spiele, aber auch andere populäre Performance-Genres wie der Zirkus, die ­Sideshow oder das Varietétheater setzen Leistungsfähigkeit als mess- und vergleichbare, übungsbasierte und steigerungsfähige Größe in Szene und sind damit maßgeblich an der Prägung eines modernen Leistungsbegriffs beteiligt. Dass Leistungsschauen ebenso häufig mit einer Inszenierung und 230

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Konstruktion von Devianz einhergehen, ist hingegen weitaus weniger offensichtlich und soll im Folgenden thematisch werden. Devianz wird dabei zunächst als statistisch geprägte Normabweichung verstanden, die sowohl am oberen als auch am unteren Ende der Leistungsmessung auftritt, als außergewöhnliche Leistung einerseits, als Leistungsunfähigkeit andererseits. In beiden Fällen markieren Devianzen den Übergang zu Kategorien des ›Unmenschlichen‹, seien diese mit dem Göttlichen und Übermenschlichen oder mit dem Animalischen und Minderwertigen assoziiert. Wer als deviant kategorisiert wird, kann sich daher nur noch bedingt mit den ›Normalen‹ messen. Vielmehr werden mittels Askriptionen von Devianz – unabhängig davon, ob diese sich auf Hochbegabung, Behinderung, Delinquenz, Homosexualität oder Primitivität beziehen – häufig Unvergleichbarkeiten konstruiert. Aus Sicht einer historisch ausgerichteten Performanceforschung stellt sich die Frage, inwiefern und auf welche Weise gerade die um 1900 populären Leistungsschauen wie der Zirkus oder die Olympiade neben dem Wettbewerb unter Gleichen jenen signifikanten Sprung zum Devianten und Unvergleichbaren performativ in Szene setzen. Die von mir schlaglichtartig thematisierten historischen Beispiele legen diesbezüglich dar, dass sowohl Leistung als auch Devianz in hohem Maße aufführungsund beobachtungsgebunden sind, sprich als performative Kategorien betrachtet werden können und es nicht zuletzt die Art und Weise der Ausführung einer Handlung (d.h. Performance) vor Publikum ist, welche die Markierung von Körpern und Verhaltensweisen als deviant ermöglicht. Der Aufsatz gliedert sich in drei Abschnitte: Erstens werde ich auf die Genese eines vielschichtigen Leistungsbegriffs der Moderne eingehen und dabei einige historische Bezüge zu Begriffen von Normalität, Devianz und Behinderung herausarbeiten, die insbesondere juridische, wohlfahrtsstaatliche und ökonomische Diskurse um 1900 nahelegen. Dabei wird einerseits deutlich werden, dass Leistung und Devianz auch in diesen Kontexten an Praktiken der Vorführung, Beobachtung, Messung und Beurteilung von Handlungen gebunden sind und somit nicht allein diskursiv, sondern auch performativ hervorgebracht werden. Andererseits zeigen die historischen Diskurse, dass die Unterscheidung zwischen normal und deviant nicht prinzipiell binär strukturiert ist, sondern etwa im Fall von Behinderung zugleich eine graduelle Ausdifferenzierung von Graden der Beeinträchtigung ermöglicht, die bis heute sozialstaatlich relevant ist. Wir haben es somit nicht selten mit widersprüchlichen Praktiken der Humandifferenzierung zu tun. Verläuft die Unterscheidung von normal und deviant gerade in Alltagskontexten häufig binär (wie etwa die Schulhofbeleidigungen »Bist du behindert?!« oder »Bist du schwul?!« zeigen), ist sie andererseits administrativ an statistische oder imaginäre Normalverteilungen gebunden, welche eine graduelle Unterscheidung zwischen Menschen nach Kriterien der Leistung und Tauglichkeit sowie Graden der Behinderung ermöglicht. 231

BENJAMIN WIHSTUTZ

Im zweiten Teil des Textes wende ich mich den genannten Leistungsschauen zu, wobei es mir weniger um die Analyse spezifischer Bühnensituationen als um das Aufzeigen wiederkehrender Muster und Narrative geht, die Leistung und Devianz inszenatorisch auf unterschiedliche Weise miteinander verkoppeln. Mit der Aufführungsdimension rückt hier neben den festeren Aggregatzuständen juridischer und ökonomischer Diskurse die Bedeutung flüchtiger Repräsentationen in den Fokus, d.h. flüssigere Aggregatzustände des Kulturellen (Hirschauer/Nübling in diesem Band). Dass solch flüchtige Repräsentationen aufgrund ihrer Wiederholbarkeit und der Institutionalisierung von Aufführungspraktiken Humandifferenzierungen nach Leistung und Devianz um 1900 nachhaltig prägen, zeigt sich daran, dass einige der geschilderten Inszenierungsformen, etwa die der Kompensation von Behinderung qua Leistung, bis heute Bestand haben. Im dritten Teil komme ich schließlich auf die theoretische Frage der Humandifferenzierung zurück: Inwiefern können Leistungsschauen als Praktiken oder Repräsentationen von Humandifferenzierung betrachtet werden? Und welche spezifischen Typen der Kopplung von Leistung und Devianz können in diesen Darbietungen ausfindig gemacht und theoretisch differenziert werden? Mit den Begriffen Kontrastierung, Distinktion, Transformation und Kompensation schlage ich unter Rückgriff auf die historischen Beispiele vor, zwischen vier verschiedenen Modi der Ent/ Differenzierung zu unterscheiden, die das Verhältnis von Leistung und Devianz in den Leistungsschauen auf jeweils andere Weise definieren.

1. Zur Genese eines vielschichtigen Leistungsbegriffs in der industrialisierten Moderne Grimms Wörterbuch von 1854 listet vier Bedeutungen von Leistung auf: 1. die Erfüllung einer Obliegenheit; 2. die Übernahme einer Verpflichtung, einer Zusage, z. B. die Leistung einer Bürgschaft; 3. die Bewährung einer Fähigkeit und 4. die Haltung des Einlagers (Grimm 2011).1 Bemerkenswert an dieser Auflistung ist weniger, dass der Begriff Leistung mit Pflichten und insbesondere dem Schuldrecht assoziiert wird, denn er ist bis heute dem deutschen Schuld- und Vertragsrecht erhalten geblieben. Vielmehr überrascht, dass der Leistungsbegriff Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar weder mit physikalischen Konnotationen der 1 Unter Einlager verstand man im Mittelalter die Verpflichtung eines Schuldners oder seines Bürgen dem Gläubiger gegenüber, sich bei Verzug oder Vertragsbruch an einem bestimmten Ort einzufinden und dort auf eigene Kosten bzw. auf Kosten des Schuldners so lange zu bleiben, bis die geschuldete Leistung erbracht war.

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Messbarkeit noch vorrangig mit ökonomischen, schulischen oder sportlichen Konnotationen des Wettbewerbs zu tun hat.2 Allein die dritte Bedeutung »Bewährung einer Fähigkeit« weist daraufhin, dass Leistung auch Aspekte des Könnens, der Übung und der Meisterschaft einschließen kann. Dieses Können ist, wie die Historikerin Nina Verheyen darlegt, im 19. Jahrhundert vor allem auf ein bürgerliches Bildungsideal der Selbstvervollkommnung bezogen (Verheyen 2018: 112). Die Bewährung von Fähigkeiten korrespondiert daher weniger mit einem Anspruch der Messbarkeit oder der kompetitiven Überbietung als mit bürgerlichen Tugenden der Übung und Bildung als Lebensleistung. Die enge Bindung des Leistungsbegriffs an Tugenden und rechtliche Pflichten löst sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Wie Verheyen zeigt, sind es unter anderem Bildungsreformen wie die Einführung von Schulnoten, politische Strömungen wie der Liberalismus sowie insbesondere der Einfluss der Physik auf arbeitswissenschaftliche und ökonomische Diskurse, welche die Vorstellung »von Leistung im Sinne einer auf das Individuum bezogenen, messbaren und steigerungsfähigen […] Größe menschlicher Produktivität« (Verheyen 2018: 118) allmählich etablieren. So ist der Leistungsdiskurs um 1900 maßgeblich an einer Revolutionierung der Betriebswirtschaft beteiligt. Bereits 1876 hatte der deutsche Staatswissenschaftler und linke Sozialreformer Lujo Brentano vorgeschlagen, den Lohn nicht mehr an die Arbeitszeit, sondern an die erbrachte Leistung zu knüpfen (Brentano 1876). 1909 definiert Eugen Schmalenbach erstmalig Verrechnungspreise im Hinblick auf messbare Leistung: »Verrechnungspreise entstehen überall da, wo man im indus­ triellen Rechnungswesen den Gesamtbetrieb aufteilt in Unterbetriebe derart, daß die Leistungen derselben untereinander im einzelnen gemessen und verrechnet werden können« (Schmalenbach 1909: 168). Nach dem ersten Weltkrieg werden in vielen deutschen Betrieben schließlich sowohl der Leistungslohn als auch die von Schmalenbach geprägte Kosten- und Leistungsrechnung eingeführt, was bereits andeutet, dass die ökonomische und politische Prägung des Leistungsbegriffs unter dem Einfluss sowohl sozialliberaler als auch kapitalistischer Reformer stand. 2 Dies bedeutet nicht, dass vor Mitte des 19. Jahrhunderts gar keine Vorstellungen vergleichbarer körperlicher Leistung existierten. Das Prinzip ›schneller, höher, weiter‹ gibt es, wenn auch anders ausgeprägt als in der Moderne, bekanntlich bereits bei sportlichen Wettbewerben in der Antike und unter dem Begriff Kraft finden sich in Lexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits Vergleiche zwischen menschlicher und tierischer Leistungsfähigkeit (z.B. im Brockhaus von 1837). Neu ist im 19. Jahrhundert einerseits die Verwendung des deutschen Begriffs Leistung für diese messbare und kompetitive Kategorie und andererseits die umfassende Übertragung auf andere Bereiche wie die der industriellen Produktion, der Wirtschaft sowie des in Verbänden organisierten Leistungssports.

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Kaum ein Ökonom zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird dabei so sehr mit der Durchsetzung eines radikal auf Messung und Steigerung fußenden Leistungs- und Produktivitätsdenken assoziiert wie der amerikanische Ingenieur, Arbeitswissenschaftler und Unternehmensberater Frederick Winslow Taylor. Dabei geht es Taylor weniger um die Optimierung des Einzelnen, als vielmehr um die Steigerung der Gesamtleistung eines Betriebs sowie von dessen Arbeitsprozessen. Der vieldeutige, im Englischen nicht existente, deutsche Leistungsbegriff umfasst im Taylorismus entsprechend unterschiedliche Konnotationen von productivity, capacity, efficiency und performance, die allesamt als Faktoren einer mess -und optimierbaren Gesamtleistung zur Geltung kommen. Die Rationalisierung und Optimierung der industriellen Produktion sehen nach Taylor zunächst eine qualitative und zeitliche Messung jedes einzelnen Arbeitsschritts vor, um den bestmöglichen Prozessablauf in der Produktion zu eruieren. Ich zitiere die fünf leitenden Prinzipien der nach Taylor »besten Methode« aus seiner einflussreichen Schrift Scientific Management (1911): »First. Find, say, 10 or 15 different men (preferably in as many separate establishments and different parts of the country) who are especially skillful in doing the particular work to be analyzed. Second. Study the exact series of elementary operations or motions which each of these men uses in doing the work which is being investigated, as well as the implements each man uses. Third. Study with a stop-watch the time required to make each of these elementary movements and then select the quickest way of doing each element of the work. Fourth. Eliminate all false movements, slow movements, and useless movements. Fifth. After doing away with all unnecessary movements, collect into one series the quickest and best movements as well as best implements.« (Taylor 1911: 118)

Aus dieser Auflistung können nun einige Schlüsse in Bezug auf das hier erörterte performative Verhältnis von Leistung und Devianz gezogen werden: Zum Ersten sehen die von Taylor für eine Rationalisierung des Betriebs vorgeschlagenen Maßnahmen eine Praxis der Humandifferenzierung vor, welche zur Extraktion der besten Methode die Auswahl besonders fähiger Männer (»especially skillful men«) aus dem ganzen Land betrifft. Zum Zweiten geht es um ein neues Verständnis einzelner Arbeitsschritte als zeitlich messbare und optimierbare Leistung: nicht die Macht des Vorgesetzten, sondern die Stoppuhr wird zum wichtigsten Werkzeug des Managers. Erst das Zusammenspiel von Handlung, normierter Zeit und Beobachtung ermöglicht die tayloristische Standardisierung des 234

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Produktionsprozesses. Zum Dritten implizieren Taylors Überlegungen und Messungen ein neues Verständnis von Arbeit als work performance. Dabei geht es nicht allein um die benötigte Zeit und das Endprodukt, sondern um Arbeit als beobachtbaren Handlungsvollzug. »Taylor und die diejenigen, die in seinem Sinne Produktion einrichteten«, schreibt Kai van Eikels, »suchten und fanden die Leistungsdifferenzen der Detailarbeiter im Wie ihres Vollziehens« (van Eikels 2013: 308). Entsprechend sind die skillful men zugleich die besten ›Performer‹ ihres Metiers. Indem sie für die Standardisierung und Messung der einzelnen Arbeitsschritte herangezogen werden, ermöglichen sie die Evaluierung eines bestmöglichen Standards der work performance. Und zum Vierten wird mit der Messung und Evaluierung von Performance als Leistung deviantes Verhalten in der Produktion identifiziert und aussortiert: alle falschen (»false«), unnützen (»useless«) und unnötigen (»unnecessary«) sowie langsamen (»slow«) und zeitverschwendenden Bewegungen und Handlungen werden aus dem Arbeitsprozess »eliminiert«. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass das Verhältnis von Leistung und Devianz durch statistische und bürokratische Erfassung zur Eruierung der »besten Methode« auf einem graduellen Verständnis beider Begriffe beruht, wobei die unterdurchschnittlichen Ergebnisse der gemessenen ›Performance‹ als deviant kategorisiert werden. Darüber hinaus wird offenbar, dass bei Taylor von Leistung und Devianz in einem performativen, d.h. handlungs- und beobachtungsbezogenen Sinn die Rede ist: Produktivität und work performance werden erst durch ausgeführte Handlung, Beobachtung und Messung als Leistung identifiziert. Und auch Devianz ist hier nicht etwa an spezifische Körper oder Identitäten geknüpft, sondern wird anhand der Beobachtung eines normabweichenden Verhaltens, einer unterdurchschnittlichen Zeit oder ›falscher‹ und ›unnützer‹ Handlungen erkannt und aussortiert. Das Beispiel des Taylorismus kann somit als ein erster Hinweis dienen, den Bezug zwischen Leistung, Devianz und P ­ erformance aufzuzeigen, der mich im Folgenden weiter beschäftigen wird. Dabei ist auch die Mehrdeutigkeit des Performance-Begriffs durchaus relevant, ist es doch die Handlung und dargebotene Leistung vor einem Publikum respektive einer Beobachtungsinstanz (in diesem Fall der Manager), die hier ein neues betriebswirtschaftliches Denken installiert.3 Etwa zeitgleich zur Entstehung des modernen Leistungsbegriffs eta­ bliert sich in den westeuropäischen Sprachen auch der Begriff der 3 In den Performance Studies hat bisher vor allem Jon McKenzie die Mehrdeutigkeit des Performance-Begriffs in Bezug auf ökonomische, technologische und künstlerische Diskurse in seinem Buch Perform or Else (2001) analysiert. Dabei weist er unter anderem auf den von Herbert Marcuse bereits in den 1950er Jahren geprägten Begriff des Performance Principle hin, der die Stratifizierung der postfordistischen Gesellschaft qua kompetitiver Leistung ihrer Mitglieder beschreibt (McKenzie 2001: 58).

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Normalität, der historisch eng verknüpft ist mit der Erfindung der statistischen Normalverteilung. Lennard Davis weist daraufhin, dass die Begriffe ›normal‹ und ›normalcy‹ in ihrer heutigen Bedeutung überhaupt erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in der englischen Sprache Verwendung finden (Davis 2003: 24). Der französische Statistiker Adolphe Quetelet ist dabei der erste, der den Begriff ›normal‹ als Ideal definiert, indem er den l’homme moyen als physisch und moralisch durchschnittlichen Mann zum Vorbild erklärt (ebd.: 26). Vor allem durch die Verknüpfung von Eugenik und Statistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Wissenschaftler wie Francis Galton setzt sich die Einteilung statistischer Daten mittels Quartilen durch, die eine Devalorisierung devianter Ränder in der Normalverteilung begünstigt. Normalität wird damit, wie Bartz und Krause zusammenfassen, »maßgeblich über ihre Nachträglichkeit bestimmt, weil sie auf statistischen Verfahren, also der Datenerhebung und -verarbeitung, sowie deren Darstellungen beruht. Erst auf der Basis des gewonnenen Datenmaterials und dessen Verrechnung lässt sich ein Normalitätsbereich bestimmen – der sich im Bild der Gaußschen Glockenkurve in deren Mitte zeigt. […] Im Unterschied zur Normativität stellt sich dabei kein binäres Schema her, sondern eine graduelle, rein statistische Einteilung des Verhaltens zwischen zwei Extrempolen und dem in der Mitte liegenden Durchschnitt« (Bartz/Krause 2007: 7).

Statistische Verfahren und Praktiken der Standardisierung und Normalisierung sind somit an der Konstruktion von Devianz maßgeblich beteiligt, ob es sich um körperliche Behinderung, Hochbegabung, Delinquenz oder die Diagnose psychischer Krankheiten handelt. Dies zeigt sich in keiner Epoche so deutlich wie in der Zeit um 1900, in der neben dem Taylorismus auch die Psychoanalyse, der Intelligenztest und die Sonderpädagogik erfunden werden.4 Dass auch der Begriff Behinderung 4 Prinzipiell eint die Psychotherapie mit der Sonderpädagogik, dass es ihnen um die Wiederanpassung von devianten Individuen zu ›normal funktionierenden‹ Leistungsträgern geht. Gleichzeitig entwickeln sich jedoch auch Ansätze, die nicht auf therapeutische Justierung abzielen, sondern sozialkritisch den reglementierungsbasierten Leistungsbegriff infrage stellen und z.B. in der Psychoanalyse sexuelle ›Devianz‹ sowie Neurosen neu bewerten. Peter Hegarty weist in Bezug auf die Geschichte der Intelligenzforschung darauf hin, dass auch die Vertreter der Intelligenzmessung um 1900 bei der Bewertung der Ränder statistischer Normalverteilung eine Ausnahme markieren wollten, indem sie die Devianz am oberen Ende positiv bewerteten. Der Pionier von IQ-Testverfahren, Lewis Terman, kam damit allerdings in Bedrängnis, weil die von ihm identifizierten ›Genies‹ am oberen Rand zugleich eine höhere Prävalenz homosexuellen Begehrens aufwiesen und damit die Devianz doch wieder negativ konnotiert wurde (Hegarty 2013: Ch. 3 und 4)

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eine messbare Leistungsfähigkeit impliziert, wird noch Jahrzehnte später in einer für die Gesetze der öffentlichen Fürsorge grundlegenden Definition des Bundesinnenministerium von 1958 deutlich: »Als behindert gilt ein Mensch, der entweder aufgrund angeborener Missbildung bzw. Beschädigung oder durch Verletzung oder Krankheit eine angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. Er ist mehr oder minder leistungsgestört (lebensuntüchtig).« (Bundesinnenministerium 1958, zit. n. Bösl 2010: 6, Hervorh. BW)

Im Wort »leistungsgestört« wird hier Behinderung unmittelbar auf eine Einschränkung der individuellen Leistungsfähigkeit und Produktivität des Menschen bezogen, im eingeklammerten Wort »lebensuntüchtig« ist noch deutlich die Prägung des Nationalsozialismus zu erkennen, dessen Euthanasie-Programm mit dem Begriff des »unwerten Lebens« die Ermordung mehrerer hunderttausend behinderter Menschen begründete. Interessant ist im hier diskutierten Kontext der Humandifferenzierung jedoch auch, dass Leistung und Behinderung Begriffe sind, die sowohl differenzierend als auch entdifferenzierend verwendet werden können. So löst der Begriff ›behindert‹ in deutschen Fürsorgediskursen und Gesetzestexten ab den 1930er Jahren die älteren, (im doppelten Wortsinn) diskriminierenden Begriffe ›verkrüppelt‹, ›schwachsinnig‹, ›taubstumm‹ oder ›imbezil‹ ab und führt sie in einem entdifferenzierenden Begriff zusammen, wohingegen die noch junge Sonder- und Rehabilitationspädagogik ab den 1920er Jahren beginnt, Menschen mit Behinderung zunehmend in sonderpädagogische Heime und Schulen auszugliedern. Besonders widersprüchlich scheint die Sprache diesbezüglich im Nationalsozialismus: Einerseits etabliert sich der Begriff Behinderung rechtlich erst in den nationalsozialistischen Gesetzestexten, wenn etwa 1938 die Schulpflicht für »geistig und körperlich behinderte Kinder« eingeführt wird, andererseits differenziert die NS-Rassenhygiene zwischen »erbgesunden« und »erbkranken« Körpern, wobei letztere den »Ballastexistenzen« zugeordnet werden und entsprechend als »unwertes Leben« in den Konzentrationslagern »entsorgt« werden können (Schmuhl 2007: 29– 31). Erfunden hatten die Nazis die Verwertungslogik von Menschen allerdings nicht, wurde doch bereits im Preußischen Krüppelfürsorgesetz von 1920 die Differenzierung in ›Vollwertige‹, ›Teilnutzbare‹ und ›Unwertige‹ für die Staffelung von Leistungen der Krüppelfürsorge« (ebd.: 28) eingeführt, auf deren Grundlage das NS-Euthanasieprogramm später aufbaute. Der Leistungsbegriff weist eine ähnliche, wenn auch ethisch weniger problematische, Ambivalenz auf: Einerseits ist er an den Gerechtigkeitsanspruch gebunden, gleiche Chancen für alle, unabhängig sozialer und ethnischer Herkunft, zu gewähren und somit Diskriminierung und 237

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Privilegien durch den Leistungswettbewerb zu verunmöglichen. So werden etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Preußen erstmals standardisierte Schulnoten von »vorzüglich« bis »nicht befriedigend« eingeführt, um die Willkür des Lehrpersonals und den Einfluss der Familien bei der Versetzung einzuschränken (Verheyen 2018: 60, 62). Auch das Prinzip des Leistungslohns ermöglicht eine Bezahlung, die unabhängig von der Arbeitszeit und der hierarchischen Position im Betrieb Gleichheit suggeriert: Was zählt, ist allein die Leistung. Andererseits dienen die Messungen und Differenzierungen nach Leistung dazu, deviante Akteure in der Schulbildung oder der industriellen Produktion als unproduktiv oder »leistungsgestört« (s.o.) in Spezialeinrichtungen wie Werkstätten und sonderpädagogische Institutionen auszugliedern. Während Praktiken der Humandifferenzierung generell Un/Gleichheiten hervorbringen, indem sie Menschen in Gleiche und Ungleiche unterscheiden (Hirschauer 2017: 38f.), impliziert die Kopplung von Leistung und Devianz hier zugleich eine soziale Un/Gleichheit der Valorisierung und Diskriminierung, die je nach Teilsystem der Gesellschaft anders gewichtet werden kann: Was einerseits zu mehr Chancengleichheit führt, kann andererseits neue Praktiken der Ausgrenzung, Marginalisierung oder sozialer Abwertung evozieren. Wenn Leistung einerseits das Maß aller Dinge ist und alle unter Gleichen im vermeintlich selben Boot der Leistungsgesellschaft sitzen, legen Praktiken der Leistungsdifferenzierung andererseits Bereiche fest, die als Ränder statistischer Normalverteilung oder als graduelle Abweichung von normierten sozialen Verhaltensweisen als ›deviant‹ identifiziert werden und eine Ausgliederung ›devianter‹ Menschen in spezialisierte medizinische, justizielle oder pädagogische ›Schonräume‹ begünstigen, sodass diese die Anforderungen der Leistungsgesellschaft nicht mehr erfüllen müssen oder auf diese schonend vorbereitet werden. Neben der statistischen sowie betriebswirtschaftlich-industriellen Prägung wird der deutsche Leistungsbegriff um die Jahrhundertwende von einem sozialstaatlichen Verständnis geformt, das dem industriellen Profit- und Steigerungsdenken zunächst eher zuwiderzulaufen scheint. So weist das unter Bismarck eingeführte Sozialversicherungswesen physisch beeinträchtigten Menschen erstmals einen Anspruch auf staatliche Leistungen zu, die es vorher in dieser Form nicht gab: 1883 wird die staatliche Krankenversicherung eingeführt, 1884 die Unfallversicherung, 1889 die Invaliditäts- und Altersversicherung. Auch im Zuge dieser Entwicklungen weitet das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 den auf dem Schuldrecht beruhenden Leistungsbegriff auf das öffentliche Recht aus, sodass der Leistungsanspruch des Gläubigers auf jegliche Leistungsansprüche einzelner gegenüber dem Staat übertragen werden kann (Verheyen 2018: 140–142, 150). Was zunächst auf zwei vollkommen unterschiedlichen Definitionen des Leistungsbegriffs zurückzugehen scheint (Schuldrecht 238

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vs. Physik), nähert sich im Fall der Klassifizierung und Differenzierung von Behinderung auf merkwürdige Weise wieder an: Die konstatierte ›Leistungsstörung‹ von Menschen mit Behinderung entspricht nach dem ersten Weltkrieg dem impliziten Anspruch auf staatliche Leistungen der Fürsorge; vor allem aber richtet sich die Bemessung dieser Leistungen nach einer quantifizierbaren Leistungseinschränkung qua körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung. Der erste Weltkrieg stellt in diesem Kontext eine Zäsur dar, weil der moderne Wohlfahrtsstaat im Zuge eines signifikanten Anstiegs von Kriegsversehrten in den europäischen Gesellschaften in der Wirtschafts- und Sozialpolitik signifikant an Bedeutung gewinnt. Insbesondere die graduelle Differenzierung von Menschen mit Behinderung wird nach dem ersten Weltkrieg notwendig, um einerseits verschiedene Grade der Beeinträchtigung auf verschiedene Höhen der Fürsorge abzubilden und andererseits die gesellschaftlichen Kapazitäten an Arbeitskräften – unter Rücksichtnahme auf Behinderungen – für den wirtschaftlichen Aufschwung maximal zu nutzen. In diesem Sinne geht es auch bei den Leistungen der Krankenkasse im industriellen Wohlfahrtsstaat nicht allein um den Schutz ›devianter‹ Individuen, sondern vor allem um die Wiederherstellung der Arbeitskraft. So wie Taylor Produktivität und Effizienz als soziales Gut verstand und seine Maßnahmen der Rationalisierung und Regulierung der Arbeitsprozesse zugleich mit Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen verbinden konnte,5 zielt der Wohlfahrtsstaat um 1900 auch in Deutschland auf eine Verknüpfung von Produktivität, Leistungsdenken und sozialstaatlicher Absicherung der Volkswirtschaft. Wie die Leistung sind auch Kategorien der Devianz somit seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht lediglich als binäre Kategorien zu fassen, sondern können beide als Gradienten fungieren, die sich in Punktzahlen von US-amerikanischen SAT-Examen (seit 1926) oder Intelligenzquotienten ebenso abbilden lassen wie im deutschen Schwerbehindertenausweis mit der Angabe von Graden der Beeinträchtigung von 20 bis 100 (§2, SGB IX) oder dem davon abhängigen staatlich anerkannten Assistenzbedarf. Dem signifikanten Sprung aus der Normalitätskurve an die devianten Ränder als binärer Übertritt steht mithin die graduelle Einstufung und Abstufung von Graden der Tauglichkeit und der, auch altersbedingt, sich wandelnden Leistungsfähigkeit gegenüber, die umso 5 Taylor sprach sich für eine Verbesserung der Hygiene- und Arbeitsschutzmaßnahmen in Betrieben aus. Zur Gesundheit des Arbeiters merkt er in Bezug auf das optimierte Arbeitstempo an: »[…] in no case is the workman called upon to work at a pace which would be injurious to his health« (Taylor 1911: 20). Die »best method« hatte entsprechend auf die Gefahr eines Verschleiß der Arbeitskräfte Rücksicht zu nehmen, um eine nachhaltige Produktivität des Betriebs zu gewährleisten.

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deutlicher eine performative Prägung erfährt, je mehr sie in Abhängigkeit von Situationen der Beobachtung und Evaluierung gerät.6

2. Leistungsschauen Ich habe mich bisher vor allem aus einer begriffshistorischen und diskursanalytischen Perspektive mit der Beziehung zwischen Leistung und Devianz auseinandergesetzt. Dabei ist bereits am Beispiel des Taylorismus deutlich geworden, dass Leistungsdiskurse in der Moderne nicht nur deviantes und unproduktives Verhalten auf neue Weise bewerteten, sondern zugleich Leistung selbst performativ verstanden wurde, d.h. als im und am Vollzug messbare Qualität. Aus Sicht der Performance Studies liegt es nahe, sich in diesem Zusammenhang nicht allein Gesetzestexte und Alltagspraktiken, sondern auch kulturelle Performances7 genauer anzuschauen und entsprechend die Tragweite der juridischen und ökonomischen Diskurse und ihre Wechselwirkungen mit kulturellen Praktiken der Zeit zu untersuchen. Dabei stellen sich einige Fragen: Präsentieren öffentliche Performances um 1900 ihren Publika eine ähnlich enge Beziehung von Leistung und Devianz wie die referierten Diskurse? Auf welche Weise setzen Performances, die sich als Leistungsschauen typisieren lassen, neben messbaren und steigerungsfähigen Leistungen womöglich auch Devianzen in Szene? Und können Individuen oder Gruppen, die als ›deviant‹ klassifiziert werden, womöglich performative Darbietungen für ihre eigenen Anliegen nutzen oder gar Devianz in Leistung umwandeln? Um diese Fragen zu adressieren, wende ich mich im Folgenden der schlaglichtartigen Betrachtung einiger prominenter Leistungsschauen zu.

6 So wird ein Schwerbehindertenausweis in Deutschland in der Regel nicht lebenslang ausgestellt, sondern alle fünf Jahre nach einer Überprüfung verlängert. Ebenso wird kaum jemand auf die Idee kommen, dass das Ergebnis eines Intelligenztests lebenslang Gültigkeit besitzt. Und auch die US-amerikanischen Colleges verlangen bei Bewerbungen in der Regel den Nachweis eines maximal fünf Jahre zurückliegenden SAT-Examens. 7 Vom Ethnologen Milton Singer (1972) als Begriff übernommen, versteht man unter Cultural Performances alle Arten von Aufführungen (d.h. etwa auch Rituale und Zeremonien), die ein kulturelles Selbstverständnis repräsentieren. Zu den Grenzen der Anwendung des Begriffs aus heutiger theaterwissenschaftlicher Sicht siehe Warstat (2018: 92).

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2.1 Die Weltausstellungen: technisch avancierte vs. ›primitive‹ Performances Es gibt wohl keine öffentliche Veranstaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, welche die industrielle Produktivität sowie den ökonomischen Wettbewerb zwischen den Nationen derart aufwendig in Szene setzte wie die Weltausstellungen. Schon allein der offizielle Name der ersten Welt­ausstellung 1851 in London, »Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations« verweist auf diesen industriebezogenen und kompetitiven Charakter. Nach Alexander Geppert dienten die Ausstellungen aus staatlicher Sicht der »Förderung des ›Gewerbefleißes‹ und des Konsums sowie der Geschmacksbildung« (Geppert 2013). Technische Erfindungen wie z.B. Singers Nähmaschine (1876), der Phonograph (1878), der von Daimler entwickelte Stahlradwagen (1889) oder der Dieselmotor (1900) wurden auf den Ausstellungen ebenso dem Publikum präsentiert wie aufwendige architektonische Eisenkonstruktionen, etwa 1851 der Crystal Palace in London, 1889 der Eiffelturm in Paris oder 1893 das erste Riesenrad in Chicago. Bisweilen wurden solche Errungenschaften der Technik und Architektur auch direkt in aufwendigen Bauten kombiniert: So führte die Weltausstellung von 1900 in Paris den Besuchern die zivilisatorische und technische Leistung der Elektrizität mittels eines ex­tra auf dem Marsfeld gebauten Elektrizitätspalasts vor, der aus einer großen Halle aus Eisen und Glas bestand und darin verschiedene elek­trische Anwendungsgebiete zur Anschauung darbot. Besonders beeindruckend für die Zeitgenossen muss gewesen sein, dass dieses Prunkstück der Ausstellung zugleich als ihre Power Station diente: Alle umliegenden Gebäude und Ausstellungspaläste wurden von hier aus mit Strom versorgt (Musée d’Orsay 2006). Der technische Fortschritt der Zivilisation wurde somit in teilweise aufwendigen Darbietungen dem Publikum präsentiert und Erfindungen für den Haushalt wie die Nähmaschine als neue und erschwingliche Produkte angepriesen. Nicht selten wurde die technische Leistung dabei der menschlichen Leistung gegenübergestellt, indem etwa die Schnelligkeit der Nähmaschine dem Publikum vorgeführt wurde. So führte die amerikanische Firma Wheeler and Wilson im Jahr 1861 mehrere Experimente im direkten Wettbewerb von jeweils vier Näherinnen mit und ohne Nähmaschine durch (Coopers 1968: 58), deren Messergebnisse im Katalog der Londoner Weltausstellung von 1862 abgedruckt sind: »The Time for making a frock-coat by hand is sixteen hours and thirty-five minutes; by sewing machine two hours and thirty-eight minutes. By hand, a pair of trousers can be made in five hours and fifteen minutes, by machine in fifty-one minutes. A silk dress requiring eight hours and 241

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Abb. 1: Maschinenhalle der Weltausstellung 1889 in Paris, Fotograf: unbekannt, archiviert von Library of Congress, © Wikimedia / public domain.

twenty-seven minutes by the hand, can be made by the machine in one hour and thirteen minutes.« (Shaffner/Owen 1862: 104).

Die Präsentation von technischer Leistung im Rahmen der Weltausstellungen diente somit nicht zuletzt dazu, dem Publikum Maschinen als dem menschlichen Körper überlegen darzustellen und den technischen Fortschritt der Industrialisierung als Errungenschaft der Zivilisation anzupreisen. Die Weltausstellungen zogen mit ihren technischen und zivilisatorischen Sensationen um die Jahrhundertwende eine erstaunliche Anzahl an Besuchern an. 1900 kamen im Verlauf des Sommers 50 Millionen Menschen nach Paris – ein Rekord, der bis zur Weltausstellung in Brüssel 1958 bestehen bleiben sollte (Geppert 2013). Neben technischen und zivilisatorischen Errungenschaften wurden die Weltausstellungen ab dem späten 19. Jahrhundert jedoch ebenso zur Bühne von Kolonial- und Völkerschauen. So gab es bei der Weltausstellung 1883 in Amsterdam, die sich offiziell »Internationale Kolonial- und Außenhandelsausstellung« nannte, abgesehen von Erfindungen wie dem Telefon oder einem großen Banksafe, in dem acht Personen Platz hatten, auch zum ersten Mal ein Kampong zu besichtigen. In diesem, auf dem Ausstellungsgelände aufgebauten, javanesischen Dorf konnten die Besucher den extra ›importierten‹ Bewohnern in traditionellen Trachten und bei ihren Alltags­ tätigkeiten zusehen. Die Kulturwissenschaftlerin Marieke Blombergen beschreibt diese koloniale Völkerschau wie folgt: 242

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Abb. 2: Javanische Tänzerinnen im Kampong der Weltausstellung 1889 Paris, Online Archiv der Universität Leiden, © public domain.

»There was plenty to see, hear, and taste in the kampong. In the morning a picturesque, rural tranquility reigned there, this was the time to watch the Javanese performing their everyday tasks, according to the official Dutch report. The afternoon provided noise and sensation, starting with a procession to the sounds of the angklung, announcing the kampong’s main attraction: performances of music and dance in the pendopo featuring four young women dancers from Solo, accompanied by the Sundanese gamelan of Parakan Salak.« (Bloembergen 2006: 132)

Es handelt sich in diesem Fall in doppelter Hinsicht um eine performative Darbietung: Einfache Alltagstätigkeiten wie Kochen, Weben oder Töpfern wurden dem weißen europäischen Publikum im Kampong ebenso präsentiert wie Tänze und Musik in traditionellen Trachten. Beide Aufführungsformen repräsentierten gewissermaßen die Gegenseite der auf der Hauptausstellung dargebotenen technischen Sensationen. Die gezielte Gegenüberstellung von technisch-maschineller Performance und ›primitiver‹ (menschlicher) Performance diente sowohl dazu, die Überlegenheit der zivilisierten und technisch weit entwickelten Moderne des globalen Nordens zu markieren, als auch, ›exotische Menschen‹ als Repräsentanten kolonialer Besitztümer auszustellen. Allerdings ging es in der Völkerschau offenbar weniger darum, mangelnde Fähigkeiten oder Techniken der ›Eingeborenen‹ zu zeigen, als vielmehr, den Blick zurück in eine vermeintliche Vorstufe moderner Zivilisation 243

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zu richten. So rahmten begleitende Katalogtexte und Vorträge auf der Welt­ausstellung die präsentierten Dörfer und Bewohner aus darwinistischer Perspektive als frühere Entwicklungsstufe menschlicher Zivilisation (Bloembergen 2006: 39). Die Ausstellung des vermeintlich Ursprünglichen und Primitiven führte mithin nicht allein zu einer Devalorisierung des Fremden, sondern vor allem auch zu einer Exotisierung und Romantisierung einer ›Vorstufe‹ moderner Entwicklung. Von berühmten Künstlerpersönlichkeiten und Intellektuellen wie Claude Debussy, Paul Gauguin oder Emile Zola sind begeisterte Berichte von ihren Besuchen des Kampongs 1889 in Paris überliefert (Schaal 2018: 28). In der Kontrastierung von technischer und zivilisatorischer Leistung einerseits und Devianz im Sinne der dargebotenen ›primitiven‹ und ›rückständigen‹ Kulturtechniken andererseits versprachen die Weltausstellungen dem Publikum eine Attraktion, die den Wandel der Zeit auf besondere Weise zur Anschauung brachte und die Weltausstellung als darwinistisch gefärbte Zeitreise in die Zukunft und Vergangenheit der Zivilisation erfahrbar werden ließ. 2.2 Die Olympiade: bürgerliche Amateure und proletarische Profis Die Olympischen Spiele der Neuzeit, die 1896 erstmalig in Athen stattfanden, können wohl als Leistungsschau par excellence bezeichnet werden. Wenn Athleten sich im Sprint und Weitsprung, Schießen und Fechten, Gewichtheben und Ringen, Radsport und Tennis messen, steht, so könnte man meinen, allein der Wettkampf der weltbesten Sportler im Vordergrund. Als der Baron de Coubertin 1894 das Internationale Olympische Komitee gründete, ging es ihm zunächst jedoch weniger um sportliche Rekorde oder um den Vergleich menschlicher Höchstleistungen als vielmehr in erster Linie um eine internationale Bewegung und ein großes Fest der Völker. Erika Fischer-Lichte hat darauf hingewiesen, dass de Coubertin unter anderem ein Besuch bei Richard Wagners Bayreuther Festspielen sowie das Wagner’sche Konzept des Gesamtkunstwerks bewogen hatten, die Idee einer Wiedergeburt der Olympischen Spiele konsequent zu verfolgen und 1896 schließlich in die Tat umzusetzen (Fischer-Lichte 2005: 74). Das kultische Moment der Olympischen Spiele mit all ihren Ritualen und Zeremonien lag de Coubertin demnach weitaus mehr am Herzen als der kompetitive Wettkampf der weltbesten Athleten. Nun wäre die Geschichte der Olympischen Spiele, ihres Systems der Klassifizierung (von Disziplinen bis Wettkampfklassen) und Rekorde bis hin zur Geschichte ihrer Schwesterorganisationen und -veranstaltungen wie den Paralympics und den Special Olympics zweifellos einen eigenen Aufsatz über Leistung und Devianz sowie die damit verknüpften 244

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Praktiken der Humandifferenzierung wert.8 Was den Beginn der Spiele um 1900 angeht, möchte ich in diesem Rahmen lediglich auf einen Aspekt hinweisen, der nichts mit Behinderung, dafür aber mit moralischer Devianz und sozialer Distinktion zu tun hat. Matthew LLewellyn und John Gleaves legen in ihrem Buch The Rise and Fall of Olympic Amateurism dar, dass der Baron de Coubertin sich im Vorfeld der ersten Spiele für die Idee von Amateurwettkämpfen einsetzte, um insbesondere um die Gunst der Briten zu buhlen. Der Amateursport war Ende des 19. Jahrhunderts eine fast ausschließlich britische Tradition, wobei die Unterscheidung zwischen Profi- und Amateursport sich überhaupt erst seit den 1870er Jahren etabliert hatte. So wenig die Vertreter anderer Länder im Komitee, allen voran von Coubertins eigenem Land Frankreich sowie des Gastgebers Griechenland, mit Amateurism anfangen konnten, so wichtig war es de Coubertin, die Briten als größte Imperialmacht für die Idee der Spiele zu gewinnen. Während der Amateursport aus heutiger Sicht, etwa im Fußball, häufig mit dem Breitensport aller sozialen Milieus gleichgesetzt wird und damit einem vermeintlich inklusiven Gleichheitsund Leistungsgedanken entspricht, geht die ursprüngliche Bewegung in Großbritannien im Gegenteil auf die elitäre Abgrenzung einer viktorianischen Ober- und Mittelschicht gegenüber dem Sport der Arbeiterklasse zurück. Llewelyn und Gleaves schreiben: »The growing influx of working-class players and teams posed a direct challenge to upper-middle-class hegemony. In soccer and rugby union, public school-based clubs and players were gradually eclipsed by their social inferiors, particularly proletarian teams from the northern industrial regions of England. […] Even off the field, the rise of enormous crowds of working-class spectators posed a threat to the esta­ blished social order. Large throngs of unruly spectators—congregated in mas­ses, drinking, gambling, and widely gesticulating—offended middle-class sensibilities. […] It is in this climate, amid social struggles and a ­middle-class desire to set itself apart from the money-oriented, mo­ rally corrupt working classes, that amateurism was born.« (Llewellyn/ Gleaves 2016: 13–15)

Was an dieser Darstellung aus heutiger Sicht überrascht, ist zum einen, dass der Amateursport nicht als Massenveranstaltung, sondern als elitäre Angelegenheit und aus Gründen sozialer Distinktion ins Leben gerufen wurde. Die Olympischen Spiele als Amateur-Festspiele zu erfinden, ist insofern als Zugeständnis de Coubertins an die viktorianische Oberschicht zu lesen. Zum anderen weisen Llewellyn und G ­ leaves aber 8 Marion Müller hat gezeigt, wie Kategorisierungen der Humandifferenzierung im Sport mit feldspezifischen Klassifikationssystemen kollidieren. Die bedeutendsten Beispiele sind die Debatten um den Prothesensprinter Oscar Pistorius und die intersexuelle Athletin Caster Semenya (Müller 2017).

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Abb. 3: 100m-Lauf bei den Olympischen Spielen 1896 in Athen, © Wikimedia Commons / public domain.

auch darauf hin, dass der Amateursport und damit auch die Olympischen Spiele im viktorianischen England bestimmte Normen und Ideale repräsentierten, die im Kontrast zu (aus moralisch-protestantischer Sicht) devianten Verhaltensweisen wie Glücksspiel und Alkoholkonsum sowie der Korruption standen. Die Olympischen Spiele waren als Amateur-Veranstaltung somit in sozioethischer Hinsicht weitaus mehr als ein Wettkampf der besten Athleten. Sie sollten die ideale Haltung des viktorianischen Gentleman in Szene setzen, der sich nicht der »unholy trinity of alcohol, gambling, and sex« (ebd.: 16) hingibt, sondern stattdessen ein romantisiertes Bild von Ehrlichkeit, Demut, Selbstkontrolle und (selbst im Falle der Niederlage) Respekt für den Gegner verkörpert. De Coubertins Idee der Olympischen Spiele ist somit weit entfernt vom unbedingten Siegeswillen für den Geist der Nation und des Volkes, wie ihn etwa Leni Riefenstahl mit ihrem Film Olympia 1936 als Nazi-Propagandafilm inszeniert hat. Vielmehr kann der Amateursport um 1900 als nostalgischer Gegenpol zum reinen Leistungsdenken der Industriegesellschaft betrachtet werden; zumindest aus Sicht der britischen Bourgeoisie war dieser ein Versprechen: »Amateurism provided a sense of civility, sociability, and cordiality in an increasingly turbulent, competitive, and industrialized world« (ebd.: 17). Die Entstehungsgeschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit verweist in diesem Sinne auf einen komplexen diskursiven Aushandlungsprozess 246

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zwischen Konnotationen von Leistung, Devianz und sozialer Distinktion. Einerseits diente die olympische Leistungsschau im Geiste des britischen Amateursports dazu, in Abgrenzung zum outputorientierten Industriekapitalismus bürgerliche Werte wie Fairness und Teamgeist zu propagieren, andererseits ging es darum, sich mit dieser gezielten Absonderung vom kommerzialisierten Massensport ebenso von einem verwerflichen moralischen Verhalten der Arbeiterklasse zu distinguieren und letzteres zu devalorisieren. Der Leistung der Besten (die in der Regel eher die proletarischen Profis waren) wurde eine ganz andere Leistung der ›Besten‹ gegenübergestellt – die Vervollkommnung körperlicher und moralischer Leistung im Sinne eines viktorianischen Bildungsideals. Mit diesem Anspruch nahmen 1896 Amateure unter Ihresgleichen an den Spielen als Fest der Völker teil, das sich aus heutiger Perspektive als äußerst homogene Veranstaltung herausstellt: bei den Athleten handelte es sich ausnahmslos um weiße europäische Männer der oberen und bürgerlichen Schichten aus Europa und den USA. 2.3 Leistung im Zirkus: dressierte Tiere und animalisierte Menschen Im Gegensatz zum Amateursport war der ebenfalls aus England stammende Zirkus als Genre bereits Mitte des 19. Jahrhunderts europaweit zu einem äußerst populären Genre avanciert (Peter 2019). Aus einer Reitschule entstanden, treten im Zirkus bis heute Tiere, Dompteure, Akro­baten und Jongleure auf, um Jung und Alt mit ihren Performances zu erfreuen. Zirkus-Akte setzen neben außergewöhnlichen Leistungen dabei auch die Gefahr eines Scheiterns in Szene. Der Seiltänzer oder die Trapezkünstlerin riskieren mit ihrer Darbietung unter Umständen sogar ihr Leben, ebenso wie der Dompteur, der den Kopf in den Rachen des Löwen steckt. Laut Thomas Macho ging es im Zirkus des 19. Jahrhunderts jedoch nicht allein um das Staunen und die Spannung, die solch riskante Performances bei ihren Zuschauenden hervorrufen, sondern zuvorderst um eine für das 19. Jahrhundert typische Repräsentation von Erziehung und Disziplinierung: »Der Zirkus fungierte als das pädagogische Komplement des Zoologischen Gartens; er illustrierte die Fortschrittsutopien von der ›Erziehung‹ und der ›Verbesserung‹ des Menschengeschlechts, indem er zumal die Lernfähigkeit und Dressierbarkeit der Tiere demonstrierte.« (Macho 2005: 168)

Die Dressierbarkeit der Tiere stand dabei zugleich für ihre Zivilisierung. Tiere wurden solange dressiert und abgerichtet, bis sie der menschlichen Leistungsfähigkeit möglichst nahekamen. So erwähnt Macho den Auftritt eines »studierten Esels« im Berliner Zirkus Renz 1866 sowie des 247

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Abb. 4: Zirkusplakat der McLoughlin Bros. 1887, © public domain.

»rechnenden Hans« in Hamburg, eines mathematisch begabten Hengstes, der »die Ergebnisse bestimmter arithmetischer Operationen mit seinen Hufen klopfen konnte« (ebd.: 166). So wie die Tiere vom Zirkus vermenschlicht wurden, konnten umgekehrt aber auch Menschen animalisiert werden – beispielsweise repräsentiert die Schlangenfrau, die in Verrenkungen die antrainierte Dehnbarkeit ihres Körpers vorführt, ein auffälliges Konglomerat von Leistung und Devianz – einerseits Halbmensch-Halbtier steht sie für das Abnormale und Deformierte, andererseits befähigt gerade jene Ambiguität ihren Körper zur außergewöhnlichen Leisung devianter Dehnbarkeit. Darüber hinaus kamen im Zirkus, ähnlich wie bei den Völkerschauen, gezielt Exotisierungen zum Einsatz. So wurde gerade die Schlangenfrau häufig als orientalische Schönheit inszeniert. Teilweise vermischten sich aber auch die Genres von Völkerschau und Zirkus, wenn etwa indigene Akteure ihre ethnisierten Kunststücke vorführten. Der berühmte Zirkus Sarasani bewarb um 1920 seine Wild-West-Show mit folgenden Worten: »›Wild-West‹ zaubert die Romantik des wilden Westens wach durch eine phantastisch schöne und grandiose Szenerie. Dabei zeigt ›Wild-West‹ keine Theaterausstattung, sondern eine naturgetreue, wissenschaftlich nachprüfbare Wiedergabe des Lebens und Treibens in der Prärie, echt bis in die äusserste Kleinigkeit hinein. Echte Indianer wirken mit, nicht nur in ihren heimatlichen Gebräuchen, in ihren Tänzen und in ihren religiösen Handlungen, sondern in ihrem tollkühnen Reiten, Schwimmen 248

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und Klettern. Echte Cowboys, die Helden der Prärie, sattelfest und todesmutig, werden sich mit ihnen vereinen um eine spannende, allgemeinverständliche Handlung voll aufregender Kämpfe in den Felsen, in der Prärie und im Wasser zu zeigen. […] ›Wild-West‹ ist ein echtes und unverfälschtes Circusspiel mit mehr denn hundert Rossen und Reitern und tollkühnen Kunststücken.« (Zeitungsanzeige des Zirkus Sarasani in: Dresdner Rundschau vom 05.04.1913, zitiert in Mergenthaler 2005: 46)

Ähnlich wie die Ausrufer einer Freakshow betont die Ankündigung auf verdächtige Weise die (»wissenschaftlich nachprüfbare«) Echtheit der Show. Zur exotisierenden Inszenierung von Authentizität gesellt sich zweitens offenbar eine Inszenierung von Leistungsfähigkeit, die in diesem Kontext zwar ebenfalls das Exotische und Abenteuerhafte als (vom Alltag der Zuschauer) Abweichendes betont (»voll aufregender Kämpfe in den Felsen, in der Prärie und im Wasser«), zugleich jedoch Leistung als die Unterschiede ausgleichende Kategorie der Humandifferenzierung einsetzt – denn anders als die exotischen Gebräuche und Tänze stehen das tollkühne Reiten, Schwimmen und Klettern offenbar auf derselben Leistungsstufe wie das todesmutige Reiten der Cowboys oder der Drahtseilakt des Tänzers. Leistung bekommt mithin trotz Überbietungsrhetorik und Exotisierung einen egalisierenden und fast schon versöhnlichen Klang, wenn es doch Indianer und Cowboys gleichermaßen sind, die hier gemeinsam in einer kompetitiven Zirkusschau auftreten. Mittels der Reit- und Schwimmleistung überwinden die Indianer und Cowboys also einerseits ihre Differenz – beide stehen für ein Männlichkeitsideal von Tapferkeit und Mut ein, andererseits treten sie als gleichwertige Gegner im zivilisatorischen Kampf gegeneinander an, der wiederum am Ende (mit dem Sieg der Cowboys) die Leistung der Zivilisierung hervorhebt. 2.4 Überwindungsperformance: Ein armloser Geiger im Varieté Das hier angedeutete Zusammenspiel von Egalisierung, Kompensation und Devianz war keineswegs allein im Zirkus zu Hause. Bezeichnenderweise waren es häufiger die an den Zirkus angeschlossenen, aber abseits der Hauptattraktion stattfindenden Sideshows, die in verwandter Weise Devianz und Leistung kombinierten und dabei einen vermeintlichen Mangel – etwa eine ›primitive‹ Herkunft oder eine körperliche Behinderung mittels Performance kompensierten. So trat etwa der einem größeren Publikum aus Tod Brownings Film Freaks (1932) bekannte arm- und beinlose Darsteller Prince Randian, auch als »living torso« bekannt, jahrzehntelang mit einer Nummer auf, bei der er sich eine Zigarette nur mit dem Mund und einer Streichholzschachtel anzündete 249

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– eine äußerst bekannte Szene des später jahrelang verbotenen Films.9 Anders als bei der Schlangenfrau stehen sich in diesem Fall Leistung und Devianz gegenüber, werden jedoch im performativen Handeln vor Publikum als Akt der Überwindung direkt aufeinander bezogen, indem einerseits ein von der Norm abweichender Körper, andererseits eine unerwartete und außergewöhnliche Leistung mittels dieses Körpers aufgeführt wird. Einer der berühmtesten Repräsentanten einer solchen Kompensationsperformance war Carl Hermann Unthan. Der armlose Geigenvirtuose, der sein besonderes Talent nach eigener Aussage dem Umstand zu verdanken hatte, dass sein Vater ein Jahr nach der Geburt entschied, dem Jungen keine Schuhe und Socken mehr anzuziehen, um das Training seiner Füße zu fördern, reiste ab den späten 1860er Jahren über mehrere Jahrzehnte durch Europa und Nordamerika, um auf Varietébühnen Violinkonzerte mit seinen Füßen zu geben. Eine Rezension eines seiner ersten Konzerte in München 1868 berichtet über den Auftritt folgendermaßen: »Wie weit es der Mensch durch die Kraft seines Willens bringen kann, davon hat man sich gestern in dem Konzert, welches der ohne Arme geborne Violinist Hermann Unthan im Café Holzinger gegeben, wieder überzeugen können. Es ist staunenserregend, was dieser junge Künstler leistet! Er ersetzt die ihm von der Natur versagten Arme derart durch die Füße, daß man die natürlichen Hindernisse kaum mehr bemerkt. Die Violine ist auf einem Piedestal wagrecht festgeschraubt, der linke Fuß führt den an die große Zehe befestigten Bogen sicher, leicht und kräftig, während die wie Finger ausgebildeten Zehen des rechten Fußes das Griffbrett so gewandt und genau behandeln, daß schnelle Passagen, Flagettöne und selbst Doppelgriffe dem Gehör in meist reiner Intonation vermittelt werden. Mögen unsere Leser ja nicht versäumen, den jugendlichen Virtuosen zu hören. Er spielt morgen, Dienstag, wieder im Café Holzinger.« (Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik, 11.8.1868: 3)

Wie sich an dieser Zeitungskritik ablesen lässt, war Unthan gerade in den ersten Jahren als Konzertvirtuose sehr erfolgreich, wobei die Formulierung »meist reine Intonation« andeutet, dass der Erfolg offenbar weniger mit der perfekten musikalischen Ausführung als vielmehr mit 9 Aufgrund heftiger Reaktionen des zeitgenössischen Kinopublikums auf die Darstellung der Freaks durch Schauspieler mit Behinderung sowie insbesondere auf die Schlussszene des Films, in der sich die behinderten Protagonisten an ihren nichtbehinderten Zirkuskolleg*innen Herkules und Cleopatra rächen, indem sie ersteren ermorden und letztere gewaltsam verstümmeln und anschließend als Freak ausstellen, stand der Film in Großbritannien 30 Jahre lang auf dem Index (Smith 2012: 94f.).

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Abb. 5: Carl Hermann Unthan beim Geigen, Scan aus Unthans Autobiografie, Das Pediskript, 2. Aufl. 1925: 288.

der Kuriosität seiner Erscheinung zu tun hatte. Über den Komponisten Franz Liszt, der eines seiner Konzerte besuchte, schreibt Unthan in seiner Autobiografie Das Pediskript von 1925: »Nach dem Konzert beglückwünschte er mich und klopfte nur auf Wange und Schulter. Was war es, das mich an der Echtheit seiner Begeisterung zweifeln ließ? Wodurch erschien sie mir so gemacht?« (Unthan 1925: 73) Gemacht war jedoch vor allem das Zusammenspiel von Leistung und Devianz selbst, das Unthan mit seiner Kompensationsperformance in Szene setzte. So wurde er von der Presse und von Theaterdirektoren stets als Sensation und besondere Erscheinung angepriesen. Die Straubinger Nachrichten wiesen z.B. in einer Annonce explizit daraufhin, dass man »[Unthan] bei der Produktion so plaziren [wird], daß ihn jedermann ohne aufzustehen bequem sehen kann« (Ausgabe vom 30. August 1868: 3) und die Würzburger Nachrichten kündigten ihn als »größtes Weltwunder seiner Art« (Würzburger Nachrichten, 5.9. 1868: 7) an. Auch Unthan selbst inszenierte sich in seiner Autobiografie als Kompensations- und Überwindungskünstler, der entgegen aller Hürden und Vorurteile nur durch Disziplin und Übung zum Erfolg findet. So spornt ihn nicht allein das Geigen an, sondern alle möglichen körperlichen und 251

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Abb. 6: Carl Hermann Unthan beim Schießen, Scan aus Unthans Autobiografie, Das Pediskript, 2. Aufl. 1925: 80.

sportlichen Aktivitäten im Wettbewerb mit seinen »bearmten« Zeitgensossen: »Wenn mir im Laufen jemand, der seine Arme rhythmisch zum Schwunggeben ausnützen kann, vorauskommt, so tröste ich mich damit, daß die ›Bearmten‹ unter einander auch nicht die gleiche Leistungsfähigkeit haben; dafür gebe ich jedem Schwimmer mit noch so vielen Armen eine harte Nuß zu knacken. Im Hoch- und Weitspringen habe ich in meiner Jugend unter meinen bearmten Kameraden einen weit über das Mittelmaß hinausgehenden Rang eingenommen. Im Schlittschuhlaufen war ich in Königsberg der erste, bis das Geigen begann; mit tiefer Trauer mußte ich es dann aufgeben, weil es das Gefühl in den Knöcheln zu sehr abstumpfte.« (Unthan 1925: 301)

Die Lebensgeschichte Unthans ist deshalb so bemerkenswert, weil sie eine Blaupause zahlreicher Kompensations- und Überwindungsperformances der Freak- und Sideshows des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu sein scheint: Behinderung wird hier zwar noch als Devianz ausgestellt, wird mittels Performance jedoch zugleich als überwunden dargestellt. Wenn Rosemary Garland-Thomson die Geschichte der Freak­show mit »From Wonder to Error« übertitelt (Garland-Thomson 252

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1996) oder Stephanie Nestawal sie als Entwicklung von »Mythologie zu Pathologie« beschreibt (Nestawal 2010), so lassen diese Überschriften die performative Darbietung von Leistung und Devianz weitgehend außer Acht, die gerade für die späten Freak- und Sideshows äußerst prägend ist. Das Paradox der Leistungsschauen mit Performern wie Unthan ist dabei, dass sie mit ihrer Überwindungsperformance ihre deviante Erscheinung zugleich in besonderer Weise hervorheben. Gerade wenn Unthan, wie bei seiner Amerika-Tour, als eine Nummer in einer Reihe von anderen Performern auftritt, neben »dem besten Jongleur«, den »Handstandakrobaten«, einer Trapezkünstlerin und einer »Radfahrtruppe« (Unthan 1925: 115), kommt die Normabweichung seines Körpers und die Devianz seiner Geigen-Performance umso deutlicher zur Geltung. Im Varieté wird der Auftritt des Geigenvirtuosen fast zwangsläufig zur Freak­show – das in der oben zitierten Kritik noch erwähnte musikalische Erlebnis (»Flagettöne«, »Doppelgriffe«) spielt in diesem Rahmen kaum mehr eine Rolle, ist es doch vor allem das Prinzip der Überwindung von Behinderung qua aufgeführter Leistung, das neben den Performances von Jongleuren und Akrobaten besonders ins Auge sticht. Wenn heute die Paralympischen Spiele wie vom Britischen Fernsehsender Channel 4 mit dem Motto »We are the Superhumans!« beworben werden und der Clip neben Para-Athlet*innen armlose Musiker, Tänzerinnen mit Prothesen und einen Sänger in einem eine Sprungschanze herunterrasenden Rollstuhl präsentiert, so wird deutlich, dass jene »Supercrip«-Logik (Schalk 2016) der Kompensation und Überwindung, welche die Disability-Aktivistin Stella Young einmal »Inspiration Porn« für Nichtbehinderte nannte, nach wie vor Aktualität besitzt – denn auch heute werden Leistung und Devianz noch bei Auftritten von Menschen mit Behinderung performativ miteinander verschränkt, um sie als »Sieger über ihre Behinderung« (Sloterdijk 2009: 78) erscheinen zu lassen.

3. Leistungsschauen als Praktiken der Humandifferenzierung Ich habe mit verschiedenen historischen Beispielen versucht zu veranschaulichen, wie Leistung und Devianz um 1900 mittels diskursiver und performativer Praktiken aufeinander bezogen wurden. So sollte die Analyse juridischer und ökonomischer Diskurse darlegen, dass der moderne, Ende des 19. Jahrhunderts entstehende Leistungsbegriff mit Prozessen der Quantifizierung und Standardisierung zusammenhängt, die aus dem Industriekapitalismus (Taylorismus), der Verbindung von Statistik und Eugenik sowie aus sozialstaatlichen Errungenschaften (Versicherungswesen, Leistungslohn) resultieren und neben Leistungsnormen 253

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auch Maßstäbe der Identifizierung und Klassifizierung von Devianz hervorbrachten. Dies geschieht einerseits in Bezug auf Techniken der Normalisierung des Körpers, der Intelligenz oder des Verhaltens, die Differenzierungen und Abstufungen zwischen Produktiven und ›Leistungsgestörten‹, Tauglichen und Untauglichen, ›wertem‹ und ›unwertem Leben‹ nach sich ziehen, andererseits in Bezug auf ein teleologisches und evolutionäres Fortschrittsdenken, wie es unter anderem von den Weltausstellungen zur Anschauung gebracht wurde. Da der Begriff der Leistung seit dem 19. Jahrhundert ebenso mit einem Gleichheitsversprechen verbunden ist, kann darüber hinaus ein Paradox der Leistungsdifferenzierung konstatiert werden: Denn zum einen operiert der Leistungsbegriff entdifferenzierend, indem er von anderen Kategorisierungen wie Ethnizität, Geschlecht oder sozialer Klasse absieht und diese damit absorbiert. Zum anderen sind es gerade die Normen der Leistungsdifferenzierung, welche eine deviante Restkategorie von Verlierern der Leistungsgesellschaft erzeugen. Die als Beispiele fungierenden Leistungsschauen setzen nun dieses Paradox auf unterschiedliche Weise in Szene: Ob im Zirkus, bei der Olympiade oder im inklusiven Varietétheater: Stets ist es das Gleichheitsversprechen von Leistung, das die deviante Performance zugleich als solche markiert und entsprechend Behinderung, proletarische Unmoral oder exotische Fremdheit in Differenz zur Normalität setzt. Leistungsschauen sind damit in doppelter Hinsicht als Praktiken der Humandifferenzierung zu bezeichnen: sie sind einerseits an der Hervorbringung einer Außengrenze des Humanen qua Leistungsnormen beteiligt – etwa mit dem Aufstellen von Weltrekorden (ein Mensch kann maximal neun Meter weit springen) oder mittels Kompensationsnarrativen (ein Mensch kann selbst ohne Arme lernen, Geige zu spielen – und ist gerade deshalb ein Mensch);10 sie sind andererseits aber auch an der performativen Konstruktion von Devianz beteiligt, etwa wenn Menschen sich tierähnlich verhalten (Zirkus), als unzivilisiert oder unehrenhaft dargestellt werden (Weltausstellung, Abwertung des Profisports bei der Olympiade) oder die Leistungsschau qua vermeintlicher Überwindung die Devianz in der ›Menschwerdung‹ umso deutlicher hervorhebt (Carl Hermann Unthan). Stellt man die verschiedenen Beispiele von Leistungsschauen nebeneinander, so lassen sich in den Performances spezifische Modi der Ent/ Differenzierung typisieren, die das jeweils repräsentierte Verhältnis von Leistung und Devianz prägen. Wie jede Typisierung reduziert auch diese die empirischen Fälle auf bestimmte Merkmale der Unterscheidung, die 10 So Peter Sloterdijks nietzscheanisch gefärbte Interpretation des Falles Unthan als »Trotzanthropologie« (Sloterdijk 2009: 69). In kritischer Abgrenzung zu Sloterdijks Anthropotechniken siehe Harrasser (2013) und Umathum (2015).

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zweifellos einige der in den Beispielen beschriebenen Ambivalenzen versimplifiziert. Dennoch lohnt es sich, anhand der genannten Fälle grob zwischen vier Modi zu unterscheiden: Im Fall der Weltausstellung handelte es sich in erster Linie um einen Modus der Kontrastierung (1), bei der ›primitive‹ Kulturtechniken und technisierte Höchstleistungen diametral gegenübergestellt wurden und somit die Präsentation technischer und zivilisatorischer Leistung eng auf Praktiken der Humandifferenzierung sowie Fortschrittsdenken und dem Leistungsvergleich von Mensch und Maschine bezogen bleibt. Der Amateurism des Leistungssports im Rahmen der Olympiade implizierte hingegen einen Modus der Distinktion (2) – d.h. dass sich die Wettbewerbe bzw. Performances im Amateursport von den professionellen und kommerzialisierten Kompetitionen mittels eines distinguierten moralischen Diskurses und mithin als sozial höherwertige Akteure von den proletarischen Sportlern abgrenzten, um die eigene Performance zu valorisieren. Anhand des Zirkus habe ich schließlich zwei verschiedene Modi der Differenzierung veranschaulicht: einerseits einen Modus der Transformation (3), für den die Schlangenfrau oder das rechnende Pferd stehen: ihr deviantes (tier- oder menschenähnliches) Verhalten wird als Leistung wahrgenommen und ermöglicht ihnen zugleich die Verwandlung in einen Anderen (in einen animalischen Menschen oder ein menschenartiges Tier), andererseits einen Modus der Egalisierung und Kompensation (4), für den sowohl die Wild-West-Performance im Zirkus Sarasani als auch Unthans virtuose Geigenkonzerte im Varieté stehen: hier ist Leistung zugleich eine Überwindung von Devianz, wobei diese in einem ReEntry der Differenz umso deutlicher hervorgehoben wird, wenn sie wie bei Unthan selbst zentraler Bestandteil der Performance bleibt. In allen Beispielen sind Devianz und Leistung nicht etwas natürlich Gegebenes oder allein an den individuellen Körper Gebundenes, sondern werden selbst performativ erzeugt. Deviant werden die Körper hier in bzw. durch Performance – d.h. mittels der (norm)abweichenden Ausführung einer Handlung vor Publikum: Unthan spielt die Geige mit den Füßen, nicht mit den Händen, der Schlangenmensch verbiegt sich wie ein nichtmenschliches Wesen, die ›Wilden‹ führen Alltagshandlungen auf ›unzivilisierte‹ und ›rückständige‹ Weise aus, die proletarischen Sport-Profis haben keine ›Gentleman-Manieren‹ und in der Industrie werden die ›falschen Bewegungen‹ von Taylor als deviante Arbeitsschritte aussortiert. Die Beispiele zeigen, wie Devianz erst in der Beobachtung von Performance identifiziert und auf jeweils unterschiedliche Weise mit Leistung gekoppelt wird. Die Leistungsschauen fungieren hier nicht als schlichte Illustrationen oder Repräsentationen von Humandifferenzierung qua Leistung und Devianz, sondern sind als öffentliche kulturelle Darbietungen mit Massenpublikum maßgeblich an der performativen Hervorbringung und Konstruktion von devianten Kategorien wie 255

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›Proletarier‹, ›Primitive‹, ›Hochbegabte‹, ›Freaks‹ oder ›Behinderte‹ beteiligt. Schließlich weisen die Leistungsschauen um 1900 damit auch auf einen impliziten Stellenwert performativen Gelingens hin: Denn die Kompensation von Behinderung, das Überschreiten der Grenze zwischen Mensch und Tier oder die Abgrenzung zum proletarischen Sport kann nur gelingen, wenn die Performance auch das Publikum überzeugt. Tut sie es nicht, droht eine außergewöhnliche in eine (unter)durchschnittliche Leistung oder Devianz in Normalität umzukippen. Das Kippmoment hängt dabei nicht selten von Details in der Ausführung ab: eine falsche Bewegung, eine falsche Grundeinstellung oder ein falsches Kostüm können die Performance und den jeweiligen Modus der Ent/Differenzierung bereits zum Scheitern bringen. Würden etwa die Bewohner des Kampungs bei der Weltausstellung 1900 in europäischer Kleidung auftreten oder plötzlich einen französischen statt einen sudanesischen Volkstanz aufführen, so ließe sich die Kontrastierung von ›primitiver‹ Kultur und Zivilisation in der Inszenierung nicht mehr aufrechterhalten (sie würde dann eher zu einer transformativen Zivilisierung). Würde das ›rechnende‹ Zirkuspferd versehentlich einmal zu viel mit dem Huf klopfen, verkäme die transformative Leistungsschau schnell zur Farce. Wäre die musikalische Performance von Carl Hermann Unthan so perfekt wie die eines Thomas Quasthoff,11 würde seine deviante Erscheinung womöglich in den Hintergrund treten und sich die Kompensation von Devianz in Indifferenz verwandeln. Und würde ein britischer Olympionike bei der Siegerehrung 1896 als schlechter Verlierer auftreten, scheiterte die soziale Distinktion des elitären Amateursports spätestens in dem Moment, in dem er von Presse und Publikum ob seiner proletarischen Manieren beschimpft würde. Diese imaginären Beispiele des Scheiterns zeigen vor allem eines: Es sind die Details der Ausführung sowie die Beurteilung und Rezeption der Performance, die das Verhältnis von Devianz und Leistungsfähigkeit maßgeblich mitbestimmen. Erst aus der performativen Darbietung und der Zuschreibung von Normen der Abweichung und Leistungsfähigkeit ergeben sich Abstufungen der Valorisierung, die zugleich als Praktiken der Humandifferenzierung fungieren. Eine Positionierung historisch vergleichender Performance Studies (Wihstutz 2020), die ich mit diesem Beitrag versucht habe vorzunehmen, kann womöglich dazu dienen, die Aufmerksamkeit auf solch performative Dimensionen von Humandifferenzierung zu lenken und nicht zuletzt auf die Relevanz kultureller Aufführungs- und Inszenierungspraktiken für die Erforschung der Humandifferenzierung hinzuweisen. 11 Thomas Quasthoff ist mit einer Conterganschädigung geboren und 1,34 m groß. Er gilt als einer der erfolgreichsten deutschen Bassbariton-Sänger.

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Sabina Fazli und Oliver Scheiding

Spiel mit Unterscheidungen in Bildstrecken von Zeitschriften 1. Einleitung Der folgende Beitrag untersucht Humandifferenzierung im Medium der Bild- und Modestrecke in Magazinen. Im Mittelpunkt stehen exemplarisch drei Bildarrangements aus britischen und US-amerikanischen unabhängigen Zeitschriften (›independent magazines‹ [vgl. Le Masurier 2020b; Lynge-Jorlén 2012]). Sie sollen als eine besondere Sinnschicht der ästhetischen Prozessierung von Humandifferenzierungen untersucht und in ihrer Medienspezifik auf die Darstellung und Störung von Unterscheidungen befragt werden (Koch/Nanz 2014). Es soll dabei keine historische oder systematische Entwicklung aufgezeigt werden, sondern in dem jeweiligen zeitschriftenspezifischen Kontext schlaglichtartig unterschiedliche Ausprägungen und Verfahren der Unterscheidung des »Menschenmaterials« (Simmel 1992: 23) beleuchtet werden. Lifestyle- und Modezeitschriften sind grundlegend mit der Darstellung und Aushandlung von Humandifferenzierungen befasst. Magazine kommunizieren durch ihr ästhetisches Design und ihren materialen Korpus Humandifferenzierungen an Körpern, und sie dienen als Operationsraum für Imaginationen, affektive Selbstentwürfe und die Sortierung ›Anderer‹: Sie involvieren Leser:innenschaften in Vergleichs- und Unterscheidungsprozesse. Magazine dienen daher als Anschauungsmaterial der Gesellschaft und Selfing-Ressource ihrer Leser:innen. Sie bieten ihrer Leser:innenschaft eine Bühne für Humandifferenzierungen in einem primär visuellen, multimodalen Medium. Insbesondere Lifestylemagazine erfüllen dadurch eine spezifische Funktion der Humandifferenzierung: Sie sind Bestandteil eines materialisierten Zeichensystems, das Menschen in bestimmten Zugehörigkeiten bestätigt und imaginierte LebensstilCommunities schafft. Sie stellen einen bestimmten Fall der massenmedialen Zurschaustellung von Humandifferenzierung dar. Ihre Differenzierungen setzen an Körpern an, die als Zeichen und Bedeutungsträger für die Kategorisierung und Stilisierung von Menschen im plurimedialen Setting von Text, Bild und Seitendesign sortiert werden. Dieser Beitrag verfolgt die Annahme, dass Lifestylemagazine Parameter und Vorstellungen von Normalität und Devianz in Bezug auf Menschen, Körper und Gemeinschaften verfestigen und verflüssigen. Dabei sind Modestrecken in Zeitschriften das Genre, welches am ehesten Ambiguität in Bezug auf 260

SPIEL MIT UNTERSCHEIDUNGEN IN BILDSTRECKEN VON ZEITSCHRIFTEN

Körper und Geschlecht zulassen kann, ohne grundsätzlich bestehende Unterscheidungen zu erschüttern. Dies soll am Beispiel von Strecken gezeigt werden, die ambige Subjekte im Hinblick auf Gender und Disabil­ ity in den Mittelpunkt rücken. Wir wollen zeigen, dass die Darstellungen Menschen zu Figuren an der Außengrenze des Humanen machen, der Unterscheidung von Mensch und Ding, belebt und unbelebt. Die Strecken legen es auf die Irritation der Betrachter:in an, sie stören etablierte Sehgewohnheiten und nutzen das performative Potenzial der Modestrecke um Vorurteile hochzuspielen und zu brechen. In einem ersten Schritt skizziert der Beitrag das Genre der Modestrecke anhand eines Beispiels aus der britischen Musik- und Lifestylezeitschrift The Face (1980–2004). 1986 veröffentlichte das Magazin eine Modestrecke, die bei seinen Leser:innen Irritationen auslöste, da sie das fiktive und spielerische Genre der Modestrecke mit Elementen dokumentarischer Fotografie und ›hard news‹ kreuzt. Gezeigt werden sollen hier zunächst die Konventionen der Modestrecke und die Irritation, die ihre Brechung hervorruft. Diese Irritation betrifft nicht zuletzt die dargestellten Körper und ihre vestimentäre Markierung. Herausgestellt werden soll das Potential des Genres der Modestrecke, Unterscheidungen vorläufig und flüssig darzustellen, ein Modus, der in diesem Beispiel augenfällig wird, da er durch den Anspruch Kriegsjournalismus zu liefern, unterlaufen wird. Die hier vorgeführten Unterscheidungen bleiben im ironischen, uneindeutigen Modus gefangen, der The Face insgesamt auszeichnet. In einem zweiten Schritt diskutieren wir Alexander McQueens Modestrecke aus der Septemberausgabe des britischen Popkultur-, Mode- und Kunstmagazins Dazed & Confused (seit 1991) von 1998. Die Fotografien erregten Aufsehen, da die Haute Couture Mode an körperbehinderten Models abgelichtet wurde. Hier soll gezeigt werden, wie das Cover und die Dramaturgie der Modestrecke Behinderung als Differenz durchdeklinieren. Im Vordergrund steht dabei die Übersetzung von Behinderung in Figuren, die die Außengrenze des Humanen evozieren. Wie auch in The Face spielt die Strecke mit der Uneindeutigkeit, die das Genre erlaubt. Abschließend zeigt der Beitrag am Beispiel von Momma Tried (seit 2016), einem kleinen unabhängigen US-amerikanischen Künstlermagazin, wie die Zeitschrift als Ganzes als ein queerer, uneindeutiger und ambiger Raum lesbar wird. Ausgehend von der zentralen Bildstrecke der Ausgabe, welche die Figur einer fiktiven, geisterhaften Drag Queen inszeniert, erscheint das gesamte Magazin als ein ›Cyborg‹, der sich aus digitalen und analogen Elementen zusammensetzt und mit der queeren Performance der Drag Queen enggeführt wird. Mit diesen Beispielen verfolgen wir zwei Erkenntnisinteressen: Zum einen gehen wir entsprechend unseren Ausgangsannahmen der Frage nach, welchen Beitrag Zeitschriften für das Unterscheidungsgeschäft der Gesellschaft leisten und verstehen sie als Ort des ästhetisch verdichteten 261

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Doings von Humandifferenzierungen unterschiedlicher Grade. Zum anderen wollen wir die Zeitschriftenforschung mit Blick auf die Ambiguitätsdarstellungen in ihren Bild- und Modestrecken erweitern. Vor dem Hintergrund der Forschung zur Humandifferenzierung und ihrer Frage wie Menschen voneinander unterschieden werden, plädiert der Beitrag für eine Erweiterung der historischen Zeitschriftenforschung hin zu einer neuen Sicht auf zeitgenössische Magazine (Anderson et al. 2020). Der Beitrag soll zeigen, wie Leser:innen sich selbst und die ›Anderen‹ entlang der flexiblen Infrastrukturen von Lifestylemagazine imaginieren.

2. Magazin-Bildstrecke und Uneindeutigkeit Modestrecken adressieren Unterscheidungen in einem spielerischen, vorläufigen Modus, dessen Aufführungscharakter normalerweise evident ist. Sie dienen schließlich nicht in erster Linie der Information, sondern der Imagination. Es geht um wechselnde, vorläufige Trends und das Versprechen, Identitäten spielerisch an- und abzulegen. Die im Folgenden diskutierte Strecke erschien 1986 in der Juliausgabe von The Face, einer britischen unabhängigen Zeitschrift, die über Musik, Mode und Popkultur berichtet. Das Feature mit dem Titel »Who’s Shooting Who?« (Abb. 1) thematisiert den libanesischen Bürgerkrieg und stellt die beteiligten Fraktionen in Text und Bild vor. Auf dem Cover wurde es mit der Titelzeile »Beirut Fashion« angekündigt. Die Fotografien uniformierter Männer, die stellvertretend für die jeweilige Kriegspartei Abb. 1: »Who’s shooting who«, fotostehen, nehmen den größten Raum grafiert von Oliver Maxwell, The Face ein. Ein beigeordneter kurzer Text 76 (1986), S. 81–85. erklärt den historischen, religiösen und politischen Hintergrund. In einer kleineren Schriftgröße folgt auf diese Einordnung ein ›Modetext‹, das heißt, eine detaillierte Benennung 262

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der Uniform- und Ausrüstungsteile bis hin zur Bewaffnung. Es ist auf den ersten Blick nicht erkennbar, ob es sich bei den in Zweiergruppen dargestellten Männern um professionelle Models handelt. Die Posen wirken statisch und sind so ausgerichtet, dass Bekleidung und Ausrüstung frontal besonders gut sichtbar sind. Auch der Hintergrund, eine schmucklose und vermeintlich behelfsmäßig aufgehängte Plane, suggeriert eher dokumentarische Fotografie als das Set einer Modestrecke. Tatsächlich ist die gesamte Strecke mit professionellen Models hergestellt worden – für die meisten Leser:innen dürfte dies aber nicht sofort ersichtlich sein. Uniformen sind eine vestimentäre Strategie der Vereindeutigung nach innen und außen. Sie machen interne Hierarchien sichtbar und ordnen die Träger:innen Großgruppierungen wie Nationen zu, indem sie Individualität verdecken und nur diese kollektive Zugehörigkeit hervorkehren (vgl. Lentz 2017). Ihre Zusammensetzung und Kombination sind reglementiert. In dieser Strecke stehen Uniformen aber in einem Kontext, in dem ihr Status genauso unklar ist wie die Identität ihrer Träger. Ihre Auflösung im Modetext impliziert eine freie Wähl- und Kombinierbarkeit, sowie ihre Verfügbarkeit für Konsument:innen. Die Fotos zusammen mit den einordnenden Texten werden so von den Modetexten unterminiert. Sie verändern den Blick auf die Abbildungen und identifizieren sie als Modefotografien. Es treffen dabei Großkategorien der politischen und religiösen Zugehörigkeit mit globaler Tragweite auf stilistische Mikrounterscheidungen, wie sie die ›style press‹ beschäftigen. Das störende Element in dieser Strecke ist der kleingesetzte Modetext, dessen ›Macht‹ sich aus der Vertrautheit der Leser:in mit den Ordnungen der Modestrecke speist. Er unterminiert die dokumentarische Stimme des journalistischen Texts, indem er die Aufmerksamkeit von historischen und politischen Zusammenhängen auf die Oberflächen der Bekleidung lenkt und diese bis in kleinste Accessoires zerlegt. Als mikrologisch bezeichnen wir an dieser Stelle solche Unterscheidungen, die mit Geschmack, ­Lifestyle, Affinität, Affekt und Ästhetik assoziiert sind. In diesem Arrangement trifft die faktenbasierte Reportage auf die ›fiktive‹ Modestrecke – die religiösen und politischen Hintergründe des Bürgerkriegs auf den ›Stil‹ der unterschiedlichen Parteien, der sich im Idiom des Modetexts auflöst. In der Überkreuzung der Genres werden die Unterscheidungen problematisch: Handelt es sich tatsächlich um einen PLO-Schützen oder ist die Kefiya nur ein Gimmick, geht es um Politik oder Ästhetik, Fakten oder vestimentäre Imagination? Es ist wenig überraschend, dass dieses Feature bei den Leser:innen heftige Reaktionen hervorrief.1 Im folgenden Heft sahen sich die 1 Einen ähnlichen Fall untersucht Le Masurier (2020a) an Steven Meisels Vogue Italia-Modestrecke in der Augustnummer 2010: Meisel fotografierte ölverschmierte Models an verschmutzten Stränden und rief damit die

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Herausgeber daher zu einer Erklärung und Rechtfertigung genötigt. Umgeben von Leser:innenzuschriften platzierten sie ihre Stellungnahme und argumentierten: Supplied by our hard news department and laid out by our fashion team, Who’s Shooting Who? was as deadly serious as its subject. The rash complaint that it caused seems to have come from the juxtaposition on our cover of the words Beirut Fashion, an irony that escaped some readers. Inside, we depicted (accurately) what the various sides in the Beirut conflict look like – and what their politics are. It was useful information presented in a challenging way. Our Beirut fashions were real. If they caused offence, it should have been because they caught the undeniable lure of Boy’s Own military machismo. (Logan/Rambali 1986: 92)2

Die Verteidigung der Strecke betont ihre Faktizität, »we depicted (accu­ rately)«. Die ironische Überblendung von »Fashion« und »Beirut« war für Betrachter:innen zumeist nicht ersichtlich, denn die Kombination von Text und Bild in der Modestrecke hält diese Elemente nicht getrennt, sondern bringt sie in ein ikonotextuelles Wechselspiel (Venohr 2010): Zumeist wurde das Feature als Modestrecke gelesen, die Rezipient:innen folgten also den generischen Markern und nicht den Inhalten des »hard news department«. Anders als die Herausgeber argumentieren – dass es sich am Ende doch nur um Fakten handele, die etwas anders aufbereitet seien – beschreiben die Leser:innen die nicht zu vereinbarenden generischen Implikationen und Interferenzen: Es kommt in der Strecke zusammen, was eigentlich getrennt werden muss. Sie stören sich nicht am »military machismo«, sondern an der Mehrdeutigkeit, nämlich der Möglichkeit, die Bilder auch im Modus der Modestrecke zu lesen und zu verstehen, also Bürgerkrieg in ›posing‹ und ›style‹ umzuwandeln. Dabei würden unverrückbare, ›harte‹ Kategorien der Unterscheidung im Modus ›weicher‹, spielerischer Vorläufigkeit aufgelöst. Der Schlüsselbegriff, der in der Rechtfertigung der Herausgeber fällt, ist ihr Verweis auf die Ironie des Features, die sie in der Coverzeile, »Beirut Fashion«, verkörpert sehen – augenscheinlich eine Verbindung unvereinbarer Begriffe. In seiner polemischen Auseinandersetzung mit The Face als paradigmatisch postmodernem Magazin, schreibt Dick Hebdige hierzu: »Irony and ambiguity predominate. They frame all repor­ted utterances whether those utterances are reported photographically or in prose« und »irony and ambiguity act as an armour to protect the wearer« (Hebdige 1988: 170). Hebdige identifiziert Ironie als den dominierenden Nachrichtenbilder der Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko nach der Explosion der Bohrplattform Deep Water Horizon auf. Auch Olivieiro Toscanis Kampagnen für Benetton wurden wegen der Vermischung schockierender Fotografien mit Werbung kontrovers diskutiert (vgl. Tinic 1997). 2 Die wiederkehrende Rubrik »Letters« ist in dieser Ausgabe im Inhaltsverzeichnis untertitelt mit: »Readers shoot back«.

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Modus, dessen sich die The-Face-Autor:innen bedienen und spricht damit mit Blick auf den Text und dessen Produzent:innen. Linda Hutcheon betont dagegen die Rolle der Rezipient:innen bei der Interpretation von Ironie. Sie versteht Ironie als ›dynamische Beziehung‹ und ›kommunikativen Prozess‹, denn »it takes two to ironize.« (Hutcheon 1991: 220) Die Übereinkunft, dass Ironie die grundsätzliche Haltung der Zeitschrift darstellt, wird von den Leser:innen an dieser Stelle nicht ausnahmslos geteilt. So schreibt eine Leserin: »Posing should have its limits: this has gone beyond them and is sickening in the extreme.« (Briscoe 1986: 92) Diese ›limits‹ sind durch bestimmte Genres als präformierte Ordnungen markiert, die eigentlich unverhandelbar sind. Wie kommunikative Rahmen sorgen sie für Klarheit und Eindeutigkeit. Erving Goffman schreibt dazu: [S]arcasm, irony, innuendo, and other members of that family […] allow the speaker to address remarks to a recipient which the latter will understand quite well, be known to understand, know that he is known to understand; and yet neither participant will be able to hold the other responsible for what has been understood. (Goffman 1974: 114–115)

Diese Form der »collusive communication« braucht wissende Teilnehmer:innen, die die Ironie der Coverzeile und Strecke im Sinne der Produzent:innen verstehen und diese so gleichzeitig entlasten. Das Verstehen der ironischen Aussagen bildet eine Kette wissender Positionen, in denen Autor:innen und Rezipient:innen Annahmen übereinander ins Spiel bringen, die Leser:innen als Insider:innen an die Zeitschrift binden. Wer dem Spiel nicht folgen kann, ist von dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Viele Leser:innen waren sich bewusst, wie diese Strecke im Kontext von The Face ›korrekt‹ zu lesen ist: Im übernächsten Heft kommentiert ein Leser die Strecke in genau diesem Modus: »I should most like to be shot pointblank through the head by the Italian Marine, Battaglione San Marco. Would not the avid reader of your magazine rather be finished off by a tall dark Latin, sporting a red and gold Hermes cravate?« (Glanville 1986: 108) So reagieren zwei Leser:innen: »Many thanks for your Beirut Fashion Feature. How about a follow-up on ›Khmer Rouge Chic‹. Those ravaging red headbands! The perfect symmetry of the stacked skulls. That’s real style for you« (Dean/Bowman 1986: 92). Die Zuschrift hält die »collusive communication« aufrecht und wird vermutlich gerade deswegen abgedruckt. Sie verknüpft den Ernst der Reportage (in der es um Leben und Tod geht) mit dem Prärogativ des Stils ohne sich für eines zu entscheiden und reproduziert damit die Verschmelzung der Genres als ironisch, als »fence-sitting, bet-hedging middle ground« (Hutcheon 1992: 219), auf dem es keine gültige Auflösung geben soll. In dieser Strecke lässt sich sowohl das Ambiguitätspotenzial von Zeitschriftengenres beobachten als auch die Reaktionen der Leser:innen auf die Uneindeutigkeit, wenn Genres sich unerlaubterweise kreuzen. 265

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3. Staging Dis/Ability: Mensch/Ding/Behinderung Die Septembernummer der unabhängigen Modezeitschrift Dazed &Confused wurde 1998 von dem 2010 verstorbenen britischen Modedesigner Alexander McQueen als ›guest editor‹ kuratiert. In diesem Heft erschien auch die von McQueen konzipierte und von Nick Knight fotografierte außergewöhnliche Modestrecke »Access-able«, die insbesondere in Großbritannien und den USA Aufsehen erregte, da sie als eine der ersten die Inklusion körperbehinderter Menschen im Modebetrieb thematisierte. Für die Strecke wurden ausschließlich körperbehinderte Models gecastet, die Mode von bekannten Designern wie Hussein Chalayan, Philip Treacy oder McQueen tragen. Im Fall von britischen Designern, so der Einleitungstext, wurden die Kleidungsstücke individuell an die Models angepasst. Der erste Satz des Textes umreißt die körpergebundenen Unterscheidungsparameter, die in der Strecke im Mittelpunkt stehen: »In a world where the Mainstream concept of what is and isn’t beautiful becomes increasingly narrow – you have to be young, you have to be thin, you should preferably be blonde and, of course, pale skinned.« Wie die Zeitschrift als ›independent magazine‹, positioniert sich die Strecke gegenüber einem Mainstream, dessen Standards benannt werden, um gebrochen zu werden. In dieser Gegenüberstellung ist auffällig, dass in der Aufzählung ›able-bodied‹ fehlt. Stattdessen stehen Alter und Körperform sowie Haar- und Hautfarbe und mit letzterem race als pars pro toto für »what is […] beautiful«. Auch behinderte Menschen können diese Standards – jung, dünn, blond, weiß – erfüllen, allerdings, so impliziert der Text, überschreibt eine sichtbare körperliche Behinderung die aufgezählten Eigenschaften und die Träger:in ist automatisch nicht mehr ›schön‹ im Sinne des Mainstream Modebetriebs. Im kleiner gedruckten Textblock unterhalb der Einleitung platziert, expliziert der Text das Vorgehen der Designer:innen und führt weiter aus: »The intention behind these pictures is not to be controversial. Rather this is a joyful celebration of difference. After all, it’s no secret that society’s way of looking at disability is still all too often to shy away from it.« Damit wird die Reaktion der Leser:in vorweggenommen und die Darstellung entschärft – es geht nicht um Provokation sondern um die positive Repräsentation von Unterschieden. Zentral für die Interpretation der Strecke ist der Hinweis auf den Blick: Behinderung darf im Alltag nicht angeblickt, soll hier aber positiv gewendet sichtbar gemacht werden. Die Fotografie auf der rechten Seite des Spreads schließt an diese Aussage an (Abb. 2): Sie stellt den Kopf einer Frau dar, der mit Schmetterlingsflügeln bedeckt ist, einschließlich ihrer Augen. Zusammen mit dem dunklen Hintergrund der Doppelseite verweist dieses Bild auf eine andere Behinderung, Blindheit, die hier modisch nach außen gekehrt ist 266

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Abb. 2: »Access-able«, von Alexander McQueen, fotografiert von Nick Knight. Dazed & Confused 64 (Sept. 1998), S. 68–69.

– und für das Model selbst nicht visuell wahrnehmbar. Im Vordergrund stehen damit nicht mehr nur Schönheitsideale, sondern auch ihre Wahrnehmung und der Blick selbst. McQueen formuliert das Programm der Strecke als ein Brechen mit Sehgewohnheiten und erlaubt damit der Leser:in Zugang (›access‹) zu diesem neu konzipierten Raum, zusammen mit der Erlaubnis und Aufforderung hinzusehen. Auch wenn die Strecke nicht provozieren will, ist dieser Auftakt zwiespältig: Das blinde Model, Sue Bramley, trägt ein Design von Philip Treacy und wird darin abgelichtet. Sie selbst kann an dem Blickwechsel nicht teilnehmen, nicht nur wegen ihrer Beeinträchtigung, sondern auch weil für die Betrachter:in ihr Gesicht hinter dem für Bramley gefertigten Haute-Couture-Stück verschwindet, das Kleidungsstück ihre Behinderung nach außen kehrt und das Model hinter diesem Stück verborgen bleibt. Auf den folgenden drei Doppelseiten werden weitere behinderte Körper inszeniert, und zwar in durch Kunst und Literatur inspirierten Kombinationen und Überlappungen von Mensch und Ding. Im zweiten Teil der Strecke ändert sich der Ton: die Bilder folgen dort einer konventionelleren Ästhetik, die der Modestrecke entspricht. Dabei werden Vorannahmen und Vorurteile über Behinderung so weit hochgespielt, dass ihre ästhetische Übertreibung die Wahrnehmung der Körper auf der Seite stört. Die erste Doppelseite zeigt links die US-amerikanische Paralympionikin Aimee Mullins, die für McQueen auch für seine No. 13 betitelte S/S 267

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1999 Modenschau lief und die berühmten handgeschnitzten, stiefelförmigen Prothesen trug. Sie ist ein bekanntes Gesicht sowohl als Sportlerin als auch durch ihre Zusammenarbeit mit McQueen. Für die Betrachter:in wird Behinderung als Differenz durch Mullins’ Prominenz abgefedert. Sie ist hier als Puppe verkleidet und posiert in einer steifen Körperhaltung, die sie regelrecht hölzern erscheinen lässt (Abb. 3). Ihr leerer, in die Ferne gerichteter Blick, das strohige wirre Haar und die vergilbte, abgegriffene Farbe ihrer Prothesen erwecken den Eindruck einer leblosen, vergessenen Puppe (Abb. 3 & 4). Ihre Objekthaftigkeit wird durch den altmodischen Eindruck noch verstärkt, der durch den Reifrock und die Kombination von textilem Oberkörper und Plastikgliedmaßen entsteht. Sie wirkt wie eine lebensechte Puppe oder ein seltsam lebloser Mensch. Auf der gegenüberliegenden rechten Seite geht der muskulöse Oberkörper eines Mannes im einarmigen Handstand in einen geöffneten Fächer über, der seine Beine verdeckt (Abb. 3). Es handelt sich um David Toole, einen körperbehinderten Tänzer. Sein etwas dunklerer Hautton wirkt lebendiger als Mullins’ und die dynamische Pose kon­ trastiert mit ihrer implizierten Bewegungslosigkeit. Ausgesprochen ungewöhnlich ist allerdings die Kombination der Elemente: Tooles Körper steht Kopf und die ausgreifende, geschwungene Form, die er mit dem aufgeschlagenen, papiernen Fächer bildet, widerspricht dem, was man beim Durchblättern einer Zeitschrift erwartet – vertikale menschliche Körper. Sein Oberkörper scheint in der Verschmelzung mit dem Fächer zu einem Teil des Objekts zu werden, an dieser Stelle vielleicht eine Art Griff, in einer künstlichen Form, die wenig menschlich wirkt. Die Kombination eines halben menschlichen Körpers mit einem im Verhältnis vollkommen überdimensionierten Fächer, eine rätselhafte Verschmelzung von Körper und Objekt, erscheint als fantastische Hybridgestalt. Sie erinnert am ehesten an die anthropomorphisierten Gegenstände in Disneys Die Schöne und das Biest, bei denen es sich um verzauberte Menschen handelt (vgl. Kérchy 2018). Das Spread (Abb. 3) stellt damit einerseits recht konventionell passive Femininität aktiver Maskulinität gegenüber und betont diese Gegensätzlichkeit noch durch die entgegengesetzten Ausrichtungen der Körper auf den gegenüberliegenden Seiten. Andererseits tritt diese Differenz jedoch hinter der Mensch-Ding-Unterscheidung zurück. Auf der vierten Doppelseite findet McQueen einen weiteren Modus, diese Unterscheidung zu thematisieren: Der Torso der hier dreimal fast identisch vervielfältigten Frau, der Künstlerin Alison Lapper, ist mit geometrischen Mustern bedeckt (Abb. 5). Ihr armloser Oberkörper erscheint auf den ersten Blick wie eine antike Statue. Dieser Eindruck, ein lebloses Kunstwerk vor sich zu haben, wird mit der Fragmentierung ihres Körpers durch die Begrenzungen der farbigen Flächen noch verstärkt. Alison Lapper kooperierte später, Anfang der 2000er, mit dem Bildhauer 268

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Abb. 3: »Access-able«, S. 70–71.

Abb. 4: »Access-able«, S. 72–73.

Marc Quinn. Quinn ging in seiner Complete Marbles Series zusammen mit Lapper der Frage nach, warum die ›defekte‹ Venus von Milo als Inbegriff von Schönheit gilt, während Menschen mit der gleichen Behinderung von vornherein aus diesem Diskurs ausgeschlossen sind (vgl. Siebers 2009). Abstrakt ornamental, statuesk und reproduzierbar dargestellt, wirkt ihr Körper auch hier wie eine Statue, die im Bild dreimal reproduziert aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt ist und sich der Betrachter:in zum Studium anbietet. Sie erscheint wie ein Objekt, das einen menschlichen Körper abbildet, selbst aber nicht menschlich ist. Die Darstellung von Mullins und Lapper verwischt die MenschDing-Grenze, da ihr ontologischer Status auf den ersten Blick unklar ist. Durch diese Irritation in der Unterscheidung wird die Betrachter:in zu einem zweiten Blick gezwungen, der nach Anhaltspunkten sucht, um sie eindeutig als Mensch oder Ding zu identifizieren. Auch die Kombination von Tooles Körper in einer akrobatischen Pose mit dem geöffneten und überdimensionierten Papierfächer rückt die Nahtstelle zwischen Mensch und Ding in den Vordergrund, in einer scheinbar unmöglichen Hybridbildung: Anstelle seiner Beine entfaltet sich in der oberen Bildhälfte das Blatt des Fächers. Die drei Spreads zielen auf eine Verunsicherung der 269

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Abb. 5 »Access-able«, 74–75.

Leser:in und fordern eine genauere Betrachtung statt wegzusehen, wie im Einleitungstext bereits formuliert. In dem Spiel mit der Außengrenze des Humanen liegt ein hohes Aufmerksamkeitspotenzial, das besonders in literarischen Texten verarbeitet worden ist, welche in Nick Knights Fotografien intertextuell mitklingen. E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und der mehrfach bear­ ygmalion-Stoff verhandeln und verunsichern diese Grenze. Bei beitete P Hoffmann verwechselt der Protagonist eine automatisierte Holzpuppe (Olimpia) mit einer lebendigen Frau; Pygmalion verliebt sich in eine Statue (Galatea), die zum Leben erwacht (vgl. Kuppers 1999). Beide Erzählungen sind prominente Referenzpunkte für gestörte Mensch-Ding-Unterscheidungen in der Literatur: diachrone narrative Entfaltungen von Humandifferenzierungen, in denen Kategorienüberschreitungen ›unheimlich‹ werden. Die Frage, ob behinderte Körper schön sein können, deklinieren McQueen und Knight hier in Darstellungen durch, die der Leser:in signalisieren, dass es sich um eine intertextuell und intermedial angereicherte Ästhetisierung außerhalb kommerzieller Codes handelt, im Zusammentreffen von (kanonisierter) Kunst und Couture.3 Verschiebt sich der Fokus von dem Dargestellten auf die Rezeption als Ereignis, so kommentieren die Bilder das im Blick angelegte 3 Dieser Trend besteht seit den 1980er Jahren und berührt die ästhetische Inszenierung, Praxis und Institutionalisierung. In unabhängigen Magazinen und der hochpreisigen Modepresse verschwimmen die Grenzen zwischen künstlerischer und Modefotografie zusehends (vgl. Ruelfs, 2006).

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Machtverhältnis, welches in den Visual Culture Studies als ›gaze‹ diskutiert wird. Als ›male gaze‹ (Laura Mulvey), ›imperial gaze‹ (E. Ann Kaplan) oder ›medical gaze‹ (Foucault) etabliert der vermachtete Blick Hierarchien und objektifiziert sein Objekt. Er entmenschlicht, indem er Individualität und Agentivität abspricht und diese ausschließlich im Träger des Blicks verortet. Eine solche Reduzierung und Deklassierung schiebt die Empfänger:innen des asymmetrisch angelegten Blicks an die Grenzen des Humanen, so dass sie als nicht vollwertige Mitglieder, als nicht nur weniger ›fähig‹, sondern auch weniger menschlich wahrgenommen werden. Die Modestrecke reflektiert diese Diskriminierung behinderter Menschen, indem sie ihrer Objektifizierung zuvorkommt. Die Inszenierung als Puppe, Statue und fantastisches Mensch-Ding-Hybrid stellt metonymisch die Funktionsweise alltäglicher Diskriminierung dar, wendet sie aber ästhetisch ins Positive und verunsichert die Betrachter:in. In Abgrenzung zum Konzept des ›gaze‹ spricht Rosemary ­Garland-Thomson (2006) in den Disability Studies vom »stare«, »starer« und »staree«. Sie schlussfolgert: »This vivid looking creates a relationship – often momentary – between two people that is at once aliena­ting and intimate. […] A certain symmetry inheres in the staring encounter in that it grants a preemptive agency to the starer but it also endows the staree with the ability to seize the attention and to hold in thrall the starer. The novel snares our eye and holds it helpless« (175). Die konventionelle Reaktion »to shy away from [disability]« wird durch das unverwandte Anstarren komplementiert, das im Rahmen der Modestrecke generisch legitimiert und im Blick der Models erwidert wird. Auf diese Seiten folgen Bilder, die eher der konventionelleren Modefotografie entsprechen, nahbarer und alltäglicher wirken, jedoch statt gewöhnlicher Models körperbehinderte Menschen in maßgeschneiderten Haute-Couture-Stücken zeigen. Die ersten zwei Doppelseiten (Abb. 6 & 7) bilden kleinwüchsige Menschen in feminin konnotierten, verführerischen Posen ab. Insbesondere das doppelseitige Foto des liegenden Mannes (Abb. 7) und der selbst-versunkene Blick und die auf ihren Lippen ruhenden Finger des weiblichen Models (Abb. 6) reproduzieren Posen, die die Models der Betrachter:in als begehrenswert vorführen.4 Allerdings gibt das erste Foto einen weiteren Interpretationsrahmen vor (Abb. 6): Die sitzende Frau mit ausgestreckten Beinen, die die Leser:in direkt ansieht, ist in der Ganzkörperaufnahme zum einen klar als kleinwüch4 Die Posen und Gesten in diesen beiden Fotografien (Abb. 6 rechte Seite & Abb. 7) entsprechen den von Goffman identifizierten feminin-konnotierten Körperhaltungen, die er unter »licensed withdrawal« (1987: 57 ff.), bzw. als eine Spielart von »ritualization of subordination« (1987: 41 ff.) subsumiert. Im Vergleich dieser Bilder mit Goffmans Sammlung fast identischer Werbefotografien wird ersichtlich, dass sich Knight aus einem Repertoire bedient, welches der Betrachter:in bekannt ist.

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Abb. 6 «­Access-able«, S. 76–77.

Abb. 7: »Access-­able«, S. 78–79.

sig erkennbar. Ihre Körperhaltung, die Art wie sie sitzt, wirkt aber auch kindlich. Die infantilisiernden und sexualisierten Posen auf den beiden Doppelseiten (Abb. 6 & 7) werden hier von Menschen eingenommen, die in der Gesellschaft nicht als sexuelle Subjekte wahrgenommen, sondern durch unterschiedliche abwertende Kategorisierungen aus dem Sexuellen ausgeschlossen werden: Die kleinwüchsige Frau erscheint kindlich, da dies eine einfache Unterscheidung für einen kleinen Menschen ist, eine erwachsene Frau aber herabwürdigt (Abb. 6, linke Seite). Der ebenfalls kleinwüchsige Mann ist in einer lasziven Pose fotografiert, sein Oberkörper ist nur mit einer goldenen Weste bekleidet unter der seine gepiercte Brustwarze sichtbar ist und blickt die Leser:in von unten an: Bei einem nicht behinderten männlichen Model erschiene dies als genre­ typisches Spiel mit Femininität/Maskulinität, das die Lesenden einlädt, den männlichen Körper als Objekt eines sexualisierten Blicks zu betrachten. Hier stellt die Pose gerade die Behinderung des Models aus, seine verkürzten Arme, die seiner sexuellen Objektifizierung entgegenstehen. Diese feminin und passiv konnotierten Posen werden durch das letzte 272

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Bild wieder aufgebrochenen, in dem eine Frau in weißem Abendkleid die Betrachter:in direkt und selbstbewusst anblickt (Abb. 8) – ihre körperliche Devianz, das fällt in der Inszenierung auf – ist durch die Mode unsichtbar, lässt sich vielleicht erahnen, aber nicht festmachen – und bleibt so vage. Die folgende Doppelseite listet die Models mit Namen und kurzen Statements auf und verleiht ihnen zum einen Individualität, zum anderen verstärkt dies den Status der Modestrecke als Aufführung und den der Models als Darsteller:innen, denn sie gewährt einen Blick hinter die Figuren. Insgesamt kann man diese Strecke als narrativ beschreiben, da sie fortschreitet und einen Spannungsbogen aufbaut, der farblich mit schwarzen Seiten geöffnet und geschlossen wird, als ob ein Vorhang sich öffnet und schließt – mit ›fashionable fictions‹ (Kismaric/Respini 2008: 45) beginnt und mit der Affirmation von Subjektivität schließt. Die Strecke dekliniert behinderte Körper als ambige Subjekte im Medium der Modefotografie durch, indem sie durch unterschiedliche Filter dargestellt werden: Kunst oder eng an Kunst angelehnte Ästhetik von Couture-Fotografie, die kommerziellere Sprache der Modefotografie und ein ›behind the scenes‹, das die Models als ermächtigte Subjekte darstellt. Während im ersten Teil der Strecke potentiell unklar ist, ob es sich um einen Menschen oder ein Ding handelt, fordert der zweite Teil die generischen Sehgewohnheiten der Zeitschriftenleser:innen heraus: Passt die Modepose, das als Couture gekennzeichnete Stück, die fotografische Inszenierung zu einem behinderten Körper?

Abb. 8: »Access-able«, S. 80–81.

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Die ambigen Darstellungen, die inkongruente Marker zusammenstellen, können in der Betrachter:in einen ambivalenten Affekt provozieren. Zeitschriftenlesen ist normalerweise weniger intensiv als extensiv – das Durchblättern als Rezeptionsform überwiegt. Hier jedoch wird diese Lektüre irritiert, denn die Art und Weise der Darstellung erfordert einen zweiten Blick, um zu erkennen, ob es sich um eine Puppe, Skulptur, Objekt oder einen Menschen handelt, wie diese Körper vom Ideal abweichen und was ihre Aneinanderreihung bedeuten mag – einen Abb. 9: Dazed & Confused 46 (Sept. emanzipativen Akt, Kunst oder 1998), Cover Voyeurismus. Anziehung und Ablehnung zugleich zeitigend können diese Affekte durchaus ineinanderfallen (Rhodes 2008: 208). Bei der Suche nach Anhaltspunkten auf der Seite, die beim Lesen einen Hinweis geben könnten, wie sich Betrachter:innen affektiv zu positionieren haben, erscheint der ikonografische Zeitschriftentext ähnlich Barthes’ ›idealem Text‹: Als eine »galaxy of signifiers […], it has no beginning, it is reversible; we gain access to it by several entrances, none of which can be authoritatively declared to be the main one« (Barthes 2002: 5). Die Identifikation von Ambiguitätsmomenten stellt dieses Suchen auf der Zeitschriftenseite für einen Augenblick still, kann aber immer nur eine Facette der Darstellung greifen. Dies gilt ebenfalls für das Cover der Ausgabe, auf dem diese Strecke angekündigt wird (Abb. 9). Es dominiert das Ganzkörperporträt von Mullins. Sie wendet sich von der Betrachter:in ab, ihr Blick ist über ihre Schulter gerichtet und wird durch ihren angewinkelten Arm gerahmt. Sie nimmt eine feminin konnotierte Pose ein, die den Blickverlauf als ›male gaze‹ über ihre betont langen Beine, ihr sehr prominent platziertes Gesäß in der ansonsten leeren Bildmitte, zu ihrem nackten Oberkörper führt. Oben, mittig auf der Seite, verdeckt ihr Kopf das ›Z‹ des Logos und verleiht dem Cover räumliche Tiefe. Der Farbton des Hintergrunds verbindet diese Aufnahme mit Mullins’ erstem puppenhaften Bild in der Modestrecke (Abb. 3). Auf dem Cover erscheint sie schüchtern und verführerisch zugleich und ist den Konventionen der Coverfotografie entsprechend in Szene gesetzt. Ihr nackter Oberkörper kontrastiert mit der dunklen Laufhose und insbesondere ihren Laufprothesen in einem Gegensatz von Haut und Kunststoff, bzw. hell und dunkel. Dass 274

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es aber nicht nur um Gegensätze geht, sondern um ein Spiel mit ihnen, welches Ambiguität gekonnt her- und ausstellt, wird in der Integration von Körper und Schrift deutlich. Das Cover stellt eine Form von typo­ grafischer Mehrdeutigkeit her, indem sich Körper und Schrift kreuzen: Mullins’ Beine teilen die Titelzeile ›fashion[-]able?‹ in zwei Wörter und stellen damit selbst eine grafische Mehrdeutigkeit her: ›modisch,‹ ›fashionable,‹ und ›zur Mode fähig‹, ›fashion–able‹ – je nachdem, wie Mullins’ Beine hier ›gelesen‹ werden. Gleich unterhalb der Titelzeile beginnen ihre Prothesen in einem Arrangement, welches es unmöglich macht, den Schriftzug zu lesen, ohne auch auf ihre Beine zu blicken, und zwar genau an dem Punkt, an dem sie in die Karbonfederprothesen übergehen. Die Betrachter:in wird durch das Layout gezwungen hinzusehen und bricht damit ein Alltagstabu, nämlich das soziale Verbot, behinderte Menschen ob ihrer vermeintlichen Andersartigkeit anzustarren. Die Gestaltung des Covers lässt der Betrachter:in aber keine andere Wahl, denn genau diese Stelle der Seite springt unweigerlich ins Auge. Diese Stelle im Coverlayout spielt in der Inszenierung von Ambiguität eine besondere Rolle und soll hier im Detail beleuchtet werden. Sie markiert gleichzeitig eine Leerstelle zwischen den beiden Wörtern und produziert einen Überschuss an Bedeutung. Mullins’ Beine trennen die beiden Wortbestandteile und reißen so eine Lücke in das Schriftbild. Übersetzt man ihren hier eingefügten Körper in typografische Zeichen, scheint das naheliegendste ein Bindestrich zu sein, der die beiden Wörter für sich stehen lässt und trotzdem signalisiert, dass sie zusammengehören (können): ›fashion[-]able‹ erschiene dann als parallele Bildung zu ›access-able‹, der Überschrift der Modestrecke im Heft. Ein Bindestrich oder ›hyphen‹ steht selbst metonymisch für eine Form der Ambiguität: Die ›hyphenated identity‹ bezeichnet im Multikulturalitätsdiskurs ethnische und kulturelle Hybridität. Sie löst essentialistische und monolithische Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit auf und verweist auf den kreativen Umgang mit kulturellen Ressourcen bei der Identitätsbildung. Der ›hyphen‹ impliziert eine mehrfache Zugehörigkeit, die zwischen Identitäten oszilliert und in keinem der verbundenen Begriffe vollständig aufgeht. Eine solche Hybridität lässt sich auch in dem Coverfoto ausmachen und spielt in das zum Stereotyp geronnene Bild der Prothese als Vorbotin des technisch aufgewerteten Menschen der Zukunft. Technik und Natur stehen sich in der Inszenierung von nackter Haut und High-Tech-Prothesen gegenüber. Gebrochen und neu ausgerichtet wird dieser Gegensatz durch die querschießende Titelzeile und die Kombination von Körper und Schrift, die nach der Kompatibilität von Behinderung (›able?‹) und Mode (›fashion‹) fragt. Die Schrift hat selbst eine kantige und maschinenartige Anmutung, evoziert Künstlichkeit und Technik und lenkt damit die Aufmerksamkeit wiederum auf die Prothese, die sie im Bogen des Fragezeichens wieder aufruft und 275

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kontrastiert mit den in Szene gesetzten Kurven von Mullins’ Körper. Gegensätze werden somit sowohl fotografisch als auch sprachlich und typografisch ausgedrückt. Diese Lektüre des Covers bedient sich mit dem Konzept der hybriden ›hyphenated identity‹ einer Folie, die aus den Postcolonial Studies entlehnt ist (vgl. Bhabha 1994) und legt ihr Verständnis von ethnischer Hybridität über die Darstellung des fotografierten Körpers, dessen Andersartigkeit in der Behinderung und prothetischen Ergänzung liegt. Dies kann ebenso aus der Perspektive der Rezipient:in veranschaulicht werden. Der Punkt der Kreuzung von Körper und Text entspricht Roland Barthes’ Konzept des punctum: Er beschreibt in Camera Lucida damit jene Stelle einer Fotografie, die die interessierte und kontrollierte Betrachtung des Bildes unterbricht oder durchsticht. Beim studium beherrscht die Betrachter:in das Bild und greift auf Vorwissen und Strategien zurück, die es ihr erlauben, die Fotografie zu verstehen und einzuordnen. Das punctum beschreibt die gegensätzliche Bewegung: Ein Detail, das aus dem Bild springt und affektiv alle Aufmerksamkeit bindet. Barthes’ Formulierung spielt wiederum mit dem etymologischen Anklang an ›punctuation‹ und ›mark‹, also Interpunktion: »the word suits me all the better in that it also refers to the notion of punctuation, […] these wounds are so many points« (Barthes 1981: 27–28). Barthes greift auch in S/Z auf Interpunktion als Bild und Denkfigur zurück. Mullins’ aufrecht stehender Körper zwischen den getrennten Wortbestandteilen kann genauso als Schrägstrich fungieren und unterstreicht damit die Instabilität der so getrennten und verbundenen Wörter: Der Schrägstrich in S/Z bezeichnet nicht nur die Trennung von ›Antithesen‹, sondern unweigerlich auch ein Umschwingen und Ineinanderkippen der Gegensätze (Barthes 2002: 215). In jedem Fall handelt es sich um eine visuelle Aufbereitung des zugrundeliegenden Konzepts der Strecke: ›looking at disability‹ wird mit verschiedenen Strategien regelrecht provoziert. Dabei stehen zwei Unterscheidungen im Vordergrund: Behinderung und Schönheit als einander vermeintlich ausschließende Eigenschaften. M ­ cQueens Programm, eine Alternative zu den jungen, weißen, blonden und schlanken Körpern in Modemagazinen zu schaffen, läuft auf dieser Ebene seltsamerweise ins Leere: Alle behinderten Models sind (auch) jung, weiß, schlank und zumeist blond. Um die Unterscheidung nach ›Behinderung‹ in einem unabhängigen Magazin in den Mittelpunkt zu rücken, darf von ihr offenbar nicht durch Eigenschaften abgelenkt werden, die in eine ebenfalls devaluierende Richtung weisen.

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4. Genderambiguität Das Independent-Magazin Momma Tried will mit seiner Ausgabe von 2018 zum Cyborg werden und füllt dieses Programm textuell, visuell, in Print und digital aus. Der Cyborg ist in Donna Haraways Aufsatz ein Hybrid aus Organismus und Maschine und Repräsentant einer »postgender world« (Haraway 2016: 7). Er macht hergebrachte Unterscheidungen obsolet und löst Hierarchien und Polarisierungen auf. Mit ihrer Cyborg-Zeitschrift schließen Micah Learned und Theo Eliezer, ein Künstlerpaar aus New Orleans, an dieses Modell an. Das dritte Heft ihres Magazins (erschienen 2018) hat sich in einen Cyborg verwandelt, um nicht wie andere Printprodukte in der digitalen Medienlandschaft unterzugehen. In online erschienenen Paratexten erklären Eliezer und Learned, dass Momma Tried nun ein Bewusstsein entwickelt und ihre (sie bezeichnen MT durchgehend als »she« [Dean 2020]) Transformation in einen Cyborg selbst veranlasst habe: Sie wird zum Print-Digital-Hybriden. Das Heft kann als Printzeitschrift gelesen werden oder zusammen mit einer eigens programmierten App, Program Synthesis, durch die die Leser:in die Seiten betrachtet und auf dem Bildschirm den Cyborgkörper der Zeitschrift freilegt: Durch die App animieren Videos die Papierseiten und sie spielt Geräusche und Musik ab. Auch in der Zeitschrift selbst spielen Hybridität und Ambiguität eine Rolle und greifen damit mit dem Gesamtkonzept der Zeitschriften-›Installation‹ als Cyborg ineinander. Die Figur der Drag Queen erscheint dabei als Personifizierung des Cyborg-Zeitschriftenprojekts. Das zweite und zentrale Bild der Fotoserie »Crystal Clear« zeigt die Protagonistin und Drag Queen Shirley Someone, die derselben kreativen Szene in New Orleans entstammt wie die Herausgeber:innen, vor einem Spiegel sitzend. Sie ist auf der Doppelseite rechts als androgyn lesbar, links, ihr Spiegelbild, als drag (Abb. 10). Allerdings ist sie nicht in full drag dargestellt, sondern nur mit besonders hyperfemininen Accessoires ausgestattet: durchsichtigen High Heels und einer langen, glatten, weißen Perücke sowie auffälligem Make-up und lackierten Gelnägeln. Auch ihre Pose und Inszenierung sind feminin: Sie betonen ihre Beine während Someone sich von der Betrachter:in abwendet und sich stattdessen selbstversunken im Spiegel betrachtet, sich also ihres Körpers als Fokus eines fremden Blicks bewusst ist und damit eine feminin konnotierte Position einnimmt. Ihr Spiegelbild blickt aus der Seite die Betrachter:in an und nur hier ist Someones Geschlecht sichtbar. Diese Ausstattung und mise-en-scène sind einerseits reduziert, andererseits so stereotyp, dass sie ausreichen, um Someone als Drag Queen zu identifizieren und damit als Repräsentantin konturierter Ambiguität. Durch die Verdoppelung im Spiegel wird das ambige Spiel mit Gender überdeutlich gemacht: Es geht um die Interpretation des geschlechtlich markierten 277

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Abb. 10: »Crystal Clear« von Theo Eliezer, ft. Shirley Someone, Momma Tried 3 (2018), S. 44–45.

Körpers als veränderbar, subjektiv und durch Requisiten und Posen performiert. Der Spiegel betont weiter den besonderen fiktionalen Kontext der Strecke: Someones Perücke ist nicht nur ein Accessoire ihrer Drag Performance, sondern auch eine Verkleidung, denn sie stellt hier eine mythologische Figur dar, einen japanischen Schneegeist, der zumeist als Frau mit langen weißen Haaren in Erscheinung tritt. Im Inhaltsverzeichnis des Hefts erscheint der einzige Begleittext der Strecke: »Crystal Clear follows apparitions of a drag queen ghost in an ~aesthetic~ afterlife. Inspired by traditionally feminine phantoms of Japanese folklore including the beautiful yuki-onna snow spirits and the long-suffering, long-haired yurei.« Die aus leeren weißen Räumen bestehende Szenerie stellt den ›Zwischen-Raum‹ dar, den sie bewohnt, ein »aesthetic afterlife«, das Jenseits. In diesem Jenseits betrachtet sie sich in einem Spiegel – die Leser:in begegnet ihr also in verschachtelten Heterotopien. Diese Rahmung des Bildes kann die Interpretation von Someones Performance konturierter Ambiguität als Drag Queen wieder ins Unbestimmte umschlagen lassen: In einem mythologischen Jenseits muss das hierarchisch dem Original nachgeordnete Spiegelbild nicht unbedingt der ›Wahrheit‹ entsprechen. Stattdessen kann das Verhältnis von Original und Spiegelbild in der fiktionalen Welt des Schneegeists durchaus unklar sein, was wiederum die Suche der Betrachter:in nach Someones Identität in unterschiedlichen 278

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Dimensionen (Diesseits-Jenseits; Original-Spiegelbild; Realität-Fiktion) ambivalent, queer erscheinen lässt. Die Spiegelkante fällt dabei mit der Mittelfalz des Spreads zusammen und synchronisiert die diegetische Welt mit der Materialität der aufgeschlagenen Zeitschrift als zweidimensionalem Objekt. Hält die Betrachter:in die Zeitschrift aufgeschlagen in der Hand, stehen die Seiten in einem Winkel zueinander, der den dargestellten Raum in der Zeitschriftenlektüre zwischen Objekt und Leser:in realisiert. Someone blickt dabei nicht nur in den Spiegel, sondern auch in die gegenüberliegende Zeitschriftenseite hinein, sucht und findet ihre Identität in der Magazinseite zurückgeworfen. Das Spread führt damit nicht nur einen herausgestellten Fall ambiger Genderperformanz vor, sondern reflektiert auch medienspezifisch die Rolle des Zeitschriftenlesens für die Identitätsarbeit der Leser:innen. Die Figur des japanischen Schneegeists taucht im Heft weitere Male auf, und zwar einmal als Illustration eines Artikels mit dem Titel »The Uncanny Other« (Eliezer/Learned 2018; Abb. 11). Die lange weiße Perücke verdeckt das Gesicht und den Körper des sitzenden Models, sein oder ihr Geschlecht ist nicht erkennbar und den Tattoos nach zu urteilen, handelt es sich auch nicht um Someone selbst. Nichtsdestotrotz signalisieren die auffälligen Haare eindeutig, dass es sich um eine weitere Iteration ihrer Figur handelt. Der Text befasst sich mit dem ›Anderen‹ ausgehend vom Modell des ›uncanny valley‹ in der Robotik. Der Begriff

Abb. 11: »The Uncanny Other«, Momma Tried 3 (2018), S. 100.

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Abb. 12: Momma Tried 3 (2018), Front Cover (innen)

bezeichnet die statistische Darstellung der Akzeptanzkurve von Robotern als Interaktionspartner. Diese steigt an, je menschenähnlicher Maschinen aussehen. Allerdings erreicht die Kurve einen Punkt, an dem sie abrupt abfällt, bevor sie wieder ansteigt. Erreicht das Design einen bestimmten Perfektionsgrad, fallen kleinste Fehler auf einmal überproportional ins Gewicht und lassen den Roboter als ›unheimlich‹ erscheinen. Das Bild, das dem Text vorangestellt ist kontextualisiert ihn visuell. Es geht im Text nicht nur um Roboter, sondern allgemein um die ›Anderen‹, oder genauer, die queeren Anderen. Angedeutet, aber nicht ausgeführt, wird hier eine Überlappung von Robotern, die fast aber nicht ganz menschenähnlich sind, mit dem Drag Queen-Schneegeist, der fast aber nicht ganz in Gender- und andere Kategorien passt, also ebenfalls grundsätzliche Unterscheidungen stört. In der Kombination von Text und Bild schlägt die Zeitschriftenseite eine Symmetrisierung von Menschen und Objekten vor und impliziert damit auch symmetrisch verteilte Agentivität. Um die ›Zeitschrift als Cyborg‹ haben die Herausgeber:innen eine eigene Geschichte gesponnen: Um nicht im ›death of print‹ zu sterben, hat sich das Magazin selbständig ein Upgrade aufgespielt und ist damit zum Cyborg geworden, also ein ebenfalls ambiger Körper, der weitere Reflexionen zu Ambiguität enthält: »Since Issue 2, Momma has become sentient and is now aware of her own mortality as a print object. In an effort to resist obsolescence and death, she’s attempting to turn herself into a cyborg.« (Momma Tried 2018) Dies wird gleich vorn im Magazin mit Shirley Someones Performance als Schneegeist enggeführt: Schlägt 280

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die Leser:in das Heft auf, taucht auf der ersten Seite Someones Kopf aus einer Eisfläche auf und blickt die Betrachter:in an, während ihr Körper noch unter der Oberfläche verborgen ist (Abb. 12). Es wird klar, was das Weiterlesen bedeutet: Das Eintauchen in einen queeren, unbestimmten Raum, der weder ganz Print, noch ganz digital ist.

5. Schluss Die vorgestellten Bildstrecken visualisieren Humanunterscheidungen und Unterscheidungshandeln: Die Außengrenze des Humanen als ›Bild‹ für die Wahrnehmung von Behinderung und Schönheit; Gender, Drag und Queerness sowie das ironische Spiel mit vermeintlich eindeutigen Kategorien und ihre Auflösung in Stil und Modetext. Diese Fallbeispiele zeigen Humandifferenzierungen auf einer mikrologischen Ebene, der Magazinseite, dem Spread und der Bildstrecke. Sie spielen sich damit in einer Kleinform ab, in der Mikro-Unterscheidungen augenfällig werden: Die angelaufenen Oberflächen von Aimee Mullins’ Prothesen als Puppenbeine, die Accessoires der Drag Queen und die Uniformdetails im Modetext konzentrieren Informationen zur Einordnung und Sortierung als Mensch oder Ding, Mann oder Frau, Soldat oder Model. Fotografiert für eine bestimmte Zeitschrift und inszeniert als eine Bildserie oder Modestrecke sind diese Bilder medienspezifisch und ästhetisch durchgearbeitet. Die Ambiguität, Ambivalenz und Störung von Unterscheidungen ist damit gewollt und gemacht und zielt auf die zeitweise Verunsicherung der Leser:in. Die Strecken fungieren so als Wahrnehmungsexperimente für Humanunterscheidungen, in denen grundsätzlich ›Andere‹ ebenso zur Anschauung kommen, wie Ähnliches und Vertrautes. Die Zeitschriftenform versichert der Leser:in durch bekannte Genres und Layouts, dass jede Störung wieder aufgefangen wird. Der Beitrag hat den Versuch unternommen, die unabhängigen Lifestyle­magazine mit ihren alternativen Körperästhetiken für die Differenzierungsforschung zu öffnen. Obwohl Lifestylemagazine körpergesättigte Artefakte sind, hat die Forschung ihre Körperdarstellungen in Mode- und Bildstrecken kaum untersucht und sich indes auf die differenten Erscheinungsweisen der Fotografien sowie die Transmedialität der Mode fokussiert (Lynge-Jorlen 2017). In den Periodical Studies bleibt unberücksichtigt, wie Magazine selbst als Klassifizierer auftreten und welche Rolle sie als flexibler Operationsraum (Krämer 2016) für Imaginationen, Selbstentwürfe (Selfing) und die Beobachtung und Sortierung der ›Anderen‹ in Bezug auf unterschiedliche Stile spielen. Wie die Beispielanalysen zeigen, ist ein anderes Instrumentarium gefragt, das sich an der ästhetischen Eigenlogik (Igl/Menzel 2016) der Magazine orientiert 281

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und Inhalt und Medium als untrennbar verflochten versteht sowie mediale Bindungs- und Vermittlungsformen von Differenzierungen in den Blick nimmt. Die Close Readings der Mode- und Bildstrecken im vorliegenden Beitrag verstehen sich als ein Schritt auf dem Weg, Analysekategorien zu entwickeln, die dem Aufforderungscharakter der Lifestyle- und Modemagazine und ihrer Leistungen für die Humankategorisierung Rechnung tragen. Für die Differenzierungsforschung öffnet die Einbeziehung ästhetischer und medialer Umsetzungen von Humankategorisierungen einen wichtigen Bereich, in dem dargestellte Körper und Stile zum imaginativen Material für Selbstentwürfe der Leser- und Berachter:innen werden.

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Außengrenzen

Gabriele Schabacher

Infrastrukturen und Verfahren der Humandifferenzierung Medienkulturwissenschaftliche Perspektiven Amazon, so war im Juni 2020 zu hören, verbiete der US-Polizei für ein Jahr den Einsatz seiner Gesichtserkennungssoftware »Rekognition« (Ano­nymus 2020). IBM hatte kurz zuvor in einem Brief an US-Abgeordnete sogar seinen vollständigen Rückzug aus diesem Softwarebereich angekündigt. Man wende sich entschieden gegen die Nutzung von Technologien »for mass surveillance, racial profiling, violations of basic human rights and freedoms« (IBM 2020). Entsprechend fordern Unternehmen wie Amazon, aber auch andere Produzenten von Gesichtserkennungssoftware, eine stärkere staatliche Regulierung. Dieser Sachverhalt ist aus der Perspektive sowohl der Humandifferenzierung (Hirschauer 2017) wie der Medienkulturwissenschaft interessant. Denn die besagten Technologien erkennen zwar Personen und Objekte in Fotos oder Videos, können einzelne Menschen in Gruppen tracken und sogar deren Stimmungen per Gesichtsanalyse identifizieren, sie machen allerdings überproportional häufig Fehler bei Gesichtern nicht weißer Hautfarbe, bei Frauen sowie bei Kindern und Älteren (NIST 2019: 2; Garvie et al. 2016). Die durch die Systeme operationalisierten Unterscheidungen weisen also mit Blick auf race, gender und age eine deutliche Asymmetrie zugunsten weißer Männer mittleren Alters auf. Solche Falscherkennungen waren auch für Amazons »Rekognition«-Software bekannt geworden, die 2018 bei einem Test durch die American Civil Liberties Union (ACLU) mehrere schwarze Kongressabgeordnete fälschlicherweise als Kriminelle identifiziert hatte (Snow 2018). Es ist also keineswegs so, dass man über den rassistischen »machine bias« dieser Technologien erst jetzt stolpern würde; vielmehr ist schon seit längerem bekannt, dass sie unter anderem zu Zwecken eines racial profiling einsetzbar sind und eingesetzt werden, um Menschen bestimmter Hautfarben zu sortieren, geographisch zu verorten und entsprechend verschiedener Zwecke (Marketing, Verbrechensbekämpfung, Risikomanagement) adressierbar zu machen.1

1 Zum racial bias von Überwachungstechnologien vgl. Browne 2015; zum algorithmic profiling Mann/Matzner 2019.

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Im aktuellen Fall tritt nun noch ein weiterer Faktor hinzu: Es geht um den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware durch die US-amerikanische Polizei.2 Diese kann, wie der Fall George Floyd zeigt, nicht nur selbst schon einen erheblichen racial bias aufweisen. Der polizeiliche Einsatz von Gesichtserkennungssoftware, der als eine Entkopplung von den affektiven Zuschreibungen humaner Akteure beworben wird,3 enttarnt sich auf seiner Kehrseite als Verstärkung der Ausgangslage durch einen der Technologie eingeschriebenen machine bias. Dieser machine bias resultiert unter anderem aus den Trainingsdaten, mit denen die neuronalen Netze der Gesichtserkennungsprogramme lernen und in denen die fehlerkannten Bevölkerungsgruppen mit Blick auf Humankategorien wie race, gender oder age prozentual nicht korrekt repräsentiert sind (Breihut 2020). Dies liegt zum einen daran, dass Trainings- und Verifikationsdatensätze im Horizont von KI-Anwendungen derzeit eine »knappe Ressource« darstellen (Mühlhoff 2019: 57), zum anderen verweist es aber auch auf ein generelles Dilemma von Mustererkennung: Die detektierten Muster sind Effekte des vorherigen Inputs, erscheinen aber als objektiv-naturalisiertes Ergebnis. Der folgende Beitrag möchte das Phänomen maschinell implementierter Diskriminierung zum Anlass nehmen, um den Zusammenhang von Humandifferenzierung und Überwachung unter digitalen Bedingungen genauer zu untersuchen. Vorgeschlagen wird dabei eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive, die ihre Aufmerksamkeit auf die In­ frastrukturen und Verfahren solcher Fremdklassifikationen richtet. Die Argumentation erfolgt in vier Schritten. In einem ersten Schritt wird zunächst der medienkulturwissenschaftliche Theorieeinsatz anhand von drei grundlegenden Konzepten (Medien, Kulturtechniken, Infrastruktur) skizziert, um vor diesem Hintergrund Materialität, Operativität und Vernetzung als für die Analyse von Humandifferenzierungen relevante Gesichtspunkte zu konturieren. Im zweiten Schritt wird dann ein besonderer Typ von Kontrollregimen in den Blick genommen: der Großstadtbahnhof. Als öffentliche Orte und Knotenpunkte verschiedenster Verkehrsströme sind die Bahnhöfe der großen Metropolen seit ihren Anfängen mit der Kontrolle und Regulierung von Menschen befasst und etablieren 2 Die Verbreitung des Einsatzes von Überwachungstechnologien durch Strafverfolgungsbehörden in den USA dokumentierte jüngst der von der Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) zusammen mit der Reynolds School for Journalism 2020 erstellte »Atlas of Surveillance«, eine interaktive Karte und durchsuchbare Datenbank, die u.a. den Einsatz von Drohnen, Body-Cams, automatisierter Kennzeichenerfassung, Gesichtserkennung etc. verzeichnet; vgl. die Website https://atlasofsurveillance.org/ (18.09.20). 3 Zu vorsprachlich-kognitiven Prozessen der Humandifferenzierung vgl. Imhoff (in diesem Band).

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INFRASTRUKTUREN UND VERFAHREN DER HUMANDIFFERENZIERUNG

dazu Infrastrukturen der Humandifferenzierung. Im dritten Schritt soll mit dem bundesdeutschen Pilotversuch am Bahnhof Südkreuz (2017– 2019) ein empirischer Fall diskutiert werden, der Fragen intelligenter Videoanalyse und besonders von Gesichtserkennungssystemen betrifft. Unter Bezug auf die in den Massenmedien geführte Debatte sowie den vorliegenden Ergebnisbericht wird die Konstruktionsarbeit analysiert, die dem (vermeintlichen) Erfolg des Projekts vorausging. Schließlich werden diese Überlegungen im vierten Schritt noch einmal auf die Materialität, Operativität und Vernetzung humandifferenzieller Infrastrukturen bezogen, um eine medienkulturwissenschaftliche Per­spektive auf maschinelle Formen des Unterschieden-Werdens zu konturieren.

1. Medien – Kulturtechniken – Infrastruktur Um den theoretischen Einsatz einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive auf Fragen der Humandifferenzierung zu skizzieren, bietet es sich an, zunächst auf drei grundlegende Konzepte – Medien, Kulturtechniken, Infrastruktur – einzugehen. Die Medienkulturwissenschaft geht in der Nachfolge der kulturwissenschaftlichen Medientheorie kanadischer Prägung (Innis 1950; McLuhan 1964) von einem weiten Medienbegriff aus. Dies impliziert zweierlei: Erstens werden Medien nicht auf klassische (Massen)Kommunikationsmedien (Buch, Zeitschrift, Film, Radio, Fernsehen, Internet) eingeschränkt, sondern auch technische Apparate und Institutionen, Milieus, Architekturen, Transportsysteme (Schabacher 2018b) und Körper werden im Hinblick auf ihre medialen Funktionen analysierbar. Dies erlaubt es, das Funktionieren von Medien insbesondere historisch weiter zurückzuverfolgen und etwa auch Personen (Hahn/ Schüttpelz 2009), Messinstrumente (Echterhölter 2017) oder die Post (Siegert 1993) in ihren Leistungen als Mittler in den Blick zu rücken. Mit dem erweiterten Medienbegriff verbindet sich zweitens die Annahme, dass Medien in grundlegender Weise Kultur prägen, wobei im historischen wie geographischen Vergleich selbstverständlich große Unterschiede bestehen: Medien sind demnach keine neutralen Übertragungskanäle, wie dies ein rein instrumentelles Medienverständnis unterstellen würde, sie sind vielmehr aktive Mittler des menschlichen Weltbezugs. Sie bedingen die sinnliche Wahrnehmung, sie dienen der Erzeugung, Speicherung und Verarbeitung von Wissen, sie gestalten soziale Beziehungen und politische Öffentlichkeiten. Auf diesen Tatbestand verweist McLuhans berühmte Formel »the medium is the ­message« (­McLuhan 1964: 7). Nicht die Botschaften sind entscheidend dafür, was Medien bewirken, sondern ihre jeweilige Zurichtung von Welt. Sie sind verantwortlich für Maßstäbe von Weltverhältnissen: »For the ›message‹ of any medium or technology 289

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is the change of scale or pace or pattern that it introduces into human affairs.« (McLuhan 1964: 8) McLuhan zufolge bedeutet das auch, dass Medien nicht (nur) als gedachte Erweiterungen des Körpers zu sehen sind (extensions of man), sondern vielmehr als Umgebungen (environments), die uns nachhaltig bestimmen: »Environments are not passive wrappings, but are, rather, active processes which are invisible. The groundrules, pervasive structure, and over-all-patterns of environments elude easy perception.« (McLuhan/Fiore 1967: 68) Ein solches Verständnis von Medien setzt also auf einen operativen Medienbegriff, der das Wie der Vermittlung (nicht das Was des Vermittelten) in den Mittelpunkt rückt und dieser Vermittlung eine transformierende Wirkung zuschreibt. Das Konzept der Kulturtechniken (Kittler 2012; Krämer/Bredekamp 2003; Siegert 2015) setzt diese Überlegungen fort, wenn es programmatisch betont, dass Kultur und Technik nicht als Gegensätze zu denken sind, sondern alles Kulturelle grundlegend technisch formiert ist. Ausgegangen wird dabei von einem Technikbegriff, der sich auf ein Doppeltes bezieht: einerseits, im Rekurs auf das griechische téchnē (Fertigkeit, Können), auf Körper- und Kulturtechniken im Sinne von Handwerk und Skills (Schüttpelz 2010), andererseits auf Sachtechnik im Sinne von Technologie und Maschinen (Kapp 2015 [1877]). Darüber hinaus betont der Begriff der Kulturtechnik die vorkonzeptuelle Dimension der Praxis, d.h. die Tatsache, dass Praktiken des Schreibens lange vor einem Begriff der Schrift existieren, das Zählen lange vor einem Begriff der Zahl usw. (Macho 2003: 179), was mit Blick auf Humandifferenzierung bedeuten würde, dass vielfältige Praktiken des Sortierens und Unterscheidens (historisch, interkulturell) bereits vor einer Konzeptualisierung virulent waren. Kultur wird also weder als höhervalorisierter Bereich der Gesellschaft (Hochkultur) noch als Text oder Zeichensystem gefasst (Krämer/ Bredekamp 2003: 11f.), sie verweist vielmehr auf eine spezifische Logik des Unterscheidens, welche die Kulturtechnikforschung nach basalen Leitdifferenzen fragen lässt, die Kultur allererst hervorbringen. Gedacht wird dabei an die Grenzziehung zwischen Mensch und Tier im Rahmen von Domestikationsvorgängen, an die Trennung von Profanem und Heiligem in religiösen Ritualen oder auch an die Differenz von Innen und Außen im Rahmen der Architektur (Schäffner 2010; Siegert 2010). Mit dem Infrastrukturkonzept lässt sich schließlich eine spezifische Dimension der Verbindung akzentuieren, die sich an der Struktur von Medien-Gefügen wie auch an der Verflechtung von Kulturtechniken ablesen lässt, ihrerseits aber nicht sofort sichtbar ist, worin sich das infra des In­frastrukturellen manifestiert. Im Rekurs auf Arbeiten zu großtechnischen Systemen (Hughes 1987) und zu Informationsinfrastrukturen (Bowker et al. 2010) sowie auf die Unterscheidung von Intermediären und Mediatoren in der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2009) schlägt dieser Beitrag einen spezifisch kulturwissenschaftlichen 290

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Infrastrukturbegriff vor: Dieser geht nicht allein von sozio-technischen Systemen aus, sondern von einem sozio-technisch-diskursiven Gefüge von Akteuren (humanen und nicht-humanen Entitäten, Dingen und Artefakten, Zeichen, Diskursen, Imaginarien), die sich prinzipiell symmetrisch zueinander verhalten, aber je nach historischer, politischer oder geographischer Konstellation Asymmetrien mit Blick auf Machtkonstellationen und Teilhabemöglichkeiten generieren. Der so verstandene kulturwissenschaftlichen Infrastrukturbegriff führt damit zwei theoretische Linien zusammen: einerseits den Foucault’schen Dispositivbegriff mit seiner Betonung von Machtstrukturen sowie materiell-diskursiver Formationen (Foucault 1978) und andererseits das Konzept des sozio-technischen Systems (Bijker/Hughes et al. 1987), das mit seiner Verbindung sozialer und technischer Elemente eine Skalierung von Infrastrukturen verschiedener Reichweite und Größe – communities of practice (Lave/ Wenger 1991) vs. großtechnisches System – denkbar macht. Die Infrastrukturen nachgesagte Stabilität betrifft dabei vor allem die Tatsache, dass sie auf Standardisierungsprozessen beruhen,4 in ihrer alltäglichen Nutzung selbstverständlich sind und insofern als Blackboxes funktionieren, die nur im Moment von Störungen einen Blick auf interne Mechanismen freigeben.5 Gleichwohl lässt sich zeigen, dass sich diese infrastrukturelle Stabilität und Verfügbarkeit im Normalbetrieb einer ganzen Reihe mehr oder weniger unsichtbarer Prozesse der Instandhaltung verdankt (Wartung, Reparatur, Pflege), deren Ausbleiben Infrastrukturen verfallen lässt (Schabacher 2018a, 2021). Auch die im Alltagsumgang als vergleichsweise »fest« wahrgenommenen Infrastrukturen befinden sich also beständig in the making. Nicht nur bezogen etwa auf sprachliche Kategorien der Humandifferenzierung lassen sich Vorgänge der Stabilisierung und Destabilisierung in den Blick nehmen (Hirschauer/Nübling, in diesem Band), sondern ebenso für die Infrastrukturen der Humandifferenzierung, wobei hier gleichermaßen an die Instandhaltung von Gebäuden, die Pflege von Datenbanken wie die Anpassung von Schulungsprogrammen für Behördenpersonal zu denken wäre. Die vorgeschlagene weite Verwendung der Begriffe »Medium«, »Kultur« und »Infrastruktur« folgt einer doppelten Intention. Erstens geht 4 Insofern die Durchsetzung von Standards aufwendig und deshalb nur schwer rückgängig zu machen ist, stellen einmal etablierte Standards Pfadabhängigkeiten für die weitere Entwicklung einer Infrastruktur dar (Edwards/Jackson et al. 2007: 17f.). 5 Je etablierter und vertrauter bestimmte Infrastrukturen etwa im Rahmen einer Praxisgemeinschaft sind, desto weniger werden die im Rahmen dieser Praxis begegnenden Objekte wahrgenommen; es kommt vielmehr zu einer zunehmenden Naturalisierung: »The more at home you are in a community of praxis, the more you forget the strange and contingent nature of its categories seen from the outside.« (Bowker/Star 1999: 294)

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es um eine forschungsprogrammatische, nicht eine ontologische Stoßrichtung der Begriffsverwendung. Ziel ist also nicht die Festschreibung, was Medien, Kulturen, Infrastrukturen letztlich sind, sondern vielmehr die Vermeidung spezifischer (theoriehistorischer) Verengungen: Im Fall des Medienbegriffs geht es vordringlich darum, die Frage des Medialen nicht allein auf Kommunikation zu verengen, im Fall des Kulturbegriffs geht es darum, Kultur nicht allein auf Sinnhaftes zu beziehen, und im Fall des Infrastrukturbegriffs schließlich geht es darum, Infrastrukturen nicht allein als materiell-technisch, sondern gleichermaßen als sozial bzw. organisational zu verstehen. Mit dieser jeweiligen forschungsprogrammatischen Weitung des Begriffsfeldes verbindet sich zweitens die Absicht, bestimmte Prozesse der Entdifferenzierung, der Vermischung bzw. Hybridisierung in den Blick nehmen zu können, die sich an den Rändern und Übergangsfeldern von Sozialem, Technischem, Kulturellem und Diskursivem artikulieren. Die drei skizzierten Begriffe werden damit in ihrer Leistung als übersetzende und transformierende Mittler (Medien), in ihrer Funktion, Sinn technisch zu generieren (Kulturtechniken), sowie in ihrer Verflechtung humaner und nicht-humaner Entitäten (Infrastrukturen) akzentuiert. Vor diesem Hintergrund lassen sich drei Gesichtspunkte hervorheben, die aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive für die Theoretisierung von Humandifferenzierung bedeutsam sind: Materialität, Operativität und Vernetzung. Erstens ist die spezifische Materialität von Humandifferenzierung in Rechnung zu stellen: Welche konkreten Entitäten (Dinge, Personen, Artefakte, Inskriptionen etc.) spielen bei der Formierung von Infrastrukturen der Humandifferenzierung eine Rolle? Dabei wird diesen Entitäten aus medienkulturwissenschaftlicher Perspektive eine Humandifferenzierung prägende, gestaltende Rolle zugesprochen. Orte, an denen Humandifferenzierung stattfindet, ebenso wie ihre jeweilige Ausstattung wären damit nicht nur Schauplätze und Hintergründe eines Kategorisierungsgeschehens, sondern relevante Bedingungen dafür, was überhaupt ausagiert werden kann. Eine Änderung von Humandifferenzierungen wäre damit als Änderung der infrastrukturellen Bedingungen zu beschreiben, unter denen sie stattfindet. Zweitens betrifft die Operativität von humandifferenzierenden Strukturen nicht so sehr das Ergebnis, also was in einer bestimmten Weise unterschieden wird, sondern vielmehr, wie dieses Unterscheiden stattfindet. Zu fragen wäre hier nach der genauen Formation von Abläufen und Prozeduren und damit nach der Logik eines Nacheinanders von Schritten (einer Operationskette), die in ihrer Gesamtheit erst zur Differenzierung zwischen Humankategorien führen. Dabei ist anzunehmen, dass ähnlich den great divides (Latour 2002a) auch die Kategorienraster von Humandifferenzierungen sich einer Logik verdanken, in der binäre Unterscheidungen (schwarz/weiß, behindert/nicht-behindert, Inländer/ 292

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Ausländer) in kleinschrittigere Unterscheidungsprozesse zerlegbar sind. Ganz im Sinne der Kulturtechnikforschung wären damit die Operationen des Differenzierens und Unterscheidens den durch sie erzeugten Humankategorien vorgängig. Drittens schließlich ist die infrastrukturelle Vernetzung von Humandifferenzierung zu betonen. Dadurch kann hybriden Akteuren in Prozessen der Humandifferenzierung Rechnung getragen werden: Gemäß des Latour’schen Arguments (Latour 2002b: 218) muss auch die Polizei, die mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattet wird, als ein »Hybrid-Akteur« aufgefasst werden; ebenso wäre der Einfluss von Utopien und Imaginarien auf infrastrukturelle Konstellationen (und damit Humandifferenzierungen) zu berücksichtigen.6 Wie unten mit Blick auf Kontroll- und Überwachungsregime zu zeigen sein wird, bedeutet dies auch, die Rolle bestimmter Affekte (Angst) und Versprechen (Sicherheit) einzubeziehen (Koch/Nanz et al. 2016; Horn 2014). Darüber hinaus lässt der Gesichtspunkt der Vernetzung den Zusammenhang von Humandifferenzierung, Standardisierung und Infrastruktur deutlich werden. Jede Infrastruktur braucht Standards. Standards stellen rechtlich fixierte bzw. ökonomische praktizierte Konventionen dar (de jure- und de facto-Standards), die auf Kategorisierungs- und Klassifikationsprozessen beruhen und ohne die inner- und intersystemische Vernetzung von Infrastrukturen nicht möglich wäre (Edwards/Jackson et al. 2007: 15–19; Busch 2011). Genauso aber wie Infrastrukturen auf Standards angewiesen sind, benötigen wiederum Standardisierungsprozesse Infrastrukturen, um wirksam zu sein. Auf Prozesse der Humandifferenzierung bezogen hieße dies, dass jede Infrastruktur aufgrund der für ihr regulatives Funktionieren notwendigen Kategorisierungs- und Klassifikationsverfahren auch Prozesse der Humandifferenzierung impliziert (Bowker/ Star 1999; Gregory 2021). Umgekehrt ist jede Form der Humandifferenzierung, wo sie administrativ, regulativ oder im weitesten Sinne politisch wirksam wird, zugleich immer auf Infrastrukturen angewiesen.

2. Humandifferenzierung durch Bahnhofsinfrastrukturen Ein konkretes Beispiel für regulierende Infrastrukturen der Humandifferenzierung stellen etwa die großen städtischen Personenbahnhöfe dar. Als öffentlich zugängliche Orte sowie Kreuzungspunkte unterschiedlicher Verkehrsströme (international, national, regional, innerstädtisch), 6 Keller Easterling (2014: 88) etwa spricht von infrastrukturellen Dispositionen, die u.a. durch Geschichten und Ideologien formiert sein können.

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aber auch verschiedener Verkehrsmittel (Eisenbahn, Untergrund- und Straßenbahn, Bus, Automobil, Fahrrad, Droschke) sind Bahnhofsareale seit ihren Anfängen Schauplätze der räumlichen Ansammlung und Vermischung von Menschen bzw. Menschengruppen (Land-/Stadtbevölkerung, soziale Klassen, Geschlechter, Bildungsstände, Altersgruppen, Nationalitäten) und mit ihnen verbundener Dinge (Gepäckstücke, Accessoires wie Spazierstöcke und Regenschirme, Laptops und ­Smartphones). Diese hybride Menge erzeugt einen erhöhten Regulierungsbedarf, also differenzierende Maßnahmen des Sortierens und Kontrollierens, um einen reibungslosen Fluss des Verkehrsgeschehens zu gewährleisten. Dabei lässt sich die Bahnhofsinfrastruktur als eine Form der Differenzierung verstehen, die Menschen und Dinge in spezifischer Weise arrangiert und dadurch bestimmte Verhaltensweisen bzw. Vorgänge vorgibt, andere dagegen unterbindet. Aufgrund dieser Differenzierungsleistung funktionieren Bahnhofsinfrastrukturen als Kontrollregime, die sich in der Gegenwart zunehmend als dezidierte Überwachungsdispositive formieren. Bestandteile des historisch und geographisch variierenden Kontrollregimes »Bahnhof« sind zeichenhafte Elemente (z.B. Beschilderung, Haus­ ordnung), humane Akteure (z.B. Ordnungs- und Reinigungspersonal) sowie materiell-räumliche Anordnungen (z.B. Treppen, Bahnsteige). Als zentrale Aufgabe gilt dabei seit Ende des 19. Jahrhunderts das Abfertigen von Personen und Gepäck. Die Bahnhofsbauten fungieren in diesem Zusammenhang als »Prozessarchitekturen«, die als »Medien der Betriebs­organisation« nicht nur den physischen Verkehr einrichten, sondern auch Kommunikation und Interaktionen garantieren (Jany 2019), wobei dies Maßnahmen der Distanzsicherung einschließt (Trennscheiben und -wände, Räume mit Zutrittsbeschränkung etc.). Während Su­ sanne Jany vorrangig an die architektonischen Merkmale des Bahnhofs denkt – also etwa das Arrangement von Wartesälen, Gepäckräumen, Schaltern –, ist dies aus infrastruktureller Perspektive um weitere Kategorien von Handlungsträgern (Personen, Zeichen) zu ergänzen, die – wie etwa die Studien zu Workarounds, informellen Prozessen und unsichtbarer Arbeit verdeutlichen (Brohm/Gießmann et al. 2017; Star/Strauss 1999) – für den reibungslosen Ablauf eines Verkehrsgeschehens mindestens ebenso bedeutsam sind. Menschen werden dabei durch Bahnhofsinfrastrukturen, also alle im und am Bahnhof stattfindenden Regulierungsprozesse, die im Verbund von Architekturen, Personen und Zeichen erzeugt werden, einerseits nach allgemeinen Humankategorien (Klasse, Geschlecht, Alter) sortiert sowie andererseits nach funktionsspezifischen Kriterien (etwa Reisende/Passanten, normale/deviante Anwesende). Bewegen sich Maßnahmen der Regulierung im Umgang mit Menschenmassen im 19. Jahrhundert zwischen nötiger Eindämmung von »Unordnung« bzw. »Unsitte« und 294

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fortschrittsoptimistisch gesehener Demokratisierung (H.J. 1847: 308f.; Pecquer 1839: 335f.), sind sie in der Gegenwart zunehmend vor dem Hintergrund eines seit den Ereignissen vom 11. September 2001 umfänglich wirksamen Sicherheitsdenkens verortet; die Kontrolle und Überwachung aller gilt hierbei als Schutzmaßnahme gegenüber einer latenten Terrorgefahr (Hempel/Krasmann et al. 2011). Historische und zeitgenössische Kontrollregime des Bahnhofs sind dabei gleichermaßen infrastrukturell verfasst: Durch sie werden bestimmte Unterscheidungen prozessiert, weshalb es auch unrichtig wäre, eine Differenz beider Formationen allein in der Ab- bzw. Anwesenheit elektronischer Überwachungsinstrumente zu sehen. Obwohl europäische Städte seit den 1990er Jahren Videoüberwachungssysteme einführten, insbesondere zur Überwachung des Verkehrs, konzentrierte sich die Debatte um Sicherheitsfragen seit 2001 auf den Flughafen als internationalen Knotenpunkt globaler Verkehrsströme (Potthast 2011). Erst in jüngster Zeit sind auch Bahnhöfe als bedrohte Orte in den Blick der Öffentlichkeit gerückt, etwa durch die Kölner Silversternacht 2015/2016 oder die Tötung eines Achtjährigen am Frankfurter Hauptbahnhof im Sommer 2019.7 Dies ist nur konsequent, denn aufgrund ihrer Offenheit für heterogene Personengruppen sind Bahnhöfe deutlich schwieriger zu kontrollieren als Flughäfen, die durch ihre andere Prozessarchitektur mit einer Vielzahl von Zonen, Schleusen und Gates Personen- und Objektströme stärker einschränken und filtern. Obwohl es deshalb international bereits zahlreiche Beispiele (Frankreich, Großbritannien, China) dafür gibt, dass Bahnhöfe flughafenähnlicher werden,8 bleiben Bahnhöfe in Deutschland nach wie vor auch für Personen ohne Fahrschein zugänglich, um auf diese Weise zusätzliche urbane Konsumzonen zu schaffen (»Einkaufsbahnhof«, »Erlebnisbahnhof«). Die im Bahnhof und im öffentlichen Raum eingesetzten Überwachungstechnologien verbinden dabei zwei Traditionen: die visuell ausgerichtete Überwachung in der Tradition des Panoptismus (Foucault 1976) 7 Dies artikuliert sich auch in einer zunehmenden Zahl bahnbezogener Projekte der zivilen Sicherheitsforschung in den letzten zehn Jahren, vgl. etwa die BMBF-Projekte ADIS (Automatisierte Detektion interventionsbedürftiger Situationen durch Klassifizierung visueller Muster, 2010–2013), RiKoV (Risiken und Kosten der terroristischen Bedrohungen des schienengebundenen Ö̈PV, 2012–2015) und REHSTRAIN (Resilienz des Deutsch-Französischen Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsverkehrs, 2015–2018). Zum bahnbezogenen Risikomanagement angesichts terroristischer Bedrohungslagen vgl. Luxton/Marinov 2020. 8 Beispiele sind etwa in China die Bahnhofsneubauten Peking Südbahnhof (2008), Shanghai-Hongqiao (2010) oder Guangzhou Südbahnhof (2010), der Pariser Gare Saint Lazare (Umbau 2019) oder auch der Bahnhof Brüssel-Midi (Eurostar).

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und der Videoüberwachung (CCTV) (Levin/Frohne et al. 2002; Hempel/ Metelmann 2005) einschließlich mobiler Formen (etwa Bodycams) auf der einen Seite und »dataveillance« (Clarke 1988) in der Tradition der bürokratischen Registrierung und Verwaltung auf der anderen Seite. Intelligente Videoanalyse, also die automatisierte algorithmenbasierte Auswertung von Videobilddaten (Kees 2015; Stanley 2019), ist deshalb als ein Feld zu verstehen, das die (ältere) visuelle Echtzeit-Dimension von Videoüberwachung mit der (neueren) informationellen Dimension der Überwachung (Big Data) zusammenführt. Ziel der Überwachung ist dabei, wie David Lyon formuliert, ein »social sorting«, das zu Marginalisierung und Diskriminierung bestimmter Personengruppen führt (Lyon 2003). Gegenüber historischen Überwachungsregimen zeichnet sich die gegenwärtige Situation vor allem durch zwei (technische) Erweiterungen aus: Zum einen ist es möglich, verschiedene Datentypen zusammenzuführen – neben biometrischen Daten etwa Audiodaten, Umweltdaten, Ortungs- und Trackingdaten, personenbezogene Daten, Nutzungsdaten –, und zum anderen große Datenmengen zu speichern und sie für potentielle, zukünftige (retrograde) Auswertungen bzw. Anwendungen (Mustererkennung, data mining) bereit zu halten.

3. Laborbahnhof Berlin Südkreuz Die zeitgenössischen Kontrollregime des Bahnhofs und ihre humandifferenzierenden Prozeduren erfahren durch die Implementierung algorithmischer Technologien eine wichtige Erweiterung. In Frage steht dabei vor allem das automatisierte Erkennen von Straftaten und Gefahrenlagen, was Verfahren der Mustererkennung mit Blick auf Einzelpersonen (insbesondere Gesichtserkennung), aber auch von gruppenspezifischen Verhaltensweisen betrifft. Im Folgenden soll deshalb ein bundesdeutscher Pilotversuch zur intelligenten Videoanalyse untersucht werden, der zwischen 2017 und 2019 am Berliner Bahnhof Südkreuz durchgeführt wurde. Teile des Bahnhofs wurden dazu temporär zu einem natürlichen Experiment (Bauer 2015) bzw. einer Versuchsstation umfunktioniert, um die Einführung bestimmter Maßnahmen unter Realbedingungen zu erproben: Der Bahnhof wird zum Laboratorium. Derartige Modellversuche simulieren auch etwaige Schwierigkeiten und Probleme, die sich mit Blick auf die technische Implementierung, die Alltagstauglichkeit von Systemen oder ihre gesellschaftliche Akzeptanz ergeben könnten. Insbesondere staatliche Pilotprojekte wie der Test am Bahnhof Berlin Südkreuz stellen in diesem Zusammenhang eine exemplarische Art von Quellenmaterial dar. Denn indem hier Technologien und die Bedingungen ihres Einsatzes ebenso wie Datenerhebung und -auswertung unter Laborbedingungen 296

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gestellt werden und Rechenschaftspflicht mit Blick auf die daraus abgeleiteten Ergebnisse besteht, sind solche Modellversuche grundsätzlich als Orte der Kontroverse zu verstehen. Solche Kontroversen bieten, wie die Science and Technology Studies vielfach gezeigt haben, einen genuinen Zugang zu den in Frage stehenden sozio-technisch-diskursiven Formationen und der Verflechtung der an ihnen beteiligten Akteure. Aufgrund der in der BRD schärferen Datenschutzbestimmungen sind derartige Modellversuche stets ein Feld intensiver öffentlicher Auseinandersetzung auf parlamentarischer, zivilgesellschaftlicher wie massenmedialer Ebene, das Problemlagen hinsichtlich der in Frage stehenden Regulierungsund Überwachungs-Technologien sichtbar werden lassen kann, die bei Tests im nicht-öffentlichen Bereich bzw. in Ländern mit weniger scharfen Datenschutz-Richtlinien nicht explizit würden. Beim Pilotprojekt »Sicherheitsbahnhof Berlin Südkreuz« handelt es sich um ein gemeinsames Projekt des Bundesministeriums des Innern (BMI), der Bundespolizei, des Bundeskriminalamtes und der Deutschen Bahn AG, das die Möglichkeiten intelligenter Videoanalyse zur Erkennung von kriminellem Verhalten und Gefahrensituationen an Knotenpunkten des öffentlichen Verkehrs untersuchen soll. Die Wahl fällt dabei nicht zufällig auf den Bahnhof Berlin Südkreuz. Dieser gehört zum Projekt »Zukunftsbahnhof« der Deutschen Bahn und wurde deshalb bereits häufiger zur Erprobung digitaler Neuerungen genutzt;9 hinzu kommen seine Größe und Auslastung (es handelt sich um den drittgrößten Fernbahnhof Berlins mit Anschluss an Regional- und S-Bahnverkehr) sowie die Modernisierung seiner Überwachungstechnologie (Kameras) 2016/2017. Der Modellversuch besteht aus zwei Teilprojekten. In einem ersten Teilprojekt, das unter Federführung der Bundespolizei in zwei Phasen 2017 und 2018 stattfand, wurde biometrische Gesichtserkennungssoftware getestet, während das zweite Teilprojekt in der zweiten Jahreshälfte 2019 unter Federführung der Deutschen Bahn Mustererkennungstechnologien für definierte Gefahrensituationen untersuchte.10 Obwohl das zweite Teilprojekt im Rahmen der internationalen 9 Vgl. https://www.bahnhof.de/bahnhof-de/bahnhoferleben/Zukunftsbahnhof-4476510 (21.6.20). 10 Getestet wurden Softwaresysteme von IBM, Hitachi und Funkwerk zur automatischen Erkennung situations- und verhaltensspezifischer Regelmäßigkeiten bei fünf definierten Gefahrensituationen im Bahnhof (»[l]iegende Personen«, »Betreten definierter Bereiche/Zonen«, »Personenströme/Ansammlungen«, »Personenzählung«, »[a]bgestellte Gegenstände«) sowie bezogen auf zwei weitere Funktionalitäten (»Nachvollziehen der Positionen von Personen/Gegenständen«, also Tracking, und die »[r]etrograde Auswertung von Videodaten«); vgl. Bundespolizei 2019; BlnBDI 2018: 76f.; Deutscher Bundestag 2019. Der Abschlussbericht zum zweiten Teilprojekt sollte bis Ende 2020 vorliegen, steht aber bislang aus.

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Sicherheitsforschung das avanciertere war, da sich im Unterschied zu biometrischen Systemen der Einsatz von Software zur Situations- und Verhaltensanalyse auch international noch in der Erprobung befindet, war es von deutlich weniger öffentlichem Interesse begleitet als der erste Test zur Gesichtserkennung. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive hat dies mit dem historisch gewachsenen Zusammenhang von Identität und Gesicht zu tun (Weigel 2017; Belting 2013),11 der das Gesicht auch zu einer bedeutenden Referenz für Fragen der Humandifferenzierung macht. Während der erste Test also entsprechend die Identifizierbarkeit von Individuen auf der Basis ihrer Gesichtsdaten erprobte, sollte der zweite gruppenbezogene Verhaltensweisen mit Blick auf Gefahrensituationen detektieren, dabei aber das Gesicht außen vor lassen. Aufgrund der humandifferenziellen Bedeutung des Gesichts sowie der Tatsache, dass der erste Test bereits abgeschlossen ist, konzentriert sich die folgende Analyse auf die Erprobung der Gesichtserkennungssysteme. Dazu werde ich im Folgenden auf die Rahmenbedingungen des Tests, die öffentlich geführte Debatte (parlamentarische Anfragen an die Bundesregierung, Stellungnahmen von NGOs und weiterer Akteure, massenmediale Berichterstattung) sowie den im September 2018 zu diesem Projektteil veröffentlichten Abschlussbericht des Bundespolizeipräsidiums eingehen und zeigen, wie das Bemühen, eine komplexe Situation wie das Bahnhofsgeschehen zu regulieren und zu kontrollieren, im Ergebnis noch komplexere Situationen erzeugt. Der Einsatz von Gesichtserkennungssoftware stellt dabei kein bloßes Hilfsmittel dar, wie es der Abschlussbericht behauptet, wenn von einem zusätzlichen »Unterstützungsinstrument« für die polizeiliche Fahndungsarbeit die Rede ist (Bundespolizei 2018: 7; BMI 2018). Vielmehr handelt es sich um Medien im oben beschriebenen Sinne, die als Teil eines infrastrukturellen Gefüges so mit anderen Entitäten interferieren und interagieren, dass sie ihrerseits nicht einfach unter Kontrolle zu bringen sind, d.h. hier auch: unterschieden und auseinandergehalten werden können. Im Gegenteil, sie schaffen neue Sets von Problemen, Fragen und Antworten. Dabei zeigt sich insbesondere, dass die Technologien, die zur Objektivierung einer unüberschaubaren Situation eingeführt werden, nur auf der Basis einer umfassenden Konstruktionsarbeit zu Ergebnissen führen. Diese Konstruktionsarbeit steht der im Rahmen des Tests implizit bleibenden Annahme entgegen, Menschen verfügten über »ein« Gesicht im Sinne eines konkreten, stabilen Objekts. Es wird zu zeigen sein, dass es sich bei dem vermeintlich eindeutigen Gesicht vielmehr um ein Artefakt handelt, das theoretisch und technisch konstruiert wird. Die vielfältigen Probleme, die der Abschlussbericht offenbart, lassen sich als Indiz dieser grundsätzlichen Konstruktivität des Gesichts verstehen. 11 Zu historischen Identifikationspraktiken vgl. Groebner 2014; Macho 2008. Zum Problem biometrischer Bilder vgl. Richtmeyer 2014; Wichum 2017.

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Für den 2017 und 2018 stattfindenden Test der Gesichtserkennungssysteme wurden drei der insgesamt 77 Videokameras des Bahnhofs Berlin Südkreuz ausgewählt, die am Ein- und Ausgang Hildegard-Knef-Platz sowie mit Blick auf die Rolltreppe in der Westhalle positioniert waren (Bundespolizei 2018: Anh. 1). Da der Test unter Realbedingungen stattfinden sollte, wurde auf eine Verbesserung der Beleuchtungsverhältnisse verzichtet (Bundespolizei 2018: 14, 32). Die Beschilderung wies sowohl das Testareal wie auch »Nichterkennungsbereiche« aus, so dass sich die Erkennung umgehen ließ.12 Getestet wurden drei am Markt vorhandene Softwaresysteme mit vergleichbaren Funktionalitäten (BioSurveil­lance von Herta Security, Morpho Video Investigator von Idemia und Anyvision von Anyvision), deren Algorithmen neuronale Netze nutzen, die lernfähig sind und insofern KI-Systeme darstellen (Bundespolizei 2018: 14, 18). Ein Blick auf das Datenblatt der Software Anyvision zeigt (Elbex 2017), dass die fraglichen Funktionalitäten Probleme der Humandifferenzierung im Kern betreffen, was das Marketing offensiv als Vorteil des Programms ausflaggt; nicht nur können vermeintliche »ethnische Herkünfte« erkannt werden, zu seinen »taktische[n] Vorteile[n]« wird ferner gezählt, dass die erkannten Personen definierten Gruppen hinzugefügt werden können. Dass dabei zur Veranschaulichung auf Rubrizierungen zurückgegriffen wird, die eine auch aus anderen Zusammenhängen bekannte Drittelung aufweisen (»white«, »black« und »other«), ist kein Zufall, sondern verdeutlicht die stereotypen Vorstellungen von Unterschieden, mit denen die Nutzung solcher Programme einhergeht. In Berlin Südkreuz wurde der Test im Rahmen der bestehenden Infrastruktur des Bahnhofs (Kameras, Architektur) durchgeführt, ergänzt um Server mit der entsprechenden Software sowie Notebooks als Endgeräten zur Trefferanzeige, welche in einem separaten Raum mit Zutrittskon­ trolle untergebracht waren (Bundespolizei 2018: 18 sowie Anh. 2, Anl. 3). An der ersten Phase von Teilprojekt 1 nahmen 312 Testpersonen teil, an der zweiten 201. Sie alle waren Pendler, die den Bahnhof regelmäßig benutzten. Ihre Teilnahme war freiwillig, und sie erklärten sich bereit, beim Passieren des Bahnhofs einen Transponder mitzuführen, um die Treffer zu validieren.13 Wendet man sich nun den Bemühungen, den Bahnhof durch Einsatz von intelligenter Überwachungstechnologie zu kontrollieren, genauer zu, zeigt sich ein Komplexitätszuwachs, der sich durch die eingesetzte Technik selbst nicht auffangen lässt: Die eigentlich zur Objektivierung und Vereindeutigung unüberschaubarer Situationen eingeführten 12 Zum Datenschutzkonzept vgl. Bundespolizei 2018, Anhang 2. Zur Kritik vgl. BlnBDI 2018: 75–77; BlnBDI 2019: 155–157. 13 Bundespolizei 2018: 21f. sowie ebd., Anh. 2, Anl. 1, Pkt 5. Zur Kritik an diesem Referenzsystem vgl. Digitalcourage 2017.

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Technologien erfordern ihrerseits umfangreiche Maßnahmen, um überhaupt zu Ergebnissen hinsichtlich der Erkennung von Gesichtern zu führen. Bezogen auf das Problem der Humandifferenzierung lassen sich hierbei drei Dimensionen unterscheiden: die Instabilität des Gesichts, die Repräsentativität der Stichprobe sowie die Berechnung der Trefferraten. Was erstens die Instabilität des Gesichts betrifft, übersetzten die getesteten Programme die detektierten Gesichter gemäß berechneter, charakteristischer Merkmale in Templates (Bundespolizei 2018: 18–20). Zur Identifikation wurden diese Templates mit den digital aufgenommenen und Biometrie-Standards entsprechenden Gesichtsbildern der Testpersonen abgeglichen, die in einer lokalen Referenzdatenbank hinterlegt waren (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Gesichtserkennung am Bahnhof Südkreuz

Ein Treffer war dabei numerisch definiert als »Übereinstimmungsgrad« (Bundespolizei 2018: 20) zwischen dem Template des detektierten Gesichts und dem Template in der Referenzdatenbank. Anhand einer vorab definierten »Wahrscheinlichkeitsschwelle« entschied das System, ob ein Treffer vorlag oder nicht (Bundespolizei 2018: 20).14 Das Erkennen eines Gesichts ist damit eine binäre Entscheidung, hinter der sich ein Spektrum mehr oder weniger großer Ähnlichkeit verbirgt. Dabei ist es ein bekanntes Problem der Gesichtserkennung, dass Unterschiede zwischen Gesichtern verschiedener Personen oft geringer sind als die zwischen verschiedenen Bildern derselben Person. Für diese »variability of faces« (Gates 14 Dieser Schwellenwert wird im Abschlussbericht allerdings nur als möglicher Beispielwert (»z.B. Übereinstimmungsgrad des Abgleichs > 80%«) genannt (Bundespolizei 2018: 20).

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2011: 17) sind neben wechselnden Beleuchtungsverhältnissen u.a. Alter, Gesichtsausdruck, Frisur, Brillen sowie Bärte verantwortlich. Bereits das Objekt der Kontrolle – das Gesicht selbst – ist also sehr viel variabler, unruhiger und damit komplexer, als es die Erkennungstechnologien in der Regel voraussetzen. Dies war ein Grund, warum man in der zweiten Phase des ersten Teilprojekts die Vergleichsbilder der Referenzdatenbank veränderte. Statt der hochwertigen Fotografien wurden nun mehrere Bilder derselben Personen in geringerer Qualität hinterlegt. Da diese Bilder jedoch dem Videostream der ersten Phase entstammten (Bundespolizei 2018: 21), vermuteten Kritiker allein hierin die Ursache für die in der zweiten Phase verbesserte Performance der Systeme (CCC 2018). Jeder Schritt im Rahmen der aufwendigen technischen Konstruktion eines biometrischen Gesichtsbildes sowie der darauf bezogenen Identifikations- und Verifikationsprozesse (Kloppenburg/van der Ploeg 2020: 60f.) impliziert damit neue Fehlermöglichkeiten, Abweichungen und Inkonsistenzen gegenüber dem Referenzindividuum, was die Artifizialität des (biometrischen) Gesichtsbildes beständig erhöht. Ein zweites Problemfeld betrifft die Repräsentativität der Stichprobe. Für die Rekrutierung der Testpersonen wurde mit einem Anreizsystem gearbeitet: Die Testpersonen erhielten eine »Anerkennung« von 25 Euro, sofern sie den Testbereich regelmäßig passierten; zusätzlich wurden Preise (Apple Watch, Fitnessuhr, GoPro-Kamera) an diejenigen vergeben, die den Testbereich an mindestens 30 Tagen am häufigsten durchschritten hatten (Bundespolizei 2018: Anh. 2, Anl. 1, Pkt 6, 7). Obwohl die Gruppe der Testpersonen (darunter auch Mitglieder der Bundespolizeidirektion Berlin) vergleichsweise klein war, behauptete der Abschlussbericht, sie stelle eine »repräsentative Auswahl« der Nutzer:innen des Bahnhofs Berlin Südkreuz dar (Bundespolizei 2018: 30, Anh. 3: 2). Kritiker bemängelten jedoch, man habe weder eine repräsentative Auswahl mit Blick auf Geschlecht, Alter und Hautfarbe getroffen – es wurden schlicht alle 312 Personen für den Test akzeptiert, die sich gemeldet hatten (Bundespolizei 2018: Anh. 3: 2) – noch auf »mögliche diskriminierende Algorithmen bzw. Wirkungen einer biometrischen Gesichtserkennung« geachtet, insbesondere was die Treffer- bzw. Falscherkennungsrate bei Menschen mit dunklerer Hautfarbe betreffe (Deutscher Bundestag 2018: 7). Gerade der mögliche bias von Gesichtserkennungssystemen mit Blick auf die Nicht-/Erkennung bestimmter Humankategorien wurde im bundesdeutschen Test also nicht berücksichtigt, obwohl dies bei einer vergleichenden Erprobung dreier proprietärer Systeme nahegelegen hätte. Aber nicht allein die Repräsentativität der Testpersonen war umstritten; dies galt ebenso für den experimentellen Zeitraum, und zwar die Auswahl der ausgewerteten Wochen. Ausgehend von der nicht unproblematischen Annahme, dass sich Unterschiede zwischen einzelnen Wochentagen 301

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in jeder Woche wiederholen, erfolgte eine »Zusammenfassung der einzelnen Messtage zu Messwochen«: Aus den insgesamt 43 Kalenderwochen der Testphasen 1 und 2 wählte man pro Kalendermonat »mindestens sieben überwiegend zusammenhängende Wochentage, mithin eine Messwoche« aus (Bundespolizei 2018: 30, 31). Die Formulierung macht deutlich, dass gegebenenfalls auch sieben einzelne Tage pro Monat als Messwoche firmierten. Manipulationsmöglichkeiten sind unter diesen Bedingungen offensichtlich, da die gewünschten Ergebnisse verzerrende Daten – »dirty data« (Marx 1984; Steyerl 2018) – weggelassen werden konnten. Die Verflechtung der beteiligten Entitäten (Hardware, Software, Bahnhofsarchitektur, Testpersonen, Programmierer, Personal, Beleuchtung, Kosten, Gesetze usw.) ist also offenbar nicht nur heterogen, sondern zugleich derart dicht und kompliziert, dass »Rohdaten« (Bundespolizei 2018: 31) nur durch ein hohes Ausmaß an Konstruktionsarbeit erzeugt werden können. Ein drittes Problem verbindet sich mit den Erkennungsraten der getesteten Systeme. Gesichtserkennungssoftware arbeitet als »binärer Klassifikator« (Bundespolizei 2018: 30), was vier Optionen hinsichtlich der Erkennung von Personen bedeutet: erstens richtig positiv erkannte Personen (die Person ist in der Referenzdatenbank hinterlegt, weshalb die Software einen Treffer meldet), zweitens richtig negativ erkannte Personen (die Person ist nicht in der Referenzdatenbank hinterlegt, weshalb die Software keinen Treffer ausgibt), drittens falsch positiv erkannte Personen (die Person ist nicht in der Referenzdatenbank hinterlegt, aber trotzdem wird ein Treffer ausgegeben) und schließlich viertens falsch negativ erkannte Personen (die Person ist zwar in der Datenbank hinterlegt, aber die Software meldet keinen Treffer). Insbesondere die Kategorie der falsch positiv erkannten Fälle ist für Fragen der Humandifferenzierung interessant, da es sich hier um die Gruppe der zu Unrecht Verdächtigten handelt. Bei drohender Terrorgefahr hält der Abschlussbericht eine hohe Zahl von falsch positiv identifizierten Personen im Sinne einer »Güterabwägung« zwischen den Interessen des Staates und denen des Einzelnen für vertretbar (Bundespolizei 2018: 37f.). Da die falsch erkannten Fälle aber manuell kontrolliert und aussortiert werden müssen (Bundespolizei 2018: 29), steigt die Gefahr, dass einerseits Unschuldige als verdächtig registriert bleiben und andererseits die echten Verdächtigen in der schieren Menge der generierten Daten übersehen werden. Hinzu kommt hier noch das bewußte Überlisten der Systeme durch Kriminelle, und zwar sowohl durch Formen der Camouflage wie auch des Morphing von Passbildern (Tolosana/Vera-Rodriguez et al. 2020), wobei neuerdings selbst wieder KI-Systeme zum Einsatz kommen (Mitchum 2020). Die »ausgezeichnete[n] Ergebnisse« (Bundespolizei 2018: 8) des ersten Teilprojekts, so hält der Abschlussbericht fest, ließen erwarten, dass bei entsprechender Kamerapositionierung (Neigung, Zoom, Lichtverhältnisse) für auf dem Markt befindliche Gesichtserkennungssysteme Trefferraten von über 80 Prozent zu erwarten seien (Bundespolizei 2018: Anh. 3: 302

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19). Erstaunlich ist an dieser Äußerung zunächst, dass die Bundesregierung vorab behauptet hatte, den Erfolg des Projekts überhaupt nicht an Trefferraten messen zu wollen: »Ein erfolgreiches Erprobungsergebnis ist nicht abhängig von konkreten Erkenntnisraten. Aus Sicht des Bundesministeriums des Innern liegt ein erfolgreiches Erprobungsergebnis vor, wenn ein signifikanter Mehrwert für die polizeilichen Aufgaben der Bundespolizei festgestellt werden kann.« (Deutscher Bundestag 2017: 8) Darüber hinaus wurde die »imaginäre durchschnittliche Zahl« (CCC 2018) von 80 Prozent von keinem der getesteten Systeme erreicht; sie ergab sich nur bei Kombination aller drei Systeme (vgl. Abb. 2), von denen eines dem Abschlussbericht zufolge sogar nur rund 31 Prozent erreichte (Bundespolizei 2018: 24, 25).

Abb. 2: Trefferraten, Testphase 1 des ersten Teilprojekts

De facto lag die durchschnittliche Trefferrate selbst des besten Systems in der ersten Phase bei nicht mehr als 68,5 Prozent. Bezogen auf eine durchschnittliche Anzahl von 90.000 Passagieren pro Tag würde dies bedeuten, dass bis zu sechshundert Personen täglich falsch erkannt würden (Deutscher Bundestag 2018: 2), was zu rund 219.000 Falscherkennungen pro Jahr führen würde. Insbesondere die für den »Erfolg« des Südkreuz-Tests entscheidende Prämisse, die Arbeit der drei Systeme zu kombinieren – und entsprechend für die Kosten der Anschaffung, Implementierung und Wartung mehrerer verschiedener Gesichtserkennungssysteme aufkommen zu müssen –, wird an keiner Stelle im Abschlussbericht diskutiert. Es findet sich lediglich der Hinweis auf zwei mögliche Betriebsarten, der das Vorhandensein von mehreren Systemen unkommentiert voraussetzt: Während im »polizeilichen Alltag« Treffer nur auszugeben seien, wenn »zwei oder mehr Systeme übereinstimmend« eine Person erkennen würden (»UND-Verknüpfung«), würde dagegen bei bestimmten »polizeilichen Lagen« (z.B. Terrorgefahr) ein Treffer schon produziert, sobald eines der Systeme eine Person identifiziert (»ODER-Verknüpfung«) (Bundespolizei 2018: 24). Welcher Modus wann gewählt würde, obläge der polizeilichen Einschätzung.

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4. Arbeit an der Differenz Das erste Teilprojekt des Modellversuchs zur automatisierten Videoanalyse am Bahnhof Südkreuz weist also ein hohes Maß an Konstruktionsund Reinigungsarbeit auf. Sie richtet sich auf verschiedene Dimensionen des Versuchs: auf die Stabilisierung des Gesichts, die Erstellung der repräsentativen Stichprobe und soliden Datenbasis sowie die Konstruktion valider Trefferraten. Dabei soll diese Konstruktionsarbeit hier nicht als Zeichen eines inkorrekten Vorgehens verstanden werden (obwohl die an Durchführung und Auswertung geübte Kritik durchaus nachvollziehbar ist), sondern als notwendiger Aspekt wissenschaftlichen Erkennens. Experimentalbedingungen bedeuten immer die Herstellung eines epistemischen Gegenstands (Rheinberger 2006; Knorr Cetina 2002). Im vorliegenden Fall versprechen die zu testenden Digital-Technologien allerdings gerade eine Entlastung von jeglicher menschlichen Konstruktionsarbeit. Ihre Einführung ist begleitet von Beschreibungen der durch sie erreichten Erleichterung, Unterstützung und Erweiterung menschlichen Tuns. An keiner Stelle ist von der Arbeit der Implementierung (die Systeme funktionieren nur mit vergleichsweise neuen Kameras), den Schwierigkeiten der Durchführung (Lichtverhältnisse, Sichtwinkel), dem Widerstand der zu Erfassenden (Nutzung von Nebeneingängen, Kapuzen, Wegsehen) die Rede, also den verwickelten Kopplungen von Hardware und Software, Analogem und Digitalem, Materiellem und Sozialem. Technologien und insbesondere Digitaltechnologien einschließlich von KI-Systemen funktionieren aber nicht ›einfach so‹, sondern erfordern ein hohes Maß an Zurichtung, bevor sie das tun, was sie tun sollen. Gleichwohl trägt der proprietäre Charakter der jeweiligen Algorithmen dazu bei, den Status dieser Technologien als Blackboxes noch zu verstärken, so dass die von ihnen erzielten Ergebnisse mit einer Quasi-Objektivität ausgestattet und geradezu naturalisiert erscheinen. Dies hat mit Blick auf die betreffenden Verfahren und Infrastrukturen der Humandifferenzierung einschneidende Konsequenzen. Die beschriebene Konstruktionsarbeit verweist nämlich auf die grundlegende Frage, wer bzw. was eigentlich als Agens von Unterscheidungen zu identifizieren ist. Denn weder lassen sich KI-Technologien wie Gesichts- und Mustererkennungssoftware medienanthropologisch als ausführende Werkzeuge der durch ihre Programmierer hinterlegten Codierungen (von Humandifferenzierungen) verstehen, noch sind sie technikdeterministisch von ihnen unabhängig. Auch die Zielobjekte derartiger KI-Systeme weisen einen prekären Status auf. Wie gezeigt wurde, ist die Annahme einer Identität von Gesichtern, die Menschen voneinander unterscheidbar macht, über die Zeit vergleichsweise identisch bleiben und von Maschinen lediglich ausgelesen werden müssen, nicht haltbar. 304

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Das mit sich identische Gesicht ist vielmehr ein Artefakt, das Mustererkennungsprogramme sowie die Infrastrukturen, in die diese eingebettet sind, aufwendig herstellen und stabilisieren. Was sich am Beispiel zeitgenössischer Überwachungsregime grundsätzlich über die Infrastrukturen der Humandifferenzierung erfahren lässt, soll abschließend noch einmal im Rekurs auf die eingangs skizzierten Aspekte der Materialität, Operativität und Vernetztheit gezeigt werden. Unter dem Gesichtspunkt der Materialität tritt zu den bereits vorhandenen Elementen von Kontrollregimen in Gestalt von räumlich-architektonischen Arrangements, Ordnungsbeamten, Vorschriften, Kameras etc. mit den elektronischen Technologien ein weiteres Element hinzu, das gleichzeitig globaler und granularer als die bisherigen operiert. Der Zugriff auf die Individuen wird dabei gewissermaßen verdoppelt: Sie existieren nun nicht mehr nur als physische Körper, die der Regulierung durch Architektur oder Aufseher bzw. einer panoptischen (Video-)Überwachung unterliegen, sondern sie existieren darüber hi­ naus als Templates, d.h. als »data double[s]« (Haggerty/Ericson 2000: 613), deren weitere Verarbeitung nicht mehr an den Raum gebunden ist, in dem sie generiert wurden. Zwar lässt sich bereits das bürokratische Prinzip der personenbezogenen Akte als ein solches Datendouble fassen (man denke etwa an die Stasi-Akten), allerdings bleiben Akten schriftund papierbasiert und unterliegen damit bestimmten Beschränkungen mit Blick auf Zirkulierbarkeit und Vernetzung.15 Unter dem Gesichtspunkt der Operativität erlauben elektronische Systeme ferner die von Gilles Deleuze beschriebene informationell-»›dividuell[e]‹« (Deleuze 1993: 258) Zerlegung vormals zumindest als Körpereinheit gedachter Individuen sowie – und das ist entscheidend – ihre potentiell unendliche Auswertbarkeit auf noch unbekannte Korrelationen hin. Diese datenförmige Form der Verdopplung der Welt (Nassehi 2019) ermöglicht eine von Körpern und Identitäten abgelöste Kombination von Merkmalen, die biopolitisch neue Formen des Zugriffs auf Bevölkerungsgruppen schaffen. Die Entscheidung über einen Kredit erfolgt dann, so ein typisches Beispiel, nicht mehr auf Basis des individuellen Risikos, sondern basierend auf Postleitzahl oder Nachbarschaft, die als indirekte Proxies (Stellvertreter) für andere Indikatoren wie sozio-ökonomische oder ethnische Konstellationen fungieren (Mann/Matzner 2019: 1f.). Dadurch entstehen neue, nicht-repräsentationale Formen der Diskriminierung (Leese 2014), insofern die ihnen zugrundeliegenden Features (z.B. Browserverlauf, Lieblingsbands, Facebook Likes) als intersektionale Merkmale keinen Sinn machen würden, sondern vielmehr als 15 Bürokratische Verwaltungsformen entstehen in Reaktion auf die »Kontrollkrise« des 19. Jahrhunderts im Gefolge expandierender Verkehrsräume und Handelsbeziehungen, vgl. Beniger 1986; zur Akte vgl. Vismann 2010.

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solche »harmless« wirken (Mann/Matzner 2019: 6). Die Kombinierbarkeit genau solcher an sich nicht diskriminierender Merkmale macht diese Formen des Profiling schwer zu identifizieren und datenschutzrechtlich regulierbar. Nicht nur die Aufzeichnung verschiedener Aspekte einer Person wie im Fall der Akte, sondern ihre zukünftige massenhafte Gruppierbarkeit macht also heutige Datendoubles für verschiedenste Zwecke so effizient. Dabei ist ein Aspekt unter Humandifferenzierungsgesichtspunkten besonders relevant: Während das Individuum physisch im Laufe seines Lebens einen Wandel erlebt (Alter) bzw. herbeiführt (Frisur, Bart, Brille), bestimmte Aspekte mit Präferenzen versieht oder auch ihr »aktives Vergessen« (Nietzsche) fordert, reichern sich die entsprechenden Daten im Lauf der Zeit lediglich weiter an, wobei prinzipiell Bild auf Bild geschichtet, aber nichts gelöscht wird. Die Frage nach Konjunkturen der Humandifferenzierung stellt sich damit für Daten nicht nur aus der Perspektive des jeweiligen Referenz-Individuums, sondern vor allem für die Seite derjenigen, die diese Daten auswerten oder herausfiltern und dabei bestimmten Korrelationen von Merkmalen größere Aufmerksamkeit schenken als anderen. Unter dem Gesichtspunkt der Vernetzung schließlich sind die an bestimmten Orten lokal erhobenen Datendoubles der Individuen mit ihren Bewegungen im globalen Raum verknüpfbar (Datenbanken, soziale Netzwerke, Finanztransaktionen etc.). Damit regulieren Kontrollregime wie der Bahnhof nicht nur den konkreten Verkehr vor Ort, sie sind da­ rüber hinaus Teil der Regulation des Netzwerks globaler Verkehrsströme. Diese Vernetzungen sind dabei durch ubiquitous computing und smarte Technologien zunehmend Teil des Alltagslebens, wo sie uns etwa den Zugang zu Transport- oder Konsumeinrichtungen erleichtern und so eine Form des Umgangs einüben, der ihren Status als Werkzeuge digitaler Kontrolle in den Hintergrund treten lässt.16 Die im Kontrollregime des Bahnhofs wirksamen Humandifferenzierungen (und Diskriminierungen) werden dabei durch die algorithmischen Systeme verschärft, ohne dass dies zu einer signifikanten Verbesserung der Gefahrenabwehr (etwa gegenüber Terrorismus) führen würde. Denn Terrorgefahr bedeutet stets die mögliche Unterbrechung von Regelmäßigkeiten und Mustern. Indem eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive die Infrastrukturen und Verfahren der Humandifferenzierung in Rechnung stellt, werden Phänomene der Regulation, Klassifikation und Diskriminierung als Effekte der genutzten Technologien und der mit ihnen einhergehenden Verflechtungen verstehbar. Insbesondere die aktuell stark im Fokus 16 Im Bahnhofskontext wird etwa an die Einführung von »Gateless Gatelines« auf pay by face-Basis gedacht; vgl. etwa den Test am Londoner Bahnhof Cambridge Heath (Blunden 2018). Zu dieser in China verbreiteten Zahlungsmethode vgl. auch Liu 2020.

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stehenden automatisierten Systeme intelligenter Videoanalyse lassen sich im Kontext von Überwachungsformationen als eine spezifische »Formatierung« von Wahrnehmungsmustern (Suche nach »Gefahren«) und Einübung in affektiv-imaginäre Regime (Kultivieren von »Angst«, Versprechen von »Sicherheit« und preparedness)17 analysieren, die auf ihrer Rückseite stark asymmetrische Bewertungen bestimmter Humankategorien generieren (racial bias, gender bias etc.). Aufgrund der mit ihnen verbundenen Datafizierung (dataveillance) reichen diese Technologien über lokale Situationen weit hinaus und machen urbane Orte zu Knotenpunkten global vernetzter Überwachungsinfrastrukturen, die mit der Produktion neuer Mensch-Maschine-Hybride neue Komplexitäten und Unsicherheiten und damit immer auch neue Formen des Unterschieden-Werdens entstehen lassen.

Abbildungsnachweise Abb. 1: Screenshot (bearbeitet). Golem.de vom 15.12.2017. https:// video.golem.de/politik-recht/20266/gesichtserkennung-und-abgleich-auf-rolltreppe.html Abb. 2: Bundespolizei (2018): Abschlussbericht des Bundespolizeipräsidiums Potsdam zum Teilprojekt 1 »Biometrische Gesichtserkennung« vom 18.09.18. https://www.bundespolizei.de/Web/DE/04Aktuelles/ 01Meldungen/2018/10/181011_abschlussbericht_gesichtserkennung_ down.pdf (abgerufen 18.09.2020), S. 24.

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Herbert Kalthoff und Hannah Link

Zukunftslaboratorien Technisches Wissen und die Maschinenwesen der Robotik 1. Einleitung Digitalisierung und die sogenannte künstliche Intelligenz – dies sind nur zwei Begriffe, die in der jüngeren Vergangenheit den öffentlichen Diskurs elektrisieren und eine Gewissheit zu markieren scheinen, dass moderne Gesellschaften unwiederbringlich einem grundlegenden sozio-technologischen Wandel unterzogen sind: Dieser Wandel bedingt veränderte Formen der Steuerung und Kontrolle, der beruflichen Arbeit und Produktion, der Mensch-Maschine-Begegnungen und der sozialen Interaktion. Er ist aber auch mit Erwartungen, Befürchtungen und Imaginationen verbunden. Für die einen bedeuten Digitalisierung und künstliche Intelligenz den Aufbruch in eine neue Welt, eine Zeitenwende, durch welche digitale Technik und Gesellschaft synchronisiert erscheinen (Nassehi 2019); für die anderen stehen diese Begriffe für einen Verlust von direkter Anwesenheit, für die Bedrohung menschlicher Autonomie durch digitale Vernetzung (Stäheli 2020). Im Kontext von Digitalisierungsentwicklungen ist das Feld der sogenannten künstlichen Intelligenz besonders prominent platziert. Die Basisüberlegung, menschliches Wissen in elektronische Bauteile zu implementieren, wurde seit den 1950er Jahren mit dem Versprechen verbunden, eine maschinelle Wissensform ›ins Leben‹ zu rufen, die der menschlichen ebenbürtig ist oder diese sogar in ihre Schranken weisen kann. Auf der Grundlage kybernetischer Steuerungen soll ein Maschinenwesen entwickelt und gebaut werden,1 das menschliche Zusammenhänge (Sozialitäten, Handlungsvollzüge, organisatorische Verfahren etc.) bevölkert und ergänzt. Wie mit industriellen Robotern die Produktion von Wirtschaftsgütern automatisiert wurde (etwa in der Automobilindustrie), so sollen nun sozio-humanoide Serviceroboter das private Leben rekonfigurieren, indem sie Tätigkeiten ausführen, ansprechbar sind, 1 Kybernetik (griechisch: Steuermann) bedeutet »Selbstregelung, Automation eines Bewegungssystems« (Heidegger 1983: 16); Basis der sich selbst regulierenden oder organisierenden Maschinen ist die Berechnung und Umwandlung von Daten (›Informationen‹) und ihre Kontrolle (Galison 1997: 299ff.).

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ihre Umgebung beobachten und Bewegungen ausführen – responsive Maschinenwesen also, die ›lernen‹, ohne dass sie ihrem Verhalten, das sie umsetzen, oder dem Umfeld, in das sie eingebettet sind, oder den Dingen, mit denen sie umgehen, Sinn oder Bedeutung zuschreiben können. Die Forschung zu diesen nicht-menschlichen Formen des technischen Operierens und Speicherns (›künstliche Intelligenz‹) ist – historisch wie aktuell – durch sehr unterschiedliche Entwicklungslinien gekennzeichnet: machine learning, deep learning, machine vision, robotics – um nur einige wichtige Schwerpunkte zu nennen. Deutlich wird an diesen Begrifflichkeiten zum einen ihr auf menschliche Merkmale anspielend-metaphorischer Charakter (Intelligenz, Lernen), zum anderen ihre Absicht, Wirklichkeiten zu transformieren (vision). Die Frage, ob solche Entitäten wie ›künstliche Intelligenz‹, ›maschinelles Lernen‹, ›tiefes Lernen‹ etc. wirklich vorliegen oder technisch möglich sind, klammern wir in diesem Aufsatz ein; wir beobachten hingegen Akteure, für die diese Begriffe sinnhaft, zugleich aber auch kontrovers sind. Als sinnhafte kontroverse Objekte verweisen sie auf Auseinandersetzungen im Feld der Informatik und der Ingenieurswissenschaften um Ressourcen, Semantiken und Entwicklungsstrategien. Kurz: Wir verstehen diese technischen Bezeichnungen als emische Begrifflichkeiten der Forschung – Begriffe des Feldes also, welche die technischen Artefakte, die es hervorbringt, selbst so ausflaggt. Mit dieser Distanz ist keine affirmative Haltung zu dieser Forschung und Entwicklung verbunden, sondern ein soziologisches Wissen sowohl um die Konstruktivität technischer Welten (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002) als auch um die performative Kraft von Begriffen, mit denen die Soziologie Dinge in die Welt setzt, über die sich die Teilnehmer selbst noch verständigen.2 Wir konzentrieren uns in diesem Aufsatz auf einen Teilbereich der Forschung: die Robotik, und zwar jene Robotik, welche sozio-humanoide Maschinenwesen entwickelt und konstruiert. Die Sehnsucht nach der Mechanisierung bzw. Automatisierung von Bewegungen oder Abläufen ist keine Erfindung der Moderne. Man findet sie auch schon in der sogenannten ›Alexandrinischen Schule‹ der Antike, in den Geräten und Zeichnungen von Leonardo da Vinci (15./16. Jahrhundert), in den Konstruktionen von Jacques de Vaucanson (18. Jahrhundert) sowie in den Maschinen der industriellen Revolution des 19. 2 Es bleibt eine unerledigte Aufgabe für die Soziologie, den emischen Begriffen eigene Konzepte an die Seite zu stellen, um Mensch und Maschine begrifflich differenzieren zu können. In seinen Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik fragt Ludwig Wittgenstein: »Rechnet die Rechenmaschine?« (Wittgenstein 1994: 257). Die Differenz – das menschliche Be-/Rechnen von Größenverhältnissen, Geldsummen etc. folgt anderen Logiken als algorithmisch gesteuerte Operationen von Rechnern – ist auch begrifflich zu fassen.

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Jahrhunderts. Am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstehen dann verschiedene Forschungs- und Entwicklungslinien von Robotersystemen für ganz unterschiedliche Einsatzfelder (u. a. als Indus­ trieroboter, Autopiloten im Flugverkehr und Schiffsverkehr). In diesem Aufsatz fokussieren wir die Fabrikation dieser ›artifical companions‹ (Pfadenhauer 2018). Bislang hat die Soziologie die Arbeit an diesem Robotertypus verschiedentlich adressiert: etwa als Ingenieurspraxis der Konstruktion künstlicher Interaktion (Braun-Thürmann 2002), als rollentheoretisch informierten Designprozess, mit dem soziale Komplexität reduziert und Reaktionsfähigkeit des Roboters hergestellt wird (Meister 2014; Meister/Schulz-Schaeffer 2016), oder als Arbeit an einer neuartigen sozialen Kategorie (Muhle 2019). Die Entwicklung der Robotik ist auch Gegenstand der Technikfolgenabschätzung, die Fragen der sozialen Auswirkung und institutionellen Kodifizierung von Maschinenwesen behandelt (Decker et al. 2017). Empirisch beobachtet wurden u.a. Erprobungen des Kommunikations- und Erkennungsverhaltens von Robotern für die Therapie autistischer Kinder (Dautenhahn/Werry 2004), die Rolle des menschlichen Körpers bei der Programmierung maschineller Bewegungen (Alač 2009) sowie die Grenzen der Mathematisierung real­ weltlicher Phänomene (Pitsch 2016). Gegenüber diesen Arbeiten, die noch Fragen offenlassen (etwa zur Praxis der Formalisierung; hierzu Suchmann/Trigg 1993), betrachten wir den sozio-humanoiden Roboter im Kontext von Entwurfs- oder Designpraktiken und thematisieren seine Ambiguität. Wir beobachten aus einer wissenssoziologischen Perspektive die Arbeit an der Zukunft menschlicher Begegnungen mit humanoiden Teilnehmern. Der Typ des sozialen, humanoiden Roboters ist ein durch und durch technisches Artefakt, so gebaut, dass ihm seine Nutzer:innen und Rezipient:innen menschenähnliche Züge zuschreiben können und auch zuschreiben sollen. Dies geschieht durch einige wenige, technisch gefertigte Anspielungen oder Simulationen auf die menschliche Gestalt (Attrappen von Ohren und Augen, Mund und Nase etc.) sowie durch stereotype Bewegungen (etwa ein Blick, der Beschämung darstellt). Sinn dieser Anspielungen oder Anmutungen ist ihr sozialer Aufforderungscharakter – eine Einladung, dieses Maschinenwesen nicht als Artefakt zu sehen, sondern mit ihm zu interagieren, Grimassen zu schneiden, mit ihm zu sprechen, ihm zuzuhören oder den Touchscreen zu berühren. Maschinenwesen legen den Umgang mit ihnen nahe – ein Umgang, der sie als menschenähnliche Akteure konstituiert (Alač 2016) und der sie laufend neu überschreibt und programmiert.3 Ging Heidegger (1983: 16f.) noch davon aus, dass die Differenz 3 Wie Medientheorie und Wissenssoziologie darlegen, wirken Menschen, indem sie digitale Tools verwenden, auf deren verfügbaren Datensatz ein: Eine technische Responsivität, die unseren Umgang registriert und aufnimmt.

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von Menschen und Maschinen eingeebnet wird, zeigen wir, dass es sich um ambige Objekte handelt, die zwischen Menschen und Technik positioniert sind. Die Objektambiguität entsteht durch die Art und Weise, wie diese Maschinenwesen mit ihren Bewegungen, ihrem technischen (Un-)Vermögen und mit ihren Lauten auf Menschen wirken, sodass diese ihnen eine irgendwie geartete Menschenähnlichkeit zuschreiben können – die Differenz aber doch erhalten bleibt und erkannt wird. Ziel der Konstruktionsarbeit ist es daher, die Mensch-Artefakt-Begegnung so zu gestalten, dass sie trotz ontologischer Ambiguität möglichst störungsfrei stattfinden kann.4 Mit diesem intentional-technischen recipient design entwickeln, gestalten und testen Roboteringenieur:innen ein Maschinenwesen, dessen heuristischer Sinn gegenwärtig noch wesentlich darin besteht, als ein epistemisches Ding Fragen für die Forschung aufzuwerfen (Rheinberger 2001: 24ff.). Bezugspunkte dieser Forschung sind erstens die Entwicklungen innerhalb des Forschungsfeldes selbst, zweitens sind es Menschen mit ihrem ganz spezifischen In-der-Welt-Sein, ihrem Bewusstsein und Wissen, ihrem Handlungs- und Vorstellungsvermögen etc. Die Forschung will »verstehen« (Ingenieurswissenschaftler), wie Bewegungen, Interaktionen, Lernen etc. bei Menschen ablaufen bzw. funktionieren, um diese neuen Geräte (Roboter) entsprechend entwerfen und bauen zu können. Die Frage der Ingenieur:innen ist somit: Was wird von Menschen getan und wie wird es getan (Keil 1998: 115)? Zugleich geht es aber auch nicht darum, Menschen als Menschen zu kopieren, sondern deren Denk-, Wahrnehmungs- und Bewegungsvermögen als Anregungspotential für eigene Forschungszwecke zu nutzen; Menschen – und auch andere Lebewesen (Brooks 2002) – fungieren daher als eine weitere heuristische Referenz dieser Forschung. Wenn beispielsweise bei Menschen das Hinfallen und Aufstehen oder das Erkennen und Greifen eines Objektes (etwa eines Wasserglases) beobachtet oder imaginiert werden, dann stellt sich aufseiten der Roboteringenieure die Frage, wie diese Bewegung und Zeichenverarbeitung maschinell nachgebildet werden können. Kennzeichnend für die Roboterforschung ist daher eine Zweifach-Heuristik, die sich für die Nachbildung am ›Menschen‹ (respektive an den Vorstellungen über Menschen) orientiert, für die technische Realisierung hingegen an ersten Robotertypen oder ersten Elementen (etwa einem Roboterarm). Zugleich verwandelt die Robotik diejenigen Sozialitäten, in denen sie ihre Produkte in einem Feldversuch 4 Die Ambiguität, die sich in der Mensch-Roboter-Begegnung entfalten kann, wird u. a. durch die wahrgenommene (Un-)Ähnlichkeit bestimmt: Verschiebt sich etwas Menschenunähnliches in den Bereich des Menschenähnlichen, verstärkt sich in der menschlichen Wahrnehmung die Neigung, das Unähnliche im Ähnlichen zu aktualisieren und so different zu setzen (Mori 2019).

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praktisch erprobt, in ein extended laboratory (Alač 2016) – eine Versuchsanordnung zur Beobachtung von Menschen im Umgang mit Maschinenwesen sowie der Maschinenwesen selbst in der Umsetzung ihrer Funktionalitäten. Die technische Entwicklungsarbeit und ihre Intention, Interaktion und Verwendung in Gang zu setzen, bedingt eine Arbeit an der Gestalt und am Innenleben des Maschinenwesens. Grundlage der Entwicklungsarbeit und der Wissensaktivitäten in den Laboren sind Beobachtungen von (Alltags-)Theorien über den Menschen, seiner Umwelt und seiner Kultur, in der er sich bewegt: Wie schon erläutert, ist der ›Mensch‹ ein Referenzobjekt für diese Entwicklungsarbeit. Er ist dies in einer auf wesentliche Merkmale reduzierten, von lokalen oder kulturellen Besonderheiten abstrahierten und vor allem vereinfachten Form: Der Blick der Roboter­ ingenieur:innen richtet sich u. a. auf die menschliche Fähigkeit der koordinierten Bewegung des Körpers und im Raum, auf die Fähigkeit, Situationen und Objekte zu erkennen und zu unterscheiden, sowie auf die Fähigkeit, Erfahrungen zu synthetisieren. Als wichtige Frage- und Problemstellungen der Forschung lassen sich daher u.a. die Lokalisierung und Navigation (Bewegung), die Bild- und die Zeichenverarbeitung (Wahrnehmung, Lernen) ausmachen. Diese Wissensaktivitäten, Selektionen und Entscheidungen stehen im Fokus unserer Forschung. Mit den hier skizzierten Überlegungen beobachten wir wissenschaftliche wie alltägliche Vorstellungen, die Unterscheidungen und Kategorisierungen menschlicher Fähigkeiten und Beschaffenheiten vornehmen. Wir gehen davon aus, dass diese Entwicklungspraxis in eine Vielzahl von Entscheidungen eingebettet ist – über die technische Architektur, über Funktionalitäten und Oberflächen, über Vorannahmen und Testläufe. Dabei verfolgen wir das Ziel, die Laborpraxis der Robotik wissenssoziologisch zu explizieren und damit das involvierte sozio-materielle Wissen in den Blick zu nehmen. Wir diskutieren, wie durch die Laborpraxis der ontologische Status von Mensch und Maschine an der Außengrenze des Humanen verhandelt wird. Hierzu kontrastieren wir drei ausgewählte ingenieurs- respektive technowissenschaftliche Design­ansätze der Roboterarchitektur. Gemeinsam ist allen drei Entwicklungslinien, dass sie die Idee einer vollständigen Repräsentation, wie sie für die ›gute alte KI‹ kennzeichnend war, nicht weiterverfolgen.5 Roboterforscher:innen nahmen an, dass der ›menschliche Geist‹ 5 Diese Roboterarchitekturen sahen vor, technisch alle denkbaren Zustände der Umwelt und des Roboters symbolisch zu implementieren, und zwar bevor der Roboter in seiner Umwelt operiert. Der Roboter bewegt sich dann innerhalb dieser Handlungspläne in einer symbolisch abgebildeten Umwelt, die sehr große Datenbanken und starke Rechnerleistungen erfordert. Zu dieser ›guten alten KI‹ (good-old-fashionend AI, GOFAI) siehe Boden (2014).

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als ein für sich existierender Bereich separat modelliert werden kann. Demzufolge kam die Modellierung von Intelligenz ganz ohne den Einbezug eines (mechanischen) Korpus aus und wurde als effizientes Verarbeiten von Zeichen oder Symbolen verstanden (Minsky 1985; Weber 2017).6 Die Welt – so die Vorstellung – erhält ein symbolisches Korrelat im Geist des Menschen, das intern bearbeitet und an die einzelnen Gestaltelemente (Arme, Beine) weitergeleitet wird. Intelligenz war in diesem Verständnis eine räsonierende Zentralinstanz, die – nach einem Input-Output-Schema – große Datenmengen durchforstet, sie bearbeitet und Handlungsanweisungen ausgibt. Indem der menschliche Geist als funktionales System begriffen wurde, stellte er eine unmittelbare Vergleichsmöglichkeit mit der Arbeitsweise von Computern her (Becker/ Weber 2005). Auf diese Weise war es für die Computerwissenschaften möglich, mit bereits etablierten Arbeitsweisen daran anzuschließen: Computer konnten Schach spielen und Gleichungen lösen, Roboter konnten Klötzchen stapeln. Die Frage aber nach Eingriffsmöglichkeiten in die Welt wurde vor dem Hintergrund der Annahme, dass der körperliche Akt schlicht der Effekt kognitiver Vorarbeiten sei, auf einen peripheren Kanal reduziert. Diese Systeme waren in solchen Bereichen erfolgreich, deren Ablauf durch eindeutige Regeln festgelegt ist. In Situationen, die weniger eindeutig zu bestimmen waren und mehrfache Koordinationen erforderten (etwa ein Glas erkennen, es greifen und festhalten), blieb der Erfolg aus. Funktionierte die rechnergestützte Kalkulation etwa von Spielzügen gut, blieben Eingriffe in die Umgebung durch einen Roboter jenseits der ›Klötzchenwelten‹ hinter den Erwartungen zurück. Im Folgenden skizzieren wir die Annahmen, die den drei ausgewählten Entwicklungslinien zugrunde liegen, und erläutern deren Vorgehensweisen – für die emergente (2), die neuronale (3) und die analoge Robotik (4). Wir arbeiten verschiedene Akzente heraus, welche die Ansätze in ihrer Entwicklungsarbeit setzen: In der emergenten Robotik ist es die Vorstellung des Menschen als eine sich entwickelnde Entität; in der neuronalen Robotik ist der Mensch wesentlich Kognition, die Wahrnehmungen verarbeitet und Wünsche hervorbringt; in der analogen Robotik interessiert der Mensch als vielschichtiger Bewegungskörper. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Relevanz einer kulturanalytischen Wissenssoziologie zu den Außengrenzen des Humanen ab (5). Es soll deutlich werden, dass die Unterscheidungen, welche die Konstrukteure dieser Artefakte durchgängig vornehmen, Auskunft darüber geben, welche 6 Um die Differenz zum menschlichen Körper begrifflich zu markieren, sprechen wir in diesem Aufsatz vom Korpus des Roboters; zur Denaturalisierung des menschlichen Körpers in der Roboterforschung siehe Weber (2003).

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Annahmen über den Menschen, über seinen Alltag, über soziale Begegnungen, über Ordnungswünsche etc. (alltags-)theoretisch formuliert und technisch-materiell in die Maschinenwesen eingeschrieben werden. Unser Beitrag fußt auf einer Pilotstudie mit bislang sechs Interviews mit Roboteringenieuren.7

2. Emergente Robotik Die sogenannte neue KI setzt sich von der kognitionswissenschaftlichen Ausrichtung der Forschung ab und verfolgt einen eher holistischen Ansatz. Inspiriert durch entwicklungspsychologische Konzepte geht sie davon aus, dass ein responsives Verhalten erst durch körperliche Interaktion mit der Umwelt emergiert: Entitäten benötigen einen Körper (oder Korpus) und eine Umwelt, um Wissen (›Intelligenz‹) entwickeln und einüben zu können. Die New AI ist damit der erste Ansatz, der Robotik und KI-Forschung synergiert und damit auch als New Robotics bezeichnet werden kann. So ist sie nicht nur mit der Frage nach der Rekonstruktion von Intelligenz, sondern partiell auch mit der ReKon­struktion des Roboterkorpus beschäftigt. Hierzu schließt die New AI methodisch an die Bottom-Up-Logik der Netzwerktheorie an, wendet sich jedoch von deren repräsentationalen Verständnis von Kognition ab (Weber 2017). Rodney Brooks (2017) setzte Mitte der 1980er Jahre auf die evolutionäre Emergenz von Intelligenz durch die Einbettung eines Systems in dessen Interaktion mit der Umwelt. Kognition wird hier als ein in zweifacher Weise verteiltes Phänomen beschrieben. So emergiert Intelligenz erstens nicht allein aus dem bezugnehmenden System heraus, sondern durch die Interaktion zwischen Roboter und Umgebung. Zweitens besteht das System als ein Netzwerk verschiedener einfacher, endlicher Zustandsautomaten8, die je für sich auf Umweltimpulse reagieren: »Nicht nur, dass es keine Repräsentation gibt, es gibt nicht mal ein zentrales 7 Die Interviews dauerten 50–120 Minuten und konnten zum Teil aufgezeichnet werden; von den Interviews, die wir nicht aufzeichnen konnten, haben wir Gedächtnisprotokolle erstellt; die anderen Interviews wurden von uns transkribiert. Die Herstellung der Gesprächsbereitschaft bedurfte in der Regel einiger Überzeugungsarbeit. Dies ist uns nicht immer gelungen und nicht wenige Akteure, die wir kontaktiert und denen wir unsere Forschung erläutert haben, waren nicht zu einem Interview bereit (nicht selten mit dem Hinweis auf die Arbeitsbelastung). 8 Zustandsautomaten (wie etwa Fahrstühle, Kaffee- oder Getränkeautomaten) sind auf Informationsverarbeitung angelegt und sehen jeweils verschiedene Zustände von Objekten vor (Randen et al. 2016).

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System« (Brooks 2017: 158). Impulse werden also anders als bei der Verarbeitung durch künstliche neuronale Netze später nicht zu einem kohärenten Bild zusammengefügt, sondern erzeugen eine »Ansammlung konkurrierender Verhaltensweisen« (Brooks 2017: 158). Die endlichen Zustandsautomaten sind sich gewissermaßen selbst genug. Erweitert wurde dieser Ansatz in Bezug auf die technisch-maschinelle Darstellung von Emotionen (Breazeal 2002): Systeme, die mit ihrer menschlichen Umgebung interagieren sollen, sind – so die Annahme – darauf angewiesen, sich die indigenen Kommunikationsmechanismen der menschlichen Spezies anzueignen. Den Robotern wird also eine Reihe von Funktionen eingeschrieben, mit denen basale emotionale Zustände dargestellt und kommuniziert werden können, mit dem Ziel, die wahrnehmende Umgebung in einer Weise zu beeinflussen, dass sie das Maschinenwesen im Lernprozess unterstützt. Einen der ersten Roboter im Feld der emergenten Robotik entwickelte Cynthia Breazeal Ende der 1990er Jahre mit Kismet: ein sozialtauglicher, anthropomorpher Roboterkopf, der auf die Face-to-Face-Interaktion mit Menschen spezialisiert war (siehe Abb. 1). Kismets Funktionen (etwa seine Sensoren und die Freiheitsgrade seiner ›Gesichtspartien‹) sind darauf ausgelegt, Hinweise zu empfangen und Gefühlszustände darzustellen, um auf diese Weise mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten, ohne dabei weitere Differenzierungen (geschlechtliche, ethnisch-geographische, religiöse, politische etc. Zugehörigkeiten) zu markieren. Schließlich wurde Kismet nicht dafür entwickelt, um außerhalb des Labors eingesetzt zu werden; vielmehr ist er ein Produkt aus der Laborpraxis für die Laborpraxis und – wie wir noch zeigen werden – für die sogenannten ›Human Studies‹.

Abb. 1: Kismet © Science Photo Library / Ogden, Sam

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Kismets Programmierung ist darauf ausgelegt, dass er selbst in regelmäßigen Abständen mit Menschen interagieren ›möchte‹. Er ist also in einem ›stand-by‹ Modus, d. h. jederzeit ansprechbar und aktivierbar. Diese technisch-maschinelle ›Neigung zur Interaktion‹ ist eine in digitaler Schrift verfasste Verhaltensvorlage. Hat Kismet über einen längeren Zeitraum keinen Ansprechpartner, stellt sein Gesichtsausdruck ›Beschämung‹ oder ›Traurigkeit‹ dar, so, wie seine Programmiererin ›Beschämung‹ oder ›Traurigkeit‹ kulturell versteht – und sei es unter Zuhilfenahme von Forschungen zur Darstellung von Gefühlen. So bedienen die Mimik und die Bewegungen des Roboterkopfes kulturelle Vorstellungen von menschlichen Begegnungen. Man kann Kismets Bewegungen als Ausdruck von Gefühlen deuten und dabei mimische Ähnlichkeiten identifizieren und zuschreiben. Durch diese Darstellung soll der Roboter gezielt menschliche Reaktionen erzeugen (Äußerungen, körperliche Reaktionen), die er dann aufzeichnen, abspeichern und berechnen kann. Der Roboterkopf evoziert also menschliche Äußerungen oder Verhalten, mit dem Ziel, ›lernen‹ zu können. In den Worten der Entwicklerin: »I’m building a robot that can leverage off the social structure that people already use to help each other learn. If we can build a robot that can tap into that system, then we might not have to program every piece of its behavior.«9

Dieser Ablauf ist – aus Sicht der Entwicklerin – die Voraussetzung dafür, dass Kismet ein ›irgendwie‹ menschenähnlich gestaltetes Verhalten umsetzen und realisieren kann und sich dabei entwickelt. »Entwickeln« meint hier eine kontinuierliche Überschreibung bisher implementierter Skripte. Deutlich wird auch, dass die Entwicklerin ein ökonomisches Argument vertritt: Gelingt es, an das soziale Geschehen anzuschließen, das Menschen immer schon voneinander lernen lässt, kann man einen Roboter bauen, der unfertig und offen ist, der ›lernen‹ kann. Der Roboter soll also gewisse Implementierungen selbst übernehmen und die Entwickler:innen von der Arbeit des Formalisierens entlasten können. Jenseits ökonomischer Überlegungen zeigen sich mit der Inskription dieser Eigentätigkeit aber auch Vorstellungen über die Beschaffenheit ›des Menschen‹. »The robot is designed to be […] similar in spirit to a human infant. That is, the robot starts off in a rather helpless and primitive condition, and requires the help of a sophisticated and benevolent caretaker to learn and develop. The interaction between the caretaker and the robot is purely social, much like how a mother interacts with her infant. The sorts of capabilities targeted for learning are those social and communication skills exhibited by human infants within the first year of life.«10 9 Siehe: https://news.mit.edu/2001/kismet (zuletzt geprüft: 24.09.2020). 10 Siehe http://www.ai.mit.edu/projects/sociable/ongoing-research.html (zuletzt geprüft: 24.09.2020).

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In diesem Auszug rekurriert die Entwicklerin auf entwicklungspsychologische und anthropologische Überlegungen zur Natur des Menschen. Sie beschreibt den Roboter, als sei er ein Kind, das von seinen signifikanten Anderen umsorgt wird und ›lernt‹, seine Bezugspersonen zu erkennen, wie sie mit ihm umgehen usw. In dieser Erzählung fungiert die Figur des Kindes als plausible Modellvorstellung vom Menschen – eine Rohfassung des Humanen, jenseits kultureller Inskriptionen sowie ein Ausgangszustand am Beginn der Menschwerdung. Das Kind dient damit als Modell für praktische und theoretische Operationen der Entwicklungsarbeit in den Laboren. Die Annahme ist, dass Kismet von der Art und Weise, wie wir als Menschen auf kleine Kinder reagieren, profitiert. Eltern etwa würden mit ihrem Baby in einer sehr eindeutigen Weise kommunizieren, ihre Mimik und Intonation übertreiben, um sich ihrem Neugeborenen besser verständlich zu machen. Auf der Basis dieser Spiegelung des Status im Verhalten des Anderen soll Kismet sich technisch aus sich selbst heraus erneuern und überarbeiten oder überschreiben können – eine Selbstprogrammierung also durch Aufzeichnung und Nachahmung externer Stimuli, gewissermaßen Kumulation und Iteration. Die Idee ist, ihn in seinem Entwicklungsprozess zu unterstützen, aber nicht zu determinieren, d. h. Verhaltensweisen nicht vorgängig einzuprogrammieren. Im Gegensatz zur oben erläuterten Philosophie der Repräsentation folgen die Entwickler:innen von Kismet einem Kumulationsmodell: Zu Beginn gibt es nur einige grundlegende Bewegungen und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Alles Weitere soll ein Bündel an Softwares (installiert auf einem Mikroprozessor) aus dem anthropologischen Kontakt selektieren und implementieren. Durch seine Sensoren – Kameraaugen und Mikrofone – und seine kybernetische Steuerung zeichnet Kismet menschliche Kopfbewegungen und Sprechweisen auf, führt dann einige Rechenoperationen durch, die schließlich zu Bewegungen seinerseits führen: Er senkt etwa den Kopf, die Ohren und seine Augenlider und blickt immerzu seinen Gegenpart an, zeichnet weitere Bewegungen und Stimmen auf und verwendet sie operativ. Auf diese Weise spiegelt Kismet das mimische und sprachliche Verhalten des Menschen. Der Roboter steht also für eine technisch erzeugte Mimikry, einfache Bewegungen der Bauteile und eine eigenständig operierende Rechnerarchitektur. Das erste Ziel ist, beobachtbare und speicherbare Reaktionen in Gang zu setzen, die für eigene Operationen umgeschrieben werden können. Das zweite Ziel ist, dass Kismet dies allein realisieren kann. Er soll nicht auf situative Eingriffe in seine Architektur durch seine Entwickler:innen angewiesen sein – aber doch auf externe Impulse durch Menschen. Im Kern geht es dabei um die systematische Produktion von Unbestimmtheiten. Der Roboter wird durch die Implementierung von Basisoperationen mit einer technischen Potenz ausgestattet, die operative Kumulationen vorsieht, aber offenlässt, ob und wie dies geschieht. 323

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Das Labor, in dem Kismet entwickelt und gebaut wurde, schließt also an diejenige Kognitionsforschung an, die Kognition als verkörpert, verteilt und situiert auffasst. Kognition gilt in dieser Forschung nicht mehr als eine Instanz, die intern verfügbare Repräsentationen verarbeitet und Handlungsbefehle ausgibt. Vielmehr geht man davon aus, dass ›Aktivitäten‹, ›Sinnesleistungen‹ etc. zu diesem Wissen dazugehören. Mit der gleichzeitigen Verarbeitung von Daten durch unterschiedliche Einheiten soll die Rechen- und Reaktionszeit des Roboters verkürzt werden. Nicht mehr nur eine Einheit repräsentiert das ›Bewegungswissen‹, es sind mehrere unterschiedliche, miteinander verknüpfte Rechnereinheiten. Mit der Annahme der Situiertheit von Kognition geht man davon aus, dass Roboter mit dieser Architektur besser in ihre Umgebung eingebettet sind und auf diese Weise das Handeln von Menschen besser ›nachbilden‹ oder imitieren können. Die empirische Welt ist gewissermaßen ihr ›Verhaltensmodell‹ (Brooks 2017; B ­ reazeal/ Brooks 2005). Als ein geradezu selbstreferentielles System führt Kismet das operative ›Kennenlernen‹ seiner Umgebung selbständig aus. Technisch geschieht dies durch Teilsysteme, die an die Stelle eines Zentrum-Peripherie-Modells getreten sind. Die Teilsysteme sind horizontal angeordnet und können gleichberechtigt agieren, sich aber auch je spezifisch überschreiben. Die Rechnereinheiten arbeiten für sich und geben ihre Ergebnisse weiter – sie sind also aufeinander abgestimmt. Die Signale müssen dabei nicht zwangsläufig mehrere Systeme durchlaufen, bis es zu einer Reaktion kommt, sondern können direkt beantwortet und fast zeitgleich unter anderen Aspekten bearbeitet werden. Die Entwickler:innen zielen damit auf die Flexibilisierung des Systems, entlang von Umwelterfordernissen. Damit geht einher, dass die Referenz der Roboterforscher:innen nicht mehr das autonome Subjekt ist, sondern eine kaum berechen- und repräsentierbare Umwelt, zu der Kismet das Korrelat darstellen soll. In die extern angebrachten Platinen und Rechner dieses Roboterkopfes wird also keine Idee des menschlichen Denkens implementiert, sondern eine Verhaltensarchitektur, die ihn und die Welt in Relation setzt. Dieser Zweig der Robotik orientiert sich nicht an einem spezifischen menschlichen Denkapparat, sondern an menschlichen Körpern, deren Bewegungen und Gestiken, die auf Umweltreize reagieren. Kismet steht somit auch für eine Verschiebung des ingenieurwissenschaftlichen Interesses vom Sein auf das Tun – von der biologischen Gehirnsubstanz und dessen Aktivitäten hin zu der Frage, wie man praktischen Anforderungen gerecht werden kann.

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3. Neuronale Robotik Andere Roboterentwickler:innen konstruieren für die Berechnung großer Datenmengen sogenannte künstliche neuronale Netze, die ihrerseits mathematisch modelliert sind. Bei diesen Daten handelt es sich bislang weniger um sensorisch erzeugte Daten, sondern vor allem um Bilder (Gesichtserkennung), Sprache (Spracherkennung) oder um graphische Repräsentationen. Die Bearbeitung von Bildern durch ein solches künstliches neuronales Netz sieht dann vor, dass – Schicht für Schicht, Kategorie für Kategorie – einzelne Bildelemente (Helligkeit, Linien, Farben etc.) separat nach einem Muster durchforstet und schließlich auch wieder zusammengeführt werden (Lenzen 2002). Ziel ist es, künstliche neuronale Netze zu befähigen, (verborgene) Muster zu identifizieren und ggf. auch zu kategorisieren. Bei diesem wiederholten Berechnen von Daten operiert das künstliche neuronale Netz in einem sich wiederholenden Ablauf von Abstraktion, Kumulation und Feedback (Nassehi 2019).11 Metaphorisch ausgedrückt ›lernen‹ diese so figurierten Rechner: Sie können das, was sie kumulativ gespeichert und berechnet haben, durch statistische Verfahren verallgemeinern (Ramge 2018). Fehler, die dabei entstehen, werden vom System als Differenz von Ausgangs- und Zielgröße registriert und vom künstlichen neuronalen Netz für die Anpassung der Operationen genutzt (Rumelhart 1997). Dies bedeutet auch, dass Fehler durch den bereits definierten Ergebniswert initiiert sind, der seinerseits Bestandteil des mathematischen Designs des neuronalen Netzes ist. Die mathematische Modellierung von Referenzpunkten der ›Wirklichkeit dort draußen‹ markiert etwas als etwas: So werden bspw. Bildgegenstände als »Apfel« oder als »Birne«, als »Hund« oder als »Vogel«, als »Mensch« oder als »Maschine« kategorisiert. Dies impliziert, dass die vielfältigen Erscheinungen von Gegenständen mathematisch auf eine Formel gebracht und damit vereinfacht und genormt werden. Minsky (1997) verweist diesbezüglich auf die Tragweite der Entscheidung bei der Vorgabe von Zielgrößen: Die Formalisierung realweltlicher Bezugspunkte kulminiert in einer eindeutigen Ein- und Ausschlusslogik (richtig/ falsch). Das heißt: Entwickler:innen oder Computerwissenschaftler:innen implementieren in ihre Systeme ›unbesehen‹ eine kulturelle Syntax und geben diese als Normalität der Welt aus.12 11 Eine steigende Rechnerkapazität lässt neuronale Netze vielfältige Muster (wieder-)erkennen und ihre Ergebnisse deduktionslogisch übertragen (Nassehi 2019: 234ff.). Zu einer Form geschichteten Operierens mit sogenannten ›endlichen Automaten‹ vgl. Brooks (2017). 12 Die problematische Dimension dieses markierenden Input-Output-Mechanismus wird immer dann offensichtlich, wenn es zu gravierenden Fehlkategorisierungen kommt. Dieses Problem, dass ein in den Programmen

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Kennzeichnend für diesen ingenieurswissenschaftlichen Forschungsansatz, ›lernende Rechnersysteme‹ zu konstruieren, sind zum einen Überlegungen zum ›Lernen‹, die u.a. auf alltagsweltliche und behavioristische Annahmen Bezug nehmen, zum anderen die zentrale Stellung der elektronischen Rechnerbauteile, die – als neuronales Netzwerk gebaut – mit eindeutigen Zielgrößen operieren, die Berechnungen kalibrieren und Abweichungen justieren. Zur Frage, ob und wie diese Rechnertechnologie in der Robotik genutzt werden kann, meinte ein Roboterforscher: Ing:

Sagen wir so. Im Moment ist ja ohnehin der Trend, dass die Leute diese tiefen neuronalen Netze, die natürlich durch die Architektur des Gehirns irgendwie modelliert sind, benutzen, um in neue Dimensionen vorzustoßen. Da ist man, was so die Kompetenz wie Sprachverstehen, Bildverarbeitung, Mustererkennung und so – da ist man ja im Moment wirklich deutliche Schritte weiter, als man das noch vor zehn Jahren war. Und das zu übertragen auf die Robotik, wie tatsächlich auch Reaktionsausführung, das ist auch noch mal eine Herausforderung. Bei bestimmten Aufgaben geht das ganz gut, weil sie sehr stark an reinen Bildverarbeitungsprozessen dran sind. Beispielsweise, wenn Sie sich mit der Kamera lokalisieren wollen. Also Sie wollen lernen, wo ist das Bild aufgenommen worden oder wie weit bin ich gelaufen? Das geht dann auf der Basis von Kamerabildern schon sehr, sehr gut. Aber diese Sachen, das tatsächlich in Aktion auszuführen, tatsächlich eben mit der Umgebung zu interagieren, das ist noch mal kompliziert. […] Beispiel aktuell, das ist die Frage: Wie müssen diese Netzwerke aussehen? Was braucht man eigentlich für so ein Netzwerk? Wie sind die Einzeloperationen? Wie sind die Schichten?

Unverkennbar thematisiert der Roboterforscher die Möglichkeiten, die die Netzwerktechnologie für die Mustererkennung, Bildverarbeitung etc. bietet; ihr Merkmal ist aber die nachträgliche Berechnung von immobilen Daten (›wie weit bin ich gelaufen‹) anhand von Kriterien und ›Schichten‹, die nacheinander und wiederholt nach Mustern durchforstet werden. Unklar ist hingegen, wie die Netztechnologie zu entwerfen ist, wenn sie für die Interaktion von Maschinenwesen mit einer sich ändernden Umgebung Muster erkennen, Bilder verarbeiten etc. soll, die wiederum in die ›Reaktionsausführung‹ berechnend einfließen. Eine solche Roboter-in-Action-Netztechnologie wirft – diesem Informanten zufolge – die Frage auf, wie Lokalisierung (Navigation) und Objekterkennung bei gleichzeitiger Bewegung des Roboters synchron prozessiert werden können, sodass Objekte auch bei sich ändernden Ab- und Zuständen enthaltener Bias verstärkt wird, diskutiert die Forschung zum ›maschinellen Lernen‹ als Problem der fehlenden Fairness programmierter Urteilsregeln (Bolukbasi et al. 2016).

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erkannt werden können (›Dies ist ein Baum‹). Basis dieser semantischen Unterscheidung ist auch hier wiederum eine »interne Repräsentation« (Ingenieur) und somit die berechnete Mustererkennung auf der Grundlage der vorliegenden sensorisch importierten Datenmenge. Auch diese Roboterforschung orientiert sich nicht am (alten) Paradigma einer mehr oder weniger vollständigen Repräsentation der Welt; ihr Handlungsproblem ist vielmehr, eine elektronisch-digitale Grundlage zu schaffen, mit der sozio-humanoide Roboter in der für sie designten Umwelt sinnhaft vorgehen können. In diesem Zusammenhang stellt sich das Problem, sie so zu programmieren, dass sie Präferenzen ihrer Nutzer:innen auch erkennen und umsetzen (›lernen‹) können. Das Verhalten der Nutzer:innen soll als Modellhandeln aufgezeichnet, gespeichert und berechnet werden, um es dann abrufen zu können. Somit ist das Verhalten der Nutzer:innen die zeitlich spätere Programmierung des Maschinenwesens, das diesen gebrauchenden Zusammenhang voraussetzt. Aber wie ›lernt‹ ein solches Maschinenwesen die Dinge des Alltags? Am Beispiel des Aufräumens eines Küchentisches plausibilisiert ein Ingenieurswissenschaftler die Komplexität der Aufgabe: Soz:

… Wie kommen Sie denn da auf solche Szenarien?

Ing:

[…] Also die Idee den Küchentisch aufzuräumen, das gibt’s natürlich schon lange, weil die in der Robotik immer über solche Probleme sprechen. Also wenn Sie da über einen Haushaltsroboter reden, dann ist das die Sache Nummer eins: […] Können wir einen Roboter bauen, der einfach aufräumen kann? Und wenn man sich das mal genauer überlegt, stellt man erstmal fest, wie schwierig das eigentlich ist, solche Sachen zu machen und dann natürlich auch die Präferenzen vom User zu lernen. Also dann bitte auch so, dass man die Sachen auch dahin räumen soll, wo der Mensch die gerne haben will. Und wenn Sie jetzt irgendwas Neues gekauft haben, was der Roboter noch nie gesehen hat, dann muss der [...] einen Vorschlag machen, wo das denn hinkommen könnte. Das muss ja irgendwie sinnvoll sein. Wenn man alles zufällig machen würde, das wäre so wie im Supermarkt: alles durcheinanderbringen. Dann finden Sie sich hinterher nicht mehr zurecht in ihrer eigenen Küche. Also muss es schon/ ja, das haben wir gemacht, über crowd sourcing.

Soz:

crowd sourcing?

Ing:

Wir haben dann einfach Bilder generiert, haufenweise von Objekten (unten im) Regal, die wir auch eingeräumt haben, also meine Studierenden, und haben dann über das Internet Leute gefragt: ›Wo würdest du das hinstellen in dem Regal?‹. Und so können Sie so eine Tabelle ausrechnen. Also woneben würde der das stellen. Das ist das gleiche wie so Empfehlungssysteme im 327

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Internet. So konnte der Roboter irgendwie, wenn Sie ihm ein Objekt gezeigt haben, sagen: ›Also das würde ich dahinstellen‹. Soz:

Woher weiß denn so ein Roboter, wann er jetzt beispielsweise den Küchentisch aufräumen soll? Und da ist jetzt ein Ei oder da ist jetzt ein Marmeladenglas, wie weiß er, wie der diese Gegenstände behandeln soll?

Ing:

Ja das ist auch eins der ganz großen offenen Probleme, die wir haben. […] Also, es gibt eine Forschungsrichtung, die heißt intuitive physics. Wo Sie also irgendwas vorhersagen können, was mit einem Objekt passiert, wenn Sie eine bestimmte Aktion machen. Das Einfachste ist, ich stoße etwas an, das auf dem Tisch steht, und dann soll der Roboter sagen, was passiert damit, wo ist das hinterher. Also ich kann ihm sagen: ,an diesem Punkt, mit dieser Kraft‹ und dann soll er eine Vorhersage darüber machen, wie die Welt hinterher aussieht. Da arbeiten Leute dran und das ist tatsächlich auch ein super kompliziertes Problem. Also allein schon die Frage: Wie stellt man etwas hin? Also wenn man dem Roboter ein Glas gibt, das auch schon schwer zu erkennen ist, sollte der das eben so hinstellen, dass es nicht auf dem Kopf ist. Ja, da gibt es unheimlich viele offene Probleme, also diese Frage: Woher kann der Roboter wissen, dass, wenn das Wasser ausgelaufen ist, dass das dann schlecht ist? Also das ist dann so eine Belohnungsfunktion, die man dann typischerweise lernt. Aber auch so ganz implizite Sachen, wie naja, das Müsli stellt man auch noch so hin, dass man das lesen kann und nicht auf den Kopf. Da ist dann auch das Problem, dass es auslaufen würde. Also das sind so ganz subtile Sachen, die da eine Rolle spielen. Oder auch diese Frage, wenn Sie beispielsweise so ein Glas auf ein Tablett stellen, um das zu transportieren. Woher weiß der Roboter, ob die Konfiguration, die er erstellt hat, stabil ist? […] Also Antwort Nummer eins ist, das zu lernen, was das bedeutet, solche Dinge zu greifen und wie man das am besten machen kann. Also welche Kraft muss ich anwenden, um ein bestimmtes Objekt zu greifen? […] Also, welche Kraft muss ich aufwenden, um das tatsächlich hochzuheben? Wir haben da keine Sensorik für, um sozusagen die– Mit den Fingern können wir das ganz gut merken, dass was durch die Hand rutscht, aber in der Robotik haben wir halt keine Sensorik dafür.

Der Bau von sozio-humanoiden Servicerobotern für den Haushalt – diese »neuen Knechte« (Ingenieurswissenschaftler) – zeigt erstens den sehr anwendungsorientierten Charakter mancher Roboterforschung, die ihre Geräte zur Produktions- und Marktreife führen wollen. Er zeigt zweitens, dass der funktionale Operationsbereich von Beginn an sehr begrenzt wird. Diese Begrenzung ist auf die verwendete Methodik der Netzwerktechnologie zurückzuführen, die eine eindeutige Aufgabenstellung 328

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erfordert. Ergebnis ist nicht ein Maschinenwesen, das die soziale Kosmologie hygienischer Ordnungsvorstellungen teilt und daher sinnhaft unterscheiden kann, sondern ein Maschinenwesen, das die Daten, die es über seine Sensoren importiert, auf Muster untersucht und daraus ein gewünschtes und verlässliches Ordnungsverhalten operativ prozessiert. Drittens wird schließlich deutlich, dass ›Lernen‹ einem übenden Selbstprogrammieren gleichkommt und hierzu Informationsbausteine erfordert. Ausgangspunkt dieser Übungen sind alltägliche Szenarien der Problemlösung (›einfach aufräumen‹): ein Glas erkennen, es richtig anfassen, es richtig transportieren, es an der richtigen Stelle abstellen, es richtig herum einsortieren usw. Was in diesen Szenarien als jeweils ›richtig‹ gilt, ist zuvor eindeutig kategorisiert und festgelegt worden: Die Szenarien entspringen Alltagsannahmen über den Sinn einer dauerhaften und entmischten Ordnung der Dinge und der Hygiene, wo und wie in einem definierten Umfeld alles seinen Platz hat (Douglas 1985). So entpuppt sich ein auf den ersten Blick triviales Geschehen als eine vielschichtige »semantische Segmentierung« (Ingenieur): Zu berechnen sind u. a. die Bewegung der Korpusteile durch die Antriebstechnik (sogenannte Aktoren) und die Navigation im Raum; ferner die Bilder, die der Roboter von seinen sich verändernden Positionen aus erstellt, und diejenigen Bilder, die er dabei von den Gegenständen macht (Was ist das da, was da steht?) sowie die Frage, mit welcher Kraft dieses unbegrifflich bleibende Ding (weiß ein Roboter, was ein Glas ist?) genommen und festgehalten werden soll. Die Vermessung des Menschen, seines Körpers und seiner Bewegungen sowie der Dinge und des Raumes zum Nutzen der industriellen Produktion oder zur Gestaltung privater Räume findet in diesen Laboratorien ihre Fortsetzung, und zwar als Praxis der zerlegenden Simplifizierung von Ereignissen und Routinen in einzelne, berechenbare und mathematisch modellierbare Abläufe, deren elektrische Impulse von Robotern als mechanische Bewegung oder Kraft umgesetzt werden (auch Brooks 2017; Bischof 2020). Zugleich ist hiermit die Suche nach einer Substitution verbunden: Wie können etwa die körperlichen Sensoriken der menschlichen Hand technisch so ersetzt werden, dass Objekte weder durch die Greifhand rutschen noch zerquetscht werden? Deutlich wird in diesen Auszügen auch die Relevanz dieser Übungs- oder Forschungspraxis, mit der das Können oder Noch-Nicht-Können von Robotern offensichtlich wird. Roboteringenieur:innen lernen, zu erkennen, welche Programmierung und welche Informationen unvollständig waren, welche Aufgabe kaum zu lösen war und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um ein ›Glas erkennen‹ zu können. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sowohl die Entwicklung des technischen Artefakts Roboter als auch sein (zukünftiger) Verwendungszweck zentral sind. So wird zunächst ersichtlich, dass es sich bei den verwendeten Robotern um gestaltbare Oberflächen, konstruierbare 329

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Mechaniken und zu fertigende elektronische Bauteile handelt. Der Horizont dieser Arbeit an den Oberflächen, den Mechaniken und den Platinen sind einzelne, isolierte Kontexte der zukünftigen Verwendung (etwa als Haushaltsroboter). Für diese Kontexte werden Aufgaben isoliert und technisch lösbar gemacht. Dies geschieht u.a. auch – wie gezeigt – durch Übungen oder Versuchsreihen, die auch neues Wissen für die Robotikforschung generieren; zugleich aber sind die Versuchsreihen auch Darstellungsarrangements der ingenieurwissenschaftlichen Tätigkeit. So meinte ein Ingenieur: »Wir suchen nach einem Problem, von dem wir glauben, dass wir das relativ gut lösen können«. Das Problem, das gesucht wird (›einfach aufräumen‹), rahmt auch die Suche nach den Lösungen und die Versuchsreihen sind die Modellierung einer vorangestellten Idee. Der Roboter fungiert hier u.a. als Entäußerung einer erfindungsreichen Ingenieurspraxis, die aber zugleich für das Experiment ganz funktional Dinge erledigen muss. Unter Umständen kann dies auch dazu führen, das Scheitern oder Nicht-Funktionieren als produktives Moment zu nutzen: »Da muss man überlegen, was man machen kann oder wie man doch den Vorteil davon zeigen kann« (Ingenieur). Die Momente des Scheiterns oder Nicht-Funktionierens werden dennoch an die weitere Forschung angeschlossen. Ferner führt auch die neuronale Robotik sogenannte ›human studies‹ (Breazeal 2009) durch: Beobachtungen von Menschen, die eine bestimmte Aufgabe erledigen (etwa Regale füllen), um dann die Praxis (›Regale füllen‹) formalisieren, mathematisch modellieren und programmieren zu können. Es ist also ein Ansatz an Alltäglichkeiten mit alltäglichem Wissen, das von der Komplexität des Alltäglichen und von der Kompliziertheit der Programmierung überrascht wird. Maschinenwesen zu befähigen, alltägliche Serviceleistungen zu bewältigen, heißt, die feingliedrige Systematik des menschlichen Alltags ernst zu nehmen, um sie dann Schritt für Schritt in eine digital-operative Schrift des Rechners zu übersetzen.13 Um zu resümieren: Am Anfang der neuronalen Robotik steht die Suche nach einem praktischen Problem, gefolgt von der Frage nach seiner Bewältigung. Dazu werden alltägliche Praktiken aus ihrem ursprünglichen Kontext und von ihren Trägern gelöst und in die Forschungspraxis des Labors integriert, und zwar mit dem Ziel, Maschinenwesen für den technischen Vollzug vorab definierter »Reaktionsausführungen« (Ingenieur) zu befähigen. Zugleich sind die Forscher:innen immerzu mit der Unberechenbarkeit von Situationen konfrontiert, die sie technisch nachzuahmen und durch ihre modellhaften Annahmen zu bändigen versuchen. 13 Zu Mensch-Maschine-Experimenten und zur resultierenden servomechanischen Theorie in der frühen Kybernetik der 1940er Jahre siehe Galison (1997: 291ff.); zur historischen Entwicklung der Regelungstechnik allgemein siehe Bennett (1993).

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Die Wissensaktivitäten dieser Denkschule beziehen sich auf die »explanatorische Kraft« (Gamm 2014: 17) experimenteller Versuchsreihen, die sie mit mathematischen und technischen Vorarbeiten vorstrukturieren und anpassen. Es sind plastische Veranschaulichungen ingenieurwissenschaftlichen Wissens. Dabei sind sie gleichzeitig mit der Komplexität alltäglicher Praktiken konfrontiert. Im Zentrum steht dann auch weniger ›der Mensch‹, sondern die Vorarbeiten und Anschlussmöglichkeiten des Feldes. Das bedeutet auch, dass der Forschungsgegenstand der neuronalen Robotik in dieser Verknüpfung von alltäglichen Anforderungen und ihrem technischen Vollzug durch Maschinenwesen liegt, die ihrerseits zur Produktionsreife geführt und dann als (Massen-)Ware veräußert werden sollen.

4. Analoge Robotik Bis hierhin haben wir zwei Entwicklungslinien skizziert, wie sie beispielhaft kennzeichnend sind für die Forschungspraxis in den Laboren der Robotik. In beiden Fällen steht die Arbeit an den Platinen und damit die Modellierung und Programmierung der Steuerungs- und Informationskreisläufe im Zentrum der Forschung. Zugespitzt formuliert: Es ist die in den Platinen implementierte Software, welche die Bewegungen des Roboters berechnet und steuert; der Korpus mit seinem mechanischen Bewegungsapparat erscheint dabei lediglich als ein Beiwerk, ein Anhängsel oder Derivat dieser zentralen Steuerungseinheit. Dies gilt ebenso für den Roboterkopf Kismet, der mit seinen mikroprozessorgesteuerten Sensoren (Mikrofone, Kameras) Daten aufzeichnet, berechnet und in Bewegungen der ›Augen‹, ›Ohren‹ etc. umsetzt. Mit dieser Annahme – der Korpus führt die Bewegungen aus, die ihm elek­ tronisch vorgegeben werden – bleibt der Eigenwert der robotischen Mechanik ausgespart. In den Interviews und Gesprächen, die wir geführt haben, wird dem Roboterkorpus in der Tat nicht selten eine untergeordnete Rolle zugeschrieben. So dominiert ein instrumentell-pragmatisches Verhältnis, das sich an den Kosten und an der einfachen Handhabung von mechanischen Bauteilen orientiert, diese aber nicht selbst als Forschungsgegenstand, sondern als ein technisches Ding behandelt (Rheinberger 2001). So erläuterte ein Forscher, der zu »new walking algorithms« arbeitet, dass die Bestandteile, die sein Team erwirbt, robust sein müssen und nicht so schnell brechen dürfen, und er führt aus: Ing:

He is 3D-printed, so everything is practically 3D-printed. It is an industrial quality, but everything is kind of robust in itself here.

Soz:

And why did you use the 3D-printer? 331

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Ing:

It eases the problem really. I can just design any shape I want […] and it comes out exactly the way I wanted it to. And I don’t have to think about joining parts or assembling parts. […] We can just take out one part, put in a new one and it is done. It is very simple; the structure is very simple.

Der Forscher betont in diesem Auszug die Relevanz der Abkürzung über das Druckverfahren, durch das verschiedene Handgriffe und Arbeitsgänge vereinfacht und austauschbar werden. Es ist ein modulares System der Korpusgestaltung, wobei nur die Anspielung und der Gesichtsausdruck als relevante Fragen erscheinen – und damit die Wirkung auf ihre menschlichen Gegenüber. So meinte der Ingenieur: Ing:

Should it be cute, or should it be a robot or should it be more like humans […] And there are robots with a creepy face.

Soz:

What is creepy? […]

Ing:

I don’t know, it is just the overall appearance. […] They have this inanimate face, but they also smile and have eyes and look at you all the time the same– all the same face and expression.

Wie Maschinenwesen den menschlichen Betrachtern erscheinen, ist eine relevante Frage. Hierzu gehört – diesem Ingenieur zufolge – u. a. der Ausdruck des ›Gesichts‹ und der ›Augen‹. In diesem Fall fehlen Gesichtsausdruck und Blickkonventionen, die den Beobachter, der sich ungeniert beobachtet fühlt, irritieren und das Maschinenwesen eigentümlich erscheinen lassen. Ein weiterer Ingenieur: Ing:

Ja also– wir haben natürlich so eine ganze Flotte von Robotern da rumstehen, die gehen auch über die Zeit irgendwann kaputt und so […] Also, wir sind nicht wirklich Roboterbauer, manchmal machen wir das auch, wenn es einen Roboter nicht gibt, den wir brauchen, aber wir kaufen beispielsweise bei mobilen Robotern typischerweise die Basis, also die Räder und Motoren und alles. Und dann schrauben wir da die Sensorik drauf […] teilweise schrauben wir auch einen Arm drauf und dann haben wir halt eine mobile Plattform und eine Kamera. So, dann haben wir halt ein Gerät, mit dem wir das machen können.

Ein ›Gerät haben‹, ,Motoren kaufen‹, ›Sensorik draufschrauben‹ bedeutet hier, die technischen Voraussetzungen für die eigentlich relevante Forschungsarbeit an der Software und damit an der Implementierung technischer Regeln für Wenn-Dann-Entscheidungen oder komplexere Algorithmen erfüllt zu haben.14 Wichtig ist hier auch die Serialität von 14 In den Preisen dieser einzelnen Artefakte (Roboterarm, Greifhand etc.) spiegeln sich – so die Teilnehmer – die jeweilige Qualität der Roboterbestandteile und deren Verwendungsmöglichkeit für Versuchsreihen.

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Robotern sowie auch ihr Laborcharakter: Sie sind z. T. unvollständig, beschränkt auf unverzichtbare Elemente für die jeweilige Forschungsarbeit und Versuchsreihe. Dies impliziert, dass der Korpus und der Gesichtsausdruck in der Laborpraxis irrelevant werden können und die Arbeit an ihnen zurückgefahren wird. Die Aufmerksamkeit gilt der Software – und damit dem ›Geist‹ des Roboters.15 Die Irrelevanz des Roboterkorpus – emblematisch steht hierfür die Arbeit an der Platine – wird durch einen Ansatz konterkariert, der eine stärker hybride Technologie entwickelt, die sowohl die elektro-mechanische Bewegung des Roboterkorpus als auch seine Steuerung durch Mikroprozessoren konstruiert und experimentiert.16 Im Folgenden gehen wir kurz auf diese Praxis und ihre Fragestellung ein. Ein Ingenieurswissenschaftler: Ing:

Ich habe mit einem Kollegen Module gebaut und die hatten Magneten drin, die man zusammenstecken konnte. Der Roboter hat sich immer wieder aufgerichtet. Was wir da gefunden haben, ist ein Prinzip des Sich-Aufrichtens und das hat mit einer Handvoll Elektronikbauteilen funktioniert, ohne jede Programmierung, ohne einen Algorithmus. Dieses Paradigma haben wir auch auf einem großen Roboter laufen, und das arbeitet lokal in Gelenken und kommuniziert nicht mit dem Rest des Körpers. Das passiert tatsächlich über die Kräfte, die in der Mechanik wirken.

Eine ›Handvoll Elektronikbauteile‹ – hierzu zählen u.a. auch Legomotoren – genügen in diesem Fall für die Umsetzung einer Theorie der verteilten mechanischen Bewegung des Roboterkorpus. Im Kern handelt es sich um eine »einfache elektronische Verschaltung« (Ingenieurwissenschaftler), die selbst seine Student:innen ›stecken können‹. Ing:

Ein komplexer Roboter zeigt eine komplexe Verhaltensweise, obwohl die Schaltung trivial ist. Aber sie produziert kein triviales Verhalten. Früher habe ich das mit etwa 30 Bauelementen (gemacht) und ich kann es zeitdiskret oder zeitkontinuierlich machen; ich kann es analog implementieren oder digital; natürlich geht das auch mit einem Mikroprozessor, ist klar; ich kann es hybrid machen. Es gibt dann Phasen der Integration der Sensoren und Phasen der motorischen Ansteuerung. Alle diese Implementierungsparadigmen haben Vor- und Nachteile. Die mikroprozessorgesteuerte Sache ist besonders flexibel, aber nicht

15 In der Roboterforschung werden verschiedene Softwarebibliotheken genutzt und Bestandteile der Software (u.a. in den Programmiersprachen »C++« oder »Python«) moduliert und zur Verfügung gestellt. Zur Arbeit mit »C++« am Beispiel der Finanzmathematik siehe Kalthoff/Maeße (2012). 16 An dieser Stelle gibt es Verbindungen zur emergenten Robotik, auf die wir hier nicht näher eingehen.

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besonders elegant. Die hat überhaupt keine Analogie zu Neuronen. Die analoge Schaltungsweise ist besonders reduziert und man kann über Miniaturisierungen nachdenken.

Diesem Ansatz der analogen Implementierung der Bewegung ohne Software und ohne Programmierung geht es auch – vergleichbar der Mathematik (Heintz 2000) – um die Ästhetik der Bauweise und des Funktionierens der Bewegung. Dabei wird die herkömmliche Logik ingenieurswissenschaftlicher Forschung – im Sinne dieses Forschers – umgekehrt, und zwar weg vom Modell des Input/Output (Sensoren/Motoren) hin zu einem sehr »generellen Prinzip« (Ingenieur) der Kraft, die den Körper aufrichten und bewegen kann. Ing:

Bringt man dieses Prinzip an mehreren Gelenken an, etwa an den Beinen, und die interagieren, dann kommt es auf die kinematische Kette an. Also, ein Bein steht ja mit einem Bein auf dem Boden und oben hängt es ja in der Luft und kann sich frei bewegen, aber wenn ich dieses Bein in eine Schachtel einsperre, dann würde es gegen die Schachtel drücken. Das heißt, dieses Prinzip hat eine Folge von zeitlich voneinander deutlich abgrenzbaren Phasen der Bewegung. Und wenn man dieses Prinzip an zwei Gelenken macht, dann fangen die an gegeneinander zu arbeiten. Wenn man das jetzt zentral pullt, dann müssen die auch nicht kommunizieren. Der Motor geht in Betrieb und dann bricht ein bisschen die Akkuspannung ein und dann wird diese analoge Schaltung sich auch synchronisieren, ohne dass ich da Draht oder eine Information rüberziehen muss.

Der Ingenieur erläutert in wenigen Worten die mechanische Bewegungsapparatur, die ohne zentrale Verdrahtung und Informationsverarbeitung auskommt. Angestrebt ist eine Flexibilisierung, die diese analoge Robotik zu einer flexibel hybriden Bauweise werden lässt: Das Labor kann auf Steuerungselemente verzichten, kann aber auch – eher unästhetisch – Mikroprozessoren anbringen oder neuronale Netze programmieren. Über die Frage des Aufbaus der Bewegungsapparatur hinaus werden der Korpus des Roboters und damit die Frage nach Form und Material relevant. Dies gilt nicht nur für seine Ummantelung, sondern ebenso für den Bau und das Material seiner Extremitäten. Ing:

Für die Außenschalen haben wir mit X-Science zusammengearbeitet, die äußere Ästhetik gestaltet, Griffmulden und Lüftung, dass die Hitze der Motoren entweichen kann. Dinge, die viele andere Roboterbauer falsch gemacht haben, und immer wieder sterben die Roboter. Dann Materialrecherche zum Fuß oder zur Hand, wo wir mit Kohlenfaserstoff, mit Silikon oder Kautschuk arbeiten. Das sind unterschiedliche Personen, die sich da einbringen, die das dann gießen und gucken. Also die Hand zum 334

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Beispiel, das war ein sehr langer Prozess. Wir wollten das Ding elastisch haben, aber dann hat es keine Kraft mehr, also brauchten wir irgendwie Seilzüge drin. Aber das Seil darf dann natürlich nicht das Kautschuk ausfransen, also braucht man Röhrchen, in denen das Seil langläuft. Das geht. Aber wie verankert man das? Da braucht man oben was an den Fingerkuppen, was sich im Kautschuk ausbreitet, aber die Finger nicht zerstört. Bei dem Fuß war es zum Beispiel eine besondere Herausforderung. Der sollte recht steif, aber doch auch elastisch genug sein. Da haben die Materialwissenschaftler vom Y-Institut Kohlenfaserstofffädchen zu Bündeln vernäht.

In diesem Auszug werden drei Dimensionen der Laborpraxis angesprochen: erstens die erforderliche Kooperation mit anderen (angewandten) Wissenschaften und damit die Integration eines anderen (Material-)Wissens; zweitens die Beobachtung fehlender technischer Sorge und Sorgfältigkeit, welche die Implikationen der verbauten Technik übersieht (›Roboter sterben‹) und drittens ein am Material und an den Zielen abgestimmtes Vorgehen, das Fehlerquellen erkennt, Materialien testet und mögliche Handlungsprobleme Schritt für Schritt bearbeitet.17

5. Schluss In diesem Beitrag haben wir analytisch drei Ansätze unterschieden, Roboter technisch-materiell zu modellieren und zu designen. Mit dieser analytischen Unterscheidung behaupten wir nicht, dass die dargestellten Designansätze voneinander isolierte Welten sind, zwischen denen keine Kommunikation, keine Beobachtung oder kein Wissensaustausch stattfindet; vielmehr gehen wir davon aus, dass vielfache Verbindungen und Kombinationsoptionen zwischen den theoretischen Modellen und materiell-technischen Dimensionen denkbar und möglich sind. Zugleich modellieren diese Ansätze in ihrer Heuristik ›den Menschen‹ auf je spezifische Weise: In der emergenten Robotik ist der Mensch als ein entwicklungsfähiges Wesen eingebaut, das sich kontinuierlich überarbeitet und nicht mit sich selbst identisch bleibt. In den dazugehörigen ›Human Studies‹ animieren Menschen eine Human-Robot-Interaktion, die zwar so vorgesehen ist, aber doch erst vollzogen werden muss. Hingegen 17 Diese sicherlich idealisierende Darstellung der experimentellen Laborpraxis als Abfolge eines überlegten Handelns verstehen wir als Effekt der von uns verwendeten Methode, die eine starke Selbstrepräsentation evoziert. Zum indexikalen und tüftelnden Charakter naturwissenschaftlicher Laborpraxis siehe Knorr Cetina (1984); zur Geschichte der kybernetischen Kooperationsphilosophie siehe Meister/Lettkemann (2004).

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modelliert die neuronale Robotik ›den Menschen‹ als eine Entität mit Vorstellungen, Wünschen etc., die – mathematisch formalisiert und digital programmiert – in den Roboter verbaut werden. Somit sind Menschenwesen hier wesentlich Kognitionen, aus denen Verhaltensweisen abgeleitet werden; und die Reduktion auf wenige Präferenzen und Verhaltensweisen (›aufräumen‹) lässt Rückschlüsse auf kognitive Prozesse zu. In der analogen Robotik ist ›der Mensch‹ eine Bewegungsapparatur, die mittels mechanisch wirkender Kräfte nachgeahmt wird (›aufstehen‹). Gemeinsam ist den drei Ansätzen, dass sie in ihrer Entwicklungspraxis von ›dem Menschen‹ als einem Objekt ausgehen und diesen hierfür auf die eine oder andere Dimension des Menschlichen reduzieren. Die Reduktion ist mit einer Purifizierungs- oder Säuberungsarbeit verbunden, durch welche verschiedene Aspekte relevant gemacht, andere hingegen relativ bedeutungslos werden. Gegenüber der Annahme, die humanoide Robotik arbeite am technischen Ebenbild des Menschen, haben wir in diesem Aufsatz argumentiert, dass die dargestellten Forschungs- und Entwicklungslinien den ›Menschen‹ als Heuristik oder als »Vehikel [nutzen], um Fragestellungen aufzunehmen« (Ingenieur), aber dennoch nicht bestrebt sind, ihn nachzubilden. Das Forschungsinteresse geht vielmehr dahin, die Maschinenwesen mit ihrer komplexen und komplizierten Architektur ›zum Laufen zu bringen‹ – für die weitere Forschung oder für den großen Markt elektrotechnisch-digitaler (Haushalts-)Güter. Die verschiedenen Herstellungs- und Experimentiertechniken der emergenten, neuronalen und analogen Robotik verweisen somit auf eine Mehrfachorientierung dieser Forschung: am Menschen, ohne ihn kopieren zu wollen; an den Entwicklungen des transepistemischen Feldes, an die man anschließen oder sich von ihnen absetzen will; an materielle, digitale und ökonomische Erfordernisse, die je eigene Pfade öffnen und verschließen. Menschenwesen sind für diese Forschung instrumentell wichtig für das Generieren und Entwickeln von Frage- und Problemstellungen. Allerdings sieht die Roboterforschung von allen sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen ab, die den Menschen oder das Soziale rahmen und hervorbringen. Die Grundlage dieser Purifizierung ist ein Puzzle aus Alltagsannahmen und verschiedenen Überlegungen anderer wissenschaftlicher Disziplinen (etwa der Psychologie; siehe etwa Minsky 1985: 99ff.). Die List dieser Arbeit an sozio-humanoiden Robotern aber ist die Wiederkehr eines Menschenbildes, das, wenngleich von kulturellen Vorstellungen durchsetzt, Allgemeingültigkeit beansprucht, da eben – so die Annahme – von allen Besonderheiten oder Randerscheinungen abgesehen wurde. Das Menschliche hat – aus der Perspektive unseres Feldes – seinen Ausgang in einer humanen Grundausstattung, einem architektonischen Gerüst, das andere Bewegungen etc. umsetzen kann und selbstorganisierend ist. Erkennbar wird hier ein weiterer Punkt: 336

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Diese Maschinenwesen verweisen nicht allein auf ihren Zweck, ihre Beschaffenheit und materialisierte Theorie, sondern auch auf ihre späteren Nutzer:innen, die als spezifische, gewissermaßen auf sie zugeschnittene Programme und Erscheinungsweisen des Roboters auftauchen. Ferner lässt sich für die Robotikforschung wissenschaftssoziologisch festhalten, dass sie ein transepistemisches Feld darstellt: ein Bündel von Handlungsarenen, das andere Akteure, Ressourcen und Relevanzen einbettet und miteinander verbindet (Knorr Cetina 1984: 154ff.). Dabei ist die Uneinigkeit der Forschung (Knorr Cetina 1999: 2ff.), die wir in diesem Text skizziert haben, konstitutiv für dieses Feld. Dies liegt u.a. an den lokalen Forschungstraditionen und theoretischen Fragestellungen, den verfügbaren Ressourcen und der (Nicht-)Kooperation mit ökonomischen Akteuren sowie an den wissenschaftlichen Neigungen, Strömungen und Investitionen der Akteure selbst. Für die hier skizzierten Ansätze gilt, dass die Robotikforschung nicht kumulativ organisiert ist, sondern in verschiedenen Richtungen ausgeprägt ist und sich tastend fortbewegt. Deutlich wird dies nicht zuletzt daran, wie unterschiedlich ›der Mensch‹ als Bezugspunkt für die Forschungen fungiert. In Anlehnung an Martin Heideggers Darstellung zur physikalischen Forschung (Heidegger 1952: 77) lässt sich sagen, dass die bisherige Robotikforschung in den von uns dargestellten Ansätzen, Materialien und Techniken steckt. Zugleich formulieren die hier untersuchten Denkschulen der Robotik nicht nur bestimmte Annahmen über Menschen, sondern auch ein subversives Technik- und Artefaktverständnis: Technische Artefakte können gebaut, manipuliert und gesteuert werden, aber gerade dieser Umstand soll die Bedingung der Möglichkeit ihrer technischen Eigen- oder Selbständigkeit werden. In anderen Worten: In den von uns dargestellten Forschungslinien sollen nämlich auf der Seite des Nicht-Humanen neue Maschinenwesen entstehen, die das dynamische und nur unvollständig einsehbare, mannigfaltige Wesen »Mensch« mit der Manipulier- und Steuerbarkeit technischer Artefakte zusammenführen, die ihrerseits durch das vorgesehene Wechselspiel eigenständig werden sollen. In dieser technisch noch nicht entfalteten Eigenständigkeit sollen sie dem Menschen begegnen und mit ihm diese andere Sozialität ausbilden – und sich dabei immerzu neu berechnen, überschreiben, speichern. Wir verstehen diesen Prozess – Menschen begegnen und assistieren ihrem Maschinenwesen (etwa im Haushalt) – als Technisierung von Sozialität, die in den Kontext dieser Technologie gestellt und mit ihr verbunden wird (Kalthoff 2019). Die Sozialität verliert dabei nicht ihre Selbstoder Eigenständigkeit, da es auf die soziale Verwendung und damit auf praktische Vollzüge ankommt, die den Maschinenwesen Sinn zuschreiben, sie in den Alltag integrieren oder sie auch beiseitestellen und damit ihre Bedeutung herunterfahren. Zugleich wird das alltägliche soziale Geschehen des privaten Lebens durch Maschinenwesen in einem 337

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stärkeren Maße in den Bestand der Technologie und der Wirtschaft gestellt. Sie sind es, die Routinen, Begegnungen, Abläufe etc. mit den Maschinenwesen technisch simulieren, Situationen mitgestalten und ihnen vorgreifen. Wie Nutzer:innen als heuristisches Modell »im Entstehen des Werkes mit dabei« sind (Heidegger 2001: 71), so ist eine zukünftige Sozialität-mit-Maschinenwesen mit den Orten ihrer Konstruktion verbunden (Latour 2001). Demzufolge sind Wissenschaft und Wirtschaft in der Welt des Privaten zuhanden und zugegen. Mit den sozio-humanoiden Robotern soll – wie gezeigt – menschlichen Akteuren ein Maschinenwesen entgegentreten, das ihnen zur Hand gehen und lästige Alltagsdinge abnehmen kann. Ob dieses Wesen, wenngleich von seiner Laborentwicklung und vom menschlichen Verhalten-als-Programmierung abhängig, Menschen wird transzendieren, Bewusstsein entfalten sowie Sinn zuschreiben können, ist eine offene und eine technisch nicht entschiedene Frage. Gegenwärtig ist es selbst ein unbestimmtes materielles Objekt (ohne Geschlecht, Klasse, Ethnie, Mitgliedschaft etc.), dessen Herkunft das Labor mit seinen je spezifischen elektrotechnischen und dinglichen Möglichkeiten und Entscheidungen ist, wobei die technische Agency auch an die Maschinenwesen selbst übergeht (etwa Barad 2007). Der Herkunftsort der Zukunft ist dieses Labor, denn hier erfolgt der Vorgriff auf die andere Sozialität. Dies geschieht durch die Fabrikation eines Maschinenwesens, das Menschenwesen, für die es designt ist, auf veränderte Weise in die technische Ausdehnung des Humanen einbindet.

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Gleiche Menschen, ungleiche Maschinen Die Humandifferenzierung digitaler Assistenzsysteme und ihrer Nutzer:innen in der Werbung 1. Einleitung Mit der Einführung von Siri hat Apple 2011 eine Revolution der Beziehung zwischen Menschen und Maschinen in Aussicht gestellt. Als neues Paradigma dieser Beziehung gilt die verbalsprachliche Kommunikation mit einer dienstbaren künstlichen Intelligenz, verfügbar für jeden und jede, die Zugang zu digitalen Endgeräten hat. Verwandte Systeme anderer Firmen folgten wenig später. Mittlerweile sind solche Systeme in zahlreichen Varianten realisiert. Während Apples Siri und der BlackBerry Assistant auf mobilen Endgeräten laufen, ist Microsofts Cortana auf dem Desktop-Betriebssystem Windows vorinstalliert. Der Google Assistant (GA) wiederum ist in mobile Geräte wie auch unterschiedliche Smart Home Devices integriert. Eine der bekanntesten diesbezüglichen Anwendungen ist Amazons Alexa, welche zunächst exklusiv an das Lautsprechersystem Echo gekoppelt war, mittlerweile aber auf verschiedenen Geräten läuft. Das Sprechen mit nicht-menschlichen Dialogpartner:innen, welche die menschliche Sozialwelt durch ihre kommunikative Ansprechbarkeit erweitern, soll durch solche Anwendungen zu einem ubiquitären Element des Alltags werden. Sogenannte digitale Assistenzsysteme bilden einen besonders instruktiven Fall für eine Forschungsperspektive,1 die sich für die Konstitution der Außengrenzen des Humanen interessiert, also für die Arten und Weisen, in denen Nicht-Menschliches von Menschlichem unterschieden oder gerade nicht unterschieden wird. Denn durch solche Praktiken der Grenzziehung werden beide Seiten nicht nur zueinander ins Verhältnis gesetzt, sondern zugleich in ihren jeweiligen Identitäten bestimmt. In diesem Beitrag soll exemplarisch untersucht werden, wie solche Anwendungen beworben und wie in dieser Werbung Visionen posthumaner 1 Die Assistenzmetapher, die für sprachgesteuerte KI-gestützte Systeme wie Amazons Alexa genutzt wird, löst zunehmend die computerfokussierte Desktop-Metapher ab und soll zentrale Aspekte der Usability der Systeme in den Fokus rücken (vgl. Lotze 2021).

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Interaktion inszeniert werden. Auffällig ist nämlich, dass solche Artefakte nicht allein als simple Gebrauchsgegenstände und Werkzeuge vermarktet werden, sondern als Entitäten, die (mehr oder weniger spezifische) soziale Positionen einnehmen sollen. Es handelt sich daher bei der Darstellung von Interaktionen mit digitalen Assistenzsystemen um einen spezifischen Sonderfall der sozialen Positionierung2. Solche Systeme werden in einer bestimmten Weise in eine Beziehung zu ihren menschlichen Besitzer:innen gestellt, die über eine reine Objektbeziehung hinauszugehen scheint, und zwar deshalb, weil das Verhältnis von Mensch und Maschine als ein Kommunikationsverhältnis betrachtet wird, genauer: als Kommunikationsverhältnis, das durch die Verwendung verbalsprachlicher Mittel nach dem Vorbild der zwischenmenschlichen Interaktion unter Anwesenden gestaltet ist (Kieserling 1999). Werbung für digitale Assistenzsysteme ist Kommunikation über Kommunikation. Es handelt sich um massenmediale Mitteilungen an ein Publikum, dem eine bestimmte Vision der Mensch-Maschine-Kommunikation medial vorgeführt wird. Auf welche Weise Entitäten wie Siri, Alexa und Cortana dabei als »Artificial Companions« (Hepp 2020) inszeniert und positioniert werden, kann daher auch als Vision einer digitalen Sozialität verstanden werden, in welcher zukünftige Mensch-Maschine-Verhältnisse prototypisch ausgelotet werden. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf die Frage, in welcher Form digitalen Assistenzsystemen eine Position in unserer Sozialwelt zugesprochen wird. Von besonderem Interesse ist dabei, wie digitale Entitäten in Kategorien des Humanen eingeordnet werden und welche Sozialbeziehungen der Mensch-Maschine-Interaktion dabei zum Ausdruck kommen. Die Analyse in diesem Beitrag richtet sich auf Amazons Bewerbung der künstlichen Intelligenz Alexa. Die Wahl dieses Assistenzsystems begründet sich darin, dass ihm in Marktforschungsumfragen ein höherer Bekanntheitsgrad trotz geringerer Verwendung im Vergleich zu anderen Systemen zugeschrieben wird und daher davon auszugehen ist, dass Alexa besonders prominent im kulturellen Wissen um Assistenzsysteme verankert ist.3 Dass dabei die Anthropomorphisierung digitaler Assistenzsysteme weit über die in der Marketingkommunikation etablierte Formen der 2 Dieser Begriff beschreibt, wie Entitäten durch kommunikative Praktiken als soziale Akteure erscheinen, wie sie sich begegnen und welche Handlungsoptionen sie sich wechselseitig eröffnen und/oder verschließen. Im Zuge sozialer Positionierungen werden Identitäten, Ziele, Motive und Erwartungen implizit und explizit zum Ausdruck gebracht, Differenzen aufgebaut oder eingeebnet (Hausendorf/Bora 2006; Spitzmüller et al. 2017; Marinecz 2015). 3 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1031358/umfrage/umfrage-zu-bekanntheit-und-nutzung-verschiedener-sprachassistenten-in-deutschland/ (07.06.2020).

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Vermenschlichung von Produkten (vgl. Gröppel-Klein et al. 2015) hi­ nausgeht und eine andere Qualität der Beziehung zwischen beworbenem Objekt und Menschen reflektiert, wird in unserer Analyse deutlich. Ebenso zeigt sich aber, dass die Positionierung von Alexa in Werbematerialien nicht im Sinne einer Symmetrisierung menschlicher und nicht-menschlicher Akteur:innen erfolgt. Die Integration des vermenschlichten Systems folgt vielmehr einer asymmetrisch-stratifizierten Rollenpositionierung einerseits sowie der Zuschreibung übermenschlicher Fähigkeiten andererseits. Damit geht zugleich das Versprechen einer Symmetrisierung menschlicher Statusdifferenzen einher.

2. Sprechende Maschinen Digitale Assistenzsysteme sind Ausdruck einer tiefgreifenden Mediatisierung des sozialen Lebens (Hepp 2020). Die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, medienvermittelt zu kommunizieren, sei es in der Bewältigung der täglichen E-Mail-Flut im Büro, beim Telefonieren mit Verwandten, beim Austausch von Kurznachrichten mit dem Smartphone oder der Rezeption von Filmen und Serien über das Tablet oder den Fernseher (der freilich selbst längst zum Smart Device geworden ist). Dabei ist das Internet zu einer Infrastruktur des sozialen Alltags geworden, das zahlreiche Varianten des Medialen miteinander verbindet und so vielfältige Formen der Sozialität heute in ganz selbstverständlicher Weise ermöglicht, kanalisiert und kontrolliert (Dolata/Schrape 2014). Doch nicht nur Kommunikation mittels Technik (als Medium), sondern auch die Kommunikation mit Technik (als Gegenüber) ist zu einem spezifischen Merkmal der digitalen Ära geworden.4 Seit der Erfindung des Computers wurden immer wieder Gedanken- und Realexperimente durchgeführt, in denen geprüft wurde, inwiefern Maschinen als »interaktive Artefakte« (Suchman 2007) fungieren können. Prominent geworden ist vor allem die Konzeption des Turing-Tests, welcher versucht, die Frage »Can machines think?« (Turing 1950: 433) durch den Nachweis von Kommunikationsfähigkeit zu beantworten. Und auch dann, wenn Computern eine »Denkfähigkeit« im menschlichen Sinne abgesprochen wird, 4 Wenn von Kommunikation mit Technik die Rede ist, bedeutet dies, dass technischen Entitäten Handlungsträgerschaft (Schulz-Schaeffer 2008a) und Kommunikationsfähigkeit zugesprochen (Esposito 2017) wird. Dabei kann eine Vermenschlichung von Maschinen beobachtet werden. Die der industriellen Moderne wohlvertraute Delegation von Aufgaben an Technik geht somit in der digitalen Gesellschaft auch und gerade mit einer zunehmenden »anthropomorphe[n] Deutung technischer Abläufe« (Schulz-Schaeffer 2008a: 3139) einher.

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können sie gleichwohl situativ als Interaktionspartner betrachtet werden (Geser 1989). Digitale Artefakte können gleichwohl nicht nur okkasionell wie ein Mensch behandelt werden, sondern auch explizit daraufhin konstruiert sein, in einen sozialen Austausch mit Menschen zu treten. In der Science-Fiction werden solche Interaktionen in zahlreichen Varianten porträtiert, in Computerspielen wurden »Personifizierungen« digitaler Gegenüber (Muhle 2018) in der gesellschaftlichen Breite eingeübt: Neben Avataren, die menschliche Spieler:innen repräsentieren, sind zahlreiche Akteur:innen digitaler Spielwelten computergesteuerte Figuren. Aber erst seit kurzem sind Interaktionen mit sprechenden Maschinen zur möglichen Alltagserfahrung geworden, die über den Cyberspace spezifischer Spielwelten hinausgeht. Je nach technischer Konfiguration und sozialer Funktion ist dabei von Chatbots, Social Bots (Leistert 2017), Work Bots oder Artificial Companions die Rede. Andreas Hepp (2020) hat jüngst den Begriff der »communicative robots« als Obergriff für Entitäten vorgeschlagen, die als alltägliche digitale Kommunikationspartner fungieren. Er betrachtet das Aufkommen solcher Entitäten dabei als nächste Stufe einer »deep mediatization« (Hepp 2020: 2) des gesellschaftlichen Lebens. Digitale Assistenzsysteme wie Alexa, die – anders etwa als textbasierte Chatbots – gesprochensprachliche Äußerungen wahrnehmen und darauf wiederum selbst gesprochensprachlich antworten, können als avancierte Variante solcher »communicative robots« betrachtet werden. Die Soziologie sieht sich durch solche Systeme in ihrem Selbstverständnis herausgefordert. Insbesondere für Sozialtheorien, welche Kommunikation als Kern des Sozialen betrachten, stellen sprechende Maschinen eine kaum zu unterschätzende Irritation dar.5 In einigen soziologischen Zeitdiagnosen wird es bereits als epochaler Bruch bezeichnet, dass Gesellschaften ab sofort mit solchen technischen Kommunikationsteilnehmer:innen rechnen müssen (Baecker 2017). Die soziologische Debatte wird demgemäß oft als sozialtheoretische Grundsatzdiskussion geführt. Geht es hier lediglich um »Projektion« (Cerulo 2009) von Kommunikation, um »Quasi-Kommunikation« (Schmidt-Jüngst (i.E.)) oder »künstliche Kommunikation« (Esposito 2017)? Steht eine folgenreiche Erweiterung der »Grenzen der Sozialwelt« (Luckmann 1980) ins Haus oder geht es nur um eine Simulation sozialer Beziehungen? Und wer soll und darf dann darüber urteilen? Die sozialtheoretische Relevanz solcher Fragen ist enorm, ließ sich doch die moderne Gesellschaft bislang als kulturelle Ordnung beschreiben, die zwar einerseits komplexe Operationsketten 5 Dazu gehören neben der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981) insbesondere die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung (Luhmann 1984) sowie der kommunikative Konstruktivismus (Knoblauch 2017).

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an Technik delegiert, nicht-menschliche Entitäten aber andererseits nicht (mehr) als Gesellschaftsmitglieder akzeptiert (Luckmann 1980; Lindemann 2009). Mit dem Aufkommen von digitalen Entitäten, denen nicht nur in der akademischen Fremdbeschreibung, sondern auch in der gesellschaftlichen Alltagspraxis Eigenschaften wie Handlungsträgerschaft, Autonomie, Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit zugesprochen werden, erscheint eben dieses humanistische »Grenzregime« (Lindemann 2009) der Moderne (wieder) problematisch. Während humanistische Soziologien die Grenzen des Sozialen angesichts dieser Herausforderung gegen nicht-menschliche Eindringlinge verteidigen (Cerulo 2009), plädieren posthumanistische Theorieströmungen unterschiedlicher Couleur für eine Auflösung humanistischer Grenzziehungen und eine explizite Berücksichtigung nicht-menschlicher Entitäten (vgl. Latour 1992; Barad 2003; Braidotti 2013). Statt solche Fragen nun sozialtheoretisch vorzuentscheiden, gehen wir in diesem Beitrag einen anderen Weg, indem wir die Frage nach der Differenzierung und Relationierung von Mensch und Maschine empirisieren. Unser empirisches Material ist dabei nicht die Analyse von alltäglichen Interaktionen mit digitalen Entitäten (vgl. dazu Geser 1989; Muhle 2016), sondern die Inszenierung solcher Interaktionen in der Bewerbung von Amazons Alexa. Dadurch erhalten wir einen Zugang zu den Versprechungen, Plausibilisierungen und Rechtfertigungen, welche den Einzug von Alexa in die privaten Haushalte und Lebenswelten befördern sollen. Uns interessiert dabei vorrangig, wie die Werbung Alexa Aspekte des Menschseins zuschreibt. Diese Zuschreibung menschlicher Attribute an nicht-menschliche Entitäten, ihre Anthropomorphisierung also, erfolgt insbesondere dann, wenn diese unabhängig agieren können (Epley et al. 2007) und beeinflusst nicht nur den potenziellen Sozialstatus dieser nicht-menschlichen Entität, sondern wirkt ebenso auf das menschliche Verhalten dieser gegenüber ein: Sehen wir jemanden – oder etwas – als Mensch an, unterliegt unser Verhalten diesem (ver)menschlich(t)en Wesen gegenüber spezifischen kulturellen und sozialen Normen (Schiffhauer 2015). Eine wichtige Rolle bei dieser Anthropomorphisierung spielt die Kategorisierung artifizieller Entitäten unter Bezugnahme auf Kategorien der Humandifferenzierung: Eyssel/Kuchenbrandt (2012) und Kuchenbrandt et al. (2013) zeigen, dass die implizierte Zugehörigkeit eines humanoiden Roboters zur nationalen oder geschlechtlichen Ingroup von Versuchspersonen einen deutlichen Einfluss auf dessen Anthropomorphisierung durch die Versuchsteilnehmer:innen hat. Einem Roboter, dessen Geschlechtszugehörigkeit und Nationalität – indiziert durch Namensgebung und Produktionsort – mit der der Versuchsteilnehmer:innen übereinstimmt, wird eher emotionale Wärme und ein Bewusstsein zugeschrieben, als wenn diese Marker nationaler und geschlechtlicher Zugehörigkeit eine Zuordnung zur Outgroup markieren. In der Nutzung 346

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von Vornamen als Markern sozialer Zugehörigkeit wird die Bedeutung sprachlicher Zeichen für die Teilhabe an sozialen Kategorien und damit an gesellschaftlichen Strukturen deutlich. Auch Ladwig/Ferstl (2018) nutzen Namensgebung als Indikator für die Partizipation an Humandifferenzen: Versuchspersonen, die mit der Aufgabe betraut wurden, Roboter zu benennen und ihnen Aufgaben zuzuweisen, vergaben in mehr als der Hälfte der Fälle männliche Personennamen und nur zu 15% weibliche Namen – der Rest präferierte entweder geschlechtsneutrale Personennamen oder aber Namen, die nicht aus dem anthroponymischen Inventar stammen. Gleichzeitig berichten die Autor:innen eine deutliche Präferenz zur Zuweisung stereotyp weiblicher Aufgaben an die Roboter. Robotern, denen vorrangig stereotyp weibliche Aufgaben zugewiesen wurden, wurde außerdem eher der Zutritt zum eigenen Haushalt gewährt, was von den Autor:innen als Hinweis auf höhere Sympathie und ein größeres Vertrauen gegenüber solchen feminisierten humanoiden Robotern deuten. Darüber hinaus lässt sich dieser Befund als Reflex des kulturell verankerten Verständnisses von Haushalt als Sphäre des Weiblichen sehen. Die Teilhabe artifizieller Entitäten an humandifferenzierenden Kategorien und Zuschreibungen schlägt sich auch in Sprache nieder. Bereits 1982 weisen McDaniel/Gong auf den anthropomorphisierenden Sprachgebrauch in der Robotik hin, der sich vor allem aus der Körpermetaphorik speist: Robotergelenke werden z.B. schnell als Schultern bezeichnet, wenn ein Greifmechanismus über ein Scharnier mit dem »Körper« verbunden ist, der Teil, der der Bildverarbeitung dient, als Augen, die sich im Kopf des Roboters befinden usw. Ein solcher Sprachgebrauch hat gemäß McDaniel/Gongs Analyse zwar das Potential, technologische Prozeduren leichter an ein Laienpublikum zu kommunizieren, kann gleichzeitig aber zu geringerer Exaktheit in Beschreibungen führen und die Angst vor der zunehmenden Automatisierung der Welt und dem damit einhergehenden Verlust von Arbeitsplätzen schüren. Der vermenschlichende Sprachgebrauch insbesondere hinsichtlich der verwendeten Metaphorik wird für den Bereich der Robotik wiederholt beschrieben (z. B. Lohmann 2014), wobei mit den Fortschritten in der Technologie auch eine Weiterentwicklung der menschlichen Zuschreibungen erfolgt: Zunehmend werden über rein physische Ähnlichkeiten hinaus vor allem kognitive und soziale Fähigkeiten von Robotern in den Vordergrund gestellt, was die Gefahr birgt, autonom operierenden Maschinen auch die Befähigung zu ethischer Schlussfolgerung und Entscheidungsfindung zuzuschreiben (Hug 2019). Parallele Tendenzen lassen sich auch im Sprechen bzw. Schreiben über digitale Assistenzsysteme feststellen: Purington et al. (2017) zeigen am Beispiel von Online-Bewertungen für Amazons Alexa-System und die dazugehörigen Echo-Lautsprecher, dass ein Großteil der bewertenden Personen in ihren Rezensionen zu anthropomorphisierenden Stilmitteln 347

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greift, die auf verschiedenen sprachlichen Ebenen anzusiedeln sind (z. B. primäre Referenz mit dem Personennamen Alexa, Verwendung des humanen Pronomens she statt it, Zuschreibung menschlicher Attribute wie Familienmitgliedschaft und Freundschaftsstatus). Dass diese Zuschreibung menschlicher Positionen kein nutzerseitiges Phänomen ist, sondern vielmehr gezielt von den Hersteller:innen in der Bewerbung ihrer Produkte eingesetzt wird, wird deutlich, wenn wir den Blick auf eben diese Porträtierung von Assistenzsystemen in der Werbung richten.

3. Die werbekommunikative Inszenierung von Amazons Alexa 3.1 Vom Gerät zur Person Als Apple 2011 das Assistenzsystem Siri exklusiv für das neue i­Phone-Modell 4s (s für Siri) ankündigte, geschah dies in Form eines Special Events. Tom Cook und Scott Forstall präsentierten die neue Voice Recognition-Software auf der Bühne vor einem Live-Publikum, dem sie die verschiedenen Funktionen des Systems vorführten. Diese Vorführung fokussierte auf die funktionalen Aspekte des Assistenzsystems. Erst die letzte Frage, die Forstall an Siri richtete, machte klar, dass das System bereits von Anfang an nicht nur als technische Anwendung konzipiert wurde, sondern durchaus als Entität, die potenziell menschliche Positionen einnehmen kann: »Who are you?« Siris Antwort lautete: »I am a humble personal assistant«.6 Bereits hier wird deutlich, dass Siri nicht als Etwas, sondern als Jemand entworfen wurde, und als solcher nicht nur Sprecherpositionen in der 1. Person einnehmen kann, sondern darüber hinaus in der von den Hersteller:innen konzipierten Selbstbeschreibung nicht etwa als eine bloße digitale Anwendung positioniert wird, sondern als demütiger persönlicher Assistent, der bereit steht, um mehr oder weniger lästige Alltagsaufgaben zu übernehmen. Wie Apple wählte auch Google 2016 das Format eines K ­ eynote-Events, um den Google Assistant für Android-Systeme vorzustellen.7 Statt auf die Innovation der sprachgesteuerten Interaktion zu fokussieren, wurde bei dieser Vorstellung die bereits etablierte Vertrautheit mit der Suchmaschine Google genutzt, um den Nutzer:innen die Attraktion des Systems zu verdeutlichen. Der Assistant wurde präsentiert als »Google für deine Welt«, der nicht nur behilflich ist, Fakten zu kommunizieren, die 6 https://www.youtube.com/watch?v=agzItTz35QQ (24.09.2020). 7 https://www.youtube.com/watch?v=snL88L1DQQ4 (24.09.2020).

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auch die Suchmaschine für die Nutzer:innen gefunden hätte, sondern vor allem dabei hilft, den eigenen Alltag zu organisieren, Termine zu verwalten und Reservierungen vorzunehmen; ganz so, wie dies auch ein menschlicher Assistent tun würde. Beide Unternehmen versprechen ihren Kund:innen mit diesen Sprachassistenzsystemen etwas, das bis dahin nur den »Reichen und Schönen« und Manager:innen offen stand: einen eigenen Assistenten, der jederzeit zur Verfügung steht und organisatorische Aufgaben sowie die Verwaltung des Alltags übernimmt (vgl. Krajewski 2010). Der Erwerb kostenintensiver Gadgets, die über diese Systeme verfügen, lockt also mit der Aussicht auf Weisungsbefugnis gegenüber einer oder einem Untergebenen und dem damit einhergehenden Gewinn an sozialem Status. Amazon wählt bei der Einführung des Smartspeakers Echo und dem eingebauten Assistenzsystem Alexa 2014 eine grundlegend andere Strategie: statt einer Live-Veranstaltung, die die Funktionen des neuen Systems vorstellt, wird den Kund:innen ein Werbevideo präsentiert.8 Das Video zeigt eine weiße Mittelschichtsfamilie mit zwei Kindern (selbstverständlich ein Mädchen und ein Junge, wobei das Mädchen als Erzählerin des Videos fungiert), die gerade ein Paket mit dem Smartspeaker Echo erhalten haben und diesen in Betrieb nehmen. Reihum probieren die Familienmitglieder die Funktionen aus: Musik abspielen, Informationen vermitteln, Zeit mitteilen. Der Familienvater ist vom ersten Moment an der Technikexperte, der seine Frau und auch die Kinder in der Nutzung anleitet. Nach und nach werden verschiedene Familienszenen gezeigt, die die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten werbewirksam darstellen: die Mutter, die während des Backens mithilfe von Alexa sowohl die richtigen Mengenabgaben für ihr Rezept umrechnen lässt als auch eine Einkaufsliste aufsetzt; die Eltern, die im ehelichen Bett von Alexa geweckt werden; die Kinder, die sich von Alexa Witze erzählen und bei den Hausaufgaben helfen lassen. Wir erfahren, dass Echo es liebt, Musik – noch dazu in hervorragender Qualität! – abzuspielen, viele Lieder kennt und von überall erreichbar und nutzbar ist. Gleichzeitig werden in dem Video die sozialen Funktionen, die das Assistenzsystem einnehmen kann, deutlich: Nachdem der Sohn die Musik, die seine Schwester gerade spielen lässt, durch die Aufforderung »Alexa, stop« unterbricht, fordert diese das System auf, den Begriff annoying zu definieren, wobei die Blickführung im Video verdeutlicht, dass sie nicht etwa tatsächlich die Bedeutung des Begriffs erfahren möchte, sondern durch die Integration des Sprachassistenten und dessen Funktionen vielmehr das nervige Verhalten ihres Bruders pointiert kommentieren will. Der Echo bzw. Alexa wird so zum Bündnispartner im geschwisterlichen Disput, ähnlich wie auch Haustiere als kommunikative Ressource genutzt werden 8 https://www.youtube.com/watch?v=6V5I8HHFTNQ&t=60s (24.09.2020).

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(vgl. Tannen 2004). Die letzte Szene im Haus der Familie zeigt die Eltern, die zu Musik aus dem Smartspeaker tanzen, und die Tochter kommentiert, dass der Echo mit seinen vielen Funktionen ein echter Teil der Familie geworden sei. Mit diesem Video kommuniziert Amazon also von der Einführung seines Assistenzsystems an ein deutlich ambitionierteres Ziel als ­Apple und Google: Mit Echo und Alexa soll nicht nur eine Technik auf den Markt kommen, die einfache Aufgaben verrichtet und Servicefunktionen erfüllt. Weit darüber hinaus soll das System Teilnehmer familialer Interaktion werden, mit dem soziale Beziehungen eingegangen werden und das Beziehungen zwischen den menschlichen Familienmitgliedern vermittelt und prägt. Während die Keynote-Events von Apple und Google gerade anfangs primär Technologie-Interessierte ansprechen sollten, hat die Amazon-Werbung offenbar eine wesentlich breitere und unspezifischere Zielgruppe. Auffällig ist in allen drei Produktvorstellungen die konstante Referenz mit it auf die Assistenzsysteme; auf dieser Ebene findet also zum Zeitpunkt der Einführung keine Vermenschlichung durch die weitgehend humanexklusiven Pronomen she/he statt. Bemerkenswert ist in Hinblick auf das Amazon-System außerdem, dass als Bezeichnung stets Echo gewählt wird und nicht etwa Alexa, das nur als Signalwort zur Aktivierung fungiert. Es scheint also vielmehr das Gerät selbst, der Smartspeaker, bezeichnet zu werden und nicht die Entität, die als Interaktionspartner:in fungiert. Das dritte Jahr in Folge hat Amazon 2020 ein Werbevideo für Ale­xa speziell für den amerikanischen SuperBowl produziert. Dem Football-Großereignis folgen in jedem Jahr mehr als 100 Millionen Menschen allein in den USA, sodass Werbeformate während der Übertragung eine enorme Reichweite haben. 2018 schaltete der Konzern erstmals eine Werbung während des SuperBowls mit dem Titel »Alexa Loses Her Voice«.9 Der 90sekündige Clip beginnt damit, dass das Assistenzsystem, während es gerade den Wetterbericht mitteilt, ein hustendes Geräusch von sich gibt und verstummt. Dies führt zu weltweiten Schlagzeilen und Amazons CEO Jeff Bezos gibt einem Entwicklerteam das Okay, den offenbar bereits existierenden Ersatzplan umzusetzen. In den folgenden Szenen übernehmen Prominente die Rolle Alexas: So antwortet z.B. der britische Starkoch Gordon Ramsay an Alexas Stelle auf die Frage nach einem Rezept für ein Grilled Cheese Sandwich. Dies tut er auf die Art und Weise, die ihm in seinen Fernsehauftritten zu Berühmtheit verholfen hat, nämlich mit einer Vielzahl an Flüchen und Beleidigungen, sodass der Alexa-Nutzer nach wie vor rezeptlos in der Küche steht. Weitere Prominente wie Cardi B und Anthony Hopkins versuchen, Alexa zu ersetzen – und scheitern auf ähnliche Weise, 9 https://www.youtube.com/watch?v=iNxvsxU2rJE&t=8s (24.09.2020).

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die zu Erheiterung seitens der Zuschauer:innen einlädt, in der Erfüllung ihrer Aufgaben. In der Schlussszene ist die Alexa-Stimme mit den Worten »Thanks guys, but I will take it from here« zu hören, während im Hintergrund das James Bond-Titellied »Nobody does it better« aus dem Jahr 1977 spielt. Zwei Punkte sollen hier kurz als relevant für die spätere Analyse hervorgehoben werden: erstens geht es im Vergleich zum Einführungsvideo nicht mehr um den Smartspeaker Echo, sondern ganz eindeutig um die digitale Persona Alexa, auf die inzwischen auch mit her statt mit it verwiesen wird. Zweitens wird bereits in dieser Werbung deutlich, dass Alexa ihrem menschlichen Ersatz überlegen ist: Niemand kann Servicefunktionen so gut erfüllen wie das Assistenzsystem Alexa selbst. Nicht einmal Gordon Ramsay, dessen Restaurants mit insgesamt 16 Michelin-Sternen ausgezeichnet wurden, vermag es wie Alexa, ein Rezept vorzuschlagen. Stattdessen scheitert er, allzu menschlich, an seiner Persönlichkeit; ein Problem, das mit Alexa niemals auftritt. Die 2019er SuperBowl-Werbung ist ein selbstironischer Beitrag mit dem Titel »Not everything makes the cut« und Harrison Ford in der Hauptrolle.10 Das Video zeigt mehrere vermeintlich neue Produkttypen, in die das Alexa-System verbaut wurde und die sich als Fehlentscheidung herausgestellt haben. Neben der Installation von Alexa in der US-Raumstation, die zu flächendeckenden Stromausfällen auf der Erde führt, werden sprechende elektrische Zahnbürsten, deren Stimmen im Mundraum verhallen, und Fontänen spuckende Whirlpools gezeigt. Star des Videos ist Harrison Fords Hund, der ein »Alexa-Halsband« trägt, das jedes Bellen als Bestellung von Tierfutter wertet. Am Ende des Clips fährt ein Lastwagen vor, der palettenweise Hundefutter liefert. Amazon nutzt hier die Reichweite der SuperBowl-Übertragung, um sich selbstironisch zu lautgewordener Kritik an den Dashbuttons zu positionieren, die an Elektrogeräten angebracht wurden und mittels derer per Knopfdruck z.B. Waschmittel nachbestellt werden konnte, was zu vielfältigen Fehlbestellungen (z.B. durch Kinder) führte. Seit 2019 ist diese Funktion nun stattdessen über Sprachsteuerung in der Kommunikation mit Alexa zugänglich – inwieweit hierdurch die bestehenden Probleme der Dashbuttons aus dem Weg geräumt wurden, bleibt unklar. In diesem Fall wird das Werbevideo also zur Image-Reparatur genutzt, die mit einem Augenzwinkern existierende Probleme einräumt, ohne sich mit lästigen Korrekturen auseinandersetzen zu müssen.

10 https://www.youtube.com/watch?v=aiiwiDd-6ys (24.09.2020).

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3.2 #BeforeAlexa Der Werbeclip zum SuperBowl 2020, der im Folgenden eingehender analysiert werden soll, ist 1:30 Minuten lang und zeigt die US-Komikerin Ellen Degeneres und ihre Ehefrau Portia de Rossi in den Hauptrollen.11 Die Handlung des Videos beginnt im Haus der beiden – eingerichtet in cleanem skandinavischen Design –, das sie gerade im Begriff sind, zu verlassen. Ellen Degeneres fordert mit einem ungeduldigen »Baby« ihre Partnerin, die sich im Nebenzimmer befindet, dazu auf, sich fertig zu machen, um das Haus zu verlassen, bevor sie sich mit neutralerer Stimme an einen Echo Dot wendet: »Alexa, turn down the thermostat«. Die beiden Frauen schicken sich an, das Haus zu verlassen, während der Echo-Lautsprecher im Blick ist und Alexa den Auftrag mit den Worten »okay, turning down thermostat« bestätigt. Ihre Jacken anziehend, wendet sich Degeneres an ihre Frau und fragt »What do you think people did before Alexa?« Bereits hier wird für Nutzer:innen von Alexa der zukunftsvisionäre Charakter der Werbung deutlich, denn in der Gegenwart vermag es das System noch nicht, zwischen Adressierung und Referenz zu unterscheiden, sodass es beim Sprechen über Alexa ebenso anspringt wie bei der tatsächlichen Verwendung als Signalwort. Nach dieser Frage erfolgt ein Schnitt; die nächsten sieben Szenen spielen sich in einer imaginierten Prä-Alexa-Welt ab, die zeitlich zwischen einem mythologisierten Mittelalter und dem Amerika der Nixon-Ära mäandert.12 Im Folgenden sollen die einzelnen Szenen kurz rekapituliert werden, bevor wir uns ihrer Deutung zuwenden. Szene 1 in der »World before Alexa« zeigt das Wohnzimmer eines Herrenhauses vergangener Zeiten, in dem die Dame des Hauses in einem Sessel sitzt und stickt und ihr Ehemann in einem Lehnstuhl ein Buch liest. Sie sitzen nah an einem lodernden Kamin. Die Hausherrin fordert eine Bedienstete, die offenbar gerade damit beschäftigt ist, den Kaminsims zu wischen, auf, die Raumtemperatur zu regulieren: »Alessa, turn the temperature down, two degrees«. Das angesprochene Dienstmädchen bückt sich, greift einen brennenden Scheit und wirft diesen resolut durch das geschlossene Fenster, das bricht. Nach dem Splittern des Glases ist ein kurzer Schrei von außerhalb der Szene zu hören, der impliziert, dass eine Person von dem Scheit getroffen wurde. Auch die Hausangestellte selbst wird von den Flammen erwischt und der Ärmel ihres Kleids brennt an zwei Stellen, die sie rasch ausklopft. Die Hausherrin bedankt sich ohne aufzusehen mit den Worten »thank you, dear«, die nahelegen, dass ihr Wunsch erwartungsgemäß erfüllt wurde. 11 https://www.youtube.com/watch?v=trfbpONj3dk (24.09.2020). 12 Diese inszenierte Vergangenheit lässt sich zugleich als Mediengeschichte lesen, die ihr Telos in Alexa haben soll. Wir danken Gabriele Schabacher für diesen Hinweis.

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Ein Schnitt leitet über zu Szene 2, in der wir uns am Hof einer viktorianischen Königin o.ä. zu befinden scheinen. Die Herrscherin sitzt auf einem Thron, neben ihr stehen vier höfisch gekleidete Personen. Während sie beginnt, zu sprechen (»Alexine!«), wendet sich die Kamera von ihr ab und richtet sich auf einen Narren, der umgeben von höfischen Personen in der Mitte des Raumes steht. Ihre Aufforderung an den Narren ist »tell me a joke«. Der Blick richtet sich auf das Gesicht des Narren, der – sich sichtbar unwohl fühlend – wiederholt: »Jokes?« und sich räuspert. Mit unsicherem Lachen sagt er »Gawd, you’d think I’d know loads. Look at me.« Die Kamera schwenkt zurück auf die Herrscherin, die ihn mit den Worten »next« des Raums verweist. In der nächsten Szene 3 finden wir uns im Großbritannien der Dickens’schen Ära wieder. Ein Straßenjunge verkauft Zeitungen und ruft wiederholt »News, get your news here!«. Ein am Straßenrand stehender Mann, der einen Kerzenständer trägt, wendet sich ihm zu und fragt nach den Tagesneuheiten: »Alex, what’s today’s news?«. Der Blick zoomt aus der Szene heraus, sodass die ganze Straße zu sehen ist. Die Umgebung ist ärmlich und schmutzig, im Hintergrund stehen ein Schwein und ein Pferd auf der Straße. Der Zeitungsverkäufer erwidert »It doesn’t matter. It’s all fake«, woraufhin der Mann herzhaft anfängt zu lachen; der Junge stimmt ein und vergräbt dann das Gesicht resigniert in seinen Händen. In Szene 4 befinden wir uns im Wilden Westen und fokussieren auf zwei Männer, die einen Planwagen steuern. Der Ältere der beiden fordert den Jüngeren auf: »Al, play that song I like«. Der Angesprochene beginnt, auf einer Glasflasche eine Melodie zu blasen, wird aber nach wenigen Sekunden von dem Anderen mit genervtem Gesichtsausdruck unterbrochen: »Al, next song!« Er beginnt, eine andere Melodie zu blasen. Szene 5 zeigt eine ärmlich wirkende Siedlung aus Holzhütten, offenbar in einer Zeit vor der Elektrizität und ähnlichen Annehmlichkeiten. Zwei einfach gekleidete Frauen sind damit beschäftigt, in Töpfen über offenem Feuer Wäsche zu waschen. Hier greift die Werbung die kulturgeschichtliche Bedeutung des Waschplatzes als Ort des Klatschs auf (vgl. Althans 2000), indem eine der Wäscherinnen die andere auffordert: »Alexi, tell us somethin’ interestin’«. Diese überlegt kurz und erwidert dann: »Okay… the earth is flat, and a witch stole his pants«, womit sie auf einen Mann verweist, der nur mit Schuhen und Hemd bekleidet eine Schubkarre an ihnen vorbeischiebt. Die Fragestellerin macht zustimmende Geräusche und setzt ihre Arbeit fort. Mit Szene 6 verlassen wir die vermeintlich real-historische Erzählung und richten den Blick auf ein Schloss in einer fantastischen Welt, in der eine junge, vermutlich höfische Frau dabei ist, eine kleine Briefrolle am Hals einer Brieftaube zu befestigen. Mit den Worten »Alexamis, send 353

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this message to Prince Constantine« und einem Kuss auf den Kopf der Taube lässt sie diese fliegen. Wenige Sekunden später wird die Brieftaube von einem Adler aufgegriffen, der wiederum einen Augenblick später einem Drachen zum Opfer fällt. Die letzte Szene der »Welt vor Alexa« spielt in den USA der NixonÄra. Das Bild zeigt das Oval Office, in dem sich der Präsident an die im Nebenzimmer sitzende schwarze Sekretärin wendet: »Alicia, remind me to delete those tapes«. Die Sekretärin lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück, um den Präsidenten anzusehen und erwidert »Yes, Mr. President«. Die Szene schwenkt in das Vorzimmer, wo die Sekretärin von ihrer Schreibmaschine aufblickt, direkt in die Kamera schaut und sagt »I ain’t deletin’...«. Bevor sie ihren Satz beendet, erfolgt ein Schnitt und wir befinden uns wieder in der Gegenwart. Ellen Degeneres und Portia de Rossi sitzen nun im Auto und schnallen sich an. De Rossi antwortet auf die einleitende Frage von Degeneres »Yeah, I don’t know what people did before Alexa«. Ellen Degeneres antwortet nicht, sondern fordert Alexa auf, ihr Lieblingslied zu spielen »Alexa, play my favourite song«. Es ertönt die zweite Melodie, die der Mann auf dem Planwagen auf seiner Flasche geblasen hatte, die dann in Ushers Song »Yeah!« übergeht. Die beiden Frauen beginnen, mit der Melodie zu wippen, das Amazon-Logo erscheint kurz in der Bildmitte. Damit endet das Video. Die kurze Beschreibung der Videohandlung macht auf den ersten Blick deutlich: Die Welt, in der man ohne das sprachgesteuerte Assistenzsystem Alexa seinen Alltag meistern musste, ist nicht etwa die industrialisierte westliche Welt im Jahr 2014, also dem Jahr vor der Einführung des Smartspeakers Echo und dem System Alexa. Stattdessen ist das imaginierte Setting »vor Alexa« größtenteils in einer präindustrialisierten Zeit ohne moderne Technologien und Kommunikationsmittel verortet. Eine Unterbrechung dieser prämodernen Imagination findet nur in der Szene im Weißen Haus statt, auch wenn der Verweis auf Fake News in Szene 3 als Verweis auf die Haltung des 45. Präsidenten der USA zu verstehen ist. Erst mit der Einführung von Alexa als digitaler Dienstleisterin scheint das Leben in der Gegenwart möglich. Neben der zeitlichen Verortung fällt auch die unterschiedliche Symmetrisierung der Rollen in den einzelnen Szenen auf, die grundsätzlich asymmetrisch angelegt sind: Eine Person befiehlt oder fragt, eine andere antwortet oder folgt dem Befehl. Die Gegenwart ist repräsentiert durch die wohl symmetrischste Paarform, die uns heute möglich erscheint, nämlich einer lesbischen Dyade, die jenseits materieller Sorgen lästige Pflichten wie das Auf- und Zudrehen der Heizung zur Temperaturregulierung an technologische Gehilfen abtreten kann. Jenseits patriarchaler Machtstrukturen kann die moderne Paarbeziehung zweier Frauen gleichberechtigt bestehen, indem Ungleichheit evozierende Aufgabenverteilungen an 354

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die digitale Assistenz ausgelagert werden. Die Welt vor Alexa steht im Kontrast zu dieser paritätischen Gegenwart: Die Mehrzahl der Szenen zeigt klar verteilte soziale Positionen: machtvolle Positionierungen, von denen aus Befehle ausgesprochen werden können, und dienende, die diesen Befehlen – mehr oder weniger – Folge leisten (Szene 1, 2 und 7, eventuell auch 3). Zwischen Hausherrin und Dienstmädchen, Königin und Narr, Präsident und Sekretärin bestehen klare Rollenverteilungen, in die fest eingeschrieben ist, wer befiehlt und wer zu folgen hat. Ebenso befindet sich der Zeitungsjunge in Szene 3, auch wenn er nicht in einem direkten Weisungsverhältnis zu dem nach den Nachrichten fragenden Mann steht, in einer Dienstleistungsposition, die ihn für die Rolle prädestiniert, Anweisungen zu befolgen. Gleichzeitig bergen die asymme­ trischen menschlichen Konstellationen das Potential zu einer Form von Symmetrisierung, die künstlichen Entitäten nicht zur Verfügung steht, nämlich die Möglichkeit agentiv das Gehorchen und Ausführen von Anweisungen zu verweigern. Hier zeigt sich in den Videosequenzen die – potenziell störende – Handlungsmacht menschlicher Akteur:innen, die sie von den Assistenzsystemen, denen derartige auf eigenem Willen basierenden Handlungsoptionen fehlen, unterscheiden. Somit kann die interhumane Asymmetrie von Diensthierarchien als potenziell symmetrisierbar von der Mensch-Maschine-Asymmetrie unterschieden werden. Eine »natürliche« Hierarchie ergibt sich auch in der in einer Fantasiewelt angesiedelten Szene 6, in der die Brieftaube dem Auftrag der jungen Frau folgen soll, eine Botschaft zu transportieren. Weniger hierarchisch angelegt sind die Szenen 4 und 5, in denen jeweils zwei Männer bzw. zwei Frauen einer gemeinsamen Tätigkeit nachgehen. In Szene 4 ist das die Steuerung des Planwagens, wobei der Altersunterschied zwischen dem Mann, der den anderen zum Musizieren auffordert, und demjenigen, der der Aufforderung Folge leistet, auch eine ebensolche Aufgabenverteilung impliziert. Tatsächlich ausgeglichen scheinen die Positionen der beiden Wäsche waschenden Frauen in Szene 5, bei denen ein umgekehrtes Verhältnis von auffordernder und befolgender Person durchaus möglich erscheint. Dieser Eindruck wird unterstützt durch den Gebrauch von »us« in singularischer Selbstreferenz in der Aufforderung »Tell us somethin’ interestin’«, der umgangssprachlich häufig zur Abmilderung der Gesichtsbedrohung durch Imperative genutzt wird (Snell 2007). Bei einem deutlichen Statusunterschied zwischen den beiden Frauen wäre eine solche sprachliche Gesichtswahrung unnötig. Wie bereits im SuperBowl-Clip von 2018 wird auch in diesem Video eine Devaluierung der menschlichen (und in einem Fall: der tierlichen) Funktionserfüllung deutlich. Vielfach wird in den einzelnen Szenen die jeweils gestellte Aufgabe nicht oder nur unzureichend erfüllt: Der Narr ist so nervös, dass ihm kein Witz einfällt, die Brieftaube wird zur Beute eines Adlers, die Sekretärin verweigert das Löschen der Aufnahmen. Der 355

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Zeitungsverkäufer erklärt alle Nachrichten zu Fake News, statt tatsächlich Neuigkeiten zu berichten, der Mann auf dem Planwagen, der eine Melodie spielen soll, wird bereits nach wenigen Sekunden unterbrochen. Die Bedienstete, die in der ersten Szene die Temperatur dadurch reguliert, dass sie einen brennenden Holzscheit aus dem Fenster wirft, erhält dafür zwar ein zufriedenes »Thank you, dear« der Hausherrin, jedoch sind eine gebrochene Fensterscheibe und ein von dem Holzscheit getroffener Passant für die Zuschauer erkennbare Folgeschäden. Einzig die Kommunikation zwischen den beiden Wäsche waschenden Frauen scheint mehr oder weniger erfolgreich zu verlaufen. Gemein ist diesen Szenen in all ihrer Unterschiedlichkeit der humoristische Unterton, der als ironischer sozialer Kommentar zur Lebenswelt der Werbeadressat:innen verstanden werden kann und von dem sich die Werbemachenden positive Effekte in Hinblick auf Aufmerksamkeit und Überzeugungskraft sowie auf Markenassoziationen und spontaner Markenwahl erhoffen dürfen (vgl. Strick et al. 2013; Weinberger/Gulas 2019). All diese höchstens partiell erfolgreichen Interaktionen werden kon­ trastiert von der in der Gegenwart spielenden Schlussszene, in der Alexa der Aufforderung, das Lieblingslied zu spielen, augenblicklich zu vollster Zufriedenheit nachkommt. In die gleiche Richtung lässt sich de Rossis Aussage »Yeah, I don’t know what people did before Alexa« deuten, die impliziert, dass ein Leben ohne das Assistenzsystem gar nicht mehr vorstellbar sei. Alexa regelt die Temperatur ohne Kollateralschäden, nicht einmal ein Dank dafür ist nötig – was nicht bedeutet, dass Menschen in der Interaktion mit ihren Assistenzsystemen nicht doch zu Dank- und Bittformeln greifen und sogar in Smalltalk verfallen (Bentley et al. 2018; Lopatovska/Williams 2018). Die Ellipse »before Alexa« anstelle einer Vollform (etwa »before a system like Alexa existed«), die i.d.R. nur bei fest im kollektiven gesellschaftlichen Wissen verankerten Ereignissen und Entitäten auftritt (z.B. »die Welt vor dem Zweiten Weltkrieg«), illustriert die soziale Bedeutung, die dem System von den Werbemacher:innen zugewiesen wird. Die geschlechtliche Asymmetrie, die in die Interaktion von auffordernder und befolgender Instanz eingeschrieben ist und die zuletzt im Hinblick auf die Interaktion mit Sprachassistenten stark kritisiert wurde (West/Kraut et al. 2019), wird im #BeforeAlexa-Video gezielt ausgeblendet. Nur Szene 7 folgt dem gesellschaftlich tradierten Muster des männlichen Befehlgebers in Form des Präsidenten, der der weiblichen Sekretärin eine Anweisung gibt, die diese jedoch verweigert. Indem dies aber nur eine Szene unter vielen ist, die andere Geschlechtskonstellationen zeigen, wird diese Differenz offenbar bewusst ausgeschaltet, um auch Alexa in der Gegenwart als jenseits der Gender-Kritik positionieren zu können. Darüber hinaus werden potenzielle Probleme, die bei der Verwendung von Alexa im Alltag auftreten können, ausgeblendet. Das Assistenzsystem ist darauf angelegt, Aufforderungen zu befolgen, sobald das 356

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Signalwort »Alexa« genutzt wird. Sowohl in der Anfangs- als auch in der Schlussszene wird der Name nicht als Signalwort, sondern als Referenz in der 3. Person beim Sprechen über das System verwendet (»what people did before Alexa«). Im tatsächlichen Gebrauch des Systems würde dieses hierdurch aktiviert, da Adressierung und Referenzform nicht unterschieden werden können. In der Werbung passiert dies nicht: Alexa reagiert tatsächlich nur dann, wenn der Name als Signalwort genutzt wird. Die Idealisierung der Funktionalität des Systems macht den Kontrast zwischen den fehlerhaften Menschen und dem fehlerlosen Assistenzsystem umso deutlicher, dessen übermenschliche Perfektion im Befolgen von Anweisungen gerade das Kaufargument ist. Erwähnung verdient auch die Namensgebung im Video. Das Assistenzsystem Alexa hat nach Aussagen des Entwicklerteams seinen Namen in Anlehnung an die Bibliothek von Alexandria erhalten;13 ein programmatischer Name also, der auf das nahezu unendliche Wissen des Systems verweisen soll. Darüber hinaus bildet die Kombination aus Vokalreichtum und dem maximal unsonoren [ks] eine distinkte Lautfolge, die das Signalwort für das System leicht erkennbar macht. Alle weiteren im Video verwendeten Namen für befehlsempfangende Personen sind Varianten des Namens Alexa: die Hausangestellte Alessa, der Narr Alexine, der Zeitungsjunge Alex, der musizierende Mann Al, die waschende Alexi, die Brieftaube Alexamis und die Sekretärin Alicia. Die Menschen, die Alexas Funktion in der »Welt vor Alexa« übernehmen, heißen also ähnlich, aber nicht gleich. Die Tatsache, dass sie eben nicht den gleichen Namen tragen wie Amazons digitales Assistenzsystem, verdeutlicht, dass diese menschlichen »Assistenten« zwar vielleicht ähnliche Aufgaben übernehmen wie Alexa, jedoch nicht an sie heranreichen: Vielmehr erscheinen sie als Prototypen auf der Suche nach dem passenden Namen; eine Suche, die erst mit Amazons Einführung von Echo und Alexa ihr Ziel findet. Auffällig ist außerdem, dass alle Namen Kurzformen von Alexander bzw. Alexandra darstellen; hier lassen sich möglicherweise Parallelen zur Benennung von Knechten und Mägden im 19. und frühen 20. Jh. ziehen, die in dem Haus, in dem sie angestellt waren, oft Kurzformen eines Namens erhielten, wenn eines der Kinder des Hauses bereits diesen Namen trug (Busley i.E.). Die Internationalität der Namen – insbesondere im Fall von Alexine und Alexi – eröffnen eine Perspektive auf das globale Dienstleistungspotenzial von Amazons Assistenzsystem, das bereits jetzt in acht Sprachen verfügbar ist. Im Deutschen wird auch eine weitere sprachliche Besonderheit der Interaktion mit Alexa deutlich, die aufgrund ihrer Inexistenz im Englischen in der Werbung unsichtbar bleibt: die stark mit sozialer Bedeutung aufgeladene Duz-Relation, die 13 https://www.businessinsider.com/why-amazon-called-it-alexa-2016-7?r=DE&IR=T (16.06.2020).

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sprachliche Assistenzsysteme ungefragt mit ihren Nutzer:innen eingehen. Uns steht zwar offen, zwischen verschiedenen Signalwörtern (»Echo«, »Alexa«, »Amazon«) und teils auch zwischen Stimmen (männlich oder weiblich) zu wählen, die Entscheidung aber, ob wir ein soziale Nähe indizierendes Du oder ein Distanz wahrendes Sie vorziehen, wird den Nutzer:innen vorenthalten. Auf diese Weise zwingt die Interaktion mit mündlich interagierenden Assistenzsystemen in eine Form sprachlicher Vertrautheit, die eigentlich nur engen Sozialbeziehungen (seien sie zu Mitmenschen, Haustieren oder aber zu Gott) vorbehalten ist – oder aber dem Besuch bei Ikea, denn das skandinavische Unternehmen hat bei seiner Internationalisierung das im Schwedischen weitgehend sozial unmarkierte du ohne Berücksichtigung sprachlicher Höflichkeitsnormen in anderen Kulturen übernommen; im Deutschen wird hier gelegentlich auch vom Ikea-du gesprochen. Interessanterweise scheint das System im Französischen dagegen auf ein distanzierteres vous zu bestehen – obwohl es von den Nutzer:innen geduzt wird.14 Im Kontrast zu den dienenden bzw. Befehle ausführenden Rollen im Video werden Degeneres und de Rossi nicht mit Namen angesprochen; stattdessen verwendet Degeneres den Kosenamen Baby, als sie ihre Frau ruft. In dieser unterschiedlichen Namenverwendung spiegelt sich das Menschen entdifferenzierende Versprechen der Sprachassistenten wider: Die in Kombination mit dem Rufnamen erfolgende imperativische Aufforderung wird an die artifizielle Dienerschaft gebunden, sodass menschliche Beziehungen freier und gleichberechtigter kommunizieren und einander adressieren können. Die digitale Assistenz birgt so zum einen die Aussicht auf sozialen Aufstieg: Dienerschaft und persönliche Assistenten, die vormals den höheren Schichten vorbehalten waren, sind nun erreichbar für alle, die über das Geld für einen Echo oder ähnliche Endgeräte und adäquate Sprachfähigkeiten verfügen. Darüber hinaus stellt sie zum anderen eine paritätische Zukunft in Aussicht: Alexa und Co. fungieren als Gleichmacher zwischen Menschen, die einander außerhalb von gesellschaftlicher Stratifikation begegnen können. Gerade der Aspekt der Sprachkompetenz trägt jedoch das Potential erneuter bzw. verstärkter sprachbasierter Humandifferenzierung, wenn Menschen mit den »falschen« Sprachkenntnissen oder größerer sprachlicher Standardferne, wie sie z.B. im Süden des deutschen Sprachraums nach wie vor vorhanden ist, vom Zugang zu sprachbasierten Technologien exkludiert bleiben. 14 Vgl. z.B. folgenden Testbericht zur Nutzung des Alexa-Systems auf Französisch: https://www.youtube.com/watch?v=54umsxn7Juk (15.09.2020). Während der Tester Alexa duzt (z.B. »Alexa, racconte-moi une blague« – dt. »Alexa, erzähl mir einen Witz«), werden adressierende Antworten vom System mit dem distanzierenden Sie ausgegeben (z.B. lautet die Antwort auf die Frage »Alexa, quels sonts les news aujourd’hui?« »Voici votre flash quotidien« – dt. »Hier ist Ihr täglicher Flash»).

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4. Mensch-Maschine-Differenzierung als Humandifferenzierung Die klassische Kritik Foucaults (1974) an den Humanwissenschaften war, dass sie den Menschen zum unhinterfragten Ausgangspunkt und Maßstab ihrer Beobachtung gemacht haben (Roßler 2018: 6). Mit der Wende der Humanwissenschaften zu Kulturwissenschaften relativiert sich diese Engführung zwar, doch auch heute werden Gesellschaften immer noch weitgehend als Zusammenhänge begriffen, die von Menschen gemacht, bevölkert und strukturiert werden. Eben hier setzt die Kritik der Sozialtheoretikerin Gesa Lindemann an (die spezifisch ihr eigenes Fach, die Soziologie, adressiert): »Sociologists usually treat the borders of the social world as self-evident. In order to delimit the realm of social phenomena, sociologists refer implicitly or explicitly to a distinction between living human beings and other entities, that is, sociologists equate the social world with the world of living humans« (Lindemann 2005: 69). Lindemann weist dagegen darauf hin, dass unterschiedliche Gesellschaften ganz unterschiedlich bestimmen und bestimmt haben, welche Entitäten als soziale Entitäten gelten. Erst die moderne Gesellschaft funktioniere nach der Logik eines »anthropologischen Quadrats«, d.h. sie sei durch Außengrenzen konstituiert, die Noch-Nicht-Lebende und Nicht-Mehr-Lebende ebenso ausschließen wie Tiere und Maschinen. Wir sind Lindemanns Aufforderung gefolgt, kulturwissenschaftliche Forschung weder als exklusiv humanistische Humanwissenschaft, noch im Sinne einer grenzenlos posthumanistischen Symmetrisierung zu betreiben. Statt die Differenz von Menschlichem und Nichtmenschlichem theoretisch festzuschreiben oder einzuebnen, haben wir demgemäß die kulturelle Unterscheidungspraxis an den Außengrenzen des Humanen selbst an einem zeitgenössischen Fall untersucht.15 Die Perspektive der Humandifferenzierung leuchtet aber noch ein weiteres empirisches Spektrum aus: In der kommunikativen Zuweisung von Positionen, wie sie die untersuchte Werbung exemplarisch demonstriert hat, erfolgt nicht nur eine Positionierung von Mensch und Maschine sowie eine Artikulation der Beziehung zwischen diesen Relata. Vielmehr wird sichtbar, dass die Positionen von Mensch und Maschine selbst humandifferenziert werden. 15 In der Untersuchung von Mensch-Technik-Verhältnissen richtet man den Blick typischerweise entweder (1) auf die Seite des Menschen (etwa als Nutzer:in von Technik), (2) die Seite der Technik oder (3) die Mensch-Maschine-Relation als Beziehung zweier bereits konstituierter Entitäten. Relationale Zugangsweisen (Luhmann 1984; Barad 2003; Seyfert 2019) gehen im Kontrast dazu davon aus, dass die Relata in der Relation selbst konstituiert werden. Letzterer Sichtweise folgt auch unser interdisziplinär-kommunikationswissenschaftlicher Zugriff.

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In der Werbung für Alexa kommen Binnenunterscheidungen des Humanen zum Ausdruck, die gewöhnlich zur Differenzierung zwischenmenschlicher Relationen verwendet werden. Hier spezifizieren sie sowohl die Positionierung von Mensch und Maschine als auch die Relation von Menschen untereinander. Wohlgemerkt, wenn wir in diesem Text von Alexa sprechen, dann sprechen wir in der Regel nicht von einem spezifischen Artefakt, sondern von einem Akteur in einer technoimaginären Inszenierung, die in Form einer massenmedialen Darstellung zeigt, wie ein Leben mit einem solchen System aussehen kann und soll. Die Werbung für Alexa vergegenwärtigt ein imaginäres Szenario der Mensch-Technik-Beziehung. Dabei tritt Alexa generisch ein für die Gattung der Sprachassistenten, was sich auch darin äußert, dass im Sprechen über Sprachassistenten häufig von »einer Alexa« gesprochen wird, wenn von Sprachassistenten die Rede ist, ohne dass man sich damit notwendigerweise explizit auf das System von Amazon bezieht (SchmidtJüngst i.E.). Sichtbar wird in der knappen medialen Darstellung ein ganzes Beziehungsgeflecht, das sich zwischen dem maschinellen System und den menschlichen Nutzern aufspannt. Alexa wird in eine zwischenmenschliche Konstellation integriert – und zwar indem sie menschliche Positionen einnimmt, wobei gerade Geschlecht als äußerst sichtbare Form der Humandifferenzierung gezielt irrelevant gesetzt wird. Alexas Positionen entsprechen dienstleistenden Rollen – jedoch nicht in Form einer anonymen Dienstleistung (wie sie in idealtypischen Marktbeziehungen zu erwarten wäre), sondern als Mitglied des Haushalts. Sie ist weniger vergesellschaftete Dienstleisterin denn vergemeinschaftete Hausangestellte. Das tendenziell eher vormoderne Modell asymmetrischer Integration von Dienstpersonal passt zu der Individualisierung, die durch Namengebung erfolgt. Zugleich aber ist der Name Alexa nicht für eine spezifische Entität reserviert, die in einem spezifischen Haushalt ihren Dienst verrichtet. Alle Alexas heißen Alexa. Damit ist zugleich eine Marke geschaffen, welche Alexa von einem konkreten materiellen Substrat entkoppelt: Der Personenname dient als Produktname einer künstlichen Intelligenz.16 Alexa ist nicht nur in einem »Smart Speaker« verkörpert; sie kann auch im Autozubehör oder auf dem Smartphone zuhause sein. Ihre künstliche Stimme kann (über den Echo-Lautsprecher) lautstark alle Anwesenden adressieren oder einer Einzelperson (über einen Smartphone-Kopfhörer) 16 Es überrascht nicht, dass mit der Popularisierung des Systems Alexa der entsprechende Personenname rapide an Beliebtheit verloren hat: Rangierte der Mädchenname zwischen 2000 und 2014 stets zwischen den Plätzen 200 und 400 in Statistiken über beliebte Vornamen, ging die Namenvergabe seit 2015 deutlich zurück, und 2019 ist der Vorname nicht einmal mehr unter den Top 1000 zu finden (s. https://blog.beliebte-vornamen.de/2020/01/ alexa-auslaufmodell/, 21.09.2020).

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ins Ohr flüstern. Diese multilokale, letztlich globale Präsenz verweist bereits darauf, dass Alexa in gewisser Weise eine übermenschliche Position innehat. Sie kann im Gesamtumfang weniger als die Menschen, die als ihre Nutzer:innen positioniert werden, aber sie kann zugleich Dinge tun, die Menschen nicht beherrschen. Als technisches Artefakt nimmt Alexa diese Positionen nicht genau so wie ein Mensch ein, sondern als funktionales Äquivalent menschlicher Rollen. Konkret wird in den Werbevideos darauf verwiesen, dass Alexa ihren menschlichen Äquivalenten funktional überlegen ist, und zwar, weil sie ein technisches Artefakt ist, das – wie für Technik charakteristisch – mit hinreichender Sicherheit stets dieselben Wirkungen hervorbringt (Schulz-Schaeffer 2008b). Man muss nicht befürchten, dass Alexa verlegen wird, wenn man sie zum Witze-Erzählen auffordert. Man soll nicht befürchten, dass sie Daten (vielleicht aus Gewissensbissen oder Rachegelüsten?) nicht löscht, wenn man ihr dazu den Auftrag gibt. Sie benötigt auch keine Dank- und Bittformeln, die auf die soziale Anerkennung ihrer Dienstleistung abzielen. Die soziale Positionierung von Alexa ist demnach von Ambiguität geprägt. Sie ist namentragendes, ansprechbares Haushaltsmitglied und gleichzeitig nicht-menschliches Artefakt. Diese Objektifizierung zeigt sich bereits in der Pragmatik der Werbung selbst: In der Werbung werden Produkte angepriesen, nicht Menschen (und wenn Menschen explizit zum Kauf angeboten werden, wie etwa beim Anpreisen von Sklav:innen auf einem Sklavenmarkt, werden diese Menschen eben genau dadurch verdinglicht – und ihres Namens beraubt). Alexa oszilliert damit zwischen kommunizierender Person und dienender Unperson, Subjekt und Objekt. Wir haben es also mit der Bewerbung einer Kommunikationssituation zu tun, in der Mitteilungen »gehört« und »verstanden« werden und auf sie »geantwortet« wird, ohne dass dies aber mit den Kontingenzzumutungen menschlicher Subjektivität verknüpft wäre. Alexa agiert scheinbar bewusst, jedoch ohne die Fehlbarkeiten eines Bewusstseins. Dies wird dadurch verstärkt, dass die Involvierung von Menschen, die hinter dem Gerät stehen, die Produzent:innen, Entwickler:innen und Qualitätsprüfer:innen (die ggf. Gespräche sogar mithören und die Software trainieren), in der Präsentation des Produkts unsichtbar bleiben. Alexa als sozio-technische Infrastruktur verschwindet hinter Alexa, dem Interface. Als Interface soll Alexa eine möglichst zuverlässige Dienerin sein, die nur auf Ansprache reagiert und Aufgaben übermenschlich präzise ausführt. Subkutan konterkariert wird dieses Bild von dem weitgehend intransparenten infrastrukturellen Gefüge, das diese Dienstleitung erst ermöglicht – und an dem auch das Funktionieren oder Nicht-Funktionieren von Alexa letztlich abhängt. Bei letzterem handelt es sich um ein hochkomplexes sozio-technisches Gebilde in den Händen eines global operierenden Großkonzerns mit enormen Potentialen der Datenauswertung und -verarbeitung. Diese Lesart posthumaner Übermenschlichkeit 361

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verschiebt sich in dem öffentlich beworbenen Image von Alexa als verlässlicher Dienerin ins »technologische Unbewusste« (Thrift 2004). Die vorangegangenen Ausführungen sollen nun jedoch nicht den Eindruck vermitteln, dass die Bewerbung Alexas die potentiellen Käufer:innen des Produkts hinters Licht führen sollen. Vielmehr kann bei Werbung davon ausgegangen werden, dass Werber:innen mit einem Publikum rechnen, das bereits mit Werbung sozialisiert ist und von dieser keine wahre Beschreibung faktischer Wirklichkeiten erwartet. Vielmehr rechnet Werbung mit einem Publikum, das durchaus wissen kann, dass die Funktion der Werbung nicht in der Information über die Beschaffenheit der Welt, sondern der Vermarktung von Produkten besteht (Luhmann 1996: 60–61). Vor eben diesem Hintergrund kann auch der (selbst-)ironische Witz des untersuchten Werbevideos betrachtet werden. Man persifliert die Unzulänglichkeiten des Alltags, projiziert diese in eine scheinbar überwundene Vergangenheit und offeriert die verführerische Imagination einer Zukunft, in der dienstbare technische Assistentinnen den Menschen die Zugehörigkeit zu einer all-inklusiven menschlichen Oberschicht eröffnen würden. Somit werden nicht nur Alexa, sondern auch die menschlichen Akteur:innen in der medialen Präsentation Alexas humandifferenziert. Sie rücken in die Position einer Herrschaft, die mit Alexa über Dienstpersonal im Haushalt verfügt, das sie jederzeit ansprechen dürfen, demgegenüber sie sich aber nicht zu rechtfertigen haben. Sprachliche Höflichkeitsnormen, die in die Realisierung gesichtsbedrohender Aufforderungen gegenüber Menschen eingelassen sind, werden mit Alexa obsolet: wo kein Gesicht, da keine Gesichtsbedrohung.17 Die asymmetrische Rollenbeziehung von Mensch und Maschine symmetrisiert die menschliche Seite. Das lesbische Paar im SuperBowl-Video, das alltägliche Aufgaben an Alexa delegieren kann, symbolisiert zugleich die Verheißung der Rückkehr einer stratifizierten Ordnung, in denen Menschen durch den Rückgriff auf dienstbare Maschinen einander angeglichen werden. In der diversifizierten Welt gleichberechtigter Ansprüche und Beziehungen, welche die (eben auch: geschlechtsspezifischen) 17 Gleichermaßen machen sich Menschen, die mit Alexa kommunizieren, selbst »zweidimensional«: Gestik, Mimik, Blickführung – all diese multimodalen Aspekte der Mensch-Mensch-Kommunikation bleiben bei der sprachgesteuerten Nutzung der kameralosen digitalen Assistenten außen vor. Gerade die Tatsache, dass Sprachassistenten dieser Sinnschicht beraubt sind, mag die Bedenkenlosigkeit erklären, mit der Menschen sich eine solche Technologie, die Missbrauchspotential als Kontrollinstanz hat, ins Haus holen – es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Bereitschaft bestehen bleibt, wenn Alexa und Co. beginnen, zu »sehen«, d.h. also mit Kameras zur Erkennung non-verbaler Kommunikation ausgestattet werden. Geforscht wird an der Bereitstellung solcher Technologie bereits mit Hochdruck (z.B. Admoni/Scasselati 2017; Jachmann et al. 2017; Saunderson/Nejat 2019).

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Asymmetrien der klassischen Industriemoderne überwunden hat, kann soziale Ungleichheit wieder eingeführt werden. Die Normalisierung dieses Sozialmodells erfolgt auf Basis einer kommunikativen Symmetrisierung von Mensch und Maschine und einer gleichzeitig unhinterfragten normativen Hierarchisierung, welche die Ungleichbehandlung der Maschine mit völliger Selbstverständlichkeit zu rechtfertigen weiß.

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Die Autorinnen und Autoren Mita Banerjee, Prof. für Amerikanistik am Obama Institute for Transnational American Studies der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Autobiografieforschung, Life Writing und Medical Humanities, transnationale Amerikanistik. Andrea Behrends, Prof. für Ethnologie Afrikas an der Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte: Politische Anthropologie, Mobilität, Lebenswelt, Krise, Flucht, Ressourcen, Digitalisierung, Transformationsprozesse. Sascha Dickel, Jun.-Prof. für Mediensoziologie an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Digitalisierung, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Technikzukünfte, Posthumanismus. Dilek Dizdar, Prof. für Translationswissenschaft und Interkulturelle Germanistik am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Translationstheorie, Translationspolitik, Translation und Migration. Sabina Fazli, promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Amerikanistik am Obama Institute for Transnational American Studies der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Periodical Studies und Magazine Studies, Material Culture and Literature. Stefan Hirschauer, Prof. für Soziologische Theorie und Gender Studies sowie Fellow des Gutenberg Forschungskollegs an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Humandifferenzierung, Praxistheorien, Ethnografie, Soziologie des Körpers und der Geschlechterdifferenz. Stefanie Husel, promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft, Bereich Theaterwissenschaft an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Theater-, Film- und Medienwissenschaft als Praxisforschung, Spieltheorien und die Kulturgeschichte des Spiels. Roland Imhoff, Prof. für Sozial- und Rechtspsychologie an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Stereotype und Vorurteile, Verschwörungsmentalität, Repräsentationen von Geschichte, sexuelles Interesse. 368

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Herbert Kalthoff, Prof. für Wissens- und Bildungssoziologie sowie Qualitative Methoden an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Soziologie des Unterrichts und der Humanevaluation, Wirtschafts- und Finanzsoziologie, Praxis- und Materialitätstheorien. Friedemann Kreuder, Prof. für Theaterwissenschaft an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Theater Richard Wagners, Geistliches Spiel, Theater der Frühen Neuzeit und des 18. Jahrhunderts, Gegenwartstheater, Theaterwissenschaft als sozialwissenschaftliche Differenzierungsforschung. Matthias Krings, Prof. für Ethnologie und Populäre Kultur Afrikas an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Medienethnologie, Religionsethnologie, Disability Studies, Critical Race Studies. Hannah Link, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wissen- und Bildungssoziologie sowie qualitative Methoden der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Theorien des Humanen in Wissenschaft und Technik, Soziologie der Materialität, Praxistheorien. Nico Nassenstein, Jun.-Prof. für Afrikanistik an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Sprachtabus, Sprache und Konflikt, Jugendsprachpraktiken und Sprachkontakt, transgressive Sprache, Sprache und Tourismus.  Damaris Nübling, Prof. für Historische Linguistik des Deutschen an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Onomastik, morphologischer Wandel, Zweifelsfall-Linguistik, historische Soziogrammatik, Genderlinguistik. Johannes Paulmann, Direktor des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte und Prof. für Neuere Geschichte an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Europäische Geschichte, Internationale Geschichte und Geschichte der Humanitären Hilfe. Gabriele Schabacher, Prof. für Medienkulturwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Infrastructure Studies, Medientheorie und -geschichte des Verkehrs, Kulturen des Reparierens, Serialitätsforschung. Oliver Scheiding, Prof. für Amerikanistik am Obama Institute for Transnational American Studies der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Nordamerikanische Literatur und Kultur, Periodical Studies, Print Culture und Material Studies, Kulturtheorie. 369

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Miriam Schmidt-Jüngst, promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Germanistischen Linguistik an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Queer- und Genderlinguistik, Onomastik, Diskurslinguistik, kulturanalytische Linguistik, Human-Animal-Studies, Mensch-Maschine-Interaktion. Benjamin Wihstutz, Jun.-Prof. für Theaterwissenschaft an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Politisches Theater der Gegenwart, Performance und Behinderung, Geschichte des Publikums, die Entgrenzung der Künste seit den 1960er Jahren.

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Auch in unserem Programm: Stefan Hirschauer (Hg.) Un/doing Differences Praktiken der Humandifferenzierung 380 Seiten · ISBN 9783958321199 · EUR 24,90 Kulturelle Wirklichkeiten werden durch sinnhafte Unterscheidungen aufgebaut. Die sozial folgenreichsten sind die, mit denen sich die Unterscheider selbst voneinander unterscheiden: die Praktiken der Humandifferenzierung. Sie ereignen sich im Zuge der fortschreitenden Differenzierung und Individualisierung der Gegenwartsgesellschaft in einer bislang unbekannten Vielfalt, Vermischung und situativen Kontingenz. Dabei konkurrieren Kategorisierungen des »Menschenmaterials« (Georg Simmel) nach Nation, Ethnizität, Geschlecht, ›Rasse‹, Alter, Klasse, Sprache und Religion, aber auch nach Leistungs- und Attraktivitätsklassen, politischer und sexueller Orientierung, Leibesvolumen, Dialekten oder Konsumpräferenzen. Diese Differenzierungen wirken in Interaktionen, Institutionen und Diskursen zum Teil in Verbindung miteinander, zum Teil im Verdrängungswettbewerb mit anderen Unterscheidungen. Dem ›doing‹ – dem praktischen oder diskursiven Vollzug, dem institutionellen Aufbau – entspricht daher immer auch ein ›undoing‹ – eine Neutralisierung, Überlagerung und Außerkraftsetzung von Humandifferenzierungen. Unter welchen Bedingungen setzen sich welche Differenzierungen durch und wann werden sie in den Hintergrund verdrängt und als irrelevant oder nebensächlich behandelt? Was bestimmt die Konjunkturen der Humandifferenzierung? Zur Beantwortung dieser Fragen versammelt der Band theoretische Analysen und empirische Forschungsbeiträge von drei Kontinenten und aus fünf Fächern: der Soziologie, Ethnologie, Amerikanistik, Linguistik und Theaterwissenschaft. Mit Beiträgen von: Peter Auer, Mita Banerjee, Timo Heimerdinger, Bettina Heintz, Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff, Friedemann Kreuder, Matthias Krings, Carola Lentz, Marion Müller, Armin Nassehi, Damaris Nübling, Andreas Reckwitz, Richard Rottenburg und Oliver Scheiding. Es wird interessant sein zu beobachten, in welche Richtung sich die Forschergruppe bewegen wird, wenn die empirischen Arbeiten weiter fortgeschritten sind und wie sich das Humandifferenzierungsprogramm auch mit Blick auf die disziplinäre Vielfalt der beteiligten Teilprojekte bewährt. Dariuš Zifonun, Soziologische Revue Der Sammelband »Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierungen« herausgegeben von Stefan Hirschauer stellt in beeindruckender interdisziplinärer Vielfalt das Thema Humandifferenzierungen aus einer kulturanalytischen Perspektive dar. Tamara Schwertel, soziologieblog.hypotheses.org

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