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German Pages 400 Year 2019
Daniel Wawrzyniak Tierwohl und Tierethik
Human-Animal Studies | Band 21
Daniel Wawrzyniak, geb. 1982, studierte Philosophie und Englisch in Göttingen und promovierte im Rahmen des niedersächsischen interdisziplinären Programms »Animal Welfare in Intensive Livestock Production Systems«. Seine Forschungsschwerpunkte sind der moralische Status von Tieren und die Gültigkeit intuitionsgestützter Moralurteile.
Daniel Wawrzyniak
Tierwohl und Tierethik Empirische und moralphilosophische Perspektiven
Dieses Buch basiert auf der Dissertationsschrift: Wawrzyniak, Daniel: »Die Tiere, die wir halten und nutzen. Über die Konzeption des Tierwohls und die Rolle menschlicher Verantwortung«, angenommen von und verteidigt vor der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen am 07. Dezember 2017 (Gutachter: Prof. Dr. Holmer Steinfath, Prof. Dr. Bernd Ladwig, Prof. Dr. Bernd Ludwig). Die Arbeit entstand unter Förderung durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) und durch die Georg-Christoph-Lichtenberg-Stiftung im Rahmen des Promotionsprogramms »Animal Welfare in Intensive Livestock Production Systems«, sowie durch die Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG).
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Inhalt Danksagung | 9 Einleitung | 11
Tierwohl und Nutztierhaltung | 11 Praxisnahe Ansätze zum Tierwohl (I. Hauptteil) | 14 Philosophische Ansätze zum Tierwohl (II. Hauptteil) | 15 Vereinbarkeit von (anspruchsvollem) Tierwohlverständnis und Nutztierhaltung (III. Hauptteil) | 17 Was ist neu an dieser Untersuchung? | 19
I. DAS TIERWOHLVERSTÄNDNIS PRAXISNAHER NICHT-PHILOSOPHISCHER ANSÄTZE 1.
Bezug der Philosophie zur Tierwohlthematik | 23
1.1. Ziel des ersten Hauptteils | 23 1.2. Subjektives und objektives Wohl: eine erste Begriffsannäherung | 27 1.3. Rolle und Bedeutsamkeit moralischer Intuitionen | 32 2.
Der Brambell Report | 39
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7.
Hintergrund und Bedeutung des Brambell Reports | 39 Ziel und Funktion des Brambell Reports | 40 Tierwohlverständnis bei Brambell | 40 Die Rolle der Philosophie | 45 Umsetzbarkeit/Pragmatismus | 46 Mensch-Tier-Beziehungen im Brambell Report | 47 Lücken und Brüche innerhalb des Ansatzes | 48
3.
FAWC | 53
3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
Hintergrund und Funktion des FAWC | 53 Tierwohlverständnis | 54 Gegenläufige Intuitionen bei FAWC | 61 Grundsätzliche Bejahung von Tötung und Gefangenhaltung | 62 Die Rolle der Philosophie | 63
3.6. Pragmatismus bei FAWC | 66 3.7. Mensch-Tier-Beziehungen bei FAWC | 68 3.8. Lücken im Ansatz | 68 4.
UFAW | 71
4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8.
Hintergrund und Funktion des UFAW | 71 Grundsätzliches Tierwohlverständnis | 72 Anpassungsfähigkeit als Wohlfaktor | 76 »Five Freedoms« und menschliche Verantwortung | 78 Fixierung auf subjektive mentale Zustände | 79 Tierwohl zwischen Anspruch und Anpassungsfähigkeit | 81 Zweifel bei UFAW an der Relevanz von Anpassungsfähigkeit | 83 Abkehr vom Fokus auf negative Empfindungen | 86
5.
Welfare Quality® Project | 91
5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.
Entmoralisierung des Tierwohlbegriffs | 91 Verkürztes Tierwohlverständnis | 93 Mangelndes Bewusstsein der eigenen Kompromisshaltung | 96 Verbraucherorientierung statt Theoriefundierung | 97 Abschlusskritik | 99
Zwischenfazit des I. Hauptteils | 101 6.1. Wichtige Gemeinsamkeiten der hier behandelten Ansätze | 101 6.2. Weiteres Vorgehen | 109 6.
II. DER WOHL-BEGRIFF AUS PHILOSOPHISCHER PERSPEKTIVE 1.
1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6.
Der subjektivistische Wohlbegriff | 113
Ziel des zweiten Hauptteils | 113 Konzeption des subjektivistischen Wohlbegriffs | 115 Attraktivität des subjektivistischen Wohlbegriffs | 117 Konsequenzen eines subjektivistischen Wohlverständnisses | 123 Einwände gegen den Subjektivismus | 127 Abschlusskritik am Subjektivismus | 141
2.
Der objektivistische Wohlbegriff | 143
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Grundintuitionen des Objektivismus | 144 Attraktivität des Objektivismus | 152 Fundierung objektiver Werte | 156 Probleme des Objektivismus | 163 Abschlusskritik am Objektivismus | 171
3.
Für einen hybriden Wohlansatz | 173
3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
Verbindung von Weltzuständen und Geisteszuständen | 173 Hybrid auf subjektivistischer Basis | 177 Annäherung an die inhaltliche Bestimmung des Wohls | 185 Resultierender Wohlansatz für diese Untersuchung | 190
Übertragbarkeit zentraler Intuitionen | 193 4.1. Inkonsistente Trennung von Menschen- und Tierwohl in praxisnahen Ansätzen | 194 4.2. Parallelen und Unterschiede zwischen der Lebensverfasstheit von Menschen und Tieren | 195 4.3. Argumentversuche für eine ethische Mensch-Tier-Trennung | 204 4.4. Für eine Ausbildung stärkerer Mensch-Tier-Intuitionen | 219 4.
III. ANWENDUNG EINES ANSPRUCHSVOLLEN TIERWOHLBEGRIFFS AUF DIE NUTZTIERHALTUNG 1.
Konfliktpunkte zwischen Tierwohl und Nutztierhaltung | 223
1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6.
Ziel des dritten Hauptteils | 223 Tierhaltung und das Zufügen bzw. Zulassen von Leid | 224 Leid durch körperliche Eingriffe | 227 Leid durch Gefangenhaltung | 229 Leid durch Tötung | 232 Fazit des Kapitels | 235
2.
Töten ohne Leid | 237
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.
Ist leidfreie Tötung ein wohlneutraler Akt? | 237 Tötung als Verstoß gegen Fürsorge | 238 Tötung als Frustration von Lebensplänen | 241 Tötung als Beraubung positiver künftiger Eindrücke | 245 Die Irrelevanz abstrakter Konzepte | 248 Das Argument natürlicher Lebenserwartung | 250
2.7. Kann Schlachten das Tierwohl (indirekt) begünstigen? | 253 2.8. Ethische Probleme des Tötens unabhängig von Wohl | 259 2.9. Fazit zur Vereinbarkeit von Tötung und Tierwohl | 260 3.
Körperliche Eingriffe ohne Leid | 263
3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
Ist leidfreies körperliches Anpassen ein wohlneutraler Akt? | 263 Eingriffe an bereits existierenden Tieren | 265 Eingriffe an zukünftigen Tieren | 271 Fazit zur Vereinbarkeit von Tierwohl und körperlichen Eingriffen | 295
4.
Ein Recht auf Tierwohleinschränkung? | 297
4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.
Legitimierung durch Grenzen menschlicher Verantwortung | 298 Legitimierung durch Vorrang menschlicher Interessen | 303 Legitimierung durch einen Mensch-Tier-Vertrag | 305 Was schulden wir Tieren an Wohl? | 315 Fazit dieses Kapitels | 326
Grenzen des Tierwohlkonzepts | 329 5.1. Begrenztheit des Tierwohlkonzepts anhand des Problems des Animal Disenhancement | 330 5.2. Philosophische Stützungsversuche der intuitiven Ablehnung gegenüber Bewusstseinsminderung | 333 5.3. Die vernachlässigte Rolle von Handlungsmotiven und moralischem Charakter | 352 5.4. Moralisches Selbstverständnis und die Rolle des Tierwohlkonzepts | 360 5.5. Fazit dieses Kapitels | 368 5.
6.
Gesamtfazit und Ausblick | 371
Rückschau auf den I. Hauptteil | 371 Rückschau auf den II. Hauptteil | 372 Rückschau auf den III. Hauptteil | 374 Abschlussurteil zur Frage des Tierwohls und der Rolle menschlicher Verantwortung | 378 6.5. Überlegungen für die Zukunft der Tierwohlwissenschaft | 379 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.
Literaturverzeichnis | 385
Danksagung
Während der Entstehung dieses Buches wurde ich von vielen Menschen auf unterschiedlichste Weise unterstützt, denen mein Dank gilt. Ich danke Prof. Holmer Steinfath für die Betreuung meiner Promotion, für Hilfestellungen und Ermutigungen. Ebenso danke ich Prof. Bernd Ladwig für seine Übernahme der Zweitbetreuung und Prof. Bernd Ludwig dafür, dass ich ihn als Drittgutachter gewinnen konnte. Für die mehrfache intensive Diskussion früherer Kapitelentwürfe danke ich dem Kolloquium von Prof. Steinfath, sowie dem Kolloquium von Prof. Ladwig. Ich wurde finanziell, wissenschaftlich und vor allem kollegial unterstützt durch den interdisziplinären Promotionsstudiengang »Animal Welfare in Intensive Livestock Production Systems«, welcher durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) gefördert wird. Mein Dank gilt hierbei meinen Kolleginnen und Kollegen für den regen thematischen Austausch und ein freundschaftliches Arbeitsklima, wie ich es mir nicht besser hätte wünschen können. Prof. Achim Spiller danke ich für seine Leitung des Programms. Finanziell unterstützt wurde ich zudem von der Georg-Christoph-LichtenbergStiftung (im Rahmen meines Promotionsstudiengangs) sowie in den letzten Monaten meiner Dissertationsarbeit von der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG). Mario Brandhorst danke ich für den ständigen konstruktiven Austausch und für die sehr angenehme und lehrreiche Zusammenarbeit im Proseminar »Würde des Menschen – Würde des Tiers – Würde der Kreatur?«. Für ihre fortdauernde Unterstützung – sei es durch kritische Lektüre meiner Kapitelentwürfe, durch ständigen Zuspruch, aufbauende Worte oder durch zahlreiche anregende Diskussionen – danke ich vor allem Juliane Bettin, Christiane Königstedt, Aurélie Halsband, Roland Krause sowie Marco Fatfat. Für ihre fortwährende emotionale Unterstützung danke ich meinen Eltern und meiner Schwester. Göttingen, April 2019
Einleitung
TIERWOHL UND NUTZTIERHALTUNG Menschen beeinflussen mit ihren Handlungen das Leben von Tieren auf vielfältige Weise. Im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte haben sich dabei die ethischen Einstellungen zu den Tieren, die von menschlichen Handlungen betroffen sind, immer wieder verändert. So dominierte lange das Gebot, sich gegenüber Tieren lediglich absichtlicher Grausamkeit zu enthalten, weil bspw. befürchtet wurde, dass Menschen hierdurch verrohen und ihre grausamen Anwandlungen bald auch an ihren Mitmenschen abreagieren könnten. 1 Ebenso wurde ein solches Verhalten als charakterlich abstoßend betrachtet sowie als mangelnder Respekt vor der Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung, deren Bestandteil auch die Tierwelt sei. 2 Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts rückt mit dem »Tierwohl« ein neues Schlagwort ins Zentrum der Diskussion darüber, wie Menschen mit Tieren umgehen dürfen. Hierbei handelt es sich um ein biologische Kriterien einbindendes normatives Konzept, das die Lebensqualität von Tieren beschreibt. Dieser Begriff wurde insbesondere im Kontext solcher Praktiken eingeführt, in denen Menschen nicht rein zufällig in das Leben von Tieren eingreifen – etwa, wenn deren Lebensraum zugunsten menschlicher Bauvorhaben zerstört wird – sondern, in denen Menschen Tiere gezielt zur Verfolgung bestimmter Zwecken halten und nutzen. Dies betrifft vor allem Tierversuche sowie die landwirtschaftliche Nutztierhaltung. Bis heute dominiert die gesellschaftliche Vorstellung, dass es moralisch legitim sei, Tiere diesen Praktiken zu unterziehen, Menschen jedoch verpflichtet seien, auf das Wohl der betroffenen Tiere zu achten. Diese Rücksicht deutet dabei nicht 1 2
Prominent vertreten bei Kant (1977), Metaphysik der Sitten, Teil 2, Tugendlehre, §17. Vgl. Baranzke (2002), S. 237-244. Das soll nicht bedeuten, dass es nicht schon früher auch Strömungen gab, die Tieren weitaus mehr an moralischer Berücksichtigungswürdigkeit zugesprochen hätten. Sie müssen jedoch als gesellschaftlich marginal gelten (für einen historischen Überblick politischer Strömungen mit Tierrechtsbezug siehe Rude [2013]).
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zwangsläufig auf eine Sorge um das Tier selbst hin, sondern ist bereits aus pragmatischen Überlegungen geboten. So haben Menschen bereits ein rein ökonomisches Interesse daran, dass die Tiere, die sie für bestimmte Zwecke halten und nutzen wollen, auch in der Verfassung sind, die gewünschte Leistung zu erbringen und – außer bspw. bei Schlachttieren – auch möglichst lange erbringen zu können. 3 Parallel dazu zeichnet sich jedoch auch eine zunehmende gesellschaftliche Sensibilisierung gegenüber den betroffenen Tieren um ihrer selbst willen ab. Innerhalb der Tierwohldebatte kommt ein moralischer Anspruch zum Vorschein, wonach wir bemüht sein müssen, den Tieren, die wir halten und nutzen, im Gegenzug einen bestimmten Grad an Lebensqualität zu ermöglichen. Zunehmend wird dabei auch thematisiert, dass Tiere durch ihre Gefangenhaltung nicht in der Lage sind, selbstständig eine ausreichende Lebensqualität für sich sicherzustellen. Sie sind abhängig von den Menschen, die durch Haltung und Nutzung ihre Lebenssituation bestimmen. 4 Dieser Prozess der Sensibilisierung gegenüber der Lebenssituation von Tiere scheint dabei noch lange nicht am Ende angekommen. Die Vorstellungen darüber, welche Art von Leben Tiere führen können müssen, wenn wir sie halten und nutzen wollen, werden gesellschaftlich und wissenschaftlich immer differenzierter und anspruchsvoller formuliert. Zugleich wird auch zunehmend kritisch diskutiert, welche Lebensqualität denjenigen Tieren zusteht, die in freier Wildnis leben. Denn auch wenn letztere nicht gehalten und genutzt werden, sind sie doch auf andere Art von unseren Handlungen betroffen, etwa beim menschlichen Vordringen in ihre Lebensräume. 5 Dennoch nimmt in den gegenwärtigen Debatten das Schlagwort »Tierwohl« nirgendwo soviel Raum ein wie im Kontext der Nutztierhaltung. Dabei handelt es sich um ein zielgerichtetes Interesse an der Klärung des Tierwohlbegriffs: Tierprodukte sollen »mit gutem Gewissen« produziert und konsumiert werden können. Die Berücksichtigung des Tierwohls stellt hierbei den zentralen Faktor dar, an dem die Legitimität, Tiere weiterhin zu halten und zu nutzen, gesellschaftlich gemessen wird. Dies zeigt sich auch an einer fortlaufenden Verschärfung von juristischen Tierwohl-Richtlinien, am Einführen von Labeln auf Verpackungen, die auf industriell überdurchschnittliche Tierwohl-Standards hinweisen, sowie anhand der fortdauernden Erforschung des Tierwohls seitens der empirischen Wissenschaften. Diese Bemühungen durch Verbesserung des Wohls der Tiere, die wir halten und nutzen, die Legitimität unserer Praktiken zu behaupten, werfen jedoch zentrale Fragen auf.
3
Vgl. Rollin (1995), S. 141.
4
Vgl. Brambell et al. (1965), S. 15, §46.
5
Hierzu insb. Palmer (2010).
Einleitung | 13
Was alles gehört zum Tierwohl dazu? Wie viel Wohl schulden wir Tieren allgemein und insbesondere denen, die wir halten und nutzen wollen? Lässt sich unter der Gewährleistung ausreichenden Wohls jeder Umgang mit Tieren automatisch rechtfertigen? Und wie viel moralisches Gewicht hat das Tierwohl gegenüber menschlichen Belangen? Dürfen wir Kompromisse eingehen, beim Abwägen zwischen ihrem Wohl und unseren Interessen, für die sie gehalten, genutzt und dabei in ihrem Wohl beeinflusst werden? In dieser Arbeit widme ich mich aus philosophischer Perspektive der Beantwortung solcher Fragen, die m.E. von den empirischen Wissenschaften (welche innerhalb der Tierwohlforschung den Ton angeben) vorschnell als bereits geklärt angesehen und in einigen Fällen gänzlich übergangen werden. Es geht mir dabei ausdrücklich nicht um eine Konkretisierung dessen, was ein bestimmtes Tier haargenau an Zuwendung, an Ressourcen, an Betätigungs- und Interaktionsmöglichkeiten benötigt, um ein (ausreichend) gutes Leben bei menschlicher Haltung und Nutzung führen zu können. Solche Konkretisierungen sind tatsächlich die Domäne der empirischen Wissenschaften. Veilmehr geht es um eine wesentlich allgemeinere Klärung der Faktoren, die für das Tierwohl von Belang sind, bevor sie in einem nächsten Schritt von den empirischen Wissenschaften konkretisiert werden können. Und es geht darum, was der Begriff »Tierwohl«, der alltagssprachlich vielleicht zunächst nicht sonderlich nebulös wirkt, bei tiefgründiger philosophischer Betrachtung an Facetten beinhaltet und welche Rolle ihm in tierethischen Überlegungen zukommt. Es ist somit zu klären, was uns am Tierwohl zu interessieren hat, warum es uns zu interessieren hat, und wie viel (oder wenig) uns die konkrete Lebensqualität eines Tiers, darüber verrät, wie wir mit diesem Tier umgehen dürfen. Eine inhaltlich-kriterielle Begriffsdefinition von »Tierwohl« ist insofern für diese Arbeit von sekundärem Interesse. Primär geht es um die normative Funktion und Tauglichkeit des Tierwohlbegriffs in tierethischen Diskursen – darum, was der moralische Anspruch, Tierwohl zu berücksichtigen, eigentlich für unseren Umgang mit Tieren bedeutet, wenn dieser Anspruch zu Ende gedacht wird. Dabei konzentriere ich mich, wie erwähnt, auf die Tiere, die wir halten und nutzen. 6 Ich werde argumentieren, dass, trotz fortlaufender
6
Es ließe sich darüber diskutieren, ob bestimmte Formen der Haustierhaltung auch unter diese Schablone fallen. Auch manche Haustiere sollen für uns einen bestimmten Nutzen erbringen, wie Einsamkeit vertreiben. Ich werde im Verlauf dieser Arbeit argumentieren, dass ein essentieller Faktor der Nutztierhaltung das »Nutzenkalkül« ist. Dazu gehört, dass ein Tier versorgt wird, damit es einen Nutzen erbringt und nur solange es diesen Nutzen erbringt. Eine Zuchtsau, die keine (oder nicht mehr genügend) Ferkel produziert, ist diesem Kalkül nach ebenso »unnütz«, wie eine Milchkuh, die nicht mehr genügend Milch gibt, aber auch wie ein »Streicheltier«, das Menschen beißt.
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Weiterentwicklungen des Tierwohlverständnisses in Wissenschaft und Gesellschaft, Tierwohl mehrheitlich noch immer nicht anspruchsvoll genug verstanden wird. Hieraus resultiert, dass ein adäquates Verständnis von Inhalt und Bedeutung des Tierwohls eine Fortführung der Nutztierhaltung insgesamt als moralisch illegitim herausstellt.
PRAXISNAHE ANSÄTZE ZUM TIERWOHL (I. HAUPTTEIL) Um meine eingangs aufgestellte Interpretation der Rolle und Entwicklung des Tierwohlbegriffs zu belegen, wende ich mich im I. Hauptteil dem Tierwohlverständnis praxisnaher Ansätze zu. Gemeint sind damit Beiträge aus dem Bereich der Tierwohlwissenschaft, die bereits von vornherein an der Fortführung der Nutztierhaltung festhalten, bemüht sind, empirische Grundlagen für eine Verbesserung des Wohls der betroffenen Tiere zu liefern, und hieraus direkte Handlungsempfehlungen für die Akteure der Nutztierhaltung formulieren. 7 Ich werde anhand einiger besonders einflussreicher Ansätze exemplarisch die wichtigsten kriteriellen und normativen Grundannahmen herausarbeiten, die in diesen praxisnahen Tierwohlansätzen zutage treten. Ebenso werde ich wichtige Weiterentwicklungen hervorheben, die sich in diesen zeitlich auseinander liegenden Quellen erkennen lassen. Ich werde zusammenfassen, welches generelle Verständnis von Inhalt und Bedeutung des Tierwohls hierin zum Tragen kommt und dieses einer ersten philosophischen Kritik unterziehen. Besondere Aufmerksamkeit werde ich hierbei auffallenden Intuitionen widmen, die von den Autoren am Rande geäußert werden, sich aber nicht in das von ihnen vertretene Tierwohlkonzept harmonisch einfügen. Generell werden Intuitionen im Verlauf meiner Untersuchung einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Ich vertrete eine Variante des moralischen Intuitionismus, die von W.D. Ross und insbesondere Jeff McMahan beeinflusst ist. Hiernach sind die vortheoretischen Überzeugungen bzw. die Bauchgefühle von Moralakteuren als ethische Erkenntnisquelle ernstzunehmen, bedürfen gleichwohl aber kritischer Überprüfung. Anhand dieser intuitionistischen Position werde ich wichtige Lücken im Tierwohlverständnis der vorgestellten praxisnahen Ansätze aufzeigen. Und ich werde argumentieren, dass die erwähnten starken Intuitionen, die in diesen Ansätzen selbst enthalten (aber dem vertretenen Tierwohlverständnis entgegengesetzt)
7
Je nach Ansatz können hierbei Halter angesprochen werden aber auch Züchter, Schlachter, Transporteure, Kontrolleure, Tierärzte oder Verbraucher.
Einleitung | 15
sind, dafür sprechen, dass den praxisnahen Autoren die Lücken ihres Tierwohlbegriffs zumindest intuitiv an entscheidenden Stellen bewusst zu sein scheinen. Ich werde ebenfalls aufzeigen, dass im historischen Verlauf Tierwohlswissenschaftler kontinuierlich bemüht sind, neue Kritikpunkte aufzunehmen und bei der Weiterentwicklung ihrer Ansätze zu berücksichtigen. Dabei konstatieren sie jedoch lediglich, dass bestimmte neue Tierwohlfaktoren aufzunehmen sind, thematisieren aber nicht, warum diese neuen Faktoren relevant sind (bspw. beim Faktor des »natürlichen Verhaltens«). So werden neue Aspekte dem bereits etablierten Tierwohlansatz lediglich aufgepfropft, ohne dass die eigentlichen theoretischen Lücken im Ansatz eine angemessene Auseinandersetzung erfahren. Aus dieser Kritik leite ich die Dringlichkeit einer tiefgründigen philosophischen Auseinadersetzung mit dem Tierwohl und seiner Rolle für tierethische Überlegungen ab. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Versuchs, die Fortführung der Nutztierhaltung durch Verbesserungen des Tierwohls zu legitimieren. Es ist philosophisch zu klären, welche Dimensionen und Aspekte für das Wohl eines Tiers als relevant angesehen werden müssen und warum sie als relevant angesehen werden müssen.
PHILOSOPHISCHE ANSÄTZE ZUM TIERWOHL (II. HAUPTTEIL) Im II. Hauptteil werfe ich einen Blick auf die bisherige philosophische Debatte zur Thematik des Guten Lebens und versuche diese für die Bestimmung eines guten Tierlebens fruchtbar zu machen. Traditionell konzentriert sich dieser Bereich der Philosophie auf das Leben von Menschen. Sofern die Lebensverfasstheit von Tieren überhaupt betrachtet wird, dann nur ausblickhaft, wie etwa bei Sumner, Nussbaum oder Seel. 8 Die Debatte um ein gutes Leben bei Menschen ist insofern aufschlussreich, als dass hier Inhalt und Bedeutung des individuellen Wohls in einer Tiefe diskutiert werden, die den praxisnahen empirischen Ansätzen fehlt. Ein wesentlicher Streitpunkt innerhalb dieser philosophischen Debatten ist die Frage, ob das Wohl eines Individuums allein darauf reduziert werden kann, was sich in dessen Kopf abspielt. Ob also nur von Belang ist, ob sich ein Individuum subjektiv wohl fühlt, ganz gleich, in welchen Lebensumständen es sich befindet, oder ob noch weitere Faktoren zählen, die dem betroffenen Individuum selbst überhaupt nicht bewusst sind, während es sein Leben lebt. Dies betrifft bspw. die Frage, ob es mit der Berücksichtigung des Tierwohls vereinbar ist, Tiere frühzeitig an eine wenig komfortable Haltungsumwelt zu gewöhnen, oder ihnen bestimmte Güter
8
Vgl. Sumner (1996); Nussbaum (2004), S. 299-320; Seel (1998), S. 275-296.
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vorzuenthalten, von denen sie keine Vorstellung haben, die sie aber als positiv empfinden würden, wenn sie denn Zugang zu diesen Gütern bekämen. Praxisnahe Ansätze weisen hierbei eine Fixierung auf das subjektive Wohlempfinden des Tiers auf. Die objektiven Lebensbedingungen eines Tiers, sein körperlicher und geistiger Zustand, seine Betätigungs- und Interaktionsspielräume werden nur insoweit als relevant betrachtet, wie sie sich im subjektiven Wohlempfinden des Tiers niederschlagen. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie des Guten Lebens hilft zu beleuchten, warum dieses subjektivisitisch-reduktionistische Tierwohlverständnis unzureichend ist und auch nicht in der Lage, die zuvor erwähnten starken Intuitionen einzufangen, die in den behandelten praxisnahen Ansätzen selbst enthalten sind. Ich werde einen objektivierten Subjektivismus vertreten, der v.a. durch Sumner und Seel inspiriert ist. Hiernach besitzen sowohl die subjektiven Wohlempfindungen eines Tiers, als auch seine objektiven Lebensumständen normative Relevanz. Ebenso die Art und Weise, wie menschliche Moralakteure beeinflussen, was ein Tier subjektiv als positiv oder negativ empfindet. Es zählt für das Tierwohl also nicht nur, wie ein Tier de facto subjektiv seine Lebenssituation bewertet, sondern auch wie es sie bewerten würde, wenn Menschen nicht gezielt dafür Sorge tragen, dass es sie nur auf eine bestimmte Weise erlebt und bewertet. Damit weise ich zugleich rein objektivistische Ansätze zurück, die behaupten, bestimmte Lebensumstände seien in wertrealistischer Weise für das Wohl eines Individuums förderlich und dabei von der subjektiven Perspektive des betroffenen Individuums selbst gänzlich unabhängig. Ebenso wende ich mich gegen die Annahme, es sei für das Wohl eines Individuums unabhängig von dessen subjektiver Perspektive förderlich, ein typischer Vertreter seiner Art zu sein, bzw. die Art von Leben zu führen, die für seine Spezies typisch ist. Ein anspruchsvolles Wohlverständnis, wie es sich aus einem solchen objektivierten Subjektivismus ergibt, trägt zentralen Intuitionen Rechnung, die wir bezüglich der Beurteilung des Wohls von Menschen und unserer Verpflichtungen im Umgang mit ihnen hegen. Indem ich auf Parallelen bei der Lebensverfasstheit von Menschen und Tieren verweise, werde ich argumentieren, dass solche Intuitionen auch auf den Umgang mit Tieren zu übertragen sind – zumindest soweit dies durch entsprechende Parallelen gestützt werden kann. Menschen und Tiere mögen sich hinsichtlich bestimmter Facetten ihres anspruchsvoll verstandenen Wohls zwar unterscheiden, es ist aber verfehlt, ein von vornherein wenig anspruchsvolles Wohlverständnis auf Tiere anzuwenden. Das hierbei umrissene anspruchsvolle Tierwohlverständnis wird dazu dienen, die im I. Hauptteil herauskristallisierten theoretischen Lücken praxisnaher Ansätze zu schließen und ein kohärentes Fundament für die Bewertung des Tierwohls im III. Hauptteil zu liefern, das den erwähnten starken Intuitionen Rechnung trägt.
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VEREINBARKEIT VON (ANSPRUCHSVOLLEM) TIERWOHLVERSTÄNDNIS UND NUTZTIERHALTUNG (III. HAUPTTEIL) Mithilfe des zuvor herausgearbeiteten anspruchsvollen Tierwohlverständnisses widme ich mich im III. Hauptteil der Ausgangsfrage, die für praxisnahe Ansätze überhaupt erst die Auseinandersetzung mit dem Tierwohl motiviert: Was und wie viel an Wohl schulden wir den Tieren, die wir halten und nutzen, um unseren Umgang mit ihnen »mit gutem Gewissen« fortführen zu können? Ich werde darlegen, dass sämtliche der hierbei betroffenen Tiere einem »Nutzenkalkül« unterzogen werden, dessen Praktiken grundsätzlich mit dem Anspruch, Tierwohl zu berücksichtigen konfligieren. Zum einen aufgrund empirischer Schwierigkeiten – es scheint kaum (ökonomisch) möglich, Tiere ohne die Verursachung von Leid gefangen zu halten, zu töten, und körperlich an menschliche Konsuminteressen anzupassen. Zum anderen bedeutet die Tötung und körperliche Anpassung von Tieren in essentieller Weise, ihnen bestimmte positive Lebenserfahrungen vorzuenthalten und dadurch ihr Wohl zu beeinträchtigen. 9 In einem weiteren Schritt werde ich argumentieren, warum Protagonisten der Nutztierhaltung diese Unvereinbarkeit nicht einfach billigend zur Kenntnis nehmen dürfen, sondern als ernstzunehmenden moralischen Konflikt begreifen müssen, der eine radikale Veränderung unseres Umgangs mit Tieren erforderlich macht. Hierin nehme ich den eingangs erwähnten Anspruch, Tierwohl zu berücksichtigen, auf und verdeutliche, warum dabei mehr von uns verlangt ist, als bloß das Tierwohl soweit zu berücksichtigen, wie es die Fortführung unserer heutigen Lebensweise und unserer aktuellen Opferbereitschaft gerade zulassen. In der Auseinandersetzung mit dem Tierwohl, so meine These, lassen wir bestimmte ethische Grundüberzeugungen erkennen, die unsere Rücksichtnahme auf Tiere überhaupt erst motivieren. Diese Grundüberzeugungen verbieten uns zum einen, die Einschränkung des Wohls der Tiere, die wir halten und nutzen, als ethisch banal abzutun. Zum anderen verbieten sie uns, Tierwohlkonflikte »zu umgehen«, indem wir die Fähigkeiten und Bedürfnisse dieser Tiere genetisch manipulieren. Dieser Punkt bedarf besonderer philosophischer Aufmerksamkeit. Ich unterscheide hierbei zwei Formen der genetischen Anpassung. Die erste bezeichne ich
9
Inwieweit auch die Gefangenhaltung von Tieren eine essentielle Einschränkung ihres Wohls bedeutet, klammere ich in dieser Ausarbeitung aus, da hierbei spezielle philosophische Streitfragen berührt werden (bspw. über den intrinsischen Wert von Freiheit). Dieser Aspekt der Nutztierhaltung erfordert eine eigenständige vertiefende Auseinandersetzung.
18 | Tierwohl und Tierethik
als Fähigkeitsminderung. Sie zielt darauf ab, Tiere so zu manipulieren, dass sie ihre Lebensverfasstheit innerhalb der Nutztierhaltung nicht als beeinträchtigend empfinden können, indem ihnen Fähigkeiten und Bedürfnisse abgezüchtet werden, die bei ihrer Haltung und Nutzung andernfalls frustriert würden. Die zweite Form bezeichne ich als Bewusstseinsminderung. Sie zielt darauf ab, Tiere zu erschaffen, die über keinerlei Bewusstsein verfügen und somit rein gar nichts als leidvoll oder angenehm empfinden können und damit im moralisch relevanten Sinne über kein eigenes Wohl mehr verfügen. Bei beiden Fällen handelt es sich nicht um fiktionale Szenarien, sondern um mögliche Praktiken, die bereits kontrovers diskutiert werden und auf bereits erfolgte reale Tierversuche verweisen. 10 Während sich Fähigkeitsminderung noch mithilfe des von mir vorgestellten anspruchsvollen Tierwohlkonzepts moralisch zurückweisen lässt, sind bei Bewusstseinsminderung hingegen die argumentativen Grenzen des Tierwohlkonzepts m.E. erreicht. Dieses Phänomen markiert eine eigene spezialisierte philosophische Debatte, die zeitgenössische philosophische Autoren in argumentative Bedrängnis bringt. Mit dem Ausschalten von Bewusstsein werden sämtliche Kriterien ausgehebelt, auf die sich fähigkeitsbasierte Tierethikansätze bisher gestützt haben (ebenso wie Ansätze, die Mensch-TierBeziehungen hervorheben). Ich werde argumentieren, dass die Erschaffung solcher Tiere tatsächlich nicht mehr als Verstoß gegen das Tierwohl kritisiert werden kann, dennoch aber moralisch zurückzuweisen ist, weil sie einen Verstoß gegen die ethischen Grundüberzeugungen darstellt, die uns überhaupt erst motivieren, Akteure sein zu wollen, die Tiere als moralisch berücksichtigungswürdig zu betrachten. Ich bezeichne dies als einen Konflikt mit unserem moralischen Selbstverständnis. Diese spezielle Problematik verdeutlicht meiner These nach, dass »Tierwohl« nur ein Vehikel ist, um unsere moralischen Grundüberzeugungen im Umgang mit Tieren auf eine griffige Formel zu bringen und uns praktische Orientierung zu verschaffen, wer wir, moralisch gesprochen, sein wollen und wie wir dem folgend zu handeln haben. Dabei wird sich zeigen, dass »Tierwohl« als Konzept unsere moralischen Handlungsverpflichtungen gegenüber Tieren zwar über weite Strecken abzudecken vermag, aber eben nicht vollständig. Dies macht die Hinwendung einiger Autoren zu alternativen Konzepten wie Tierwürde, Tierintegrität oder Tierrechten verständlich. Ich werde in diesem Zusammenhang kurz erläutern, warum ich solche Begriffe lediglich als vorübergehende Platzhalter verstehe, die gleichwohl bereits wichtige Hinweise für weitere philosophische Forschung beinhalten. Hieraus leite ich ab, dass der moralische Anspruch, Tierwohl zu berücksichtigen, wesentlich weiter gefasst werden muss, als den Protagonisten der Nutztierhaltung und vielen Konsumenten von Tierprodukten offenbar bewusst ist. Einerseits, weil das Konzept des Tierwohls selbst bereits anspruchsvoller zu fassen ist, als von
10 Vgl. Streiffer/Basl (2011), S. 826-854.
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vielen Menschen bislang immer noch angenommen wird. Andererseits, weil der moralische Anspruch, Tierwohl zu berücksichtigen, mehr verlangt, als uns bloß auf die Vermeidung von Tierwohlkonflikten oder das Gewährleisten eines bestimmten Grades an Tierwohl zu fixieren. Insofern handelt es sich bei dieser Ausarbeitung nicht einfach nur um eine weitere philosophische Kritik an unseren Praktiken gegenüber Tieren. Es geht darum, eine Brücke zwischen der empirischen Tierwohlforschung und der philosophischen Kritik zu schlagen, indem das derzeit in der Nutztierhaltung dominierende Schlagwort des Tierwohls aufgegriffen und in seiner Bedeutung für tierethische Diskurse beleuchtet wird.
WAS IST NEU AN DIESER UNTERSUCHUNG? Die empirische Literatur zum Tierwohl ist bereits sehr umfassend, ebenso wie die philosophische Literatur zur Kritik an der Gefangenhaltung von Tieren, ihrer genetischen Veränderung, ihrer Tötung und dem Konsum der aus ihnen gewonnenen Produkte. Dennoch besteht immer noch eine wichtige Forschungslücke an den Schnittstellen von Philosophie und empirischer Tierwohlforschung, sowie innerhalb der unterschiedlichen philosophischen Auseinandersetzungen mit unseren Praktiken an Tieren. Praxisnahe Tierwohlwissenschaftler greifen in ihren Arbeiten zwar durchaus tierethische Ansätze auf, jedoch nur randständig und wenig ausführlich. Es handelt sich dabei mehr um eine Kenntnisnahme als eine wirkliche Auseinandersetzung. Eine enge Verknüpfung von empirischen Tierwohltheorien und Tierethik findet von Seiten der Empiriker kaum statt. Aber auch andersherum haben Tierethiker bisher nur wenige Versuche unternommen, ihre allgemeine Auseinandersetzung mit unseren moralischen Verpflichtungen gegenüber Tieren eng auf den Tierwohlbegriff zu beziehen. Zweifelsohne gibt es eine reiche philosophische Literatur zum moralischen Status von Tieren und vielfältige kritische Auseinandersetzungen mit der Nutztierhaltung. Der Begriff des Tierwohls selbst jedoch wird dabei kaum als Schlagwort philosophisch thematisiert und analysiert. Und dort, wo dieser Begriff mehr Aufmerksamkeit erfährt, werden andere wichtige Aspekte vernachlässigt, so dass die Bedeutung des Tierwohlbegriffs für unsere moralische Selbstreflexion immer nur partiell beleuchtet wird. Haynes geht in seinem 2010 erschienenes Werk Animal Welfare 11 direkt auf klassische praxisnahe Quellen ein und hebt den normativen Charakter des Tierwohlkonzepts hervor. Er beschäftigt sich jedoch nur oberflächlich mit der Literatur des Guten Lebens in Bezug auf Tiere. Ursula Wolf be-
11 Vgl. Haynes (2010).
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leuchtet in ihrer 2012 erschienenen Ethik der Mensch-Tier-Beziehung 12 den Zusammenhang zwischen dem Wohl und dem moralischem Status von Tieren und entwickelt unterschiedliche Grundkategorien (»Dimensionen«) des Tierwohls. Dafür geht sie kaum auf praxisnahe Ansätze ein. Bernard Rollin hat bereits 1995 mit The Frankenstein Syndrome 13 eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit der gentechnischen Veränderung von Tieren geliefert und wichtige Fragen des Tierwohls aufgegriffen. Ein umfassendes Verständnis der normativen Bedeutung von Tierwohl liefert aber auch er nicht. In der aktuellen Debatte um die gentechnische Veränderung von Tieren existiert mittlerweile eine Vielzahl an erhellenden Beiträgen zur Kritik an der Nutztierhaltung, die dem Begriff des Tierwohls besondere Aufmerksamkeit widmet. Diese Quellen aber stehen gerade in Bezug auf Bewusstseinsminderung m.E. vor einer Sackgasse, die eine noch weiter vertiefende Auseinandersetzung mit der ethischen Rolle des Tierwohlkonzepts erfordert. Insbesondere widmet sich keine der mir bekannten philosophischen Quellen ausreichend der Aufgabe, die moralischen Intuitionen herauszufiltern, zu ordnen und zu verdichten, die sowohl in der Debatte des Guten Lebens, in praxisnahen Tierwohlansätzen und in aktuellen Beiträgen zu gentechnischen Veränderungen an Tieren zutage treten und im Begriff des Tierwohls zusammenlaufen. Die philosophische Literatur zum Tierwohl gleicht somit einer Landschaft aus »Baustellen«, auf denen bereits viel Erhellendes zutage gefördert wurde, deren Beiträge jedoch bisher ungenügend zusammengeführt und auf die praxisnahe empirische Tierwohlforschung direkt bezogen wurden. Die vorliegende Arbeit soll diese Verbindung herstellen und, wenn auch keinen erschöpfenden Überblick zur Tierwohldebatte, so doch ein umfassendes, tiefgehendes Verständnis darüber liefern, was der Begriff des Tierwohls beinhaltet und welche normative Bedeutung ihm eigentlich zukommt bei der Reflexion unserer moralischen Verantwortung gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen. Darüber hinaus soll in dieser philosophischen Auseinandersetzung die empirische Tierwohlforschung stärker adressiert werden, als dies bisher (überwiegend) der Fall ist, um trotz aller interdisziplinären Verständigungsschwierigkeiten den wissenschaftlichen Dialog hinsichtlich unseres Umgangs mit Tieren zu befördern.
12 Vgl. Wolf (2012). 13 Vgl. Rollin (1995).
I.
Das Tierwohlverständnis praxisnaher nicht-philosophischer Ansätze
1
Bezug der Philosophie zur Tierwohlthematik
1.1 ZIEL DES ERSTEN HAUPTTEILS Innerhalb der philosophischen Literatur hat der Begriff des Tierwohls bisher eine eher randständige Rolle gespielt. Philosophische Abhandlungen konzentrieren sich zumeist auf allgemeinere Fragen der Tierethik und sind selbst noch 40 Jahre nach Erscheinen von Peter Singers Animal Liberation 1 vor allem damit beschäftigt zu klären, ob Tiere überhaupt moralische Berücksichtigung um ihrer selbst willen verdienen oder welches normative Gewicht ggf. ihren Bedürfnissen beizumessen ist. In diesen Auseinandersetzungen spielt die Leidensfähigkeit von Tieren, und damit Fragen des Tierwohls, zwar eine wichtige Rolle, gleichwohl taucht »Tierwohl« als Terminus innerhalb der Debatten nur selten auf. Ebenso wurde der Inhalt dieses Begriffs – bis auf wenige jüngere Ausnahmen 2 – bisher kaum in einer umfassenden philosophischen Auseinandersetzung beleuchtet. Einzelne Beiträge zur Thematik sind also vorhanden, stellen jedoch vielmehr Versatzstücke dar. Demgegenüber ist der Begriff »Tierwohl« innerhalb der empirischen Nutztierwissenschaften lange schon das zentrale Schlagwort in weit reichenden Debatten, Abhandlungen und Forschungsprojekten. Dabei konzentriert sich die Arbeit der empirischen Forschung vor allem darauf, wie Tierwohl möglichst valide gemessen werden kann und anhand welcher Kriterien und Schwellen sich am adäquatesten einfangen lässt, was und wie viel wir Tieren an Wohl schulden. 3 Der Inhalt des Tierwohl-Begriffs selbst gilt dabei als weitestgehend geklärt und wird nicht näher kritisch beleuchtet. Gerade hier kann die Philosophie konstruktiv ansetzen und die Tierwohlforschung entscheidend bereichern. Ansätze nehmen wiederholt auf philosophische Quellen Bezug – wenn auch leider zumeist nur sehr oberflächlich und ohne selbst Stellung zu philosophischen 1 2
Vgl. Singer (1975). So etwa Wolf (2012) und Haynes (2010). Beide lieferten mir gerade zu Beginn meiner Forschungsarbeit wichtige Startimpulse.
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So bspw. bei Appleby et al. (2011).
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Fragen zu beziehen. 4 Philosophische Ansätze hingegen greifen kaum auf die empirischen Vorarbeiten zum Tierwohl zurück, sofern sie sich überhaupt diesem Begriff gesondert nähern. 5 Daher lohnt es sich, vor der eigentlichen philosophischen Auseinandersetzung zunächst einen kritischen Blick darauf zu werfen, was empirische Ansätze unter Tierwohl verstehen, wie sie mit diesem Begriff verfahren und welche normative Bedeutung sie ihm bezüglich unseres Umgangs mit Tieren zuschreiben. Ziel dieses ersten Hauptteils ist es daher, zunächst eine Verortung des derzeitigen Standes der empirischen Tierwohlforschung vorzunehmen sowie ihre historische Entwicklung grob anzudeuten. Dabei werde ich zentrale, von nahezu allen Tierwohlansätzen geteilte, Grundannahmen herausfiltern und kritisch prüfen. Meine These ist, dass gängige praxis-orientierte Tierwohlansätze, damals wie heute, in vielerlei Hinsicht defizitär sind. Sie gehen von zunächst unverdächtig wirkenden Prämissen aus, die jedoch, sofern sie weitergedacht werden, zu intuitiv unbefriedigenden – teils abstoßenden – Ergebnissen führen. Die Autoren scheinen sich dieser Reibungspunkte z.T. bewusst und fügen, wie ich aufzeigen werde, in ihren Ansätzen an entsprechenden Stellen Ergänzungen ein. Diese aber erweisen sich, trotz ihrer löblichen Stoßrichtung, als inkompatibel mit den Wohltheorien, die die Autoren selbst zugrunde legen. Ebenso wurden im historischen Verlauf der Tierwohlforschung immer wieder neue Wohlaspekte in die Debatten eingeführt, um »blinde Flecken« vorangegangener Ansätze zu erfassen. Dabei werden neue Kriterien und Aspekte jedoch lediglich auf das bisherige Theoriegerüst aufgepfropft ohne zu überprüfen, ob solche Ergänzungen überhaupt noch in kohärenter Weise eingebunden werden können. Diese Defizite stellen m.E. ein Markenzeichen anwendungsorientierter empirischer Ansätze dar, die ich hier als »praxisnah« bezeichnen werde. Diese Ansätze sind von vornherein ausgelegt auf die Umsetzbarkeit von Tierwohlmaßnahmen. Sie legen dabei großen Wert auf Simplizität, direkte Anwendbarkeit und Kompatibilität mit den derzeit vorherrschenden ökonomischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die unsere Praktiken an Tieren betreffen. Dabei ist insbesondere kritisch zu sehen, dass solche Rahmenbedingungen als feste Gegebenheiten angenommen werden, die selbst nicht weiter zu hinterfragen sind. Praxisnahe Tier-
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Diese fehlende Positionierung ist teils auf ein mangelhaftes Verständnis philosophischer Grundtheorien zurückzuführen (bspw. bei FAWC [2009a], S. 54-56) oder wird sogar als pragmatischer Vorteil begriffen, da durch die klare Bekenntnis zu einem konkreten Ansatz die Kooperation mit Vertretern anderer Ansätze erschwert werde (vgl. Welfare Quality® [2009], S. 3).
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Die erwähnte Vorarbeit von Haynes stellt eine seltene Ausnahme dar. Dieser befasst sich eng mit zentralen empirischen Tierwohl-Autoren wie Duncan, Fraser, Appleby oder Sandøe (vgl. Haynes [2010]).
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wohlansätze nehmen somit die gegebenen Rahmenbedingungen als Ausgangspunkt für ihre Analysen und Verbesserungsforderungen, statt sie als eigenständigen Teilaspekt eines zu verbessernden Mensch-Tier-Verhältnisses zu begreifen. Des Weiteren ist es mir wichtig, einen Unterschied zwischen pragmatischer und pragmatistischer Grundhaltung zu betonen. Ich verstehe hierbei Ansätze als pragmatisch, die besonderen Wert auf die Berücksichtigung dessen legen, was unter gegebenen Umständen umsetzbar ist. Demgegenüber bezeichne ich Ansätze als pragmatistisch, wenn bei ihnen die Frage nach dem unmittelbar Umsetzbaren so sehr dominiert, dass andere Gesichtspunkte unter den Tisch fallen. Meine Kritik richtet sich dabei ausschließlich auf pragmatistische Ansätze. Sie verengen die Thematik des Tierwohls auf die Frage, was wir Tieren an Wohl zukommen lassen können, ohne dabei an die Grenzen zu stoßen, die durch die derzeitigen Rahmenbedingungen gesetzt werden. 6 Die Liste einflussreicher und aktueller empirischer Quellen zur Tierwohlforschung ist lang. Im Folgenden werde ich einige wenige, dafür aber prominente und nachhaltig einflussreiche Ansätze vorstellen und kritisch beleuchten. Ich habe mich dafür entschieden, nicht die empirische Grundlagenforschung zu behandeln, in der es vorrangig um Kriterienauswahl für Tierwohlmessungen und die Entwicklung valider Messmethoden geht. Stattdessen wende ich mich solchen praxisnahen Ansätzen zu, in denen die Ergebnisse solcher empirischer Forschungen kulminieren mit politischen, gesellschaftlichen und ethischen Überlegungen zum menschlichen Umgang mit Tieren. Mein Hauptaugenmerk liegt auf einem adäquaten Tierwohlverständnis, nicht auf einer (alltagstauglichen) Tierwohlmessung. Die von mir in den Blick genommenen Ansätze haben zudem den Vorteil, dass sie bereits eine eigene Agenda vertreten, also konkrete Tierwohlforderungen aufstellen und damit aufzeigen, wohin derzeitige Grundannahmen der Tierwohlforschung führen, wenn sie konsequent zu Ende gedacht und auf Alltagssituationen angewandt werden. Damit liefern sie eine konkrete Vorlage, an der eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Tierwohl gezielt ansetzen kann. Die erwähnten Kritikpunkte werde ich anhand dreier Institutionen vornehmen, die die empirische Tierwohldebatte nachhaltig geprägt haben: dem BrambellKomitee, dem Farm Animal Welfare Council/Committee und der Universities Federation for Animal Welfare. Zwar sind alle drei in Großbritannien angesiedelt, ihr
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Diese Ausrichtung wirkt sich mitunter auch auf die Beschreibung des Inhalts von Tierwohl aus. So werden, wie ich zeigen werde, bestimmte Aspekte von praxisnahen Ansätzen pauschal als nicht tierwohlrelevant ausgewiesen, da ihre Berücksichtigung uns zu große Anstrengungen abverlangen würde.
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Einfluss auf die internationale Tierwohlforschung ist dennoch unbestritten. 7 Dem füge ich eine kurze Auseinandersetzung mit dem Welfare Quality® Project der EU hinzu, als aktuelles Beispiel eines zunehmend international etablierten Mess- und Beurteilungssystems für Tierwohl. Ich erhebe nicht den Anspruch, mit diesen wenigen ausgewählten Quellen die Geschichte der Tierwohldebatte möglichst genau und vollständig darzustellen. Es geht mir allein darum, zentrale dominierende Annahmen innerhalb dieser Debatte sowie Konstanten und Spannungen innerhalb der vorherrschenden Theorien zu illustrieren. Diese Aufgabe können die von mir ausgewählten Quellen leisten. 8 Es wird sich zeigen, dass die genannten Tierwohlansätze entscheidende Aspekte des Tierwohls und unserer moralischen Pflichten gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen, übersehen. Dieses Versäumnis führe ich auf zwei typische Merkmale praxisnaher Tierwohlansätze zurück: 1. Sie verengen die Untersuchung des Tierwohls auf die subjektiven Bewusst-
seinszustände des betroffenen Tiers und blenden weitere relevante Aspekte dabei aus. 2. Sie weisen einen inkohärenten Umgang mit moralischen Intuitionen auf. Einerseits lehnen sie solche Intuitionen als unwissenschaftlich ab, andererseits verwenden sie selbst intuitive Werturteile und orientieren sich zudem explizit an gesellschaftlich dominierenden intuitiven Werturteilen. Beide Kritikpunkte bedürfen einer einleitenden Erläuterung. Eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit der normativen Relevanz subjektiver Bewusstseinszustände und objektiver Lebensumstände wird im II. Hauptteil erfolgen. Bereits für den I. Hauptteil ist es jedoch ein grobes Verständnis darüber erforderlich, was beide Seiten auszeichnet, um nachvollziehen zu können, wo und inwiefern sie bei praxisnahen Ansätzen zutage treten. Ich beginne daher in 1.2. mit einer einführenden Erläuterung darüber, was unter einem streng subjektivistischem Tierwohl-
7
Ein zeitweise einflussreicher deutschsprachiger Ansatz ist der Tiergerechtheitsindex (TGI) von Bartussek (vgl. Bartussek [1995a]; Bartussek [1995b]). Der TGI stellt jedoch lediglich ein eigenständiges Beispiel für ein Erhebungs- und Bewertungsverfahren von Tierwohl dar, stützt sich m.E. aber auf dieselben Grundannahmen, wie die von mir näher behandelten Ansätze. Zudem gilt der TGI trotz seiner Prominenz in Fachkreisen zunehmend als überholt, da er die Gestaltung der Stallumgebung in den Mittelpunkt rückt, anstatt Verhalten und Gesundheit der Tiere zu beobachten (vgl. Aerts et al. [2006], S. 68).
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Einen geschichtlichen Überblick zur Tierwohldebatte und zentralen Entwicklungen liefert Haynes (2011), S. 105-120.
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verständnis zu verstehen ist und werde in 1.3. verdeutlichen, welche ethische Relevanz moralischen Intuitionen zukommt.
1.2 SUBJEKTIVES UND OBJEKTIVES WOHL: EINE ERSTE BEGRIFFSANNÄHERUNG Um den Begriff des Wohls näher zu fassen, ist es erforderlich (a) Kriterien zu benennen, anhand derer sich der Wohlzustand eines Individuums beurteilen lässt, und (b) darzulegen, aus welchen Gründen eben diese Kriterien für das Wohl des Individuums relevant sind. Hinzu kommt (c) die Frage, aus welcher Perspektive das Wohl eines Individuums adäquat beurteilt werden kann. So ist zu fragen, ob das betroffene Individuum alleinige Autorität besitzt, wenn es um die Einschätzung eines Wohls geht, oder ob es sich über seinen eigenen Wohlzustand täuschen kann, während Außenstehende ihn adäquater einschätzen können. In der Philosophie werden hierbei zwei einander gegenüberstehende Einflussbereiche diskutiert. Zum einen die Umstände und Eigenschaften, die die Lebensverfasstheit eines Individuums objektiv ausmachen. Zum anderen, die mentalen affektiven Zustände, die ein Individuum subjektiv erlebt. Diese Dichotomie zwischen »objektiv« und »subjektiv« kann dabei, wie ich im Folgenden kurz darlegen werde, auf mehreren Ebenen zum Tragen kommen. So lässt sich etwa von (a) subjektiven und objektiven Wohlfaktoren sprechen. Aber auch von (b) grundlegend subjektivistischen und objektivistischen Wohlansätzen. Und zuletzt vom (c) subjektiven und vom objektiven Wohl eines Individuums. Ich werde diese Begriffe und die Ebenen auf denen sie angesiedelt sind im Folgenden kurz erläutern. Diese Erläuterung ist deshalb wichtig, da m.E. innerhalb praxisnaher Ansätze diese Begriffe nicht sauber voneinander getrennt werden. Die von mir ausführlich behandelten praxisnahen Ansätze vertreten einen strikt subjektivistischen Tierwohlansatz, der der Komplexität eines philosophisch anspruchsvollen Wohlbegriffs nicht gerecht wird. Und eben weil der Wohlbegriff hierbei verkürzt wird, kommen diese Ansätze in ihrer Beurteilung unseres Umgangs mit Tieren zu ethisch problematischen Ergebnissen. Dabei ist mir wichtig herauszustellen, dass solche strikt subjektivistischen Ansätze gleichzeitig durchaus objektive Wohlfaktoren aufgreifen und verwenden können. Sie können aber dem von mir geäußerten Reduktionismus-Vorwurf nicht einfach dadurch entgehen, dass sie objektive Wohlfaktoren in ihren Ansatz einbinden. Es geht nicht nur darum, welche Faktoren als wohlrelevant angenommen werden, sondern auch aus welchem Grund ihnen Relevanz zugeschrieben wird.
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1.2.1 Subjektivistische und objektivistische Wohlansätze Bei der Rede von subjektivistischen und objektivistischen Wohlansätzen geht es um eine formale Bestimmung des Wohlbegriffs. Objektivistische Ansätze stellen die äußeren Lebensumstände selbst in den Mittelpunkt und bemessen Wohl daran, welche Lebensumstände für das zu untersuchende Individuum objektiv der Fall sind: bspw. ob ein Tier gesund ist, ob es die Möglichkeit zu sozialen Kontakten mit anderen Tieren besitzt, ob es verhaltensauffällig ist, etc. Die subjektiven Gefühle des Individuums sind dabei zweitrangig. Zu sagen, ein Zustand oder Gegenstand sei objektiv gut für ein Individuum, bedeutet, dass er gut ist, ganz gleich, ob das betreffende Individuum ihn auch subjektiv wertschätzt. Ist dieser Zustand oder Gegenstand nicht vorhanden, so ist das Wohl des Individuums entsprechend eingeschränkt, auch dann wenn das betroffene Individuum selbst dieses Fehlen nicht bemerkt oder sogar begrüßt. Und sein Wohl wird befördert, auch dann wenn das betreffende Individuum das Vorhandensein dieses Zustands oder Gegenstands nicht bemerkt oder ihm sogar aversiv gegenübersteht. 9 Subjektivistische Ansätze dagegen konzentrieren sich darauf, wie das Individuum auf seine Lebensverfasstheit mental reagiert und wie es sie subjektiv bewertet. Dabei sind die objektiven Lebensumstände des Individuums zweitrangig. Wichtig ist nicht, wodurch sich ein Individuum wohl fühlt, sondern dass es sich wohl fühlt. Bezogen auf das individuelle Tier ist Gesundheit bspw. deshalb wichtig, weil Krankheit mit körperlichen oder mentalen Beschwerden einhergeht, die sich für das betroffene Tier unangenehm anfühlen. 10 Ebenso ist die Möglichkeit mit Artgenossen zu spielen deshalb wichtig, weil sich das betroffene Tier durch diese Interaktion gut fühlt, und schlecht, wenn ihm diese Interaktion fehlt. Zu sagen, ein Zustand oder Gegenstand sei subjektiv gut für ein Individuum, bedeutet, dass er dann und nur dann gut ist, wenn das betreffende Individuum ihn subjektiv wertschätzt, und zwar weil es ihn wertschätzt. Das Wohl eines Individuums hängt von der subjektiven Wertschätzung der eigenen Lebenssituation ab, ganz gleich, über welche Güter sein Leben objektiv verfügt und auch unabhängig davon, ob das Individuum adäquat einschätzt, über welche Güter sein Leben objektiv verfügt. 11
9
Vgl. Steinfath (2011); Steinfath (2013); Sumner (1996); Parfit (1984); sowie Haybron (2008).
10 Vgl. Rollin (2003), S. 39. 11 Vgl. Darstellungen bei Steinfath (2011); Steinfath (2013); Sumner (1996); Parfit (1984); sowie Haybron (2008). Zusätzlich ist noch zu unterscheiden zwischen »objektivistisch intrinsisch gut« und »objektivistisch instrumentell gut« bzw. »subjektivistisch intrinsisch gut« und »subjektivistisch instrumentell gut«. Gemeint ist damit, ob ein bestimmter Zustand oder Gegenstand bereits für sich genommen, als wohlrelevant betrachtet wird, oder
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Der Streit zwischen beiden Positionen ist Gegenstand einer eigenen sehr weit reichenden philosophischen Debatte, die im II. Hauptteil näher beleuchtet werden wird. Für den I. Hauptteil ist zunächst nur wichtig hervorzuheben, dass beide Lager die gleichen Zustände oder Gegenstände als Wohl relevant ausweisen können, jedoch unter unterschiedlicher Bezugnahme. So betont etwa der entschiedene Subjektivist Sumner: »What makes a theory of welfare subjective is not what it counts as welfare sources (and therefore not whether these are themselves subjective), but the role it assigns to the subject’s concerns in identifying those sources.« 12
Ich habe dies am Beispiel von Gesundheit und sozialer Interaktion verdeutlicht, die sowohl subjektivistisch als auch objektivistisch als tierwohlrelevant ausgewiesen werden können. Es ist daher wichtig, bei der Untersuchung von Tierwohlansätzen darauf zu achten, auf welcher theoretischen Grundlage einzelne Faktoren als wohlrelevant angenommen werden. 1.2.2 Subjektive und objektive Wohlfaktoren Subjektive und objektive Wohlfaktoren dienen der groben inhaltlichen Bestimmung des Wohlbegriffs. Hier geht es bereits darum (wenn auch auf einer sehr allgemeinen Ebene), welche Faktoren zählen, nicht warum sie zählen. Objektive Wohlfaktoren beschreiben, was der Fall ist (bspw. wie groß die Stallumgebung eines Tiers ist, ob der Körper dieses Tieres Krankheitserreger, Wunden oder Schwellungen aufweist, etc.). Subjektive Wohlfaktoren beziehen sich auf die mentalen affektiven Zustände des betroffenen Individuums. Sie beschreiben, wie sich die Welt für das betroffene Individuum selbst anfühlt: das Gefühl von Frustration, die Erlebnisqualität von Langeweile, die empfundene Erschöpfung durch eine Virusinfektion, oder das empfundene Leid durch schmerzende Glieder und äußere Verletzungen. Subjektive Wohlfaktoren lassen sich in gewisser Weise auch objektiv beschreiben. Wenn sich ein Individuum A gerade gut fühlt, so ist es objektiv der Fall, dass sich A gut fühlt. Gegen eine solche objektivistische Lesart 13 von subjektiven Emp-
nur insofern, als dass er den eigentlich wertvollen Zustand oder Gegenstand erreichen hilft. Diese Präzisierung kann für meine Zwecke jedoch vernachlässigt werden. 12 Sumner (1996), S. 93. 13 Eine solche Position ist bspw. bei Parfit erkennbar, der komplexen mentalen Zuständen objektiven Wert beimisst. Seine Verteidigung dieses Verständnisses mentaler Zustände
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findungen wird jedoch innerhalb der philosophischen Literatur eingewandt, dass sie die spezifische Qualität subjektiver Gefühle nicht einfängt. 14 Die Aussage »Ich fühle mich großartig!« lässt sich weder nahtlos in die Aussage »A fühlt sich großartig« übersetzen, noch lässt sich die eine Aussage auf die andere reduzieren. Es geht hierbei um die Erlebnisqualität eines bestimmten subjektiven Gefühls und nicht um die objektive Tatsache, dass dieses Gefühl von jemandem gerade empfunden wird. Die in der empirischen Tierwohlwissenschaft gängigen Oberkategorien »Tiergesundheit« und »Tierverhalten« können dabei als Komplexe verstanden werden, die sowohl objektive als auch subjektive Faktoren einbinden. 15 Dies kann schnell zur Vermengung beider Seiten führen. Tiergesundheit kann bspw. sowohl objektive Aussagen über den körperlichen und mentalen Zustand eines Tiers beinhalten, als auch die subjektiven Leidempfindungen hervorheben, die mit Krankheit und Verletzung einhergehen. Analog dazu kann Tierverhalten objektive Aussagen darüber beinhalten, inwieweit ein Tier in der Lage ist, sich frei zu bewegen und speziestypische Verhaltensweisen auszuleben. Es können hier aber auch subjektive Empfindungen, die mit dem Ausleben von Verhaltensweisen einhergehen eingebettet werden. 16 Umso wichtiger ist es für Vertreter von Tierwohlansätzen genau zu erläutern, welche Faktoren sie aus welchem Grund als wohlrelevant erachten. Wie ich aufzeigen werde, betonen praxisnahe Tierwohlansätze explizit, dass das Wohl eines Tiers anhand dessen eigener Perspektive zu bestimmen sei. Da uns als Außenstehenden diese Perspektive jedoch nicht direkt zugänglich ist, müssen wir anhand objektiver Faktoren versuchen, möglichst adäquate Rückschlüsse auf die subjektive Gemütslage des betroffenen Tiers zu ziehen. Insofern greifen diese Ansätze zwar häufig objektive Wohlfaktoren auf, bleiben dennoch aber von Grund auf subjektivistisch.
bleibt jedoch sehr undurchsichtig (vgl. Parfit [2011], S. 54ff). Noch deutlicher zutage tritt eine solche Objektivierung mentaler Zustände bei Schaber (1998), S. 165-166. 14 Vgl. Sumner (1996), S. 45 sowie Steinfath (2013), S. 177. Für eine Vertiefung siehe II.2.4.3. 15 Für eine exemplarische Verwendung der Begriffe »Tiergesundheit« und »Tierverhalten« in empirischen Tierwohlansätzen siehe Deimel et al. (2010), insb. S. 33-42. 16 Ich werde die Gefahr einer solchen Vermengung anhand der Ansätze von FAWC und UFAW illustrieren (siehe I.3 und I.4.).
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1.2.3 Subjektives und objektives Wohl Den obigen Unterscheidungen folgend ist es möglich, zwischen dem subjektiven Wohl und dem objektiven Wohl eines Individuums zu unterscheiden. Diese Bezeichnungen sind jedoch mehrdeutig. Ich möchte zunächst das Verständnis umreißen, das ich explizit nicht für meine Arbeit verwenden werde. Subjektives Wohl kann verstanden werden als der Wohlzustand, den ein Individuum gemäß seiner eigenen subjektiven Beurteilung empfindet. Hiernach weist ein Individuum, das sich glücklich fühlt, ein positiv geprägtes subjektives Wohl auf. Objektives Wohl wäre hingegen zu verstehen als der Wohlzustand, den ein Individuum gemäß der Güter und Zustände aufweist, die sein Leben enthält. Ein Individuum besitzt hiernach ein positiv geprägtes objektives Wohl, wenn sein Leben Güter und Zustände aufweist, die sich als objektiv wertvoll beschreiben lassen. 17 So ließe sich über ein Individuum, dem es objektiv an Nahrung, an Betätigungsmöglichkeiten und sozialen Kontakten mangelt, welches dabei aber gleichzeitig glücklich ist, sagen, dass sein objektives Wohl besorgniserregend ist, sein subjektives Wohl jedoch zufriedenstellend. 18 Wie angekündigt, werde ich die Begriffe des subjektiven und objektiven Wohls jedoch anders verwenden. Zwar unterscheide ich zwischen den faktischen Weltzuständen und den mentalen Zuständen, die auf jeweils eigene Weise das Wohl eines Individuums beeinflussen. Ich betrachte beide Seiten jedoch als unterschiedliche Aspekte desselben Wohltyps. Bei der terminologischen Trennung von subjektivem und objektivem Wohl orientiere ich mich hingegen an Ursula Wolf. Sie bezeichnet subjektives Wohl als die Lebensqualität eines Individuums, welches über eine subjektive Bewertungsperspektive verfügt, d.h. über Empfindungsvermögen und ein zumindest rudimentäres Bewusstsein. Die Frage, welches Gewicht und welche Relevanz hier subjektiven und objektiven Wohlfaktoren zugedacht werden, bleibt dabei noch unbestimmt. Die Beurteilung des subjektiven Wohls eines Lebewesens beinhaltet immer die Annahme, dass ein bewusstes Individuum vorhanden ist, dem
17 Wie zu ersehen ist, verwende ich hierbei »Wohl« als neutrale Beschreibung der gesamten Bandbreite an positiver und negativer Qualität. Wenn die Lebenssituation eines Individuums also von Leid dominiert wird, spreche ich nicht etwa von seinem Unwohl, sondern von einem Wohl, das negativ geprägt ist. 18 Die Frage, ob nun die Berücksichtigung des subjektiven oder des objektiven Wohlzustands Priorität für unsere Handlungen gegenüber Tieren besitzt, bzw. inwieweit die Beförderung der einen Seite Einschränkungen auf der anderen ausgleichen kann, stelle ich hier zunächst hintan, werde diese Problematik jedoch im II. Hauptteil vertiefen.
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es etwas ausmachen kann, welche Qualität sein Leben aufweist (sei dies nun in einem objektivistischen oder subjektivistischen Vokabular beschrieben). 19 Objektives Wohl hingegen stellt eine rein äußere Beschreibung der Lebenssituation eines Wesens dar, das über keinerlei subjektive Perspektive verfügt, die wir in irgendeiner Hinsicht berücksichtigen könnten. Wolf illustriert dies am Zustand einer Pflanze, über die man zwar sagen kann, dass es objektiv betrachtet gut für sie ist, gegossen zu werden, der wir jedoch nicht plausibler Weise ein subjektives eigenes Interesse daran zuschreiben können, nicht zu verdorren. 20 Allen gängigen Moraltheorien zufolge ist ein Individuum mit eigener Perspektive, auf das wir uns direkt beziehen können, Mindestvoraussetzung für die Zuschreibung moralischer Berücksichtigungswürdigkeit. 21 Entsprechend ist für eine moralphilosophische Untersuchung der Tierwohl-Thematik allein das zuletzt beschriebene subjektive Wohl relevant. Ich setze dabei voraus, dass die standardmäßig in der Nutztierhaltung eingesetzten Lebewesen (Hühner, Kühe, Schweine) die Bedingungen für den Besitz einer eigenen subjektiven Perspektive erfüllen. Anders verhielte es sich bspw. bei Muscheln oder nährstoffreichen Insekten, denen in Ermangelung einer subjektiven Perspektive lediglich ein objektives Wohl zugesprochen werden kann, aus dem sich keine moralisch verbindliche Berücksichtigungsverpflichtung ableiten lässt. Ich konzentriere mich in dieser Arbeit jedoch auf die standardmäßig eingesetzten Nutztiere, bei denen sich also eine solche Verpflichtung verteidigen lässt.
1.3 ROLLE UND BEDEUTSAMKEIT MORALISCHER INTUITIONEN 1.3.1 Intuitionistische Grundposition In meiner Arbeit werden emotionale Einstellungen eine zentrale Rolle einnehmen. Es geht mir darum, welche »Bauchgefühle« Moralakteure bezüglich bestimmter Handlungen besitzen bzw. bezüglich der Konsequenzen, die bestimmte theoretische Grundannahmen ergeben, sofern diese zu Ende gedacht werden. Diese emotionalen Einstellungen werden unter dem Stichwort moralische Intuitionen zusammenge-
19 Vgl. Wolf (2012), S. 73. 20 Vgl. ebd., S. 73, 114. 21 Streng Kantianisch geprägten Kontraktualisten etwa reicht diese subjektive Perspektive noch nicht aus. Für moralische Pflichten der Rücksichtnahme ist ihnen zufolge zusätzlich noch Vernunftbegabung unseres Gegenübers erforderlich (vgl. Carruthers [2014], S. 219242).
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fasst. 22 Ich vertrete damit eine intuitionistische Position, wonach unsere emotionalen moralischen Einstellungen eben nicht bloß gefühlsüberladene Verwirrungen sind, die durch nüchternes emotionsfreies Denken überwunden werden müssen. Moralische Intuitionen verleihen unseren tief sitzenden Moralüberzeugungen Ausdruck. Sie sind damit als Indikatoren unverzichtbar und stellen Erkenntnisquellen für die Plausibilität von Moralprinzipien dar. 23 Damit meine ich nicht, dass wir alle unsere moralischen Entscheidungen aus dem Bauch heraus und ohne weiteres Überlegen fällen sollten. Vielmehr müssen sich unsere ethischen Prinzipien und Urteile an mehreren Maßstäben parallel messen lassen. Sie müssen inhaltliche Stimmigkeit besitzen und dürfen nicht auf Fehlannahmen gestützt werden. Sie müssen aber ebenfalls intuitiv akzeptabel sein. Ich betrachte intuitive Einstellungen somit nicht als den einzigen Prüfstein für unseren moralischen Umgang mit Tieren, jedoch als ein Kriterium, das keinesfalls vernachlässigt werden darf. 1.3.2 Die kritische Überprüfbarkeit von Intuitionen Intuitionen haftet jedoch der Ruf an, willkürlich, irrational und für andere Akteure unverbindlich zu sein und damit untauglich für die Entwicklung universal gültiger Moralprinzipien. Dabei wird insbesondere hervorgehoben, dass Moralakteure sehr unterschiedliche Intuitionen zum selben Gegenstand besitzen können. Konkrete moralische Intuitionen können aber nur denjenigen Akteur zu bestimmten Handlungen motivieren, der diese Intuitionen auch selbst hegt. Die Intuitionen anderer, die wir selbst im Gegenzug nicht teilen, haben für uns keinerlei praktische Motivation und damit, so scheint es, auch keinerlei Verbindlichkeit. Dieser Vorwurf geht jedoch davon aus, dass Intuitionen unhinterfragbar sind, so wie etwa Geschmacksurteile, und das Intuitionen zwingend willkürlich sein müssen. Warum aber sollten wir das annehmen? McMahan betont, dass es möglich ist, völlig willkürliche Intuitionen von solchen zu unterscheiden, die einer kritischen Prüfung standhalten. Solche belastbaren Intuitionen sind ihm zufolge erstens moralisch relevant, d.h. sie
22 Vgl. McMahan (2000), S. 93f. McMahan definiert moralische Intuitionen als vortheoretische Urteile, d.h. wir gelangen nicht erst durch ableitende theoretische Überlegungen zu ihnen. Wir empfinden sie unmittelbar. 23 Ich übernehme dabei die spezielle Variante eines Bottom-Up-Intuitionismus, die von McMahan stark gemacht wird. Die Kernaussage dabei ist, dass Intuitionen nicht als moralischer »Sechster Sinn« zu verstehen sind, der uns Moralprinzipien direkt wahrnehmen lässt. Jedoch helfen sie uns, überzeugende Moralprinzipien herauszukristallisieren. Vor allem können sie uns auf Lücken in moralischen Theorien aufmerksam machen, die wir bei einer rein rationalen Betrachtung zu übersehen drohen (vgl. ebd., S. 92-110, sowie McMahan [2002], S. 238ff).
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sind ernst zu nehmen. Und zweitens sind sie nicht einfach übertrumpfbar. Sofern sich tief sitzende und belastbare moralische Intuitionen nicht in eine Theorie aufnehmen lassen, so ist diese Theorie mit Skepsis zu betrachten, egal wie inhaltlich stimmig, logisch aufgebaut und plausibel sie auch sonst sein mag. Intuitionen können nicht einfach durch andere Gründe, nicht einmal durch konkurrierende Intuitionen überwogen werden. 24 Eine Intuition ist als belastbar anzusehen, solange nicht gezeigt wurde, dass sie selbst auf Vorurteilen, Fehlannahmen oder anderer diskreditierender Grundlage beruht: »[U]nless they can be explained away as obvious products of collective self-interest, exploded metaphysics, factual errors, or some other discrediting source, common moral intuitions should be treated as presumptively reliable, or as having presumptive authority.« 25
Lassen sich Intuitionen und Grundtheorie nicht miteinander vereinen, so dürfen wir nicht einfach unsere Intuitionen über Bord werfen, um dadurch künstlich ein stimmiges Bild zu erzeugen. Intuitionen sind für McMahan insbesondere deshalb von Bedeutung, weil sie moralischen Überzeugungen Ausdruck verleihen, die tiefer liegen, als die betreffenden Intuitionen selbst. Mit dem Ausblenden von Intuitionen geben wir wichtige Erkenntnisquellen aus der Hand auf der Suche nach verlässlichen und überzeugenden Moralprinzipien. 26 Wir dürfen Intuitionen, sofern sie belastbar sind, weder ignorieren, noch der inhaltlichen Kohärenz von Theorien opfern. Intuitionen, die sich nicht einbinden lassen, sind ein unverzichtbarer Indikator für mögliche Lücken innerhalb eines Ansatzes, der uns zunächst plausibel und unproblematisch erscheinen mag. 27 Dass Intuitionen anfällig sein können für Fehleinschätzungen und -urteile, und dass gerade stark emotional aufgeladene Einstellungen hierfür prädestiniert sind, muss dabei nicht geleugnet werden. Dies verdeutlicht allein die Dringlichkeit, Intuitionen nicht komplett aus unseren Untersuchungen fernzuhalten, sondern sorgsam diejenigen herauszufiltern, die als belastbar ausgewiesen werden können. Diese intuitionistischen Grundannahmen stellen das Fundament meiner kritischen Untersuchung praxisnaher Tierwohlansätze dar.
24 Vgl. McMahan (2000), S. 100-106. 25 McMahan (2002), S. 238. 26 Vgl. McMahan (2000), S. 106. 27 Vgl. ebd., S. 103ff.
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1.3.3 Emotionsfeindlichkeit innerhalb der empirischen Nutztierwissenschaften Die empirisch geprägte Tierwohlwissenschaft wird dominiert von einer abwertenden Haltung gegenüber Emotionen, während besonderer Wert auf »sachliche« Diskussionen und »valide messbare«, »wissenschaftliche« Fakten gelegt wird. 28 Emotional gestützte Urteile seien dagegen nicht wissenschaftlich, sondern sentimental. 29 Wir müssen unsere Emotionen diesem Codex folgend nicht vollständig ablegen, sie besitzen jedoch kein eigenständiges Gewicht. 30 Sofern unsere Emotionen sich mit dem decken, was valide und wissenschaftlich nachweisbar ist, spreche nichts gegen sie. Sind beide Seiten jedoch nicht deckungsgleich, so ist unseren Emotionen keine Beachtung zu schenken. UFAW-Gründer C.W. Hume bringt dies in einem innerhalb der Tierwohlwissenschaft viel beachteten Zitat auf den Punkt: »[A]nimal problems must be tackled on a scientific basis, with a maximum of sympathy but a minimum of sentimentality.«
31
Die beiden hier gegenübergestellten Begriffe lassen sich meiner Interpretation nach wie folgt unterscheiden. »Sympathy« (hier wohl am treffendsten mit »Empathie« übersetzt) ist zu verstehen als Einbindung emotionaler Urteile, die sich durch wissenschaftlich belegbare Fakten stützen lassen, oder zumindest nicht zu solchen Fakten im Widerspruch stehen. »Sentimentality« dagegen betont eine übertriebene emotionale Einstellung, 32 die nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt wird, sondern sie vielmehr ignoriert oder sich von ihnen abhebt.
28 Vgl. Haynes (2010), S. iv-vi, xi. 29 So bspw. bei Brambell et al. (1965), S. 9 § 25; Deimel et al. (2010), S. 35; FAWC (2009a), S. 4, 21, 32f. Für eine nähere Diskussion dieses Sentimentalitätsvorwurfs siehe Haynes (2010), S. xii-xiv. 30 Ein illustratives Beispiel ist Jörg Hartungs Internet-Artikel »Wissenschaftliche Fakten statt Emotionen«, in dem es u.a. heißt: »Nachhaltige Nutztierhaltung und Tierschutz müssen wissenschaftlich basiert sein und dürfen sich nicht auf rein emotionale Beweggründe stützen.« (Hartung [2013]) [Hervorhebung D.W.]. 31 C.W. Hume, zitiert nach Haynes (2010), S. 3. 32 Die abwertende Konnotation, die dem Begriff der Sentimentalität anhaftet, lässt sich literaturgeschichtlich nachverfolgen. Ein sentimentaler Mensch ist nach heutigem Verständnis jemand, der vor lauter Emotionalität den Boden unter den Füßen verliert – also bspw. beim Bemühen, sich in andere hineinzuversetzen übers Ziel hinausschießt und den Bezug zur Realität einbüßt (vgl. Sanders [2004], S. 322ff sowie Backscheider/Ingrassia [2005], S. 449ff).
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Mit dieser Abwertung von Emotionen geht auch die Abwertung moralischer Intuitionen einher, da diese sich emotional äußern. Der Anspruch, Tierwohl sachlich, nüchtern und emotionsunabhängig zu untersuchen, ist meiner obigen Argumentation folgend zwar auf den ersten Blick plausibel und unverdächtig, jedoch insofern gefährlich, als dass wir aufgefordert werden, wichtige ethische Erkenntnisquellen und Prüfsteine aus der Hand zu geben. Ebenso läuft die hierin hervorgehobene Gegenüberstellung von »Wissenschaftlichkeit« und »Sentimentalität« schnell Gefahr, zur oberflächlichen rhetorischen Keule zu werden, um den Diskussionsgegner zu diskreditieren. Wer als »sentimental« gilt, über dessen Argumente lohne es sich gar nicht erst nachzudenken. 33 Ein solches Abwehren von Kritik ist nicht nur unlauter, sondern steht auch der Verbesserung von Tierwohlansätzen im Weg, da von vornherein die Möglichkeit eingeschränkt wird, etwaige Lücken in zunächst plausibel wirkenden Ansätzen zu erkennen und zu beheben. Darüber hinaus kann die generelle Ausklammerung von Intuitionen von den praxisnahen Ansätzen allein schon deshalb nicht konsequent durchgehalten werden, da diese Ansätze davon ausgehen, dass eine Praktik an Tieren ethisch legitim ist, wenn sie gesamtgesellschaftlich akzeptabel ist. Es ist bei diesen empirischen Quellen auffallend, dass sie Ethik nicht als einen eigenständigen Wissenschaftsbereich der Philosophie verstehen, sondern quasi als »das, was die Bevölkerung bewegt«. 34 Ethische Legitimität wird hier gerade nicht anhand wissenschaftlich-empirischer Befunde bemessen, sondern anhand gesellschaftlich dominierender Intuitionen. 35 Dabei ist der Umgang mit gesellschaftlichen Einstellungen oftmals sehr uneinheitlich. Einerseits wird die Dringlichkeit einer Verbesserung des Tierwohls dadurch begründet, dass es eine faktische gesellschaftliche Forderung nach mehr Tierwohl gibt. Andererseits werden Intuitionen, die die intensivierte Tierhaltung als Ganzes infrage stellen, oft als durch verzerrende mediale Berichterstattung beeinflusst
33 Eine solche Tendenz, innerhalb der Tierwohlwissenschaft Gegner und Skeptiker mundtot zu machen, kritisiert erneut Haynes (vgl. Haynes [2010], S. v-vi, xiv). Zur Dominanz dieser Trennung von Wissenschaft und Emotionen in der deutschen Agrarwissenschaft und der Tierschutzgesetzgebung siehe Gall (2016). 34 So verwundert es kaum, wenn Tierwohl-Forscher und Komitees betonen, ihre Forschungen oder Agenda um eine ethische Perspektive erweitern zu wollen, aber nur selten Ethiker und stattdessen NGOs als Gesprächspartner hinzuziehen (vgl. Welfare Quality® [2009], S. 20; Schuppli/Fraser [2007], S. 295-299). 35 Vgl. Brambell et al. (1965) S. 2 §5; FAWC (2009a), S. 44; Webster (2011a), S. 13-14; Welfare Quality® (o.D.). Hieran ist bereits problematisch, dass eben nicht alle innerhalb derselben Gesellschaft vorhandenen Intuitionen gleichermaßen Beachtung finden, sondern nur diejenigen, welche sich mehrheitlich durchsetzen.
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abgewertet. 36 Außerdem wird antizipiert, dass sich gesamtgesellschaftliche intuitive Einstellungen im Laufe der Zeit verändern können und daher die Legitimität von Praktiken nicht allein durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern ebenso durch ein neues gesellschaftliches Bewusstsein zeitlich veränderbar sei. Dabei geht es nicht nur darum, wie viel Wert auf die Tierwohlberücksichtigung zu legen ist, sondern auch darum, welche Faktoren als relevant zur Tierwohlbeurteilung begriffen werden. 37 Intuitionen wird also implizit ein eigenständiges Gewicht zugestanden. Die Forderung nach einem sachlichen emotionsfreien Diskurs ist somit inkonsistent. Wir sollten uns daher vom Ideal emotionsfreier Sachlichkeit endgültig verabschieden. Intuitionen verraten uns zuviel darüber, woran wir glauben, und wer wir moralisch gesprochen sein wollen, als dass wir so einfach auf sie verzichten könnten. Diese intuitionistische Grundposition wird meine Untersuchungen kontinuierlich begleiten und sich insbesondere in Kapteil III.6 als unentbehrlich erweisen für ein umfassendes Verständnis der Tierwohlthematik und unserer moralischen Verantwortung gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen.
36 Diese Tendenz ist bspw. erkennbar bei FAWC (2009a), S. 13. 37 Vgl. Brambell et al. (1965), S. 3, §9; FAWC (2009a), S. 13.
2
Der Brambell Report
2.1 HINTERGRUND UND BEDEUTUNG DES BRAMBELL REPORTS Der Brambell Report aus dem Jahr 1965 stellt in mehrerer Hinsicht einen entscheidenden Punkt in der Geschichte der Tierwohlwissenschaft dar. Die Forschergruppe unter Leitung von F.W. Rogers Brambell wurde von der britischen Regierung beauftragt, den Wohlzustand von Nutztieren in Großbritannien hinsichtlich der damals etablierten industriellen Haltungsmethoden zu untersuchen und kritisch zu bewerten. Dieser Schritt war eine Reaktion auf die bereits deutlich gewordene gesellschaftliche Forderung nach mehr Berücksichtigung des Tierwohls in der Nahrungsmittelindustrie. 1 Insofern steht der Report selbst bereits sinnbildlich für ein verändertes Bewusstsein in Teilen der Gesellschaft, in dem der menschliche Umgang mit Tieren, insbesondere innerhalb der Nahrungsindustrie, zunehmend kritisch betrachtet wurde. Der Report war auch insofern einflussreich, als dass er explizit die Schaffung einer ständigen Instanz forderte, die Haltungsbedingungen und Wohlzustand der Nutztiere in Großbritannien fortlaufend untersuchen und verbessern sollte. 2 Dies führte zur Gründung des Farm Animal Welfare Council (FAWC), dem ich mich in Kapitel I.3 näher widmen werde. Darüber hinaus brachte der Brambell Report zum ersten Mal die Idee ins Spiel, dass Tiere in der Nutztierhaltung einen Anspruch auf die Gewährleistung bestimmter Grundfreiheiten hätten: »An animal should at least have sufficient freedom of movement to be able without difficulty, to turn round, groom itself, get up, lie down and stretch its limbs.« 3
1
Vgl. Haynes (2011), S. 106-107.
2
Vgl. Brambell et al. (1965), S. 62, §228.
3
Vgl. ebd., S. 13, §37.
40 | Tierwohl und Tierethik
Auffallend ist, dass sich diese Grundfreiheiten allein auf das Platzangebot für gehaltene Tiere konzentrieren. 4 Der Brambell Report nennt sehr wohl noch weitere Faktoren, die das Wohl von Tieren beeinflussen, dennoch wird mangelhaftes Platzangebot letzten Endes als das zentrale Kriterium angesehen, mit dem die alarmierendsten Verstöße gegen das Tierwohl in der intensivierten Nutztierhaltung einhergehen. 5 Ich werde im Folgenden näher auf das zugrunde gelegte Tierwohlverständnis des Brambell Reports eingehen.
2.2 ZIEL UND FUNKTION DES BRAMBELL REPORTS Aus den Ergebnissen seiner Studie sollte der Brambell Report konkrete Handlungsempfehlungen für die Zukunft an die britische Politik ableiten. 6 Die Funktion des Reports war also zu ermitteln, wie es aus ethisch-gesellschaftlicher Sicht um die Nutztierindustrie in Großbritannien bestellt ist und was geschehen muss, um diese Industrie »guten Gewissens« in Zukunft fortführen zu können. Es ging hierbei primär um die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen an den Gesetzgeber mit dem Ziel, letztendlich Standards zu Verbesserung des Tierwohls aufzustellen, die praktisch umsetzbar und vor allem von Kontrollgremien überprüfbar sein sollten. 7 Die Frage »Was ist zu tun?« überdeckt dabei die Frage »Was bedeutet Tierwohl eigentlich?«, was sich in einem defizitären Tierwohlverständnis äußert, wie ich im Folgenden illustrieren werde.
2.3 TIERWOHLVERSTÄNDNIS BEI BRAMBELL Der Begriff »Tierwohl« wird im Report nur andeutungsweise definiert. Er umfasst laut Brambell sowohl das physische als auch das psychische Wohlergehen von Tieren. 8 Es werden also sowohl subjektive Aspekte angeführt wie die Gefühle eines Tiers, als auch objektive Aspekte, wie das Intaktsein eines Organismus und dessen biologischer Funktionen. Abgesehen von dieser konkreten Textstelle wird der Begriff des Wohls jedoch nicht weiter explizit ausbuchstabiert. Gleichwohl enthält der Report weitere Aus-
4
Diese Kritik wird u.a. thematisiert bei Webster (1994), S. 11 sowie McCulloch (2012a) [keine Seitenzahlen im Original].
5
Vgl. Brambell et al. (1965), S. 25, §95 sowie S. 34, §126.
6
Vgl. ebd., S. 1, §1.
7
Vgl. ebd., S. 22ff, §§73ff sowie S. 62, §228.
8
Vgl. ebd., S. 9, §25.
Der Brambell Report | 41
führungen, die das zugrunde gelegte Tierwohlverständnis näher umreißen. Diese lassen sich jedoch nur bruchstückhaft aus dem Verlaufstext zusammensetzen. Es gibt keinen gesonderten Definitionsteil innerhalb des Reports und auch sonst keinerlei Bezüge auf ein grundlegendes Verständnis dessen, was Wohl eigentlich bedeutet. Vielmehr beschäftigt sich der Report damit, welche Praktiken mit dem (sehr vage bestimmten) Tierwohl vereinbar sind, welche Managementfaktoren Einfluss auf Tierwohl nehmen und inwieweit Tierwohl durch menschliches Handeln legitimer Weise eingeschränkt werden darf. Ich werde versuchen entlang solcher Ausführungen das implizite Tierwohlverständnis bei Brambell herauszukristallisieren. Dabei werde ich aufzeigen, dass sich hier keineswegs ein durchgängig stimmiges Bild ergibt. 2.3.1 Fokus auf subjektiv empfundenes Leid Tierwohl wird eng an das subjektive Erleben von Tieren geknüpft, da nur das als tierwohlrelevant angenommen wird, wovon wir rationalerweise annehmen können, dass ein Tier darunter subjektiv leiden kann. Was außerhalb der Leidensfähigkeit eines Tiers liegt, wird als irrelevant betrachtet. Und die Faktoren, die der Report in Bezug auf Tierwohl diskutiert, werden danach bewertet, inwieweit sie sich auf das subjektive Leid von Tieren auswirken. Insofern wird implizit davon ausgegangen, dass es keine objektiven Wohlfaktoren gibt, also keine Faktoren, die unabhängig vom subjektiven Empfinden des Tiers Relevanz besitzen. So hat der Report prinzipiell nichts dagegen einzuwenden, Tiere ein Leben lang ohne Außenzugang in Stallumgebungen zu halten. Wichtig sei nur, dass diese Stallhaltung sich nicht leidvoll auswirkt, was durch die oben erwähnten Grundfreiheiten »to turn round, groom itself, get up, lie down and stretch its limbs« 9 gewährleistet werden soll. Psychische Aspekte wie Langeweile und eingeschränkte soziale Interaktionsmöglichkeiten werden hierbei auffallend vernachlässigt. Hervorzuheben ist aber auch, dass wie selbstverständlich angenommen wird, dass Tiere für menschliche Zwecke genutzt werden dürfen, solange dem Tier kein (oder zumindest nur aufwiegbares) Leid zufügt wird. Ist dies gewährleistet, so dürfe alles mit einem Tier getan werden. Brambell gesteht etwa zu, die Gefangenhaltung von Nutztieren negative Effekte für diese hat, da sie beispielsweise weniger Möglichkeit besitzen als in der freien Natur, aggressiven Artgenossen auszuweichen. Das Brambell Komitee führt dagegen als Vorteile an, dass die gehaltenen Tiere eine sichere Nahrungszufuhr erhalten, medizinisch versorgt werden, sowie vor Witterung und vor natürlichen Feinden geschützt sind:
9
Ebd., S. 13, §37.
42 | Tierwohl und Tierethik
»Confinement is not necessarily undesirable for the welfare of the animal. It may well confer advantages, notably shelter from the weather and freedom from predators and bullying, three of the major hardships to which the wild animal is exposed. These advantages must be weighed against the disadvantages to the animal.« 10
Das bedeutet, sofern Tiere durch ihre Gefangenhaltung klar benennbare Vorteile genießen, die gleichzeitig eingeräumte Nachteile überwiegen (was Brambell bei gutem Management für erfüllt hält 11), haben die betroffenen Tiere keinen Grund, sich über ihre Lebenssituation zu beklagen. Hiernach gibt es keinen vernünftigen Grund, auf die Gefangenhaltung von Tieren gänzlich zu verzichten. Ebenso wird die Frage, ob wir in die körperliche Verfasstheit von Tieren eingreifen dürfen, auf das Gebot subjektiver Leidvermeidung reduziert. Das Kürzen von Schnäbeln bei Hennen etwa wird kritisch beäugt, jedoch als zulässig erachtet, da Hühner mit gekürzten Schnäbeln einander weniger stark verletzen können. Diese Praktik wird daher als das kleinere Übel akzeptiert, jedoch wird das Entwickeln von Alternativen zu dieser Praktik explizit eingefordert. 12 Schnäbelkürzen wird also genau genommen als Tierwohlproblem verstanden, zugleich aber als ein kleineres Problem als der Kannibalismus unter Hühnern, und somit im Vergleich immer noch als dem Tierwohl förderlich betrachtet. Der Vorbehalt gegenüber dem Schnäbelkürzen scheint hierbei nicht der Eingriff in die körperliche Beschaffenheit des Tiers selbst zu sein, sondern die Einschätzung, dass dieser Eingriff in jedem Fall schmerzhaft für das Tier ist. 13 Demgegenüber sei nichts einzuwenden am Stutzen der Kämme, die sich Käfighühner an ihren Gitterstäben wund reiben können, da das Kammgewebe ohne Blutungen und erkennbare Schmerzreize bei Küken beschnitten werden könne. 14 Darüber hinaus benennt der Report auch Gesundheit und das Ausleben speziestypischen Verhaltens als Tierwohlkriterien. Auch wenn es sich hierbei um objektive Faktoren handelt, wird deren Relevanz bei Brambell jedoch anhand der Effekte auf das subjektive Leidempfinden des Individuums begründet. So scheint Brambell immer schon anzunehmen, dass ein Tier unter Gesundheitseinschränkungen, wie
10 Ebd., S. 12-13, §36. 11 Vgl. ebd., S. 11, §31, S. 22, §75, S. 26, §99, S. 33-34, §124. 12 Vgl. ebd., S. 12, §33 sowie S. 53, §195. Es ist wichtig zu betonen, dass hierbei das Schnäbelkürzen eben nicht als durchweg legitim angesehen wird, sondern als »kleineres Übel« und gleichzeitig dazu aufgerufen wird, Rahmenbedingungen zu schaffen, die einen Verzicht auf solche »kleineren Übel« ermöglichen. 13 Vgl. ebd., S. 26, §97. 14 Vgl. ebd., S. 27, §102.
Der Brambell Report | 43
etwa Darm- und Lungenerkrankungen oder Parasitenbefall, subjektiv leidet. 15 Ebenso scheint das Ausleben von typischen Verhaltensweisen nur wichtig, weil deren Einschränkung vom Individuum als leidvoll erfahren wird. 2.3.2 Die Relevanz von Anpassungsfähigkeit Erhebliche Bedeutung misst der Report der Möglichkeit bei, Tiere an ihre Lebensbedingungen zu gewöhnen, bzw. sie an diese anzupassen. So können Tiere bspw. frühzeitig auf ein Leben in Stallhaltung ohne Zugang zur Außenwelt konditioniert, gegen Störreize abgehärtet oder auf Resistenz gegenüber häufigen Krankheitserregern gezüchtet werden. Problematisch für das Tierwohl sei nicht das Auftreten physischer und psychischer unangenehmer Empfindungen überhaupt, sondern deren fortdauerndes Auftreten und die Unfähigkeit des Individuums, ihnen (zumindest vorübergehend) zu entgehen. 16 Demzufolge kann ein Tier nur unter dem leiden, worauf es sich nicht einstellen kann. Die Leidensfähigkeit eines Tieres hängt somit für das Brambell-Komitee eng zusammen mit dessen Anpassungsfähigkeit. Ein erfolgreicher Umgang mit einem Störreiz kann entweder im Ausschalten der Reizquelle bestehen, oder in der Gewöhnung an diesen Reiz, so dass er nicht mehr als leidvoll erfahren wird. Für die Berücksichtigung des Tierwohls sei somit nicht bedeutend, was wir mit einem Tier tun, sondern nur, welchen Effekt unsere Handlung auf sein subjektives Leidempfinden hat. Und es liegt dem Komitee zufolge in unserer Macht zu beeinflussen, ob unsere Handlungen subjektives Leid beim betroffenen Tier hervorrufen werden:
»Close confinement reasonably may be supposed to be less irksome to an individual animal which has been reared from birth under such conditions (though we think it would be wrong to suppose complete adaptability) than to one which has been accustomed to a large measure of freedom and is then closely restrained.« 17
»Our attention has also been drawn to the recent development of the production of minimal disease pigs. […] in so far as they may contribute to the reduction of disease, particularly enzootic pneumonia, we would welcome them.« 18
Sofern wir beeinflussen können, dass ein Tier unter seiner Lebenssituation subjektiv weniger leidet, können und sollten wir hiernach diesen Einfluss nutzen, um sein 15 Vgl. ebd., S. 11-12, §§31-32. 16 Vgl. ebd., Appendix III, S. 71-79. 17 Ebd., S. 12-13, §36. 18 Ebd., S. 34, §126.
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Wohl zu befördern. Wodurch uns diese Leidreduzierung oder -vermeidung gelingt, ist diesem Kalkül nach irrelevant. 2.3.3 Resultierendes Tierwohlverständnis bei Brambell Neben einer deutlichen subjektivistischen Position, die Tierwohl daran festmacht, was sich im Kopf des betroffenen Tiers abspielt, ist ebenfalls auffällig, dass der Report sich auf relative Tierwohlverbesserungen fokussiert. Was ethisch im Umgang mit Tieren geboten ist, wird ausschließlich daran festgemacht, ob eine Handlung das Tierwohl relativ betrachtet befördert oder ihm abträglich ist. Es wird jedoch nicht näher untersucht, ob in konkreten Fällen eine relative Verbesserung des Tierwohls bereits tatsächlich ausreicht, um eine bestimmte Praktik als Ganze zu rechtfertigen. Es fehlt, anders formuliert, eine Antwort auf die Frage, wie viel an Wohl wir Tieren schulden, etwa in Form von Mindeststandards. Die einzigen Anhaltspunkte im Report stellen die erwähnten Grundfreiheiten an Bewegungsmöglichkeit dar, sowie die Kritik am Schnäbelkürzen bei Hühnern (sowie am Schwänzekürzen bei Schweinen). 19 Dieser Kritik zufolge sind Praktiken immer dann problematisch, wenn sie starkes Leid verursachen. Sofern der (Ad-hoc-)Verzicht auf eine solche Praktik ein noch größeres Übel darstellen würde (wie etwa beim Kannibalismus unter Hühnern) wird dieses Leid zwar als notgedrungen in Kauf zu nehmen angesehen, jedoch absolut betrachtet immer noch als Tierwohlproblem. Auf lange Sicht wird daher die Abschaffung solcher Praktiken durch Innovationen innerhalb der Nutztierhaltung eingefordert. Es wird über diese groben Anhaltspunkte hinaus aber kein Punkt genannt, ab dem der Wohlzustand eines Tiers insgesamt als moralisch inakzeptabel oder zufriedenstellend anzusehen ist. Zudem werden im Report einige Praktiken der Nutztierhaltung als dem Tierwohl abträglich ausgewiesen, zugleich jedoch als bedauerlich aber alternativlos akzeptiert. Darunter fallen bei Brambell bspw. die psychischen Leiden, die Mutterkuh und Kalb in der Milchproduktion erfahren, wenn sie voneinander getrennt werden, 20 sowie das Schnäbelkürzen bei Puten. 21
19 Der Brambell Report wurde von späteren Kommentatoren vor allem deswegen kritisiert, da er sich bei der Bewertung von Tierwohl zu sehr auf das jeweils vorhandene Platzangebot von Tieren beschränkt habe (vgl. Webster [1994], S. 11). Diese Kritik ist m.E. überzogen. Der Brambell Report widmet sich, wie ich zu zeigen versucht habe, sehr wohl auch anderen Aspekten, nennt jedoch das Platzangebot als zentralen Einflussfaktor (vgl. Brambell et al. [1965], S. 25, §95 sowie S. 34, §126.). 20 Vgl. ebd., S. 36, §131. 21 Vgl. ebd., S. 53, §195.
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Die Option, Tiere überhaupt nicht erst zu halten, wenn dies gänzlich ohne Leid nicht möglich ist, wird gar nicht erst erwogen. Die Berücksichtigung des Tierwohls bleibt diesem Verständnis nach lediglich ein Anspruch, unsere als selbstverständlich angenommene Nutzung von Tieren, ethisch so wenig problematisch wie möglich zu gestalten: »[W]hile man is free to subjugate animals, it is wrong for him to cause them to suffer unnecessarily«. 22
2.4 DIE ROLLE DER PHILOSOPHIE Das Brambell-Komitee betont, dass die Untersuchung des Tierwohls eine interdisziplinäre Aufgabe sei. Um verlässliche Kenntnisse darüber zu gewinnen, ob und wann ein Tier leidet, reiche eine rein veterinärmedizinische Perspektive nicht aus. 23 Entsprechend fordert Brambell die Schaffung eines Expertenrats für die Entwicklung, Etablierung und Überwachung künftiger Tierwohlstandards. Dieser dürfe ausdrücklich nicht allein aus Veterinärmedizinern bestehen: »The Committee should not be more than ten in number, and should include within its membership a veterinarian, an expert on animal behaviour or comparative psychology, a zoologist or physiologist, persons knowledgeable in animal husbandry and farm buildings and a legal expert.« 24
Bei aller Interdisziplinarität bleiben drei Dinge jedoch auffällig. Erstens wird bei den genannten Vertretern weiterhin ein besonderer Schwerpunkt gelegt auf Experten für das subjektive Empfinden von Tieren und deren biologische Bedürfnisse. Zweitens laufen in diesem Expertenrat die Fragen zusammen, was Tierwohl ausmacht und wie Tierwohlstandards etabliert werden können. So wird zuletzt ein Jurist für den Expertenrat gefordert. Was ein Tier subjektiv als leidvoll oder als angenehm empfindet, ist jedoch keine rechtliche Frage. Juristische Kompetenz spielt erst eine Rolle für die Frage, inwieweit sich die Abdeckung bestimmter Tierwohlstandards strafrechtlich einfordern lässt. Drittens gibt es keine explizite Forderung nach einem Vertreter der Philosophie. Dies ist verblüffend, da die Frage nach einem verantwortungsvollen Umgang mit Tieren offensichtlich eine ethische Frage ist. Allem Anschein nach wird die Moralphilosophie hierbei nicht als eigenes Ex-
22 Ebd., S. 17, §19. Dieses Zitat spiegelt Brambells Interpretation des britischen Protection of Animal Act von 1911 wieder, dessen Kernaussage Brambell offenbar übernimmt. 23 Vgl. ebd. S.8, §24. 24 Ebd., 62, §228.
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pertisefeld begriffen. Eine Tendenz, die sich, wie ich im Verlauf des I. Hauptteils aufzeigen werde, bis heute in praxisnahen Ansätzen fortsetzt.
2.5 UMSETZBARKEIT/PRAGMATISMUS Die Funktion des Brambell-Komitees bestand neben einer Bestandsaufnahme der Tierwohlsituation explizit in der Formulierung erster praktischer Reformvorschläge. Insofern verwundert es nicht, dass die Beurteilung von Tierwohlkonflikten durch pragmatistische Überlegungen überlagert wird. Auch wenn der Report eine grobe Arbeitsdefinition des Begriffs »Tierwohl« verwendet, so bleibt doch eine tiefgründige Analyse dessen, was Tierwohl bedeutet, aus. Stattdessen wird sich auf die Frage versteift, welche Tierwohl-Richtlinien praktisch umsetzbar sind und welche Verbote von Praktiken eine Verbesserung des Tierwohls bei gleichzeitiger Fortführung der Nutztierhaltung ermöglichen. Insofern geht es dem Brambell-Komitee ausdrücklich nicht um die Ausbuchstabierung idealer Tierwohlstandards, sondern um den Entwurf und die anschließende erfolgreiche gesetzliche Einbettung von Richtlinien, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen der Nutztierhaltung dem Tierwohl förderlich sind. Bestimmte Ausstattungen von Geflügelställen seien bspw. dem Tierwohl zwar förderlicher als andere, erforderten jedoch gleichzeitig speziell ausgebildetes Fachpersonal, über das eben nicht alle Betriebe verfügen. Das Komitee konzentriert sich daher auf Richtlinien und Maßnahmen, die auch von Betrieben mit »durchschnittlicher Managementqualität« bewältigt werden können. 25 Damit wird einerseits zugestanden, dass die geforderten Standards das Tierwohl nicht zufriedenstellend abdecken, aus pragmatistischer Sicht aber (derzeit) nicht mehr verlangt werden könne. Diese reformistische Stoßrichtung erklärt sich u.a. dadurch, dass der Brambell Report von der britischen Regierung als direkte Reaktion auf das vorhandene gesellschaftliche Unbehagen angesichts der damaligen Tierwohlsituation in Auftrag gegeben wurde, was auch der Report selbst betont: »We were aware of the extent of public disquiet concerning the welfare of animals kept intensively and considered it incumbent upon us to report as early as possible.« 26
Da die Gesellschaft (bis heute) mehrheitlich die Nutztierhaltung als Ganzes nicht zu hinterfragen scheint, ist es wenig überraschend, wenn auch das Brambell-Komitee keine grundlegendere Kritik übt.
25 Ebd., S. 22, §74. 26 Ebd., S. 2, §5.
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Ein Fokus auf Umsetzbarkeit wird ebenfalls darin deutlich, dass das Komitee die Ausgestaltung von Haltungsumgebungen stark aus der Perspektive der Qualitätskontrolle betrachtet. Tierwohlmaßnahmen werden nicht nur danach bewertet, wie wohlförderlich sie tatsächlich sind, sondern auch danach, inwieweit sie die Arbeit von Tierwohl-Kontrolleuren erschweren oder vereinfachen. 27 Damit wird der Blick auf das Wohl der betroffenen Tiere verdrängt durch einen Blick auf das, was sich an Wohl praktisch etablieren und effizient kontrollieren lässt. Die dahinter liegende implizite Annahme, dass Tierwohlforderungen niemandem nützen, wenn sie nicht auch umgesetzt und ihre Einhaltung regelmäßig nachgeprüft werden kann, ist durchaus plausibel. Kritisch ist jedoch, dass die Anwendungsebene hierbei bereits frühzeitig eine tiefergehende Analyse auf der Untersuchungsebene vollständig zu überlagern droht. Die Fixierung auf zeitnah umsetzbare Verbesserungen verdrängt die Frage, was Tierwohl eigentlich bedeutet und was seine Berücksichtigung uns abverlangt.
2.6 MENSCH-TIER-BEZIEHUNGEN IM BRAMBELL REPORT Brambell erkennt an, dass Menschen für die Tiere, die sie halten und nutzen, besondere Verantwortung hinsichtlich deren Wohls besitzen. Indem Menschen Tiere gefangen halten, schränken sie diese in ihrer Fähigkeit ein, mit ihrer Umwelt zu interagieren oder auf Störreize zu reagieren (bspw. durch erschwerte Fluchtmöglichkeiten in Konfliktsituationen). Und je stärker Tiere in diesem Sinne von der Unterstützung ihrer menschlichen Halter abhängig sind, umso größer ist die Verantwortung der Halter für ihre Tiere: »[M]odern, intensive animal production methods most markedly increase the responsibility of those who use them towards the animals in their charge. If any creature is wholly and continuously under control, we believe that this total human responsibility must be acknowledged, and that there is widespread public concern that it be seen to be acknowledged.« 28
Diese Verantwortung wird laut Brambell zusätzlich verstärkt durch den Trend innerhalb der intensivierten Tierhaltung, immer größere Tierbestände durch immer weniger Fachpersonal betreuen zu lassen. Damit sind sehr viele Tiere in ihrem Wohl von einer kleinen Zahl an Menschen abhängig, was die Gefahr einer Überforderung des Fachpersonals mit sich bringt. Diese erhöhte Arbeitsbelastung birgt zum einen das Risiko, dass das überforderte Personal die Betreuungsqualität vernachläs-
27 Vgl. ebd., S. 22ff, §73ff. 28 Ebd., S. 15, §46.
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sigt. Zum anderen kann es zu einem Abreagieren der persönlichen Frustration und Stressbelastung an den zu betreuenden Tieren kommen. Damit entsteht eine erneute besondere Verantwortung, sich als Tierhalter dieser Risiken bewusst zu sein. 29 Brambell diskutiert die erwähnten Verantwortungen aber erneut lediglich im Kontext pragmatistisch einforderbarer Tierwohlmaßnahmen bei Fortführung der Nutztierhaltung. Dabei wird die Frage vernachlässigt, mit welchem Recht, wir uns solch große Verantwortungen gegenüber Tieren aufladen, wenn derart unsicher ist, inwieweit wir ihnen menschlich und praktisch überhaupt nachkommen können.
2.7 LÜCKEN UND BRÜCHE INNERHALB DES ANSATZES Der Brambell Report betont interessanterweise, dass Tierwohl kein zeitlich unveränderbarer Gegenstand empirischer Forschung ist, sondern ein Begriff, in dem eine Gesellschaft ihren ethischen Bedenken hinsichtlich ihres Umgangs mit Tieren Ausdruck verleiht. Die Bedeutung des Tierwohls hänge wesentlich von normativen Wertvorstellungen ab, und die können sich gesellschaftlich fortlaufend weiterentwickeln: »Historically the evolution of our society has been marked by increasing concern for the welfare of animals. […] It appears to us reasonable to anticipate a continuing development of concern for animal welfare and that conditions which appear to us tolerable today may come to be considered intolerable in the future.« 30
Zugegebenermaßen zeigt sich hieran noch nicht, dass sich unsere Definition des Tierwohls fortlaufend verändert. Dass Praktiken später abgelehnt werden, die zuvor als »tolerierbar« angenommen wurden, kann auch einfach nur bedeuten, dass dem Tierwohl (bei gleich bleibender inhaltlicher Bestimmung) nun mehr normatives Gewicht beigemessen wird, also Tierwohlverstöße als schwerer aufzuwiegen und zu tolerieren gelten. Gleichwohl räumt der Report damit bereits ein, dass die Erforschung des Tierwohls und seiner angemessenen Berücksichtigung im Umgang mit Tieren keine rein empirische Angelegenheit sein kann. Umso unverständlicher bleibt, warum das Komitee einen Expertenrat einfordert, der ausschließlich aus fachkundigen Personen für Tierhaltung, Tierpflege und rechtliche Rahmen bestehen soll, jedoch weder Ethiker noch Gesellschaftswissenschaftler zurate gezogen werden.
29 Vgl. ebd., S. 58, § 216. 30 Ebd., S. 3, §9.
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Der Brambell Report scheint überdies nicht gewillt, sein streng subjektivistisches Tierwohlverständnis, bei dem nur der resultierende Einfluss auf die subjektive Bewertungsperspektive des Tiers zählt, konsequent durchzuhalten. Dem eigenen Ansatz folgend müsste jedweder Umgang mit Tieren akzeptiert werden, bei dem sichergestellt wird, dass das betroffene Tier während dieser Behandlung kein subjektives Leid verspürt. Der Report lehnt aber bspw. ab, Tiere durch ständige Medikamentierung vor Krankheitsbefall und Leidempfindungen zu schützen: »[N]or do we consider permissible the inclusion in the diet of components calculated to upset the normal functions of the animal, except in so far as these may be necessary under veterinary prescription for the prevention or treatment of disease.« 31
Warum genau diese Ablehnung erfolgt, bleibt dabei jedoch unverständlich. Es wird nicht geklärt was genau an den »normal functions« eines Tiers moralisch relevant ist. Wenn es tatsächlich nur darum geht, subjektives Leid zu vermeiden, was spräche dann dagegen Tiere in dauerhaftem Schlafzustand zu halten und intravenös zu ernähren? Diese Tiere würden sich nicht gegenseitig Verletzungen zufügen, nicht unter eingeschränkter Bewegungsmöglichkeit leiden, keine Frustration oder Langeweile verspüren. Diese Option ist für Brambell aber offensichtlich indiskutabel. Das ist einerseits begrüßenswert, andererseits aber ist das Komitee nicht in der Lage, diese Position anhand des eigenen Tierwohlverständnisses zu begründen. Vielmehr wird hierbei ein eigener moralischer Anspruch deutlich, der über den Fokus auf subjektives Leid hinausgeht. Dann aber ist unbefriedigend, dass dieser erweiterte Anspruch nicht auch bei anderen Praktiken wie dem Gewöhnen von Tieren an Gefangenhaltung, etc. thematisiert wird. Bedenklich ist auch, dass das Komitee offensichtlich davon ausgeht, ein Tierwohl-Problem liege nur dann vor, wenn ein Tier nicht in der Lage ist, mit einem Störreiz erfolgreich umzugehen. Alles, was erfolgreich vom Tier gemeistert werden kann, stelle also überhaupt kein Problem dar. Diese Position ignoriert, dass auch ein erfolgreicher Umgang mit Störreizen, physische und psychische Anstrengung bedeutet und bei häufigem Auftreten von Störreizen ein Tier »aufzehren« kann. Zwar betont das Komitee selbst, dass nicht nur das kurzfristige Wohl eines Tiers, sondern vor allem sein langfristiges Wohl zähle, 32 es scheint aber kontraintuitiv anzunehmen, das Wohl eines Tiers sei erst ab dem Moment besorgniserregend, an dem es vor Erschöpfung zusammenzubrechen droht, davor aber könne ein Tier uneingeschränkt Belastungsproben ausgesetzt werden.
31 Ebd., S. 13, §39. 32 Vgl. ebd., S. 10, §29.
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Auch wird im Report nicht ausreichend geklärt, inwiefern die Tatsache, dass ein Tier an seine Lebenssituation angepasst ist, automatisch etwas Gutes darstellt. Zugestanden werden kann, dass ein Individuum weniger subjektives Leid empfindet, wenn es ihm gelingt, sich an seine Lebenssituation zu gewöhnen. 33 Es bleibt jedoch zu hinterfragen, ob das Tierwohl sich auf das jeweils vorhandene oder abwesende subjektive Leid reduzieren lässt. Anders formuliert: Es bleibt zu klären, ob es einem Tier, wenn es sich gut fühlt, auch wirklich immer gut geht. Zumindest in Bezug auf Menschen gehen wir davon aus, dass diese sich über ihren eigenen Wohlzustand täuschen können. Sie können ihre Lebenssituation falsch einschätzen, sich Illusionen machen, unangenehme Informationen verdrängen, und sich an Dinge gewöhnen, an die sie nicht gewöhnt werden sollten. Nicht immer scheint der betroffene Mensch die verlässlichste Auskunft über seinen eigenen Wohlzustand zu geben. Auch kann es uns vielmehr beunruhigen zu sehen, dass ein Individuum in kärglichen Verhältnissen lebt, sich daran aber offensichtlich nicht stört. Insbesondere ist kritisch zu bewerten, dass der Report nahelegt, wir könnten und sollten uns die Anpassungsfähigkeit von Tieren gezielt zunutze machen, und nach Möglichkeit noch weiter steigern. Führt man diesen Gedanken zu Ende, ergeben sich paradoxe Tierwohlforderungen. Wenn die frühzeitige Gewöhnung an eine bestimmte Haltungsumgebung dazu führt, dass Tiere weniger unter ihrer Lebenssituiertheit leiden, 34 müsste dies bedeuten, dass wir Tiere von Beginn an nicht so gut wie möglich, sondern so schlecht wie nötig behandeln müssten. Durchläuft ein Tier während seines Lebens verschiedene Einrichtungen, die sich in der Bereitstellung von Bewegungsfläche, Umweltreizen, Nahrungsqualität, Klimatisierung, etc. stark unterscheiden, 35 sollten wir demzufolge Tiere frühzeitig an die vergleichsweise schlechtesten Haltungsbedingungen gewöhnen. Also ihnen weniger zukommen lassen, als wir eigentlich könnten, um spätere Frustration zu vermeiden, wenn sie von einer besser ausgestatteten in eine schlechter ausgestattete Umgebung übergehen. Unter dem Aspekt der Leidvermeidung ist dies nur konsequent. Für den Anspruch, mit den Tieren, die wir halten und nutzen, verantwortungsvoll umzugehen, ist dies jedoch intuitiv unbefriedigend. Hierin äußert sich eine wesentliche Schwäche der frühen Tierwohlforschung: eine einseitige Fixierung auf die Vermeidung von Leid, ohne auf die Bedeutung positiver Empfindungen auf das individuelle Wohl einzugehen. Diese einseitige Fixierung wurde später durch FAWC und
33 Diesen Punkt betont vor allem Bernard Rollin (vgl. Rollin [1995], S. 171). 34 Vgl. Brambell et al. (1965), S. 12-13, §36. 35 Hervorzuheben wäre hierbei bspw. die Überführung von Tieren von ihrer Zuchtstation zum landwirtschaftlichen Betrieb, auf dem sie großgezogen werden. Und die Überführung von diesem Betrieb zum Schlachthof.
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UFAW thematisiert und von einer entsprechenden Hinwendung zu »positive welfare« begleitet. 36 Auch stellt die Ermutigung zur Ausnutzung der Anpassungsfähigkeit von Tieren einen Bruch mit dem moralischen Anspruch dar, der sich zuvor noch bei der Ablehnung permanenter Medikamentierung von Tieren äußerte. Denn sowohl Gewöhnung als auch Dauermedikamentierung können Leidempfindungen bei Tieren reduzieren helfen. Brambell lässt jedoch eine latente Überzeugung erkennen, wonach bestimmte Umgangsformen mit Tieren (eben Dauermedikamentierung) keinen angemessenen Umgang mit Tieren darstellen, obgleich sie Leid effektiv vermeiden können. Brambell bleibt dabei eine Aufschlüsselung schuldig, was den einen Umgang moralisch vertretbar macht und den anderen nicht. Die Vermeidung subjektiven Leids, die im Report ins Zentrum gerückt wird, kann als alleiniges Kriterium hier jedenfalls nicht die nötige Erklärung liefern. In all diesen Kritikpunkten äußert sich eine problematische Bezugnahme auf das Tierwohl, die m.E. für die Mängel der derzeitigen Tierwohlforschung wesentlich ist: Das betroffene Tier selbst wird aus den Augen verloren. Stattdessen findet eine Fixierung auf das Tierwohl selbst statt, als sei es der resultierende Wohlzustand, der unsere Aufmerksamkeit verdient, und nicht das dahinter stehende Tier. Tiere an reizarme, wenig komfortable und beengende Haltungsbedingungen zu gewöhnen, sie durch Züchtung an diese anzupassen, und Einschränkungen ihrer Lebenssituation für ethisch vertretbar zu halten, solange »most of the major activities which make up its natural behaviour« 37 dabei gewahrt bleiben, drückt keine große Sorge um das Tier selbst aus. All diese Aspekte dienen allein dazu, ergebnisorientiert Tierwohlkonflikte zu minimieren. Sofern jedoch nicht die Sorge um das betroffene Tier um seiner selbst willen im Zentrum steht, bleibt unklar, warum gesellschaftliches Unbehagen angesichts des Tierwohls überhaupt Berechtigung besitzt. Ich werde in den folgenden Kapiteln anhand der Ansätze von FAWC, UFAW und Welfare Quality® verdeutlichen, dass sich diese problematische Grundhaltung fortsetzt.
36 Vgl. FAWC (2009a), S. 2; Webster (2011a), S. 7. 37 Brambell et al. (1965), S. 13, §37.
3
FAWC
3.1 HINTERGRUND UND FUNKTION DES FAWC Die Forderung des Brambell Reports nach einer ständigen Instanz zur Bewertung und Verbesserung des Tierwohls in Großbritannien mündete 1979 in der Gründung des Farm Animal Welfare Council (FAWC). 2011 wurde FAWC umgestaltet von einer öffentlichen Einrichtung zu einem Experten-Komitee und tritt seither unter dem Namen Farm Animal Welfare Committee auf. 1 Wie schon zuvor Brambell nimmt auch FAWC das gesellschaftliche Unbehagen angesichts des Tierwohls in der Nutztierhaltung als Ausgangspunkt für seine Arbeit. FAWC geht es dabei jedoch nicht direkt um die Etablierung von gesetzlichen Richtlinien. Vielmehr soll ein Instrumentarium bereitgestellt werden, um den Wohlzustand von Tieren analysieren und bewerten zu können (in allen Systemen, nicht nur den intensivierten). Darauf aufbauend sollen innerhalb der Nutztierhaltung verbesserte Tierwohlstandards freiwillig etabliert werden, die über das gesetzlich Geforderte (bzw. das juristisch Einforderbare) hinausgehen. 2 Die Beförderung des Tierwohls besitzt dabei keine alleinige Priorität, sondern wird begrenzt durch den gleichzeitigen Anspruch, die ökonomische Effizienz der Nutztierindustrie zu erhalten. Betriebe, die die geforderten Tierwohlstandards umsetzen, sollen weiterhin ökonomisch rentabel und konkurrenzfähig bleiben können. 3 FAWC liefert daher keine fertig ausformulierten Gesetzesanträge, aber auch keine detaillierten Check-Listen, mit denen Betriebe den Wohlzustand ihrer Tiere sicherstellen könnten. Vielmehr liefert FAWC eine Übersicht der als zentral angenommenen Wohl-Bereiche/Kategorien, die für weiter auszuformulierende Listen, RankingSysteme und gesetzliche Richtlinien als Grundlage und Orientierungshilfe herhalten können.
1
Vgl. McCulloch (2012a).
2
Vgl. FAWC (2009a), S.44 sowie FAWC (2009b).
3
Vgl. FAWC (1979).
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3.2 TIERWOHLVERSTÄNDNIS Wie bereits im Brambell Report, beschränkt sich die Darstellung dessen, was Tierwohl bedeutet, auf eine knappe Definition: »good animal welfare implies both fitness and a sense of well-being«. 4 Interessant ist hieran, dass eine Unterscheidung zwischen »welfare« und »well-being« gemacht wird. Offensichtlich meint »welfare« dabei den Wohlzustand insgesamt, während »well-being« ein bestimmtes Wohlfühlen als Bewusstseinszustand darzustellen scheint. Sofern »fitness« als körperliche Gesundheit und Vitalität verstanden wird, handelt es sich bei dieser Definition des FAWC um eine anders formulierte, aber im Kern identische Version dessen, was bereits im Brambell Report angeführt wurde: Das Wohl eines Individuums beinhaltet physische und psychische Komponenten. Mehr erfährt man über die Bedeutung von Tierwohl zunächst einmal nicht. Erneut müssen weitere Anhaltspunkte, wie Tierwohl näher verstanden und normativ bewertet wird, aus dem Fließtext herauskristallisiert werden. 3.2.1 Die »Five Freedoms« (1979) Die wohl nachhaltig einflussreichste Veröffentlichung des FAWC stellt eine Pressemittelung aus dem Jahr 1979 dar, in der erstmals das Konzept der »Five Freedoms« vorgestellt wird. 5 Diese wurden seither von vielen anderen Tierwohlbewertungsprogrammen übernommen, modifiziert oder dienten zumindest als Inspirationsquelle.6 In Anlehnung an die Formulierung des Brambell Reports, wonach alle gehaltenen Tiere einen Anspruch auf bestimmte minimale Bewegungsfreiheiten besitzen,7 hat FAWC eine eigene Liste an Grundfreiheiten aufgestellt. Diese unterscheidet sich von den im Nachhinein als »Brambell’s Five Freedoms« bezeichneten Freiheiten vor allem darin, dass nun wesentlich vielfältigere Faktoren ins Blickfeld gerückt werden als nur das Platzangebot. Die Liste lautet in einer aktualisierten Form wie folgt: 1. Freisein von Hunger und Durst – durch Zugang zu frischem Wasser und einer Ernährung, die Gesundheit und Vitalität aufrechterhält
4
Vgl. FAWC (2009b).
5
Vgl. FAWC (1979).
6
So dienten die »Five Freedoms« als Grundlage des britischen Animal Welfare Act von 2006, haben maßgeblich die Kriterien des europäischen WQ Projekts beeinflusst und sind Teil der akademischen Grundausbildung von Veterinärmedizinern und Tierwohlwissenschaftlern (vgl. McCulloch [2012a]).
7
Vgl. Brambell et al. (1965), S. 13, §37.
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2. Freisein von Unwohlsein (»discomfort«) – durch die Bereitstellung einer angemessenen Umgebung, die Behausung und bequeme Ruheplätze beinhaltet 3. Freisein von Schmerz, Verletzung und Krankheit – durch Vorbeugen oder schnelle Diagnostizierung und Behandlung 4. Freiheit, normales Verhalten auszuleben – durch Bereitstellung ausreichenden Platzes, angemessener Anlagen/Räumlichkeiten und Gesellschaft durch Artgenossen 5. Freisein von Angst und Stress – durch ein Sicherstellen von Lebensbedingungen und Behandlung, die mentales Leid vermeiden 8 Der Fokus der »Five Freedoms« liegt auf der Vermeidung negativer mentaler Zustände: Hunger, Durst, Unwohlsein, Leiden unter Schmerzen, Angst und Stress. Auch die übrigen Faktoren scheinen hierbei auf negative mentale Zustände reduzierbar zu sein. Krankheit und Verletzungen scheinen deshalb moralisch problematisch, weil sie negative mentale Zustände bei Tieren erzeugen. Und auch die Forderung, normales 9 Verhalten ausleben zu können, bezieht sich m.E. hierbei nicht auf einen Eigenwert eines speziestypischen Verhaltensrepertoires, sondern auf die Annahme, dass die Hinderung, normales Verhalten auszuleben, mit Frustration, Langeweile, o.Ä. einhergeht. 10 Die »Five Freedoms« benennen zweifelsohne wichtige Aspekte, die auf das Tierwohl Einfluss nehmen. Die Hoffnung, hierdurch handfeste Mindeststandards für einen legitimen Umgang mit Tieren zu erhalten, wird jedoch in doppelter Hinsicht enttäuscht. Zum einen betont FAWC, dass die Einhaltung der »Five Freedoms« für niemanden verpflichtend sei, sondern es sich lediglich um eine Orientie-
8
Vgl. FAWC (2009b). Es handelt sich hierbei um eine minimale Umformulierung auf der aktuellen Homepage des FAWC, die jedoch dieselben fünf Eckpfeiler enthält, wie die Originalversion von 1979. Einziger nennenswerter Unterschied ist, dass in der Urfassung unter »4.« noch davon gesprochen wird, dass »die meisten« normalen Verhaltensweisen eines Tieres frei auslebbar sein müssen (vgl. FAWC [1979]). In der aktuellen Version fehlt diese Einschränkung.
9
FAWC verwendet hier bewusst die Bezeichnung »normal« in Abgrenzung von »natürlichem Verhalten«. Grund ist, dass laut FAWC domestizierte Tiere sich in ihren Verhaltensbedürfnissen von frei lebenden Tieren teilweise unterscheiden (vgl. FAWC [2009a], S. 2). Ich selbst verwende für beide Tiergruppen den Begriff »speziestypisches Verhalten«, da anzunehmen ist, dass sowohl bei domestizierten wie frei lebenden Tieren ihre jeweiligen Verhaltensbedürfnisse mit ihrer Genetik, und damit auch ihrer Spezieszugehörigkeit zusammenhängen.
10 Vgl. FAWC (2009b) sowie FAWC (1979).
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rungshilfe handle, um bestmögliche Tierwohlstandards zu etablieren. 11 Zum anderen betont FAWC, dass die »Five Freedoms« nicht den Mindeststandard dessen beschreiben, was Tieren an Wohlfaktoren ermöglicht werden muss, sondern bereits den Idealzustand. 12 Auch geben sie lediglich Auskunft darüber, anhand welcher Faktoren das Tierwohl beeinflusst werden kann. Ein Schwelle, unterhalb derer sich unser Umgang mit Tieren nicht mehr rechtfertigen lässt, kann daraus allein jedoch nicht abgeleitet werden. Der gesamte Ansatz konzentriert sich auf Möglichkeiten der relativen Verbesserung des Tierwohls und vernachlässigt die Frage, wie es absolut betrachtet um das Wohl konkreter Tier bestellt ist. Damit zeigt sich eine ähnliche Lücke im Ansatz wie bereits bei Brambell, wo der Anspruch, das Tierwohl zu berücksichtigen hervorgehoben wird, jedoch nicht ausbuchstabiert wird, was unter diesem Anspruch genau zu verstehen ist und wie man ihm gerecht wird. 13 Dabei wird die Möglichkeit ignoriert, dass ein Tier trotz relativer Verbesserung seines Wohls immer noch ein miserables Dasein führen kann. Zudem überrascht die Aussage des FAWC, dass die Abdeckung der »Five Freedoms« bereits einen Idealzustand darstelle. Dies impliziert, dass es lediglich nicht »ideal« wäre, ein Tier in Hunger, Durst, Angst, Stress und unter Einschränkung seiner Verhaltens- und sozialen Interaktionsbedürfnisse zu halten. Das aber ist kontraintuitiv. Die benannten Faktoren berühren basale Bedürfnisse von Tieren, so dass es einer entsprechend schwerwiegenden Rechtfertigung bedarf, diese nicht abzudecken. Die Aussage, ein Zustand sei »ideal« besitzt dabei zwei mögliche Auslegungen: (1.) »Ideal« als Optimum: Zustände unterhalb dieser Schwelle sind ebenfalls ausreichend, so dass der optimale Zustand lediglich einen erfreulichen, aber nicht notwendigen, Überschuss enthält. (2.) »Ideal« als direkt angestrebter Zustand, der unbedingt erreicht werden soll: Alle unterhalb dieser Schwelle liegenden Zustände sind nicht zufriedenstellend (wenn auch graduell variierend). 14 Die zweite Auslegung schließt FAWC selbst aus, da die »Five Freedoms« wie oben erwähnt, nicht als verpflichtend angesehen werden, womit sie kein unbedingt anzustrebendes Ideal sein können. Es bleibt damit nur die erste Auslegung. Diese aber ist unbefriedigend, da nicht ersichtlich ist, warum das Freisein von physischem und psychischem Leid bereits das höchste zu erreichende Optimum darstellen sollte. McCulloch verweist zudem kritisch darauf, dass die »Five Freedoms« nicht das völlige Freisein von Hunger, Durst, Schmerzen, etc. meinen können. Es sei
11 Vgl. ebd. 12 Vgl. FAWC (2009b). 13 Vgl. Brambell et al. (1965), S. 2, §5. 14 Ich danke Peter Kunzmann für diesen Hinweis im Rahmen des Doktorandenseminars am 09.02.2015 in Göttingen.
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gerade eine Minderung für die Lebensqualität, wenn Tiere keinen Umgang mit Störreizen erlernen könnten. Es könne insofern bei den »Five Freedoms« nur darum gehen, dass ein Tier frei von solchen Störreizen ist, die ein für das Tier handhabbares Maß übersteigen. 15 Interpretiert man die »Five Freedoms« in diesem Sinne, können sie aber nicht als Idealzustand behauptet werden. Wenn das Freisein von nicht handhabbaren Störreizen gemeint ist, so stellt dies keinen erfreulichen Überschuss dar, sondern Mindeststandards, ohne die es dem betroffenen Tier schlichtweg miserabel geht, da es mit seiner Umwelt überfordert ist. Zudem scheint ein gutes oder »ideales« Leben eben nicht einfach in der Abwesenheit von Störreizen zu bestehen, sondern sollte vielmehr von der Erfahrung geprägt sein, mit Störreizen auf subjektiv befriedigende Weise umgehen zu können. Ein gutes Leben sollte intuitiv beispielsweise nicht einfach ein Freisein von Durst enthalten, sondern die Möglichkeit, den eigenen Durst zu stillen. 16 Damit taugen die »Five Freedoms« allein als Annäherung an eine konkretere Umreißung des Tierwohls, beleuchten den Begriff jedoch nur vage und liefern auch keine erschöpfende Handreichung zur Aufstellung unbedingter Handlungspflichten gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen. 3.2.2 Die Unterscheidung von »gutem«, »lebenswertem« und »nicht lebenswertem« Leben (2009) Genau 30 Jahre später versuchte FAWC einen Teil der oben diskutierten Lücken der »Five Freedoms« zu schließen. Zentral dabei ist die Veröffentlichung Farm Animal Welfare in Great Britain: Past, Present and Future von 2009. 17 Hier wird nun erstmals versucht, einen wirklichen Mindeststandard für akzeptables Tierwohl zu formulieren und auch der angestrebte Idealzustand für Tierwohl, auf den hinzuarbeiten ist, wird konkreter gefasst. FAWC führt hierfür die Unterscheidung von »gutem«, »lebenswerten« und »nicht lebenswerten« Leben von Tieren ein. Ein »lebenswertes Leben« stellt hierbei den Mindeststandard für ethisch akzeptables Tierwohl dar. Ein »nicht lebenswertes Leben« beschreibt einen Zustand der absolut betrachtet nicht hinnehmbar ist, selbst wenn relative Wohlverbesserungen vorgenommen werden. Ein »gutes Leben« beschreibt den Idealzustand. 18 Ziel einer verantwortungsvollen Nutztierhaltung, die
15 Vgl. McCulloch (2012a). 16 Vgl. Nussbaum (1998), S. 212. 17 FAWC (2009a). 18 Hierbei schwingen beide Auslegungen von »ideal« mit, da FAWC einerseits impliziert, ein »lebenswertes« Leben sei bereits ein erfreuliches Ergebnis, gleichzeitig aber auf ein »gutes« Leben für immer mehr Nutztiere hinarbeiten will (vgl. ebd., S. 12-20, 44).
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den Anspruch des Tierwohls ernst nimmt, muss FAWC zufolge sein, Tieren ein mindestens »lebenswertes Leben« zu ermöglichen und gleichzeitig stetig darauf hinzuarbeiten, immer mehr Tieren ein »gutes Leben« zu ermöglichen. 19 Diese drei Stufen für Lebensqualität werden dabei ausbuchstabiert anhand verschiedener Bedürfnistypen und ihrer graduellen Abdeckung. Diese Typen lauten nach Priorität absteigend geordnet: 1. Physiologische/vitale Grundbedürfnisse – ohne deren Abdeckung ein Organis-
mus nicht gesund leben kann oder schlimmstenfalls nicht überlebensfähig ist (bspw. Nahrung und der Schutz vor Verletzungen) 2. Mentale Grundbedürfnisse – ohne deren Abdeckung ein Tier starke negative mentale Empfindungen durchleidet (bspw. soziale Interaktionen), was zu schweren psychischen Schäden führen kann, wie etwa Stereotypien 3. Zusatzbedürfnisse – ohne deren Befriedigung ein Tier zwar gesund und psychisch stabil leben kann, die aber seine Lebensqualität erheblich bereichern, wenn sie befriedigt werden 20 Zusätzlich bemisst FAWC die Lebensqualität entlang der Balance zwischen positiven und negativen subjektiven Erfahrungen, die ein Tier im Verlauf seines Lebens macht: »At one level - though this is not sufficient by itself – the balance of an animal’s experiences must be positive over its lifetime. Any pain, suffering, distress or lasting harm must be necessary, proportionate and minimal […]« 21
Darin zeigt sich einerseits erneut ein Fokus auf subjektive mentale Zustände. Andererseits erhält der Ansatz hierdurch stark konsequentialistische Züge, da jede negative Erfahrung als prinzipiell aufwiegbar betrachtet wird. Hiernach ist für die Beurteilung, wann ein Leben lebenswert oder sogar gut ist, unerheblich, was ein Leben an negativen Eindrücken enthält, solange nur genügend positive Eindrücke zum Ausgleich vorhanden sind. Entsprechend werden die drei eingeführten Abstufungen des Tierwohls wie folgt näher definiert: 1. Gutes Leben: • positive Erlebnisse überwiegen die negativen in hohem Grad
19 Vgl. ebd., S. 12-20, 44. 20 Vgl. ebd., S. 14-15. 21 Ebd., S. 14.
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•
alle vitalen und alle mentalen Grundbedürfnisse sind erfüllt, sowie die meisten Zusatzbedürfnisse
2. Lebenswertes Leben: • positive Erlebnisse überwiegen die negativen in geringem Grad • alle vitalen Grundbedürfnisse und die meisten mentalen Grundbedürfnisse sind
erfüllt, sowie einige Zusatzbedürfnisse 3. Nicht lebenswertes Leben: • negative Erlebnisse überwiegen die positiven • alle vitalen Grundbedürfnisse sind erfüllt (andernfalls wäre das Tier nicht le-
bensfähig), aber nur wenige oder gar keine mentalen Grundbedürfnisse und wenige oder keine Zusatzbedürfnisse werden befriedigt 22 Diese Unterscheidung der Lebensqualitäten ersetzt dabei die »Five Freedoms« nicht, sondern ergänzt sie. So ist FAWC der Meinung, ein »gutes Leben« könne begrifflich anhand der »Five Freedoms« ausbuchstabiert werden. 23 Diese Einschätzung überrascht jedoch, da die genannten Freiheiten lediglich vitale und mentale Grundbedürfnisse zu berühren scheinen, aber noch keine Zusatzbedürfnisse. Zudem äußert FAWC selbst in einem weiteren Abschlussbericht zwei Jahre später: »Recently, FAWC has proposed that the minimum standard of farm animal welfare should be move beyond the Five Freedoms and be set at the test of whether an animal has a life worth living, from its point of view.« 24
Folgt man diesem Zitat, so fangen die »Five Freedoms« noch nicht einmal die Mindeststandards ein, geschweige denn den Idealzustand des »guten Lebens«. Die »Five Freedoms« können allenfalls bei der Ausbuchstabierung der vitalen und mentalen Bedürfnisse eines Tiers als Kategorien weiterhelfen, mehr aber nicht. Die ergänzend hinzugenommene Unterscheidung zwischen »gutem«, »lebenswerten« und »nicht lebenswertem« Leben macht dabei deutlich, dass Tierwohl nicht allein die Erforschung biologischer Einflussfaktoren auf die Lebensqualität erfordert, sondern ebenso die Thematik des Guten Lebens berührt, die in der Philosophie eine eigene literarische Tradition besitzt, bei empirisch orientierten Ansätzen jedoch bislang kaum Beachtung gefunden hat. FAWC selbst reduziert hierbei ein gutes Leben auf das Vorhandensein genügend subjektiver positiver mentaler Zustände. Ein gutes Leben sei eines, in dem 22 Vgl. ebd., S. 18. 23 Vgl. ebd., S. 16. 24 FAWC (2011), S. 3.
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sich das betroffene Tier wohl fühlt und weiter nichts. Alles was außerhalb der subjektiven Erfahrungen des betroffenen Tiers liegt, hat hiernach keinerlei Einfluss auf dessen Wohl und wird damit als irrelevant betrachtet. Es gehe nur darum, ob das Individuum sein eigenes Leben aus seiner subjektiven Perspektive insgesamt positiv bewertet, 25 präziser: es als überwiegend leidvoll, überwiegend angenehm, oder sogar als sehr angenehm. 26 Die einzige Schwierigkeit bestehe darin, die subjektiven Einstellungen eines Tiers von außen adäquat einzuschätzen, womit sich spezielle empirische Assessment-Ansätze beschäftigen. Da sich meine Arbeit auf das Verständnis des Tierwohls konzentriert, statt auf praktische Messmethoden, gehe ich nicht konkret auf die Vielzahl dieser Ansätze ein. Dennoch lassen sich aus den grundsätzlichen Überlegungen zur Messkriterienauswahl Rückschlüsse auf das zugrunde gelegte Tierwohlverständnis empirischer Ansätze ziehen, wie ich im Folgenden erläutern werde. 3.2.3 Feeling, biological functioning und naturalness Innerhalb der Tierwohlwissenschaft haben sich drei so genannte Schulen herausgebildet, die jeweils unterschiedliche Kriterien für die Bemessung des Wohlzustandes eines konkreten Tiers hervorheben: 1. feeling school: Tierwohl bemisst sich anhand der subjektiven affektiven Zu-
stände des Tiers, wie dem Gefühl von Schmerz, Angst, Stress, Langeweile, etc. 2. biological functioning school: Tierwohl bemisst sich anhand objektiv feststell-
barer Faktoren wie Krankheit, Verletzungen, Fruchtbarkeit, Leistungsfähigkeit, etc. 3. naturnalness school: Tierwohl bemisst sich anhand der Möglichkeit, speziesveranlagtes Verhalten auszuleben und speziestypische Bedürfnisse zu befriedigen. 27 Alle drei Ansätze benennen laut FAWC wichtige Elemente des Tierwohls und sollten daher in die Tierwohlbeurteilung auch alle eingebunden werden. 28 Bedenkt man den oben erwähnten Fokus auf subjektives Empfinden im Ansatz von FAWC, so liegt der Verdacht nahe, dass alle Elemente der drei Schulen letztendlich doch wieder allein auf das Kriterium des subjektiven Empfindens des betroffenen Tiers rückbezogen werden. So macht bspw. körperliche Gesundheit ein Leben deshalb
25 Vgl. ebd., S. 3. 26 Vgl. FAWC (2009a), S. 12-18. 27 Vgl. ebd., S. 12, siehe auch Haynes (2011), S. 110-114. 28 Vgl. FAWC (2009a), S. 12.
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lebenswert, weil es sich für das Tier selbst gut anfühlt, frei von Krankheit und Verletzungen zu sein. Zumindest findet sich keine Textstelle, an der FAWC Faktoren wie Gesundheit oder speziestypisches Verhalten unabhängig von dieser subjektiven Perspektive als tierwohlrelevant ausweist. FAWC thematisiert die Verbindung zwischen körperlichem und mentalem Wohl und den einzelnen Schulen der Tierwohlwissenschaft an keiner Stelle explizit. Dies stellt insofern ein Versäumnis dar, als dass der Eindruck erweckt wird, FAWC würde gleichermaßen subjektivistische und objektivistische Wertmaßstäbe einbinden. Wie ich in I.1.2 erläutert habe, handelt es sich hierbei jedoch lediglich um ein Einbinden objektiver Wohlfaktoren, ohne dass damit auch automatisch ein objektivistischer Wohlansatz mit aufgenommen wird. Dieser Punkt ist deshalb von Bedeutung, da ich im Verlauf dieser Arbeit Ansätze, die Tierwohl auf subjektivistische Wertansätze reduzieren, als verkürzt ablehnen werde. Es ist daher wichtig, bereits frühzeitig zu verdeutlichen, dass Ansätze wie der von FAWC nicht dem Vorwurf eines solchen reduktionistischen Subjektivismus entgehen können, nur weil sie objektive Wohlfaktoren benennen. Es müsste eben auch eine objektivistische Wertbegründungen eingebunden werden.
3.3 GEGENLÄUFIGE INTUITIONEN BEI FAWC Diese streng subjektivistische Ausrichtung bei der Bewertung des Tierwohls wird letztendlich von FAWC ebensowenig konsequent durchgehalten wie von Brambell. Wieder zeigt sich dies anhand intuitiv motivierter und emotional aufgeladener Zwischenbemerkungen im Verlaufstext. So lehnt FAWC explizit die Züchtung von Schweinen ohne Schmerzempfinden ab, liefert gleichzeitig jedoch keinerlei Begründung, warum eine solche Praktik inakzeptabel sei. FAWC gesteht sogar zu, dass vom subjektiven Standpunkt des hierbei gezüchteten Tiers aus nichts dagegen eingewandt werden kann, Tieren ihre Sinnes- und damit Leidensfähigkeiten abzuzüchten. Gleichwohl wird an der eigenen Ablehnung solcher Praktiken entschieden festgehalten. Eine Untermauerung dieser Ablehnung fehlt, stattdessen wird eher randständig die Möglichkeit erwähnt, solche Züchtungen als Verstoß gegen den Respekt vor Tieren und ihrer Natur 29 zu kritisieren. Zu dieser Möglichkeit bezieht FAWC jedoch (wie bei vielen zentralen ethischen Fragen) keine eindeutige Stellung. Wichtiger noch: FAWC gesteht an dieser Stelle weder offen zu, dass ein
29 FAWC erwähnt hierbei explizit Rollins Konzept des telos, das bei genauerer Betrachtung jedoch ungeeignet ist, solche Züchtungen zu kritisieren. Rollin selbst betont, dass telos keine unveränderbare speziesabhängige Natur eines Tiers meint, sondern die jeweilige Summe an Bedürfnissen und Fähigkeiten eines konkreten Tiers, und diese dürften Menschen legitimer Weise modifizieren (vgl. Rollin [1995], S. 159, 165, 171-172).
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solches Hinzuziehen von Respekt oder ähnlichen Ergänzungskonzepten den eigenen streng subjektivistischen Wohlansatz als unzureichend ausweist, noch gesteht FAWC sich ein, dass hier klarerweise auf Intuitionen rekurriert wird: »For example, would it be right to produce, whether by conventional breeding or modern biotechnology, a pig unable to feel pain and unresponsive to other pigs? […] Someone arguing that such a course of action would be wrong, would not be able to argue thus on the grounds of animal suffering. Other criteria would have to be invoked. It might be argued that such a course of action would be disrespectful to pigs, that is not respecting their integrity (i.e. telos), or that it would involve treating them only as means to human ends and not, even to a limited extent, as ends in themselves. While the application of science offers many opportunities to improve animal welfare, FAWC does not favour the use of animal breeding practices and technologies, including genetic modifications, new or existing, that would decrease the sentience of farm animals, e.g. their ability to feel pain or experience distress.« 30
Manche Praktiken, die uns moralisch illegitim erscheinen, lassen sich offenbar nicht mit einem alleinigen Fokus auf subjektives Leid kritisieren. Entweder beinhaltet Tierwohl also mehr als nur das, was ein Tier subjektiv tatsächlich erfahren kann, oder wir schulden Tieren Dinge, die über die Berücksichtigung ihres Wohls hinausgehen. In jedem Fall ist die ablehnende Haltung des FAWC hier löblich hervorzuheben. FAWC übersieht dabei jedoch, dass diese Haltung nicht durch die eigene Position gestützt werden kann und ohne grundlegende Theoriearbeit frei schwebt.
3.4 GRUNDSÄTZLICHE BEJAHUNG VON TÖTUNG UND GEFANGENHALTUNG Eine entscheidende Folge der Fokussierung auf die subjektiven mentalen Zustände des betroffenen Tiers ist, dass Tötung und Gefangenhaltung von Tieren als ethisch neutrale Akte betrachtet werden. Kritisch anzusehen ist diesem Ansatz nach lediglich die Art und Weise wie diese Akte durchgeführt werden. 31 Ein Tier kann unter Stress, körperlicher Überanstrengung und zugefügten Schmerzen leiden, die mit dem Tötungsakt einhergehen. Es kann aber nicht subjektiv unter dem Umstand leiden, dass seine Lebenszeit verkürzt wird. Tiere seien zudem nicht ausreichend in der Lage, ihre eigene Zukunft zu antizipieren, so dass sie durch ihre vorzeitige Tötung in ethisch relevanter Hinsicht nichts verlören. 32
30 FAWC (2009a), S. 3. 31 Vgl. ebd., S. iii, 14-16. 32 Vgl. ebd., S. 4.
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Aus ähnlichen Gründen wird auch Freiheitsberaubung als ethisch neutraler Akt in Bezug auf Tiere betrachtet. Da Tieren kein ausreichendes kognitives Verständnis von abstrakten Begriffen wie Freiheit zugeschrieben wird, geht FAWC davon aus, dass Tiere nicht unter dem Entzug von Freiheit in direkter Weise subjektiv leiden können. Sie können subjektiv darunter leiden, dass ihnen die Ausübung von Verhaltensweisen durch die konkreten Umstände ihrer Gefangenhaltung unmöglich gemacht wird, oder dass sich bestimmte Haltungsformen negativ auf ihre Gesundheit auswirken. 33 Gefangenhaltung sei aber unproblematisch, sofern auf die Bedürfnisse des Tiers ausreichend Rücksicht genommen wird. FAWC ist bspw. überzeugt, dass Kühe selbst in permanenter Stallhaltung prinzipiell ein zufriedenstellendes Leben führen können. Wichtig sei dabei nur, dass ihnen genügend Raum zum Ausleben ihrer artspezifischen Verhaltensweisen zur Verfügung gestellt wird. 34 Kein Tier verfügt hiernach über ein subjektives Bedürfnis nach Freiheit um der Freiheit willen. Diese Positionierung ist insofern relevant, als dass Töten und Gefangenhalten essentielle Praktiken der Tiernutzung darstellen. Innovationen und Reformen zur Verbesserung des Tierwohls zielen allein auf die Etablierung »humaner« Schlachtung und Gefangenhaltung ab, nicht auf deren völligen Verzicht. Wenn solche essentiellen Praktiken als tierwohl-neutral aufgefasst werden, wird verständlich, warum empirische Ansätze kein Hinarbeiten auf eine gänzliche Abschaffung der Nutztierhaltung fordern. Ich werde im III. Hauptteil verdeutlichen, warum diese Position nicht haltbar ist.
3.5 DIE ROLLE DER PHILOSOPHIE Die bereits bei Brambell aufgezeigte Marginalisierung der Philosophie als Ansprechpartner für Tierwohl-Fragen setzt sich bei FAWC fort. Man erkennt durchaus an, dass die Untersuchung des Tierwohls ethische Fragen berührt, die nicht allein
33 Beispielsweise leidet ein Tier subjektiv darunter, wenn es auf zu engem Raum gehalten wird. Es wird daran gehindert, die Bewegungen auszuführen, die es für sein subjektives Wohlbefinden ausführen möchte, was zu körperlicher Belastung und zu Frustrationsempfindungen führt. 34 Vgl. FAWC (2011), S. 6. Interessanter Weise ist FAWC noch zwei Jahre zuvor wesentlich skeptischer was die Aussicht betrifft, Kühen ohne jeglichen freien Ausgang ein »gutes« Leben ermöglichen zu können (vgl. FAWC [2009a], S. 16). Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass FAWC bereits ein Leben, das »lebenswert« aber nicht »gut« ist, für zufriedenstellend hält (vgl. ebd., S. 44).
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durch naturwissenschaftliche Grundlagenforschung beantwortet werden können. 35 Dennoch werden Philosophie und ihr Teilbereich Ethik nicht als eigenständiges Expertisefeld begriffen, das sich zur Klärung ethischer Fragen zu konsultieren anböte. Vielmehr wird unterstellt, ethisch akzeptabel sei, was die Gesellschaft mehrheitlich für ethisch akzeptabel hält (»ethically acceptable to the concerned public«). 36 Inwiefern die Gesellschaft ethische Problemfelder der Nutztierhaltung adäquat einschätzt und in ihrer Brisanz erkennt, ist jedoch alles andere als klar. Sicher wäre es arrogant, zu behaupten, ethische Fragen sollten nur von studierten Ethikern beantwortet werden, als habe »die gemeine Bevölkerung« in Sachen Ethik nichts mitzureden. Es lässt sich aber nicht einfach aus der öffentlichen Meinung direkt ableiten, was ethisch akzeptabel ist und was nicht. Ethische Aussagen würden dadurch willkürlich und von der Mehrheitsmeinung vollständig abhängig werden. Dies verschleiert die Heterogenität gesellschaftlich verbreiteter Meinungen. Einige Menschen fordern die komplette Einstellung der intensivierten Nutztierhaltung zugunsten kleinbäuerlicher, extensivierter und ökologischer Strukturen. Andere fordern die gänzliche Einstellung der Tiernutzung. Minderheitsmeinungen werden so von vornherein in ihrer Bedeutsamkeit normativ abgewertet, als sei die gesellschaftliche Mehrheit automatisch besser informiert und reflektierter, anstatt nur zahlenmäßig überlegen. Diese enge Orientierung an der öffentlichen Meinung ist nachvollziehbar angesichts des Umstands, dass ethische Überlegungen zum Tierwohl maßgeblich durch öffentliche gesellschaftliche Kritik auf den Plan gebracht wurden. Mit Erscheinen von Ruth Harrisons Animal Machines (1964) 37 wurde erstmals die breite britische Öffentlichkeit auf die Zustände innerhalb der hoch industrialisierten Nutztierhaltung aufmerksam, was überhaupt erst zur Initiierung des Brambell-Reports (1965) und darauf folgend zur Gründung des FAWC (1979) führte. 38 Die Protagonisten der Nutztierhaltung und praxisnaher Forschung werden i.d.R. mit ethischen Fragestellungen erst in Form öffentlichen Drucks konfrontiert. 39
35 FAWC (1979). 36 Ebd. Auch 2009 fragt FAWC noch immer danach, inwiefern Tierwohlstandards »gesellschaftlich« akzeptabel sind (vgl. FAWC [2009a], S. 18). 37 Vgl. Harrison (1964). 38 Vgl. Haynes (2010), S. xii. 39 Umso erstaunlicher ist, dass die Sozialwissenschaften in den praxisnahen Ansätzen bisher kaum Erwähnung finden, obwohl doch gerade sie Einblicke darauf geben, wie Tiere gesellschaftlich betrachtet werden und sich dies historisch weiterentwickelt. Interessante soziologische und historisch-politische Arbeiten zum Umgang mit Tieren sind bspw. Buschka et al. (2013), S. 75-83 und Rude (2013).
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FAWC nimmt zwar auf philosophisch-ethische Theorien Bezug, jedoch ohne tiefergehendes Verständnis. So bekennt sich FAWC zu einer konsequentialistischen Grundhaltung, hält aber zugleich deontologische Ansätze, insbesondere die Zuschreibung moralischer Rechte und Pflichten, für attraktiv. Es wird kurzerhand vorgeschlagen, beide Theoriefamilien zur Beurteilung unserer Pflichten gegenüber Tieren heranzuziehen. Der tiefgehende Widerspruch zwischen beiden Ansätzen wird dabei nicht ausreichend ernst genommen: »Much energy can be wasted when utilitarians and deontologists argue, as there is little common ground on which the argument can take place. FAWC’s view is that the most useful way forward is to look both at the consequences of any proposed course of action and at any possible relevant intrinsic considerations before reaching an ethical conclusion.« 40
Wie oben dargelegt, betrachtet FAWC das Tierwohl jedoch grundlegend unter konsequentialistischen (genauer: utilitaristischen) Gesichtspunkten. Negative Lebenserfahrungen werden gegen positive aufgewogen, wie auch die Berücksichtigung des Tierwohls insgesamt aufgewogen wird gegen die Berücksichtigung ökonomischer Interessen. 41 Mit der – nur wenige Zeilen einnehmenden – Diskussion deontologischer Ansätze wird nun erstmals die These eingebracht, dass manche Belange des Tierwohls nicht prinzipiell aufwiegbar seien. FAWC benennt jedoch keine Beispiele, so dass die eigene Positionierung nur sehr vage bleibt. Die Idee der Kombination beider Theoriefamilien ist nicht neu und es existieren bereits einige Hybridansätze wie etwa bei Nozick 42 oder McMahan. 43 FAWC selbst aber bietet keine eigene theoretische Fundierung an oder verweist auf existierende Hybridtheorien. Es bleibt nur der Appell, beide Seiten in die Bewertung von Praktiken und Einzelhandlungen gegenüber Tieren einfließen zu lassen, jedoch ohne jede Handreichung, wann Tierwohlbelange aufwiegbar sind und wann nicht oder wodurch sie aufwiegbar sind. Die Vernachlässigung solcher philosophischer Grundfragen ist umso enttäuschender, da zumindest ein Mitglied, des für die Veröffentlichung von 2009 verantwortlichen Komitees, aus dem Bereich »Biomedizin und Ethik« stammt. 44 Dieser Einfluss setzt sich bei FAWC jedoch kaum durch und
40 FAWC (2009a), S. 56. Bereits die verwendete Terminologie ist ungenau. Intrinsische Überlegungen stellen nicht zwangsläufig das Gegenteil zu Konsequenzabwägungen dar. Auch intrinsische Werte können gegeneinander verrechnet werden, wie etwa im Utilitarismusansatz von G.E. Moore (vgl. Moore [1948]). 41 Vgl. FAWC (1979); FAWC (2009b); FAWC (2009a), S. 16-18. 42 Vgl. Nozick (1974), S. 39. 43 Vgl. McMahan (2002), S. 232-265. 44 FAWC (2009a), S. 48 sowie FAWC (2011), S. 5.
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generell wird die Bedeutung von Ethikern als vergleichsweise untergeordnet aufgefasst: »As far as new developments in farming are concerned, ethicists still have a role to play but of greater practical importance are animal welfare scientists, veterinarians, farmers and others who know about animal physiology, behaviour, physical and mental health, and husbandry.« 45
All dies verdeutlicht die Dringlichkeit einer grundlegenden philosophisch-kritischen Untersuchung der Tierwohlthematik, zumal sich die Philosophie ihren Raum innerhalb der Tierwohlforschung noch immer mühsam zu erkämpfen hat.
3.6 PRAGMATISMUS BEI FAWC Das zuvor kritisierte Verhältnis von FAWC zur Philosophie geht mit einer offen erkennbaren pragmatistischen Haltung einher. Am stärksten äußert sich dies anhand der engen Ausrichtung des Tierwohlansatzes an den ökonomischen Belangen einer effizienten Nutztierindustrie. »The Council will therefore especially wish to encourage alternative systems of livestock husbandry which are ethically acceptable to the concerned public, can be shown to improve the welfare of the livestock in question and be economically competitive with existing systems of intensive production.« [Hervorhebung D.W.] 46 »These freedoms define ideal states rather than standards for acceptable welfare. They form a logical and comprehensive framework for analysis of welfare within any system together with the steps and compromises necessary to safeguard and improve welfare within the proper constraints of an effective livestock industry.« [Hervorhebung D.W.] 47
Ethische Überlegungen, die die Fortführung der Nutztierhaltung überhaupt hinterfragen, werden von vornherein nicht mit aufgenommen. Einerseits wird sich auf das aktuale gesamtgesellschaftliche Meinungsbild gestützt, das überwiegend nur das Wohl von Tieren bemängelt, nicht aber die Nutztierhaltung generell. Andererseits wird die Abschaffung der Nutztierhaltung offensichtlich als weder praktisch umsetzbar noch wünschenswert betrachtet. Dabei gerät die Frage in den Hintergrund,
45 FAWC (2009a), S. 56. 46 FAWC (1979). 47 FAWC (2009b).
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ob das Leid, das Tiere in der Nutztierhaltung praktisch unvermeidbar erfahren, Anlass gibt, die Praktik der Tierhaltung als Ganze zu kritisieren. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass es sich hierbei um Leid handelt, das moralisch legitim ist, da uns durch die empirischen Rahmenbedingungen von Ökonomie, Gesetzgebung, etc. die Hände gebunden sind. Entsprechend wird die Berücksichtung des Tierwohls verstanden als die Vermeidung »unnötigen Leids«. 48 FAWC selbst gesteht ein, die Rede von »unnötigem Leid« impliziere, dass manche Leidzufügungen gerechtfertigt, notwendig und gesetzeskonform seien. 49 Diese Konsequenz akzeptiert FAWC. Der Pragmatismus äußert sich ebenfalls anhand einer Bevorzugung möglichst simpler und Platz sparender Theorieansätze. Da FAWC auf die Etablierung verbesserter Standards für alle Haltungssysteme abzielt, ist diese Ausrichtung nachvollziehbar. Forderungen lassen sich erfolgreicher etablieren, wenn sie leicht verständlich und leicht umsetzbar sind. Diese Einstellung dominiert jedoch das wissenschaftliche Vorgehen bei FAWC in alarmierender Weise. Je einfacher und überschaubarer ein Ansatz in seiner Theorie ist, umso besser: »If it is decided, perhaps in a particular context, that arguments about ethics in general, and farm animals in particular, can be conducted solely within a consequentialist framework, then the issues are, at least in principle, considerably simplified.« 50 »Our proposal, therefore, is that an animal’s quality of life can be classified as a life not worth living, a life worth living and a good life (Figure 1). Other classification schemes use four or more levels; three have the merit of simplicity and the basic notions are familiar in the human context.« 51
Dabei wird jedoch nie ethisch hinterfragt, inwiefern ein möglichst überschaubarer und knapper Ansatz dem offensichtlich hoch komplexen Phänomen Tierwohl gerecht werden kann. 52
48 Vgl. FAWC (2009a), S. 14-15. 49 Vgl. FAWC (2011), S. 3. 50 FAWC (2009a), S. 56. FAWC entscheidet sich, wie zuvor erwähnt, letztendlich gegen eine solche Simplifizierung soweit es den gesamten Tierwohlansatz angeht. Jedoch wird hierbei erwogen, in Teilbereichen allein utilitaristische Maßstäbe anzuwenden. 51 Ebd., S. 17. 52 So betont v.a. Ross den Unterschied zwischen Attraktivität und Plausibilität von Ansätzen. Die Theorien, auf die wir uns stützen, sollten die Komplexität des zu untersuchenden Gegenstands und unserer moralischen Einstellungen adäquat einbinden, statt diese krampfhaft zu vereinfachen (vgl. Ross [2002], S. 19-23).
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Diese starre Orientierung, an dem, was innerhalb der bestehenden Ordnung praktisch umsetzbar ist, wird jedoch überraschender Weise an einer Stelle von FAWC durchbrochen. Standards zur Verbesserung des Tierwohls sind laut FAWC nämlich auch dann von praktischer Relevanz, wenn sie nicht juristisch etabliert werden können. Einerseits können diese Standards immer noch bei der beruflichen Ausbildung von Tierhaltern, Veterinärmedizinern und anderem Fachpersonal vermittelt werden, und sich damit langfristig auf freiwilliger Basis etablieren. Andererseits können diese Standards bei gerichtlichen Prozessen gegen Tierhalter hinzugezogen werden. Sie reichen zwar nicht aus, um ein Gerichtsverfahren einzuleiten, da sie nicht juristisch verbindlich sind, sie können jedoch als Indiz für schlechte Tierhaltungspraxis herangezogen werden. So können sie bei bereits laufenden Verfahren gegen Tierhalter juristisch gültige Anklagepunkte erhärten. 53 Streng genommen handelt es sich hierbei aber um keine wirkliche Abkehr vom Pragmatismus, denn es geht auch hier immer noch darum, welchen praktischen Nutzen Tierwohlstandards trotz juristischer Unverbindlichkeit besitzen können.
3.7 MENSCH-TIER-BEZIEHUNGEN BEI FAWC Auffallend ist, dass im Gegensatz zum Brambell Report bei FAWC Mensch-TierBeziehungen und daraus resultierende besondere Verantwortungspflichten kaum diskutiert werden. Es finden sich keine Ausführungen darüber, in welcher Beziehung Tierhalter und gehaltene Tiere zueinander stehen; ob die Weise, in der wir uns derzeit auf Tiere beziehen moralische Probleme aufwirft; und ob sich aus den vorliegenden Mensch-Tier-Beziehungen besondere moralische Ansprüche ableiten lassen. Der ab 2009 vertretene Anspruch, Nutztieren ein mindestens »lebenswertes« und besser noch »gutes Leben« zu ermöglichen, wird insofern nicht kleinschrittig entwickelt, etwa unter Berufung auf bestimmte Verantwortungspflichten, sondern schwebt frei. 54
53 Vgl. FAWC (2009a), S. 9. Dieses Argument wird auch von UFAW-Autor Scott geteilt (vgl. Scott [2011], S. 329). 54 Vgl. ebd., S. 44.
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3.8 LÜCKEN IM ANSATZ Da FAWC sich kaum mit einer tiefergehenden Analyse des eigenen Tierwohlverständnisses auseinandersetzt, werden die diversen ethischen Fragen, die im Ansatz berührt – wenn auch nicht bewusst thematisiert – werden, miteinander vermengt. Dies führt zu erheblichen Ungereimtheiten im eigenen Ansatz. Da eine genauere Klärung darüber ausbleibt, warum und inwiefern wir Tieren moralisch überhaupt etwas schulden, ist FAWC nicht in der Lage zu begründen, was genau die Nutztierhaltung zu einer wichtigen und erhaltenswerten Institution macht – geschweige denn einer von so großer Relevanz, dass Einschränkungen des Tierwohls um ihretwillen gerechtfertigt wären. Zudem versteht FAWC mittlerweile Tierwohl nicht allein hinsichtlich der Vermeidung von Leid, sondern versucht auch die Ermöglichung positiver Lebenserfahrungen stärker einzubinden. Positive Erfahrungen scheinen dennoch weiterhin von untergeordneter Stellung zu sein und nur insofern von Belang, als dass sie negative Erfahrungen auszugleichen vermögen. Die Berücksichtigung des Tierwohls läuft dadurch Gefahr, doch wieder nur als Eindämmung von Tierleid begriffen zu werden. Ein Leben sei dann »lebenswert«, wenn es nicht von Leid dominiert wird, und »gut«, wenn es vergleichsweise geringfügig von Leid geprägt ist. Dagegen fehlt eine nähere Auseinandersetzung darüber, ob und warum wir gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen, nicht bloß negative Pflichten besitzen (Vermeidung von Leid), sondern auch positive Pflichten (Beförderung von Zufriedenheit). Darüber hinaus ist Vorsicht geboten bei der Annahme, dass positive Lebenserfahrungen negative in moralisch relevanter Weise ausgleichen können. Hierbei ist v.a. kritisch zu hinterfragen, inwieweit die Beförderung positiver Erfahrungen prinzipiell die vorherige Verursachung negativer Erfahrungen rechtfertigen kann. Ich stimme zu, dass ein Leben bei ausreichend positiven Inhalten, auch trotz kurzer Episoden von Leid, insgesamt immer noch als lebenswert oder sogar gut bezeichnet werden kann. Positive Erfahrungen können bewirken, dass ein erfahrenes Leid sich nur begrenzt auf die Lebensqualität insgesamt auswirkt. Sie beeinflussen damit aber nicht automatisch, ob die Zufügung dieses Leids in der Vergangenheit moralisch gerechtfertigt war. John Leslie Mackie verweist prominent darauf, dass es sogenannte »absorbierte Übel« geben kann. 55 Dafür muss jedoch ein enger Zusammenhang zwischen der vergangenen negativen Erfahrung und einer darauf folgenden positiven bestehen. Eine schmerzhafte Impfung etwa bewirkt, dass ein Tier anschließend nicht unter Krankheit leidet. Negative Erfahrungen können also ausgleichbar sein, wenn sie mit künftigen positiven Erfahrungen einhergehen, nicht aber, weil sie sich nicht allzu fatal auf die Lebensqualität insgesamt auswirken. Wir
55 Vgl. Mackie (1987), S. 244-248.
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können nicht einfach das Leid und die Beschränkung positiver Erfahrungen, die Tiere in menschlicher Haltung erleben, dadurch als ausgeglichen betrachten, dass es sich dabei nur um kurze episodische Beeinträchtigungen eines insgesamt immer noch positiv geprägten Wohlzustands handelt. Ich werde diese Annahme in III.4 untermauern. An dieser Stelle konstatiere ich zunächst nur, dass FAWC offensichtlich davon überzeugt ist, dass nur die langfristige Lebensqualität zählt. So könne das Leid, das männliche Mastferkel bei ihrer Kastration erleben, 56 oder der Stress während des Transports zum Schlachthof durch eine insgesamt gute Lebensqualität ausgeglichen werden. 57 Auch scheinen die meisten von uns zu akzeptieren, dass Haustiere, selbst nachdem sie Misshandlungen erfahren haben, in vielen Fällen ein insgesamt glückliches Leben führen können, wenn sie danach in ein fürsorgliches Umfeld kommen. Die moralische Legitimität einer Handlung (oder Misshandlung) hängt aber nicht allein davon ab, ob diese Handlung ein Leben nachhaltig ruiniert oder nur zeitlich begrenzte negative Auswirkungen hat. Andernfalls müssten wir es als moralisch unproblematisch ansehen, wenn Halter ihre Tiere zum Spaß ein wenig quälen, solange sie an anderer Stelle für genügend positive Erfahrungen als Ausgleich sorgen. Meiner Einschätzung nach dürfte auch FAWC selbst nicht bereit sein zu behaupten, das episodische Misshandeln von Tieren sei mit der Berücksichtigung des Tierwohls vereinbar. Dies aber würde aus dem von FAWC zugrunde gelegten simplen, Platz sparenden Ansatz folgen, und den benannten kontraintuitiven Konsequenzen wird nicht nachgegangen. Den Grund für diese inhaltlichen Lücken hierfür sehe ich in der pragmatistischen Fixierung auf Fortführung und Reformierung der Nutztierhaltung, wobei zentrale ethische Fragen vernachlässigt werden: Warum sollten uns Tiere moralisch interessieren? Und warum spielt ihr Wohl dabei eine Rolle? Ich werde im nächsten Kapitel anhand des Ansatzes von UFAW illustrieren, dass diese Schwachpunkte dort teilweise adressiert werden, im Kern jedoch weiterhin bestehen bleiben.
56 Eine Praktik, die deshalb vorgenommen wird, da männliche Schweine ohne kastriert zu werden bei Geschlechtsreife Hormone ausschütten, die ihrem Fleisch beim Braten einen unangenehmen Geruch verleihen. Das Ferkel selbst hat keine Vorteile durch diesen Eingriff, die dieses Übel »absorbieren« könnten. Es geht einzig um die Absatzfähigkeit des Tierprodukts. Dagegen scheint das Schnäbelkürzen bei Hühnern und Puten, da es die Verletzungsgefahr mindert, ein haltbarerer Kandidat für ein »absorbiertes Übel« zu sein. Gleichwohl kann an der Notwendigkeit, dieses Übel zuzufügen, gezweifelt werden. Eine Alternative zum Schnäbelkürzen wäre, die Tiere nicht mehr auf engem Raum zu halten. 57 Vgl. FAWC (2009a), S. 14-15.
4
UFAW
4.1 HINTERGRUND UND FUNKTION DES UFAW Die unabhängige Organisation Universities Federation for Animal Welfare wurde bereits 1926 gegründet, damals noch unter dem Namen University of London Animal Welfare Society. Ihre Gründung markiert den Beginn der so genannten »Animal Welfare Movement«, die die Berücksichtigung und Verbesserung des Wohls derjenigen Tiere anstrebt, die menschlichen Praktiken unterzogen werden. Dabei lag der anfängliche Fokus auf dem Wohl von Tieren im Kontext der Vivisektion. 1946 gab UFAW das historisch erste Handbuch für einen Wohl berücksichtigenden Umgang 1 mit Versuchstieren heraus, das vor allem Labormitarbeitern in Forschungseinrichtungen zur Orientierung dienen sollte. Erst 1966, nach Erscheinen von Ruth Harrisons Animal Machines, 2 und der damit aufkeimenden gesellschaftlichen Tierwohldebatte, veröffentliche UFAW auch ein Handbuch zum Umgang mit landwirtschaftlichen Nutztieren. Seit 1992 gibt die Organisation zudem die wissenschaftliche Zeitschrift Animal Welfare heraus. 3 Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf die 2011 erschienene Ausgabe des UFAW-Handbuchs zum Umgang mit Nutztieren. 4 Daher behandle ich UFAW auch erst nach Brambell und FAWC, obwohl es sich historisch betrachtet um die älteste britische Tierwohlorganisation handelt. Das fast 600 Seiten starke Werk liefert vornehmlich Detailinformationen über Wohl förderliche Stallgestaltung, Nahrung und weitere Managementfaktoren. Daneben enthält 1
Ich verwende die eigene Formulierung »Wohl berücksichtigender Umgang« bewusst anstelle des Adjektivs »tierwohlgerecht«, welches derzeit zur bestimmenden Vokabel in der Tierwohlwissenschaft geworden ist. Grund ist meine Überzeugung, dass wir bei einem Festhalten an unseren derzeitigen Praktiken an Nutz- und Versuchstieren ihrem Wohl niemals wirklich gerecht werden, sondern allerhöchstens ihr Wohl beim Durchführen dieser Praktiken berücksichtigen können.
2
Vgl. Harrison (1964).
3
Vgl. Haynes (2011), S. 106-107.
4
Vgl. Webster (2011).
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es jedoch auch einige Theoriekapitel und Unterabschnitte darüber, wie Tierwohl als Konzept zu begreifen ist. Ich behandle im Folgenden Argumente und Positionen unterschiedlicher beteiligter Autoren, die ich an entsprechender Stelle namentlich voneinander trenne. Dennoch verstehe ich ihren jeweiligen Input als Teil einer gemeinsamen Position des UFAW, da sich die Autoren in ihren Kapiteln an keiner Stelle gegenseitig angreifen, sondern ihre Beiträge vielmehr miteinander verzahnt scheinen. Einige ihrer Teilargumente und Einzelurteile stehen dabei durchaus in Konflikt zueinander. Es handelt sich m.E. bei diesen Widersprüchen jedoch nicht um einen Konflikt zwischen unterschiedlichen theoretischen Lagern, sondern spiegelt die bereits attestierte Inkohärenz praxisnaher Tierwohlansätze wieder. Diese Konflikte berühren somit die Positionen aller beteiligten Autoren, auch wenn sie im Einzelnen unterschiedlich deutlich zutage treten.
4.2 GRUNDSÄTZLICHES TIERWOHLVERSTÄNDNIS 4.2.1 Tierwohl zwischen deskriptivem Zustand und normativem Anspruch Webster trennt im einleitenden Theoriekapitel des UFAW Handbook zwei wesentliche Bedeutungskerne des Schlagworts »Tierwohl«. Zum Einen versteht er Tierwohl als Konzept, welches den physischen und mentalen Zustand eines Tiers beschreibt. Zum Anderen bezeichne Tierwohl einen moralischen Anspruch, den wir 5 als Gesellschaft an uns selbst stellen und in dem die öffentliche gesellschaftliche Besorgnis über den Zustand der Tiere, die wir halten und nutzen, zum Ausdruck kommt. 6 Erneut wird also Wohl anhand des physischen und mentalen Zustands des betroffenen Tiers bemessen, was Webster in der Formel »fit and feeling good« zusammenfasst. »Fit sein« steht hierbei für den physischen Zustand, »sich wohl fühlen« für den mentalen. Die Gewährleistung eines guten physischen Zustands erfordert Gesundheit. Die Gewährleistung eines guten mentalen Zustands erfordert die Abwesenheit von Leid 7 sowie das Vorhandensein positiver Gefühle. 8 Die Relevanz
5
Dieses »Wir« umfasst, so wie ich Webster verstehe, diejenigen menschlichen Moralakteure, die in einer modernen industriellen Zivilisationsgesellschaft zusammenleben. Über Verpflichtungen zur Achtung des Tierwohls seitens indigener Gemeinschaften wird in seinem Beitrag nicht explizit gesprochen.
6 7
Vgl. Webster (2011a), S. 6. Webster spricht hierbei bewusst von »Leid« und nicht von negativen Gefühlen. Da, wie schon bei Brambell und FAWC, davon ausgegangen wird, dass negative Gefühle zunächst einmal nur als Herausforderungen anzusehen sind, die ein Tier versuchen kann zu
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physischer (objektiver) und mentaler (subjektiver) Faktoren wird dabei, wie schon bei den vorherigen Ansätzen auf die faktischen subjektiven Empfindungen des betroffenen Tiers zurückgeführt. Was zählt, ist die subjektive Perspektive des Tiers. 9 Da diese Perspektive für Außenstehende nicht direkt erfahrbar ist, versucht Webster Indikatoren aufzustellen, um zumindest rational gerechtfertigte AußenEinschätzungen zu ermöglichen. Er orientiert sich dabei am Coping-Ansatz, der vor allem durch Fraser und Broom 10 geprägt wurde. Diese argumentieren, das Wohl eines Tiers bemesse sich daran, wie erfolgreich ein Tier mit seiner Lebensumwelt 11 »zurechtkommt« (engl.: to cope). 12 Webster begrenzt diesen Ansatz dabei auf allein solche Tiere, die über eine subjektive Wohlperspektive in Form von Empfindungsfähigkeit verfügen. Unter Frasers und Brooms ursprüngliche Definition würde hingegen auch fallen, inwieweit ein Pantoffeltierchen oder ein Regenwurm in der Lage wären, in ihrer Umwelt zu überleben und auf Störreize zu reagieren. Webster hingegen präzisiert Tierwohl als: »the state of body and mind of a sentient animal as it attempts to cope with its environment« [Hervorhebung D.W.]. 13 Desweiteren versteht er Tierwohl explizit nicht einfach nur als objektive biologische Zustandsbeschreibung eines Tiers (denn dann spräche nichts dagegen, auch den Zustand nicht-empfindungsfähiger Tiere mit aufzunehmen). Tierwohl beinhaltet zugleich für Webster implizit die Anerkennung, dass es sich beim betroffenen Tier um ein zumindest rudimentär bewusstes Subjekt handelt, dem es selbst etwas ausmachen kann, was mit ihm geschieht. Wir können uns um dieses Tier um seiner selbst willen Sorgen machen. 14
meistern. Negative Empfindungen stellen diesem Bild nach nur dann eine Einschränkung des Wohls dar, wenn ein Tier nicht mit ihnen fertig wird (vgl. ebd., S. 9-12). 8
Vgl. ebd., S. 7.
9
Vgl. ebd., S. 14. Krankheit ist demzufolge nicht etwa tierwohlrelevant, weil ein krankes Tier in einem aristotelischen Sinne »defizitär« ist, sondern weil berechtigterweise davon auszugehen ist, dass ein Tier seinen Krankheitszustand als unangenehm empfindet.
10 Vgl. Fraser/Broom (1990). 11 Ich werde im Folgenden die Begriffe Lebensumwelt und Haltungsumwelt synonym verwenden. Im Kontext der Nutztierhaltung befasse ich mich primär mit Tieren, deren Leben in menschlicher Gefangenhaltung verläuft. Damit ist ihre Lebensumwelt faktisch die Welt, die ihre Halter ihnen vorsetzen. 12 Vgl. Webster (2011a), S. 7. 13 Ebd., S. 7. Man könnte sehr wohl auch danach fragen, inwiefern eine Pflanze in der Lage ist, mit wenig Wasser oder Licht zurechtzukommen. Dies ist aber nicht die Art von »coping«, die Webster für moralisch relevant hält. 14 Damit ist noch nicht ausreichend belegt, dass wir uns um dieses Tier auch Sorgen machen sollten. Dieser nächste Schritt ergibt sich, wie ich im Folgenden herausstellen werde, je-
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Die Coping-Fähigkeit eines Tiers erlaubt laut Webster insofern Rückschlüsse auf den subjektiven mentalen Zustand eines Tiers, als dass es das feste Bestreben eines jeden empfindungsfähigen Wesens sei, einen Zustand zu erreichen, der sich für dieses subjektiv als »gut« bezeichnen lässt. Und einen solchen »guten« Zustand umschreibt Webster, wie oben erwähnt, anhand von körperlicher Fitness und geistigem Wohlgefühl. Da Webster jedoch die Relevanz physischer und mentaler Faktoren letztendlich an die subjektive Perspektive des betroffenen Tiers allein zurückbindet, ist auch sein Ansatz mit denselben kontraintuitiven Implikationen konfrontiert, mit denen auch andere streng subjektivistische Tierwohlansätze zu kämpfen haben. 4.2.2 Die Schwelle akzeptablen Tierwohls Webster führt nicht näher aus, wo genau die zu erreichende Schwelle für einen moralisch akzeptablen Tierwohlzustand liegt. Seine Kollegin Christine Nicol versucht hingegen in einem eigenen Kapitel des UFAW Handbook einen Indikator zu benennen, anhand dessen sich einschätzen lässt, in welchem Maß ein Tier in der Lage ist, mit seiner Umgebung zurecht zu kommen. Als verlässlichsten Indikator hierfür nimmt sie die Beobachtung des Tierverhaltens an. Bereits bei Webster wird eine enge Verbindung zwischen Tierwohl und Tierverhalten gezogen, indem argumentiert wird, dass die Verhaltensweisen eines Tiers überhaupt erst motiviert sind durch das Bestreben, Leid zu meiden und Befriedigung zu suchen. 15 Damit übereinstimmend argumentiert Nicol, dass sich am Verhalten eines Tiers ablesen lässt, wie sich dieses Tier fühlt und wie es auf seine Lebensumwelt zu reagieren versucht. 16 Nicol legt ihr Hauptaugenmerk dabei nicht auf die typischen Bewegungen und Laute, die ein Tier – unserer Kenntnis nach – bei starken Schmerzen oder Angst zu erkennen gibt. Solche Verhaltensweisen spielen eine Rolle, markieren jedoch bereits extreme Wohlprobleme. Nur weil ein Tier sich momentan nicht vor Schmerzen krümmt oder schreit, heißt das nicht, dass ein Zustand unbedenklich ist. 17 Nicol unterteilt Verhaltensweisen innerhalb des Repertoires eines Tiers anhand deren Priorität für das Tierwohl. Sie hebt dabei vor allem einen Bereich hervor, den sie als »luxury activities« bezeichnet. Dies sind Verhaltensweisen, die ein Tier für sein Überleben und das Abwehren von Störreizen nicht benötigt, die vielmehr sogar
doch aus den moralischen Überzeugungen, die UFAW in seine Analyse des Tierwohls einfließen lässt, was in Schlagworten wie »Verantwortung« und »Anspruch« zum Tragen kommen. 15 Vgl. ebd., S. 7. 16 Vgl. Nicol (2011), S. 32. 17 Vgl. ebd., S. 32ff, 60ff.
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sehr viel zusätzliche Zeit und Energie verbrauchen, dafür aber auch die empfundene Lebensqualität enorm steigern (etwa Spielen und sich Sonnen, in Abgrenzung zu basalen Aktivitäten wie Nahrungssuche und Schlafen). Da diese Aktivitäten von keinem unmittelbaren praktischen Nutzen für die Lebensbewältigung des Tiers sind, gleichzeitig aber enorme Ressourcen verbrauchen, sind dies laut Nicol die ersten Verhaltensweisen, die ausbleiben, wenn ein Tier gezwungen ist mit seinen Ressourcen zu haushalten. Ihre Priorität ist also entsprechend gering. Folglich ist das Auftreten von »Luxusaktivitäten« ein Indikator dafür, dass ein Tier so gut mit seiner Lebensumwelt zurechtkommt, dass genügend Energie für bspw. Spielen und soziale Interaktion übrig ist. Bleibt solches Verhalten jedoch aus, ist dies zumindest ein Zeichen dafür, dass ein Tier einige Mühe aufwenden muss, um die Herausforderungen seiner Umwelt zu bewältigen und dabei einiges an Lebensqualität einbüßt, selbst wenn sein Wohlzustand insgesamt noch nicht alarmierend ist: »In general, behaviours that are thought to be associated with pleasurable feelings include play behaviour, affiliative behaviour, allo-grooming (reciprocal grooming between companions) and exploration. All of these behaviours are, in a sense, luxury activities. They demand time and energy and yet do not result in immediate practical benefit. Their benefits are longer-term and they are often the first activities to be lost from the repertoire when conditions get difficult. Correspondingly, their appearance in the animals’ repertoire may be a reliable indicator that conditions are not too tough.« 18
Die hier gemeinten Aktivitäten stellen also insofern einen Luxus dar, als dass sie den Unterschied zwischen einem lebenswerten und einem erfüllten Leben markieren. Andere Aktivitäten dagegen markieren den Unterschied zwischen einer mehr oder weniger lebenswerten Existenz und einem von Leid gezeichneten Dahinsiechen. Die Prioritätssetzung von Verhaltensweisen ist damit zwar für Außenstehende relativ verlässlich ablesbar, dennoch aber an der subjektiven Perspektive des betroffenen Tiers orientiert. Auch wenn die Aktivitäten mit besonders hoher Priorität am unentbehrlichsten für das Tier sind, können sie alleine noch nicht in hinreichender Weise eine zufriedenstellende Lebensqualität garantieren. Sie markieren lediglich die minimal notwendigen Bedingungen für ein auch nur annähernd lebenswertes Leben aus der Sicht des betroffenen Tiers. Bevor nicht die Minimalbedingungen für ein annehmbares Leben gewährleistet sind, besitzt ein Tier weder die Motivation noch die Energie, Luxusaktivitäten auszuüben. Die Lebensqualität steigernde Wirkung von Luxusaktivitäten bleibt also aus, wenn die Minimalbedingungen vorher nicht gewährleistet sind. 18 Ebd., S. 61.
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4.3 ANPASSUNGSFÄHIGKEIT ALS WOHLFAKTOR Nicol unterscheidet darüber hinaus intern und extern motivierte Handlungen. Eine Handlung ist dann extern motiviert, wenn sie äußere Umwelteinflüsse benötigt, um überhaupt erst angeregt zu werden. Beispielsweise haben Schafe, so Nicol, die Angewohnheit, sich beim Gefühl von Gefahr in einer alarmbereiten Pose auf der Weide aufzustellen. Dieses Verhalten bleibt bei Stallhaltung von Schafen jedoch aus. Anscheinend sorgt die Stallumgebung dafür, dass die Schafe gar nicht erst in Alarmbereitschaft versetzt werden und somit auch kein Bedürfnis verspüren, diese Warnhaltung einzunehmen. 19 Daraus leitet Nicol die Annahme ab, dass, sofern ein Handlungsbedürfnis von externer Motivation abhängt, mit Ausbleiben der entsprechenden externen Anregung auch das entsprechende Handlungsbedürfnis nicht vorhanden ist und daher auch nicht berücksichtigt werden muss. Ein Tier hat laut Nicol keinen Anspruch auf die Möglichkeit Handlungsweisen auszuüben, wenn diese Handlungsweisen vom betroffenen Tier selbst de facto überhaupt nicht angestrebt werden. 20 Demzufolge scheint es dem Halter offenzustehen, durch entsprechende Gestaltung der Lebensumwelt eines Tiers, bestimmte extern angeregte Bedürfnisse gar nicht erst entstehen zu lassen. Ist ein Tier gar nicht erst dazu angeregt, eine bestimmte Handlung auszuführen, so scheint es plausibel anzunehmen, dass es fehlende Möglichkeiten, sie auszuführen subjektiv nicht als frustrierend oder auf andere Art leidvoll erleben kann. Tiere, so die zugrunde liegende Annahme, können nur subjektiv wertschätzen, eine Handlung zu dem Zeitpunkt, zu dem sie sie ausführen möchten, auch tatsächlich ausführen zu können. Sie können aber nicht das Gefühl wertschätzen, eine reine Verhaltensmöglichkeit zu besitzen, von der sie de facto keinen Gebrauch machen wollen. Moralisch problematisch ist laut Nicol somit nicht, Tiere überhaupt in ihrer Handlungsfreiheit einzuschränken, sondern nur, sie in der Ausführung von Handlungen zu beschränken, die sie de facto ausüben möchten, wozu sie faktisch angeregt sein müssen. Intern motivierte Handlungen werden hingegen nicht durch Umweltreize angeregt, sondern stellen Bedürfnisse dar, die Tiere unabhängig von ihrer Lebensumwelt
19 Vgl. ebd., S. 40ff. 20 Vgl. ebd., S. 40ff. Ähnlich argumentiert Webster in einem früheren Artikel, dass das Wohl eines Tiers nicht an der Ausführung konkreter Verhaltensweisen festzumachen ist, sondern allgemein an der Befähigung des Tiers, mit seiner Umgebung fertig zu werden. Was zählt ist das Gelingen des »coping«, nicht das konkrete Verhalten, das hierfür aufgewendet wird (vgl. Webster [1998], S. 266).
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verspüren. 21 Behindert die Haltungsumgebung die freie Ausübung intern motivierter Handlungen, so wird lediglich die entsprechende Handlung unterbunden, das Bedürfnis, sie auszuüben, bleibt jedoch bestehen, was zu negativen Empfindungen führt. Dass ein solches intern motiviertes Bedürfnis weiterhin besteht, lässt sich etwa daran erkennen, dass Tiere, sobald sie weniger einschränkende Haltungsbedingungen vorfinden, die vormals unterbundenen Handlungen nun umso verstärkter ausleben. Man spricht dabei von »Rebound«-Effekten. So etwa wenn Tiere, die unter starkem Platzmangel gehalten wurden, sich bei größerem Platzangebot auffällig oft ausstrecken und ihre Gliedmaßen ausschütteln. 22 Dies wirft die Frage auf, ob es legitim ist, Tieren die Ausübung bestimmter Handlungsweisen vorzuenthalten, sofern es uns möglich ist, ihre interne Motivation zu manipulieren, etwa durch Konditionierung oder durch gezielte Abzüchtung bestimmter Verhaltensbedürfnisse. Der Akt einer Manipulation selbst wird von Nicol als moralisch neutral angenommen. Relevant sei lediglich, ob eine Manipulation in einer Verbesserung oder Verschlechterung des subjektiv empfundenen Wohlzustands des betroffenen Tiers resultiere. 23 Was zählt, ist die Fähigkeit, Herausforderungen der Lebensumwelt erfolgreich zu bewältigen, im Sinne des Coping. Hier wird nun auch deutlich, was die Parameter für diesen Erfolg sind. Es geht nicht darum, einen Störreiz abzuwehren oder seine Quelle auszuschalten. Es geht einzig darum, dass das betroffene Tier einen Umgang mit diesem Störreiz findet, so dass es die herausfordernde Lebenssituation nicht als negativ empfindet. Die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse an das anzupassen, was die aktuelle Lebensumwelt an Handlungsoptionen erlaubt, erleichtert es dem Individuum, einen solchen WohlZustand zu erreichen. Nicol wörtlich: »The capacity to adapt may be what is most crucial for animal welfare.« 24 Ein Halter hat sich hiernach nichts vorzuwerfen, solange er Tiere so hält, dass ihre Anpassungsfähigkeit nicht überstiegen wird. Die Bedeutsamkeit von Anpassung wird auch von Webster betont: »Animals are equipped to respond and adapt to challenges in circumstances that permit them to make an effective response. If so, then they learn that they can cope. An animal is likely to suffer when it fails to cope (or has extreme difficulty in coping) with stress […] because the stress itself is too severe, too complex or too prolonged […] or […] because the animal is prevented from taking the constructive action it feels necessary to relieve the stress […]« 25
21 Vgl. Nicol (2011), S. 42. 22 Vgl. ebd., S. 41. 23 Vgl. ebd., S. 42ff. 24 Vgl. ebd., S. 52. 25 Webster (2011a), S. 9-10.
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Webster stimmt damit Nicol zu, dass Halter das Anpassungspotenzial von Tieren bis zu einem gewissen Grad ausschöpfen dürfen. Ist es einem Tier möglich, mit seinen Haltungsbedingungen zurechtzukommen, gibt es an der Lebensverfasstheit dieses Tieres laut Nicol und Webster moralisch nichts zu beanstanden. Die Frage, ob es Lebensumstände gibt, an die ein Tier aus moralischer Sicht nicht gewöhnt werden sollte, selbst wenn man es daran gewöhnen könnte, stellt sich in diesem Ansatz nicht. 26
4.4 »FIVE FREEDOMS« UND MENSCHLICHE VERANTWORTUNG Der nachhaltige Einfluss der »Five Freedoms« von FAWC ist auch bei UFAW erkennbar. UFAW-Mitglied Graham Scott greift in seinem Beitrag dessen Kriterien auf, betont aber, dass eine Abdeckung der »Five Freedoms« kein Garant für ein »gutes« Leben sei, 27 sondern lediglich die notwendige Grundvoraussetzung für ein gutes Leben schaffen kann: »[T]he ›five freedoms‹ have been misinterpreted as goals or aims. These ›freedoms‹ are often seen as a welfare ›ceiling‹ rather than a legal minimum welfare standard or ›floor‹.« 28
Scott plädiert daher dafür, die so genannten »Five Freedoms« stattdessen treffender als »the five ›minimum musts‹« zu betiteln. Es handelt sich für Scott hierbei eben nicht um Komponenten, die wir idealer Weise erfüllen sollten, sondern unterhalb derer die Haltung von Tieren schlichtweg moralisch unzulässig ist. Zudem argumentiert Scott, dass im Gegensatz zu »musts« der Begriff »freedoms« die Verantwortungsrolle des Halters für seine Tiere nicht genügend betone. 29 Damit spricht Scott einen entscheidenden Aspekt an, der bereits bei Brambell Erwähnung findet, bei FAWC in den Hintergrund gerät und nun bei UFAW wieder klarer hervortritt: die Verantwortungsbeziehungen zwischen Menschen und den Tieren, die sie halten und nutzen. Scott scheint es nicht allein darum zu gehen, dass diese Tiere sich in einem Wohlzustand befinden müssen, der für uns aus ethischer Sicht zufriedenstellend ist. Es geht ihm auch darum, anzuerkennen, dass sich hinter dem jeweiligen
26 Bspw. ist zu hinterfragen, ob es moralisch unbedenklich ist, Tiere an ein Leben in ständiger Dunkelheit zu gewöhnen, um dadurch Kämpfe unter den Tieren zu verringern. 27 Dies steht der wesentlich optimistischeren Einschätzung des FAWC entgegen (vgl. FAWC [2009a], S. 16). 28 Scott (2011), S. 330. 29 Vgl. ebd., S. 331.
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Wohlzustand, den es zu berücksichtigen gilt, ein Individuum verbirgt, dem gegenüber wir in einer bestimmten Weise moralisch verpflichtet sind. Darin drückt sich ein moralischer Anspruch aus, die Berücksichtigung des Tierwohls zu begreifen als ein Anerkennen einer Verantwortungsbeziehung zum Tier hinter diesem Wohl. Ich werde argumentieren, dass gerade dieses Anerkennen es mehr als fraglich macht, ob wir tatsächlich alles mit einem Tier tun dürfen, solange es aus seiner subjektiven Perspektive nichts daran faktisch beanstandet. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass UFAW die Berücksichtigung des Tierwohls in Konkurrenz setzt zu den Interessen von Landwirten, Verbrauchern und allen weiteren Personen, die an der ökonomischen Verwertung von Tierprodukten in jedweder Form teilnehmen. Tierwohl sei zwar zu befördern, jedoch immer im Rahmen von »viable production systems« 30 und im Einklang mit »the needs of farmers to obtain a fair return for their investment and labour, the needs of people for safe, high-quality, affordable food and last (but not least) the need to preserve the quality of the living environment.« 31 In diesem Konkurrenzverhältnis scheint dem Tierwohl vergleichsweise geringes Gewicht beigemessen zu werden, da die Priorität bei UFAW eindeutig auf einer Fortführung der Nutztierhaltung liegt: »the primary need to ensure the economically competitive production of food and other goods«. 32
4.5 FIXIERUNG AUF SUBJEKTIVE MENTALE ZUSTÄNDE Die Fixierung auf das faktische subjektive Empfinden führt, wie bereits bei Brambell und FAWC, auch bei UFAW zu einer prinzipiellen Legitimierung der Tötung von Nutztieren. Erneut wird nicht der Tötungsakt selbst als moralisch relevant angenommen, sondern das subjektiv vom Tier empfundene Leid, das im Zuge seiner Durchführung erzeugt wird. So fordert Webster dazu auf, Leidensfaktoren wie Schmerzen und Stress während des Transports zum Schlachthof und beim Durchlaufen der Schlachtanlage zu minimieren. 33 In ähnlicher Manier schlägt sein Kollege Scott ein paar Faustregeln vor, um Hühner möglichst rücksichtsvoll vom Stall zum Schlachthof zu transportieren (etwa Hühner beim Verladen nur an den Füßen zu halten, nicht am Hals oder an den Flügeln, nicht mehr als drei Tiere pro Hand zu halten und die Transportdauer zu reduzieren). 34
30 Webster (2011a), S. 2. 31 Ebd., S. 2. 32 Ebd., S. 6. 33 Vgl. ebd., S. 26. 34 Vgl. Scott (2011), S. 326.
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Dass die Lebensspanne dieser Tiere i.d.R. erheblich verkürzt wird, 35 bleibt für UFAW offenbar irrelevant. Webster betont vielmehr, dass die Bekämpfung derzeitiger Tierwohlprobleme weniger dringlich im Falle von Tieren sei, die aus ökonomischen Gründen bereits sehr früh geschlachtet werden, als bei Tieren, die wir möglichst lange zu nutzen bestrebt sind (bspw. Zuchtsauen im Gegensatz zu Mastschweinen). 36 Diese Haltung zur Tötung verdeutlicht auch, dass Gesundheit und biologische Funktionen des Tiers objektive Wohlfaktoren sein mögen, jedoch allein unter Rückbeziehung auf das subjektive Empfinden des Individuums als relevant betrachtet werden. Denn Tötung bedeutet immerhin die Beendigung sämtlicher vitaler Funktionen und stellt somit die radikalste Beeinträchtigung der »fitness« eines Tiers dar. Dabei kann zugestanden werden, dass es uns mit ausreichend behutsamen Methoden möglich ist, Tiere tatsächlich ohne Erzeugung von Angst, Stress und Schmerzen zu töten und ihre Körper weiterzuverarbeiten. Das bedeutet aber nur, dass wir gewährleisten können, dass ihr subjektiver mentaler Zustand nicht besorgniserregend ist. Dagegen scheint das Anerkennen einer Verantwortungsrolle gegenüber den gehaltenen Tieren, die bei Webster und Scott anklingt, hier kaum noch präsent zu sein. Darf es einem Verantwortungsträger egal sein, wie lange sich die Tiere in seiner Obhut ihres Lebens erfreuen können? Können wir wirklich davon sprechen, das Tierwohl um des Tiers willen zu berücksichtigen, wenn wir zugleich eigenmächtig bestimmen, wann dieses Tiers zu sterben hat? 37 Bei der Bewertung der Tiertötung äußert sich somit eine Fixierung auf Tierwohl als zu berücksichtigender Zustand, während das Tier hinter diesem Wohl aus dem Blick gerät. Da Brambell und FAWC, wie erwähnt, in gleicher Weise Tötung als tierwohlneutralen Akt betrachten, scheint sich der Vorwurf der Vernachlässigung der Verantwortungsperspektive praxisnahen Ansätzen allgemein unterstellen zu lassen.
35 Scott bspw. hält fest, dass Legehennen 10 Jahre leben können, jedoch nach bereits 75 Wochen als nicht mehr rentabel ausgesondert und geschlachtet werden (vgl. ebd., S. 326). 36 Vgl. Webster (2011a), S. 18-19. 37 Zumal wir dieses Tier zugunsten menschlicher Interessen frühzeitig töten und nicht aufgrund der Interessen des betroffenen Tiers selbst.
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4.6 TIERWOHL ZWISCHEN ANSPRUCH UND ANPASSUNGSFÄHIGKEIT Die Anpassung eines Tiers an seine Lebensumstände kann auf zwei Wegen erfolgen. Erstens, indem ein Tier so modifiziert wird, dass es seine subjektiv wahrgenommenen Lebensbedingungen als nicht-leidvoll oder sogar als lustvoll bewertet. Zweitens, indem ein Tier so modifiziert wird, dass es bestimmte Lebensumstände überhaupt nicht wahrnehmen und daher auch nicht negativ bewerten kann. Ich widme mich in diesem Abschnitt dem ersten Fall, der m.E. Konsequenzen hat, die von den UFAW-Autoren nicht genug beachtet werden. Wie oben angesprochen verweist Nicol darauf, dass Halter die extern motivierten Bedürfnisse der Tiere, die sie halten und nutzen, durch die Gestaltung ihrer Haltungsumwelt beeinflussen können: »The general point is that, if a behaviour is motivated entirely by external causal factors, good welfare can be achieved either by allowing the animal to respond appropriately to those external cues, or by removing those cues completely.« 38
Gleichzeitig betont Nicol, dass Tiere, zumindest in einem bestimmten Ausmaß, an ihre Haltungsumgebung gewöhnt werden können, was einer Modifizierung ihrer intern motivierten Verhaltensbedürfnisse gleich kommt. Gelingt es, Tiere an bestimmte Lebensumstände zu gewöhnen, so scheint es auch möglich, ihnen bestimmte Bedürfnisse abzugewöhnen, oder niemals entstehen zu lassen. Dabei ist unklar, wie scharf die Trennlinie zwischen intern und extern motivierten Bedürfnissen in einigen Fällen verläuft. So ist anzunehmen, dass ein Tier, das Kontakt zur Welt außerhalb seines Stallgeheges hat, ein Bedürfnis nach Freigang entwickelt, welches einem permanent im Stall gehaltenen Tier womöglich fehlt. 39 Insofern ist der Kontakt mit der Außenstallwelt als externe Anregung anzusehen, ohne die das Bedürfnis nach Freigang vermutlich gar nicht entstanden wäre. Gleichzeitig scheint ein Tier dieses Bedürfnis, sobald es einmal ausgebildet wurde, auch dann zu behalten, wenn ihm der Kontakt zur Außenstallwelt wieder genommen wird. Es handelt sich also um ein extern angeregtes, jedoch anschließend internalisiertes Bedürfnis. Ein Tier, das weiß, dass es ein Draußen gibt, entwickelt ein langfristiges Bedürfnis auch wieder nach Draußen zu gelangen, wenn es längere
38 Nicol (2011), S. 40. 39 Nicol selbst verweist am Rande darauf, dass es durchaus Verhaltensweisen geben kann, die ein Tier ohne externe Anregung nicht auszuführen bestrebt ist und auch nicht vermissen würde. Gleichwohl, so Nicol, können diese Verhaltensweisen die Lebensqualität eines Tiers steigern, wenn sie ausgebildet und ausgelebt werden können (vgl. ebd., S. 47).
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Zeit im Stall zugebracht hat. Indem wir Tieren bestimmte Umwelterfahrungen von Beginn an vorenthalten, beeinflussen wir nicht nur welche extern motivierten Bedürfnisse angeregt werden, sondern auch, welche intern motivierten Bedürfnisse sie überhaupt erst entwickeln. Ähnlich wie Brambell impliziert Nicol hierbei, dass wir uns die Anpassungsfähigkeit eines Tiers zunutze machen können, um seine Bedürfnisse in Einklang zu bringen mit dem, was seine Haltungsumwelt an Bedürfnisbefriedigung zulässt. 40 Mit dieser Grundüberzeugung geht auch eine grundsätzliche Bejahung der Gefangenhaltung von Tieren einher. Gefangenhaltung wird, dem Fokus auf subjektive Zustände entsprechend, allein danach beurteilt, ob ein Tier unter seiner Gefangenhaltung subjektiv leidet. UFAW ist dabei sehr zuversichtlich, dass die Bedürfnisse eines Tiers bei gutem Management ausreichend abgedeckt werden können. Diese schwierige Herausforderung dürfen sich Halter dabei wohlgemerkt erleichtern, indem sie die Bedürfnisse der Tiere durch bspw. Konditionierung an deren Haltungsbedingungen anpassen, bzw. einige Bedürfnisse gar nicht erst entstehen lassen. 41 Diese Grundüberzeugung wirft jedoch Probleme auf. Zum Einen sollten wir uns fragen, ob wir es wirklich für moralisch unbedenklich – ja geradezu moralisch gefordert – halten, Tieren bestimmte Umwelterfahrungen von Beginn ihres Lebens an vorzuenthalten. Stellen wir uns einmal ein Tier vor, das sein gesamtes Leben umgeben von Betonmauern verbringt, bei künstlichem Licht und durch eine Belüftungsanlage mit Sauerstoff versorgt (was die Lebenswirklichkeit vieler industriell gehaltener Nutztiere widerspiegelt). Reicht uns wirklich der Hinweis, dass dieses Tier nie etwas anderes als dieses Leben kennen gelernt hat, um seinen Zustand als unproblematisch und nicht bedauernswert zu betrachten? Viele Menschen, ich eingeschlossen, haben gegenläufige Intuitionen. Ebenso ist unklar, inwiefern bspw. Nicols Argumentation auf sämtliche Verhaltensbedürfnisse eines Tiers übertragen werden kann. In ihrem Schaf-Beispiel handelt es sich immerhin um Verhaltensbedürfnisse, die der Bewältigung von Gefahrensituationen dienen, also allein von instrumenteller Bedeutung sind. Bei Verhaltensweisen, die hingegen von intrinsischer Bedeutung zu seien scheinen (bspw. Spielverhalten) ist es plausibel anzunehmen, dass dem betroffenen Tier etwas an Lebensqualität entgeht, wenn es dieses Verhalten nicht ausüben kann und auch
40 Mit »gewöhnen« meine ich hier, dass es gelingt, ein Tier so zu manipulieren, dass es bestimmte Lebensumstände tatsächlich als normal und nicht leidvoll bewertet. Ich meine ausdrücklich nicht, dass ein Tier seine Lebensumstände als normal aber dennoch leidvoll wahrnimmt. Beide Fälle können mit den Worten »etwas gewöhnt sein« beschrieben werden. Der zweite Fall jedoch nur mit einem zynischen Beigeschmack. 41 Vgl. ebd., S. 40ff.
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nicht dazu angeregt wird. 42 So ließe sich bspw. argumentieren, dass ein Tier kein Bedürfnis nach Zugang zu Außenstallgehegen verspürt, wenn es nie etwas anderes als ein Leben in geschlossenen Stallanlagen kennen gelernt hat. Gleichwohl ist es plausibel anzunehmen, dass ein Tier Frischluft, Sonnenlicht und andere Außenweltreize als bereichernd empfinden würde. Dieser Aspekt ist umso wichtiger, da UFAW selbst die Relevanz positiver Empfindungen für das Tierwohl betont und eine Fokussierung auf die bloße Vermeidung negativer Empfindungen ablehnt (siehe 4.8.). Damit verstärkt sich der Eindruck, dass die Übernahme von Verantwortung mehr von uns verlangt, als nur zu berücksichtigen, was das betroffene Tier selbst von seiner Lebenssituation bemerkt, was es subjektiv an (Inter-)Aktionsmöglichkeiten vermisst, und welche Dinge es nur darum nicht vermisst, weil wir sie ihm ein Leben lang gezielt vorenthalten haben. Geht es uns wirklich um Verantwortung gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen, so können wir die moralische Legitimität unserer Handlungen nicht allein anhand der subjektiven Auffassungsgabe der betroffenen Tiere bemessen.
4.7 ZWEIFEL BEI UFAW AN DER RELEVANZ VON ANPASSUNGSFÄHIGKEIT Offenbar sind die UFAW-Autorinnen und -Autoren selbst nicht vollständig davon überzeugt, dass es gleichgültig sei, an welche Lebensumstände ein Tier angepasst wird und auf welchem Weg dies geschieht. (Dies ist eine erneute Parallele zu Brambell und FAWC, die ebenfalls bestimmte Praktiken, die subjektives Leidempfinden effizient verhindern können, dennoch als intuitiv inakzeptabel ablehnen.) So argumentiert Webster, dass es nicht ausreiche, das Wohl eines Tiers durch das Verabreichen von Medikamenten sicherzustellen. Tiere so zu halten, dass sie nur noch durch regelmäßige Medikamentierung körperlich gesund und leidfrei leben können, stelle eine »Beleidigung« des Anspruchs verantwortungsvoller Tierhaltung dar. 43 Tierwohl als moralischer Anspruch verlangt anscheinend mehr von uns, als nur einen bestimmten Zustand zu erzeugen:
42 Was Nicol selbst am Rande zugesteht, aber nicht genügend berücksichtigt (vgl. ebd., S. 47). 43 Vgl. Webster (2011a), S. 5.
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»It is an unequivocal insult to the principle of good husbandry to keep animals in conditions of such intensity, inappropriate feeding or squalor that their health can only be ensured by the routine administration of chemotherapeutics.« 44
Webster spricht hierbei jedoch lediglich einen Fall an, bei dem die physische Verfassung eines Tiers durch Medikamente auf einem zufriedenstellenden Niveau gehalten wird. Die Haltungsbedingungen, die er beschreibt, geprägt von räumlicher Enge, mangelhafter Ernährung und miserabler Hygiene, dürften kaum dazu beitragen, dass sich ein Tier von seiner körperlichen Verfassung abgesehen auch wohl fühlt (z.B. keine Frustration, Beklemmung oder Langeweile empfindet). Insofern beschreibt das genannte Beispiel bereits sehr eindeutig einen Verstoß gegen das Tierwohl. Was aber spräche nach Websters Ansatz dagegen, Tiere durch Stimmungsaufheller in einen Zustand des Wohlgefühls zu versetzen? 45 Webster könnte hier vermutlich einwerfen, dass wir das Prinzip tierwohlgerechter Haltung zu einer Farce verkommen lassen. Denn das Tier ist in diesem Fall überhaupt nicht mehr in der Lage, aus sich selbst heraus mit seiner Umwelt fertig zu werden. Es ist auf ständige externe Hilfe durch Medikamente angewiesen. Dies aber stellt keinen Widerspruch zu Websters Grunddefinition von Tierwohl dar, die lautete: »the state of body and mind of a sentient animal as it attempts to cope with its environment«. Ein Kriterium, wonach das Tier bei der Bewältigung seiner Umwelt von externer Unterstützung unabhängig sein muss, ist hierin überhaupt nicht enthalten. Die Aufnahme eines solchen Kriteriums würde zudem neue Probleme aufwerfen. Denn es ist essentieller Bestandteil der Domestizierung von Tieren, dass sie in Abhängigkeit von externer menschlicher Hilfe gehalten werden. Sie erhalten ihre Nahrung, ihr Beschäftigungsmaterial, ihren Zugang zu Licht und Frischluft (sei es durch Belüftungssysteme oder Freigehege) durch Menschen. Eine autonome Bewältigung der eigenen Lebensumwelt ist für diese Tiere von vornherein ausgeschlossen. Man könnte evtl. einen bestimmten Grad an autonomer CopingFähigkeit als Schwelle für einen zufriedenstellenden Tierwohlzustand postulieren (also einen Punkt, unterhalb dessen externe Abhängigkeit und der Anspruch, Tierwohl ernst zu nehmen, miteinander unvereinbar sind). Eine solche Schwelle fehlt in Websters Ansatz, könnte vermutlich jedoch entwickelt werden. Ein ganz anderes Problem bleibt jedoch auch damit bestehen. Die Autoren des UFAW Handbook scheinen sich einig darin, dass bei allen Tierwohlüberlegungen das subjektiv empfundene Leid des betroffenen Tiers letztlich die einzige Bezugsgröße ist. Es ist daher unklar, was gegen die Manipulation des physischen und psychischen Zu-
44 Ebd., S. 5. 45 Da es mir um das Wohl der betroffenen Tiere geht, klammere ich Einwände bezüglich der Lebensmittelsicherheit bei medikamentenangereichertem Fleisch aus.
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stands eines Tiers spricht, wenn damit subjektiv empfundenes Leid erfolgreich verhindert oder verringert wird. Indem bestimmte Formen der Tierleidvermeidung bzw. der Beförderung positiver mentaler Zustände emphatisch ausgeschlossen werden, kommt es zum Bruch mit der eigenen streng subjektivistischen Ausgangsposition. Ein weiteres Beispiel hierfür ist Websters strikte Ablehnung von Genmanipulationen, die darauf abzielen, Tiere durch Einschränkung ihrer Wahrnehmungsfähigkeiten weniger leidensfähig zu machen, etwa beim Züchten blinder Hühner oder bewusstseinsunfähiger Schweine. 46 Vielmehr leitet Webster aus solchen Szenarien seine Kritik an einer rein utilitaristischen Tierethik ab (die z.B. bei FAWC dominiert). Sofern es uns nur darum geht, so wenig Leid wie möglich in der Welt zu erzeugen, wären Genveränderungen, die es Tieren unmöglich machen, unter ihrer Umwelt subjektiv zu leiden, geradezu moralisch geboten. Für Webster ist dieses Ergebnis jedoch moralisch inakzeptabel. Er liefert allerdings keine theoretische Fundierung, sondern betont nur seine Ablehnung explizit. 47 Zugegebenermaßen sind die hier beschriebenen genmanipulierten Tiere in ihrer Interaktion mit ihrer Umwelt stark eingeschränkt. Blinden Hühnern fehlt der visuelle Zugang zur Außenwelt und bewusstseinsunfähigen Schweinen sogar jegliche Form der Interaktionsmöglichkeit. Das unterscheidet diese Formen von anderen Genmanipulationen, wie etwa der Züchtung auf Krankheitsresistenz, die Webster bspw. nicht ablehnt. Betrachtet man den Wortlaut von Websters Ansatz genau, so geht es aber gar nicht um die Interaktion mit der Umwelt selbst, sondern um den psychischen (und physischen) Zustand, der für ein Tier aus dieser Interaktion resultiert. 48 Die Interaktion mit der Umwelt bekommt ihre moralische Bedeutung überhaupt erst dadurch zugeschrieben, dass in dieser Interaktion das subjektive Empfinden des Tiers beeinflusst wird. Webster muss daher klären, was schlecht an einer
46 Die Idee hinter der Züchtung blinder Hühner besteht darin, dass Hühner, die im Dunkeln leben weniger aggressiv sind und sich weniger mit ihren Schnäbeln behacken. Das Halten von Hühnern in ständiger Dunkelheit wird von vielen Menschen als aber Tierquälerei betrachtet. Mit der Züchtung blinder Hühner scheint es möglich, zu argumentieren, dass diesen Tieren nichts vorenthalten wird, da sie ohnehin nicht die Fähigkeit besitzen zu sehen. Die Züchtung bewusstseinsunfähiger Schweine hingegen zielt darauf ab, dass ohne Bewusstseinsfähigkeit kein bewusstes Leid empfunden werden kann. Diese Tiere verfügen über kein Wohl, das wir berücksichtigen müssten. 47 Vgl. ebd., S. 29. 48 Vgl. ebd., S. 7.
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ausbleibenden Interaktion mit der Umwelt sein soll, wenn sich ihr Ausbleiben für das betroffene Tier nicht auch subjektiv leidvoll auswirkt. 49 Scott und Webster haben, wie oben angemerkt, die Idee einer besonderen Verantwortung von Tierhaltern ins Spiel gebracht, die hier nun zum Tragen zu kommen scheint. Beide Autoren liefern aber keine Ausbuchstabierung dessen, was sie unter dieser Verantwortung genau verstehen und worauf sie sich gründet. Es scheint, als sei man sich der Lücken des eigenen Subjektivismus latent bewusst und versucht dem durch einen (zugegebenermaßen schillernden) Verantwortungsbegriff zu begegnen. Selbst wenn es sich hierbei um eine Worthülse handeln sollte, ist damit noch nicht gezeigt, dass die Intuitionen, die mit ihr provisorisch aufgenommen werden sollen, ebenfalls ohne Gehalt und Relevanz sind. Auch UFAW stützt sich, wie die zuvor behandelten Ansätze, auf einen reduktionistischen Subjektivismus zur Bestimmung des Tierwohls und ist, ebenso wie die zuvor genannten, intuitiv nicht bereit, diesen Ansatz konsequent durchzuhalten – lobenswerter Weise.
4.8 ABKEHR VOM FOKUS AUF NEGATIVE EMPFINDUNGEN Eines der auffälligsten Merkmale des Ansatzes von UFAW ist die starke Betonung positiver Empfindungen/Erfahrungen, 50 die bereits bei Brambell und FAWC schwach anklingt. Anhand der zeitlichen Abstände der von mir diskutierten Quellen – Brambell (1965), FAWC (1979), FAWC (2009), UFAW (2011) – lässt sich eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Tierwohlwissenschaft beobachten, in der positive Empfindungen immer stärkere Berücksichtigung finden (wobei ein Vorrang der Vermeidung negativer Empfindungen erhalten bleibt). Anhand der Relevanz positiver Empfindungen für das Tierwohl könnte nun versucht werden, die Züchtung bewusstseinsunfähiger Schweine dadurch zu kritisieren, dass diese Wesen in ihrer Lebenssituation als Nutztiere zwar kein Leid empfinden können, aber ihr Leben zugleich auch frei von jeglichen positiven Empfindungen ist, und daher schwerlich von einem guten oder auch nur lebenswertem Leben gesprochen werden könne. Durch die stärkere Betonung positiver Empfindungen für das Tierwohl scheint es möglich, zumindest die intuitive Ablehnung gegenüber der Züchtung bewusstseinsunfähiger Tiere einzufangen, ohne die subjektivistische Grundposition verlassen zu müssen. Diese Antwort ist attraktiv, denn sie impliziert,
49 Der Verweis, dass UFAW auch die Wichtigkeit positiver Empfindungen für das Tierwohl betont, die bei blinden Hühnern und bewusstseinsunfähigen Schweinen deutlich eingeschränkt sind, hilft nicht weiter, wie ich im nächsten Abschnitt verdeutlichen werde. 50 Ich verwende in diesem Kontext beide Begriffe synonym.
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die zuvor kritisierte Inkohärenz praxisnaher Ansätze sei auf eine Verkürzung des Tierwohls auf die Vermeidung negativer Empfindungen zurückzuführen und ließe sich mit einer entsprechend stärkeren Einbindung positiver Empfinden korrigieren. Dieser Lösungsweg ist jedoch bei näherer Untersuchung unbefriedigend. Erstens wirft er ernstzunehmende philosophische Probleme auf. Wenn ein Tier über keine Bewusstseinsfähigkeit verfügt und damit nichts erleiden und nichts genießen kann, ist unklar, warum uns dieses Tier in moralischer Hinsicht interessieren sollte. Es ist plausibel, dass ein Lebewesen in seinem Wohl beeinträchtigt wird, wenn es fähig ist, positive Erfahrungen zu machen, aber daran gehindert wird. Es ist jedoch unklar, warum ein Lebewesen in seinem Wohl beeinträchtigt wird, wenn es gar keine Fähigkeit besitzt, positive Eindrücke zu empfinden. Diese Problematik berührt komplexe philosophische Streitthemen, allem voran die Zuschreibung von moralischem Status und damit Berücksichtigungswürdigkeit sowie das philosophische Problem der Nicht-Identität. 51 Die Erläuterung dieser Schwierigkeiten bedarf einer ausführlicheren Diskussion, die ich im III. Hauptteil vornehmen werde, an dieser Stelle jedoch zuviel vorweg nehmen würde. Es soll hier zunächst nur darauf verwiesen werden, dass die intuitive Abneigung gegenüber der Züchtung von Schweinen ohne Bewusstsein erheblich schwerer zu fundieren ist, als es zunächst den Anschein haben mag. Wie ich verdeutlichen werde, bringt dieses Szenario die Tierethik in ernste Erklärungsnot (III.5.). Zweitens ist die obige Antwort nicht in der Lage, einige der anderen angeführten Manipulationsmöglichkeiten an Tieren als ethisch illegitim zurückzuweisen. Wenn es wichtig ist, positive Empfindungen zu befördern, aber gleichgültig, auf welche Weise dies geschieht, scheint nichts dagegen zu sprechen, Tiere durch die Verabreichung von stimmungsaufhellenden Substanzen in ihrem subjektiven Wohl zu befördern. Ein solches »Glücklich-Stellen« von Tieren scheint aber intuitiv nicht dem Geist des Verantwortungsbewusstseins zu entsprechen, das bei UFAW anklingt. Die Zufriedenheit eines Tiers mit seiner Lebenssituation durch das Verabreichen von Substanzen sicherzustellen, hat eher den Anschein, als suche man einen leichten Ausweg, und eben nicht, als habe man das Wohl des Tiers vor Augen, für das man verantwortlich ist. Ebenfalls wäre es kritikwürdig, ein Schwein genetisch so zu »programmieren«, dass sein Gehirn dauerhaft auf »glücklich« geschaltet ist, ganz gleich wie seine
51 Laut diesem Konzept ist es bspw. nicht möglich zu sagen, ein Tier werde durch Züchtung auf Bewusstseinsunfähigkeit positiver Erfahrungen beraubt bzw. es hätte ohne den speziellen Züchtungseingriff diese Fähigkeit besessen und damit ein bereichernderes Leben gehabt hätte. Denn das konkrete gezüchtete Tier und ein hypothetisches nicht-manipuliertes Tier sind, so der philosophische Einwand, nicht miteinander identisch (vgl. Palmer [2011a], S. 43-48). Ich widme mich ausführlich dieser Problematik in III.3. und III.5.
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Lebensumstände beschaffen sind. Es zeugt zumindest von einem merkwürdigen Verantwortungsbewusstsein, wenn wir eher bereit sind, ein Tier so zu modifizieren, dass es automatisch glücklich ist, als seine Haltungsumgebung und unsere Interaktionen mit ihm so zu gestalten, dass sie ohne eine solche Vorprogrammierung dessen Zufriedenheit befördern. Daneben bleibt auch das Problem, dass ein Tier, das alles als angenehm erfährt, ein höheres Risiko besitzt, sich zu verletzen, zu erkranken und frühzeitig zu sterben, da es keine Anregung verspüren würde, Störreizen auszuweichen. 52 Dies wiederum verdeutlicht, dass Tierwohl intuitiv nicht allein anhand subjektiver Empfindungen bemessen werden sollte. Wenn ein Tier tatsächlich immer automatisch glücklich ist, egal ob es sich verletzt, erkrankt oder frühzeitig stirbt, so ist aus der faktischen subjektiven Perspektive des Tiers heraus nichts daran zu bemängeln, denn seine Zufriedenheit wird genetisch (oder vielleicht auch medikamentös) bedingt hierdurch nicht getrübt. Ein solches Verständnis eines nicht besorgniserregenden Tierwohls scheinen aber die meisten von uns nicht zu akzeptieren. Und es scheint auch nicht die verantwortungsbewusste Haltung einzufangen, die Webster und Scott gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen, einfordern. Die Anpassung eines Tiers an kärgliche Lebensumstände mag vielleicht gerechtfertigt sein, wenn es keine Alternative gibt, um zu verhindern, dass ein Tier unter seiner Umwelt leidet. Eine solche Alternativlosigkeit liegt jedoch im Fall der Tierhaltung nicht vor. 53 Wir können entscheiden, wie wir die Haltungsumwelt eines Tiers gestalten und ob wir es überhaupt halten und nutzen. Eher das Tier als die Haltungsbedingungen zu modifizieren zeugt eben nicht von Verantwortungsbewusstsein, sondern vielmehr von dem Versuch, sich bestimmter Verantwortungen durch Veränderung der gehaltenen Tiere zu entledigen. Mit dem Eingeständnis, dass Tierwohl zu berücksichtigen auch bedeutet, Tieren positive Erfahrungen nicht vorenthalten zu dürfen, stoßen praxisnahe Ansätze an ein noch grundsätzlicheres Problem. Denn dann müssen auch andere Handlungen kritisiert werden, durch die Tieren positive Empfindungen vorenthalten werden: Tötung (als Beraubung aller künftigen positiven Empfindungen), Gefangenhaltung (als Beraubung positiver Empfindungen, die nur in freier Umgebung möglich sind), Konditionierung (als Beraubung aller positiven Empfindungen, die mit Verhaltensweisen einhergehen, die einem Tier abgewöhnt wurden oder mit Umwelterfahrun-
52 Vgl. Sumner (1996), S. 141 sowie Schmidt (2008), S. 51, 350. 53 Hierin sieht bspw. Rollin eine wichtige Erklärung dafür, dass die breite Bevölkerung der Genveränderung von Tieren kritisch gegenübersteht, selbst wenn dies das Leid von Nutztieren verringern hilft (vgl. Rollin [1995], S. 174-175).
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gen, deren bloße Möglichkeit einem Tier verheimlicht 54 werden). Wenn Tierwohl dadurch beeinträchtigt wird, dass wir ein Tier in seinen Möglichkeiten einschränken, positive Erfahrungen zu sammeln, kann UFAW seine grundsätzliche Verteidigung der Nutztierhaltung und konventioneller Praktiken wie Töten, Halten und dem Ausnutzen der Anpassungsfähigkeit von Tieren nicht länger aufrecht erhalten. Gleiches gilt auch für alle andern praxisnahen Ansätze, die positive Empfindungen als tierwohlrelevant betrachten. Zudem geht UFAW (wie auch die anderen praxisnahen Ansätze) nicht näher darauf ein, inwiefern genau positive Empfindungen für das Tierwohl relevant sind. Denn obwohl es intuitiv einleuchtend ist, dass positive Empfindungen für das Wohl eines Individuums eine Rolle spielen, gestaltet sich die Erläuterung ihrer Funktion für dessen Lebensqualität durchaus schwierig. Würden wir behaupten, positive Empfindungen zählen nur abgeleitet, indem sie Leid entgegenwirken, führt dies zu unplausiblen Ergebnissen. Spielverhalten wäre demnach nicht deshalb ein wichtiger Tierwohlfaktor, weil sich spielen positiv anfühlt, sondern weil es negative Gefühle wie Langeweile, Unsicherheit und Frustration vermeiden hilft. Zum einen scheinen positive Empfindungen aber eine besondere Qualität zu besitzen, die sich nicht einfach auf das Ausgleichen negativer Empfindungen reduzieren lässt. Das positive Gefühl, seinen Durst zu löschen, beinhaltet mehr, als nur das Verschwinden des vorherigen negativen Durstgefühls. 55 Ebenso beinhaltet das Gefühl von Freunden umgeben zu sein mehr als nur das Verschwinden des Gefühls von Einsamkeit. Zum anderen gäbe es dann erneut keine Möglichkeit, das Züchten leidunfähiger Tiere zu kritisieren. Wenn positive Empfindungen nur hinsichtlich ihres Entgegenwirkens auf negative Empfindungen zählen, dann sind positive Empfindungen überflüssig für ein Individuum, das überhaupt keine negativen Empfindungen erleben kann. Gehen wir hingegen davon aus, dass positive Empfindungen einen besonderen Eigenwert besitzen, so müssen wir klären, was uns dazu verpflichtet, diesen Eigenwert zu realisieren. Wenn positive Empfindungen um ihrer selbst willen zu realisieren sind, scheinen wir auf einen Maximierungsutilitarismus zuzusteuern, wonach wir so viele positive Empfindungen wie nur irgend möglich realisieren müssten. Dies spräche aber gerade dafür, Tiere durch Medikamente und Genmanipulationen
54 Der Begriff »verheimlichen« mag anthropomorphisierend wirken. Als Umschreibung dafür, ein Tier bspw. daran zu hindern, die Existenz einer Welt außerhalb der eignen Stallumgebung zu erfahren, scheint er mir aber durchaus adäquat. 55 So betont McCulloch, dass es bei Hunger und Durst nicht allein um körperliche Bedürfnisse geht, sondern ebenfalls um die Vorfreude, diese Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. McCulloch [2012a] [keine Seitenzahlen im Original]). Dies impliziert, dass Bedürfnisbefriedigung nicht einfach reduzierbar ist auf Bedürfniseliminierung oder Bedürfnisvorbeugung. Es geht um mehr, als nur die Abwesenheit negativer affektiver Einstellungen.
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automatisch glücklich zu machen. Dabei bliebe dann der zuvor hochgehaltene Verantwortungsgedanke gegenüber dem Tier selbst auf der Strecke, ebenso wie die starken Intuitionen gegen solche Manipulationen. Eine solche Maximierungsforderung würde zudem eine Pflicht bedeuten, nicht nur denjenigen Tieren, die bereits existieren, möglichst viele positive Empfindungen zu ermöglichen, sondern auch eine Pflicht, so viele (glückliche) Lebewesen, wie nur irgend möglich zur Existenz zu bringen. 56 Eine Pflicht möglichst viele Tiere in die Welt zu setzen, ist jedoch stark kontraintuitiv. Wenn also positive Empfindungen eine Rolle spielen, dann nicht für sich genommen, sondern, weil uns der Träger dieser Empfindungen moralisch etwas angeht. Die mittlerweile immer stärkere Betonung positiver Empfindungen in der Tierwohlforschung stellt somit einen nicht zu leugnenden Fortschritt dar, kann jedoch noch nicht bereits als fertige Lösung der aufgezeigten Lücken in den praxisnahen Ansätzen gesehen werden. Tierwohl lässt sich hierdurch etwas anspruchsvoller und befriedigender konzipieren, es bleiben aber einige starke Intuitionen weiterhin unzureichend abgedeckt. Zudem erweist sich, wie die obigen Beispiele verdeutlichen, die Hinwendung zu mehr »positive welfare« als inkompatibel mit der gleichzeitigen Befürwortung grundlegender Praktiken der Nutztierhaltung, die Tieren eine Menge an positiven Empfindungen unweigerlich vorenthalten. Darüber hinaus hat UFAW einen Verantwortungsgedanken gegenüber Tieren und ihrem Wohl ins Spiel gebracht, der insgesamt mehr von uns zu verlangen scheint, als den Tieren, die wir halten und nutzen, in einen bestimmten (durch physische und psychische Faktoren beeinflussten) subjektiven Empfindungszustand zu versetzen. Wir müssen diesen Zustand auch auf eine bestimmte Weise herbeiführen, um der Berücksichtigung des Tierwohls hiermit gerecht zu werden, die nicht allein durch die subjektive Perspektive des betroffenen Tiers ermittelt werden kann. Bevor ich im II. Hauptteil eine grundsätzliche Kritik am Wohl-Subjektivismus vornehme und einen erfolgversprechenderen Tierwohlbegriff entwickle, wende ich mich abschließend einem vierten praxisnahen Ansatz zu, dem Welfare Quality® Protocol der EU. Dieses führt die bereits diskutierten Probleme noch einmal in stärker konzentrierter und überspitzter Weise vor Augen. Insbesondere wird hier aufgrund einer extrem pragmatistischen Orientierung Tierwohl vollständig als eine praktische Problemstellung begriffen, die es effizient, zeitnah und mit Rücksicht auf eine veritable Nutztierindustrie zu lösen gilt. Vom Tier, als moralisch berücksichtigungswürdigem Individuum hinter diesem Wohl, wird dort kaum noch etwas zu erkennen sein.
56 Vgl. McMahan (2002), S. 300 sowie McMahan (2008b), S. 66-76.
5
Welfare Quality® Project
Das Welfare Quality® Project (fortan: WQ) wurde von der Europäischen Kommission initiiert mit dem Ziel, verbesserte und einheitliche europäische TierwohlStandards in der Nutztierhaltung zu entwickeln und zu etablieren. Die Arbeit des Projekts (2004-2009) mündete in der Veröffentlichung mehrerer Welfare Quality® Assessment Protocols, die jeweils auf die drei Hauptnutztiergruppen Rinder, Schweine und Geflügel zugeschnitten sind. Im Mittelpunkt steht dabei die Aufstellung eines Bewertungskatalogs, der einerseits dazu dient, das Wohl der jeweils gehaltenen Tiere einzuschätzen, andererseits aber auch ein Ranking der überprüften Betriebe ermöglichen soll. 1 Ich will in diesem Abschnitt nur randständig auf den Inhalt dieses Bewertungskatalogs eingehen. Vielmehr geht es mir um die Grundannahmen zur Konzeption und moralischen Relevanz des Tierwohls, die im Ansatz von WQ zutage treten. Dieser Ansatz weist in komprimierter Form sehr anschaulich die zuvor ausführlich behandelten Probleme auf, die alle praxisnahen Tierwohlansätze teilen. Darüber hinaus ist die pragmatistische Ausrichtung wesentlich stärker ausgeprägt, als in den zuvor behandelten Ansätzen. Die Suche nach einem belastbaren Verständnis des Tierwohlbegriffs und Empfehlungen für eine künftige Reformierung der Nutztierindustrie treten weit in den Hintergrund zugunsten eines konkreten, anwendungsbezogenen Bewertungsinstruments.
5.1 ENTMORALISIERUNG DES TIERWOHLBEGRIFFS Auffallend ist, dass die Berücksichtigung des Tierwohls in den Ausführungen von WQ in einer Redeweise erfolgt, die sich kaum noch als moralische Berücksichtigung um des Tiers selbst willen deuten lässt. Die folgenden Auszüge, die auf der offiziellen Internetseite von WQ zu finden sind, lassen dies schnell deutlich werden: 1
Vgl. Welfare Quality® (o.D.) sowie Welfare Quality Network (o.D.).
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»Animal welfare is of considerable importance to European consumers. Nowadays food quality is not only determined by the overall nature and safety of the end product but also by the perceived welfare status of the animals from which the food is produced.« 2 »The project aimed to accommodate societal concerns and market demands […].« 3 »Welfare Quality® will make significant contributions to the societal sustainability of European agriculture.« 4 »The standards for on-farm welfare assessment and information systems have been be based [sic!, D.W.] upon consumer demands, the marketing requirements of retailers and stringent scientific validation.« 5 »The fact that improving the animal’s welfare can positively affect product quality, pathology and disease resistance also has a direct bearing on food quality and safety.« 6
Tierwohl ist hiernach nichts, was wir primär den betroffenen Tieren selbst moralisch schulden, sondern von Bedeutung, weil Konsumenten nun einmal auf Tierwohl Wert legen (so der Grundtenor bei WQ). Tierwohl wird verstanden als ein Faktor, der die Qualität eines Konsumguts beschreibt und beeinflusst. Daher bekommt er intrinsischen Wert zugesprochen als eigenständiger Qualitätsfaktor eines Tierprodukts. 7 Diesen intrinsischen Wert macht WQ jedoch auffallender Weise ausschließlich daran fest, dass heutige Konsumenten durch ihre öffentlich vertretenen Präferenzen Tierwohl zu einem solchen Faktor erklären. Es erfolgt jedoch keine eigene Stellungnahme darüber, inwiefern dies eine positive gesellschaftliche Entwicklung darstellt. Zudem wird nicht näher hinterfragt, warum Verbraucher sich für Tierwohl interessieren. Während bei UFAW das öffentliche Interesse am Tierwohl als ethischer Anspruch aufgefasst wird, den die Gesellschaft aus Besorgnis um die Tiere selbst an sich stellt, 8 wird die Berücksichtigung des Tierwohls bei WQ ausschließlich im Sinne menschlichen Eigeninteresses verstanden. Tierwohl ist nicht länger ein tierliches Interesse, das menschlichen Interessen konkurrierend gegenübersteht, sondern lediglich ein weiteres menschliches Interesse. Hierdurch scheint
2
Welfare Quality® (o.D.).
3
Ebd.
4
Ebd.
5
Ebd.
6
Ebd.
7
Vgl. ebd., insb. das erste obige Zitat.
8
Vgl. Webster (2011a), S. 6.
Welfare Quality© Project | 93
die subjektive Perspektive des betroffenen Tiers aber nicht mehr adäquat aufnehmbar, die doch gerade darauf verweist, dass Tiere über subjektive Leidens- und Bewusstseinsfähigkeit verfügen, und damit über einen eigenen Standpunkt und eigene Interessen, die hier nun völlig ausgeblendet werden. Daneben wird Tierwohl auch als instrumenteller Faktor verstanden, der u.a. die Lebensmittelsicherheit von Tierprodukten beeinflusst. Die Betonung dieses Zusammenhangs zwischen glücklichen Tieren und qualitativ hochwertigen Produkten (während gleichzeitig nicht ein einziges Mal die Rede vom Tierwohl um des Tieres willen ist) erhärtet den Verdacht, dass Tiere hier unter rein ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden. 9 In dieser Hinsicht ist der Ansatz von WQ im Vergleich zu den vorher besprochenen Ansätzen noch rigoroser in seiner Bejahung der Nutztierhaltung. Brambell, FAWC und UFAW verstehen Tierwohl als moralischen Faktor, den sie für prinzipiell vereinbar mit der Nutztierhaltung erachten. Bei WQ hingegen wird Tierwohl zu einem ökonomischen Faktor, den eine zukunftsorientierte und nachhaltige Nutztierhaltung mit einzukalkulieren hat. Dies kommt einer völligen Entmoralisierung des Tierwohlgedankens gleich. Zwar wird darauf eingegangen, dass Verbraucher moralische Überzeugungen hinsichtlich unseres Umgangs mit Tieren haben, diesen Überzeugungen wird jedoch nur deshalb Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie sich auf deren Kaufverhalten und Konsumwünsche auswirken. Sie werden aber nicht als ethisch relevant aufgenommen. Zugegebenermaßen handelt es sich hierbei um einen explizit ökonomischen Ansatz, so dass es kaum überraschen kann, wenn wirtschaftliche Aspekte in den Vordergrund gerückt werden. Mir geht es an dieser Stelle jedoch darum, zu illustrieren, wohin es führt, wenn tiefergehende ethische Überlegungen einem ökonomischen und pragmatistischen Denken untergeordnet werden.
5.2 VERKÜRZTES TIERWOHLVERSTÄNDNIS Neben einer fehlgeleiteten Motivation zur Berücksichtigung des Tierwohls, ist auch dessen Konzeption bei WQ kritikwürdig. Erneut wird Tierwohl streng subjektivistisch verstanden: »The welfare of an animal is a matter of how an animal experiences its life.« 10 Was außerhalb dieser Erfahrungswelt liegt, braucht uns demnach nicht zu interessieren. Und inwieweit es uns offensteht, die Reichweite der Erfahrungswelt eines Tiers zu manipulieren, wird nicht gesondert diskutiert. So betont WQ auch, dass eine adäquate Beurteilung des Tierwohls valide Messmethoden für
9
Vgl. Welfare Quality® (o.D.), insb. das fünfte obige Zitat.
10 Welfare Quality® (2009), S. 16.
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die mentalen Zustände von Tieren benötige, die noch zu entwickeln seien. Auch hier geht es allein um die jeweils faktisch vorhandenen psychischen Zustände des Tiers. Ob wir legitimiert sind, diese Zustände durch Beeinflussung der Psyche eines Tiers, anstelle einer Modifizierung seiner Lebensumwelt herbeizuführen, wird nicht eigens behandelt. 11 Die konkreten Kriterien, anhand derer der Wohlzustand eines Tiers bemessen werden soll, erinnern stark an die »Five Freedoms«. Die vier Oberkategorien lauten dabei: »good feeding« (vergleichbar mit Freisein von Hunger und Durst), »good housing« (vergleichbar mit Freisein von Unbehagen), »good health« (vergleichbar mit Freisein von Schmerz, Krankheit, Verletzungen), »appropriate behaviour« (vergleichbar mit Freiheit, normales Verhalten auszuleben). Unter »appropriate behaviour« fasst WQ ebenfalls positive emotionale Zustände (vergleichbar, wenn auch nicht gleichbedeutend, mit Freisein von Angst, Stress und Langeweile). 12 Diese vier genannten Hauptkriterien werden durch insgesamt 12 Unterkriterien spezifiziert. Anhand dieser Kriterien wird bei der Beurteilung des Wohlzustands der Tiere auf einem Betrieb eine entsprechende Anzahl an Punkten vergeben. Das Tierwohl wird dabei jeweils anhand der vier Hauptkategorien (»feeding«, »housing«, »health«, behaviour«) getrennt bewertet und anschließend hieraus eine Gesamtbewertung des allgemeinen Tierwohlzustands ermittelt. 13 Als Bewertung dienen vier Einstufungen: »Excellent: the welfare of the animals is of the highest level, Enhanced: the welfare of animals is good, Acceptable: the welfare of animals is above minimal requirements, Not classified: the welfare of animals is low and considered unacceptable.« 14
Hervorzuheben ist, dass hierbei nicht der Zustand des individuellen Tiers, sondern der durchschnittliche Zustand des gesamten Tierbestands in einem Betrieb bewertet wird. 15 Inwieweit ein miserabler Wohlzustand sehr weniger Tiere durch einen guten
11 Ebd., S. 4. 12 Ebd., S. 18-19. Wobei bspw. zweifelhaft ist, inwieweit die Gefühlswelt eines Tiers adäquat unter dem Schlagwort »Verhalten« erfasst werden kann. 13 Ebd., S. 18-31. 14 Ebd., S. 25. 15 Vgl. ebd., 18-31. Zugegebenermaßen ist WQ bemüht, nicht bloß den einfachen Gesamtdurchschnitt an Tierwohl zu berechnen, sondern versucht besonderen Wert auf die am schlechtestgestellten Tiere innerhalb einer Gruppe zu legen. Auch dies geschieht jedoch anhand von Prozentrechnungen, indem berücksichtigt wird, wie hoch der Prozentanteil derjenigen Tiere in wirklich miserablem Zustand ist. Für das individuelle Tier selbst dürf-
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Wohlzustand sehr vieler anderer Tiere aufgewogen werden kann, wird als Problemstellung nur sehr randständig behandelt. Das individuelle Tier selbst bleibt bei einer solchen Vorgehensweise jedoch zwangsläufig außer Acht. Weder spiegelt der Durchschnittswert einer Gruppe verlässlich den Zustand der einzelnen Mitglieder dieser Gruppe individuell wieder, noch kann für das individuelle Tier ein miserabler Wohlzustand dadurch gemindert werden, dass es einer sehr großen Gruppe anderer Tiere in seiner Umgebung wesentlich besser geht als ihm. 16 Während sich bei den zuvor behandelten Ansätzen die theoretische Fundierung des eigenen Tierwohlverständnisses als defizitär erwies, ist bei WQ kaum eine solche vorhanden. WQ benennt einige existierende Ansätze zum Tierwohl, jedoch ohne zu deren Stärken und Schwächen eine explizite eigene Position einzunehmen. Vielmehr hat es den Anschein, als würden hier schlichtweg die Theorien aufgegriffen, die sich in der Literatur der Tierwohlwissenschaft durchgesetzt haben und zwar, weil sie sich durchgesetzt haben. Dabei wird weder geprüft noch tiefergehend begriffen, inwieweit die hierbei aufgegriffenen Tierwohlansätze überhaupt miteinander vereinbar sind. Der Fokus liegt allein darauf, ob etwas als Tierwohl relevant angesehen werden kann, ganz gleich aus welchen Gründen. Die Weigerung, eine klar umrissene ethische Position zum Tierwohl zu beziehen, wird von WQ sogar als ausdrücklicher Vorteil für die Etablierung von Tierwohlstandards angesehen: »In the scientific literature the emphasis has been on the mental states of animals, the biological functioning of animals and the naturalness of the environment and behaviour. It was soon decided that Welfare Quality® did not need to decide upon a single ethical approach or a single definition of welfare since if the final monitoring system was to be widely accepted it was important to take account of all these different approaches.« [Hervorhebung D.W.] 17
Der Grund für diese oberflächliche Auseinandersetzung mit grundlegenden Theorien ist, wie aus dem Zitat ersichtlich, ein pragmatistischer: das Bewertungssystem des Welfare Quality® Assessment Protocol soll möglichst breite Akzeptanz und Anwendbarkeit finden. Ein theoretisch gefestigter, kohärenter, ethischer Standpunkt wird hierbei offenbar als praxisbezogenes Hindernis betrachtet.
te es jedoch keinen Unterschied machen, ob es mit seinen Leiden zu einer 2%-Gruppe oder einer 50%-Gruppe gehört. 16 Dieses unkritische Zulassen von Trade-Offs wird auch von Main und Webster im UFAW Handbook kritisiert. Ebenso bemängeln sie, dass die Bewertung »excellent« immer noch zu unbestimmt bliebe (vgl. Main/Webster [2011], S. 571). 17 Welfare Quality® (2009), S. 3.
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5.3 MANGELNDES BEWUSSTSEIN DER EIGENEN KOMPROMISSHALTUNG Am deutlichsten tritt das pragmatistische Vorgehen bei WQ anhand der Frage zutage, inwieweit unterschiedliche Tierwohlkriterien miteinander kompensierbar sind. Bspw. ob der Wohlzustand eines Tierbestands immer noch als akzeptabel betrachtet werden kann, obwohl er in bestimmten Bereichen miserabel ausfällt, sofern das Tierwohl in anderen Bereichen überdurchschnittlich abschneidet (z.B. hervorragender körperlicher Gesundheitszustand bei miserabler Stallausgestaltung). WQ scheint bei seiner Beurteilung dieser Frage hin und her gerissen zwischen seiner Orientierung an der öffentlichen Meinung zum Tierwohl einerseits und seiner Orientierung an praktischer Umsetzbarkeit andererseits. Letztendlich obsiegt der Pragmatismus: »As mentioned earlier, compensation is very limited between criteria. However some compensation is still possible. As a consequence, a farm that scores less than 20 on one criterion has some chance to finally be considered acceptable if it scores high for the other criteria. […] After discussion with the scientists consulted and also from the first citizens’ juries run, this seems not in line with most people perception of overall welfare (where all criteria need to reach a certain minimal level). To meet this perception, an additional rule should be applied whereby a farm shall not be considered acceptable when it falls below 20 on one criterion. Nevertheless, at present, such a rule appears premature as it would lead to the rejection of half the farms.« 18
Es ist durchaus nachvollziehbar, dass eine möglichst breite Akzeptanz des eigenen Tierwohlprogramms angestrebt wird. Wem die Verbesserung des Tierwohls ein wichtiges Anliegen ist, dem kann die praktische Umsetzbarkeit und stabile Etablierung Tierwohl förderlicher Maßnahmen nicht gleichgültig sein. Das bedeutet auch, dass es eine Rolle spielt, auf wie breite Akzeptanz geforderte Maßnahmen treffen. 19 Problematisch an einem Pragmatismus, wie ihn WQ an den Tag legt, ist, dass die Autoren sich offenbar nicht genügend vergegenwärtigen, dass die hier angewandten Bewertungsmaßstäbe einem Kompromiss-Ansatz entspringen. So ist etwa
18 Ebd., S. 30-31. 19 Es ist in diesem Zusammenhang auffallend, wie wenig in solchen Debatten die Möglichkeit einer Erziehung der Gesellschaft zu mehr Tierwohlbewusstsein ins Auge gefasst wird. Anstatt die gesellschaftliche Bereitschaft zu Verhaltensänderungen durch das Aufzeigen ethisch-normativer Gründe der Tierwohlberücksichtigung zu fördern, wird eher versucht, ethische Forderungen an das aktuell faktisch dominierende gesellschaftliche Bewusstsein anzupassen und damit von vornherein abzuschwächen.
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zu hinterfragen, ob die höchste Bewertungsstufe von WQ mit der Bezeichnung »excellent« nicht fälschlicher Weise suggeriert, man habe bereits sein »moralisches Soll« erfüllt und könne unbekümmert fortfahren. Sich der Arbeit mit Kompromissen bewusst zu sein bedeutet, Mängel und Fehleinschätzungen des eigenen Bewertungssystems für möglich, sogar wahrscheinlich, zu halten und sich dies stets vor Augen zu führen. Eine Bezeichnung wie »excellent« strotzt dagegen von einem Grad an Zuversicht, der über ernsthafte Zweifel erhaben scheint. Auch wenn Kompromisse insgesamt eine relative Verbesserung des Tierwohls bewirken mögen, dürfen Teilschritte in Richtung eines moralisch akzeptablen Zustands nicht verwechselt werden mit dem Erreichen dieses Zustands. Das gilt insbesondere, wenn es sich dabei nur um die Verbesserung von Durchschnittswerten von Tierbeständen handelt und der individuelle Zustand der betroffenen Tiere in den Hintergrund gerät.
5.4 VERBRAUCHERORIENTIERUNG STATT THEORIEFUNDIERUNG An anderer Stelle setzt sich die bereits erwähnte Ausrichtung an der öffentlichen Meinung bei WQ stärker durch. Dabei werden Aspekte, die die Öffentlichkeit mehrheitlich als tierwohlrelevant ansieht, unhinterfragt dem eigenen Ansatz hinzugefügt. Hierdurch verstärkt sich erneut die bereits auffällige Inkohärenz des verwendeten Tierwohlverständnisses. So hält bei WQ plötzlich ein Tierwohlfaktor erneut Einzug, den vor allem FAWC versuchte aus der Tierwohl-Debatte zu entfernen: Natürlichkeit. 20 Grund dafür ist, dass bei Befragungen eine große Anzahl der Verbraucher angab, natürliche bzw. naturnahe Lebensbedingungen seien eben wichtig für das Tierwohl. Daher wurden u.a. der Zugang zu Außenstallgehegen und natürliches Tageslicht in den Ansatz von WQ mit aufgenommen. 21 Dies ist umso bemerkenswerter, da ein von WQ ebenfalls konsultiertes Expertenteam, sich explizit der Auffassung von FAWC anschloss, wonach es beim Tierwohl allein um die erfolgreiche Bewältigung der eigenen Lebensumwelt gehe. Unerheblich sei hingegen, welche Verhaltensweisen Tiere in freier Natur üblicherweise ausleben und ob die Lebensumwelt eines Tiers als künstlich oder natürlich zu bezeichnen ist.
20 Ich erinnere an die strikte Unterscheidung bei FAWC zwischen »natural« und »normal« (vgl. FAWC [2009a], S. 2). 21 Vgl. Welfare Quality® (2009), S. 10, 48ff. Eine möglichst natürliche Lebensweise wird interessanterweise hierbei nicht gefordert. Eine solche wäre mit der Gefangenhaltung und industriellen Tötung des Tiers wohlgemerkt auch von vornherein unvereinbar.
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WQ steht damit jedoch vor der Problematik erklären zu müssen, welche besondere Relevanz Natürlichkeit plausibler Weise zugeschrieben werden muss, so dass sie für ein zufriedenstellendes Tierwohlverständnis unentbehrlich ist. Außer der Tatsache, dass nun einmal viele Verbraucher Natürlichkeit als relevant betrachten, führt WQ aber nichts zur Begründung an. Erschwerend kommt hinzu, dass WQ nicht aufklärt, inwieweit Natürlichkeit als Faktor betrachtet wird, der die subjektiven mentalen Zustände des Tiers beeinflusst oder aber als ein von der subjektiven Perspektive des Tiers unabhängiges Kriterium. Im ersten Fall wäre kritisch zu prüfen, inwieweit tatsächlich natürliche Lebensumgebungen Elemente enthalten, die in künstlicher Haltungsumwelt nicht reproduziert werden können, wodurch Leiden erzeugt oder positive Erfahrungen vorenthalten würden. Solange dies nicht geklärt ist, kann nicht belegt werden, dass Natürlichkeit eine einzigartige subjektivistisch relevante Qualität besitzt. Wird im zweiten Fall hingegen Natürlichkeit als ein Kriterium angenommen, dass unhabhängig von der subjektiven Perspektive des betroffenen Tiers von Bedeutung ist, so wäre dies eine wirkliche Erweiterung des eigenen Tierwohlbegriffs um eine objektivistische Komponente. Dies ist aber mit der subjektivistischen Grundhaltung, die auch bei WQ dominiert, nicht kompatibel. 22 Inwiefern die befragten Verbraucher Natürlichkeit als tierwohlrelevant begründeten, ist aus den Veröffentlichungen von WQ nicht ersichtlich. 23 In Anbetracht der bisher dargestellten Vorgehensweise, scheint es nicht unwahrscheinlich, dass WQ das Fehlen einer expliziten Positionierung erneut als Vorteil begreift, da so weniger Positionen von vornherein ausgeschlossen werden. Zugleich wird eine Diskussion darüber ausgespart, was mit der Wahrung von Natürlichkeit vereinbar ist und was nicht. So befürwortet bspw. WQ ausdrücklich die genetische Manipulation von Tieren, sofern dies ihrem subjektiven Wohl förderlich ist. 24 Eine von Menschenhand veränderte Genetik des Tiers kann jedoch schwerlich als natürlich bezeichnet werden. Erneut ist aus der Quellenlage nicht ersichtlich, ob Verbraucher gefragt wurden, inwiefern sie Natürlichkeit und Eingriffe in die Genetik von Tieren für kompatibel miteinander halten.
22 Vgl. ebd., S. 16. 23 Vgl. ebd., S. 48-50. 24 Vgl. ebd., S. 57-60.
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5.5 ABSCHLUSSKRITIK Die Zielsetzung, ein Tierwohlmesssystem zu entwickeln, das breite Akzeptanz finden kann, sowohl in der Öffentlichkeit, als auch bei den Akteuren der Nutztierhaltung, wird eindeutig zulasten eines in sich stimmigen, philosophisch belastbaren Ansatzes verfolgt. Ein solches Messsystem mag Aussicht auf Akzeptanz und Etablierung haben – tatsächlich findet das Welfare Quality® Assessment Procotol heute bereits breite Anwendung innerhalb der EU. Dass wir mit einem solchen Ansatz jedoch wirklich dem Wohl der Tiere, die wir halten und nutzen, gerecht werden, ist mehr als zweifelhaft. Ebenso gerät die viel grundsätzlichere Frage aus den Augen, warum uns das Wohl dieser Tiere zu interessieren hat, und ob es in Anbetracht solcher Gründe überhaupt möglich ist, unsere derzeitigen Praktiken an Tieren legitimer Weise fortzuführen. Der Ansatz von WQ verdeutlicht in seiner hohen Fehleranfälligkeit und mangelnden kohärenten Fundierung eine besondere Gefahr, die mit einem Fokus auf möglichst zeitnahe, praktisch umsetzbare und gesetzlich etablierbare Tierwohlstandards einhergeht. Der Ansatz zeugt von einem mangelnden Interesse an einem Verständnis des Tierwohlbegriffs und konzentriert sich vielmehr auf das zügige Finden einer praktikablen Arbeitsdefinition von Tierwohl. Dass moralische Fragestellungen dabei unter den Tisch fallen, kann nicht überraschen. Die Frage ist dann aber, ob es sich eine Gesellschaft erlauben kann, Tierwohlstandards anhand eines entmoralisierten Ansatzes zu beurteilen, wenn Tierwohl, wie die praxisnahe Tierwohlforschung immer stärker konstatiert, (auch) ein normativ geprägtes Konzept ist. Dies verdeutlicht die Dringlichkeit, inhaltliche und normative Untersuchungen des Tierwohls von pragmatistischen Hintergedanken zu emanzipieren. Je stärker die Ausrichtung an zeitnaher, praktischer Umsetzbarkeit, an ökonomischen und juristischen Rahmenbedingungen, umso unfundierter, widersprüchlicher und inhaltlich unzureichender erweist sich das resultierende Tierwohlverständnis.
6
Zwischenfazit des I. Hauptteils
In der Auseinandersetzung mit den hier exemplarisch behandelten praxisnahen Tierwohlansätzen ließen sich wichtige Gemeinsamkeiten herauskristallisieren, sowie stellenweise auffallende Abweichungen seitens WQ. Diese Übereinstimmungen wie auch die Brüche, ermöglichen eine erste hilfreiche Annäherung an ein tiefergehendes Tierwohlverständnis. Hier stellt sich heraus, welche grundlegenden Intuitionen in unserer Bewertung des Wohlzustands von Tieren zum Tragen kommen, sei es vordergründig oder latent. Und es wird deutlich, welche grundsätzlichen Fragen wir uns bei der ethischen Beurteilung unseres Umgangs mit Tieren stellen sollten, welche dieser Fragen wir offenbar vorschnell ausklammern und welche wir, möglicherweise zu Unrecht, bereits für ausreichend geklärt halten.
6.1 WICHTIGE GEMEINSAMKEITEN DER HIER BEHANDELTEN ANSÄTZE 6.1.1 Reduktionistisches Tierwohlverständnis Alle der von mir behandelten empirischen Ansätze reduzieren Tierwohl auf den faktischen mentalen Zustand des betroffenen Tiers. Hierbei werden zwar auch objektive Faktoren wie speziestypisches Verhalten und biologische Funktionstüchtigkeit angeführt, jedoch nur in abgeleiteter Form als Einflussfaktoren auf die mentalen subjektiven Empfindungen des Tiers. Die Option, von menschlicher Seite aus zu manipulieren, wie sich konkrete Lebensumstände auf die Psyche eines Tiers auswirken, wird dabei (weitestgehend) als legitim angesehen. Es stünde uns hiernach frei, Tieren nicht möglichst viel an Komfort, Spielraum für Verhaltensausübungen und soziale Interaktionen bereitzustellen, sondern sie strategisch von früh an auf reizarme und wenig komfortable Haltungsumgebungen zu konditionieren, bzw. Tiere entsprechend angepasst zu züchten. Tierwohl-Berücksichtigung wäre
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dann aber nicht mehr als Abdeckung von Bedürfnissen zu verstehen, sondern als Versuch, Bedürfnisse zu eliminieren, was intuitiv unbefriedigend ist. 6.1.2 Inkohärenz innerhalb der theoretischen Fundierung Alle der hier behandelten Ansätze lassen an irgendeinem Punkt Intuitionen und Werturteile einfließen, die durch die von ihnen verwendeten Grundannahmen nicht eingefangen werden können. Entgegen dem oben beschriebenen subjektivistischen Fokus, werden in den behandelten empirischen Ansätzen einzelne Praktiken, gegen die aus streng subjektivistischer Sicht nichts einzuwenden ist, dennoch explizit und emphatisch abgelehnt. Hierzu zählen die Verringerung von Leid durch fortlaufende Medikamentierung und das Züchten von Tieren ohne jegliche Leidensfähigkeit und Bewusstsein. Es kommt hierbei also zu auffallenden Brüchen, mit der zuvor vertretenen theoretischen Grundlage, die in den entsprechenden Ansätzen aber nicht thematisiert werden. Folglich wird auch nicht nach Möglichkeiten einer Harmonisierung gesucht, wodurch Defizite der eigenen Position verschleiert werden (m.E. aufgrund mangelnden Problembewusstseins, nicht aus unlauterer Schönungsabsicht). Woran es diesen Ansätzen somit mangelt ist eine kohärente theoretische Fundierung ihrer Urteile darüber, welche Praktiken Tiere in ihrem Wohl beeinträchtigen und welche das Tierwohl befördern oder unberührt lassen. Es wäre dabei eine fatale Strategie, sich der benannten Unstimmigkeiten schnell zu entledigen, indem sämtliche der nicht ausreichend erläuterten Faktoren für irrelevant erklärt und sämtliche der unzureichend begründeten kritischen Haltungen gegenüber bestimmten Praktiken einfach fallen gelassen werden. Die benannten Widersprüche verweisen auf stark verankerte moralische Intuitionen, die in den theoretischen Grundannahmen praxisnaher Ansätze zwar nicht eingebettet sind, gleichwohl aber im Denken und Fühlen der Autorinnen und Autoren hervortreten. Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Tierwohl darf solche Intuitionen nicht von vornherein übergehen, sondern muss prüfen, ob sie philosophisch belastbar sind. Halten sie dieser Prüfung stand, so müssen sie im Tierwohlansatz auch entsprechend aufgenommen werden. Erlaubt ein Ansatz diese Einbettung nicht, so sind seine Grundannahmen, so plausibel sie auch zunächst wirken, infrage zu stellen und zu überarbeiten. 6.1.3 Pragmatistischer Fokus auf Umsetzbarkeit Ich habe die vorgestellten Ansätze als pragmatistisch bezeichnet, da sie einen strikten Fokus auf die zeitnahe praktische Umsetzbarkeit ethischer Forderungen legen, der inhaltliche Stimmigkeit, ein adäquates Erfassen der Komplexität des Tierwohls
Zwischenfazit des I. Hauptteils | 103
und ethischer Konfliktpunkte untergeordnet werden. Ethische Fragen werden von vornherein ausgeklammert, sofern sie Aspekte berühren, die zum aktuellen Zeitpunkt nicht (oder nur unter großen Opfern) in die Praxis umgesetzt werden können. Dies ist bspw. zu beobachten wenn Brambell Tierwohlstandards daran ausrichtet, Tierwohl-Kontrolleuren ihre Arbeit unter derzeitigen Rahmenbedingungen möglichst zu erleichtern. 1 Es wird eben nicht als eigenständiges ethisches Problem der Nutztierhaltung behandelt, dass Tiere wie selbstverständlich gehalten und genutzt werden, obwohl es nur eingeschränkt möglich ist, ihren Wohlzustand adäquat zu überprüfen. Tierwohl förderliche Maßnahmen werden in praxisnahen Ansätzen nur dann ernsthaft diskutiert, wenn sie bei gleichzeitiger Beibehaltung einer ökonomisch rentablen Nutztierhaltung realistisch umsetzbar sind.2 Zusätzlich werden (insb. bei FAWC) Kriterien und Grundansätze favorisiert, die weniger komplex, dafür aber umso übersichtlicher, Platz sparender und einfacher zu vermitteln sind. 3 Abschließend wird auch noch zu bedenken gegeben, dass die Messung und Auswertung von Wohl-Indikatoren Zeit und Geld kostet. Um einer effizienten und rentablen Nutztierhaltung willen sollten daher Methoden und Prozeduren bevorzugt werden, die Ressourcen sparen, bzw. deren Kosten in einem »vernünftigen« Verhältnis zum jeweiligen Nutzen für das Tierwohl stehen. 4 Eine pragmatistische Orientierung schränkt somit nicht nur in problematischer Weise ein, wie wir Tierwohlmaßnahmen umzusetzen, sondern auch, was wir überhaupt als berücksichtigungswürdige Faktoren verstehen und wie ausführlich wir bereit sind, den Wohlzustand von Tieren zu überprüfen. Webster bringt den Fokus auf Umsetzbarkeit in einem separaten Artikel auf das plakative Credo: »The prime aim of applied science is to be useful, not clever.« 5 Diese pragmatistische Orientierung steigert sich insbesondere bei WQ bis zum bewussten Ausklammern von Minimalkriterien, von denen befürchtet wird, dass sie von vornherein die Kooperationsbereitschaft der Erzeuger von Tierprodukten senken würde. Um nicht die Hälfte der überprüften Betriebe als mangelhaft einzustufen zu müssen, werden stattdessen die Bewertungsmaßstäbe gelockert. 6 Dabei wäre es gerade wichtig, dies als alarmierenden Befund zu konstatieren. Grundsätzliche und weitreichende Veränderungsmöglichkeiten unserer Lebensweisen werden durch diese Fixierung auf zeitnahe Umsetzbarkeit innerhalb
1
Vgl. Brambell et al. (1965), S. 22ff, §73ff.
2
So bspw. bei FAWC (1979).
3
Vgl. FAWC (2009a), S. 17, 56.
4
Vgl. ebd., S. 32.
5
Webster (1998), S. 268.
6
Vgl. Welfare Quality® (2009), S. 30-31.
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derzeit bestehender Verhältnisse kaum in den Blick genommen. 7 Gerade dies aber verdeutlicht die Dringlichkeit, unsere aktuelle Lebenswelt umzugestalten und die Umsetzung ethischer Forderungen auf lange Sicht zu befördern. 6.1.4 Geringe Gewichtung des Tierwohls gegenüber menschlichen Interessen Die Berücksichtigung des Tierwohls wird als ethisch relevanter Faktor anerkannt. 8 Jedoch wird diesem tierethischen Aspekt ein vergleichsweise geringes moralisches Gewicht beigemessen, so dass menschliche Konsum-Interessen weitestgehend Priorität besitzen. Eine nähere Auseinandersetzung damit, wie plausibel und rechtfertigbar die jeweilige Gewichtung ist, die wir menschlichen Interessen einerseits und den Interessen der betroffenen Tiere andererseits zuweisen, bleibt dabei zumeist aus (oder wird sehr schnell abgehandelt). Die prinzipielle Legitimität unserer Praktiken an Tieren wird dabei als selbstverständlich angenommen. So greift FAWC die Formulierung Brambells auf »[W]hile man is free to subjugate animals, it is wrong for him to cause them to suffer unnecessarily«. 9 FAWC selbst merkt dabei an, dass die Rede von »unnötigem Leid« impliziert, manche Leidzufügungen seien gerechtfertigt, notwendig und gesetzeskonform, was FAWC offensichtlich unterstützt. 10 Das erzeugte Tierleid muss hiernach lediglich ausreichend begründet werden und darf nicht zu ausufernd sein. 11 Ein konkreter Maßstab dafür, was als Begründung ausreicht und welches Ausmaß an Leid verhältnismäßig akzeptabel ist, fehlt hier jedoch. (Meiner Einschätzung nach wird von empirischer Seite aus bei interdisziplinärer Zusammenarbeit gerade von der Philosophie erhofft, dies beides zu liefern, ohne dabei eine gesonderte Kritik der etablierten theoretischen Grundannahmen zum Tierwohl für nötig zu halten.) Die Frage, wie viel Gewicht wir der Berücksichtigung des Tierwohls beizumessen haben, insbesondere bei Tieren, die wir einer ökonomischen Verwertung unterziehen, erfordert jedoch eine gründliche philosophische Untersuchung. Wir können uns dabei nicht einfach darauf stützen, wie viele Zugeständnisse die Mehrheit unse-
7
Hierzu zähle ich Überlegungen, ob wir Tierprodukte wirklich für ein gutes Leben benötigen (Perspektive der Verbraucher) und ob wir unsere ökonomische Existenz abhängig machen sollten von der ökonomischen Verwertung anderer Lebewesen (Perspektive der Erzeuger).
8
WQ stellt hierbei, wie unter I.5. beschrieben, eine Ausnahme dar (vgl. Welfare Quality® [o.D.]).
9
FAWC (2009a), S. 13, im Original: Brambell et al. (1965), S. 17, §19.
10 Vgl. FAWC (2011), S. 3. 11 Vgl. FAWC (2009a), S. ii, 14, 18-19.
Zwischenfazit des I. Hauptteils | 105
rer Gesellschaft derzeit faktisch bereit ist, zugunsten des Tierwohls zu machen (siehe 6.1.7.). Um zu klären, wie viel Berücksichtigung das Wohl von Tieren verdient, muss geklärt werden, warum uns das Wohl von Tieren überhaupt moralisch zu interessieren hat. Erst hierdurch können wir ermitteln, welcher moralische Stellenwert der Beförderung des Tierwohls in Relation zu menschlichen Interessen zukommt. Dabei muss auch die Möglichkeit ins Auge gefasst werden, dass dem Tierwohl soviel Gewicht beizumessen sein könnte, und konkurrierenden menschlichen Konsuminteressen gleichzeitig so wenig, dass die Praktik der Nutztierhaltung als Ganzes sich als moralisch illegitim erweist. 6.1.5 Grundsätzliche Bejahung von Tötung Eine entscheidende Grundannahme praxisnaher Ansätze für die Bewertung des Tierwohls im Kontext der Nutztierhaltung ist die Bejahung von Tiertötung. Anders wäre eine grundsätzliche Verteidigung der Nutztierhaltung auch nicht möglich, da diese Praktik essentieller Bestandteil der Tiernutzung ist (auch Tiere, deren Schlachtung nicht direktes Ziel ihrer Vermarktung ist, werden geschlachtet, sobald ihre weitere Haltung unrentabel geworden ist). Die (mitunter enorme) Verkürzung der Lebenszeit von Nutztieren wird als unerheblich betrachtet, da Tiere ihre eigene Zukunft in keinem relevanten Ausmaß antizipieren können. Daher verlören sie durch ihr vorzeitiges Ableben nichts Substantielles. 12 Streng genommen wird die Tötung selbst somit nicht als völlig ethisch neutral betrachtet, jedoch wird ihr derart wenig Gewicht beigemessen, dass sie kaum als ethisch relevanter Faktor ernst genommen wird. Es sei nicht wichtig, Tieren eine lange Lebensspanne zu ermöglichen, sondern lediglich, das Wohlbefinden von Tieren während ihrer Lebenszeit zu berücksichtigen. Diese Einschätzung deckt sich mit dem derzeitigen gesellschaftlichen Konsens, wonach Nutztiere einen Anspruch auf eine positiv geprägte Lebenszeit, nicht aber auf eine bestimmte Lebensdauer haben. Ich habe bereits betont, dass die öffentliche Meinung zwar als Input, nicht aber unhinterfragt aufzunehmen ist, und auch oft in sich widersprüchlich erscheint. 13 Die Selbstverständlichkeit, mit der Tiertötung in praxisnahen Ansätzen prinzipiell als moralisch neutraler Akt behauptet wird, stützt sich dabei auf die Annahme, Tierwohl sei allein an den faktischen aktuellen subjektiven Empfindungen eines Tiers zu bemessen, nicht aber an künftigen oder hypothetischen. Da
12 Vgl. FAWC (2009a), S. 4. 13 Der genannte Konsens kann bspw. durchbrochen werden, wenn öffentliche Kritik an der Tötung männlicher Küken in der Legehennenzucht oder dem versehentlichen Schlachten trächtiger Milchkühe laut wird. Hier scheint sich das Entsetzen daran festzumachen, dass die getöteten Tiere kaum Zeit zu leben hatten.
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ich dieses streng subjektivistische Tierwohlverständnis bereits stark angezweifelt habe, ist auch die Legitimität der Tötung von Nutztieren kritisch zu untersuchen (hierzu insb. III.2). 6.1.6 »The show must go on!« Eine vollständige Abkehr von der Tiernutzung steht bei den behandelten empirischen Ansätzen nicht zur Debatte. Ein wichtiger Grund für diese Vernachlässigung ist die Reduktion von Ethik auf faktische gesellschaftlich dominierende ethische Einstellungen. Am illustrativsten ist dies bei FAWC zu erkennen. Zwar enthält der umfassende Jahresbericht von 2009 einen eigenen Unterabschnitt mit dem Titel »Is it right for us to use any animals?«, 14 im insgesamt knapp 60seitigen Werk nimmt dieser jedoch nur wenige Zeilen ein, und kommt ohne nähere Auseinandersetzung mit der mittlerweile immensen tierethischen Literatur zu dem knappen Schluss, dass die grundsätzliche Legitimität der Tiernutzung gesellschaftlicher Konsens ist. 15 Eine Alternative zur Fortführung der Nutztierhaltung wird gar nicht erst erwogen. Mit anderen Worten: »The show must go on!« Ob jedoch, eine grundsätzliche Abkehr von unserem derzeitigen Umgang mit Tieren ethisch notwendig ist oder nicht, gehört zur Expertise der Moralphilosophie, der praxisnahe Ansätze derzeit zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Diese Frage kann nicht durch Verbraucherforschung oder die Untersuchung ökonomischer und juristischer Gegebenheiten beantwortet werden. Sie erfordert eine eigene philosophische Auseinandersetzung. 6.1.7 »You have to give the audience what they want!« Die bereits angesprochene Vermengung von Ethik und öffentlicher Meinung führt dazu, dass faktischen Verbrauchereinstellungen eine doppelte Rolle zugewiesen wird. Sie stellen erstens einen ökonomischen Faktor dar, indem sie die Nachfrage dessen, was produziert wird, bestimmen. Entsprechend der Wertvorstellungen der Verbraucher gehört dazu auch die Nachfrage nach Waren, die auf eine bestimmte Weise produziert wurden (z.B. möglichst kostengünstig, möglichst umweltschonend, möglichst tierwohlgerecht, etc.). Zweitens werden diese Verbrauchereinstellungen als Maßstab für moralische Legitimität genommen. Was moralisch akzeptabel ist, wird daran festgemacht, was moralisch aktuell akzeptiert wird.
14 FAWC (2009a), S. 13. 15 Vgl. ebd., S. 13. Diese Einschätzung scheint mir zutreffend, dies zeigt aber noch nicht, inwieweit diese breite Gesellschaftsmeinung einer philosophisch-ethischen Kritik standhält.
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Damit scheint ein weiteres Motto aus der Unterhaltungsbranche die Ausrichtung praxisnaher Ansätze treffend wiederzugeben: »You have to give the audience what they want!« Gesellschaftlich dominierende Wertvorstellungen werden hier angesehen als das, was Tierwohl inhaltlich definiert, und ihm seine ethische Relevanz verleiht. Im Umkehrschluss wird dabei impliziert, dass alles, was die breite gesellschaftliche Öffentlichkeit nicht als bedenklich ansieht, auch keine tiefergehende ethische Kritik erfordere. Anhand des von mir vertretenen intuitionistischen Ansatzes werde ich zwar ebenfalls auf faktisch vorhandene ethische Einstellungen rekurrieren, aber eben nicht nur auf solche, die sich mehrheitlich durchgesetzt haben und auch nicht, ohne diese starken Intuitionen auf ihre Haltbarkeit zu überprüfen. Moralische Intuitionen bilden einen unverzichtbaren Input für ethische Untersuchungen, dürfen jedoch nicht als einzige und nicht-anzweifelbare Komponente ethischer Beurteilungen angesehen werden. Zu welchen Umwälzungen eine Gesellschaft aktuell bereit ist, gibt keine ausreichende Antwort auf die Frage, zu welchen Veränderungen eine Gesellschaft bereit sein und auf welche sie hinarbeiten sollte. 6.1.8 Tierwohl (auch) als Berücksichtigung des Individuums Auch wenn eine ökonomische Orientierung bei sämtlichen der vorgestellten praxisnahen Ansätzen vorherrscht, ist in der historischen Weiterentwicklung der Tierwohlforschung auch eine zunehmende Betonung eines ethischen Anspruchs, das Tier um des Tiers willen zu berücksichtigen, zu erkennen. Tieren werden bestimmte Grundansprüche zugestanden 16 und es wird der Wunsch betont, ihnen ein lebenswertes oder gutes Leben zu ermöglichen. 17 WQ stellt hierbei einen auffallenden Sonderfall dar, da hier ausschließlich eine ökonomische Orientierung anzutreffen ist. »Tierwohlgerecht« hergestellte Produkte sind besser absetzbar, da sie aktuellen Verbraucherwünschen entgegen kommen, und sie werden in punkto Lebensmittelsicherheit als höherwertig eingestuft. 18 Damit bleibt WQ dem Tierwohlverständnis zu Beginn des 20. Jahrhunderts verhaftet, das sich darauf beschränkte, Tiere »gut in Schuss zu halten«, um ihre Nutzung für wissenschaftliche Forschung und Nahrungsproduktion zu befördern. Die historische Entwicklung weg von diesem Fokus belegt jedoch, wie wenig zufriedenstellend ein reduktionistischer Fokus auf menschliche Interessen ist.
16 Wie etwa die Grundfreiheiten bei Brambell (vgl. Brambell et al. [1965], S. 13, §37) oder die »Five Freedoms« bei FAWC (vgl. FAWC [1979]). 17 Vgl. FAWC (2009a), S. 12-20, 44. 18 Vgl. Welfare Quality® (2009), S. iii sowie Welfare Quality® (o.D.).
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6.1.9 Tierwohl zwischen Verantwortungsbewusstsein und Kalkül Der Gedanke, dass wir die Berücksichtigung des Tierwohls den betroffenen Tieren selbst moralisch schulden, ist eng verbunden mit der Vorstellung einer besonderen menschlichen Verantwortung gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen. Da WQ Tierwohl allein hinsichtlich der Beförderung menschlicher Interessen betrachtet, geht dieser Verantwortungsgedanke dort vollständig verloren. Wenn überhaupt, so wird die Beförderung des Tierwohls als Verantwortung gegenüber den Verbrauchern verstanden, deren Gesundheit und Lebensstil hiervon betroffen sind. 19 Die anderen vorgestellten praxisnahen Ansätze heben demgegenüber hervor, dass wir Menschen es sind, die Tiere durch die Haltung in einer abgeschlossenen Umwelt darin einschränken, ihr Leben selbstständig zu bestreiten. 20 Damit tragen sie dem Umstand Rechnung, dass wir es sind, die die Lebensverfasstheit und -qualität dieser Tiere kausal mit beeinflussen, indem wir diese Tiere halten, zur Existenz bringen, töten, transportieren oder diese Handlungen durch unser Konsumverhalten fortlaufend in Auftrag geben. 21 Es ist offenbar gerade dieses Verantwortungsgefühl gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen, das die Autorinnen und Autoren von Brambell, FAWC und UFAW davon abhält, ausnahmslos jede Strategie der Leidvermeidung und Lustbeförderung bei Tieren gutzuheißen, allen voran permanente Medikamentierung und Züchtung auf Leidunempfindlichkeit. Ich habe dabei argumentiert, dass sich diese Ablehnung in manchen Fällen durch die zunehmend stärkere Betonung positiver Empfindungen für das Tierwohl einfangen lässt. Dies gelingt aber nicht mit jeder Praktik. Der Verantwortungsgedanke lässt sich somit noch nicht vollständig in derzeitige Ansätze einbetten, sondern weist auf entscheidende Lücken hin. Mit dieser Verantwortungsidee einhergehend konstatieren praxisnahe Ansätze im historischen Verlauf zudem immer stärker, dass das Konzept des Tierwohls keinen (rein) deskriptiven Zustand darstellt, der empirisch zu erfassen ist. Tierwohl ist v.a. ein normatives Konzept, das beschreibt, wie es einem Tier geht, gemessen an unseren ethischen Vorstellungen darüber, wie es diesem Tier gehen sollte und wie wir es ihm ergehen lassen sollten. Entsprechend ergibt sich hieraus ein wichtiges Beitragsfeld für die Normative Ethik, die in praxisnahen Quellen noch immer nur randständig als Forschungspartner wahrgenommen wird.
19 Vgl. Welfare Quality® (2009), S. iii sowie Welfare Quality® (o.D.). 20 Vgl. bspw. Brambell et al. (1965), S. 15, §46; FAWC (2009a), S. ii, 13; Scott (2011), S. 331. Zudem formuliert UFAW-Herausgeber Webster in einem älteren eigenen Artikel: »If we exploit animals for our own ends we have a moral obligation to understand them.« (Webster [1998], S. 263). 21 Diesen kollektiven Charakter der Tiernutzung betonen etwa Buschka et al. (2013), S. 76.
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6.2 WEITERES VORGEHEN Die Liste der oben herauskristallisierten Grundfragen, die ein vollständiger Tierwohlansatz zu adressieren und zu beleuchten hat, ist lang. Darüber hinaus handelt es sich in vielen Fällen um Aspekte, die sehr umfassende Debatten berühren und teilweise auch stark in den Bereich der Metaethik hineinragen. Im eng begrenzten Rahmen dieser Untersuchung werde ich mich nicht mit all diesen Fragen in der Ausführlichkeit auseinandersetzen können, wie sie es verdienen. Mein vorrangiges Ziel ist, die Komplexität des Tierwohlkonzepts zu beleuchten und einen Ansatz zumindest grob zu umreißen, der Urteile über die Vereinbarkeit von Tierwohl und Nutztierhaltung ermöglicht, die dieser Komplexität gerecht werden. Gerade die vorschnelle Überzeugung, alle entscheidenden Aspekte des Tierwohls bereits zu kennen und sie in ihrer Tiefe zu verstehen, ist m.E. der Hauptgrund für die vielen Defizite praxisnaher Tierwohlansätze. Im folgenden II. Hauptteil widme ich mich zuerst der Konzeption und Verteidigung eines erweiterten bzw. »anspruchsvollen« Tierwohlbegriffs, der sich nicht allein auf die subjektiven Einstellungen des Tiers beschränkt. Im III. Hauptteil werde ich dann meine daraus resultierende Konzeption auf die Praxis der Nutztierhaltung anwenden um zu klären, inwieweit beide miteinander konfligieren, und ob die Nutztierhaltung eine Chance hat, mit dem Anspruch in Einklang gebracht zu werden, das Wohl der Tiere, die wir halten und nutzen, in ethisch befriedigender Weise zu berücksichtigen. Eine tiefgehende Tierwohlbetrachtung muss sich dabei, von den aktuellen politischen, ökonomischen und juristischen Rahmenbedingungen emanzipieren. Dass sich bestimmte Tierwohlmaßnahmen aktuell ökonomisch, rechtlich oder politisch nicht etablieren lassen, sagt nichts über den Inhalt des Tierwohlbegriffs aus, sondern zeigt lediglich, inwieweit solche Rahmenbedingungen die Berücksichtigung des Tierwohls erschweren. Entsprechend werde ich in den nächsten beiden Hauptteilen empirische Fragen hintanstellen, um einer genuin philosophischen – damit aber nicht automatisch lebensfernen – Betrachtung der Tierwohlthematik Raum zu geben.
II. Der Wohl-Begriff aus philosophischer Perspektive
1
Der subjektivistische Wohlbegriff
1.1 ZIEL DES ZWEITEN HAUPTTEILS Wie ich im vorangegangenen Hauptteil dargelegt habe, weisen praxisnahe Tierwohlkonzeptionen eine enge Orientierung am subjektivistischen Wohlbegriff auf. Das Wohl des Tiers sei also aus dessen subjektiver Perspektive heraus zu bemessen. Derzeitige Probleme der Bestimmung des Tierwohls werden allein daran festgemacht, dass wir als Außenstehende keinen direkten Einblick in die subjektive Perspektive des Individuums besitzen. Die Anstrengungen der empirischen Tierwohlforschung werden daher auf die Erforschung und Weiterentwicklung möglichst valider Indikatoren konzentriert, um so möglichst adäquat von außen beurteilen zu können, wie das einzelne Tier seine Lebensverfasstheit selbst beurteilt. Demgegenüber habe ich kritisiert, dass dieser, wie selbstverständlich angenommene, subjektivistische Fokus, zu einer Vielzahl stark kontraintuitiver Konsequenzen führt. Gleichzeitig habe ich auch darauf hingewiesen, dass praxisnahe Ansätze genau dort wichtige moralische Intuitionen aufgreifen, wo sie sich – kurzzeitig und theorieinkonsistent – von ihrer subjektivistischen Orientierung lösen. Defizite bisheriger Tierwohlansätze können nicht allein anhand von Anwendungskomplikationen, Messungenauigkeiten, mangelhaften Indikatoren oder unzureichendem empirischen Faktenwissen erklärt werden. Es ist die starre Ausrichtung an den subjektiven Empfindungen des betroffenen Tiers selbst, die hier offenbar nicht überzeugen kann. Selbst wenn wir in der Lage wären, die subjektiven Empfindungen und Urteile eines Tiers exakt von außen abzulesen, können wir dadurch noch nicht automatisch der konzeptionellen und moralischen Komplexität des Tierwohlbegriffs und unserer Verantwortung gegenüber den Tieren in unserer Obhut ausreichend gerecht werden. Damit ist nicht gesagt, dass die subjektive Perspektive des Individuums überhaupt keine Rolle spielt, jedoch eben nicht die einzige. Ziel des zweiten Hauptteils ist es daher, die Schwachstellen eines strikten Wohlsubjektivismus philosophisch auszuleuchten und alternative Konzeptionsbzw. Erweiterungsmöglichkeiten zu untersuchen. Hierfür werde ich im ersten Kapitel zentrale Einwände gegen den Subjektivismus heranziehen, die innerhalb der
114 | Tierwohl und Tierethik
philosophischen Debatte eingebracht wurden, gleichzeitig aber auch Stärken des Subjektivismus benennen, die in diesen Debatten betont werden. Daran anschließend werde ich in II.2 diskutieren, inwiefern ein objektivistischer Wohlbegriff als Alternative attraktiv ist und welche eigenen Probleme eine solche Konzeption beinhaltet. Da ich letztendlich Subjektivismus wie Objektivismus in ihrer Reinform als defizitär ausweisen werde, diskutiere ich schließlich in II.3 bereits existierende Hybridansätze, in denen versucht wird, die Stärken beider Wohlbegriffe miteinander zu verbinden – anders als in den behandelten praxisnahen Ansätzen aber theoretisch fundiert und nicht durch Aufpfropfen erweiternder Elemente ad hoc. Solche Hybridansätze scheinen mir die aussichtsreichsten Kandidaten für einen belastbaren und auch intuitiv befriedigenden Tierwohlansatz. Die existierende philosophische Literatur zum Begriff des Wohls, die vor allem unter Verwendung der Schlagwörter »Glück« und »das Gute Leben« geführt wird, konzentriert sich dabei nahezu ausschließlich auf die Situation von Menschen. Nur wenige Autoren weiten ihre Untersuchungen auch auf andere Lebewesen aus, und auch dann zumeist nur ausblickartig. Meine eigene Untersuchung des Wohlbegriffs wird sich ebenfalls zunächst auf tief sitzende Intuitionen gegenüber dem Wohl von Menschen und unseren moralischen Pflichten ihnen gegenüber beziehen. In II.4 werde ich dann verteidigen, dass sich zentrale Erkenntnisse zum Menschenwohl auch auf das Wohl von Tieren und unseren Umgang mit ihnen übertragen lassen. Diese Strategie, bei Mensch-Mensch-Intuitionen zu beginnen und zu Mensch-TierIntuitionen überzugehen hat zwei Gründe: Erstens folge ich hierin der Argumentationsstruktur der behandelten philosophischen Quellen, die vom Menschen ausgehend argumentieren. Zweitens besitzen wir m.E. Tieren gegenüber in vielen Fällen weniger klare und tief empfundene Intuitionen als Menschen gegenüber. Intuitionen erfordern, dass wir uns gegenüber anderen und ihren Lebenssituationen emotional öffnen, ihr Schicksal an uns heranlassen und es als moralisch wichtigen Gegenstand anerkennen. Andernfalls bilden wir keine konkreten Intuitionen aus, sondern bleiben indifferent. Und bei Tieren handelt es sich noch immer um eine Gruppe, die erst seit relativ kurzer Zeit (und auch immer noch sehr randständig) in die Sphäre moralischer Berücksichtigung aufgenommen wurde. 1 Selbst 40 Jahre nach Erscheinen von Peter Singers Animal Liberation, ganz
1
Ich folge hierin erneut der intuitionistischen Grundposition McMahans. Bei der ethischen Bewertung konkreter Fälle sollten wir zunächst überprüfen, ob wir bereits starke und stabile moralische Intuitionen zu diesen Fällen besitzen. Ist dies nicht der Fall, sollten wir uns zunächst Fällen zuwenden, bei denen wir bereits über starke und stabile Intuitionen verfügen und die gleichzeitig Gemeinsamkeiten bzw. Verbindungen mit unseren eigentlich zu überprüfenden Fällen aufweisen, so dass wir prüfen können, ob sich die entspre-
Der subjektivistische Wohlbegriff | 115
zu schweigen von Vorarbeiten bei Bentham und Mill 2, wird noch immer darum gestritten, ob moralische Berücksichtigung jeglicher Form überhaupt sinnvoll auf nicht-menschliche Lebewesen angewendet werden könne. 3 Ich werde aufzeigen, warum unsere bereits stärker verankerten Intuitionen beim Menschenwohl auch auf das Tierwohl zu übertragen sind und wir daher eine gesellschaftliche Ausprägung entsprechender Intuitionen gegenüber Tieren vorantreiben sollten. Unter II.5 werde ich die Ergebnisse dieses Hauptteils zum von mir vertretenen resultierenden Tierwohlbegriff zusammenführen. Auch wenn ich meine Untersuchung in diesem Hauptteil mit dem Wohl von Menschen beginne, werde ich bereits von Beginn an vornehmlich speziesneutrale Bezeichnungen wie »Lebewesen« und »Individuen« verwenden solange noch nicht geklärt ist, welche Wohl-Bereiche tatsächlich allein auf Menschen bzw. genauer menschliche Personen plausibel zu beziehen sind. Soweit sich Intuitionen oder Phänomene explizit auf Menschen beschränken, kennzeichne ich dies durch die entsprechende Verwendung der Bezeichnung »Mensch«.
1.2 KONZEPTION DES SUBJEKTIVISTISCHEN WOHLBEGRIFFS Innerhalb der philosophischen Debatte zum Wohlbegriff hat sich eine von Parfit eingeführte Dreiteilung durchgesetzt: 1. Hedonistische Theorien: Diese bemessen den Wohlzustand eines Individuums
anhand seiner subjektiven positiven und negativen Empfindungen. 2. Wunscherfüllungstheorien: Diese beurteilen Wohl danach, inwiefern die Wün-
sche und Zielsetzungen des Individuums erfüllt bzw. frustriert werden. 3. Objektive-Listen-Theorien: Diese bestimmen den Wohlzustand des Individuums
daran, inwieweit sein Leben Gegenstände oder Zustände enthält, die als objektiv wertvoll und damit bereichernd angenommen werden. 4
chenden Intuitionen übertragen lassen bzw. ob es überzeugende Gründe gibt, unsere Intuitionen hier nicht zu übertragen (vgl. McMahan [2002], S. 246 sowie McMahan [2000], S. 92.). 2
Vgl. Bentham (1963); Mill (2015).
3
So bspw. bei Carruthers (2008), S. 78-91. Menschen, die jegliche Rücksicht gegenüber Tieren ablehnen, sind nach meiner Einschätzung eine Minderheit, jedoch keine Seltenheit.
4
Vgl. Parfit (1984), S. 493-502. Diese Aufteilung wird bspw. bei Haybron um eudaimonistische Theorien und Theorien authentischen Glücks erweitert. Erstere sind dabei dem
116 | Tierwohl und Tierethik
Dabei werden hedonistische Theorien und Wunschtheorien in der Literatur dem Wohl-Subjektivismus zugeordnet, da sie die subjektiven mentalen Einstellungen (subjektive Empfindungen bzw. subjektive Wünsche) des Individuums ins Zentrum rücken. Das Individuum verleiht bestimmten Dingen Wert und damit WohlRelevanz anhand seiner diesbezüglichen Empfindungen bzw. seines Willensaktes. 5 Sumner fasst dies wie folgt zusammen: »[T]he defining feature of all subjective theories is that they make your well-being depend on your own concerns: the things you care about, attach importance to, regard as mattering, and so on. […] It is these attitudes which constitute the standpoint from which these conditions can be assessed as good or bad for you.« 6 [Hervorhebung im Original]
Übereinstimmungen zur dominierenden Grundposition praxisnaher Tierwohlansätze sind hierbei augenfällig. Praktiken an Tieren werden dort danach bewertet, inwieweit sie negative oder positive Empfindungen beim betroffenen Tier verursachen, aber auch danach, inwieweit Bedürfnisse des Tiers abgedeckt oder frustriert werden (bspw. ob ein Tier die Möglichkeit hat, Bewegungen auszuführen, die es ausführen will). Je nachdem ob Empfindungen oder Willensakte in den Fokus gestellt werden, können subjektivistische Theorien unterschiedliche Implikationen und Probleme enthalten. 7 Ich möchte solche Feinunterschiede jedoch ausklammern. Mich interessieren an dieser Stelle Probleme und Implikationen, die beiden Varianten gemeinsam sind. Ebenso vernachlässige ich deshalb unterschiedliche Spielarten von hedonistischen Theorien und Wunschtheorien. Ich werde zugegebenermaßen zwischen hedonistischen und Wunschtheorien teils hin und her springen bzw. sie in einem Atemzug nennen, da ich davon ausgehe, dass sie vor vergleichbaren Schwierigkeiten stehen. Einige der Spielarten mögen ein paar der von mir vorgebrachten Kritikpunkte abwehren können, andere dafür gleichzeitig jedoch einkaufen müssen. In jedem Fall bin ich skeptisch, dass eine subjektivistische Variante alle der Probleme gekonnt umgehen kann, die in diesem Kapitel benannt werden. Damit wende ich mich primär gegen radikal-subjektivistische Ansätze, die möglicherweise niemand
Objektivismus zuzuordnen, bei Letzteren handelt es sich um eine Form von Hybridtheorien, die objektivistische und subjektivistische Elemente einzubinden versuchen (vgl. Haybron [2008], S. 33ff). Ich halte mich dennoch hierbei an Parfits Vorgabe, da ich eudaimonistische Theorien nicht für auf Tiere übertragbar halte und Theorien authentischen Glücks mir dem zu entsprechen scheinen, was ich II.3. an Hybridansätzen behandle. 5
Vgl. Sumner (1996), S. 42-45, sowie Steinfath (2011), S. 300.
6
Sumner (1996), S. 42.
7
Vgl. ebd., S. 42-45, sowie Steinfath (2011), S. 300.
Der subjektivistische Wohlbegriff | 117
(außer eingefleischten Zynikern) in Bezug auf Menschen ernsthaft vertreten würde. Dann wäre aber eben auch gezeigt, dass die meisten von uns im Alltag eben nicht radikal-subjektivistisch denken und fühlen und eine entsprechende Wohltheorie unbefriedigend ist, wenn sie keine über die faktische subjektivistische Perspektive des Individuums hinausgehenden Faktoren mit berücksichtigt.
1.3 ATTRAKTIVITÄT DES SUBJEKTIVISTISCHEN WOHLBEGRIFFS 1.3.1 Verbindungen zwischen Wohl und gutem Leben Die Attraktivität subjektivistischer Ansätze gründet sich vor allem darauf, dass sie offenbar in der Lage sind, Bestandteile des Wohlbegriffs einzufangen, die viele von uns als essentiell ansehen. Dazu gehört vor allem, dass es intuitiv inakzeptabel scheint, das Wohl eines Lebewesens zu bewerten ohne Bezug zu nehmen auf das Individuum, das dieses Leben am eigenen Leib erfährt und bewusst durchlebt. Es gibt verschiedene Gesichtspunkte nach denen die Qualität eines Lebens bewertet werden kann. In der philosophischen Literatur haben sich hierbei vier Hauptkategorien herauskristallisiert: 1. Der perfektionistische Wert eines Lebens: Inwieweit entspricht ein Leben einer
bestimmten Form? Dies kann einerseits meinen, dass ein Leben so verfasst sein muss, dass es den Träger in einem aristotelischen Sinne zu einem guten Exemplar seiner Gattung (oder anderen Bezugsgruppe) macht. Anderseits kann gemeint sein, inwieweit der Träger hochgesteckte Ziele erreicht oder es ihm gelingt der eigenen Selbstvervollkommnung näher zu kommen. (Bei Letzterem scheint es um ein Bestreben zu gehen, das hohe geistige Fähigkeiten erfordert und daher nur auf menschliche Personen sinnvoll bezogen werden sollte. Dagegen wird sich gerade die Frage, inwieweit ein Tier ein gutes oder typisches Exemplar seiner Gattung ist, als zentraler Bezugspunkt vieler tierethischer Ansätze herausstellen.) 2. Der ästhetische Wert eines Lebens: Inwieweit genügt ein Leben ästhetischen Ansprüchen? Wirkt der Träger bspw. in seiner Erscheinung und der Art, wie er lebt und mit anderen interagiert, anziehend? 3. Der moralische Wert eines Lebens: Inwieweit führt das Individuum ein Leben, das aus moralischer Sicht als anständig, lobenswert oder tadelnswert zu bezeichnen ist bzw. als nachahmenswert oder mahnendes Beispiel? 4. Der prudentielle Wert eines Lebens: Hier geht es nun nicht mehr darum, inwieweit ein Leben für Außenstehende bewundernswert, inspirierend oder respekt-
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würdig ist, sondern inwieweit dieses Leben für das betreffende Individuum selbst als gut bezeichnet werden kann. 8 Philosophische Ansätze und Traditionen unterscheiden sich darin, welches Gewicht sie diesen vier Werten jeweils bei der Bestimmung der Lebensqualität eines Individuums beimessen bzw. inwieweit sie enge Verbindungen zwischen diesen Werten ziehen oder sie sogar miteinander identifizieren. In der antiken Philosophie dominiert die Ansicht, dass ein Leben um gut zu sein, immer auch zugleich moralisch gut geführt werden muss. 9 So wird etwa in Platons Politeia ausführlich dafür plädiert, ein unmoralisches Leben könne niemals gut für das Individuum sein, selbst wenn es niemals für seine Missetaten belangt wird. 10 Es ist ebenso möglich, perfektionistischen und prudentiellen Wert eng miteinander zu verknüpfen, indem man behauptet, dass nur ein Leben, das Bewunderung einfordert, auch für das betreffende Individuum selbst wahrhaftig gut sein kann. Dafür müsste man dem Menschen ein essentielles Streben nach Selbstverwirklichung und -vervollkommnung zuschreiben. Ein Leben voll Müßiggang und Antriebslosigkeit läuft hiernach der menschlichen Natur entgegen und schadet einem Menschen, der sein Leben so nur oberflächlich genießen kann. Aristoteles etwa identifiziert als ergon (Zweckbestimmung) des Menschen den Gebrauch der eigenen Vernunft (im Einklang mit den Tugenden). Ein Mensch kann diesem Bild nach niemals »dumm und glücklich« sein. 11 Es können somit enge Zusammenhänge zwischen dem prudentiellen und anderen Werten konzipiert werden. Jedoch nicht ohne Hinzuziehen verbindender Zusatzannahmen, deren Plausibilität gesondert verteidigt werden muss. Der amerikanische Philosoph Sumner hingegen betont, dass das Wohl eines Individuums ausschließlich anhand des prudentiellen Werts seines Lebens zu bemessen sei und keinerlei enge Verbindung zu anderen Werten bestünde. Inwieweit ein Leben moralischen, perfektionistischen oder ästhetischen Ansprüchen genügt, verrät uns nichts darüber, inwieweit das betroffene Individuum mit seinem eigenen Leben glücklich und zufrieden ist. Im Gegensatz zur antiken Überzeugung würde heute kaum jemand bestreiten, dass auch moralisch tadelnswerte Personen ein sehr
8
Vgl. Sumner (1996), S. 20-25. Sumner bezeichnet diese unterschiedlichen Wertmaßstäbe auch als »Dimensionen« eines guten Lebens bzw. Wert-Dimensionen.
9
Vgl. Frankfurt (2004), S. 6ff.
10 Vgl. Platon (1989), insb. 359d, 409c, 491b-d, 612b. Die Verbindung zwischen prudentiellem und moralischem Wert wird dabei anhand der Vorstellung der Seele des Menschen gezogen, die durch moralisch tadelnswerte Handlungen Schaden nehme. 11 Vgl. Aristoteles (2006), 1097b22-1098a20, siehe auch Kraut (2017).
Der subjektivistische Wohlbegriff | 119
glückliches Leben führen können. 12 Gleichzeitig sind Genies, die es in ihrem jeweiligen Schaffensbereich zur Perfektion bringen, nicht vor Depressionen, Todessehnsüchten und Gefühlen der Einsamkeit gefeit. Sie selbst können das Leben, das andere so sehr bewundern, immer noch als leer empfinden. 13 Lebensweise und Errungenschaften eines Anderen können uns ein hohes Maß an Respekt abverlangen, ohne dass wir im gleichen Atemzug behaupten müssten, dass das Individuum, welches dieses Leben führt, sonderlich glücklich sein müsste. Ebensowenig drücken wir dabei automatisch aus, dass wir dieses Individuum um sein Leben insgeheim beneiden. Gerade um dieses »gut für« das betroffene Individuum selbst, muss es uns laut Sumner jedoch gehen, wenn wir nach dessen Wohl fragen: »Welfare assessments concern what we may call the prudential value of a life, namely how well it is going for the individual whose life it is.« 14 [Hervorhebung im Original]
Damit bestreitet Sumner nicht, dass ein Leben anhand unterschiedlicher Wertmaßstäbe betrachtet werden kann. Jedoch sei für das Wohl des Individuums allein der prudentielle Wert von direkter Bedeutung. Damit ist bspw. nicht ausgeschlossen, dass es einen Menschen überglücklich machen kann, sein Leben möglichst ästhetisch zu gestalten. Sein Wohl wird dann aber eben nicht durch die Ästhetik direkt befördert, sondern nur in abgeleiteter Weise, da das Individuum aus seiner subjektiven Perspektive Ästhetik einen hohen Stellenwert beimisst. Bereits an dieser Stelle lässt sich ein wichtiger Unterschied festmachen zwischen der anthropologischen Debatte um das Gute Leben und der tierethischen Debatte um das Wohl von Tieren. Die oben genannten vier Werte scheinen nicht in gleicher Weise sowohl auf menschliche Personen wie auch auf Tiere anwendbar. Tiere werden in der Regel nicht als kompetente Moralakteure angesehen, 15 so dass
12 Vgl. Sumner (1996), S. 24-25 sowie Steinfath (2013), S. 174. Erinnert sei auch an Hobbes’ Auseinandersetzung mit der Frage »why evil men often prosper, and good men suffer adversity« (vgl. Hobbes [1998], Ch. XXXI, §6). 13 Vgl. Steinfath (2013), S. 177. 14 Sumner (1996), S. 20. 15 Mittlerweile wurde die ehemals scharfe Trennung zwischen moralfähigen Menschen und nicht-moralfähigen Tieren von vielen Autoren aufgeweicht. Dabei wird allgemein akzeptiert, dass auch Menschen, sofern ihnen die notwendigen psychologischen Fähigkeiten fehlen, nicht moralfähig sein können. Zunehmend wird aber auch diskutiert, ob bestimmte Tiere die Grundvoraussetzungen für Moralfähigkeit erfüllen können (Selbstbewusstsein, Reflexionsfähigkeit, Zukunftsantizipation, die Fähigkeit Regeln zu verstehen und das eigene Handeln daran auszurichten, etc.). Als aussichtsreichste Kandidaten gelten
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es nicht sinnvoll ist, ihre Lebensführung anhand moralischer Ansprüche zu bewerten (was nicht bedeutet, dass wir als menschliche Personen nicht trotzdem verpflichtet sind unsere Lebensführung auch Tieren gegenüber anhand moralischer Ansprüche auszurichten). Ebenso scheinen Tiere nicht über die psychologischen Fähigkeiten (in ausreichendem Maß) zu verfügen, die ein Lebewesen benötigt, um für ästhetische Urteile empfänglich zu sein oder Selbstperfektionierung anzustreben. 16 Es scheint daher ohnehin nur der prudentielle Wert auf Tiere anwendbar zu sein. Mit Einschränkung ist jedoch auch der perfektionistische Wert auf Tiere übertragbar, sofern hierunter nicht der Wunsch nach Selbstvervollkommnung, sondern lediglich die Außenbeschreibung verstanden wird, inwiefern eins Tier ein typischer Vertreter seiner Gattung ist (was davon unabhängig ist, ob das Tier selbst diese Übereinstimmung subjektiv bemerkt oder wertschätzt). 17 Entsprechend konzentriere ich mich in meiner Untersuchung nur auf die Aspekte des Guten Lebens, deren Übertragbarkeit auf Tiere nicht bereits von vornherein unplausibel scheint. Die anthropologische Frage nach dem Guten Leben richtet sich zudem immer auch auf die Frage, wie wir leben sollten. Dagegen sind Überlegungen des Wohls von Lebewesen, die diese Reflexionsebene nicht besitzen, darauf zu beschränken, was sich über die Qualität ihres Lebens plausibel sagen lässt, und damit zusammenhängend, welche Verpflichtungen sich für uns ergeben, indem unsere Handlungsentscheidungen die Lebensqualität dieser Individuen mit beeinflussen. 18
hierbei Primaten und Meeressäuger (vgl. McMahan [2002], S. 265; DeGrazia [2006], S. 40-53). 16 Auch hier sei wieder auf die Angreifbarkeit einzelner Aspekte der Mensch-TierTrennung verwiesen. 17 Wie oben angemerkt, muss dann aber erklärt werden, inwiefern es für das betroffene Tier selbst gut ist, ein gutes Exemplar seiner Gattung zu sein. Ich widme mich solchen Versuchen in II.2.3, II.2.4 und II.4.2.5 Dagegen sind mir keine ernstzunehmenden Versuche bekannt, um zu belegen, es sei gut für ein Tier, ästhetischen Außenbeschreibungen zu genügen, z.B. »anmutig« zu sein. 18 Mir ist die Implikation bewusst, dass entsprechende Aspekte des Guten Lebens ebenfalls nicht für die Bewertung des Lebens von Menschen ohne Personenstatus taugen (Säuglinge, geistig schwerstbehinderte Menschen, etc.). Damit ist nicht gesagt, dass wir Menschen und Tiere exakt gleichermaßen behandeln sollten, sondern nur, dass bestimmte Aspekte der Lebensbeurteilung nicht auf alle Menschen gleichermaßen sinnvoll bezogen werden können. Einem Menschen mit starker geistiger Behinderung kann ein lebenswertes Leben zugeschrieben werden, fragwürdiger ist jedoch die Zuschreibung eines Wunsches nach Selbstvervollkommnung.
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Dagegen ist die sinnvolle Zuschreibung eines prudentiellen Werts eines Lebens weitaus weniger voraussetzungsreich. Wie im obigen Zitat von Sumner bereits angedeutet, beschreibt dieser Wert die Qualität, die das Leben eines Individuums für dieses Individuum selbst besitzt. Dafür muss es dem Individuum möglich sein, eine eigene Einstellung zu seinem Leben einzunehmen. Es muss ihm, wie Ursula Wolf hervorhebt, »etwas ausmachen« können, was mit ihm geschieht – und diese Fähigkeit wiederum besitzen laut Wolf nur Lebewesen, die »fühlen und wollen können«. 19 Die prudentielle Qualität eines Lebens ist demnach Ausdruck der Wahrnehmung und Evaluation der eigenen Lebensverfasstheit. Es geht dabei eben nicht um eine bloße Qualitätszuschreibung von Außen, so wie man etwa Aussagen darüber trifft, dass Wasser gut für eine Pflanze ist. Der prudentielle Wert eines Lebens nimmt einen starken Bezug auf das betroffene Individuum selbst und auf dessen Perspektive, und genau das ist es, was laut Sumner den Kern des Wohls eines Lebewesens ausmacht: »[A]lthough your life may be going well in many respects, it is prudentially valuable only if it is going well for you. This subject-relativity is an essential feature of our ordinary concept of welfare.« 20 [Hervorhebung im Original]
Wer sich bei der Betrachtung des Wohls des Individuums allein auf äußere Beschreibungen über dessen Lebensverfasstheit beschränkt, verkennt, in Sumners Worten, den »perspektivischen Charakter« des prudentiellen Werts eines Lebens. 21 Diese subjektive Perspektive ist zudem von zentraler Bedeutung, da die Frage nach dem Wohl vor allem (auch) eine moralische Frage ist. Wir stellen sie, um besser zu verstehen, was wir anderen schulden. Das Wohl anderer kann nur dann überhaupt von Interesse für uns sein, wenn wir die Individuen, um deren Leben es geht als moralisch berücksichtigungswürdig ansehen. Ihr Wohl interessiert uns nicht aus sich heraus, sondern weil uns die dahinter stehenden Individuen interessieren. 22 Entsprechend ist es fragwürdig, die subjektive Perspektive dieser Individuen zu ignorieren und einen Wohlbegriff zu verwenden, der völlig ohne Bezug auf ihre eigenen subjektiven Einstellungen funktioniert.
19 Vgl. Wolf (2012), S. 73, 82, 114. 20 Ebd., S. 42. 21 Vgl. ebd., S. 45. 22 Ich habe dies im I. Hauptteil insb. hinsichtlich des bei UFAW formulierten Verantwortungsgedanken gegenüber Nutztieren aufgezeigt. Auch die Beschäftigung mit dem menschlichen Wohl erklärt sich erst aus der Annahme, dass wir uns für das Leben unserer Mitmenschen interessieren sollten.
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Übertragen auf die von mir untersuchte Vereinbarkeit von Nutztierhaltung und Tierwohl darf konstatiert werden, dass uns das Wohl von Tieren überhaupt nur deshalb interessiert, weil wir bereits akzeptieren, dass sie über ein eigenes Wohl verfügen; dass wir durch die Praktik der Tierhaltung dieses Wohl beeinflussen; und dass dieses Wohl und folglich unsere Beeinflussung desselben moralisch relevant sind. Ein Tierwohlbegriff, der die subjektive Perspektive von Tieren übergeht, wird einem direkten moralischen Bezug auf die betroffenen Individuen nicht gerecht und wäre damit unglaubwürdig. 1.3.2 Klärung und Einbindung des »gut für« Die Plausibilität eines Wohlansatzes hängt wie oben gezeigt (u.a.) davon ab, inwieweit es gelingt die subjektive Perspektive des Individuums einzubinden und zu beleuchten, inwiefern eine bestimmte Lebensverfasstheit »gut für« das betroffene Individuum ist. Steinfath zufolge scheint dies gerade Wunscherfüllungstheorien zu gelingen: »Im ›gut für‹ scheint ein Bezug auf die Bewertungsperspektive der Person angezeigt zu werden. Die Person muss sich mit ihrem Leben identifizieren können, und es liegt nahe, dies über die Struktur ihres Willens zu erläutern […]« 23
Dieses Identifizieren mit dem eigenen Leben diskutiert Steinfath unter der Bezeichnung »Selbstbejahung«. Je eher ein Individuum in der Lage ist, dem eigenen Leben zuzustimmen, umso besser ist es um sein Wohl bestellt. Ein Gegenstand oder Zustand ist »gut für« ein Individuum, wenn er es ihm erlaubt bzw. erleichtert, sich mit seiner Lebenssituation zu identifizieren, also das eigene Leben zu bejahen. Hierbei sind zwei Aspekte von Einfluss (Steinfath spricht daher von einer »doppelten Selbstbejahung«). Das Individuum muss seiner Lebenssituation einerseits affektiv zustimmen können, d.h. es muss die Art und Weise, wie sein Leben verläuft, als angenehm empfinden und bewerten. Diesen Bereich decken hedonistische Theorien ab. Andererseits muss das Individuum auch voluntativ zustimmen können. Ein Gegenstand oder Zustand ist dann wohlförderlich, wenn das betroffene Individuum sich dessen Vorhandensein bzw. Fortdauer wünscht. 24 Diesem Bereich widmen sich
23 Steinfath (2013), S. 176. Auch wenn Steinfath hier von Personen spricht, halte ich diesen Punkt zunächst einmal für speziesneutral anwendbar. Da Steinfath in seiner Textvorlage sich explizit mit dem Glück von Menschen auseinandersetzt, braucht die Verwendung des Begriffs »Person« hier nicht automatisch als Ausschluss aller nicht-menschlichen Lebewesen verstanden zu werden. 24 Vgl. Steinfath (1998b), S. 83-84.
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Wunscherfüllungstheorien. Das Wohl eines Individuums zu berücksichtigen bedeutet dann, so zu handeln, dass es sein eigenes Leben in diesem doppelten Sinne bejahen kann – also das eigene Leben als angenehm empfindet und das erhält, wonach es strebt. Es macht gerade die Attraktivität des Subjektivismus aus, dass ihm hierüber ein klarer Bezug zum betroffenen Individuum gelingt. Er fängt damit wesentliche Grundintuitionen des allgemeinen Wohlverständnisses ein. Wenn also aus ersten theoretischen Überlegungen so viel für den Subjektivismus spricht, wie kommt es dann zu den kontraintuitiven Resultaten, die ich im I. Hauptteil benannt habe? Bevor ich mich gängigen philosophischen Einwänden gegen den Subjektivismus widme, möchte ich zunächst zwei wesentliche Konsequenzen hervorheben, die sich aus der subjektivistischen Sichtweise ergeben und schwerwiegende Folgen für die Beurteilung individuellen Wohls haben.
1.4 KONSEQUENZEN EINES SUBJEKTIVISTISCHEN WOHLVERSTÄNDNISSES 1.4.1 Entphilosophierung der Frage nach dem Wohl Gehen wir tatsächlich von einem rein subjektivistischen Wohlverständnis aus, so wird die Klärung der Frage, was zum Wohl eines Individuums gehört, der Philosophie weitestgehend entzogen. Wenn die Bestimmung des Wohls eines Individuums ausschließlich von dessen subjektiven Einstellungen abhängt, dann gibt es, wie Steinfath verdeutlicht, nichts weiter für die Philosophie aufzuklären. »Die Kernidee einer radikal subjektivierten Vorstellung von einem guten Leben, die dieses als Gegenstand der Philosophie obsolet gemacht hat, hat Kant auf die vielzitierte Formel gebracht, »Glückseligkeit« sei »die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, als auch protensive, der Dauer nach)«. Auch das ist natürlich eine philosophische These zur Thematik des guten Lebens. Aber für alles weitere macht sie der Philosophie die Kompetenz streitig, denn welche Neigungen eine Person hat, ist eine rein empirische Frage.« 25
Die Aufgabe der Philosophie besteht dann einzig darin festzuhalten, dass das Wohl eines Individuums sich anhand seiner subjektiven Einstellungen bemisst. Zur Aufklärung darüber, welchen Inhalt diese Einstellungen im konkreten Fall haben, kann
25 Steinfath (1998a), S. 8.
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die Philosophie jedoch nichts beisteuern. 26 Es ist dann Aufgabe empirischer Forschung diesen Inhalt in der Auseinandersetzung mit dem konkreten Individuum zu ermitteln. Dies kann auf vielfältige Weise geschehen. Durch direkte Befragung, im Falle von interaktionsfähigen Menschen, durch Präferenztests bei Tieren, wie sie etwa von Dawkins entwickelt worden sind, 27 oder indem versucht wird, anhand anatomischer, tierethologischer und weiterer wissenschaftlicher Kenntnisse qualifizierte Rückschlüsse darüber zu ziehen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Tier als angenehm empfindet bzw. bestrebt ist zu erlangen. Genau dies ist auch die Stoßrichtung der Nutztierwissenschaften, die auf die Entwicklung verlässlicher Wohl-Indikatoren und valider Messmethoden fixiert sind. 28 Diese Kompetenzzuschreibung überzeugt allerdings nur, wenn wir tatsächlich akzeptieren, dass es beim Wohl eines Individuums um nichts anderes geht, als dessen subjektive Einstellungen. Ich habe im I. Hauptteil bereits auf diverse Defizite dieser subjektivistischen Fixierung hingewiesen und werde sie in diesem Kapitel philosophisch weiter untermauern. Hierdurch lässt sich bekräftigen, dass die Philosophie wesentlich mehr zur Klärung des Tierwohls beizutragen hat als ihr bislang von naturwissenschaftlicher Seite aus zugestanden wird. Empirische Forschungen können einzelne Aspekte des Tierwohls in einer Weise konkretisieren, die auf abstrakter philosophischer Ebene nicht gelingt. Sie erfassen jedoch nicht den Gegenstand in seiner Gesamtheit und wir können uns bei unserem Anspruch, das Wohl der Tiere, die wir halten und nutzen ernstzunehmen, nicht auf die Empirie allein verlassen. 1.4.2 Ausschluss potentieller Empfindungen und Wünsche Eine weitere schwerwiegende Konsequenz eines radikalen Subjektivismus besteht in seiner Eingrenzung moralisch relevanter Handlungen. Er impliziert, dass Handlungen und Weltzustände, die vom Individuum nicht subjektiv bewusst wahrgenommen werden, uns in moralischer Hinsicht nicht weiter zu interessieren bräuchten. Dies erweist sich v.a. als problematisch, hinsichtlich der Frage, welche Rolle künftige Empfindungen bzw. Wünsche spielen. Subjektives Empfinden und Wün-
26 Ähnlich auch Seel (1998), S. 289. 27 Vgl. Dawkins (1983), S. 1195-1205; Dawkins (1990), S. 1-9. 28 Erinnert sei etwa an die Prognose von FAWC: »As far as new developments in farming are concerned, ethicists still have a role to play but of greater practical importance are animal welfare scientists, veterinarians, farmers and others who know about animal physiology, behaviour, physical and mental health, and husbandry.« (FAWC [2009a], S. 56).
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schen kann zwar auf vergangene und künftige Ereignisse und Weltzustände gerichtet sein, das Empfinden und Wünschen selbst aber findet allein im Hier und Jetzt statt. Wenn ich Angst verspüre vor einer anstehenden Prüfung, so empfinde ich diese Angst jetzt und nicht erst in der Prüfungssituation. Denke ich voll Scham an Fehlentscheidungen in meinem Leben, empfinde ich diese Scham jetzt und nicht rückwirkend in der Vergangenheit, wo ich diese Fehler beging. Wünsche ich mir schönes Wetter für den morgigen Tag, so habe ich diesen Wunsch jetzt und nicht erst morgen. Der Subjektivismus fokussiert sich dadurch nicht nur auf subjektive Einstellungen sondern noch eingeengter auf aktuale faktische subjektive Einstellungen. 29 Damit werden künftige Empfindungen und Wünsche eines Individuums als moralisch irrelevant ausgewiesen, da das Individuum sie zum aktuellen Zeitpunkt schließlich noch gar nicht ausgeprägt hat. Warum sollten wir also bei unseren Handlungsabwägungen auf zukünftige psychologische Einstellungen Rücksicht nehmen? Darauf ist zu erwidern, dass uns intuitiv beim Wohl eines Individuums nicht bloß sein gegenwärtiger Zustand interessiert. Vielmehr ist das Leben des Individuums als Ganzes betrachtet von Bedeutung. Zumindest soweit wir es mit Individuen zu tun haben, die über eine zeitlich stabile psychologische Identität verfügen. Ihr Wohl ausschließlich an isolierten »glücklich-freudvollen Augenblicken« 30 festzumachen oder an deren Summe, wird der Lebensverfasstheit dieser Individuen nicht gerecht. Ihr Leben bildet ein Kontinuum und keine Ansammlung an durchlebten Momenten, und schon gar nicht erschöpft sich ihr Wohl im jeweils aktuellen Moment immer wieder von neuem. Subjektivistische Theorien versuchen in der Regel, nicht nur kurzfristige, sondern auch langfristige subjektive Interessen eines Individuums aufzunehmen, die sich anhand seiner Empfindungen bzw. Wünsche ergeben. 31 Es wäre unplausibel, sogar zynisch, zu behaupten, es sei gut für einen Menschen, ein wohlschmeckendes aber gleichzeitig auch vergiftetes Gericht zu verzehren, bloß weil er hierdurch seinen kurzfristigen Appetit stillen kann, obwohl wir bereits antizipieren können, dass in ein paar Stunden derselbe Mensch unter Schmerzen und Übelkeit sterben wird. 32 Künftige Empfindungen bzw. Wünsche dürfen somit nicht einfach ignoriert werden. Doch selbst wenn wir künftige subjektive Einstellungen mit aufnehmen, hat der Subjektivismus immer noch problematische Konsequenzen. Denn er lässt uns freie Hand dabei, aktiv zu manipulieren, welche subjektiven Einstellungen ein Individuum künftig tatsächlich ausprägen wird. Die radikalste Einflussnahme besteht in
29 Vgl. Parfit (2011), S. 61, 74. 30 Steinfath (1998a), S. 9. 31 Vgl. ebd., S. 9ff. 32 Ähnlich auch Schmidt (2008), S. 320.
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der Verkürzung der Lebenszeit des Individuums. Denn am Leben zu sein, ist die grundlegendste Voraussetzung für den Besitz von Empfindungen bzw. Wünschen. 33 Wenn uns nur die Einstellungen zu interessieren haben, die ein Lebewesen tatsächlich oder aller Voraussicht nach innerhalb seiner Lebenszeit besitzen wird (bzw. innerhalb des Zeitraums seiner stabilen psychologischen Identität), dann ist es unerheblich, welche oder wie viele Einstellungen dieses Lebewesen tatsächlich ausbilden wird. Moralisch relevant ist hiernach nicht die Zeitspanne des Lebens, sondern nur die psychologischen Einstellungen, die innerhalb dieser Zeitspanne ausgebildet werden. Wenn dies stimmt, dann steht es uns frei, die Lebenszeit eines Individuums nach unserem Belieben zu verkürzen, vorausgesetzt wir stellen sicher, dass der Tötungsakt keine aktuellen Einstellungen des Opfers berührt. Eine legitimierbare Tötung muss hiernach schmerzfrei ablaufen und das Opfer darf vor oder während des Aktes keine Angst verspüren. Es wäre demnach also moralisch völlig legitim ein Individuum nach Lust und Laune zu töten, solange dies schmerzfrei und vom Opfer selbst unbemerkt durchgeführt wird. 34 Sofern eine Subjektivismusvariante vertreten wird, die die Bedeutung von Wünschen betont, dürfen zudem durch den Tötungsakt keine aktual vorhandenen Wünsche durchkreuzt werden. Es wäre hiernach aber bspw. unbedenklich einen Menschen zu töten, der völlig im Hier und Jetzt lebt und nicht an seine Zukunft denkt. Auch scheint es unbedenklich bei der Tötung einfach den Zeitpunkt abzupassen, an dem ein Mensch sich (wenn auch womöglich nur kurzzeitig) wunschlos glücklich fühlt bzw. seine Ambitionen und Pläne als verwirklicht ansieht. Hierbei durchkreuzen wir keinen seiner Wünsche, sondern kommen lediglich der Ausbildung neuer Wünsche zuvor. Ein solcher Umgang mit anderen Lebewesen wirkt aber intuitiv keinesfalls moralisch neutral, sondern vielmehr kalkulierend und hinterhältig. Wir können andererseits, die künftigen subjektiven Einstellungen eines Individuums dadurch beeinflussen, indem wir bspw. kontrollieren, mit welchen Umweltreizen und Situationen ein Individuum in Kontakt kommt. Gerade auf dieses Prinzip stützen sich die Ausführungen von UFAW (I.4), wonach die frühzeitige Gewöhnung von Nutztieren an ihre Haltungsumwelt voranzutreiben sie, um ihr Wohl zu befördern. Ich habe bereits kritisiert, dass das frühzeitige »Abhärten« von Tieren durch das Vorenthalten bestimmter angenehmer Umwelterfahrungen, den Anspruch, Tiere verantwortungsvoll zu behandeln, nicht befriedigend einfängt. Ich werde im Folgenden meine Kritik am Subjektivismus allgemein weiter konkretisieren.
33 Vgl. Wolf (2012), S. 88. 34 Vgl. Merkel (2003), S. 40-44.
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1.5 EINWÄNDE GEGEN DEN SUBJEKTIVISMUS In den philosophischen Debatten um »Glück« und den Begriff des »Guten Lebens« wurden bereits vielfältige Kritikpunkte gegen den Subjektivismus eingebracht. Kritik kommt sowohl von der objektivistischen Gegenseite, als auch von Subjektivisten, die den Subjektivismus in Reinform für defizitär halten. Beide Seiten verweisen darauf, dass er wichtige Bestandteile des menschlichen Wohls ignoriere oder nicht aufgreifen könne. Dies führe nicht nur zu einer ungenauen Darstellung des Wohls, sondern auch zu stark kontraintuitiven, bisweilen sogar abstoßenden Implikationen hinsichtlich unserer Handlungsverpflichtungen gegenüber anderen. Die subjektive Perspektive des Individuums besitzt zwei Einflusskomponenten, für die ich die Beschreibungen »wahrnehmen« und »beurteilen« verwende. Mit »wahrnehmen« meine ich das Aufnehmen von Reizen, Informationen, oder anderen Formen eines Inputs. Mit »beurteilen« meine ich sowohl die evaluative Bezugnahme auf das, was wahrgenommen wird, als auch die Empfindungen, die mit dieser Beurteilung einhergehen. Diese Umschreibung trifft primär auf hedonistische Ansätze zu, m.E. sind diese Komponenten aber auch für Wunscherfüllungstheorien bedeutend. Wünsche entstehen nicht aus dem Nichts, sondern hängen damit zusammen, wie wir uns und unsere Umwelt wahrnehmen und bewerten. Ich verzichte, außer in Zitaten, im Folgenden weitestgehend auf Begriffe wie »Interessen« oder »Präferenzen«, da sie m.E. sowohl subjektivistisch als auch objektivistisch konzipiert sein können und alltagsprachlich bereits beide Seiten vermengen. Die Unterscheidung von Wahrnehmung und Beurteilung führe ich an dieser Stelle ein, um zu verdeutlichen, dass Individuen in ihrer Subjektivität auf unterschiedliche Weise manipulierbar sind. 1.5.1 Wunscherfüllungstheorien als Abkehr vom Subjektivitätsfokus Eine erste Skepsis am Fokus auf aktuale faktische subjektive Zustände ist bereits in der Konzeption von Wunscherfüllungstheorien selbst auszumachen. Denn diese scheinen bereits objektivistische Elemente mit einbinden zu müssen, um eine eigenständige Alternative zu hedonistischen Theorien zu bilden. Wunscherfüllungstheorien müssen klären, was genau die Erfüllung von Wünschen für das Wohl des Individuums relevant macht. Ginge es nur um die positiven oder negativen Empfindungen, die mit der Erfüllung bzw. Frustration von Wünschen einhergehen, so laufen Wunscherfüllungstheorien Gefahr sich in einem hedonistischen Ansatz aufzulösen und damit überflüssig zu werden. Geht es hingegen nur darum, welche Weltzustände eintreten, so müsste behauptet werden, es sei dem Wohl des Individuums nicht abträglich, unglücklich zu sein, weil es fälschlicherweise glaubt, seine Wünsche
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hätten sich nicht erfüllt, obwohl sie in Wahrheit eingetreten sind. 35 Dies ist einerseits kontraintuitiv, andererseits werden zudem prudentieller und perfektionistischer Wert eines Lebens hierbei vermengt, indem wir nur noch auf die Errungenschaften eines Lebens achten, ohne den Gemütszustand des Individuums dabei zu berücksichtigen. Mit anderen Worten, das Individuum selbst, um dessen Wohl es doch gerade geht, gerät aus dem Blick. Wunscherfüllungstheorien scheinen somit nicht ohne einen gewissen Bezug auf hedonistische Elemente auszukommen, auch wenn sie das Wohl nicht auf diese Elemente reduzieren. Unterschiede in Konzeption und Wirkung von hedonistischen und Wunscherfüllungstheorien ließen sich noch weiter vertiefen. Für meine Zwecke genügt es hier darauf aufmerksam zu machen, dass Wunscherfüllungstheorien bereits als erste Abkehr vom radikalen Subjektivismus gedeutet werden sollten, zumindest sofern sie das tatsächliche Eintreten von angestrebten Weltzuständen zur Bedingung von Wunscherfüllungen machen. Denn ob sie eintreten hängt von der Welt ab, nicht vom Gemütszustand des Individuums. 36 1.5.2 Manipulierbarkeit der subjektiven Bewertung Eines der prominentesten Argumente gegen den Subjektivismus wurde von Amartya Sen in die Debatte eingeführt. Kernaussage seines Einwands ist, dass selbst wenn wir genaue Kenntnis darüber haben, was eine Person aus ihrer subjektiven Perspektive als positiv oder negativ bewertet, wir immer noch Gründe haben können anzunehmen, dass sich diese Person bezüglich des eigenen Wohls irrt. Sie kann bspw. mit Dingen zufrieden sein, mit denen sie nicht zufrieden sein sollte. Vor allem aber, besitzen wir laut Sen kein automatisches Recht, eine Person auf eine bestimmte Weise zu behandeln, nur weil die betroffene Person selbst diese Behandlung nicht als problematisch betrachtet, bzw. in der Lage ist, sich auf diese Behandlung mental einzustellen. Sen fasst diesen Einwand wie folgt zusammen: »The hopeless beggar, the precarious landless labourer, the dominated housewife, the hardened unemployed or over-exhausted coolie may all take pleasures in smaller mercies, and manage to suppress intense suffering for the necessity of continuing survival, but it would be ethically deeply mistaken to attach a correspondingly small value to the loss of their wellbeing because of this survival strategy.« 37
35 Vgl. Parfit (1984), S. 494 sowie Sumner (1996), S. 125. 36 Vgl. ebd., S. 113. 37 Sen (1987), S. 45-46.
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Hierbei handelt es sich um Strategien, in denen die betroffenen Personen aus Selbstschutz ihre eigenen Bedürfnisse herunterschrauben. Sie entwickeln bestimmte Wünsche gar nicht erst oder verwerfen sie. Sie gewöhnen sich an bestimmte unangenehme Umwelterfahrungen, wie Hunger, Erschöpfung, Stress, die sie dadurch als weniger intensiv erfahren. Vielleicht nehmen sie diese ehemals unangenehmen Erfahrungen sogar in manchen Fällen kaum noch wirklich wahr, indem sie durch ständigen Kontakt mit solchen Erschwernissen gegen sie abstumpfen. Sen zufolge ist bei all diesen Personen das eigene Wohl stark in Mitleidenschaft gezogen, selbst wenn die Betroffenen das bestreiten würden. Auch wenn sie sich an ihre Lebenssituationen erfolgreich gewöhnen können, heißt dies nicht, dass wir uns um das Wohl dieser Personen keine ernsthaften Sorgen machen sollten, geschweige denn anzunehmen, dass es sogar sehr gut um ihr Wohl bestellt sei. Vor allem aber scheint uns die Fähigkeit dieser Personen, sich mit einem Leben voll Anstrengung, Ausbeutung und Entbehrungen zu arrangieren, keine automatische Rechtfertigung zu geben, diese Anpassungsfähigkeit so lange auszureizen wie die betroffenen Personen noch mit ihrer Lebenssituation fertig werden. Wenn wir die Ausbeutung von Menschen gutheißen, sofern sie selbst keinen Einsspruch gegen ihre Behandlung erheben, lassen wir keine sonderlich große Anteilnahme an ihrer Lebenssituation erkennen. Eine solche Haltung erweckt vielmehr den Anschein, als käme uns ihre Anpassungsfähigkeit sehr gelegen. Auch haben sich diese Personen vielleicht nur deshalb an ihre Lebensbedingungen gewöhnt, weil sie ein anderes Leben niemals kennen gelernt haben und nur deshalb keinen Wunsch nach einem anderen Leben verspüren, weil sie gar keine Vorstellung von einem anderen Leben besitzen. 38 Noch perfider wirken Fälle, in denen wir die Genügsamkeit von Personen gezielt vorantreiben, indem wir sie so sozialisieren, dass sie von sich aus überhaupt nicht auf die Idee kämen, bestimmte Bedürfnisse und Ansprüche an das eigene Leben zu entwickeln und entsprechende Berücksichtigung von anderen einzufordern. Nussbaum und Sen machen dies an der Erziehung vieler Frauen deutlich, die ab frühester Kindheit an eine bestimmte soziale Rolle gewöhnt werden, aus der heraus ein Leben mit hochgesteckten Zielen und ohne körperliche Aufzehrung für die Betroffenen gar nicht vorstellbar ist:
38 Manche mögen argumentieren, dass Menschen auch in Armut einen gewissen Stolz entwickeln können und es paternalistisch wäre, ihnen von außen einzureden, ihr Leben verlaufe falsch. Vielleicht würden auch die Anstrengungen dieser Personen, mit dem eigenen Leben fertig zu werden, dadurch abgewertet. Es scheint jedoch keineswegs paternalistisch, die Welt so zu verändern, dass Menschen künftig nicht mehr auf derlei Selbstschutz-Strategien angewiesen sind, um ihre Lebenssituation subjektiv als positiv bewerten zu können.
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»For in most parts of the world women do not have the same opportunities as men. These inequalities – and the deficiencies in education and experience often associated with them – tend to affect women’s expectations and desires, since it is difficult to desire what one cannot imagine as a possibility.« 39
Nussbaum verweist u.a. auf Studien, die belegen, dass Witwen in Indien, nachdem gesellschaftliche Aufklärungsprogramme durchgeführt wurden, stärker dazu tendierten, sich über ihre Gesundheit zu beklagen, als dies noch vorher der Fall war, als sie ihre soziale Lage als selbstverständlich annahmen. Sie nahmen nun körperliche Aufzehrung bewusster wahr oder sahen sie nun zumindest als Grund an, ihre Lebensqualität kritischer zu bewerten und dies auch explizit zu äußern. 40 Einfach anzunehmen, wir dürften alles mit einer Person machen, was sie selbst nicht ablehnt oder sogar befürwortet, führt zu moralisch inakzeptablen Implikationen. Denn angesichts unserer Möglichkeit, auf dass, was eine Person ablehnt und befürwortet Einfluss zu nehmen, würde hieraus folgen, dass wir in der Lage sind, uns durch geschicktes Kalkül und Einflussnahme die moralische Legitimierung für unsere Handlungen gegenüber anderen selbst zu verleihen. Eine solch eigenmächtige moralische Rechtfertigungsstrategie ist mehr als fragwürdig. Mit dem Grundgedanken, dass die Menschen um uns herum moralisch zählen und unsere Berücksichtigung verdienen, hat dies jedenfalls nichts mehr gemein. Hier geht es nicht mehr um das Bemühen, den moralischen Status und die Interessen unseres Gegenübers anzuerkennen und zu berücksichtigen, sondern nur noch darum, unsere moralischen Verpflichtungen so minimal wie möglich zu halten. Der Subjektivismus fordert ein solches Verhalten zwar nicht kategorisch von uns ein. Er gibt uns jedoch keine Möglichkeit der Kritik hieran an die Hand, sofern er nicht Kriterien aufgreift, die von den faktischen mentalen Einstellungen des Individuums unabhängig sind. 1.5.3 Manipulierbarkeit der subjektiven Wahrnehmung Indem der Subjektivismus die psychologischen Einstellungen des Individuums in den Mittelpunkt rückt, betont er, dass es beim Wohl nicht darum geht, wie eine Welt beschaffen ist, sondern wie sie sich dem betreffenden Individuum darstellt. Diese Annahme besitzt auf den ersten Blick einige Plausibilität. Sofern uns das betroffene Individuum selbst interessiert, sollte es auch eine Rolle spielen, wie es sich und seine Lebenssituation erfährt. Robert Nozick hingegen wirft ein, dass wir
39 Nussbaum/Sen (1993), S. 5. 40 Vgl. Nussbaum (1998), S. 223.
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uns bei der Beurteilung des Wohls nicht einfach unkritisch auf die subjektive Wahrnehmung des Individuums verlassen können. Er verdeutlicht dies anhand des durch ihn prominent gewordenen Gedankenexperiments, in dem Menschen die Möglichkeit haben, sich an eine »Erfahrungsmaschine« anschließen zu lassen. Die angeschlossene Person erlebt in einer virtuellen Welt unbegrenzte angenehme Erfahrungen bzw. die »Erfüllung« all ihrer Wünsche. Dass die angeschlossene Person sich gut fühlt, sei jedoch kein Grund anzunehmen, dass es ihr auch gut ergeht, weil die Lebenssituation, die sie hier positiv bewertet, nicht echt ist. 41 Die Person bewertet nur eine Scheinsituation, ein Leben, das sie in Wirklichkeit überhaupt nicht führt. Nozick zufolge kann dieses Wohlgefühl nicht einfangen, was uns an einem prudentiell guten Leben intuitiv wichtig ist. Wir wollen bestimmte Dinge wirklich tun, ein bestimmtes Leben wirklich führen, und nicht bloß fühlen. Es zählen eben nicht nur mentale Zustände, die sich etwa in Empfindungen und Wünschen manifestieren. Wir müssen auch auf Weltzustände Bezug nehmen. 42 Insofern wird hier ein Unterscheid betont zwischen Wohl und Wohlgefühl. Es stellt sich damit die Frage, inwieweit unser Wohl unabhängig sein kann von der objektiven Beschaffenheit der Welt. So betont Martin Seel, dass unser Wohl nicht allein in beglückenden Stimuli bestehen könne, sondern im Vollzug beglückender Tätigkeiten. »Glück ist nicht einfach ein Sichwohlfühlen. Zum Glück fehlt hier der gelingende Austausch mit einer im guten und im schlechten widerständigen Wirklichkeit, jenes Moment gelingender Welterschließung und Weltaneignung, das bei Menschen und Tieren eine wesentliche Grundlage ihres Wohlbefindens ist – ein in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Welt ihres Lebens gewonnenes Wohlergehen, das sie, wenn sie die freie Wahl haben, jederzeit bevorzugen würden gegenüber einem bloß induzierten Wohlgefühl.« 43
Wenn ich Freude am Tanzen habe, betrachte ich die Bewegung zur Musik nicht als notwendiges Hindernis, das ich überwinden muss, um quasi als Belohnung das beglückende Gefühl von Tanzeuphorie zu erlangen. Würde mir jemand anbieten, durch eine Pille dasselbe euphorische Gefühl direkt zu bekommen, so ist dies kein
41 Vgl. Nozick (1974), S. 42. Eine anschauliche Diskussion dieses Beispiels liefert Sumner (1996), S. 94-98. 42 Vgl. ebd., S. 96, 43 Seel (1998), S. 292.
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gleichwertiger Ersatz, geschweige denn der effizientere Weg zum Ziel. 44 Wir suchen unser Glück nicht mittels Tätigkeiten sondern gerade in Tätigkeiten. 45 Das Betrachten mentaler Zustände reicht allein nicht aus, um das Wohl eines Individuums adäquat zu erfassen. Ein zweites in der Literatur oft verwendetes Beispiel beschreibt eine Person, die glaubt von Freunden umgeben zu sein, nicht wissend, dass es sich hierbei nur um sehr gute Schauspieler handelt, die sich ihre tatsächliche Verachtung nicht anmerken lassen. Auch wenn sich nicht leugnen lässt, dass die Person in diesem Beispiel sich von Freunden umgeben und geliebt fühlt, ändert dies nichts an der Tatsache, dass sie nicht von Freunden umgeben ist. James Griffin betont, dass es für einen überzeugenden Wohlansatz unerlässlich ist, die wirkliche Lebenssituation des Individuums in den Blick zu nehmen, nicht bloß ein Trugbild davon: »I prefer, in important areas of my life, bitter truth to comfortable delusion. Even if I were surrounded by consummate actors able to give me sweet simulacra of love and affection, I should prefer the relatively bitter diet of authentic reactions. And I should prefer it not because it would be morally better, or aesthetically better, or more noble, but because it would make for a better life for me to live.« 46
Beispiele wie diese machen deutlich, wie eng Fragen des Glücks, des Wohls und des guten Lebens miteinander verstrickt sind, ohne dass man sie deshalb vermengen darf. So betont Sumner, dass sich Individuen zwar hinsichtlich ihres Wohls täuschen können, nicht aber hinsichtlich ihrer Glücksgefühle. 47 Erfährt eine Person, dass ihre vermeintlichen Freunde nur Schauspieler waren, so kann sie im Nachhinein urteilen, dass es ihr weniger gut ging als sie aus ihrer damaligen Sicht glaubte. Sie kann aber nicht im Nachhinein urteilen, dass sie sich damals nicht gut fühlte. Es
44 So werden innerhalb der Musik- und Partykultur Rauschmittel in der Hoffnung genommen, die Euphorie beim Feiern zu steigern. Es geht nicht darum, direkter zur Euphorie zu gelangen und sich bspw. den Gang zu Tanzveranstaltungen dadurch sparen zu können. 45 Vgl. ebd., S. 292-293. Eine mögliche Herausforderung für die Übertragbarkeit dieses Arguments auf Tiere stellen die bekannten Experimente dar, in denen Mäuse sich durch Knopfdruck Lustgefühle verschaffen können und dabei die Nahrungsaufnahme vernachlässigen. Der direkte Zugang zu Lustempfindungen scheint bei diesen Tieren zumindest bereits einen sehr hohen Stellenwert einzunehmen, unabhängig davon, durch welche Tätigkeit sie erlangt werden. 46 Griffin (1986), S. 9. 47 Vgl. Sumner (1996), S. 97-98.
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gibt, so Sumner, kein »illusionäres Glück«. 48 Dennoch könne es Glücksgefühlen an einer bestimmten Authentizität fehlen. 49 Dieser Gedanke ist auch bei Seel zentral. Wenn das Wohl eines Lebewesens in seiner Auseinadersetzung mit der Umwelt besteht, so scheint es eine Rolle zu spielen, wie diese Umwelt objektiv beschaffen ist. Die Glücksempfindungen einer Person können auf Dinge gerichtet sein, die überhaupt nicht vorhanden sind – Freunde, die in Wahrheit keine sind, erlebte Abenteuer, die nur virtuell stattgefunden haben. Das Glück der Person bekommt hierdurch etwas Trügerisches. Seel dazu: »Seine Gefühle mögen dieselben sein, ob die Freunde nun echte sind oder falsche Freunde sind, seine Lage aber wäre jeweils eine ganz andere. Wenn aber Glücklichsein nicht alleine eine Sache von Gefühlen ist – wie das Beispiel von Nozick plausibel nahelegt –, dann ist individuelles Glück auch dann zumindest beeinträchtigt, wenn das eigene positive Erleben sich auf illusionäre Objekte bezieht.« 50
Und eben dieser Bezug zur objektiven Welt ist entscheidend für die Beurteilung individuellen Wohls. Die bei Steinfath hervorgehobene Bejahung des eigenen Lebens muss einen Bezug zu dem Leben haben, welches das Individuum tatsächlich führt, nicht welches es zu führen glaubt. Andernfalls sind wir, wie Seel verdeutlicht, nicht mit unserem Leben zufrieden, sondern lediglich mit einer Illusion davon. »Das Subjekt dieses Glücks macht sich glauben […] in für es günstigen Umständen zu leben, die gemessen an seinen eigenen Präferenzen keine für es günstigen Umstände sind. Es ist nicht in dem Lebenszustand, in dem es zu sein wünscht.« 51
Die Relevanz dieses authentischen Weltbezugs wird insbesondere deutlich, wenn wir aus dem Wohl des Individuums moralische Rechte und Pflichten ableiten. So scheint es etwa im Beispiel der Schauspieler-Freunde inakzeptabel zu behaupten, die getäuschte Person hätte keinen Grund, den Schauspielern später vorzuwerfen, dass ihre Freundschaft nur gespielt war, da ihr der Betrug doch eine glückliche Zeit bescherte. Dass die gespielte Freundschaft tatsächlich das Glück der getäuschten Person erfolgreich befördert hat, verleiht diesem Betrug keine moralische Rechtfer-
48 Vgl. ebd., S. 157. Der Begriff findet bspw. bei Seel Verwendung, wobei auch er offenbar nicht infrage stellt, dass die Person tatsächlich Glück empfindet. Die Illusion bestehe aber darin, fälschlicherweise zu glauben, dass diese Gefühle die tatsächliche eigene Lebenssituation auch adäquat widerspiegeln (vgl. Seel [1998], S. 291-295). 49 Vgl. Sumner (1996), S. 139ff. 50 Seel (1998)S. 295. 51 Ebd., S. 296.
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tigung. Dies scheint intuitiv auch der Fall, wenn der Schwindel nicht aufgedeckt worden wäre. Wenn wir Menschen vorwerfen, dass Vertrauen anderer missbraucht zu haben, dann deswegen, weil wir so ein Verhalten als Rücksichtslosigkeit gegenüber der getäuschten Person betrachten – nicht weil wir diesen Schauspielern vorwerfen, nicht professionell und effizient genug bei ihrer Täuschung vorgegangen zu sein. Ebenso kontraintuitiv ist die Annahme, dass der Freundschaftsschwindel erst ab dem Zeitpunkt moralisch problematisch wurde, als er aufflog. Offensichtlich können wir Urteile über die moralische Zulässigkeit von Handlungen nicht allein der subjektiven Wahrnehmung des betroffenen Individuums überlassen. Die Täuschungsanfälligkeit subjektiver Wahrnehmung stellt insofern ein ernstzunehmendes Problem für den Wohl-Subjektivismus dar. Ebenso wie wir in Sens und Nussbaums Beispielen eine Person zu unseren Gunsten indoktrinieren können, so können wir auch Personen in einer Weise über ihre Lebenssituation täuschen, die unseren eigenen Plänen nützt. Wir können ihr absichtlich wichtige Informationen vorenthalten, sie belügen oder auch daran hindern, bestimmte Informationen überhaupt aufnehmen zu können, indem wir in die Entwicklung ihrer Sinne und ihrer kognitiven Fähigkeiten manipulativ eingreifen. Hierdurch würden wir erneut unseren Handlungen eigenmächtig (scheinbare) moralische Legitimität verleihen, was inakzeptabel ist. Es lässt sich darüber diskutieren, ob nicht bestimmte Fälle der Manipulation der Lebenswahrnehmung einer Person dennoch gerechtfertigt sein können. An der ungeschönten Kenntnis über die tatsächlichen eigenen Lebensumstände kann eine Person auch zerbrechen. So argumentiert etwa Steinfath, es sei nur dann gut für eine Person, die Wahrheit zu erfahren, wenn sie auch in der Lage ist, durch die gewonnenen, möglicherweise bedrückenden, Neuinformationen konstruktive Zukunftspläne zu entwickeln. Sofern die Person diesen Neuinformationen ohnmächtig gegenübersteht, kann sie durch die Wahrheit nichts Wesentliches gewinnen. Ein Leben frei von Täuschungen mag unter perfektionistischem Aspekt ein besseres sein, es ist aber schwer einzusehen, dass dies auch ein prudentiell besseres Leben wäre. 52 Dies liefert jedoch keine Rechtfertigung dafür, selbst die Umstände zu verursachen, die das Wohl dieses Individuums in erster Linie einschränken. Noch machen sie die Lebenssituation dieses Individuums damit insgesamt moralisch unbedenklich. Dass ich einem im sterben liegenden Menschen keinen Gefallen damit tue, ihm zu sagen, dass er sein Leben lang unbeliebt war, 53 rechtfertigt nicht, dass ich diesem Menschen in der Vergangenheit meine Freundschaft vorgespielt habe. Dass ich einen Sklaven durch Aufklärung über seine Gefangenschaft nicht automatisch
52 Vgl. Steinfath (1998b), S. 87. 53 Ein solches Beispiel diskutiert u.a. Kitcher (vgl. Kitcher [1996], S. 294-295).
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befreien kann, macht seine »glückliche« Gefangenschaft nicht moralisch unbedenklich. 54 Die moralische Rechtfertigung solcher Täuschungen besteht allein darin, dass in Situationen, in denen wir nicht verhindern können, dass das Wohl des Individuums Schaden nimmt, wir zumindest dafür sorgen sollten, dass es ein vergleichsweise geringer Schaden ist. Gezielte Täuschungen und das Vorenthalten von Informationen und Umwelterfahrungen können somit ethisch gerechtfertigt werden, jedoch nur im Sinne eines »kleineren Übels«. Und selbst dafür müsste eine Dilemma-Situation belegt werden, die außer diesem »kleineren Übel« keine bessere Alternative lässt. Dies ist offensichtlich nicht der Fall, wenn ich einem Menschen auch echten Respekt und Freundschaft entgegen bringen kann, statt nur gespieltem, und einen Sklaven tatsächlich in die Freiheit entlassen kann, ohne ihm weiszumachen, bereits »frei« zu sein. Es mag in Sens Beispielen tatsächlich besser für die betroffenen Menschen sein, dass sie in der Lage sind, ihre Bedürfnisse herunter zu schrauben und Beschwerlichkeiten als völlig normal anzunehmen, um nicht völlig an der Welt zu zerbrechen. Wie Sen selbst betont, liefert uns dies jedoch keine Rechtfertigung dafür, diese Menschen in solchen Lebenssituationen verharren zu lassen, geschweige denn sie aktiv herbeizuführen. 55 Gerade bei menschlichen Personen wird zudem in der Literatur zu Glück und Gutem Leben stark diskutiert, inwieweit Wahrheit einen Eigenwert besitzt und ein Leben frei von Illusionen einen wichtigen Bestandteil der persönlichen Autonomie ausmacht, der mitunter wichtiger zu bewerten sei als Glücksempfindungen. Ebenso lässt sich diskutieren, ob für einige Personen Täuschungsfreiheit einen höheren Stellenwert einnimmt als oberflächliches unkritisches Glücksgefühl. 56 Hierbei handelt es sich jedoch um eine spezielle Problematik, in der Autonomie und Reflexionen über den eigenen persönlichen Selbstwert eine Rolle spielen. Da ich Tieren weder Autonomiebewusstsein noch Reflexionsfähigkeiten dieses Ausmaßes zutraue, spare ich diese Überlegungen im Folgenden aus. Sofern es Subjektivisten nur darum geht festzuhalten, dass sich getäuschte und indoktrinierte Individuen glücklicher fühlen, und dies bei ausweglosen Lebenslagen das kleinere, weil angenehmere, Übel sein kann, ergeben sich keine substantiellen ethischen Probleme. Wie die obigen Einwände gezeigt haben, geht es bei Fragen des individuellen Wohls und unserer Handlungsverpflichtungen gegenüber anderen
54 Der Ausspruch »Glückliche Sklaven sind die größten Feinde der Freiheit!« baut gerade auf den Hintergedanken auf, dass es die Möglichkeit gibt, die eigene Freiheit zu erkämpfen. 55 Vgl. Sen (1987), S. 45-46. 56 Überlegungen zur Kompensierbarkeit von Glücksempfinden und Wahrheit finden sich u.a. in Haybron (2008), S. 191-193.
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jedoch um mehr als nur die Feststellung, welches Übel relativ betrachtet das kleinere ist. Somit ist der radikale Subjektivismus nicht in der Lage uns ein vollständiges Bild der Wohl-Thematik zu liefern. 1.5.4 Freifahrtschein für Manipulationen? 1.5.4.1 Manipulation aus unlauteren Motiven Der radikale Subjektivismus ist vor allem deshalb besorgniserregend, da er impliziert, man könne überhaupt nicht sinnvoller Weise davon sprechen, dass einem Individuum etwas genommen oder vorenthalten wird, wenn dies nicht auch vom Individuum selbst entsprechend wahrgenommen und beurteilt wird. Damit scheint nun aber sämtlichen Manipulationen hinsichtlich des individuellen Wohls eine carte blanche erteilt zu werden. Ganz gleich, wie eigennützig unsere Motive dabei sein mögen. Hiernach dürfte ich einen Menschen als Sklaven halten, sofern ich ihn gut umsorge und nachdrücklich davon überzeuge, dass er kein besseres Leben als bei mir führen könne und ihm gleichzeitig jegliches Wissen über andere Lebensoptionen bewusst vorenthalte. Oder eben, indem junge Mädchen, wie in Nussbaums Beispiel, bereits frühzeitig entsprechend einer konkreten sozialen Rolle erzogen werden, die sie später ausführen sollen. Selbst wenn es hierbei gelingt, dass sich diese Personen mit ihrer Kräfte zehrenden und entbehrungsreichen Rolle vollständig identifizieren, scheint es sich erstens um eine unglaubwürdige Art von Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation zu handeln. Zweitens wirkt es verstörend, dass wir tatsächlich die Macht darüber besitzen sollten, andere Individuen nicht bloß unseren eigennützigen Plänen zu unterwerfen, sondern uns auch noch selbst die moralische Rechtfertigung hierfür zu erteilen. 57 Solchen Problemen kann der Subjektivismus nur entgehen, indem er nichtaktuale Interessen des Individuums mit einbindet, was jedoch nur schwer möglich scheint. Es geht dem radikalen Subjektivismus darum, was das Individuum selbst wünscht oder fühlt, nicht was es möglicherweise wünschen oder fühlen könnte, oder unter bestimmten Umständen gewünscht oder gefühlt hätte, wenn wir es nicht getäuscht, indoktriniert oder im Unwissen über bestimmte Begebenheiten seiner Lebenssituation und der Außenwelt gelassen hätten. Verschiedene subjektivistische Spielarten versuchen hingegen genau diese Faktoren mit aufzunehmen. Dies gelingt ihnen jedoch nur durch das Hinzunehmen objektiver Standards, durch die sie von einer reinen Orientierung an den subjektiven Einstellungen des Individuums abrü-
57 Offenbar müssten wir nur gerissen genug sein und entsprechende Kenntnisse über Psychologie, Biologie oder andere Wissensbereiche besitzen, die für die Beeinflussung der psychischen und physischen Verfasstheit von Lebewesen von Belang sind.
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cken. Mit dem Hinzunehmen solcher Standards aber müssen Subjektivisten laut David Enoch bereits zugestehen, dass es objektive Wahrheiten darüber geben muss, was gut für ein Individuum ist und was nicht. Warum sonst sollten wir die faktische subjektive Perspektive des Individuums für korrekturbedürftig halten? 58 Wir haben somit Grund zu bezweifeln, dass es beim Wohl des Individuums nur um dessen faktische Zufriedenheit mit dem eigenen Leben gehen kann. 1.5.4.2 Manipulation aus falsch verstandener Verantwortung Das Ausnutzen unserer Einflussmöglichkeiten auf die subjektive Bewertungs- und Wahrnehmungsfähigkeit von Individuen muss aber nicht zwangsläufig aus niederen Motiven geschehen. Solche Manipulationen können theoretisch auch aus ernst gemeinter Fürsorge und Verantwortungsgefühl entspringen – nämlich dann, wenn wir die Lebensumstände, die ein Individuums erduldet oder zu erwarten hat, als so beschwerlich einschätzen, dass wir sein Wohl als ernsthaft bedroht ansehen. Durch entsprechende Manipulation können wir die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Individuum in der Lage sein wird, seine Lebenssituation als gut, oder doch zumindest nicht als schlecht, wahrzunehmen bzw. zu bewerten. Wir befördern damit seine Fähigkeit, mit seiner Lebenssituation zurechtzukommen. Können wir demnach, aus subjektivistischer Perspektive, geradezu verpflichtet sein, die Wohlfähigkeiten anderer zu manipulieren? Gerade wenn es um das Wohl derjenigen geht, zu denen wir besondere Beziehungen besitzen, und damit besonders starke positive Hilfspflichten, 59 scheint aus subjektivistischer Sicht tatsächlich die Manipulation ihrer Wohlfähigkeiten in manchen Fällen gefordert zu sein. Diese Überlegung scheint gerade bei der Konditionierung von Nutztieren zum Tragen zu kommen, wenn Brambell oder UFAW fordern, Tiere möglichst früh an bestimmte einschränkende Haltungsbedingungen zu gewöhnen, um damit ihre Coping-Fähigkeit zu befördern. 60 Wie bereits oben erwähnt, scheinen solche Manipulationen nur dann gerechtfertigt, wenn wir es mit einer Dilemma-Situation zu tun haben. Wir müssten also wirklich nur die Wahl haben, ein Individuum, für dessen Wohl wir uns verantwortlich fühlen, tatenlos seiner beschwerlichen Lebenssituation zu überlassen, oder aber zu manipulieren, wie das Individuum mit dieser Lebenssituation zurechtkommen wird. Solche Dilemma-Situationen scheinen aber extrem selten. In aller Regel gibt es immer Möglichkeiten, die Welt, in der wir leben, und unseren Umgang mit anderen Lebewesen so zu verändern, dass sie von selbst in der Lage sind, ihr Leben
58 Vgl. Enoch (2005), S. 759-787. 59 Zum Zusammenhang von Beziehungen und positiven Pflichten siehe Scheffler (1997), S. 189-209; McMahan (1997), S. 107-138. 60 Vgl. Brambell et al. (1965), S. 13, §36 sowie Nicol (2011), S. 52.
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positiv wahrzunehmen und zu bewerten, ohne dabei auf die Verschleierung von Informationen, auf Konditionierungen oder andere manipulative Kniffe zurückgreifen zu müssen. Es wirkt befremdlich und gefühlskalt, wenn bspw. in Aldous Huxleys Brave New World der Direktor einer Kinderaufzuchtseinrichtung die gezielte Anpassung von Menschen an soziale Rollen und Berufsfelder, die ihnen von politischer Seite vorgegeben werden, als unvermeidbar rechtfertigt. 61 Der Direktor betont dabei, dass diese Anpassung nicht nur dem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand, sondern auch gerade dem subjektiven Wohl der Angepassten diene: »[…] ›that is the secret of happiness and virtue – liking what you’ve got to do. All conditioning aims at that: making people like their unescapable social destiny.‹« 62 [Hervorhebung im Original]
Der radikale Subjektivismus aber kann keinen relevanten Unterschied zwischen der Verbesserung objektiver Lebensbedingungen und dem Anpassen des Individuums erklären. In seiner Fokussierung auf die aktualen faktischen subjektiven mentalen Einstellungen des Individuums bleibt er rein ergebnisorientiert. Es geht ihm nur darum, in welchem Ausmaß das Leben des Individuums subjektiv positiv geprägt ist, nicht auf welchem Weg dies erreicht wird. Es gäbe hiernach also gar keinen Anlass für eine bessere Zukunft zu kämpfen, in der Manipulationen überhaupt nicht erforderlich sind. Und genau dies ist erneut kontraintuitiv. Wenn wir ein ernst gemeintes Interesse am Individuum haben, dessen Wohl gerade auf dem Spiel steht, dann kann es uns nicht einfach egal sein, ob wir die Bedingungen der Außenwelt oder die subjektive Verfasstheit des Individuums verändern. 63 Die Manipulation subjektiver Einstellungen hinterlässt selbst dann, wenn sie notwendig scheint und effizient umgesetzt werden kann, immer noch einen bitteren Nachgeschmack, den der radikale Subjektivismus theoriebedingt leugnen muss.
61 Dort werden bspw. Menschen, die später geistig wenig anspruchsvolle Arbeiten in Industrieanlagen verrichten sollen, bereits als Föten mit weniger Sauerstoff versorgt, um ihre Gehirnentwicklung zu bremsen, und später als Kleinkinder konditioniert, Naturschönheit und Literatur zu verabscheuen. 62 Huxley (1994), S. 31. 63 Auf diesen Umstand macht insb. Bernard Rollin aufmerksam (vgl. Rollin [1995], S. 171176).
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1.5.5 Lebensdauer als Wohl-Aspekt Ich habe zuvor hervorgehoben (II.1.4.2), dass der radikale Subjektivismus, indem er sich nur auf aktuale faktische subjektive mentale Einstellungen bezieht, nicht in der Lage ist, die Tötung von Individuen als Beeinträchtigung ihres Wohls aufzufassen. Und wie ich im I. Hauptteil deutlich gemacht habe, scheinen praxisnahe Vertreter dies in Bezug auf Tiere auch nicht weiter infrage zu stellen. In Bezug auf Menschen jedoch, würde kaum jemand von uns dies akzeptieren. Einem Individuum künftige Lebenszeit zu nehmen, kommt, wie Thomas Nagel betont, einer Beraubung der positiven Erfahrungen und Wunscherfüllungen gleich, die dieses Individuum in der Zukunft erfahren hätte.64 Gerade wenn wir das Wohl von Lebewesen hinsichtlich unserer Handlungsverpflichtungen und Verantwortungsrolle ihnen gegenüber betrachten, scheint es intuitiv eben nicht völlig gleichgültig zu sein, wie viel Lebenszeit ihnen bleibt, dieses Wohl genießen zu können. So betont Bernd Ladwig, dass es intuitiv nicht nur gut für ein Lebewesen ist, einen Moment genießen zu können, sondern ebenfalls, eine lange statt einer sehr kurzen Zeitspanne zum sammeln positiver Erfahrungen zur Verfügung zu haben.65 Damit zeigt sich eine weitere schwerwiegende Lücke, die der Subjektivismus, nicht ohne ein Abrücken von seinem subjektivistischen Fokus füllen zu können scheint. 66 1.5.6 Die (Un-)Möglichkeit von Fehlurteilen Die Beurteilung des individuellen Wohls allein in die Hände, oder besser den Geist, des betroffenen Individuums zu legen, besitzt eine besondere Attraktivität, die von Subjektivisten betont wird: den Schutz des Individuums vor paternalistischen Beurteilungen durch Außenstehende. Diese nämlich übergehen nach Meinung von Subjektivisten die subjektive Perspektive des betroffenen Individuums. 67 Welche Entscheidungen ein Individuum für sein Leben trifft, welche Wünsche es ausbildet und verfolgt, und welche Prioritäten es hinsichtlich seines eigenen Wohls setzt, ist dem radikalen Subjektivismus nach nicht hinterfragbar. Solange ein Individuum sich an seine eigenen Überzeugungen und Wahrnehmungen hält, kann es keine Fehlentscheidungen treffen, falsche Ziele verfolgen oder sich hinsichtlich seines Wohls
64 Vgl. Nagel (1970), S. 73-80. 65 Vgl. Ladwig (2014), S. 31. 66 Was nicht heißt, dass es keine solchen Versuche gibt. Subjektivistische Ansätze können mit Idealisierungskriterien arbeiten. Diese Ansätze unterscheiden sich aber bereits deutlich von dem radikalen Subjektivismus und binden objektivistische Elemente mit ein, wie ich II.2. verdeutliche. 67 Vgl. Sumner (1996), S. 163-164.
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täuschen. Außer seinen eigenen subjektiven Urteilen werden keinerlei sonstige Bewertungsmaßstäbe als relevant zugelassen. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass diese Grundhaltung für sämtliche Lebenssituationen gleichermaßen überzeugend ist. Können wir wirklich immer davon ausgehen, dass eine Person keine irrationalen Wünsche und Prioritäten haben kann, dass sie sich niemals darüber irrt, was ihr eigenes Wohl am besten befördert? Der Subjektivismus bestreitet nicht, dass die Welt anders beschaffen sein kann, als sie dem Individuum erscheint. Er bestreitet lediglich, dass dies für dessen Wohl von Belang ist. Warum aber sollten wir diese Annahme akzeptieren? Ein Individuum kann, wie ein Subjektivist selbst zugeben kann, seine Lebensumstände als rosiger auffassen, als sie in Wahrheit sind. Ebenso kann ein Individuum seine gegenwärtige Situation und seine Zukunft düsterer zeichnen, als rational gerechtfertigt ist. Bspw. kann ein frustrierter Teenager unter schwerem Liebeskummer fest davon überzeugt ist, dass seine Zukunft nichts als Trübsal enthalten wird und sich daher nach dem Tod sehnen. Haben wir in solchen Fällen tatsächlich keinen Grund, diese subjektiven Einschätzungen infrage zu stellen oder zu versuchen, dieses subjektive Urteil zu korrigieren? Gerade wenn es um unsere Verantwortung für andere geht, können wir es uns nicht leisten, die Einschätzungen des betroffenen Individuums als einzigen Bezugspunkt zu nehmen und uns jeglichen Gegenurteils zu enthalten. 68 Wir müssen nicht alle Prioritäten und Vorlieben einer Person teilen. Wenn wir jedoch Grund zur Annahme haben, dass unser Gegenüber seine Umwelt und seine eigene Lebenssituation stark verzerrt wahrnimmt, können wir nicht einfach untätig daneben stehen, wenn er dabei ist, diesen Fehleinschätzungen folgend fehlgeleitete Entscheidungen zu treffen – z.B. das eigene Leben vorschnell wegzuwerfen. 1.5.7 Wohl vs. Selbstbestimmung Über meine bisherige Argumentation hinaus ergibt sich die Frage, ob es Individuen nicht auch zugestanden werden kann und sollte, Entscheidungen über ihre Lebensführung zu treffen, Wünsche zu entwickeln, und Handlungen auszuüben, die ihr eigenes Wohl beeinträchtigen. Dies genau scheint der radikale Subjektivismus jedoch konzeptionell unmöglich zu machen. Ihm zufolge kann ein Individuum, das seinen subjektiven Einstellungen folgt sich nicht irren, es kann seinem Wohl nicht
68 Parfit dagegen argumentiert, dass stark frustrierte Menschen sich nicht einfach nur darüber irren, was ihrem Wohl zuträglich ist, sondern ihrem Wohl als solchem keinen hohen Wert mehr beimessen (vgl. Parfit [2011], S. 76). M.E. erklärt sich die Aufgabe jeglicher Sorge um das eigene Wohl jedoch eher dadurch, dass der eigene gegenwärtige Wohlzustand ohnehin bereits sehr negativ aufgefasst wird und auch auf die Zukunft gerichtet wenig hoffnungsvoll bleibt.
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schaden. Die genannten Gedankenexperimente sprechen jedoch gegen diese Annahme. Ich habe dafür plädiert, die Berücksichtigung des Wohls eines Individuums als Rücksichtnahme auf das Individuum selbst und nicht auf seinen Wohlzustand zu verstehen. Indem wir ihm ein Selbstbestimmungsrecht über das eigene Wohl zugestehen, räumen wir damit ein, dass Rücksichtnahme mehr bedeutet als nur Berücksichtigung des Wohls. Wenn ich mich dazu entscheide, ein Individuum bestimmte Lebenspläne ausleben zu lassen, von deren Schädlichkeit ich weiß, dann messe ich seinem Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben höheren Stellenwert bei als seinem Wohl. 69 Wie genau Wohl und Selbstbestimmungsrecht gegeneinander zu gewichten sind, stellt eine eigene komplexe Frage dar, die ich im Rahmen dieser Untersuchung ausklammere. Es scheint jedoch bereits eine Rolle zu spielen, wie viel Kompetenz zur Selbstbestimmung wir einem Individuum zuschreiben. So dürften die meisten von uns erwachsenen menschlichen Personen mehr an Fehlentscheidungen zugestehen als bspw. Kindern, insbesondere wenn wir für diese besondere Verantwortungspflichten besitzen. Daher ist es fraglich, inwieweit diese Überlegungen auf die Lebensführung von Tieren übertragen werden können. Vor allem aber gibt uns die Betonung eines Rechts auf Fehlentscheidungen keine Rechtfertigung uns die Irrtümer, Sozialisation oder Unwissenheit anderer zunutze zu machen. Es wäre zynisch, die Leichtgläubigkeit einer Person für unsere Zwecke auszunutzen und dann darauf zu verweisen, es wäre gerade ein Gebot des Respekts vor ihrer Selbstbestimmung, sie von ihren Fehlentscheidungen nicht abzuhalten. Dies würde weder einer Berücksichtigung des Wohls noch eines Selbstbestimmungsrechts um des betroffenen Individuums willen gerecht werden.
1.6 ABSCHLUSSKRITIK AM SUBJEKTIVISMUS Der Subjektivismus erhält seine Attraktivität aus dem direkten Bezug auf die subjektive Perspektive des betroffenen Individuums. Letztendlich führt er jedoch zu einer Überbetonung des subjektiven Glücksempfindens und unterschlägt dabei intuitiv wichtige Aspekte des Wohls. Wenn wir das Wohl eines anderen befördern wollen, dann darf uns nicht nur interessieren, ob das betroffene Individuum sich
69 Hiervon zu unterscheiden sind Fälle, in denen wir Menschen, um deren Wohl wir besorgt sind, absichtlich Fehler begehen und leidvolle Erfahrungen sammeln lassen mit dem Hintergedanken, dass sie aus ihnen lernen und damit langfristig ihr Wohl befördern.
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wohl fühlt oder seine faktisch ausgebildeten Wünsche erfüllt sind. 70 Auch die objektive Lebenssituation scheint von Bedeutung. Insbesondere kann die körperliche und psychische Belastbarkeit von Individuen nicht einfach bedenkenlos zum Vorteil anderer ausgenutzt bzw. ausgereizt werden. Dadurch verliert der Subjektivismus die anfängliche Attraktivität und wirkt zunehmend befremdlich. Eine ernst gemeinte Berücksichtigung des Wohls von Individuen muss sich als Berücksichtigung um des betroffenen Individuums selbst verstehen, d.h. seine Wohlvorstellungen und -urteile dürfen nicht zum Wohle anderer modifiziert werden. Eine Wohlkonzeption, die allein darauf fokussiert ist, wie das betroffene Individuum sein Wohl de facto einschätzt, kann solche Überlegungen jedoch nicht aufnehmen. Selbst wenn wir dem Individuum ein Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich seiner Lebensführung und Prioritätensetzung zugestehen, müssen wir nicht im selben Atemzug annehmen, dass das betreffende Individuum selbst immer am besten weiß, was gut für sein Wohl ist und wie besorgniserregend oder zufriedenstellend seine Lebenssituation ist. Verantwortungsbeziehungen können es zudem gerade erfordern, uns korrigierend und schützend in die Bewertungsperspektive des betroffenen Individuums einzumischen. Ich wende mich daher im nächsten Kapitel dem Objektivismus als Konkurrenzentwurf zu, der gerade die tatsächlichen Welt- und Lebensumstände betont, die der Subjektivismus übergeht.
70 Dies berührt gleich zwei Problematiken. Erstens, ob die Ausbildung dieser Wünsche bereits Folge einer Manipulation war. Zweitens, ob das Individuum seine Wünsche als erfüllt ansieht, obwohl die betreffenden Weltzustände gar nicht eingetreten sind.
2
Der objektivistische Wohlbegriff
Aufgrund der im letzten Kapitel diskutierten Probleme subjektivistischer Wohlkonzeptionen, scheint eine Suche nach alternativen Entwürfen dringend angeraten. Es bietet sich somit an, die Gegenseite näher zu betrachten, von der die schärfste Kritik am Wohl-Subjektivismus ausgeht: den Wohl-Objektivismus. Ich werde in diesem Kapitel untersuchen, welche wichtigen Aspekte des Wohl-Begriffs er beleuchtet, selbst wenn auch er m.E. nicht vollständig überzeugen kann. Die Betrachtung objektivistischer Ansätze ist unter anderem deshalb aufschlussreich, da innerhalb der Nutztierwissenschaften der Subjektivismus eine klare Dominanzrolle einnimmt. Wie im Folgenden deutlich werden wird, muss ein objektivistischer Ansatz behaupten, dass bspw. Schmerz, Hunger, Angst und Krankheit dem Wohl eines Tiers deshalb abträglich sind, weil es sich um intrinsisch negative Phänomene handelt, es also schlecht ist, wenn ein Leben sie enthält. Dass sie für das betroffene Tier leidvoll sind, spielt dabei, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Eine solche Position scheint nach meiner Literaturrecherche kein etablierter Ansatz innerhalb der Nutztierwissenschaften zu vertreten, so dass sich hierdurch die Tierwohldiskussion entscheidend erweitern lässt. 1 Wie schon im vorherigen Kapitel, werde ich zunächst von meinem Kernthema, dem Tierwohl, vorübergehend Abstand nehmen und mich der Wohldiskussion im Allgemeinen widmen, die in der Regel auf das Wohl menschlicher Personen fixiert ist und die Übertragbarkeit auf Tiere in II.4 gesondert begründen. Ich behalte mir
1
Selbst der Tiergerechtheitsindex (TGI) von Bartussek, der sich auf objektive Tatsachen der Tierhaltung konzentriert (Stallaufbau, Platzangebot, Futterzusammensetzung, etc.) begründet deren Relevanz letztendlich wieder damit, dass ein Tier sich mit bestimmten Ressourcen besser fühlt als mit anderen. Er argumentiert explizit, dass Mängel in einer Ressourcenkomponente durch Boni in einer anderen ausgeglichen werden können – und zwar nicht, weil objektive Werte sich miteinander verrechnen, sondern weil Tiere die Fähigkeit besäßen, Mängel durch Ausgleich in anderen bereichen zu kompensieren (vgl. Bartussek [1995a]; Bartussek [1995b]; Bartussek [1996a]; Bartussek [1996b]).
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dennoch vor, bereits hier an einigen Stellen auf objektivistische Schlussfolgerungen für das Tierwohl einzugehen, um zu verdeutlichen, welche Konsequenzen ein radikaler Objektivismus hat, wenn er auf das tägliche Leben von Menschen oder von Tieren angewandt wird.
2.1 GRUNDINTUITIONEN DES OBJEKTIVISMUS Objektivistische Wohlansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Orientierung an den subjektiven mentalen Einstellungen des Individuums infrage stellen, für die der Subjektivismus eintritt. Was gut für ein Individuum ist, könne und müsse unabhängig von der subjektiven Perspektive des betroffenen Individuums bestimmt werden. Objektivistische Theorien können dabei unterschiedlich radikal sein. Sie können subjektive Empfindungen, Urteile und Wünsche entweder als gänzlich irrelevant deklarieren, oder aber ihnen zumindest einen stark begrenzten Einfluss auf das Wohl zuschreiben. 2 2.1.1 Die Annahme subjektunabhängiger Werte Der Objektivismus besagt, dass etwas sehr wohl gut für mich sein kann, auch wenn ich es mir nicht bewusst wünsche, 3 vielleicht sogar selbst dann, wenn ich es ganz entschieden nicht wünsche (je nachdem wie radikal die Theorie gefasst wird). Dahinter steht die Grundannahme, dass es objektive Werte gibt – Dinge, die schlicht und ergreifend gut oder schlecht für ein Individuum sind, unabhängig davon, welchen Wert das Individuum von sich aus diesen Dingen zuschreibt. 4 Zu bestimmen, warum Gegenstände oder Zustände solchen Wert besitzen, stellt eine der Hauptschwierigkeiten objektivistischer Anätze dar. Zumindest lässt sich nicht leugnen, dass für viele Menschen bestimmte Dinge intuitiv für unser Wohl unerlässlich sind. So könnte bspw. argumentiert werden, dass Freundschaften unser Leben bereichern, selbst bei Menschen, die ihrem Sozialleben keine hohe Priorität einräumen. Gerade solchen Menschen, so ließe sich objektivistisch argumentieren, fehlt etwas Entscheidendes in ihrem Leben. Sie mögen aus ihrer subjektiven Perspektive betrachtet zwar glücklich sein, es ist aber deshalb nicht automatisch auch gut für sie, so zu leben. Ein weiteres oft genanntes Beispiel ist die menschliche Freiheit. So beneiden wir einen glücklichen Sklaven nicht um seine Lebenszufriedenheit. Vielmehr verstört es uns, dass dieser Mensch ein für ihn doch so schlechtes
2
Vgl. Steinfath (2011), S. 300.
3
Vgl. Schaber (1998), S. 162.
4
Vgl. Steinfath (1998a), S. 20.
Der objektivistische Wohlbegriff | 145
Leben führt und dies obendrein noch nicht einmal einzusehen vermag. Unsere subjektiven Einstellungen bestimmen demnach nicht (allein), was gut für uns ist. So wird dem Subjektivismus vorgeworfen, lediglich zu beschreiben, welche Dinge Individuen in concreto wertschätzen. Es sollte aber, so der Objektivismus, darum gehen, was wir wertschätzen sollten, eben weil es von Wert ist. 5 2.1.2 Die Bedeutung von Authentizität Hinzu kommt eine weitere wichtige Grundannahme. Es reicht nicht allein aus, dass unsere Empfindungen, Urteile und Wünsche sich auf objektiv Wertvolles richten. Es ist ebenfalls wichtig, dass unser Leben diese objektiv wertvollen Gegenstände oder Zustände auch tatsächlich enthält. Selbst ein Mensch, der erkennt, wie wichtig Freunde sind, führe nur dann ein prudentiell gutes Leben, wenn er auch tatsächlich Freunde hat (wie Griffins Schauspieler-Beispiel verdeutlicht). 6 Ebenso scheint es unzureichend, wenn ein glücklicher Sklave uns beteuert, die eigene Freiheit zu lieben, jedoch unerschütterlich davon überzeugt ist, bereits frei zu sein. Der Objektivismus trifft damit Aussagen über die Relevanz von Weltzuständen. 7 Ein Leben muss, um wirklich gut für ein Individuum zu sein, objektiv wertvolle Dinge tatsächlich enthalten – unabhängig davon, ob das Individuum sie für wertvoll hält und unabhängig davon ob es selbst glaubt, sie seien in seinem Leben bereits vorhanden. Was der Objektivismus damit zuvorderst kritisiert, ist die Fixierung des Subjektivismus auf das Wohlgefühl des Individuums. Die Annahme, dass nur das, was sich im Kopf des Individuums abspielt von Belang sei. Der Objektivismus stützt sich dabei auf die Intuition, dass die Leben zweier Individuen unterschiedlich gut für sie sein können, selbst wenn sich beide Individuen in vergleichbarem Maß wohl fühlen. Nämlich dann, wenn beide Individuen zwar gleichermaßen glücklich sind, aber nur das Leben des einen Individuums zusätzlich auch die von ihm wertgeschätzten Dinge tatsächlich enthält. So formuliert bspw. Scanlon: »It makes sense to say that the life of a person who is contented and happy only because he is systematically deceived about what his life is really like is for that reason a worse life, for him, than a life would be that was similarly happy where this happiness was based on true beliefs. To take the standard example, it makes sense to say that the life of a person who is happy only because he does not know that the people whom he regards as devoted friends are
5
Vgl. Parfit (2011), S. 63.
6
Vgl. Griffin (1986), S. 9.
7
Vgl. Sumner (1996), S. 82ff.
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in fact artful deceivers is worse, for the person who lives it, than a similar life in which the person is made happy by true friends.« 8
Auch Nozicks Gedankenexperiment der Erfahrungsmaschine, die auf virtueller Ebene Glück verschafft, bestärkt diese Intuition. 9 Zumindest scheint es nicht unmittelbar einleuchtend, dass es überhaupt keinen Unterschied machen sollte, ob sich unser Glück auf Dinge stützt, die wir tatsächlich erlebt haben oder auf Dinge, die uns als reine Simulationen begegnet sind. Wie bereits im vorherigen Kapitel angesprochen, weist Seel daraufhin, dass das Gefühl von Wunschbefriedigung (bzw. mit dem eigenen Leben zufrieden zu sein) nicht das unmittelbare Ziel unseres Handelns darstellt. Es geht uns nicht allein darum diesen Gefühlszustand zu erreichen, sondern auch um den Prozess, der zu seinem Erreichen führt. Wer dies bestreitet, müsste tatsächlich annehmen, dass nichts, was wir in unserem Leben tun und niemand, mit dem wir interagieren, für sich genommen von Wert ist, sondern beides allein instrumentell dazu dient, uns bestimmte mentale Zustände erreichen zu helfen. Es mag sicherlich sein, dass einige Menschen in ihrer Lebensführung darauf fixiert sind, ein Gefühl von Erfüllung, Bedeutsamkeit und Zufriedenheit zu erlangen, und dabei keiner ihrer Handlungen oder Lebensinhalte einen eigenständigen Wert beimessen, sondern sich lediglich davon versprechen, ihrem angestrebten Glücksgefühl näher zu kommen. Menschen können sich so verhalten. Das scheint aber nicht die Art von Leben zu sein, die wir als wirklich gut für sie erachten. Und oftmals scheint eine solche Fixiertheit auch nicht zum Ziel zu führen. Etwa wenn wir einen anderen Menschen nicht um seiner selbst willen schätzen, sondern nur mit ihm zusammen sind, um nicht einsam zu sein. Wenn wir überstürzt Familien gründen, nur weil Kinder als Indikator für ein erfülltes Leben gelten, ohne uns mit unserer Elternrolle vorher auseinanderzusetzen. Wenn wir Dinge tun, um ein Gefühl der Leere in uns auszufüllen. Solange wir uns nur auf geistige Zustände wie Erfülltheit und innere Ruhe konzentrieren, ohne auf den damit zusammenhängenden Prozess zu achten, bleibt uns der Erfolg versagt. Wir streben, so Seel, nach unserem Glück in bestimmten Tätigkeiten. 10 Sobald wir nicht auf den Weg achten, der zu unserem Glück führt, oder versuchen Abkürzungen zu nehmen, verfehlen wir das Ziel. 11 Es macht schlicht und ergreifend einen Unterschied, ob ich mir einen Menschen als
8
Scanlon (1998), S. 112.
9
Vgl. Nozick (1974), S. 42.
10 Vgl. Seel (1998), S. 292-293. 11 Ähnlich betont auch Raz, dass wir nur dann unser Wohl erfolgreich befördern, wenn wir uns nicht auf dessen direkte Beförderung verkrampfen: »It may appear that while wellbeing can be achieved only if not aimed at, it is the inevitable result of all successful actions.« (Raz [2004], S. 281).
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Partner wähle, weil ich ihn selbst schätze, oder weil ich mir eine Lebensbereicherung von ihm verspreche. Ebenso macht es einen Unterschied ob dieser Partner tatsächlich existiert, oder ob mir auf virtueller Ebene simuliert wird, diesen Menschen in meinem Leben zu haben und von ihm geliebt zu werden. So betont auch Susan Wolf, es ginge uns nicht einfach nur darum, dass sich unser Leben auf eine bestimmte Weise für uns anfühlen soll. Es soll auf eine bestimmte Weise beschaffen sein. 12 2.1.3 Die begrenzte Rolle subjektiver mentaler Einstellungen Objektivisten müssen dabei nicht bestreiten, dass ein Leben, das durch Irrtümer, Manipulationen oder Illusionen geprägt ist, ein glückliches sein kann. Objektivisten ziehen damit eine scharfe Trennung zwischen dem Glücksgefühl und dem Wohl des Individuums. 13 Ebenso wenig müssen Objektivisten den subjektiven mentalen Einstellungen des Individuums jegliche Relevanz absprechen. Jedoch weisen sie, wie ich erläutern werde, in jedem Fall diesen Einstellungen eine andere Funktion und Bedeutung zu, als es der Subjektivismus einfordert. 2.1.3.1 Subjektive Einstellungen als instrumentell wertvoller Faktor Objektivisten müssen keinesfalls behaupten es sei sinnlos, sich mit den subjektiven Empfindungen, Urteilen und Wünschen von Individuen zu beschäftigen. Ebenso wenig müssen sie behaupten, dass ein Individuum um ein Leben zu führen, das seinem Wohl zuträglich ist, seine eigene subjektive Perspektive am besten völlig ignorieren sollte. Subjektive Einstellungen können dem Objektivismus nach immer noch instrumentellen Wert besitzen, indem sie objektive Werte erschließen helfen. Und das ist ein entscheidender Unterschied zum Subjektivismus. Subjektivisten behaupten nicht bloß, dass unsere subjektiven Wünsche und Gefühle uns auf der Suche nach Wertvollem anleiten. Sie behaupten, dass unsere subjektiven Einstellungen den Dingen in der Welt überhaupt erst Wert verleihen, und zwar nur für das Individuum, welches diesen konkreten Dingen faktisch einen solchen Wert zuspricht. 14 Für Objektivisten sind diese Werte jedoch immer schon gegeben und gelten subjektübergreifend. 15 Gleichzeitig müssen Objektivisten erklären, warum dann
12 Vgl. Wolf (2010), S. 32. 13 Vgl. Birnbacher (2005), S. 6 sowie Steinfath (2011), S. 300. 14 Vgl. Steinfath (1998a), S. 20ff. 15 Laut Parfit stellen subjektive mentale Einstellungen zunächst einmal nur psychologische Aussagen darüber dar, was wir faktisch wählen. Beim Wohl ginge es jedoch um normative Aussagen, also darum was wir wählen sollten (vgl. Parfit [2011], S. 63). In diesem
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Menschen völlig unterschiedlichen Dingen Wert zuschreiben und stark voneinander abweichende Prioritäten in ihrem Leben ausbilden. Ebenso fällt es offenbar einigen Menschen leichter, ein erfülltes Leben zu führen, während andere drastische Fehlentscheidungen treffen. Objektivisten können sich verteidigen, indem sie einräumen, dass unsere Wahrnehmungen verzerrt sein können und unsere Urteile fremdbeeinflusst. 16 Es muss nicht behauptet werden, dass der objektive Wert eines Guts 17 sich unseren Sinnen und Überlegungen geradezu aufdrängt. Unsere subjektiven Einstellungen stellen keine Antenne dar, die den Wert eines Guts zielsicher empfängt. Unsere Empfindungen, Urteile und Wünsche müssen nicht als exakte Hilfsmittel beim Erschließen von Werten angenommen werden. Jedoch sind sie, in Ermangelung eines instinktiven »sechsten Sinns«, die einzigen Hilfsmittel, die wir haben. Wir sind somit auf sie angewiesen, und müssen ihrer Fehleranfälligkeit dadurch Rechnung tragen, dass wir versuchen Störeinflüsse zu beheben. So meinen Objektivisten bspw., dass nicht alle faktischen Wünsche eines Individuums Werte erschließen helfen, sondern nur die, die es ausbildet, wenn es wohl informiert ist (also frei von Täuschungen und Fehlannahmen) und wenn seine Wertvorstellungen nicht offensichtlich das Ergebnis von Fremdeinflüssen sind (also frei von Manipulationen). 18 Für den Objektivismus sind solche »idealisierten« subjektiven Einstellungen deshalb handlungsanleitend, weil sie objektive Werte verlässlicher erkennen lassen. Der Objektivismus besagt: Weil etwas Wert besitzt, ist es zu wählen. Der Subjektivismus hingegen sagt: Weil etwas gewählt wird, besitzt es Wert. 19 Somit argumentiert ein Objektivist, dass Werte, oder zumindest Wertannahmen, unseren Wünschen und Urteilen vorgeschaltet sein müssen. Parfit zufolge, wählen wir bestimmte Gegenstände oder Zustände nicht einfach spontan um ihrer selbst willen, sondern weil wir ihnen bereits im Vorfeld einen bestimmten Wert beimessen. 20 Wir streben nur das an, wovon wir bereits denken, dass es sich anzustreben lohnt. 21
Sinne identifizieren Subjektivisten beide Seiten miteinander, so dass Faktizität Normativität generiert. Damit ließe sich dem Subjektivismus ein Sein-Sollen-Fehlschluss unterstellen. 16 Vgl. Schaber (1998), S. 164. 17 Hier zu verstehen als Gegenstand oder Zustand von positivem Wert. 18 Wie ich in Kap. II.3 erläutern werde, tritt interessanterweise Sumner für genau solche Kriterien ein, um den Subjektivismus in abgewandelter Form zu retten (vgl. Sumner [1996], S. 139ff, 160ff). 19 Vgl. Parfit (1984), S. 499 sowie Enoch (2005), S. 762-764. Enoch bezeichnet diese Grundunterscheidung beider Theoriefamilien als den »Euthyphron-Kontrast«. 20 Vgl. Parfit (2011), S. 53-54. Ähnlich auch Scanlon (1998), S. 115-118. 21 Vgl. ebd., S. 119.
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2.1.3.2 Subjektive Einstellungen als intrinsisch wertvoller Faktor Einige Varianten des Objektivismus rechnen den subjektiven Empfindungen, Urteilen und Wünschen des Individuums aber auch einen eigenständigen intrinsischen Wert zu. Tatsächlich ist es unglaubhaft zu behaupten, dass es einer Person automatisch gut geht, sobald ihr Leben zentrale Güter enthält, selbst wenn sich die Person an diesen Gütern nicht subjektiv erfreuen kann, sondern zutiefst unglücklich ist. Wie sollte es dem Wohl einer Person zuträglich sein, von aufopfernden Freunden umgeben zu sein und keine materiellen Nöte zu leiden, wenn diese Person zugleich so paranoid ist, dass sie der Aufrichtigkeit der Freunde insgeheim misstraut und ständig in Sorge lebt ihr Reichtum könnte jeden Moment in Ruin umschlagen? Zu behaupten, ein solches Leben sei gut für die Person, weil es ihr objektiv an nichts mangelt, und ihre Unzufriedenheit spiele keine Rolle, wirkt weltfremd und zeugt auch nicht von sonderlich viel Anteilnahme. So borniert müssen Objektivisten jedoch nicht sein. Sie können argumentieren, dass einer Person, deren Leben eine Fülle an objektiven Gütern enthält, eben doch noch etwas Wichtiges fehlt: nämlich die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. So schreibt bspw. Schaber: »Es mag zwar sein, daß – wie wir oben gesagt haben – subjektives Wohlbefinden nicht das einzige Gut ist, es ist aber ohne Zweifel ein objektives Gut. Wenn sich jemand schlecht fühlt, wird uns deshalb die objektive Theorie auch nicht den Schluß aufdrängen, er lebe trotzdem ein gutes Leben.« 22
Freunde zu haben ist hiernach weiterhin objektiv wertvoll und bereichernd, ganz gleich was unsere subjektiven Einstellungen dazu faktisch sein mögen. Das Glücksgefühl, das Freundschaft verleiht, komme aber als zusätzliches eigenständiges Gut hinzu. Je nachdem wie radikal eine objektivistische Theorie formuliert wird, kann es sein, dass dieser zusätzliche Faktor entscheidend dafür ist, wie sehr eine Freundschaft mein Leben bereichert. Es könnte immer noch argumentiert werden, dass ein Mensch, der gar nicht weiß, dass jemand hin und wieder an ihn denkt, doch ein besseres Leben habe als jemand, dessen Einsamkeit nicht nur Einbildung, sondern bittere Realität ist. Objektivisten bestreiten hierbei nicht, dass rein subjektiv betrachtet dies keinen Unterschied macht. Sie betonen hingegen, dass die subjektive Perspektive nicht (alles) ist, was zählt.
22 Schaber (1998), S. 166.
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2.1.4 Kritisierbarkeit subjektiver Wertannahmen und Prioritätssetzungen Der Objektivismus orientiert sich an der weit verbreiteten Überzeugung, dass die Art und Weise, wie jemand sein Leben führt und selbst bewertet, durch Außenstehende hinterfragbar und kritisierbar ist. Es wäre zu einfach, die Besorgnis an der Lebensführung und den Prioritätssetzungen anderer ausnahmslos als paternalistische Einmischung in deren Leben abzuwerten – wie der Subjektivismus anmuten lässt. 23 Auch wenn wir die Haltungen, Vorlieben und Gefühle anderer respektieren, lassen sich Situationen benennen, in denen wir glauben, dass sich unser Gegenüber hinsichtlich dessen, was gut für ihn ist, oder wie es derzeit um sein Wohl bestellt ist, irrt. So formuliert etwa Steinfath: »Ob das Leben, das jemand lebt, gut für ihn ist, scheint sich dagegen nicht ebenso offensichtlich ganz an seinen eigenen Empfindungen und Einschätzungen zu bemessen, sondern Spielraum für stärker externe Faktoren zu lassen, in deren Licht die subjektiven Bewertungen der betroffenen Person unzulänglich erscheinen können.« 24
Inwieweit unsere Einstellungen sich verteidigen lassen, hängt dem Objektivismus nach davon ab, wie adäquat wir den Wert der Dinge um uns herum erfassen. Wir schaden unserem eigenen Wohl, wenn wir Dinge vernachlässigen, die von großem Wert sind – etwa soziale Beziehungen. Ebenso handeln wir unserem eigenen Wohl zuwider, wenn wir Dingen mehr Bedeutung beimessen, als sie objektiv verdienen – z.B. wenn wir bereit sind, langjährige Freundschaften kurzzeitigen Interessen zu opfern. Was uns anleiten sollte, so der Objektivismus, sind objektive Gründe und diese leiten sich aus dem Wert ab, den ein Gut besitzt. 25 Und je höher der Wert eines Guts ist, umso mehr Grund haben wir, ihm Priorität einzuräumen. 26 Die Hierarchisierung unterschiedlicher Gegenstände und Zustände stellt eine eigene Problematik dar, auf die ich hier nicht eingehen kann. Subjektivisten hingegen ermitteln die Prioritäten von Gütern und Handlungen für das Individuum anhand empirischer Untersuchungen (bspw. Economic-Demand-Methoden, bei denen getestet wird, wie viel ein Tier an Anstrengung zu
23 Vgl. Seel (1998), S. 290. 24 Steinfath (2011), S. 297. 25 Was nicht heißt, dass wir alles anzustreben bräuchten, was einen solchen Wert besitzt. Selbst wenn es an sich wertvoll ist, ein Musikinstrument zu erlernen, so handle ich nicht grundlos, wenn ich stattdessen mich der Malerei zuwende, solange ich nicht »wertvolle« Tätigkeiten zugunsten »wertloser« vernachlässige. 26 Vgl. Parfit (2011), S. 46.
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leisten bereit ist, um bestimmte Verhaltensbedürfnisse auszuüben 27). Diese, gerade in der Nutztierwissenschaft favorisierten Methoden, sehen Objektivisten als fehlgeleitet an. Hiermit könnten lediglich Aussagen über den psychologischen Zustand des Individuums getroffen werden. Damit ist zunächst einmal nur die Handlungsmotivation des Individuums beleuchtet. Es sei aber noch nicht gezeigt, dass das Individuum auch überzeugende Handlungsgründe besitzt. 28 Dem Wohl förderlich ist dem Objektivismus nach nur das, was wir Grund haben anzustreben. Das kann kontingenterweise auch gleichzeitig derselbe Gegenstand oder Zustand sein, der uns auch motiviert, dies muss aber nicht automatisch der Fall sein. Und schon gar nicht, so der Objektivismus, liefert uns eine subjektive Motivation bereits einen objektiven Grund. 29 Diese Trennung von Motivation und Gründen lässt sich laut Enoch untermauern, indem wir uns einen Menschen vorstellen, der einen bestimmten Gegenstand wertschätzt, jedoch falsche Vorstellungen von ihm hat. Etwa eine Person, die ein Glas vor sich austrinken möchte, im Glauben es sei mit Gin gefüllt. 30 Wenn diese Person darüber aufgeklärt wird, dass dieses Glas in Wirklichkeit Benzin enthält, ändert sich voraussichtlicher Weise schlagartig ihre Motivation, dieses Glas auszutrinken. Laut Enoch haben sich dabei aber nicht die Gründe dieser Person geändert hätten. Es gab schon vorher keinen objektiv gültigen Grund für diese Person, das Glas auszutrinken. Geändert hat sich lediglich, dass die Person nun das Fehlen eines Grundes einsieht. 31 Und tatsächlich wäre es mit Sicherheit dem Wohl der Person abträglich gewesen, ein Glas voll Benzin zu sich zu nehmen. Dies scheint für die objektivistische Grundhaltung zu sprechen, das Wohl eines Individuums an Werturteilen festzumachen, die sich vor Außenstehenden begründen und verteidigen lassen.
27 Vgl. Bracke/Hopster (2006), S. 81-83 sowie Nicol (2011), S. 39-46. 28 Vgl. Enoch (2005), S. 768 FN 21. 29 Vgl. Parfit (2011), S.46. 30 Vgl. Enoch (2005), S. 769. Er bedient sich hierbei eines bekannten Beispiels von Bernard Williams. 31 Vgl. ebd., S. 769.
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2.2 ATTRAKTIVITÄT DES OBJEKTIVISMUS 2.2.1 Abhilfe für zentrale Probleme des Subjektivismus Die offensichtlichen Stärken objektivistischer Theorien bestehen darin, den Schwachpunkten subjektivistischer Theorien etwas entgegensetzen zu können. Indem das Wohl des Individuums von dessen subjektiver Perspektive entkoppelt wird, lassen sich Manipulationen, Täuschungen und ungebremstes Ausnutzen der Belastbarkeits- und Anpassungsgrenzen von Individuen als moralisch fragwürdig kritisieren. Die Grundlage dieser Kritik besteht eben darin, dass ein Individuum geschädigt werden kann, ohne dass es von dieser Schädigung weiß, bzw. selbst wenn es die Art, wie mit ihm umgegangen wird und wie sein Leben verläuft, nicht als schädigend auffasst. Es sind uns einfach zu viele Alltagsbeispiele bekannt, in denen Menschen einander austricksen, hintergehen und manipulieren. Dass ihre Opfer dabei in einigen Fällen niemals selbst erfahren oder kritisieren, wie mit ihnen umgegangen wird, genügt für die meisten von uns jedoch nicht, um solches Verhalten zu rechtfertigen. Mehr noch, wir wären dem rein subjektivistischen Bild nach nicht einmal in der Lage, diejenigen, die Manipulation, Täuschung und Ausnutzung erfahren, als »Opfer« zu bezeichnen, denn dieser Begriff impliziert bereits eine erlittene Schädigung. Sofern wir nicht die Möglichkeit aus der Hand geben wollen, die zuvor beschriebenen Fälle kritisieren zu können und einen anderen Umgang miteinander zu fordern, scheint es unabdingbar, die Konzeption des Wohls eines Individuums von dessen subjektiver Perspektive zu lösen. Subjektive Urteile und Wünsche müssen als hinterfragbar und kritisierbar angenommen werden. Diese Notwendigkeit scheinen auch diverse Subjektivisten zu erkennen. So existieren einige Varianten, in denen zugestanden wird, dass Akteure Fehlentscheidungen hinsichtlich der Beförderung ihres Wohls treffen können, wenn sie sich blind auf ihre subjektive Perspektive verlassen. 32 Subjektive Einstellungen benötigen hiernach kritische Prüfung, was auch beinhalten kann, die Meinungen Außenstehender als Prüfstein hinzuzuziehen. Überzeugte Objektivisten glauben jedoch, dass solche Zugeständnisse bereits das Ende des Subjektivismus bedeuten. Enoch etwa argumentiert, sobald ein Ansatz idealisierende Kriterien 33 einzubinden versucht, die die faktischen subjektiven Einstellungen des Individuums infrage stellen, begäbe man sich bereits auf objektivistisches Terrain. Es mache nur dann Sinn, die subjektiven Einstellungen des
32 Entsprechende Darstellungen finden sich u.a. bei Enoch (2005), S. 759 und Sumner (1996), S. 122; 33 Idealisierung meint hierbei bspw. einer Person alle nötigen Informationen zukommen zu lassen, um ideale, statt irrtumsanfällige, Urteile zu fällen.
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Individuums für korrekturbedürftig zu halten, wenn man zugleich annimmt, dass es eine objektive Wahrheit gibt, von der diese subjektive Einstellungen abweichen. 34 Damit allein ist der Niedergang des Subjektivismus noch nicht bewiesen, 35 aber die Attraktivität seines Gegenspielers tritt sichtlich hervor. Eine weitere Problematik idealisierender Kriterien besteht darin, dass die Wahrnehmungen und Werturteile, die eine Person »idealer« Weise haben sollte, sehr stark von dem abweichen können, wovon diese Person faktisch überzeugt ist. Diese Abweichung kann mitunter so stark sein, dass laut Steinfath fraglich ist, ob die idealen Wahrnehmungen und Urteile noch die derselben Person wären. Wir scheinen es dann eher mit den »faktischen« Einstellungen einer nicht-existenten »idealen« Person zu tun zu haben, die mit der existierenden konkreten Person nicht mehr identisch ist. 36 Indem der Subjektivismus solche idealisierenden Kriterien versucht einzubinden, riskiert er, die Bestimmung des Wohls vollkommen von den Einstellungen des betroffenen Individuums zu entkoppeln und stattdessen die Einstellungen einer anderen »idealen« Person zum Maßstab zu nehmen. Der Objektivismus hingegen kann diesen Effekt verkraften, da er sich von vornherein auf die objektiv gegebenen Werte von Gütern fokussiert, die ein »ideales« Individuum fehlerfrei erkennen kann. 2.2.2 Notwendigkeit subjektübergreifender Wohlmaßstäbe Die Frage nach dem Wohl eines Individuums ist, wie bereits angesprochen, keine rein deskriptive. Es geht um mehr, als nur bloße Neugier darüber, was sich über den Wohlzustand eines konkreten Lebewesens sagen lässt. Die Auseinandersetzung mit dem Wohl von Lebewesen ist durch ein ethisches Interesse an deren Befinden 37 motiviert – durch die moralische Überzeugung, dass wir uns für ihre Lebenssituation interessieren sollten. Und wir sollten uns fragen, was wir Individuen, die von unseren Handlungsentscheidungen betroffen sind, hinsichtlich ihres Wohls schulden. 38
34 Vgl. Enoch (2005), S. 762-764. 35 Wie ich in Kapitel II.3. diskutieren werde, können Subjektivisten argumentieren, dass Idealisierungen nicht dazu dienen, Dinge zu erkennen, die objektiv wertvoll sind, sondern sicherzustellen, dass der subjektiven Perspektive des Individuums adäquat – statt verzerrt oder unzureichend – Rechnung getragen wird. 36 Vgl. Steinfath (2013), S. 176. 37 Ich verwende »Befinden« hier synonym mit »Wohl« und lasse beide Begriffe für subjektivistische und objektivistische Ausbuchstabierungen offen. 38 Scanlon zufolge ist das Konzept des Wohls überhaupt erst aus drittpersonaler Sicht von Bedeutung. Dagegen spiele »Wohl« bei den Handlungsentscheidungen, die nur unser je
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Ein solches altruistisches Interesse am Wohl Anderer setzt jedoch, wie Nussbaum argumentiert, bestimmte soziale Emotionen voraus. Sie fasst diese unter den Schlagwörtern »Mitleid« und »Achtung« zusammen. 39 Wir können aber, so Nussbaum, überhaupt kein Anteil nehmendes Interesse am Zustand anderer Individuen ausbilden, wenn wir nicht bereits annehmen, dass es objektive Maßstäbe gibt, die wir berechtigterweise auf unser eigenes Wohl und das Wohl Anderer beziehen können. Erst dadurch sind wir in der Lage, das Wohl verschiedener Individuen miteinander zu vergleichen. Mit Anteilnahme meine ich, den Versuch zu unternehmen, sich in die Lebenssituation eines Anderen hineinzuversetzen. Indem der Subjektivismus behauptet, dass das Wohl eines Individuums allein in seinen subjektiven Einstellungen besteht, baut er Nussbaum zufolge eine unüberbrückbare Distanz zwischen mir und meinem Gegenüber auf. Die subjektive Perspektive des Anderen ist einzig und allein seine und bleibt für Außenstehende unzugänglich. Ich kann mir demnach nicht vorstellen, wie es für ihn ist, sein Leben zu leben. Ich kann mir lediglich versuchen auszumalen, wie ich mich in einer Lebenssituation fühlen würde, die wie seine beschaffen ist. Dadurch erlange ich jedoch höchstens eine Vorstellung seiner Lebensumstände, erlebe jedoch nicht, wie er selbst diese erlebt. Der Subjektivismus scheint somit meine Einschätzung der Lebenssituation meines Gegenübers für bedeutungslos zu erklären. Außenbeurteilungen des Wohls Anderer können hiernach lediglich ein neugieriges, jedoch kein Anteil nehmendes Interesse am Wohl Anderer begründen. 40 Die Annahme, universeller Bewertungsmaßstäbe, die Wohlurteile zwischen unterschiedlichen Individuen übertragbar und vergleichbar machen, sind daher für Nussbaum unverzichtbarer Teil sozialer Interaktionen und moralischer Verantwortungsbeziehungen. Ähnlich betont Steinfath, dass es uns kaum möglich wäre, uns überhaupt miteinander zu verständigen, wenn wir nicht bereits annehmen, dass es basale Güter gibt, die subjektübergreifende Relevanz besitzen. 41 Jemand anderen verstehen, beinhaltet nachzuvollziehen, warum er bestimmte Dinge anstrebt und anderen ausweicht. Einfach nur zu konstatieren, dass mein Gegenüber bestimmte Dinge als gut oder schlecht erachtet, ohne dass dies für mich in irgendeiner Form nachvollziehbar wäre, schafft eine Distanz, die schwerlich als Basis für Rücksichtnahme
eigenes Leben betreffen keine Rolle. Was wir aus erstpersonaler Perspektive anstreben, seien die Dinge selbst, die wir wertschätzen, nicht unser Wohl. So hören wir bestimmte Musik, weil wir sie mögen, nicht weil wir uns durch die Tätigkeit des Musikhörens eine Steigerung unseres Wohls versprechen (vgl. Scanlon [1998], S. 110, 126ff). 39 Vgl. Nussbaum (1998), S. 202. 40 Vgl. ebd., S. 232. 41 Vgl. Steinfath (1998b), S. 90.
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und ethisches Interagieren dienen kann. In diesem Licht erscheint der Objektivismus, der objektive Bezugswerte ja gerade propagiert, als die attraktivere Theorie. 2.2.3 Darwalls Punkt: Das Wohl des Individuums als Orientierungspunkt für moralische Handlungspflichten Außenstehender Objektivistische Ansätze gewinnen vor allem dort an Attraktivität, wo es um den Umgang mit Lebewesen geht, deren Wohl in unserer Hand liegt – z.B. weil sie von unserer Hilfe abhängig sind. Gerade in solchen Fällen genügt es nicht, uns einfach nur in das Leben der betroffenen Individuen nicht einzumischen. Wir müssen das Wohl unserer Bezugsindividuen aktiv schützen und befördern. Solche positiven Pflichten spielen eine entscheidende Rolle bei der Verantwortung, die Eltern ihren Kindern gegenüber im Allgemeinen zugeschrieben wird, ebenso bei der Verantwortung von Personen gegenüber den Tieren in ihrer Obhut, oder auch bei der Verantwortung des Wohlfahrtsstaates gegenüber der Bevölkerung. 42 Wer Verantwortung, im Sinne positiver Fürsorgepflichten, gegenüber einem anderen Individuum besitzt, ist verpflichtet, sich mit dessen Wohl auseinanderzusetzen. Die verantwortliche Person muss versuchen zu verstehen, was ihr »Schützling« für sein Wohl benötigt und ist ebenso verpflichtet, ihn nach Möglichkeit davor zu schützen, sich selbst zu schaden. Es wird daher eine Orientierungshilfe benötigt, um das Wohl des Individuums für Außenstehende beurteilbar zu machen. Sich einfach daran zu halten, was das betroffene Individuum anstrebt und woran es sich stört, stellt, wie die besprochenen Probleme zeigen, keine ausreichend verlässliche Methode dar. Es scheint leichtfertig, geradezu fahrlässig, sich damit zu begnügen, dass es einem Individuum gut geht, wenn es selbst nichts an seiner Lebenssituation bemängelt. Ebenso können wir nicht einfach tatenlos daneben stehen, wenn Individuen, für die wir verantwortlich sind, Entscheidungen treffen, die sich unseren Informationen nach fatal für sie auswirken werden. Stephen Darwall formuliert eine m.E. hilfreiche Faustformel:
42 Eine gesonderte Verteidigung der moralischen Relevanz besonderer Beziehungen kann aus Platzgründen an dieser Stelle nicht erfolgen. Meine Position stützt sich vor allem auf die Überzeugung, dass ohne die Annahme besonderer positiver Pflichten gegenüber denjenigen, zu denen wir in besonderer Beziehung stehen, soziale Phänomene wie Freundschaft, Liebe und Verantwortungsgefühl überhaupt nicht möglich sind. Ich stütze mich hierbei v.a. auf erhellende Ausführungen bei McMahan (1997), S. 107-138; McMahan (2005), S. 353-380; Scheffler (1997), S. 189-209; Scheffler (2001a), S. 48-65; Rollin (2005), S. 105-121 sowie Burgess-Jackson (1998), S. 159-185.
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»[W]hat it is for something to be good for someone is for it to be something that is rational (makes sense, is warranted or justified) to desire for him insofar as one cares about him.« 43
Darwall zieht damit eine enge Verbindung zwischen den Konzepten von Wohl und Fürsorge. Sich für das Wohl eines Anderen zu interessieren, bedeutet, nicht mit distanzierter Neugier auf sein Befinden zu blicken, sondern Anteil an ihm und darüber abgeleitet auch an seinem Wohl zu nehmen. Indem wir behaupten, dass das Wohl eines Individuums uns interessieren sollte, betonen wir Darwall zufolge ebenfalls, dass uns dieses Individuum nicht gleichgültig sein darf. Uns darf nicht gleichgültig sein, was mit ihm geschieht, auch wenn ihm selbst bestimmte Kernbereiche seines Lebens gleichgültig sein mögen. Zugleich betont Darwall hierbei, dass dem Wohl nur förderlich ist, was wir rational begründeter Weise unserem Gegenüber wünschen können. Dies ist bspw. für die Frage von Belang, wie viel an Informationen wir jemandem, der uns am Herzen liegt, mitteilen sollten. Haben wir Grund zur Annahme, dass er die Wahrheit über seine Lebenssituation (z.B. dass seine Freunde ihn betrügen) nicht verkraften kann, so scheint es seinem Wohl förderlicher, ihm diese schmerzhafte Wahrheit vorzuenthalten. Ich kann mir rationalerweise wünschen, dass ein Mensch, den ich schätze, von aufrichtigen Freunden umgeben ist. Ich kann mir aber nicht rationalerweise für ihn wünschen, in eine desillusionierte Bitterkeit zu verfallen, aus der er nicht mehr herausfindet. Für die Entwicklung allgemeiner Grundregeln im Umgang mit Individuen, deren Wohl in unserer Hand liegt – hierunter fallen die Tiere, die wir halten und nutzen – bietet der Objektivismus somit Vorteile. Es muss nun allerdings auch gezeigt werden, inwiefern die von ihm propagierten objektiven Werte für das Wohl konkreter Individuen tatsächlich relevant sind.
2.3 FUNDIERUNG OBJEKTIVER WERTE Gerade die Behauptung, es gäbe objektive Werte, so dass sich unabhängig oder sogar gegen den Willen des Individuums bestimmen ließe, was gut für es ist, stellt in den Augen der Subjektivisten eine inakzeptable Bevormundung dar. Dabei wird unterstellt, dass die von Objektivisten hochgehaltenen Werte gar keine objektive
43 Darwall (2002), S. 8-9. Diese Faustformel ist gleichwohl nicht ganz unproblematisch. Denn wir wünschen in aller Regel den Menschen, um die wir uns sorgen, auch ein moralisch anständiges Leben zu führen. Es besteht somit die Gefahr, prudentielle und moralische Qualität eines Lebens zu vermengen. Ich halte Darwalls Formulierung dennoch für intuitiv hilfreich. Eine ähnliche Kritik findet sich in Bradley (2009), S. 2-3, und auch er scheint Darwalls Formel dennoch durchaus Orientierungspotenzial zuzutrauen.
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Gültigkeit besitzen, sondern schlichtweg einen konkreten Wertekanon darstellen, der als objektiv verschleiert wird, um ihn anderen Individuen aufzuzwingen. Tatsächlich haben einige der häufig von Objektivisten vorgeschlagenen objektiven Güter mitunter einen wertkonservativen oder elitären Anklang: der Wert von Kunst oder ästhetischer Schönheit; der Wert von Familienleben mit Kindern; der Wert wissenschaftlicher Erkenntnisse; die Betonung objektiv wertvoller Tätigkeiten, für die zumeist erneut die Beschäftigung mit Wissenschaft, klassischer Musik, anspruchsvoller Kunst, Leistungssport, etc. angeführt wird. 44 Der Vorwurf des Puritanismus, wie ihn etwa Sumner formuliert, scheint somit nicht aus der Luft gegriffen. 45 Doch objektivistische Theorien beschränken sich nicht auf solche angreifbaren Beispiele. Sie betonen auch die Wichtigkeit allgemein gehaltener, basaler Bedürfnisse, wie Nahrung, Obdach und soziale Interaktionen. Die Glaubwürdigkeit objektivistischer Theorien hängt davon ab, eine belastbare Geschichte erzählen zu können, warum bestimmte Güter für das Wohl eines Individuums objektiv relevant sind. Dabei wird in der Regel eine von zwei möglichen Strategien eingeschlagen. Objektivisten können entweder perfektionistisch vorgehen, indem sie argumentieren, dass das Wohl eines Lebewesens davon abhängt, inwieweit es seine Potenziale ausschöpft. 46 Diese Richtung scheint besonders anfällig für den genannten Vorwurf einer elitären Bevormundung, indem weniger ambitionierte Lebensentwürfe implizit als minderwertig bzw. des Akteurs unwürdig abgestuft werden. Eine andere Strategie besteht darin, eine Wesensart oder Natur des Individuums zu bestimmen und hieraus basale Grundbedürfnisse abzuleiten, die für jedes Individuum mit dieser Wesensart gelten. 47 Damit lassen sich objektive Werte bestimmen, die nicht unbedingt für sämtliche Lebewesen die gleichen sein müssen, jedoch für alle Individuen, die einer bestimmten Gruppe von Lebewesen zugeordnet werden können. Als prominentestes Beispiel kann der Fähigkeitsansatz von Nussbaum angesehen werden, auf den ich im folgenden Abschnitt näher eingehen werde. Ihr Ansatz scheint mir einerseits am aussichtsreichsten, den Paternalismusvorwurf
44 Ich stützte mich hierbei auf verschiedene Ausführungen in Scanlon (1998), S. 143; Darwall (2002), S. 75-79; Wolf (2010), S. 13-25 und Moore (1948), Ch. I. Dagegen werden kaum lobende Worte über Faulheit, Tagträumereien, das Lesen von Comics oder das Hören lautstarker dilettantischer Musik geäußert, ebensowenig über das Führen offener Sexualbeziehungen oder alternativer Wohn- und Zusammenlebenskonzepte. 45 Sumner verwendet diese Titulierung ausdrücklich in Sumner (1996), S. 111, 166. 46 Vgl. Steinfath (2013), S. 177. 47 Vgl. ebd., S .177.
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abzuwehren, andererseits ist er für meine Untersuchung attraktiv, da Nussbaum ihren Ansatz auch auf Tiere ausweitet. 48 2.3.1 Nussbaums Fundierung grundlegender Wohlstandards Nussbaum argumentiert, dass alle Menschen (bzw. alle Mitglieder derselben Spezies) bestimmte objektive Grundbedürfnisse besitzen, ganz gleich, was ihre subjektiven Einstellungen sein mögen. Sie verwendet hierfür den Begriff der »Speziesnorm«. 49 Diese bilde eine subjektübergreifende Beurteilungsbasis, mit der es überhaupt erst möglich sei, die Lebensqualität unterschiedlicher Individuen miteinander zu vergleichen und ein altruistisches Interesse und Empathie Anderen gegenüber auszubilden. 50 Diesen allgemeingültigen Bedürfnissen liegt nach Nussbaum, im Falle der menschlichen Spezies, eine gemeinsame menschliche Essenz zugrunde, d.h. eine bestimmte materielle Beschaffenheit, die auf alle Menschen gleichermaßen zutrifft. Es gebe zentrale Eigenschaften, die jedes menschliche Leben kennzeichnen, 51 so dass alle Menschen die gleichen Grundbedürfnisse qua ihres Menschseins besitzen. Dabei stützt sich Nussbaum auf die aristotelische Vorstellung des ergon, einer spezifischen Wesensart oder Natur eines Gegenstands oder Lebewesens, wodurch bestimmt wird, was gut für ein Lebewesen ist. Nussbaum bezeichnet ihren Ansatz daher als aristotelischen Essentialismus. Sie entwirft eine Liste der Eigenschaften die ein menschliches Leben ausmachen (ich beschränke mich hier auf die, die mir am wichtigsten erscheinen): •
•
Alle Menschen sind sterblich und wissen ab einem gewissen Alter, dass sie einmal sterben werden. Das eigene Weiterleben wird angestrebt, außer, wenn ein Leben so miserabel verläuft, dass der Tod eine willkommene Alternative darstellt. Alle Menschen besitzen einen Körper, der verletzlich ist und mit biologischen Bedürfnissen einhergeht wie etwa Hunger, Durst, Ausruhen, um weiterhin biologisch funktionieren zu können.
48 Die Übertragung auf Tiere erfolgt dabei mit leichten Abwandlungen, folgt aber dem gleichen argumentativen Grundmuster. Nussbaum selbst beschreibt die Anwendung auf Tiere ausführlich in Nussbaum (2004), S. 299-320 sowie in Nussbaum (2006), S. 325407. 49 Vgl. ebd., S. 179-199, 347-401. 50 Vgl. Nussbaum (1998), S. 232. 51 Vgl. ebd., S. 201.
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• • • • •
Alle Menschen besitzen, zumindest in einem rudimentären Maß, die kognitiven Fähigkeiten von Wahrnehmung, Vorstellung und Denken. Und sie sehen diese als wertvoll an. Alle Menschen durchlaufen eine Phase frühkindlicher Entwicklung, in der sie sich als hilfsbedürftig und von Anderen abhängig erfahren. Alle Menschen denken über ihr Leben nach und versuchen, das was sie als positiv bewerten, in ihrem Leben zu realisieren. Alle Menschen besitzen ein soziales Zugehörigkeitsgefühl verbunden mit dem Bedürfnis nach Anerkennung durch Andere. Alle Menschen besitzen ein Bedürfnis nach Erholung, Lachen und Spiel. Alle Menschen nehmen individuelle Prioritätssetzungen vor und gehen unterschiedlichen Betätigungen nach. Ebenso unterscheiden sich ihre Lebenserfahrungen, da sie an unterschiedlichen Orten aufwachsen, unterschiedliche Dinge erleben und unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen. 52
Jedes menschliche Lebewesen ist in seiner Lebensverfasstheit bestimmten materiellen Gegebenheiten unterworfen. Es muss mit Umweltherausforderungen, körperlichen Beschränkungen und biologisch beeinflussten Bedürfnissen fertig werden. Und wie diese beschaffen sind, hängt eben nicht von subjektiven psychologischen Einstellungen ab. Darüber hinaus sind Reaktionen auf die Umwelt durch evolutionär gewachsene körperliche und emotionale Reflexe mit beeinflusst. Es scheint daher schwer zu leugnen, dass alle Menschen über bestimmte Grundbedürfnisse verfügen und es somit Dinge gibt, die objektiv betrachtet für unser Wohl förderlich sind. Lebewesen sind nicht einfach nur frei schwebende psychologische Entitäten, sondern besitzen einen materiellen Körper in einer materiellen Welt. Beide gehen mit objektiven Gegebenheiten einher, die ein Lebewesen in seiner Lebensführung befördern, behindern und nachhaltig prägen. Nussbaum scheint dabei dem Vorwurf der Bevormundung entgehen zu können, da es ihr nicht darum geht, eine bestimmte Art der Lebensführung vorzuschreiben. Sie konzentriert sich auf Fragen der politischen und sozialen Gerechtigkeit und unseres ethischen Umgangs miteinander. Wichtig ist für Nussbaum daher nicht, was ein Individuum mit seinem Leben anfängt, sondern was wir ihm ermöglichen mit seinem Leben selbst anzufangen. Sie stellt daher eine Liste grundlegender Fähigkeiten auf, die einem Individuum offenstehen müssen um ein gutes menschliches Leben haben zu können:
52 Vgl. ebd., S. 209-212.
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1. 2.
Fähig sein, nicht vorzeitig zu sterben und ein lebenswertes Leben zu haben Fähig sein, die eigene Gesundheit, Ernährung, Unterkunft zu sichern sowie Bedürfnisse von Sexualität und Mobilität auszuleben 3. Fähig sein, unnötigen Schmerz zu vermeiden und lustvolle Erfahrungen zu machen 4. Fähig sein, die eigenen Sinne zu nutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu schlussfolgern 5. Fähig sein, Beziehungen zu anderen Dingen und Personen einzugehen 6. Fähig sein, eine eigene Vorstellung des Guten auszubilden und kritisch zu überprüfen 7. Fähig sein, für und mit anderen zu leben und zu interagieren 8. Fähig sein, ein Leben in Anteilnahme an Natur und anderen Lebewesen zu führen 9. Fähig sein, Spiel und erholsamen Tätigkeiten nachzugehen 10. Fähig sein, das eigene Leben und nicht das eines Anderen zu leben 10a. Fähig sein, das eigene Leben in eigener Umwelt und eigenem Kontext zu leben 53
Die Pointe ihres Arguments liegt darin, dass es dem betreffenden Individuum selbst freisteht, von welchen dieser Fähigkeiten es Gebrauch macht. Es kann selbst entscheiden, wie viel Energie und Zeit es in soziale Beziehungen steckt oder wie umsichtig es auf seine eigene Gesundheit achtet. Demgegenüber steht es Außenstehenden aber nicht frei, dem Individuum bestimmte Fähigkeiten von vornherein vorzuenthalten. Darüber hinaus leitet Nussbaum aus der Relevanz dieser Fähigkeiten eine moralische Verantwortung ab, Andere weder zu täuschen noch zu manipulieren (Fähigkeit 10 und 10a). Ein Mensch ist in seinem Wohl objektiv eingeschränkt, wenn er ein Leben führt, das entweder anders verfasst ist als er selbst denkt (etwa Freunde anzunehmen, wo keine sind). Oder wenn er sein Leben nach Maßstäben bewertet, die ihm keinen Raum für eigene individuelle Urteile geben (das eigene Leben nur deshalb als gut bewerten, weil man entsprechend konditioniert wurde). Warum aber ist es bspw. wichtig, dass ein Bedürfnis objektiv erfüllt ist und nicht nur als erfüllt empfunden wird? Im Fall physischer Bedürfnisse mag dies einleuchtend sein, weil unser Überleben davon abhängt. Wieso aber sollte dies auch für psychologische Bedürfnisse von Bedeutung sein? Warum ist es wichtig, dass es sich mit unserem Leben tatsächlich so verhält wie wir annehmen, ohne dabei erneut Rekurs auf das physische Überleben zu nehmen?
53 Vgl. ebd., S. 214-215. Ich habe diese Auflistung stellenweise meinem Sprachgebrauch und meiner Deutung von Nussbaums Intentionen entsprechend angepasst.
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2.3.2 Die moralische Relevanz »objektiver« Selbstwahrnehmung Einige Autoren verweisen auf die soziale Natur des Menschen, um zu begründen, warum es eine Rolle spielt, wie sein Leben objektiv verfasst ist. Hiernach haben Menschen als soziale Wesen ein Interesse an Anerkennung durch andere Menschen. Daraus ergebe sich ein Interesse, unsere Urteile und Lebenspläne vor Anderen glaubhaft vertreten zu können. Wir beginnen an der eigenen Einschätzung unserer Lebensqualität zu zweifeln, sobald wir das Gefühl haben, dass Andere unsere Wahrnehmungen und Urteile infrage stellen können. Dies gilt umso mehr, wenn wir befürchten, dass sie berechtigten Grund für ihre Zweifel haben. 54 Wenn wir mir unserem Leben zufrieden sind, weil wir nicht bemerken, dass es ihm objektiv an Dingen fehlt, die wir eigentlich wertschätzen, so sind wir eben nicht mit unserem tatsächlichen Leben zufrieden, sondern mit seinem bloßen Schein. Daher ist es trotz allen Wohlgefühls dann und nur dann gut um unser Wohl bestellt, wenn unsere Lebenszufriedenheit nicht auf Täuschungen und Fremdsteuerungen beruht. Da es in dieser Arbeit aber nicht um »die richtige Art« der eigenen Lebensführung geht, sondern darum, was wir anderen schulden, muss gezeigt werden, warum Außenstehende dafür Sorge tragen sollten, dass das Leben einer Person frei von Täuschungen und Manipulation ist. Eine solche moralische Verpflichtung, andere in ihrer Lebensführung zu befördern, könnte unter Berufung auf moralische Werte begründet werden wie Achtung, Respekt und Verantwortungsbewusstsein gegenüber denjenigen, die unserer Obhut unterstellt sind. Dass unser Gegenüber ein anderes Leben führt, als er selbst denkt, ist demnach von Bedeutung, weil wir wissen, dass er ein Leben führt, das er eigentlich nicht führen möchte. Er bemerkt dies nur nicht. Wenn wir davon ausgehen, dass unser Gegenüber als Individuum moralisch berücksichtigt werden muss, kann uns diese Diskrepanz nicht einfach egal sein. Wir dürfen nicht einfach ungerührt bleiben, wenn wir sehen, dass unser Gegenüber glücklich ist ein Leben zu führen, das objektiv betrachtet nicht das seine ist. Denn soweit er manipuliert ist, führt er es nicht nach seinen Maßstäben. Und soweit sein Leben anders verläuft, als er selbst es wahrnimmt, richtet sich seine Lebenszufriedenheit eben nicht auf sein Leben, sondern auf ein vorgestelltes. 55 Täuschungen, Irrtümer und Manipulationen beeinträchtigen das Wohl eines Individuums hiernach aufgrund eines (mit plausibler Begründung) unterstellten faktischen Interesses des Individuums an der Belastbarkeit seiner Selbstwahrnehmung und Urteile. Dieses Interesse zu ignorieren, scheint mit Respekt, Achtung und Verantwortungsübernahme unvereinbar.
54 Vgl. Steinfath (1998b), S. 85-87 ähnlich auch Wolf (2010), S. 27-28. 55 Vgl. Sumner (1996), S. 159-169. In eine ähnliche Richtung weisen auch Seel (1998), S. 279ff; Steinfath (1998b), S. 85; Raz (2004), S. 272f sowie Haybron (2008), S. 184.
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Diese Begründung hat allerdings einen entscheidenden Haken. Sie lässt sich nur auf Menschen mit ausreichend ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten anwenden. Warum sollten Menschen (oder Tiere), denen diese Eigenschaften fehlen, ein Interesse daran haben, ihre eigene Lebensbewertung vor Anderen glaubhaft vertreten zu können? Anstatt ein faktisches Interesse des Individuums an Selbstbestimmung und sozialer Anerkennung als Ausgangspunkt zu nehmen, kann alternativ versucht werden, die Relevanz objektiver Lebensumstände aus dem Begriff moralischer Rücksichtnahme abzuleiten. Wir können diesem Bild nach nicht einfach behaupten, die objektive Lebenssituation eines Anderen sei irrelevant, ohne uns dabei gleichzeitig die Grundlage für jegliches altruistisches Interesse am Wohl Anderer unter den Füßen wegzuziehen. Wer behauptet, uns habe allein das subjektiv empfundene Glück Anderer zu interessieren, muss erklären, warum uns ihr Glück überhaupt interessieren sollte. Entweder müsste behauptet werden, dass dieses Glück einen intrinsischen Wert darstellt, der befördert werden muss, wie es der Utilitarismus nahelegt. Dann aber konzentrieren wir uns nicht mehr auf das Individuum, sondern nur noch auf, den zu vermehrenden Wert dessen Träger das Individuum ist. 56 Dieser Weg ist somit unbefriedigend. Es scheint erfolgversprechender, zu argumentieren, dass Individuen, denen wir moralische Berücksichtigungswürdigkeit zusprechen, damit auch eine bestimmte Form des Respekts verdienen. Und Manipulation und Täuschung scheinen mit einem solchen Respekt unvereinbar (oder bedürfen zumindest einer sehr starken Rechtfertigung). Es gilt dann immer noch, diesen Respekt auszubuchstabieren und zu begründen, warum ein Individuum überhaupt moralische Berücksichtigung verdient. Es ist aber bereits festzuhalten, dass, wenn wir einem Lebewesen moralischen Status zuschreiben, wir nicht seine objektive Lebenssituation ignorieren dürfen. Dieser Punkt ist entscheidend für die Wohldebatte im Allgemeinen und die Tierwohldebatte im Besonderen. Verteidiger der Nutztierhaltung, die sich darauf berufen, es gäbe über die subjektiven Einstellungen eines Individuums hinaus nichts weiter zu berücksichtigen (s. I. Hauptteil), erkennen in aller Regel bereits eine moralische Berücksichtigungswürdigkeit von Tieren grundlegend an. Ich habe hier nun versucht zu verdeutlichen, dass eine subjektivistische Reduktion auf mentale Zustände dieser Rücksichtnahme nicht ausreichend gerecht werden kann.
56 Eine solche Kritik am Utilitarismus formuliert u.a. Regan (vgl. Regan [1997], S. 156).
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2.4 PROBLEME DES OBJEKTIVISMUS 2.4.1 Quellen vs. Natur des Wohls Neben dem bereits angesprochenen Vorwurf der Bevormundung, lautet ein zentraler Einwand gegen den Objektivismus, er liefere bestenfalls eine Liste an Gütern, die das Leben eines Individuums zugunsten seines Wohls enthalten muss. Er erkläre jedoch nicht, was diese konkreten Güter als wohlrelevant qualifiziert. 57 Dieser Einwand richtet sich vor allem gegen objektivistische Ansätze, die mit festen Listen arbeiten. Da dies nicht die einzige mögliche Form objektivistischer Theorien ist, 58 ließe sich entgegnen, dass Theorien, die auf Listen verzichten, von diesem Einwand nicht berührt werden. Schabers Ansatz wäre ein Beispiel hierfür. Dieser Einwand sollte dennoch nicht einfach übergangen werden. Allein schon weil Nussbaum, deren Argumentation ich in dieser Arbeit wiederholt aufgreife, einen eindeutigen Listenansatz vertritt. Und auch Scanlon, Darwall oder Susan Wolf benennen in ihren Texten sehr konkrete Güter, die zwar nicht als geordnete Liste zusammengefasst werden, nichtsdestotrotz aber als Auflistung zu werten sind (Autonomie, soziale Kontakte, erfüllende Tätigkeiten, Beschäftigung mit Wissen und Kultur, etc). 59 Der betreffende Einwand wird von Sumner prominent vertreten. Er trennt zwischen den »Quellen des Wohls« und der »Natur des Wohls«. Quellen stellen hierbei konkrete Güter dar, wodurch wir Aussagen darüber erhalten, was das Wohl eines Individuums befördert. Die Auflistung dieser Quellen verrät uns selbst aber nichts darüber, warum und inwiefern die benannten Güter das Wohl befördern. Die Natur des Wohls dagegen gibt Auskunft darüber, was es bedeutet, dass es einem Lebewesen gut geht. Wir erfahren hierdurch, was ein Gut für eine Güter-Liste qualifiziert. 60 Hierin besteht für Sumner gerade die Hauptleistung der Philosophie zur Frage des individuellen Wohls: »A theory therefore must not confuse the nature of well-being with its (direct or intrinsic) sources; it must offer us, not (merely) a list of sources, but an account of what qualifies something (anything) to appear on that list.« 61
57 Vgl. Sumner (1996), S. 45ff. 58 Vgl. Steinfath (2013), S. 176f. 59 Vgl. Scanlon (1998), S. 143; Darwall (2002), S. 75-79; Wolf (2010), S. 19ff. 60 Vgl. Sumner (1996), S. 16-18, 45ff. 61 Ebd., S. 16.
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Sumner steht der Arbeit mit Güter-Listen generell kritisch gegenüber. Einerseits bedeutet jede Art von Auflistung, dem Individuum konkrete Quellen von außen vorzugeben, anstatt das Individuum eine eigene Liste erstellen zu lassen. 62 Andererseits enthalten Listen für sich genommen nur die je angeführten Punkte, jedoch keine Erklärung, nach welchen Kriterien sie zusammengestellt wurden. 63 Folgt man Sumner, so taugen objektivistische Listenansätze allenfalls dazu, eine pragmatische Agenda zu entwerfen. Sie stellen eine Liste bereit, an der wir uns orientieren können, wenn es gilt, Regeln der Güterverteilung und konkrete Verantwortungspflichten zu formulieren. Dabei vernachlässigen sie jedoch, ihre »Programmschrift« durch eine philosophisch belastbare Konzeption des Wohls zu untermauern. Gleichwohl lassen sich anhand der angeführten Quellen einer Liste zumindest Rückschlüsse darüber anstellen, anhand welcher Kriterien die Auswahl getroffen wurde. Im schlimmsten Fall erweist sich eine solche Auswahl als willkürlich. Jedoch ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich bei näherer Betrachtung einer solchen Liste ein überwiegend kohärentes Muster ergibt. Dieses kann möglicherweise noch verbesserungsbedürftig sein, lässt dennoch aber erahnen, wie die Natur des Wohls hintergründig verstanden wird. 64 Auch scheint es mir schlicht nicht zuzutreffen, dass Objektivisten uns ihre Listen kommentarlos vors Gesicht halten. 65 Sie gehen durchaus auf die grundlegenden Intuitionen und Argumentationslinien ein, die sie zur Zusammenstellung ihrer Listen motivieren. Gerade Nussbaum liefert ein illustratives Beispiel. Sie wählt die von ihr aufgelisteten Fähigkeiten (capabilities) anhand der physischen und psychischen Beschaffenheit menschlicher Lebewesen aus und belegt damit objektiv gegebene menschliche Bedürfnisse. 66 Dies ist eine Erklärung, was bestimmte Güter wie soziale Interaktion, Spiel und Freizeit, Nahrung und Gesundheit als Wohl förderlich qualifiziert. Diese Erklärung kann sich jedoch als unzureichend erweisen. Die Annahme einer menschlichen Natur kann als metaphysisch fragwürdiges Konzept
62 Hierfür spricht Sumners deutliche Absage an gänzlich subjektunabhängige Standards (vgl. ebd., S. 20ff, 158-159, 166). 63 Vgl. ebd., S. 16ff, 45ff. 64 Hierin kommt erneut die intuitionistische Vorgehensweise zum Ausdruck, die ich von McMahan übernehme. Es ist m.E. unwahrscheinlich, dass wir zu Einsichten über das Wohl gelangen, ohne uns zumindest stellenweise an konkreten Fallbeispielen intuitiv abzuarbeiten. Entscheidend ist dabei, wie Sumner anregt, zu klären, welche Prinzipien und Leitgedanken sich durch solche konkreten Beispiele herauskristallisieren lassen. 65 Sumner wirft dies Autoren wie Finnis explizit vor (vgl. ebd., S. 46). 66 Vgl. Nussbaum (1998), S. 208-220.
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in Zweifel gezogen werden. 67 Insofern berührt Sumner einen wichtigen Punkt. Die Verlässlichkeit einer Liste bzw. Agenda bemisst sich daran, wie glaubwürdig und nachvollziehbar die dahinter liegende Natur des Wohls konzipiert wird. Es lassen sich aber noch drei weitere Einwände benennen, die nahelegen, dass objektivistische Theorien keine überzeugende Natur des Wohls konzipieren können, ohne nicht doch letztlich auf subjektivistische Elemente zurückgreifen zu müssen. Diese Einwände treffen auch Theorien, die keine Listen verwenden. 2.4.2 Problematische Wertfundierung ohne Rückbindung an das Individuum Objektivisten müssen begründen, was genau Gütern ihren subjektunabhängigen Wert verleiht, ohne dabei auf die Wertsetzungen konkreter Individuen doch wieder zurückzugreifen. Ohne eine nachvollziehbare Fundierung, schweben die als universal gültig postulierten Werte frei in der Luft. Wenn bspw. Schaber argumentiert, dass wir nicht immer klar erkennen können, welche Dinge in der Welt objektiven Wert besitzen, 68 bleibt er eine Erklärung schuldig, was genau denn ihren Wert ausmacht und warum dieser Wert für das betroffene Individuum selbst von Bedeutung sein sollte. Warum sollte es wichtig für ein Individuum sein, bestimmte Güter in seinem Leben vorweisen zu können, wenn nicht darum, weil diese Güter seine subjektive Lebensqualität befördern? Ein Leben, das bestimmte Güter enthält, mag vielleicht objektiv beachtenswert sein. Ist es damit aber automatisch auch beneidenswert und gut für das Individuum, das dieses Leben am eigenen Leib erlebt, während andere es nur vorübergehend von Außen betrachten? Andersherum scheint es weniger problematisch zu behaupten, ein Gegenstand oder Zustand könne gut für das Individuum selbst sein, aus seiner eigenen Perspektive heraus, ohne notwendigerweise auch gut für alle übrigen Individuen sein zu müssen. 69 Nicht jeder Mensch findet etwa seine Erfüllung im traditionellen Familienleben. Ebensowenig ist jedem Menschen unwohl zumute beim Gedanken, die eigenen Potenziale nicht bis zum Äußersten auszuschöpfen. 70 Ein Objektivist könnte einwenden, dass Menschen sich allein darin unterscheiden, welche konkrete Tätigkeit ihr Leben bereichert, dass aber jedes menschliche Leben bereichernde
67 Sumner bspw. erscheint die Vorstellung suspekt, dass es eine objektive »Funktion« menschlicher oder anderer Lebewesen gäbe, aus der sich objektive Bewertungsmaßstäbe für eine Lebensverfassung ableiten ließen (vgl. Sumner [1996], S. 71-72). 68 Vgl. Schaber (1998), S. 164. 69 Vgl. Steinfath (2013), S. 174. 70 Vgl. ebd., S. 177.
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Tätigkeiten als Grundkomponente enthalten müsse. Dann aber steht der Objektivismus vor dem Problem zu erklären, wie eine ganz konkrete Tätigkeit bereichernder für mich sein kann als andere. Warum entspannt mich das Hören progressiver Musik mehr als das Hören von Klassik? Wenn wir bereichernden Tätigkeiten nachgehen, ergreifen wir nicht einfach indifferent irgendeine Betätigung, die sich einer der Grundkomponenten eines prudentiell guten Lebens zuordnen lässt. Wir suchen uns nicht einfach irgendwelche sozialen Kontakte, erlernen irgendein Instrument, entwerfen irgendwelche Lebenspläne, sondern konkrete aus unserer subjektiven Lebenssituation heraus. 71 Schaber versucht solche Einwände zu entkräften. Er argumentiert, dass Dinge objektiv Wert besitzen können, sich deshalb aber nicht automatisch auf jedes Individuum gleichermaßen bereichernd auswirken müssen. Wie sich ein Gegenstand oder Zustand im Einzelfall auswirkt, hänge vom spezifischen Lebenskontext eines Individuums ab. 72 Betrachtet man also die Lebensgeschichte, die körperliche Verfassung und andere Einflussfaktoren, so könne aus objektivistischer Sicht erklärt werden, warum Individuen durch unterschiedliche konkrete Gegenstände oder Zustände in ihrem Wohl unterschiedlich befördert werden. Warum aber sollte angenommen werden, dass Dinge einen universal gültigen Wert besitzen, wenn sie sich im Konkreten nicht bereichernd auf jedes einzelne Individuum auswirken? Worin genau soll ihr Wert bestehen, wenn er ohne Auswirkungen bleibt? Es kann nicht einerseits behauptet werden, etwas sei wertvoll, weil es meine Lebensqualität bereichern kann, und andererseits zugestanden werden, dass gar nicht mit Sicherheit folgt, dass es mein Leben bereichern wird. Welche Art von Wert soll es sein, der gewissermaßen in den Dingen schlummert, und nur dann zur Entfaltung kommt, wenn ein Individuum mit entsprechendem Lebenskontext mit ihnen in Berührung kommt? Mit dem Aufgreifen des spezifischen Lebenskontextes eines Individuums entfernt sich der Objektivismus von der Grundaussage, dass den Dingen in der Welt objektiv ein bestimmter Wert anhaftet. Nussbaums Ansatz gerät in ähnliche Schwierigkeiten. Zwar kann sie eine nachvollziehbare Erklärung liefern, warum bestimmte Dinge im Leben eines Menschen beeinflussen, inwieweit dieser ein Leben gemäß bestimmter Spezieseigenschaften führen kann. Warum aber ist es ethisch von Belang bzw. gut für ein Lebewesen, entsprechend seiner Natur »gedeihen« zu können? 73 Dahinter scheint sich bereits die Grundannahme zu verbergen, dass sich ein Lebewesen, wenn es im Einklang
71 Raz versucht aus diesem Umstand abzuleiten, dass wir in unseren Lebensentscheidungen nicht bemüht sind, unser Wohl direkt zu befördern. Wir streben Dinge direkt an, weil wir ihnen Wert zuschreiben – nicht weil wir uns eine Verbesserung unseres Wohls durch sie versprechen (vgl. Raz [2004], S. 281). 72 Vgl. Schaber (1998), S. 164-166. 73 Vgl. Nussbaum (1998), S. 221; Nussbaum (2006), S. 349.
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mit seiner eigenen Natur leben kann, auch besser fühlen wird. 74 Was sonst sollte schlecht daran sein, nicht der eigenen Natur gemäß zu leben? Insofern findet eine latente Rückbindung an die subjektive Perspektive des Individuums statt. Perfektionistische Ansätze, die das Ausschöpfen unserer Potenziale in den Mittelpunkt rücken, können ebenfalls ohne Rückbindung an die subjektive Perspektive des Individuums nicht glaubwürdig erklären, was an dieser Selbstverwirklichung gut für das Individuum ist. Sie scheinen einem Sein-Sollen-Fehlschluss aufzusitzen: Wenn ein Individuum eine Begabung hat, dann soll es diese Begabung nutzen. Was aber wäre schlimm daran, wenn es diese Begabung nicht ausschöpft? Es mag eine »Verschwendung von Talent« 75 sein. Aber inwiefern ist diese Verschwendung fatal für das Wohl des Individuums, wenn nicht bereits unterstellt wird, dass es das Ausschöpfen seiner Fähigkeiten auch subjektiv als bereichernd empfinden würde? Der Objektivismus scheint somit in Reinform wenig überzeugend, und erst durch die hintergründige Einbindung subjektivistischer Elemente an Substanz zu gewinnen. Darüber hinaus taugt der Objektivismus offenbar lediglich zur Benennung von Grundbedürfnissen, liefert aber keine Orientierung hinsichtlich der Frage, was wir Individuen über ihre Grundbedürfnisse hinaus noch schulden könnten. Für die Ausbuchstabierung unserer moralischen Verpflichtungen gegenüber Individuen, die zu uns in moralisch relevanter besonderer Beziehung stehen (z.B. in Abhängigkeitsverhältnissen oder Vormundschaft), ist eine solche Orientierung aber unerlässlich. Eltern etwa schulden ihren Kindern nicht bloß die Abdeckung ihrer Grundbedürfnisse, sondern auch, sie in ihren subjektiven Vorlieben und Lebensplänen zu unterstützen. 76 2.4.3 Die Relevanz subjektiver Erlebnisqualität Offensichtlich, kann der Objektivismus die subjektiven Einstellungen des Individuums nicht einfach übergehen. Schaber versucht dem Rechnung zu tragen, indem er dem subjektiven Wohlbefinden des Individuums einen eigenständigen objektiven
74 Nussbaum selbst betont, dass ein Leben in Einklang mit speziesspezifischer Natur und Bedürfnissen das ist, was das betroffene Individuum selbst für sich wählen würde (vgl. ebd., S. 352, 370). 75 Wobei »Verschwendung« bereits ein problematischer, weil evaluativ eingefärbter, Begriff ist. Er impliziert, dass Talent etwas objektiv Wertvolles ist, das genutzt werden muss. 76 Dass gerade Eltern angehalten werden, die Wertvorstellungen und Pläne ihrer Kinder kritisch zu prüfen, (vgl. Seel [1998], S. 290), ist kein Einwand gegen die Relevanz subjektiver Einstellungen. Dies zeigt lediglich, dass die subjektive Perspektive der Kinder nicht das alleinige Maß darstellt.
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Wert zuweist und es zu einer unverzichtbaren Komponente eines prudentiell guten Lebens erklärt. 77 Insofern wird Sumners Punkt entsprochen, wonach nichts gut für ein Individuum selbst sein könne, wenn es sich nicht auch gleichzeitig positiv in seinen subjektiven Erfahrungen niederschlägt. 78 Doch es ist fraglich, ob die subjektive Perspektive wirklich auf diese Weise eingefangen werden kann. Die Art, wie ein Individuum das eigene Leben erlebt, besitzt eine spezifische Qualität, die sich nicht einfach durch objektive äußere Beschreibungen ersetzen lässt. 79 Die Aussage, dass ein Lebewesen gerade Schmerzen leidet, ist nicht vergleichbar mit dem subjektiven Eindruck, den das betroffene Lebewesen selbst unter Schmerzen erfährt. Gleiches gilt für Zustände wie Einsamkeit, Euphorie oder Langeweile. Emotionen und Sinneswahrnehmungen sind nicht einfach bloß Güter oder objektiv beschreibbare Zustände. Es sind subjektiv erfahrene Zustände eines konkreten Individuums. Radikale Objektivisten können dem entgegnen, dass außer den objektiven Werten von Gütern nichts anderes von Belang sei. Güter wie Freundschaft oder Autonomie bereichern das Leben eines Individuums, weil sie objektiv Wert besitzen, und ein Leben, das diese Güter beinhaltet, enthält somit Wertvolles. Ebenso enthalte ein Leben etwas Wertvolles, wenn es Zufriedenheit beinhaltet. Die Ansätze von Moore und Scanlon lassen sich so deuten. 80 Damit verengen sie aber den Begriff des Wohls. Es gibt hiernach nichts, was in gesonderter Form »gut für« ein Individuum ist, sondern nur Güter, die bereits an sich gut sind. Die subjektive Perspektive des Individuums wird damit vollständig aufgelöst. 81 Ein solcher Ansatz scheint dem Leben des Individuums völlig entfremdet. Indem positiven subjektiven Einstellungen ein eigenständiger Wert zugeschrieben wird, wird das Individuum selbst übergangen 82 und gewissermaßen zum Container intrinsisch wertvoller Zustände erklärt. Dies wird weder der moralischen Berücksichtigung des Individuums selbst gerecht, noch wird glaubhaft begründet, worin dieser intrinsische Wert subjektiver Gefühle bestehen soll.
77 Vgl. Schaber (1998), S. 166. 78 Vgl. Sumner (1996), S. 112, 165. 79 Vgl. ebd., S. 46-49. 80 Vgl. Moore (1948); Scanlon (1998), insb. Ch. 3. So argumentiert Scanlon etwa, dass etwas anzustreben nur dann dem Wohl zuträglich ist, wenn es sich um Wünsche bzw. um Ziele handelt, für die es vernünftige Gründe gibt. Diese wiederum leiten sich aus den objektiven Werten von Gütern ab. Ist etwas von Wert, so habe ich Grund es anzustreben (vgl. ebd., S. 121ff). 81 Vgl. Steinfath (2013), S. 174 sowie Crisp (2015). 82 Vgl. Sumner (1996), S. 47-49.
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2.4.4 Übergehen des Individuums zugunsten von Gruppenstandards Ebenso droht der Objektivismus, das betroffene Individuum selbst aus dem Blick zu verlieren, wenn eine universelle Natur des Menschen (oder eines anderen Lebewesens) postuliert wird. Denn hierbei bezieht er sich offenbar auf bestimmte Wohlstandards einer abstrakten Gruppe (der Menschheit oder einer bestimmten Tierspezies), und eben nicht auf das Individuum als Individuum. 83 Schaber scheint recht zuversichtlich, dass zumindest seine objektivistische Variante kontextsensitiv genug ist, um die spezielle Lebenssituation des einzelnen Individuums aufzunehmen, statt es nur als Teil einer Gruppe zu betrachten. Er verzichtet auf Konzepte einer bestimmten Natur oder eines Potenzials, aus denen abzuleiten sei, was gut für das Individuum ist. Gleichzeitig liefert er, wie oben argumentiert, aber keine erhellende Alternativerklärung. Werte scheinen diesem Bild nach den Gütern einfach anzuhaften, ohne dass geklärt wird, wodurch sie generiert werden. Gerade diese Schwäche macht Ansätze wie Nussbaums attraktiv. Dass etwas objektiv gut für ein Lebewesen ist, liegt daran, dass das Individuum objektiver Weise einer bestimmten Gruppe von Entitäten angehört, die alle bestimmte verbindende Eigenschaften aufweisen. Was diese Eigenschaften befördert, ist gut für das Individuum, weil es dadurch zu einem guten Vertreter seiner Art wird. Wenn bspw. Menschen essentiell soziale Wesen sind, dann ist ein Mensch ein guter Vertreter seiner Art, wenn sein Leben durch soziale Bindungen statt Isolation geprägt ist. Warum aber sollte es moralisch betrachtet problematisch sein, wenn ein Individuum kein guter Vertreter seiner Art ist? Solange nicht doch wieder auf die subjektive Perspektive des Individuums Bezug genommen wird, scheint die Aussage, dass etwa ein Mensch kein menschengemäßes Leben führt, nichts weiter zu sein, als eine Beschreibung, dass etwas nicht ins Bild passt. Das Wohl einzelner Individuen anhand von Gruppenstandards, wie etwa speziesspezifischen Grundbedürfnissen, festzumachen, erregt erneut den Verdacht der Bevormundung. In Bezug auf Tiere könnte entgegnet werden, dass dieser Einwand nur auf Lebewesen zutrifft, die psychologisch in der Lage sind, eigene subjektive Präferenzen auszubilden, die sich von ihren Grundbedürfnissen abheben. Ein solches kognitives und emotionales Vermögen ist aller Wahrscheinlichkeit nach nur Personen (im Locke’schen Sinn) zuzutrauen. 84 Bei Lebewesen ohne eine solch ausgeprägte Subjektivität scheinen dagegen ihre Präferenzen mit ihren Grundbedürfnissen zusam-
83 Vgl. ebd., S. 46, 194, 211-214. 84 Für eine genaue Ausführung der Kriterien für Personenstatus siehe Locke (1975), Ch. XXVII.
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menzufallen und hierzu zählen Tiere. 85 Gleichwohl scheinen wir auch bei vielen Tieren zumindest rudimentäre Ausprägungen von Individualität feststellen zu können. Es könnte jedoch eingewandt werden, dass Gruppenstandards für Individuen mit komplexen subjektiven Präferenzen nur dann problematisch sind, wenn wir behaupten würden, dass die Standards das Wohl einer Person vollständig bestimmten. Sofern wir aber nur behaupten, dass diese Gruppenstandards Grundbedürfnisse skizzieren, von denen das Individuum selbst Abstand nehmen kann, finde keine Bevormundung statt. Das scheint gerade Nussbaums Strategie zu sein. 86 Dennoch scheint die Abdeckung von Grundbedürfnissen nur deshalb relevant zu sein, weil sie das subjektive Wohlempfinden des Individuums berührt. Gerade innerhalb der Nutztierwissenschaften scheint das Schlagwort der Tiergerechtheit bzw. Artgerechtheit eben deshalb so eine wichtige Rolle zu spielen, weil davon ausgegangen wird, dass ein solches Leben von den betroffenen Tieren selbst als angenehm empfunden und bewertet wird. Nicht weil sich ein solches Leben für diese Tiere objektiv betrachtet geziemt. 87 Die subjektive Erlebnisqualität spielt aber aus streng objektivistischer Sicht keine Rolle für den Wert eines Guts und kann allenfalls als zusätzliches eigenständiges Gut aufgenommen werden (quasi ein Leben, das spezieskonform und als »Bonus« auch noch subjektiv beglückend ist). Die Einführung von speziesgebundenen Gruppennormen scheint zudem die Lebensqualität von Individuen automatisch abzuwerten, die nicht mit den Fähigkeiten typischer Speziesmitglieder mithalten können, also biologisch bedingt hinter der Speziesnorm zurückbleiben. Diese Problematik stellt insbesondere für die Beurteilung der Lebensqualität von Menschen mit starken geistigen Behinderungen ein sensibles Thema dar. Nussbaums Ansatz zufolge dürfte es diesen Individuen nicht möglich sein, ein »gutes menschliches Leben« zu führen, sofern ihnen die oben genannten kognitiv anspruchsvollen Reflexionsfähigkeiten fehlen. Damit müsste ihr Leben als bedauerlich eingestuft werden, ganz gleich wie viel Freude sie selbst aus ihren vergleichsweise einfachen Lebensinhalten ziehen. Nussbaum hält dem entgegen, dass es gesellschaftspolitisch unbedingt notwendig sei, auch stark geistig behinderte Menschen nach den gleichen anspruchsvollen Standards für »gutes menschliches Leben« zu beurteilen. Sobald wir diese Menschen nach anderen,
85 Vgl. Steinfath (2013), S. 177. 86 Vgl. Nussbaum (1998), S. 208, 220. 87 Auch Tierschützer, die betonen, dass Tiere nicht in Käfige gehören, haben m.E. die Intuition, dass ein Leben in Freiheit auch ein subjektiv angenehmeres für diese Tiere ist, oder dass möglicher Komfort durch Gefangenhaltung, wie Schutz vor Witterung und Raubtieren, nicht ausreicht um die gleichzeitige Einschränkung von Bedürfnissen auszugleichen.
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weniger anspruchsvollen Maßstäben bewerten, könnten wir versucht sein, keinerlei Anstrengungen zu unternehmen, ihnen ein Leben zu ermöglichen, das zumindest möglichst dicht an ein »gutes menschliches Leben« heranreicht. 88 Dies zeigt jedoch lediglich, dass Gruppenstandards ein hilfreicher Erinnerungsmarker sind, der uns aufordert, den Individuen, zu denen wir in Verantwortungsbeziehungen stehen, Zugang zu möglichst vielen und reichhaltigen Gütern zu ermöglichen, indem wir sie aktiv unterstützen. Wir dürfen nicht einfach unsere Verantwortungspflichten von vornherein versuchen herunterzuschrauben, indem wir einigen Individuen die Zugangsmöglichkeit zu bestimmten bereichernden Lebensinhalten pauschal absprechen. 89 Auch das belegt aber nicht, dass der bloße Umstand, Gruppenstandards zu entsprechen, für sich genommen gut für ein Lebewesen ist. Es zeigt nur, dass ein Lebewesen davon subjektiv profitiert, wenn es in einem sozialen Umfeld lebt, dass ihm den Zugang zu vielfältigen und anspruchsvollen Gütern ermöglicht (soziale Interaktionen, abwechslungsreiche Tätigkeiten, etc).
2.5 ABSCHLUSSKRITIK AM OBJEKTIVISMUS Rückblickend kann der Objektivismus auf sich allein gestellt ebensowenig vollständig überzeugen wie der radikale Subjektivismus. Gleichwohl hilft die Auseinandersetzung mit ihm, wichtige Aspekte des Wohlbegriffs herauszukristallisieren, die aus der Betrachtung des Subjektivismus alleine nicht hervortreten. Objektivistische Theorien ermöglichen es, einige tief sitzende Intuitionen einzufangen. Zum einen das Unbehagen darüber, andere Individuen nach Lust und Laune zu manipulieren und auszunutzen, selbst wenn wir es so arrangieren können, dass unsere Opfer von sich aus nichts gegen diesen Umgang mit ihnen einwenden. Zum anderen die Überzeugung, dass es möglich – und bei Verantwortungsbeziehungen sogar geboten – ist, die Lebensbewertungen Anderer zu hinterfragen und gegebenenfalls in Zweifel zu ziehen. Die Annahme objektiver Wohlstandards erlaubt es uns, eine solche kritische Überprüfung vorzunehmen und das Wohl verschiedener Individuen miteinander zu vergleichen. Ebenso erlauben solche Standards es uns, Grundbedürfnisse und Wohlideale zu formulieren, anhand derer wir unsere moralischen Pflichten der Rücksichtnahme (negative Unterlassungspflichten betonend) und der Fürsorge (positive Hilfspflichten betonend) konkreter fassen können.
88 Vgl. Nussbaum (2006), S. 189ff. 89 Auch dieser Punkt lässt sich auf Tiere übertragen, indem wir argumentieren, dass wir es Tieren in unserer Obhut mit starken Behinderungen schuldig sind, sie bei der Ausübung speziestypischer Tätigkeiten zu unterstützen (anstatt sie etwa sofort als »unterentwickelt« zu euthanisieren).
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Gleichwohl gerät der Objektivismus in Schwierigkeiten, diese wertvollen objektiven Standards glaubhaft zu fundieren. Oft scheinen für ihn die Werte einfach naturgegeben und unhinterfragbar den Dingen anzuhaften. Versuche, den objektiven Wert von Gütern zu unterfüttern, scheinen dann am aussichtsreichsten, wenn sie auf die objektive biologische Verfasstheit von Individuen rekurrieren. Auch dabei bleibt aber ungeklärt, worin denn der Wert dieser biologisch beeinflussten Güter bestehen soll, wenn nicht darin, wie sie sich auf die subjektive Perspektive des Individuums auswirken. Und diese Perspektive scheint der Objektivismus mit seinen Mitteln nicht einfangen zu können. Damit übergeht er zwangsläufig das Individuum, um dessen moralische Ansprüche es doch eigentlich gehen soll. Hier wiederum scheint der Subjektivismus seine Attraktivität aus den Schwächen seines Gegners zu ziehen. Beide Seiten, Subjektivismus wie Objektivismus, bringen somit wichtige Komponenten ins Spiel, die sich für einen überzeugenden Wohlansatz als unverzichtbar erweisen. Daher kann keine Seite im Alleingang ein vollständiges Bild liefern. Beide Seiten werden überhaupt erst einigermaßen haltbar, sobald sie beginnen, Aspekte der Gegenseite mit aufzugreifen. Dies spricht dafür, einen Hybridansatz zu verwenden, der versucht, die Stärken beider Seiten in einer miteinander kompatiblen Weise zusammenzuführen, und zugleich deren Schwächen zu vermeiden. Ich werde mich in Kapitel II.3 daher explizit für einen solchen Ansatz aussprechen und ihn grob skizzieren.
3
Für einen hybriden Wohlansatz
Ein zufriedenstellender Wohlansatz muss, wie herausgearbeitet wurde, zwei Aspekten gerecht werden. Erstens muss er die subjektive Erlebnisperspektive des betroffenen Individuums einfangen. Zweitens muss er die objektiven Lebensumstände des Individuums berücksichtigen, insbesondere wenn es darum geht, welche Fürsorgepflichten wir ihm gegenüber besitzen. Wie im I. Hauptteil angesprochen, können nicht einfach beide Aspekte ad hoc aneinander gereiht werden. Es muss eine kohärente Verbindung zwischen beiden Seiten aufgezeigt werden, was Ziel dieses Kapitels ist. Damit lege ich die WohlKonzeption fest, die ich für eine philosophische Betrachtung des Wohls von Lebewesen allgemein verwenden werde. In Kap. II.4 werde ich gesondert verteidigen, warum das von mir vorgeschlagene anspruchsvolle Wohlkonzept nicht allein auf Menschen (bzw. menschliche Personen) anzuwenden ist.
3.1 VERBINDUNG VON WELTZUSTÄNDEN UND GEISTESZUSTÄNDEN Die Forderung nach einem Hybrid-Ansatz, der Schwächen eines einseitigen Subjektivismus bzw. Objektivismus überwindet, ist nicht neu. In der Regel wird dabei die klassische Dreiteilung (Hedonistische Theorien – Wunscherfüllungstheorien – Objektive Listentheorien) nicht infrage gestellt. 1 Steinfath und Parfit bspw. beto-
1
Haybron selbst differenziert diese Aufteilung weiter aus. Er fügt Authentic happiness theories hinzu, zu denen er seinen eigenen Account wie auch Sumners zählt, sowie Eudaimonistic (›nature-fulfillment‹) theories, zu denen Nussbaums Ansatz passt und die eher objektivistisch einzuordnen sind. (vgl. Haybron [2008], S. 34). Beide Neuzugänge können jedoch bereits als Hybride interpretiert werden, bzw. wenn es sich um wirklich neue Alternativen handelt (diese Frage ist für meine Zwecke nebensächlich), so greifen
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nen, dass alle drei Grundtheorien jeweils einen wichtigen Teil des vollständigen Wohlbegriffs berühren. 2 Steinfath dazu: »So können wir ein Leben gut nennen, wenn die Person, die es führt, die Ziele, Ideale und Beziehungen, die ihr am Herzen liegen [Wunscherfüllungstheorie], auf eine sie emotional befriedigende Weise realisiert [Hedonismus] und das, was für sie zählt, auch wert- und sinnvoll ist [Objektivismus].« 3 [Anm. D.W.]
Wie Nussbaums essentialistischer Ansatz verdeutlicht, muss eine Wohlkonzeption dem Umstand gerecht werden, dass wir uns als Individuen nicht komplett frei konstruieren können, sondern in unseren Bedürfnissen immer durch materielle Voraussetzungen geprägt sind. 4 Wir können uns subjektiv entscheiden, wie viel Wert wir auf Absicherung und Qualität von Nahrung in unserer Lebensführung legen. Wir können aber uns nicht aussuchen, ob unsere Körper Nahrung benötigen, um biologisch zu funktionieren. Wir besitzen keinerlei Einfluss auf unsere grundlegende Physiologie und die mit ihr zusammenhängenden Bedürfnisse. Anhand solcher physischen und psychologischen Gegebenheiten lässt sich ableiten, dass es gewisse objektive Standards zur Beurteilung des Wohls eines Individuums durch Außenstehende geben muss. 5 Ein prudentiell gutes Leben benötigt damit die Abdeckung zweier Bereiche. Zum einen das Vorhandensein subjektiver Lebenszufriedenheit. Ein Gegenstand oder Zustand muss, um prudentiell gut für ein Individuum sein zu können, sich positiv auf den subjektiven Geisteszustand des betroffenen Lebewesens auswirken. Zum anderen müssen sich die fraglichen Güter als wertvoll verteidigen lassen. 6 Es reicht eben nicht aus, dafür zu sorgen, dass ein Individuum mit seinem Leben zu-
sie doch zentrale Aspekte der anderen drei Grundtheorien auf und versuchen sie auf unterschiedliche Weise miteinander in Verbindung zu setzen. 2
Vgl. Steinfath (2013), S. 177; Parfit (1984), S. 502.
3
Steinfath (2013), S. 177.
4
Vgl. Nussbaum (1998), S. 211-212.
5
Damit ist nicht gesagt, dass Individuen durch ihre psychischen und physischen Fähigkeiten und Verletzbarkeiten vollständig bestimmt wären. Jedoch hat diese Verfasstheit einen Einfluss auf das Wohl, dessen sich das Individuum nicht einfach subjektiv entledigen kann. Siehe hierzu auch Sumner (1996), S. 157.
6
Damit ist nicht gemeint, dass Außenstehende diese Werturteile auch faktisch teilen müssen. Nur müssen wir zumindest eine ausreichend belastbare Geschichte zu konkreten subjektiven Wertsetzungen erzählen können, um diese als Indikatoren für ein gut verlaufendes Leben annehmen zu können.
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frieden ist. Wir müssen auch darauf achten, womit sich ein Lebewesen zufrieden gibt. So betont bspw. Darwall: »Both the subjective and objective elements are necessary. If what a person experiences as having merit and worth doesn’t have it in fact, then her life has less value (including prudential value) than she supposes. […] I am not claiming that illusory satisfactions have no value for the person, nor that really meritorious, but unappreciated, activities are without benefit. My claim is simply that virtuous activity that includes an experience or appreciation of its relation to worth has far greater value for the person than either the subjective or the objective element, taken by itself.« 7
Gemäß der intuitionistischen Vorgehensweise, die ich in dieser Untersuchung anwende, beweist eine mangelnde Nachvollziehbarkeit der subjektiven Wertsetzungen des betroffenen Individuums noch nicht, dass das Individuum sich täuscht und ein in Wahrheit miserables Leben führt. Aber mangelnde Nachvollziehbarkeit ist ein wichtiger Anstoß, um nach einer Erklärung für die subjektiven Wertsetzungen des Individuums zu suchen. Dabei können sich entweder unsere außenstehenden Urteile als verfehlt erweisen, oder aber Irrtümer des betroffenen Individuums deutlich werden (vielleicht sogar Mängel in beiden Perspektiven). Gerade hierin zeigt sich, ob sich ein Lebewesen einfach nur wohl fühlt, oder ob es ihm auch wohl ergeht. Sumner bspw. trennt aufgrund dieses Unterschieds strikt zwischen »Glück«, das allein auf mentalen Zuständen basiert, und »Wohl«, das diese mentalen Zustände mit Gütern verbindet, die sich bezogen auf dieses Individuum tatsächlich als wertvoll verteidigen lassen. 8 Erneut scheint Darwalls Faustregel hilfreich: Gut für ein Individuum ist, was wir ihm vernünftiger Weise wünschen können, wenn uns dieses Individuum wirklich am Herzen liegt. 9 Diese Formel greift einerseits den Zusammenhang auf zwischen der Frage, was das Wohl des Individuums ausmacht und der Frage, wie wir mit anderen Individuen umgehen sollten. Dabei appelliert Darwall auch an unsere moralischen Intuitionen. Wenn uns ein Individuum wirklich am Herzen liegt, könne es uns nicht egal sein wie seine Lebensumstände aussehen, selbst wenn es glücklich ist. Ebensowenig kann es uns egal sein, ob das betroffene Individuum sein Leben, egal wie reich an Gütern, auch selbst als positiv bewertet. 10
7
Darwall (2002), S. 97.
8
Vgl. Sumner (1996), S. 139, 161.
9
Vgl. Darwall (2002), S. 8-9.
10 Wenn ein Leben, das sowohl glücklich als auch frei von Täuschungen und Manipulationen ist, nicht zur Auswahl steht, mag es durchaus sein, dass ein bloß glückliches Leben immer noch die bessere Option ist. Einen solchen Vorrang macht etwa Haybron stark, mit
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Dabei ist auch zu beachten, dass es nicht ausreicht, wenn beide Seiten parallel abgedeckt werden. Es kommt auch auf die richtige Art der Verbindung zwischen ihnen an. Es genügt nicht, dass ich mich mit Tätigkeiten beschäftige, die sich als sinnvoll vor Anderen verteidigen lassen, und durch das gleichzeitige Einnehmen eines Stimmungsaufhellers mir parallel dazu einen positiven mentalen Zustand verschaffe. Ich bin in diesem Fall glücklich und gehe wertvollen Tätigkeiten nach. Ich bin aber nicht glücklich, weil ich ihnen nachgehe. Mein subjektiver Geisteszustand und meine objektive Lebensverfasstheit müssen auf eine direkte Weise miteinander verbunden sein. 11 Die Wichtigkeit der richtigen Verbindung wird etwa deutlich, wenn Steinfath argumentiert, dass unsere subjektiven Urteile bereits immer schon die Annahme enthalten, dass unsere Meinungen zutreffen. Wir können nicht mit unserem Leben in belastbarer Weise zufrieden sein, wenn es uns egal ist, ob sich unsere Einschätzungen zu unserem Leben glaubhaft verteidigen lassen – oder wenn wir uns vor einer kritischen Überprüfung zu drücken versuchen. 12 Es kann mir nicht einfach egal sein, ob das Leben, das ich bejahe, wirklich so beschaffen ist, wie ich vermute. Ebenso wenig kann ich einfach ignorieren, ob zwischen den Lebenszuständen, die mich umgeben, und meinen mentalen Zuständen eine ausreichend direkte Verbindung besteht. Meine Zufriedenheit gerät ins wanken, wenn ich reflektiere, dass ich sie dem Konsum von Stimmungsaufhellern verdanke und nicht meiner Lebenssituation selbst. Im Folgenden werde ich mich auf Versuche von Seel und Sumner konzentrieren, die geforderte Verbindung zwischen subjektiven Geisteszuständen und objektiven Weltzuständen plausibel zu konzipieren. Da beide Autoren von einem HybridAnsatz ausgehen, der letztendlich doch wieder subjektivistisch fundiert ist, werde ich eingangs erläutern, warum ein objektivistisch fundierter Hybrid m.E. weniger belastbar ist. 13
dem Vermerk, wenn jemand nicht psychologisch gedeihe, dann gedeihe er überhaupt nicht (vgl. Haybron [2008], S. 106). Darwall scheint hingegen davon auszugehen, dass ein rein objektives Gedeihen zwar möglich, aber ohne begleitendes subjektives Glück minimal ist (vgl. Darwall [2002], S. 97). 11 Vgl. Wolf (2010), S. 10-21. 12 Vgl. Steinfath (1998b), S. 86-87. 13 Verteidiger des Subjektivismus könnten behaupten, dass es sich bei dem, was ich als Hybrid bezeichne, nur um einen moderateren Subjektivismus handle. Da aber mit dem Aufnehmen objektiver Weltzustände eindeutig rein subjektivistisches Terrain verlassen wird (wenn auch subjektivistisch fundiert), ist es angebracht, bei den von mir vorgestellten Ansätzen zumindest von »weichen« Hybriden zu sprechen. Ich danke Bernd Ladwig für diesen Hinweis im Rahmen seines Kolloquiums am 31.05.2016 in Berlin.
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3.2 HYBRID AUF SUBJEKTIVISTISCHER BASIS Subjektivistische Grundtheorien besitzen den Vorteil, eine weniger metaphysisch verdächtige Erklärung liefern zu können, was den Dingen in der Welt ihren Wert verleiht: nämlich das Individuum selbst, das die Welt erlebt und bewertet. Dagegen ist die Annahme eines Wertrealismus, wonach der Wert der Dinge außerhalb des Individuums liegt, stark klärungsbedürftig. Subjektivisten können zugestehen, dass die von objektiven Listen aufgeführten Güter tatsächlich gut für das Individuum sind, nur liege dies eben nicht an den Gütern selbst, sondern sei letztendlich auf subjektive Wertsetzungen des Individuums zurückzuführen. 14 Ein Individuum kann, nachdem es solche Werte einmal gesetzt hat, sich aber immer noch irren, ob ein Gegenstand objektiv betrachtet die Eigenschaften aufweist, die das Individuum subjektiv wertschätzt. 15 So etwa in Williams Beispiel, in dem eine Person ein Glas austrinken möchte, im Glauben es enthalte Gin, obwohl es tatsächlich mit Benzin gefüllt ist. Dass es für mich schlecht ist, dieses Glas zu trinken, liegt nicht an einem objektiven Wert von Gin, Benzin oder meiner Gesundheit. Ausschlaggebend ist, dass ich meine Gesundheit sowie den Geschmack von Gin schätze, den Geschmack von Benzin und dessen Wirkung auf meine Gesundheit hingegen nicht. Damit ist es objektiv schlecht für mich, das fragliche Glas anzurühren, während sich die Letztbegründung aus subjektiven Wertsetzungen ableitet. Sumner argumentiert daher, dass ein modifizierter Subjektivismus die Annahme des Objektivismus aufnehmen kann, dass Subjektivität nicht der einzige Maßstab des Wohls ist. So zählen etwa auch logische Konsistenz und empirische Fakten. Demgegenüber hat jedoch der Objektivismus Schwierigkeiten, die Psychologie des Individuums überzeugend in sein Theoriewerk einzubinden. 16 Hybrid-Konzeptionen sind für Sumner daher nur auf subjektivistischer Grundlage möglich. 17 Zumindest sind sie, aufgrund der Schwierigkeiten, die ein Wertrealismus mit sich bringt, plausibler zu verteidigen. So betont auch Haybron, dass sich diejenigen Wohlsansätze am besten verteidigen lassen, die sich an der subjektiven Perspektive des Individuums orientieren, dabei jedoch bestimmte Authentifizierungskriterien für dessen subjektive Zustände
14 Vgl. Steinfath (2011), S. 300-301. 15 Vgl. Haybron (2008), 178. 16 Wie ich im letzten Kapitel argumentierte, versucht Schaber dies zwar, kann jedoch die subjektive Erlebnisqualität nicht adäquat einfangen. 17 Vgl. Sumner (1996), S. 54 FN 15 sowie S. 82. Sumner lehnt infolge dessen objektivistische Theorien vollständig ab und plädiert für einen Hybrid allein aus hedonistischen Theorien und Wunscherfüllungstheorien. Dabei versucht Sumner objektive Weltzustände über die Wunscherfüllungstheorien mit aufzunehmen (vgl. ebd., S. 175).
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einfordern. Er bezeichnet solche Ansätze als Authentic happiness theories. 18 Hierunter lassen sich die Ansätze von Seel und Sumner fassen, denen ich mich in diesem Kapitel näher widmen werde. Auch wenn ihre Varianten nicht die einzigen sind, beschränke ich mich auf eine kurze Auseinandersetzung mit diesen beiden und klammere alternative Varianten, wie etwa Haybrons Emotional State Account aus. 19 Zum einen, da gerade Seel und Sumner ihre Wohlkonzeptionen explizit für eine Übertragung auf Tiere öffnen. Haybrons Ansatz hingegen weist eine starke anthropologische Auseinandersetzung mit dem Wohlbegriff auf, also Fragen der richtigen eigenen Lebensführung, die von der Beurteilung des Tierwohls somit wegführt. 20 Zum anderen enthalten die Ansätze Seels und Sumners m.E. bereits die wichtigsten Kerngedanken, die auch bei Haybron und Anderen zu finden sind. Mein Ziel ist nicht, eine spezielle Variante eines Hybrid-Ansatzes als die einzig überzeugende auszuweisen. Mein primäres Ziel ist, zu verdeutlichen, wie ein belastbarer Hybrid funktionieren kann, und inwiefern er uns einem besseren Verständnis des individuellen Wohls näher bringt. Eine Klärung, welche konkrete Spielart letztendlich am überzeugendsten ist, stellt ein eigenständiges philosophisches Projekt dar, dem ich im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgehen kann. Daher soll es genügen, die Ansätze von Seel und Sumner als viel versprechende Kandidaten vorzuschlagen, aus denen sich bereits wichtige Erkenntnisse gewinnen lassen. 3.2.1 Seels Ansatz Seel stellt das subjektive Glück des Individuums in den Mittelpunkt seiner Wohlkonzeption, verlangt aber zugleich, dass dieses Glück in bestimmter Hinsicht authentisch sein muss. Dabei wird eine Verbindung zwischen Geistes- und Weltzuständen hegerstellt, die Seel als »objektivierbaren Subjektivismus« bezeichnet. 21 Das Wohl eines Lebewesens (und Seel bezieht hier explizit Tiere mit ein 22) hängt hiernach davon ab, ob dieses Lebewesen in der Lage ist, seine eigene Lebensverfassung im Rahmen einer freien Weltbegegnung zu bejahen. Seel weist dabei den Wertrealismus klar zurück. Güter besitzen keinen isolierten Wert an sich, sondern können erst dadurch Wert erhalten, dass sie vom Individuum »in der Immanenz des Vollzugs« als lohnend empfunden werden. Seels Formel der freien Weltbegegnung schlüsselt sich wie folgt auf:
18 Vgl. Haybron (2008), S. 34. 19 Vgl. ebd., Ch. 6. 20 Vgl. ebd., Part III. 21 Vgl. Seel (1998), S. 278-279. 22 Vgl. ebd., S. 277.
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frei: Es muss ein »Spielraum« vorhanden sein, d.h. das Individuum muss in der Lage sein, ohne Automatismus und Fremdbestimmung seine Lebenssituation zu bewerten und Handlungsentscheidungen zu treffen. Welt: Die objektiven Lebensumstände des Individuums müssen berücksichtigt werden, da diese Umstände bekömmlich bzw. schädlich für das Individuum sein können. Bspw. können bestimmte Lebensumstände die Handlungen, die ein Lebewesen ausführen kann, stark einschränken oder erweitern sowie die körperliche Verfassung begünstigen oder verschlechtern. Begegnung: Die Zufriedenheit des Individuums darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss sich in der Interaktion mit seiner Umwelt ergeben, indem es seine Lebensumstände wahrnimmt, bewertet und suchend bzw. meidend auf sie reagiert. 23 Das Wohl eines Individuums besteht hiernach in einer als subjektiv befriedigend wahrgenommenen Auseinandersetzung mit der objektiven Wirklichkeit. Seel verwendet, anders als Sumner, »Glück« und »Wohl« synonym. 24 Das folgende Zitat über Glück ist daher als allgemeine Wohl-Aussage zu verstehen: »Glück ist nicht einfach ein Sichwohlfühlen. Zum Glück fehlt hier der gelingende Austausch mit einer im guten und im schlechten widerständigen Wirklichkeit, jenes Moment gelingender Welterschließung und Weltaneignung, das bei Menschen und Tieren eine wesentliche Grundlage ihres Wohlbefindens ist – ein in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Welt ihres Lebens gewonnenes Wohlergehen, das sie, wenn sie die freie Wahl haben, jederzeit bevorzugen würden gegenüber einem bloß induzierten Wohlgefühl.« 25
Seel bringt dies noch einmal komprimiert auf die Formel: »Ein Individuum hat ein gutes Leben, wenn es der für seinen Lebensvollzug relevanten Wirklichkeit so begegnen kann, daß es in ihr einen Spielraum für befriedigende Lebenstätigkeiten findet.« 26
23 Vgl. ebd., S. 282-283. 24 Anders etwa Sumner oder Birnbacher, die Glück als rein subjektives Gefühl verstehen, bei Wohl dagegen bereits objektivistische Aspekte mitdenken (vgl. Sumner [1996], S. 139, 161; Birnbacher [2005]). 25 Seel (1998), S. 292. 26 Ebd., S. 283.
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Diese Formel besitzt eine gewisse Nähe zum Coping-Ansatz, der von der empirischen Nutztierwissenschaft favorisiert wird (vgl. I.4). Jedoch betont Seel hierbei stärker die Wichtigkeit positiver Erfahrungen statt nur der Fähigkeit, mit Herausforderungen und Beschwerlichkeiten innerhalb des eigenen Lebens umzugehen und dabei negative Erlebnisse erfolgreich abzuwehren. Vor allem aber betrachtet Seel die Lebensqualität nicht allein anhand des Endergebnisses, also mit welchem physischen und psychischen Zustand ein Lebewesen aus herausfordernden Situationen heraustritt. Er betont, dass der Vollzug des Lebens, ein ausreichendes Maß an Entscheidungsmöglichkeiten beinhalten muss. Seel gelingt es, die Notwendigkeit objektiver Wohl-Standards zu fundieren, ohne dabei von subjektunabhängigen, metaphysisch aufgeladenen, objektiven Werten ausgehen zu müssen. Denn die Güter, die hierbei als objektive Standards gelten, werden direkt auf die subjektive Empfindungsfähigkeit des Individuums bezogen. Dies betrifft vor allem Umwelteinflüsse auf den körperlichen Gesundheitszustand. 27 Ein Lebewesen kann sich zwar subjektiv aussuchen, wie viel Wert es seiner Gesundheit und seinem Leistungsvermögen beimisst, es kann sich aber nicht aussuchen, ob sich Umwelteinflüsse (bei Nutztieren etwa Nahrungszusammensetzung, Klima, Platzangebot, etc.) überhaupt auf seine körperliche Verfassung auswirken. Ähnliches gilt für die psychologische Verfasstheit. Ein Lebewesen kann sich nicht subjektiv aussuchen, ob es unter mangelnder geistiger Herausforderung (etwa durch eine reizarme eintönige Umgebung) oder fehlenden sozialen Interaktionen abstumpft und sich langweilt. Nussbaums Beschreibung essentieller körperlicher und psychologischer Eigenschaften empfindungsfähiger Lebewesen bietet sich hierbei zur weiteren Unterfütterung solcher objektiver Standards an. 28 Seels Ausführungen haben jedoch den erwähnten Vorteil, den prudentiellen Wert objektiver Standards explizit auf die subjektive Perspektive des Individuums zurückzubinden und damit eine Leerstelle zu füllen, die ich Nussbaum und anderen Objektivisten zuvor attestiert habe (II.2.4.2-4). Für das individuelle Wohl sind zwei objektivistische Aspekte von besonderer Relevanz. Es müssen (a) empirische Tatsachen über die Dinge die wir anstreben und wählen, berücksichtigt werden, sowie (b) die logische Konsistenz unserer Handlungen und Urteile. Bspw. darf es als objektiv gut für mich gelten, mich gesund zu ernähren, da ich über einen Körper verfüge, der von zentraler Bedeutung dafür ist, wie ich mich und meine Umwelt erfahre und mit letzterer interagieren kann. Eine gesundheitsförderliche Ernährung hat daher positiven Einfluss auf die Qualität meines Lebens, ganz gleich ob ich auch subjektiv davon überzeugt bin. Ebenso ist es von meiner subjektiven Meinung unabhängig, welche Nahrungsmittel
27 Vgl. ebd., S. 281. 28 Vgl. Nussbaum (1998), S. 211-215 sowie Nussbaum (2004), S. 314-317.
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gesund sind. Das Individuum kann zwar eigene Wertsetzungen vornehmen, es kann jedoch nicht völlig frei bestimmen, welche Umweltfaktoren überhaupt einen förderlichen oder schädlichen Einfluss auf sein Leben haben werden. Ebenso wenig kann es subjektiv bestimmen, welche Gegenstände oder Zustände zum Ziel führen, wenn es erst einmal seine Wertsetzungen vorgenommen hat. 29 Bezogen auf das Beispiel des glücklichen Sklaven kann so argumentiert werden, dass dieser nicht begreift, dass sein eingeschränktes Leben objektiv schädlich für ihn ist, da er sich bspw. langsam aber sicher körperlich ruinieren wird. Auch sind ihm zentrale Möglichkeiten sozialer Interaktion nicht gestattet, wodurch ihm positive emotionale und soziale Erfahrungen entgehen (Vorenthalten positiver Erfahrungen), was zudem langfristig zu Depressionen führen kann (Förderung negativer Erfahrungen). Ebenfalls könnte der Sklave zwar ein freies Leben anstreben, aber vollkommen verzerrter Auffassung sein, wie so ein Leben aussieht. Er könnte empirische Fakten seiner beengenden Lebensumstände übersehen, etwa, dass er sich nicht uneingeschränkt überall hin bewegen kann, oder sie aufgrund von Sozialisation als völlig normal und nicht weiter hinterfragbar betrachten. All dies ändert nichts daran, dass ihm objektiv Betätigungsmöglichkeiten und Erfahrungen entgehen, die er aufgrund seiner physischen und psychischen Verfasstheit als bereichernd erleben würde. Und er läuft Gefahr, durch diese beengende Lebensweise nachhaltig die Fähigkeit einzubüßen, solchen Betätigungen nachzugehen und diese Erfahrungen als angenehm erfahren zu können. 30 Dass es einem Lebewesen wohl ergeht, bedeutet hiernach zusammengefasst, dass es sein Wohlgefühl in einer nicht zwangsgesteuerten Auseinandersetzung mit seiner tatsächlichen Umwelt und seiner tatsächlichen Lebenssituation erlangt. 31 Subjektives Wohlgefühl und Wertsetzungen bilden dabei den Ausgangspunkt der Wohlbeurteilung, jedoch nur, sofern sie einen tatsächlich Bezug zur Umwelt und Lebenssituation des Individuums beinhalten. Und auch nur, sofern sie sich auf eine
29 Vgl. Seel (1998), S. 291. 30 Man denke an die literarische Figur des Butlers Mr. Stevens in Ishiguros The Remains of the Day, der sich von Kindesalter an völlig einer Rolle als Bediensteter verschreibt und zunehmend unfähig wird, Chancen zu erkennen und zu ergreifen, ein persönlich bereichernderes Leben zu führen (vgl. Ishiguro [1989]). Bezogen auf Tiere denke ich an solche, die so lange in dunklen Ställen gehalten wurden, dass sie eine Furcht vor Sonnenlicht und freiem Auslauf entwickeln, also nicht mehr fähig sind, Freiheit zu genießen. 31 Haybron ergänzt, dass zu einer authentischen Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation bspw. auch gehöre, dass unser Gehirn richtig funktionieren muss. Es darf bspw. nicht dauerhaft auf »glücklich« geschaltet sein, so dass einfach jeglicher Input positiv bewertet wird, ganz gleich wie unser Leben beschaffen ist (vgl. Haybron [2008], S. 186).
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nicht fremdbestimmte, eigene subjektive Perspektive des Individuums beziehen. Als entscheidender Leitgedanke lässt sich damit herauskristallisieren, dass wir bei der Beurteilung des Wohls eines Lebewesens dessen Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation in den Blick nehmen müssen. Dabei müssen wir jedoch kritisch untersuchen mit welchen oder trotz welcher Lebensumstände sich das Individuum wohl fühlt, und wie es kommt, dass es sich mit ihnen oder trotz ihnen wohl fühlt. 3.2.2 Sumners Ansatz Auch Sumner schlägt einen objektivierten Subjektivismus vor. Das Wohl eines Individuums bemisst sich hiernach daran, welche Handlungen und Lebensumstände ein Lebewesen subjektiv glücklich machen (oder in Zukunft glücklich machen würden), jedoch nur sofern sich diese Zufriedenheit in bestimmter Weise als authentisch verteidigen lässt. Authentizität besteht für Sumner aus zwei Komponenten: subjektive Wertsetzungen und Urteile müssen (1.) »ausreichend informiert« und (2.) »autonom« sein. Diese Objektivierungskriterien haben laut Sumner gerade den Sinn, die subjektive Perspektive des Individuums gegen manipulative Eingriffe sowie Täuschungen zu schützen. 32 »This theory is subjective, since it makes a subject’s welfare depend on her attitudes, and since the function of the authenticity requirement is to ensure that these attitudes are genuinely hers.« 33
»Ausreichend informiert« bedeutet hierbei, dass die Urteile und Empfindungen des Individuums sich auf Lebensumstände richten, die tatsächlich für sein Leben der Fall sind. Ein Individuum kann sich in der Einschätzung seines eigenen Wohls irren, wenn seine Zufriedenheit auf der Annahme beruht, sein Leben sei durch bestimmte Eigenschaften geprägt, die in Wirklichkeit nicht gegeben sind. So etwa der Glaube Freunde zu haben, die in Wirklichkeit nicht existieren. Liegen solche Irrtümer vor, so ist das Individuum zwar glücklich, aber eben nicht mit dem Leben, das es tatsächlich führt. Die objektivistische Komponente besagt hierbei eben nicht, dass bestimmte Dinge völlig unabhängig vom Subjekt Wert besitzen, sondern richtet sich darauf, welche Dinge, denen ein Individuum subjektiv Wert zuschreibt, objektiv im Leben dieses Individuums realisiert bzw. vorhanden sind. 34 »Autonom« wiederum bedeutet hier, dass die Wertsetzungen und Urteile des Individuums berechtigterweise als seine eigenen und nicht die eines anderen Indivi-
32 Vgl. Sumner (1996), S. 54, 139, 167. 33 Ebd., S. 139. 34 Vgl. ebd., S. 166ff.
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duums bezeichnet werden können. Dabei ist sich Sumner des Problems bewusst, dass alle sozialen Lebewesen ihre Überzeugungen und Maßstäbe durch Interaktion mit anderen Individuen überhaupt erst ausbilden. Wir sind niemals völlig frei von äußeren Einflüssen. 35 Einflussnahme ist gerade der Sinn hinter jeder pädagogischen Erziehungsarbeit, etwa dem Bemühen von Eltern, ihre Kinder zu befähigen, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Sumner sieht es nicht als problematisch an, dass wir durch Sozialisation Wertvorstellungen und Meinungen Anderer aufgreifen und übernehmen. Entscheidend ist, welche Möglichkeit ein Individuum hat, die Meinungen und Wertvorstellungen, mit denen es in Berührung kommt, anzuzweifeln, zu hinterfragen und auch abzulehnen: »Intuitively, a socialization process seems manipulative when it compromises or fails to respect the autonomy of its subject, by denying the subject the opportunity for critical reflection on the process itself and its outcome. […] Roughly speaking, an autonomy-preserving socialization process will be one which does not erode the individual’s capacity for critical assessment of his values, including the very values promoted by that process itself.« 36
Diese Forderung scheint durch Seels Idee des »Spielraums« näher ausbuchstabierbar. Ein Individuum muss, damit es ihm wohl ergeht, in die Lage versetzt werden, auf die eigenen Lebensumstände auf unterschiedliche Weise zu reagieren. Es darf weder in seinen physischen Bewegungen, noch seinen psychologischen Dispositionen so eingeschränkt werden, dass es nur noch auf eine bestimmte Weise reagieren kann. 37 Um diesen Spielraum als gewährleistet anzusehen, genügt es nicht, dass ein Individuum sich faktisch mit bestimmten Wertsetzungen identifizieren kann. Eine solche Identifikation zu erreichen, ist gerade das Ziel einer effizienten Manipulation. 38 Bereits der Prozess, in dem ein Individuum beginnt, sich mit Wertsetzungen zu identifizieren und sie als die eigenen anzunehmen und weiter auszuprägen, muss einen ausreichenden Spielraum enthalten. Das Wohl eines Individuums ist erst dann gewährleistet, wenn ein Individuum nach seinen Maßstäben mit seinem Leben zufrieden ist. 39 Damit lässt sich für Sumner auch einfangen, warum wir das Wohl der ausgebeuteten Arbeiter in Sens Bei-
35 Vgl. ebd., S. 170. 36 Ebd., S. 170. 37 Ich werde in Kap. II.4. näher erläutern, warum ein solches Autonomie-Kriterium auch auf Tiere angewandt werden sollte, obwohl ihnen in der Regel komplexe Reflexionsfähigkeiten fehlen und ihnen daher Autonomie dem üblichen philosophischen Verständnis nach nicht zugeschrieben wird (vgl. McMahan [2002], S. 245ff). 38 Sumner (1996), S. 168-169. 39 Ebd., S. 163-164, 172-173.
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spielen intuitiv als problematisch bewerten, auch wenn diese Menschen gelernt haben, mit wenig im Leben zufrieden zu sein. Um diese Intuition zu erklären, müssen wir nicht zwingend annehmen, dass in ihren Leben Dinge fehlen, denen ein objektiver Wert anhaftet. Vielmehr haben wir Grund in Zweifel zu ziehen, dass diese Menschen tatsächlich nach eigenen Maßstäben ihr Leben adäquat erfassen und bewerten. Ihren subjektiven Bewertungen liegt keine eigenständige autonome Perspektive zugrunde. 40 Diese Menschen haben bspw. durch ihre Erziehung »gelernt«, dass ihnen ein bestimmter Rang innerhalb der Gesellschaft fest zugeschrieben ist und jeder Mensch sich mit seinen Lebensumständen zu arrangieren habe, anstatt sie zu kritisieren, abzulehnen oder gar zu verändern. Vielleicht ist als Folge hiervon sogar die bloße Möglichkeit eines anderen Lebens für sie unvorstellbar geworden, so dass sie gar nicht kompetent beurteilen können, ob ein anderes Leben sie glücklicher machen würde. Wenn wir den Wohlzustand eines konkreten Individuums versuchen einzuschätzen, sollten wir daher nicht nur auf Anzeichen dafür achten, ob dieses Individuum mit seiner Lebenssituation zufrieden ist, bzw. fähig ist, sich mit ihr zu arrangieren. Wir sollten auch untersuchen, auf welchem Weg die subjektive Zufriedenheit mit diesen Umständen im Konkreten erreicht wurde. Dabei hält es Sumner für möglich, objektive Standardgüter herauszukristallisieren. Ähnlich wie Nussbaum erkennt auch Sumner an, dass unsere biologische Beschaffenheit und unsere psychologischen Fähigkeiten bestimmte Grundbedürfnisse generieren. Bestimmte Dinge scheinen intuitiv schlichtweg so schädlich, dass es einer überzeugenden Erklärung bedarf, warum ein Lebewesen mit ihnen authentischer Weise zufrieden sein könnte. Hierzu zählt Sumner bspw. chronische Schmerzen. 41 Sofern ein Individuum trotz chronischer Schmerzen sein Wohl als unbedenklich einordnet, haben wir Grund dieses Urteil in Zweifel zu ziehen, es sei denn es lassen sich Gründe benennen, die die positive Lebenseinschätzung des Individuums verständlich machen. 42 Die Kernaussage hinter dieser Wohlkonzeption lautet somit: Gerade wenn uns die subjektive Perspektive eines Individuums wichtig ist, reicht es nicht aus, zu untersuchen, welche mentalen Zustände das Individuum faktisch aufweist. Uns muss auch die Geschichte hinter diesen Zuständen interessieren: wie sie zustande
40 Ebd., S. 166ff. 41 Vgl. ebd., S. 180ff. 42 Hiermit deckt sich auch das in der Literatur zum Guten Leben oft angeführte Beispiel Sigmund Freuds. Dass Freud seinen ungetrübten klaren Verstand einer schmerzlindernden aber zugleich geistig benebelnden Medikamentierung vorzieht, zeigt eben nicht, dass Freud ein Leben voller Schmerzen als gut betrachtete. Es zeigt nur, welchen Aspekt seines Wohls – Verstand vs. Schmerzfreiheit – Freud weniger bereit war zu entbehren.
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gekommen sind, ob dabei absichtliche Fremdeinwirkung im Spiel war, und ob diese dem Individuum so wenig Spielraum gelassen hat, dass wir die Autonomie seiner subjektiven mentalen Zustände anzweifeln sollten. Die konkreten Lebensumstände eines Individuums können dabei ein wichtiges Indiz für angebrachte Zweifel sein. Zumindest wenn diese Lebensumstände so beengend, körperlich aufreibend und lebensverkürzend sind, dass ein Zufriedensein mit ihnen stark verwundern muss.
3.3 ANNÄHERUNG AN DIE INHALTLICHE BESTIMMUNG DES WOHLS Anhand der vorgebrachten Argumente konzipiere ich das Wohl eines Individuums wie folgt: Einem Individuum ergeht es genau dann gut, wenn es mit den objektiven Umständen seines Lebens zufrieden ist und diese Zufriedenheit auf autonomen Wertsetzungen beruht. Solange ein Individuum mit seinem Leben nicht zufrieden ist, kann nicht davon gesprochen werden, dass es ihm gut ergehe. Aber selbst wenn das Individuum zufrieden ist, so ist sein Wohlgefühl kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls anzuzweifeln, wenn sein Leben durch Umstände geprägt ist, die seine Betätigungsmöglichkeiten stark einschränken, seine körperliche und psychische Verfassung schädigen oder sein Leben verkürzen. Durch diese Formel lässt sich auch einfangen, warum es nicht ausreicht, dass ein Individuum aufgrund von Täuschung oder Manipulation mit seinem Leben zufrieden ist. Denn beides verhindert gerade die autonome Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit. Ursula Wolf liefert in ihrer eigenen Auseinandersetzung mit dem Wohl von Menschen und Tieren erhellende Ausführungen, in denen sie die unterschiedlichen Wohl-Aspekte eines Lebens und deren Unverzichtbarkeit für das Gesamtwohl des Individuums aufschlüsselt. Ich ziehe ihren Beitrag daher zur Ausformulierung meines Wohl-Verständnisses ergänzend hinzu. 3.3.1 Wolfs Vorbedingungen für den Besitz eines eigenen Wohls Wolf benennt Vorbedingungen, die ein Lebewesen erfüllen muss, um überhaupt sinnvoller Weise davon sprechen zu können, dass dieses Wesen ein eigenes Wohl besitzt. Wolf spricht hierbei vom subjektiven Wohlbefinden des Individuums. Dies ist jedoch nicht zu verstehen im Sinne eines radikal-subjektivistischen Wohlverständnisses. Vielmehr betont Wolf, dass zu diesem subjektiven Wohl alles gehört, was dem betroffenen Individuum »etwas ausmachen« kann, unabhängig davon, ob
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es ihm faktisch auch etwas ausmacht. 43 Damit untermauert Wolf die Notwendigkeit einer subjektivistischen Unterfütterung von Wohl-Aussagen. Damit unterscheidet Wolf Faktoren, die allgemein schädlich oder förderlich für ein Individuum sind, von solchen, die das betreffende Individuum auch selbst fähig ist, als schädlich oder förderlich aufzufassen (unabhängig davon ob es sie faktisch auch so auffasst). Sie illustriert dies anhand der Gegenüberstellung von Steinen, Pflanzen und empfindungsfähigen Wesen: »Auf Steine kann man keine Rücksicht nehmen, weil es ihnen nichts ausmacht, wie man sie behandelt. Rücksicht nehmen kann man auf alle Wesen, denen dies etwas ausmacht, d. h. die fühlen und leiden können, anders gesagt, die ein (subjektives) Wohlbefinden haben.« 44 »Man kann sicher vom Wohl oder Gedeihen von Pflanzen in einem objektiven Sinn reden. Aber was Wesen zu Gegenständen der Moral macht, war, dass es ihnen subjektiv gut oder schlecht gehen kann, dass sie leiden und wollen können. Pflanzen können das nicht, denn sie haben keine Nerven und keine Muskeln.« 45 [Hervorhebung im Original]
Sofern gar keine subjektive Perspektive des Individuums vorhanden ist, können wir zwar immer noch über den Zustand dieses Individuums Urteile fällen. Wir reden dann jedoch nicht mehr über den Zustand, den wir als »Wohl« in einem ethisch relevanten Sinne meinen. Und nur um diesen geht es Wolf (und auch mir). 46 Wolf benennt hierbei zugleich die wesentlichen Voraussetzungen für den Besitz eines moralisch relevanten Wohls: Empfindungsfähigkeit (leiden können) und Bewusstseinsfähigkeit (wollen können). Da nicht alle Lebewesen über diese Fähigkeiten verfügen, grenzt Wolf die Gruppe der Lebewesen, deren Wohl wir moralisch beachten können und müssen, entsprechend ein:
43 Vgl. Wolf (2012), S. 73, 114. Es bleibt in Wolfs Konzeption des Wohls weitestgehend unbestimmt, welche Rolle subjektivistischen und objektivistischen Elementen zugewiesen wird. Klar scheint jedoch, dass beide Seiten für Wolf eine Rolle spielen. 44 Ebd., S. 86. 45 Ebd., S. 114. 46 Dies ist mit Haybrons plakativer These kompatibel, wonach ein Individuum in Situationen, in denen es nicht psychologisch gedeihen kann, eben überhaupt nicht gedeihe (vgl. Haybron [2008], S. 106). Zumindest in keinem ethisch relevanten Sinne, wie Ursula Wolfs Pflanzenbeispiel verdeutlicht.
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»Pflanzen besitzen sicher kein subjektives Wohl im relevanten Sinn, auch nicht Tiere mit geringer Differenzierung, ebensowenig Menschen mit bestimmten mentalen Defekten oder Embryonen.« 47
Das bedeutet nicht automatisch, dass wir mit all diesen Lebewesen umgehen können, wie es uns gerade beliebt. Wolf lässt die Möglichkeit von Handlungsbeschränkungen und Hilfspflichten auch ihnen gegenüber offen. Jedoch können diese nicht durch Bezug auf deren Wohl begründet werden. Diese Lebewesen besitzen kein in diesem Sinne relevantes Wohl. 48 Dagegen lassen sich bei allen Lebewesen, die fähig sind zu leiden und zu wollen, bestimmte konzeptuelle Gemeinsamkeiten benennen, auch wenn sich Lebewesen individuell und speziesspezifisch darin unterscheiden, worunter sie leiden und was sie wollen. 49 Unabhängig von den konkreten Inhalten dieses Leidens und Wollens versucht Wolf bestimmte Grundbedingungen zu benennen, die für das Wohl eines jeden Individuums eine Rolle spielen (sofern es denn über ein eigenes Wohl verfügt). »Denn es lassen sich einige grundlegende negative Bedingungen formulieren, die jedes Glücksstreben behindern oder verunmöglichen, gleichgültig welche Lebenskonzeption man hat bzw. worin man das Glück inhaltlich sieht.« 50
Diese negativen Bedingungen erzeugen in Wolfs Terminologie »elementares Leiden«, da sie es dem Individuum grundsätzlich unmöglich machen, ein prudentiell gutes Leben zu führen. Wolf teilt diese Bedingungen in zwei Untergruppen auf: (1.) Vorbedingungen, ohne die kein Glücksstreben möglich ist. (2.) Unverzichtbare Bestandteile, ohne die ein Glückstreben nicht erfolgreich sein kann. 51 Ich widme mich in diesem Abschnitt allein den Vorbedingungen und behandle die unverzichtbaren Bestandteile unter II.3.3.3 Vorbedingungen eines jeden Wohlstrebens sind laut Wolf:
47 Wolf (2012), S. 73. 48 Wolf nennt in diesem Zusammenhang Überlegungen von Pietät. Diese sind laut Wolf aber nicht mehr Gegenstand der Moral, sondern umfassen Handlungsentscheidungen die außerhalb der Grenzen der Moral lägen (vgl. ebd., S. 73). 49 Je mehr wir über die konkrete biologische Beschaffenheit eines Lebewesens wissen, und welche Lebenserfahrungen und Entscheidungen in seiner Vergangenheit liegen, umso feinkörnigere Urteile können wir fällen über das, was seinem Wohl zu- oder abträglich ist. Hierin besteht ein wichtiger Anknüpfungspunkt an die empirische Forschung. 50 Ebd., S. 88. 51 Ebd., S. 88.
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• • •
am Leben zu sein ein Minimum an physischen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten ein Minimum an Nahrung und weiteren notwendigen materiellen Gütern 52
Indem wir das Wohl eines Individuums als moralisch relevantes Moment auffassen, das uns bestimmte Handlungs- und Unterlassungspflichten auferlegt, leiten sich aus diesen Vorbedingungen für Wolf grundsätzliche Anspruchsrechte des Individuums ab: 1. Ein Recht auf Leben 2. Ein Recht auf physische und psychische Unversehrtheit 3. Ein Recht auf ausreichend abgedeckte materielle Lebensbedingungen 53 Mit der Abdeckung dieser Rechte ist das Wohl des Individuums jedoch noch nicht sichergestellt. Es sind lediglich die primären Bedingungen erfüllt, ohne die eine ausreichende Berücksichtigung seines Wohls gar nicht erst möglich ist. Mit diesen Bedingungen wird zugleich den objektiven Einflussfaktoren des individuellen Lebens, wie sie etwa bei Nussbaum betont werden, Rechnung getragen. Diese objektiven materiellen Gegebenheiten haben Einfluss auf die Möglichkeit, sich subjektiv wohl fühlen zu können. 3.3.2 Wolfs unverzichtbare Bestandteile des eigenen Wohls In einem zweiten Schritt benennt Wolf die unverzichtbaren Bestandteile, ohne die ein Wohlstreben zwar möglich ist (sofern die Vorbedingungen abgedeckt sind), ohne die aber gleichwohl dieses Streben niemals zum Erfolg führen kann. Wolf entfaltet die Liste dieser Bestandteile anhand dreier Wesensmerkmale die allen wohlfähigen Lebewesen 54 zukommen. Sie verfügen über kognitive Fähigkeiten wie Bewusstsein. Damit besitzt ihr Wohl eine aktiv-handelnde Seite, charakterisiert durch das Erreichen von Zielen, die Ausübung (sinnvoller) Tätigkeiten, Freiheit und Selbstbestimmung. Sie verfügen über Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit. Damit besitzt ihr Wohl eine passiv-erlebende Seite, charakterisiert durch angenehme Gefühle, positive Erfahrungen und Wohlgefühl.
52 Ebd., S. 88. 53 Vgl. ebd., S. 88. 54 Ich verwende dies als Kurzformel für Lebewesen, die über die genannten notwendigen Fähigkeiten für ein eigenes subjektives Wohl verfügen.
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Als sozial interaktionsfähige und auf Interaktion angewiesene Lebewesen besitzt ihr Wohl eine soziale Seite, die sowohl aktiv als auch passiv charakterisiert ist durch befriedigende soziale Beziehungen, Freundschaft und Anerkennung. 55 Dabei betont Wolf, dass diese Auflistung zunächst einmal auf menschliche Personen zugeschnitten ist, die über sehr ausgeprägte psychologische Fähigkeiten verfügen. Zur Übertragung dieser Liste auf tierliche und menschliche NichtPersonen, müssten bestimmte Punkte (z.B. Selbstbestimmung, Freundschaft, Anerkennung, sinnvolle Tätigkeiten) entsprechend abgeschwächt interpretiert oder ganz ausgeklammert werden. 56 Aus den unverzichtbaren Bestandteilen leitet Wolf drei weitere Anspruchsrechte von Lebewesen ab, die zu beachten sind, wenn wir das Wohl dieser Lebewesen moralisch ernst nehmen wollen: 4. Freiheitsrechte (um Tätigkeiten nachgehen zu können, Bedürfnisse zu befriedigen und Ziele zu erreichen) 5. Ein Recht auf Nichtzufügung negativer Erfahrungen (worunter Wolf auch die Ermöglichung positiver Erfahrungen subsumiert) 6. Ein Recht auf befriedigende soziale Interaktion 57 Diese Auflistung erinnert an den Inhalt der »Five Freedoms«. Wolf liefert im Gegensatz zu den Autoren des FAWC jedoch eine transparente theoretische Fundierung ihrer Liste. Außerdem betont sie, dass diese Faktoren das Wohl von Lebewesen nicht bereits gewährleisten, sondern überhaupt erst ermöglichen. 58 Wolfs Ausführungen helfen zu konkretisieren, durch welche Handlungen oder Lebensbedingungen wir ein Lebewesen in seinem Wohl beeinträchtigen (oder wodurch sich das Individuum selbst schadet). Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn einem Individuum (durch eigene oder fremde Handlungen) die Möglichkeit genommen wird, sich frei zu betätigen, sozial mit Anderen zu interagieren, sich wohl
55 Vgl. Wolf (2012), S. 89. 56 Vgl. ebd., S. 92-100. 57 Vgl. ebd., S. 89-104. Ich weiche beim sechsten aufgeführten Recht von Wolfs Originalbezeichnung »Recht auf Anerkennung« ab. Anerkennung lässt sich, wie Wolf selbst einräumt, nur sinnvoll auf Personen beziehen. Tieren kann, aufgrund ihrer geringen psychologischen Fähigkeiten, kein direktes Interesse an Anerkennung zugeschrieben werden. Dagegen scheint es naheliegend, dass Tiere als soziale Lebewesen die Abdeckung ihrer sozialen Wohlkomponente benötigen, um ein prudentiell gutes Leben führen zu können. Die Einforderung eines »Rechts auf befriedigende soziale Interaktion« scheint mir daher besser geeignet, die »soziale Seite« des Wohls einzufangen. 58 Ähnliche Kritik an FAWC bei UFAW (vgl. Scott [2011], S. 331).
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zu fühlen oder ihm die materiellen Grundlagen für ein physisch und psychisch unversehrtes (Fort-)Leben genommen werden.
3.4 RESULTIERENDER WOHLANSATZ FÜR DIESE UNTERSUCHUNG Als Zwischenfazit halte ich fest: Einem Individuum ergeht es genau dann wohl, wenn es mit seinen objektiven Lebensumständen in autonomer Weise für sich zufriedenstellend zurecht kommen kann. Und wir haben Grund an der Autonomie und der korrekten Einschätzung der objektiven Lebenssituation bei einem Individuum zu zweifeln, wenn das Individuum Lebensumstände akzeptiert oder anstrebt, die es in seiner Möglichkeit einschränken, sozial zu interagieren, sich frei zu betätigen, sich wohl zu fühlen, sich am Leben sowie körperlich und psychisch vital zu erhalten. Unser Anspruch, das Wohl von Tieren zu berücksichtigen, insbesondere das Wohl der Tiere, die wir halten und nutzen, lässt sich hiernach in drei Prinzipien übersetzen, die unsere Handlungen gegenüber Tieren anleiten sollten: Vermeiden von Leid, Befördern positiver Erfahrungen und Wahrung von Authentizität. »Befördern« ist hierbei bewusst doppeldeutig gemeint. Je nachdem, ob sich argumentieren lässt, dass wir gegenüber einem Tier negative Pflichten oder auch positive Pflichten besitzen, kann »Befördern positiver Erfahrungen« sowohl bedeuten, einem Tier keine positiven Erfahrungen vorzuenthalten oder zu verbauen, als auch es im Sammeln positiver Erfahrungen aktiv zu unterstützen. Anhand dieser Formel gelingt es, Elemente, die bereits bei den zuvor kritisierten praxisnahen Ansätzen durchschimmern, näher zu beleuchten und belastbarer zu fundieren. Elemente, wie sie etwa bei den Coping-Ansätzen oder den »Five Freedoms« zu formulieren versucht werden, die sowohl die subjektive Zufriedenheit des Tiers betonen, aber auch seine Interaktion mit der Umwelt einfangen wollen (was dort unter radikaler subjektivistischer Schablone nicht überzeugend gelingt). Wie ich zuvor betont habe, baut die Herleitung dieser Wohlkonzeption vor allem auf Intuitionen auf, die bei der Betrachtung der Lebensqualität von Menschen ins Spiel kommen. Die Untersuchung dieser Intuitionen war wichtig, um auszuloten, was überhaupt gegen eine stark vereinfachte und radikal-subjektivistische Wohlkonzeption spricht, wie sie praxisnahe Ansätze präferieren. Es ging mir darum zu zeigen, warum es eben nicht egal ist – wie Coping-Ansätze implizieren – wodurch ein Zurechtkommen mit der eigenen Lebenssituation ermöglicht wird und mit welchen objektiven Lebensumständen sich das Individuum arrangiert. Es gilt nun noch zu verteidigen, dass die vorgestellten Intuitionen und Erkenntnisse auch auf das Wohl von Tieren übertragbar sind. Und es ist zu zeigen, dass
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selbst wenn viele Menschen solche Intuitionen bezüglich des Tierwohls de facto nicht besitzen, es Gründe gibt, die Ausbildung solcher Intuitionen gesellschaftlich anzuregen. Durch das Aufzeigen der von mir beleuchteten Zusammenhänge ist es möglich, an das kritische Denkvermögen von Menschen zu appellieren, ebenso an ihre emotionale Empfänglichkeit und das, was ich als moralisches Selbstverständnis bezeichnen werde (III.5). 59 Um eine solche aktive Meinungsformung legitimieren zu können, und auch um ihre Dringlichkeit zu belegen, ist es jedoch notwendig, belastbare Argumente zu liefern, warum das aktuell weit verbreitete gesellschaftliche Verständnis von Tierwohl und dessen moralische Gewichtung zu kritisieren sind. Dies wird die Aufgabe von Kap. II.4 sein.
59 Wobei diese Anregung, um gesellschaftlich wirksam zu sein, sicherlich didaktisch aufbereitetet werden muss. Ich verstehe es als primäre Aufgabe philosophischer Forschung, komplexe Sachverhalte adäquat zu beleuchten und auf Missstände aufmerksam zu machen. Darauf folgende gesellschaftliche Überzeugungsarbeit ist dagegen politisch und pädagogisch zu leisten.
4
Übertragbarkeit zentraler Intuitionen Vom menschlichen Wohl zum Tierwohl
Die von mir vorgeschlagene hybride Wohlkonzeption aus subjektivistischen und objektivistischen Elementen baut, wie bereits eingeräumt, vor allem auf Intuitionen und Fallbeispielen auf, in denen das Wohl von Menschen im Mittelpunkt steht. Der naheliegende Einwand, insbesondere von Verteidigern eines weniger anspruchsvollen, radikal-subjektivistischen Tierwohlverständnisses, ist, dass diese Intuitionen nicht einfach auf die Lebensverfasstheit von Tieren übertragen werden können. Und ohnehin würden auch nur wenige Menschen gegenüber Tieren vergleichbar starke Intuitionen hegen. Warum also sollte ein anspruchsvoller hybrider Wohlansatz für Tiere erforderlich sein? Dass die meisten Menschen faktisch gegenüber Tieren weitaus schwächere Intuitionen besitzen als gegenüber anderen Menschen, muss nicht geleugnet werden. Bei der von mir vorgeschlagenen intuitionistischen Vorgehensweise (siehe I.1.3) geht es nicht darum, Intuitionen als gegeben und nicht weiter hinterfragbar anzunehmen. Ohnehin habe ich in den vorangegangen Kapiteln einige Mensch-MenschIntuitionen aufgegriffen, die nicht von allen Menschen gleich stark empfunden werden. Manchen Leuten ist es egal, ob einige Menschen durch Illusionen und Indoktrination glücklich gehalten werden. Einigen scheint es sogar generell egal zu sein, wie es um das Leben anderer Menschen bestellt ist. Die moralische Relevanz von Intuitionen besteht darin, dass sie unsere Aufmerksamkeit auf Aspekte lenken, die Beachtung verdienen. Hierdurch helfen sie, moralische Prinzipien zu erschließen. 1 Wenn sich Faktoren benennen lassen, die diese Intuitionen als haltbar darlegen, so sind wir verpflichtet, auch in anderen Fällen, wo vergleichbare Faktoren wirksam sind, vergleichbare Moralprinzipien anzuwenden. 2 Entscheidend ist daher nicht, ob bestimmte Intuitionen gesellschaftlich bereits kohärenterweise auf alle vergleichba-
1
Vgl. McMahan (2000), S. 92-110.
2
Vgl. ebd., S. 92, 102-103.
194 | Tierwohl und Tierethik
ren Fälle vergleichbar bezogen werden. Ungereimtheiten innerhalb unserer intuitiven Einstellungen geben Anlass zu untersuchen, warum wir bspw. bestimmten Individuen gegenüber keine vergleichbar starken emotionalen Einstellungen hegen. Die Unterscheidung zwischen Mensch-Tier- und Mensch-Mensch-Intuitionen ist hierfür paradigmatisch. Solche Brüche können uns aufzeigen, wo gegebenenfalls gesellschaftspolitische Aufklärungsarbeit zu leisten ist. Die entscheidende Frage in diesem Kapitel ist daher, ob sich Faktoren benennen lassen, die dafür bzw. dagegen sprechen, die zuvor aufgegriffenen Mensch-MenschIntuitionen hinsichtlich der Konzeption individuellen Wohls auch auf Tiere zu übertragen. Ich werde im Folgenden zunächst untersuchen, ob die Lebensverfasstheiten von Menschen und Tieren fundamentale Unterschiede aufweisen, die eine strikte Trennung zwischen Menschenwohl und Tierwohl rechtfertigen (4.1. und 4.2.). Danach werde ich verschiedene Argumentationsversuche kritisch diskutieren, wonach selbst bei vergleichbarer Lebensverfasstheit von Menschen und Tieren, das Wohl von Menschen dennoch mehr an moralischer Berücksichtigung bzw. eine anspruchsvollere Konzeption verdient (4.3 und 4.4). Schlussendlich werde ich eine strikte Trennung von Menschenwohl und Tierwohl als nicht haltbar zurückweisen (4.5).
4.1 INKONSISTENTE TRENNUNG VON MENSCHEN- UND TIERWOHL IN PRAXISNAHEN ANSÄTZEN Es spricht viel dafür, nicht nur das Wohl von Menschen, sondern auch das von Tieren anspruchsvoller zu konzipieren als dies in der Praxis offenbar der Regelfall ist. Ein erstes Indiz hierfür liefern bereits die im I. Hauptteil thematisierten inkonsistenten Einzelurteile innerhalb praxisnaher Tierwohlansätze. So bspw. die starke intuitive Ablehnung von Dauermedikamentierung und der Züchtung leidunfähiger Tiere, was sich aus der radikal-subjektivistischen Haltung nicht erklären lässt, die in diesen Ansätzen mit Überzeugung vertreten wird. Ein hybrider Tierwohlansatz ist in der Lage solche Gedankengänge aufzunehmen, indem das permanente Verabreichen von Medikamenten als Manipulation des Empfindungsvermögens des Tiers ausgewiesen wird und damit als Verstoß gegen die Authentizität seiner Lebenszufriedenheit bzw. seinem Freisein von Leid. Diese Argumentationsstrategie scheint auch für die Ablehnung der Züchtung gänzlich leidunempfindlicher Tiere attraktiv. Diese Tiere werden in ihrer Fähigkeit, die eigene Lebenssituation subjektiv zu erfahren von vornherein beschnitten. Fälle wie diese weisen jedoch, aufgrund des starken Eingriffs in die psychologischen Fähigkeiten des Tiers, eine Reihe sehr spezieller – aber nichtsdestoweniger relevanter – philosophischer Probleme auf. Ich werde unter III.3 und III.5 näher auf diese Fälle eingehen. Für dieses Kapitel lässt
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sich aber bereits festhalten, dass ungeachtet dieser (hier noch nicht näher definierten) Schwierigkeiten, ein hybrider Tierwohlansatz zumindest erfolgversprechender ist, die intuitive Ablehnung manipulativer Eingriffe an Tieren einzufangen, als ein radikal-subjektivistischer Ansatz. Damit ist erst einmal nur gezeigt, dass einiges dafür spricht, das Wohl von Tieren anspruchsvoll und komplex zu konzipieren. Es ist jedoch noch nicht gezeigt, dass es gleichermaßen anspruchsvoll und komplex zu fassen ist wie das Menschenwohl. Es könnte immer noch eine Trennung zwischen Menschen- und Tierwohl verteidigt werden, bei der das Tierwohl deutlich abgestuft bleibt. Für meine Zwecke genügt es bereits zu zeigen, dass auch das Tierwohl Komponenten beinhalten muss, die vom faktischen subjektiven Empfinden von Tieren unabhängig sind. Offen ist jedoch, welche anspruchsvollen konkreten Komponenten in die Konzeption des Tierwohls aufzunehmen sind und welche allein Menschen zuzuordnen sind. Ich werde daher im Folgenden untersuchen, welche Parallelen zwischen der Lebensverfasstheit von Tieren und Menschen bestehen.
4.2 PARALLELEN UND UNTERSCHIEDE ZWISCHEN DER LEBENSVERFASSTHEIT VON MENSCHEN UND TIEREN Wenigen Menschen ist es völlig gleichgültig, was mit Tieren geschieht und wie ihr Leben verfasst ist. Dennoch erkennen sie bestimmte Lebensumstände bei Menschen eher als Missstände an als bei Tieren. Es bleibt zu zeigen, ob sich diese Trennung auch philosophisch stützen lässt. Hierfür müsste belegt werden, dass sich die Lebenswelten von Menschen und Tieren grundsätzlich unterscheiden. Menschen und Tiere müssten dann über ein Leben verfügen, das durch gleiche objektive Faktoren jeweils unterschiedlich beeinflusst wird. Entweder, indem gezeigt wird, dass Menschen unter Dingen leiden können, die Tiere nicht wahrnehmen. Oder, indem gezeigt wird, dass auch unabhängig von Leidempfindungen das Wohl von Menschen in einer Weise beeinträchtigt (oder befördert) werden kann, die bei Tieren keinen vergleichbaren Effekt besitzt. Ich werde im Folgenden die grundlegenden Vorbedingungen und Faktoren des Wohls beim Menschen durchgehen und untersuchen, inwieweit sich anhand von ihnen Tiere hinsichtlich ihres Wohls von Menschen glaubhaft unterscheiden lassen.
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4.2.1 Vorbedingungen für den Besitz eines subjektiven Wohls Sowohl Menschen als auch Tiere können über ein eigenes subjektives Wohl verfügen. Es handelt sich um Lebewesen, denen es, in Wolfs Terminologie, »etwas ausmachen kann«, was mit ihnen geschieht. Sie verfügen über Empfindungsfähigkeit und rudimentäre Bewusstseinsfähigkeiten, so dass sie »fühlen und wollen können«. 3 Das bedeutet nicht, dass diese Vorbedingungen von allen Tieren erfüllt werden, man denke an Ameisen, Fliegen oder Amöben. 4 Somit scheint es bestimmte Tierspezies zu geben, auf die der Begriff des Wohls, so wie er hier relevant ist, nicht sinnvoll angewandt werden kann. Dagegen scheinen die Tiere, die gerade im Zentrum industrieller Haltung und Nutzung stehen (Schweine, Kühe, Hühner, etc.), diese Vorbedingungen klar zu erfüllen. Dies dürfte heute auch kaum von einem Befürworter der Menschenwohl-Tierwohl-Trennung bestritten werden. Diesen Tieren wird ausdrücklich nicht der Besitz eines Wohls abgesprochen – ihr Wohl wird nur inhaltlich anders bestimmt als das von Menschen. Wenn ich im Folgenden von »Tieren« spreche, werde ich mich auf die zuvor genannten typischen Nutztiere konzentrieren, deren Besitz eines subjektiven Wohls unstrittig ist. 4.2.2 Physische Verfasstheit und materielle Bedürfnisse Auch hinsichtlich der physischen Verfasstheit von Menschen und Tieren werden Parallelen sichtbar, die eine strikte Trennung beider Wohlkonzeptionen klärungsbedürftig machen. Menschen wie Tiere verfügen, wie Nussbaum hervorhebt, über sterbliche, verletzliche Körper, deren biologische Funktionstüchtigkeit bspw. die Zufuhr bestimmter Stoffe erfordert: Nahrung, Wasser, Sauerstoff, etc. Worin sich Menschen und Tiere dabei unterscheiden können, ist die konkrete Ausgestaltung dieser Bedürfnisse. 5 Etwa auf welchem Weg Sauerstoff aufgenommen wird. Auch Fische atmen, können den benötigten Sauerstoff jedoch nicht aus der Luft aufnehmen, sondern nur durch Wasser. Ebenso können nicht alle Lebewesen die gleichen Nahrungsmittel verdauen oder vertragen. Darüber hinaus gibt es Unterschiede, welches Klima und welche weiteren konkreten Umweltbedingungen dem jeweiligen Körper zuträglich sind. Streng genommen unterscheiden sich hierin jedoch nicht bloß Menschen von Tieren, sondern auch Tiere von Tieren und Menschen von
3
Vgl. Wolf (2012), S. 73, 82.
4
David DeGrazia etwa betont die Unterscheidung zwischen Tieren, die bewusste Leidempfindungen erfahren können, und Tieren die lediglich durch Stimuli in ihren Bewegungen angeleitet werden ohne bewusste Leidzustände zu erfahren (vgl. DeGrazia [1996], Ch. 5).
5
Vgl. Nussbaum (1998), S. 211-212 sowie Nussbaum (2004), S. 314-317.
Übertragbarkeit zentraler Intuitionen | 197
Menschen. Nicht alle Menschen vertragen dieselben Temperaturen, dieselbe Nahrung, dieselben körperlichen Belastungen, etc. 6 Die eigentliche Ausgangsfrage ist ohnehin nicht, ob Tierwohl und Menschenwohl sich noch in ihrer feingliedrigsten Ausformulierung ähneln. Vielmehr ist zu klären, ob es auf übergeordneter Ebene Komponenten und Aspekte des Wohls gibt, die bei Menschen, nicht aber bei Tieren eine Rolle spielen – unabhängig davon, wie diese Komponenten und Aspekte letztendlich zu konkretisieren sind. 4.2.3 Psychische Verfasstheit und kognitive, emotionale, soziale Bedürfnisse Weitere Parallelen zwischen Menschen und Tieren tun sich bezüglich ihrer psychologischen Verfasstheit auf. Beide verfügen über kognitive Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie tägliche Herausforderungen zu bewältigen und ihren Bedürfnissen nachzukommen suchen. Damit geht einher, dass sie, sowohl unter kognitiver Überforderung leiden können, was sich in Stress und Frustration äußern kann, als auch unter kognitiver Unterforderung, was sich etwa in Langeweile und Depression niederschlägt. Menschen wie Tiere benötigen somit für ihr Wohl eine Umwelt, die sie kognitiv weder über- noch unterfordert. 7 Die Bedürfnisse von Tieren lassen sich nicht auf essen und schlafen reduzieren. Man tut ihnen bspw. keinen Gefallen damit, ihnen durch Futteranlagen die aufwendige Nahrungssuche zu ersparen. Vielmehr wird mittlerweile anerkannt, dass Tiere, die es evolutionär gewohnt sind, einen Großteil des Tages mit Nahrungssuche zu verbringen, hierdurch in Untätigkeit versetzt werden, was sie offensichtlich als bedrückend empfinden. Auch wurde bereits nachgewiesen, dass Schweine es vorziehen, ihre Nester selbst zu bauen, als bereits fertig zur Verfügung gestellte Nester einfach anzunehmen. 8 Die Ausgeprägtheit psychologischer Fähigkeiten zeigt sich auch an der Fähigkeit und dem Bedürfnis von Tieren zu spielen. Spielen scheint neben dem Drang zu körperlicher Betätigung auch zur geistigen Beschäftigung beizutragen, und ebenfalls mit sozialer Interaktion, als weiterem wichtigen Faktor verbunden zu sein. Tiere wie Menschen verfügen über soziale Interaktionsfähigkeiten und -bedürfnisse. Sie reagieren negativ auf fortdauernde Isolation, sowohl psychisch (Langeweile, Verhaltensauffälligkeit) als auch physisch (körperliche Degeneration als Folge von Verhaltensauffälligkeit). 9 Und wie die häufigen Fälle von aggressi-
6 7
Vgl. Ladwig (2014), S. 32 sowie Schmidt (2011), S. 158-159, 167. Vgl. Nussbaum (1998), S. 211-212; Nussbaum (2004), S. 314-317 sowie Wolf (2012), S. 89-96.
8
Vgl. Bracke/Hopster (2006), S. 82-83 sowie Edwards (2011), S. 253-254.
9
Vgl. Wolf (2012), S. 126 sowie McCulloch (2012a), [keine Seitenzahlen im Original].
198 | Tierwohl und Tierethik
vem Verhalten zwischen industriell gehaltenen Tieren zeigen, genügt es nicht, einfach nur soziale Interaktionspartner in unmittelbarer Nähe zu haben. Auch die Möglichkeit, die soziale Interaktion miteinander frei zu gestalten, sich annähern und bei Bedarf aus dem Weg gehen zu können, ist von Bedeutung. 10 Ebenso wird meiner Kenntnis nach von niemandem bestritten, dass Tiere, wie Menschen, sich bevorzugte soziale Interaktionspartner auswählen, die für sie nicht austauschbar sind. Genauso meiden sie bestimmte Individuen verstärkt. Auch hinsichtlich psychischer Lebensverfasstheit unterscheiden sich Menschen und Tiere somit nicht generell. Beide benötigen die Berücksichtigung ihrer kognitiven und sozialen Fähigkeiten und Bedürfnisse. 4.2.4 Unterschiedliche Komplexität von Menschen und Tieren bei Wolf Demgegenüber betonen sowohl Nussbaum als auch Wolf einige Unterschiede hinsichtlich der Lebensverfasstheit von Menschen und Tieren. Und diese können beiden Autorinnen zufolge tatsächlich dafür sprechen, dass bestimmte WohlKomponenten nicht sinnvoll auf Tiere angewandt werden können, sondern Menschen vorbehalten sind. Dabei gehen beide in ihrer Argumentation unterschiedlich vor. Ich widme mich in diesem Unterabschnitt zunächst Wolfs Position und werde Nussbaums im darauffolgenden Unterabschnitt behandeln. Wolf konzentriert sich auf die psychische Komplexität von Tieren. Diese sorgt nicht nur dafür, dass Menschen und Tiere unterschiedliche materielle Bedürfnisse haben. Sie bestimmt auch, welche Arten von Aktivitäten für das Wohl von Menschen und Tieren jeweils eine Rolle spielen. So mache es wenig Sinn, Tieren ein Recht auf Selbstverwirklichung oder das Nachgehen sinnstiftender Betätigungen einzuräumen. Tiere verfügen nicht über genügend ausgeprägte psychologische Fähigkeiten, um abstrakte Wünsche nach Selbstverwirklichung und Sinngebung auszubilden. Entsprechend lassen sich keine Betätigungen benennen, die einem Tierleben Sinn und Tiefe verleihen. Tiere haben ein Bedürfnis danach sich zu bewegen, mit anderen sozial zu interagieren, ihre Triebe auszuleben (bspw. Sandbaden, Nestbau) und sich wohl zu fühlen. Sie entwerfen aber keine höherstufigen abstrakten Ziele. 11 Zudem muss ein Individuum als Voraussetzung solch abstrakter
10 Vgl. Nussbaum (1998), S. 211-212; Nussbaum (2004), S. 314-317 sowie Wolf (2012), S. 89-96. 11 Vgl. ebd., S. 89-111. Gerade aus diesem Grund scheint mir ein Großteil bisheriger philosophischer Beiträge zum Guten Leben nur eingeschränkt für die Klärung des Tierwohls nutzbar. Viele der entsprechenden Quellen fokussieren sich auf »die richtige Lebensführung«, in der ein menschliches Streben nach Realisierung komplexer Wünsche und Sinn-
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Konzepte über eine entsprechende zeitliche Perspektive des eigenen Lebens verfügen. Es muss sein Leben als Kontinuum ansehen, auf seine Vergangenheit wertend zurückblicken und auf seine Zukunft planend vorausschauen können. 12 Obgleich Wolf betont, dass die typischen industriellen Nutztiere sehr wohl über eine zeitliche Perspektive verfügen – sie lernen durch vergangene Erfahrungen und bilden zumindest rudimentäre Zukunftserwartungen aus – reicht diese Fähigkeit bei ihnen nicht aus, um das eigene Leben als Gesamtheit zu begreifen und gestalterisch formen zu wollen. 13 Die Ziele von Tieren seien stärker an zeitnahe und biologisch bedingte Bedürfnisse gebunden. 14 Es mag daher für einige Menschen intuitiv angemessen sein, das Tierwohl anhand objektiver Listen zu konzipieren, da biologische Prägungen objektive Gegebenheiten darstellen. Ein spezielles Bedürfnis, das für Wolf klarerweise nur für Menschen, nicht aber für Tiere von direkter Relevanz für ihr Wohl ist, ist das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung. Tiere, so betont Wolf, können nur unter den Folgen von Missachtung leiden: unter den Schmerzen und den Frustrationen, die ihnen von Akteuren zugefügt werden, die ihnen keine Anerkennung entgegen bringen, da sie wenig Hemmung besitzen, sie aktiv zu misshandeln oder unter miserablen Lebensbedingungen gefangen zu halten. Tiere können jedoch nicht zusätzlich auch unter dem Gefühl leiden, missachtet zu werden. Ihre psychologischen Fähigkeiten reichen nicht aus, um abstrakte Konzepte wie Selbstwert oder Anrecht auf Anerkennung auszubilden. Folglich sei für das Tierwohl nicht wichtig, Tieren das Gefühl anerkannt zu werden zu ermöglichen. Gleichwohl sind Tiere mit Anerkennung und Rücksicht zu behandeln, eben um sicherzustellen, dass die hiermit indirekt verbundenen Komponenten, die Tieren sehr wohl zugänglich sind, nicht vernachlässigt werden. 15 Was hierbei offenbar nicht auf das Wohl von Tieren angewandt werden kann, sind jedoch nur bestimmte Unteraspekte kognitiver, emotionaler und sozialer Bedürfnisse. Grundsätzlich aber bleiben die Wohl-Dimension »kognitive, emotionale
gebung eine wichtige Rolle spielt. So etwa bei Susan Wolf (vgl. Wolf [2010]). Siehe auch Darwall (2002); Tugendhat (2003); Haybron (2008). 12 Vgl. Tugendhat (2003), S. 90-97. 13 Vgl. Wolf (2012), S. 89-111. 14 Vgl. ebd., S. 92. 15 Vgl. ebd., S. 100. Hierbei ist zu betonen, dass Wolf zufolge Tiere nicht unter mangelnder Anerkennung leiden können. Damit ist noch nicht gezeigt, dass mangelnde Anerkennung automatisch moralisch unproblematisch ist. Wolf argumentiert, wie oben angeführt, dass mangelnde Anerkennung aufgrund instrumenteller Überlegungen auch in Bezug auf Tiere moralisch bedeutsam ist. Ich werde unter III.5. zusätzlich argumentieren, dass ein respektvoller Umgang mit Tieren auch intrinsisch relevant sein kann, nämlich hinsichtlich der Frage, was für Moralakteure wir sein wollen.
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und soziale Bedürfnisse« bei Wolf auch für das Tierwohl wichtig. 16 Damit lassen sich unterschiedliche Feinheiten zwischen dem Wohl von Tieren und Menschen begründen, jedoch keine breite Kluft. Es lässt sich lediglich behaupten, dass Menschen im Gegensatz zu Tieren unter bestimmten zusätzlichen abstrakten Empfindungen leiden können, wie etwa dem Gefühl, dass ihnen Freiheit, Selbstbestimmung und Anerkennung vorenthalten werden. Gleichzeitig spielen diese abstrakten Faktoren, wie Wolf verdeutlicht, dennoch mitunter eine instrumentelle Rolle für das Wohl von Tieren. 17 Selbst wenn all diese Unterschiede zugestanden werden, so ist auffallend, dass hierbei die psychologischen Fähigkeiten des Individuums als zentrales Unterscheidungskriterium genommen werden. Hier greift jedoch der klassische anti-speziesistische Einwand, dass auch einige Menschen die hierfür erforderlichen hoch entwickelten psychologischen Eigenschaften nicht besitzen: Menschen im embryonalen und frühkindlichen Stadium, Menschen mit Demenz oder starker geistiger Behinderung, Menschen im irreversiblen Koma, etc. 18 Mit Verweis auf unterschiedliche psychische Komplexität lässt sich daher lediglich eine Differenzierung zwischen dem Wohl von Personen und Nicht-Personen verteidigen, jedoch keine klare Trennung von Menschenwohl und Tierwohl. 19 Wer auf diese Weise das Wohl von Tieren als weniger moralisch anspruchsvoll behaupten möchte, muss konsequenter auch das Wohl einiger Menschen weniger anspruchsvoll fassen. Damit meine ich an dieser Stelle ausschließlich, dass weniger Einflussfaktoren zu berücksichtigen sind. Bereits diese Forderung scheinen viele in Bezug auf Menschen aber nicht zu akzeptieren. Selbst wenn zugestanden wird, dass die oben genannten Menschen keine abstrakten Konzepte von Freiheit oder Anerkennung besitzen, so halten viele an der Vorstellung fest, dass alle Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, einen Anspruch auf Freiheit und Anerkennung haben, der sich nicht einfach auf instrumentelle Überlegungen beschränkt. Hierbei ist jedoch fraglich, ob der eingeforderte Respekt vor den Menschen, überhaupt noch als Frage des menschlichen Wohls zu betrachten ist. Es hat eher den Anschein, dass hierbei Ansprüche ins Spiel kommen, die über die Frage, was ein Mensch für sein Wohl benötigt, hinausgehen, nämlich wie wir uns gegenüber anderen Menschen verhalten sollten – unabhängig von Fragen des Wohls. Ich werde diesen Gedanken unter III.5 vertiefen. Es ist an
16 Vgl. ebd., S. 92ff. 17 Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Cochrane. Er betont, Tiere könnten mangels Abstraktionsvermögens kein subjektives Interesse an Freiheit ausbilden, jedoch könnten sie empirisch betrachtet unter den Folgen von Gefangenschaft leiden (vgl. Cochrane [2012], S. 10-13, 72-76). 18 Vgl. McMahan (2002), S. 203ff. 19 Vgl Wolf (2012), S. 87-94.
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dieser Stelle zunächst einmal nur wichtig herauszustellen, dass die oft vertretene scharfe Trennung von Menschen- und Tierwohl durch moralische Überlegungen motiviert sein kann, die mit dem Begriff des Wohls nur bedingt zu tun haben. Möglicherweise sind hier unterschiedliche moralische Ansprüche im Spiel, die man allein über den Begriff des Wohls versucht einzufangen und zu begründen. 20 Entscheidend ist dann nicht mehr, ob sich Menschen- und Tierwohl klar voneinander trennen lassen. Vielmehr gilt es dann zu fragen, ob sich begründen lässt, dass wir Tieren lediglich die Berücksichtigung ihres Wohls moralisch schulden, im Umgang mit Menschen aber zusätzliche über das Wohl hinausgehende moralische Verpflichtungen wirksam sind. Diese Fragestellung ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung für unseren zwischenmenschlichen Umgang miteinander. Für die Fragestellung, welcher Umgang mit Tieren mit dem Anspruch der Berücksichtigung ihres Wohls vereinbar ist, kann sie ausgeklammert werden. Die Überlegungen, die Wolf in Bezug auf Anerkennung anstellt, könnten jedoch in anderer Hinsicht einen entscheidenden Einfluss auf unser Wohlverständnis von Nicht-Personen haben, was sowohl Menschen als auch Tiere betreffen kann. Wie in II.2 dargestellt, begründen einige Autoren die Relevanz objektiver Weltzustände damit, dass es für das Individuum wichtig sei, seine Einschätzung der eigenen Lebensqualität vor anderen glaubhaft vertreten zu können. Dabei wird mitunter auf ein individuelles Bedürfnis nach Anerkennung verwiesen. 21 Wenn Wolf zufolge Nicht-Personen aber gar kein Interesse an Anerkennung ausbilden können, spricht dies dann nicht doch wieder dafür, ein radikal-subjektivistisches Wohlverständnis auf diese Individuen anzuwenden? Dies wäre zumindest der Fall, wenn sich keine anderen Begründungen liefern lassen, warum objektive Weltzustände eine Rolle für das Wohl des Individuums spielen. Ich habe jedoch in II.3 argumentiert, dass objektive Weltzustände bereits für das Wohl relevant sind, um der subjektiven Bewertungsperspektive von Individuen adäquat Rechnung tragen zu können. Wohl bezieht sich darauf, wie das Leben eines Individuums gemessen an dessen autonomen Wertmaßstäben objektiv verläuft. Nicht weil das Individuum einen faktischen subjektiven Wunsch besitzt, die eigene Lebensbewertung durch andere bestätigt zu sehen, sondern weil es unplausibel ist davon zu sprechen, es ergehe einem Individuum wohl, wenn es glücklich ist über ein Leben, das es in Wirklichkeit gar nicht führt. Der Besitz eines abstrakten Konzepts von Anerkennung und der Wunsch
20 Ähnlich kritisiert Birnbacher, dass einige Philosophen einen Begriff von Glück verwenden, der bereits illegitimer Weise mit sehr konkreten moralischen Idealen angereichert ist, um die eigenen moralischen Vorstellungen mittels des Glücksbegriffs einzufangen, anstatt »klipp und klar zu benennen«, dass außer dem Glück auch unabhängige Werte in unseren moralischen Überlegungen eine Rolle spielen können (vgl. Birnbacher [2005]). 21 So etwa bei Steinfath (1998b), S. 85-87.
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nach ebensolcher ist daher nicht zwingend notwendig, um ein anspruchsvolleres Wohlverständnis zu verteidigen, als in der Nutztierwissenschaft üblich. 4.2.5 Speziesnorm bei Nussbaum Anders als Wolf hebt Nussbaum eine eigenständige aristotelische Natur bzw. »Speziesnorm« hervor, die alle Menschen von allen nicht-menschlichen Tieren, aber auch alle Tierspezies voneinander unterscheidet. Mit dieser jeweiligen Natur wiederum gehen unterschiedliche konkrete Bedürfnisse einher. »In short, the species norm (duly evaluated) tells us what the appropriate benchmark is for judging whether a given creature has decent opportunities for flourishing. The same thing goes for nonhuman animals: in each case, what is wanted is a species-specific account of central capabilities […] and then a commitment to bring members of that species up to that norm, even if special obstacles lie in the way of that.« 22
Damit ist aber noch unklar, ob sich hieraus grundsätzlich verschiedene Wohlverständnisse für Menschen und Tiere ableiten lassen, oder ob sich lediglich unterschiedliche Konkretisierungen von Wohlansprüchen ergeben. Ähnlich wie Wolf betont auch Nussbaum, dass Tiere aufgrund geringerer psychologischer Fähigkeiten im Vergleich zu menschlichen Personen weniger abstrakte und langzeitliche Ziele ausbilden. Das besagt jedoch nur, dass Tiere andere Typen von Zielen ausbilden. Unverändert bleibt, dass es für das Wohl des Individuums wichtig ist, egal ob Mensch oder Tier, eigene Ziele bzw. Handlungsabsichten entwickeln und ungehindert ausführen zu können. Und diese Ziele bzw. Handlungsabsichten dürfen nicht auf Fremdbestimmung, Irrtümern oder Unkenntnis der Folgen der Durchführung beruhen. 23 Entscheidend ist hierbei für Nussbaum eben nicht, ob ein Tier faktisch merkt, dass ihm ein wichtiges Lebensgut vorenthalten wird, wie etwa soziale Kontakte oder bestimmte Betätigungsmöglichkeiten. Was zählt ist, dass dieses Tier durch den Zugang zu diesen Lebensgütern besser »gedeihen« kann, sie also seiner Lebensqualität zuträglich wären, wenn es denn Zugang zu ihnen erhielte. »The ability to move freely, for example, may be valuable for an animal even if the animal does not feel its absence as a pain. The ability to have loving and supportive relationships
22 Nussbaum (2006), S. 365. 23 Vgl. ebd., S. 314-317. Es ist bspw. dem Wohl eines Tiers nicht abträglich, sondern zuträglich, es daran zu hindern, vergiftete Nahrung zu sich zu nehmen.
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with other animals and humans can be a good, even if the animal, raised in isolation, is not aware of the deprivation or pained by it.« 24
Weniger deutlich ist Nussbaums Begründung, warum das Vorenthalten von sozialen Interaktionen auch dann schlecht für ein Tier ist, wenn es selbst deren Fehlen faktisch nicht bemerkt. Offenbar nimmt Nussbaum hintergründig an, dass das betroffene Tier die sozialen Interaktionen, wenn sie ihm zugänglich gemacht würden, subjektiv als bereichernd erfahren würde, und ihm somit durch das Vorenthalten etwas Wichtiges entgeht. 25 Nussbaums Speziesnorm betont vor allem zwei Aspekte: Individuen können sich erstens stark darin unterscheiden, welche Betätigungsmöglichkeiten und welche sozialen und materiellen Lebensbedingungen sie benötigen, um ein gutes Leben in concreto führen zu können. Zweitens können sie sich sehr stark darin unterscheiden, wie sehr sie in ihrem Zugang zu diesen Komponenten von anderen Individuen abhängig sind (sei es durch positive Hilfe oder durch das Unterlassen aktiver Behinderung von außen). 26 Die Grundkomponenten (siehe II.2.3.1) bleiben davon jedoch unberührt. Und in dieser Hinsicht unterscheiden sich Tiere eben nicht von Menschen. Zumindest sofern es um Tiere geht, die über rudimentäre Empfindungsund Bewusstseinsfähigkeiten verfügen. Die eingangs erwähnten Unterscheidungen des Wohls anhand der Speziesnorm beziehen sich somit allein auf Konkretisierungen des individuellen Wohls. Hieraus können sich entsprechend unterschiedliche konkrete Hilfspflichten ergeben. Die grundsätzliche Konzeption von Menschenund Tierwohl, die dieser Konkretisierung vorausgeht, weist dabei jedoch keine strikte Trennung auf, die es rechtfertigen würde, das Tierwohl weiterhin in einer radikal-subjektivistischen Weise zu konzipieren, die Menschen gegenüber kaum jemand von uns akzeptieren würde.
24 Ebd., S. 385-386. 25 Vgl. ebd., S. 352, 370, 385-386. Bei Unsicherheit, welche Güter objektiv gut für ein Lebewesen sind, sollten wir laut Nussbaum überlegen, was ein wohl informiertes Individuum von sich aus wählen würde. 26 Vgl. ebd., S. 192. Nussbaums Ziel ist es hierbei vor allem klarzustellen, dass Menschen, die vergleichbare psychologische Fähigkeiten wie Tiere besitzen, dennoch mehr an moralischer Berücksichtigung benötigen. Etwa da ein Mensch mit vergleichbaren psychologischen Fähigkeiten wie ein Schimpanse nicht auch vergleichbar in der Lage ist, sozial zu interagieren (oder ohne fremde Hilfe Nahrung zu finden, sich vor Witterung zu schützen, etc.).
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4.3 ARGUMENTVERSUCHE FÜR EINE ETHISCHE MENSCH-TIER-TRENNUNG Alternativ könnte gegen die Übertragung der eingebrachten Mensch-MenschIntuitionen auf das Wohl von Tieren eingewandt werden, dass dem Wohl von Menschen und dem von Tieren unterschiedliches moralisches Gewicht beizumessen sei. Daher, so könnte behauptet werden, sind bestimmte Lebenszustände, die uns bei Menschen intuitiv völlig inakzeptabel erscheinen, in Bezug auf Tiere weitaus weniger dramatisch. Sie erfordern nicht im selben Ausmaß, Tiere vor solchen Lebenszuständen zu bewahren bzw. verbieten uns nicht im selben Ausmaß, sie herbeizuführen. Auf diesem Weg kann versucht werden, einen unterschiedlichen moralischen Anspruch zwischen Menschen- und Tierwohl zu fundieren. Da ich explizit hervorgehoben habe, dass bereits in der inhaltlichen Konzeption des Tierwohls ein moralischer Anspruch an uns selbst zum Ausdruck kommt, ist es naheliegend anzunehmen, dass unterschiedliche Ansprüche unterschiedliche Wohlkonzeptionen herleiten. So könnten möglicherweise Täuschung und Manipulation bei Tieren nicht im gleichen Ausmaß für ihr Wohl relevant sein wie bei Menschen, weil Tiere selbst nicht gleichermaßen moralisch relevant seien, und Wohl ein moralisch aufgeladenes Konzept ist. Vertreter einer solchen Argumentation müssten jedoch ein unterschiedliches moralisches Gewicht von Menschen- und Tierwohl gesondert begründen. Sie können dabei (a) behaupten, dass das Wohl von Menschen prinzipiell moralisch mehr zählt als das von Tieren; (b) Gründe benennen, warum für menschliche Moralakteure das Wohl anderer Menschen Vorrang haben muss, vor dem Wohl nichtmenschlicher Tiere; oder (c) alternative Gründe benennen, warum das Wohl von Menschen andere Ansprüche an uns stellt als das Wohl von Tieren. In allen drei Fällen scheint die Spezieszugehörigkeit das entscheidende Kriterium, denn die zentrale Eigenschaft, die allen Menschen und zugleich keinem Tier zukommt, ist eben die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch. Auch wenn die meisten Menschen heute unterschreiben, dass wir nicht alles mit Tieren machen dürfen und dies den Tieren selbst geschuldet ist, wird an einer moralisch bedeutsamen Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren in der Regel festgehalten. Die Behauptung ist somit nicht, dass Menschen allein zählen und Tiere überhaupt nicht. Vielmehr wird behauptet, Menschen und die Berücksichtigung ihres Wohls besäßen einen bestimmten moralischen Vorrang, wodurch ihnen gegenüber striktere Handlungsverbote und Hilfspflichten bestünden, als dies Tieren gegenüber der Fall sei. Aus dieser Position heraus können Befürworter der Nutztierhaltung versuchen, unsere Praktiken an Tieren grundsätzlich zu rechtfertigen. Ich werde im Folgenden solche speziesbasierten Unterscheidungsstrategien als nicht überzeugend zurückweisen.
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4.3.1 Versuch 1: Besonderer moralischer Status des Menschen Die Annahme, dass wir den Belangen von Menschen generell Vorrang einzuräumen haben vor den Belangen anderer Lebewesen, ist eine bis heute weit verbreitete Überzeugung. 27 Diese Haltung wird u.a. deutlich, wenn Forderungen nach mehr Tierwohl der Forderung gegenübergestellt werden, die materielle Existenzgrundlage von Landwirten und anderen Lebensmittelproduzenten zu gewährleisten, sowie die Ernährung und Abdeckung der Konsumvorlieben der Bevölkerung. Die Frage ist jedoch, was genau die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch moralisch relevant macht, und warum diese Relevanz eine besondere Gewichtung des Menschenwohls herleiten soll. Es existiert mittlerweile eine umfassende philosophische Literatur zur Kritik am Speziesismus, also der Überzeugung, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies eigenständige moralische Relevanz besäße und noch dazu von zentraler Bedeutung sei. Ich möchte an dieser Stelle nur kurz auf die zentralen Speziesargumente eingehen und diese auch nur knapp aber bestimmt zurückweisen. Für eine nähere Auseinandersetzung mit den Speziesargumenten und der Kritik, die ich hierbei ins Feld führe, verweise ich auf die Quellen, die in den entsprechenden Fußnoten Erwähnung finden. Die Zugehörigkeit zu einer Spezies ergibt sich allein aus dem genetischen Code des Individuums und stellt damit eine rein biologische Tatsache dar. Dass ein bestimmter Gencode intrinsischen moralischen Wer besitzen soll, ist stark klärungsbedürftig. In der christlichen Tradition wird die moralische Sonderstellung des Menschen durch Verweis auf eine besondere Würde begründet, die wiederum auf die Gottesebenbildlichkeit zurückgeführt wird, oder darauf, dass Gott den Menschen die Verwaltung der Erde übertragen habe. 28 Der besondere moralische Status wird durch Gott verliehen, womit diese Begründung keine religionsunabhängige Geltung beanspruchen kann und für wissenschaftlich-philosophische Begründungen daher nicht taugt. (Und streng genommen ist auch nicht das Menschsein an sich hierbei moralisch entscheidend, sondern der Rückbezug auf Gott, der diese konkrete Spezies durch seinen Willen auserwählt.) Die geläufigsten Speziesargumente behaupten einen besonderen moralischen Status des Menschen aufgrund seiner Vernunftbegabung. Frühneuzeitliche Quellen drücken dabei vor allem eine Bewunderung für die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen aus, die einen besonderen Moralanspruch aus einer angeblichen Emporgehobenheit des Menschen ableitet. Mit Kant und dem Aufkommen von Vertragstheorien folgt eine genauere Fundierung des besonderen menschlichen Moralan-
27 Vgl. Rippe (2008), S. 17. 28 Vgl. McMahan (2002), S. 210; Rippe (2008), Kap. 3.
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spruchs. Nur vernunftbegabte Lebewesen seien überhaupt in der Lage moralische Normen zu begreifen und in ihrem Handeln anzuwenden. Diese Vernunft wird allein Menschen zugeschrieben. Damit wird aber nicht nur ein moralischer Vorrang des Menschen begründet. Es werden auch sämtliche nicht-menschliche Lebewesen aus der Sphäre der Moral vollständig ausgeschlossen. 29 Dieser Ausschluss der Tiere aus der Moral wird heute so nicht mehr akzeptiert. 30 Heutige Argumente, die die psychologischen Fähigkeiten des Menschen in den Fokus rücken, behaupten zumeist, dass Menschen aufgrund ihrer psychologischen Fähigkeiten zu höherstufigem und schwerwiegenderem Leid fähig seien als Tiere, die viele Dinge, die mit ihnen gemacht werden, überhaupt nicht begreifen oder bemerken. McMahan hält dem entgegen, dass höhere kognitive Fähigkeiten es Menschen gleichzeitig auch ermöglichen, bestimmte Schmerzerfahrungen besser zu überstehen. Menschen können sich bspw. bestimmte Leiden rational erklären, sich bewusst machen, dass der aktuelle Schmerz bald vorüber sein wird, und dadurch ihre Angst lindern und Schmerzen besser verkraften. Tieren bleibt das versagt, so dass sie bspw. unter zusätzlicher Irritation leiden. 31 Das Hauptproblem an Speziesargumenten, die sich auf hoch entwickelte psychologische Fähigkeiten von Menschen stützen, bleibt jedoch, dass eben nicht alle Speziesmitglieder die hier ins Feld geführten Eigenschaften besitzen (Kleinkinder, Menschen mit starker geistiger Behinderung, etc.). So kann allenfalls ein besonderer moralischer Status von Personen begründet werden. Und selbst wenn zugestanden wird, dass Personen vielfältigere Güter benötigen als tierliche Nicht-Personen, belegt das noch nicht, dass damit auch das Wohl von Personen insgesamt mehr normatives Gewicht besitzt. Nur weil ein Lebewesen mehr Dimensionen für die Gewährleistung seines Wohls abzudecken hat, bedeutet das nicht, dass damit sein Wohl mehr zählt. 32 Der Problematik, dass eben nicht alle Menschen über hoch entwickelte psychologische Fähigkeiten verfügen, versuchen einige Verteidiger des menschlichen Sonderstatus durch so genannte nature-of-the-kind-Argumente zu begegnen. Hier-
29 Vgl. Wetz (2005), S. 29-48. 30 Peter Carruthers darf als prominente Ausnahme gelten. Auch er plädiert für bestimmte Handlungsverbote im Umgang mit Tieren, die jedoch den dadurch mit betroffenen Menschen und nicht den Tieren selbst geschuldet sind (vgl. Carruthers [2014], S. 219-242). Er bezieht sich dabei auf die »Verrohungsthese«, die durch Kant prominent gemacht wurde (vgl. Kant [1977], Tugendlehre, § 17). 31 Vgl. McMahan (2002), S. 199ff. 32 Vgl. Wolf (2012), S. 149. Ähnlich argumentiert Rüdiger Bittner, dass sich aus höher entwickelten geistigen Fähigkeiten kein automatisch übergeordneter Rang eines Lebewesens ergibt (vgl. Bittner [2017], S. 92-96).
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bei wird darauf verwiesen, dass alle Menschen einer Spezies angehören, deren Mitglieder typischerweise hoch entwickelte psychologische Fähigkeiten besitzen. 33 Diese Argumentationslinie ist jedoch in mehrerer Hinsicht unbefriedigend. Beim Menschen- wie auch beim Tierwohl geht es um das Wohl des jeweiligen Individuums, nicht um Wohlaussagen über eine abstrakte Gruppe. 34 Daher kann es keine Rolle spielen, worunter andere Individuen derselben Spezies leiden können, wenn dieses Leid auf Eigenschaften beruht, die das konkret betroffene Individuum selbst nicht besitzt. Zudem weist McMahan daraufhin, dass bei diesen Argumenten zwischen zwei unterschiedlichen Kriterien hin und her gesprungen wird: dem Kriterium, das besonderen Status begründen soll einerseits (hier: hoch entwickelte psychologische Fähigkeiten) und dem Kriterium, das ein Individuum zum Mitglied einer Gruppe macht andererseits (hier: menschlicher Gencode). 35 Dass ein Lebewesen einen menschlichen Gencode besitzt, belegt nur, dass es, wie andere Menschen auch, zur Spezies homo sapiens gehört. Es belegt aber nicht, dass darüber hinausgehende Eigenschaften, die seine Speziesgenossen besitzen, auch für das betroffene Individuum Geltung haben, wenn es selbst diese Eigenschaften faktisch nicht besitzt. 36 Auch auf diesem Weg ist eine strikte Mensch-Tier-Trennung also nicht überzeugend begründbar. Auch wenn zu konstatieren ist, dass sich Spezies in ihren psychologischen Fähigkeiten unterscheiden, lässt sich laut Wolf hieraus kein unterschiedlicher Rang zwischen Lebewesen ableiten. Entscheidend sei nur, ob ein Lebewesen über ausreichende Fähigkeiten verfügt, um plausibler Weise als Träger eines subjektiven
33 Vgl. McMahan (2002), S. 217-228 sowie McMahan (2008a), S. 85-93. Das nature-of-thekind-Argument ist trotz einiger Ähnlichkeiten nicht zu verwechseln mit Nussbaums Idee der Speziesnorm. Ihre Forderung, alle Menschen unabhängig ihrer psychologischen Fähigkeiten nach demselben Wohlkonzept zu behandeln, ist politisch motiviert. Es soll der Versuchung vorgebeugt werden, Menschen mit starken Behinderungen von vornherein weniger an Ressourcen zukommen zu lassen anstatt ihnen den Zugang zu höherstufigen Gütern zu erleichtern (vgl. Nussbaum [2006], S. 181-192). Dabei impliziert Nussbaum, dass diese Menschen mit entsprechender Hilfe tatsächlich höherstufige Güter erreichen und genießen können. Sie behauptet nicht, diese Menschen bräuchten Zugang zu diesen Gütern, einfach weil Menschen sie typischerweise erreichen. 34 Vgl. Wolf (2012), S. 18. 35 Vgl. McMahan (1997), S. 126. McMahan bezieht sich im Original auf eine Kritik an chauvinistischen Ressentiments, bei denen versucht wird, die Zugehörigkeit zur selben Nation oder »Rasse« als moralisch relevante besondere Beziehung zu behaupten. Seine Kritik an diesen Argumentationsmustern lässt sich m.E. jedoch auch auf Spezieszugehörigkeit übertragen. 36 Vgl. McMahan (2005), S. 353-354 sowie McMahan (2008a), S. 85-91.
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Wohls betrachtet zu werden. Lebewesen, die über diese Fähigkeiten nicht verfügen, dürfen in Wolfs Modell somit vernachlässigt werden. Und zwar nicht weil ihr Wohl weniger wert ist, sondern weil sie überhaupt kein Wohl im moralisch relevanten Sinne besitzen. 37 »Unterschiede ergeben sich aus der Verschiedenheit der Fähigkeiten, der Lebensbedingungen und der Beziehungen der Individuen. Insofern dies keine Werteigenschaften, sondern gewöhnliche empirische Eigenschaften und Relationen sind, erscheint es nicht sinnvoll, einen unterschiedlichen moralischen Status, und das heißt Unterschiede in Wert oder Rang oder Würde, verschieden ausgestatteter Wesen anzunehmen. Objekte der Moral sind alle Wesen, die überhaupt ein subjektives Wohlbefinden haben, und sie sind das alle gleichermaßen.« 38
Ähnliche Ansätze finden sich bei McMahan. Erreichen die Fähigkeiten des Individuums eine Schwelle, die einen wichtigen moralischen Punkt markiert, so sind darüber hinausgehende graduelle Unterschiede irrelevant. 39 Dennoch folgern beide Autoren nicht, dass alle Lebewesen in Konfliktsituationen den exakt gleichen Anspruch auf Berücksichtigung ihres Wohls besitzen. McMahan argumentiert ganz unmissverständlich, dass es leichter gerechtfertigt werden kann, Nicht-Personen zu schädigen als Personen. 40 Und auch Wolf betont, dass wir in Dilemmasituationen, in denen wir das Wohl des einen Individuums nur durch Abstriche beim Wohl des jeweils anderen Individuums befördern können, keinesfalls in einer unauflösbaren
37 Vgl. Wolf (2012), S. 86, 114. Wie Wolf einräumt, könnte man immer noch davon sprechen, dass einem Organismus auch ohne solche Fähigkeiten bestimmte Dinge zuträglich und abträglich sind. Es ist einer Pflanze zuträglich gegossen zu werden. Nur handelt es sich dabei nicht mehr um das moralisch relevante Konzept von Wohl, das in dieser ethischen Untersuchung im Zentrum steht. Wer eine Pflanze vertrocknen lässt ist nachlässig, aber deshalb nicht gleich auch unmoralisch. 38 Ebd., S. 107ff. 39 Vgl. McMahan (2002), Ch. 3. McMahan verteidigt dabei das Rawls’sche Konzept der »Bereichseigenschaft« (siehe auch Rawls [1999], S. 444ff). McMahan vertritt eine vielbeachtete Version einer zweigeteilten Moral, in der die Tötung von Tieren (als NichtPersonen) weniger moralisch verwerflich ist, als die Tötung von Menschen (als Personen). Er behauptet jedoch nicht, das Wohl dieser Tiere sei weniger wert, sondern dass sie aufgrund ihrer geringeren psychologischen Fähigkeiten durch ihren Tod vergleichsweise weniger an Lebensqualität verlieren als Personen. 40 Vgl. McMahan (2002), Ch. 3, insb. S. 204.
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Pattsituation festsäßen. 41 Für beide Autoren gibt es durchaus Gründe, ein Individuum in der Berücksichtung seines Wohls gegenüber anderen zu bevorzugen. Aber eben nicht, weil sein Wohl an sich mehr moralisches Gewicht besäße. Zum einen kann für die Individuen hinsichtlich ihres Wohls unterschiedlich viel auf dem Spiel stehen. Muss ich mich entscheiden, welchem von zwei Individuen ich knappe Ressourcen zur Verfügung stelle, so darf ich abwägen, welches der beiden Individuen unter der Vorenthaltung dieser Ressourcen mehr leiden würde. Zum anderen kann ich gegenüber beiden Individuen unterschiedlich starke besondere Verpflichtungen besitzen, etwa durch besondere Verantwortungsbeziehungen. 42 Gerade dieser Punkt macht Speziesargumente attraktiv, die die Zugehörigkeit zur Menschheit als besondere, Pflichten generierende, zwischenmenschliche Beziehung behaupten. (Ich widme mich dieser Strategie im nächsten Abschnitt.) Selbst wenn wir also zugestehen, dass Tiere und menschliche Personen biologisch bedingt unterschiedlich intensiv unter dem Verlust bestimmter Güter leiden oder unterschiedlichen Zugang zu besonders bereichernden Erfahrungen haben, folgt daraus nicht, dass ihr Wohl unterschiedliches moralisches Gewicht besitzt. Es bedeutet allenfalls, dass wir in Dilemmasituationen, in denen wir zwischen der Beeinträchtigung des Wohls von Menschen und Tieren wählen müssen, Grund haben, dasjenige Lebewesen zu benachteiligen, dass im Vergleich weniger durch die Beeinträchtigung seines Wohls verliert oder in geringerer Beziehung zu uns steht. Dies kann kontingenter Weise Menschen in den meisten Fällen begünstigen. Es gibt uns aber keine carte blanche, das Wohl von Tieren nach eigenem Ermessen zu beeinträchtigen. Die Behauptung etwa, die Nutztierhaltung sei legitim, solange wir bemüht sind, das Wohl von Tieren möglichst wenig zu beeinträchtigen, lässt sich hiermit nicht stützen. Es müsste schon gezeigt werden, dass ausreichend starke Gründe vorliegen, das Wohl von Tieren zu beeinträchtigen. Und das scheint schwer. Denn was dem Wohl dieser Tiere gegenübersteht sind: a) bestimmte kulinarische Bedürfnisse von Menschen – die durch anderes Konsumverhalten und kreatives Kochen ersetzbar sind. b) der Wunsch die eigene materielle Absicherung durch bestimmte Berufe zu gewährleisten – was auch durch andere Berufe möglich ist.
41 Vgl. Wolf (2012), S. 107. Eine solche Pattsituation folge laut Wolf gerade aus Tom Regans Ansatz, der jedem Subjekt-eines-Lebens denselben inhärenten moralischen Wert zuschreibt (vgl. ebd., S. 48-51). 42 Vgl. ebd., S. 107-109.
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c) im Fall von Familienunternehmen der Wunsch bestimmte Traditionen fortzusetzen – wobei fraglich ist, ob die Gefühle der Verwandten und das eigene Pflichtgefühl zurecht höher eingestuft werden als das Wohl der betroffenen Tiere. d) der Wunsch, kulturelle Traditionen wie Festtagsessen, rituelle Jagden, Schauspiele oder ähnliches, auszuleben und zu erhalten – wobei zweifelhaft ist, ob Kerngehalte und Werte einer Kultur mit der Aufgabe der Haltung, Tötung, Verwertung oder Abrichtung von Tieren sich tatsächlich in Nichts auflösen würden. 43 Es scheint sich daher um keine ausreichend gewichtige Dilemmasituation zu handeln, in der wir das Wohl konkreter Tiere situationsbedingt mit gutem Grund wichtigeren Belangen unterordnen können. Tierwohl ernstzunehmen bedeutet auch, sich dieses Gewichtverhältnisses bewusst zu sein und dem Tierwohl einen entsprechend hohen Stellenwert gegenüber konkurrierenden menschlichen Belangen einzuräumen. Selbst wenn wir zugestehen, dass in ausreichend schwerwiegenden Dilemmasituationen das Tierwohl weniger zu berücksichtigen ist als das Wohl von Menschen, so ergibt sich kein allgemeingültiger Vorrang des Menschenwohls. Auch unter Berücksichtung der unterschiedlichen psychologischen Komplexität von Tieren und Menschen kann eine generelle Abstufung des Tierwohls nicht gestützt werden. Abgesehen von bestimmten Konkretisierungen, die sich aus biologischen Bedürfnissen 44 und psychologischen Fähigkeiten 45 ergeben, sind Menschenwohl und Tierwohl nach gleichen Grundkomponenten zu konzipieren. Wolf betont, dass Verteidiger eines weniger anspruchsvollen Tierwohlverständnisses gerade versuchen, die Fortführung unserer Praktiken an Tieren als unumgänglich zu behaupten. Sie behaupten damit eine Dilemmasituation, deren tatsächliches Vorliegen anzuzweifeln ist. Dass Landwirte bspw. in ihrer materiellen Absicherung davon abhängig sind, Tiere in einer ökonomisch rentablen Form zu halten (was mit Einschränkungen deren Wohls einhergeht), erfüllt für Wolf die Anforderungen eines Dilemmas nicht. Denn es handelt sich hierbei um ein »Dilemma«, das
43 Einige interessante Einwände gerade zu c) und d) formuliert Gary Comstock (vgl. Comstock [1991], S. 153-156; Comstock [2004], S. 359-370) sowie bei Wolf (vgl. Wolf [2012], S. 14). 44 Hierunter fällt Nussbaums Hinweis, dass Menschen weniger in der Lage sind, ihr Leben allein zu bestreiten als Tiere mit vergleichbaren psychologischen Fähigkeiten (vgl. Nussbaum [2006], S. 192). 45 Hierunter fällt Wolfs Argument, dass Tiere (oder allgemein Nicht-Personen), nicht unter mangelnder Anerkennung an sich leiden können (vgl. Wolf [2012], S. 100).
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wir selbst geschaffen haben, durch die Art wie wir uns ernähren und unser Leben entlang ökonomischer Zwänge organisieren. 46 »Sie behaupten die grundsätzliche oder ökonomische Unvermeidbarkeit der Massentierhaltung. Dass dieser Begriff der Unvermeidbarkeit in Rechtfertigung der schlechten Behandlung von Tieren ständig auftaucht, zeigt, dass die Vorstellung besteht, dass hier eine moralisch relevante Begründung erforderlich ist. […] Es besteht keine strikte Unvermeidbarkeit in dem Sinn, dass jemand oder etwas uns zwingen würde, so zu handeln. Es besteht auch keine Unvermeidbarkeit in dem ebenfalls noch verständlichen Sinn, dass wir unser Leben nicht erhalten könnten, wenn wir diese Praktiken aufgeben. Die sogenannten ökonomischen Zwänge sind ebenfalls keine echten Zwänge, sondern bestehen nur relativ zu den derzeitigen Strukturen, die veränderbar sind.« 47 [Hervorhebung im Original]
Zugegebenermaßen wendet sich Wolf hierbei vor allem gegen die industrielle Massentierhaltung und lässt alternative Haltungsformen unerwähnt. Zum einen versuchen jedoch praxisnahe Tierwohlansätze in der Regel diese »intensivierte Tierhaltung« ebenso zu verteidigen wie auch alternative Konzepte (siehe I. Hauptteil). Zum anderen ist zu bezweifeln, dass es mit alternativen »vorbildlichen« Haltungsmethoden gelingt, jegliche Beeinträchtigung des Tierwohls zu vermeiden. Wie ich im III. Hauptteil näher argumentieren werde, stellt die Beeinträchtigung des Tierwohls ein essentielles Problem jeder ökonomischen Tiernutzung dar. Selbst wenn wir einräumen, dass es Situationen geben kann, in denen das Menschenwohl dem Tierwohl vorzuziehen ist (bspw. weil ein Dilemma vorliegt und wir gegenüber Menschen eine besondere soziale Verantwortung geltend machen können), kann das Tierwohl nicht als generell weniger wichtig abgestuft werden. Die Übertragung von Mensch-Mensch-Intuitionen auf Tiere lässt sich hierdurch nicht als übertriebene Projektion abtun. 4.3.2 Versuch 2: Vorrang des Menschenwohls aufgrund zwischenmenschlicher Beziehungen Wie oben angemerkt, scheinen diejenigen Speziesargumente noch am überzeugendsten, die Parallelen zwischen der Lebensverfasstheit von Menschen und Tieren anerkennen, gleichzeitig aber betonen, dass wir als menschliche Moralakteure dennoch Menschen und ihrem Wohl einen besonderen Vorrang einzuräumen haben, aufgrund einer besonderen Beziehung zwischen allen Menschen.
46 Vgl. ebd., S. 107-109, 125-128. 47 Ebd., S. 128.
212 | Tierwohl und Tierethik
Tatsächlich erkennen auch Wolf und McMahan besondere Beziehungen als moralisch relevanten Faktor an. Sie bestreiten jedoch, dass die erforderlichen besonderen Beziehungen allein auf zwischenmenschliche Interaktionen beschränkt sind. Menschen können auch zu Tieren besondere Beziehungen besitzen und diese Beziehungen können es rechtfertigen, dem Wohl dieser Tiere Vorrang zu geben vor dem Wohl von Menschen, zu denen keine vergleichbar starken Beziehungen bestehen. 48 »Wenn eine Person in einer bestimmten Situation nur entweder einem Menschen oder einem Tier helfen kann, ist es prinzipiell legitim, dass sie den Menschen bevorzugt (prinzipiell, d. h. wenn beides fremde Wesen sind; wenn das Tier ein bekanntes Tier ist, wäre ebenso die umgekehrte Entscheidung verständlich).« 49
Vertreter einer strikten Menschenwohl-Tierwohl-Trennung müssen untermauern, warum es eine besondere Beziehung geben sollte, die zwischen allen Menschen und nur zwischen Menschen besteht, so dass die gemeinsame Spezieszugehörigkeit einen Vorrang der Berücksichtigung des Menschenwohls generiert. Die Tatsache, zur selben Spezies zu gehören, kann für sich genommen eine solche Beziehung nicht glaubhaft begründen, da der Besitz eines überwiegend ähnlichen Gencodes eine rein biologische Eigenschaft ist. Stattdessen scheinen viele Autoren ein besonderes Verbundenheitsgefühl zwischen allen Mitgliedern der Menschheit zu postulieren. 50 Wie Wolf aber betont, können wir auch ein starkes Gefühl der Verbundenheit zu Tieren besitzen. Man könnte nun versuchen, dieses Verbundenheitsgefühl gegenüber Tieren als irrational und nicht philosophisch belastbar zurückzuweisen. Es könnte etwa argumentiert werden, dass Beziehungen ausreichende kognitive und emotionale Fähigkeiten voraussetzen. Wir können uns einseitig auf Entitäten emotional beziehen, die selbst zur sozialen Interaktion nicht (ausreichend) fähig sind: auf Schnecken, Stofftiere, Bücher, etc. 51 Dieses Argument trifft jedoch auf drei Probleme. Erstens greift dieser Einwand nicht bei allen Tieren.
48 Vgl. ebd., S. 143 sowie McMahan (2005), S. 353-380. 49 Wolf (2012), S. 143. 50 Solche Züge finden sich bei Scanlon und Carruthers (vgl. Scanlon [1998], S. 185-186; Carruthers [2014], S. 223-237). Andere Autoren versuchen die Verbundenheit aller Menschen anhand metaphysisch aufgeladener Konzepte von »Menschsein« und »Menschheit« zu begründen. Auch diese Konzepte greifen jedoch auf Kriterien zurück, die entweder diffus sind, oder Interaktionsfähigkeiten voraussetzen, die eben nicht alle Menschen besitzen. Für eine ausführliche Kritik solcher Versuche siehe McMahan (2005), S. 353380. 51 Vgl. ebd., insb. S. 361-369.
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Gerade das soziale Interaktionsvermögen von Schweinen und Kühen gilt heute als unstrittig und wird als sehr ausgeprägt eingestuft. Da soziale Interaktionsfähigkeiten mit ausgeprägten psychologischen Fähigkeiten zusammenhängen, darf zweitens angenommen werden, dass Tiere, denen die nötigen Fähigkeiten fehlen, zugleich auch die Vorbedingungen für den Besitz eines eigenen subjektiven Wohls nicht erfüllen und damit ohnehin aus dieser Untersuchung herausfallen. Drittens fallen erneut auch einige Menschen unter die Gruppe von Individuen, denen die nötigen sozialen Interaktionsfähigkeiten fehlen (sowie die Basis für ein eigenes subjektives Wohl). Es ist daher fraglich, warum besondere Beziehungen zu diesen Menschen nicht ebenso irrational sein sollen wie Beziehungen zu Tieren. Empathische Verbundenheit ist jedoch nicht die einzige Form besonderer Beziehung, die in der Ethik eine Rolle spielt. Auch kausale Verantwortungsbeziehungen können moralische Relevanz besitzen. 52 Die Menschheit könnte möglicherweise als gegenseitige Hilfsgemeinschaft verstanden werden. Diese Hilfe schulden wir hiernach allen Menschen, weil wir durch unsere gesellschaftliche Lebensweise andere Menschen zur Existenz bringen und bestimmen, welche Lebensbedingungen sie vorfinden (bspw. in was für einer Welt und mit welchen Regeln sie zurechtkommen müssen), wodurch wir beeinflussen, wie ihr Leben verläuft. Das alles scheint jedoch auch auf Tiere zuzutreffen, deren Habitate wir durch unsere Lebensweise verändern oder ganz zerstören. Vor allem aber auf Tiere, die wir gezielt züchten, genetisch manipulieren und in vorgefertigten Haltungsumgebungen gefangen halten. 53 Eben weil unsere gesellschaftliche Einflussnahme bei diesen Tieren noch viel größer ist als Menschen gegenüber, scheint dies das Vorliegen besonderer Beziehungen zu Tieren nur zu stärken und eben keine Abstufung ihres Wohls zu legitimieren. Gleichwohl scheint Nussbaum mit ihrem Vorschlag, das Wohl von Individuen anhand einer Speziesnorm zu konzipieren und zu bewerten, einen wichtigen Punkt zu berühren. Auch wenn Menschen aufgrund geringerer psychologischer Fähigkeiten nur bedingt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, so stellt die menschliche Gesellschaft dennoch das Umfeld dar, indem sie am besten »gedeihen« können. Der Grund, warum Menschen den Schutz der menschlichen Gemeinschaft zugesprochen bekommen, ist für Nussbaum offensichtlich der, dass Menschen schlichtweg auf diesen Schutz angewiesen sind. Sie benötigen Unterstützung in ihren sozialen Interaktionen und in der Bewältigung täglicher Herausforderungen
52 Vgl. u.a. Scheffler (1997), S. 191 sowie Palmer (2010), S. 48ff. 53 Aufschlussreiche Ausarbeitungen zum menschlichen Einfluss auf die Lebensräume und die Lebensqualität von Tieren finden sich in Burgess-Jackson (1998), S. 159-185; Palmer (2010), Ch. 3+6 sowie Donaldson/Kymlicka (2011), Ch. 2+3.
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sowie der Abdeckung weiterer Bedürfnisse. 54 Die Frage ist dennoch, warum wir Tieren nicht ebenfalls einen besonderen gesellschaftlichen Schutz zusprechen sollten im Sinne eines Anspruchs, ihr Wohl besonders stark zu berücksichtigen, zu befördern und zu gewichten. Kymlicka und Donaldson haben in ihrem Werk Zoopolis prominent für eine solche Ausweitung des gesellschaftlichen Schutzes auf Tiere geworben. 55 Die Idee, diesen Schutz in Form von Staatsbürgerrechten zu gewährleisten, kann dabei philosophisch kritisiert werden. 56 Die Idee einer Zoopolis verdeutlicht unabhängig von diesen Schwierigkeiten aber einen wichtigen Punkt. Gerade domestizierte Tiere sind in vielerlei Hinsicht Teil der Lebenswelt der menschlichen Gemeinschaft geworden, ohne jedoch entsprechenden Schutz zugesprochen zu bekommen. Diese Tiere sind nicht (mehr) in der Lage, auf eigene Faust ihr Leben zu bestreiten und benötigen Unterstützung. Durch ihre Zähmung, ihre Züchtungen und ihr Eingliedern in menschengemachte Tagesabläufe und Lebensbedingungen haben wir dafür gesorgt, dass nicht länger die freie Natur, sondern die menschlich geschaffene Umgebung für ihr »Gedeihen« notwendig geworden ist. 57 Diese Abhängigkeit wird durch die menschliche Gesellschaft herbeigeführt und aufrechterhalten, was eine besondere Verantwortungsbeziehung generiert. Die Behauptung, wir müssten aufgrund besonderer Beziehungen dem Wohl von Menschen – und nur von Menschen – besondere Rücksicht und Förderung zukommen lassen, geht daher nur auf, wenn die menschliche Gemeinschaft isoliert von anderen Lebewesen existieren und agieren würde. Unsere Interaktionen mit Tieren und unsere Einflussnahme auf ihr Leben und ihre Umwelt sind jedoch vielfältig. Verweise auf eine Speziesnorm und die menschliche Gesellschaft können somit möglicherweise legitimieren, warum wir das Wohl von frei lebenden Tieren, die in ihren Habitaten für sich bleiben, nicht mit denselben Kraftanstrengungen berücksichtigen müssen wie das Wohl von Menschen. Diese Trennung lässt sich jedoch
54 Vgl. Nussbaum (2006), S. 192. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in Anderson (2004), S. 281-282, wobei Anderson m.E. weniger klar erläutert, dass hierbei Fähigkeiten den Ausschlag geben, die mit der Spezieszugehörigkeit korrelieren. Sie scheint vielmehr überzeugt, es sei einfach intuitiv einleuchtend, dass sich bestimmte Formen des Lebens und Umgangs jeweils nur für Menschen oder nur für Tiere geziemen. 55 Vgl. Donaldson/Kymlicka (2011). Dabei schlagen die Autoren eine Dreiteilung vor. Domestizierte Tiere sollten als Staatsbürger anerkannt werden. So genannten »Kulturfolgern«, sollte ein Aufenthaltsrecht in menschlicher Umgebung zugesichert werden. Frei lebende Tiere, die fernab der menschlichen Zivilisation leben, sollten Souveränität hinsichtlich ihres Lebensraums und ihrer Lebensführung innerhalb dieses Raums zugesprochen bekommen. 56 Für eine politisch-philosophische Kritik siehe Ladwig (2014), S. 27-44. 57 Donaldson/Kymlicka (2014), S. 9; ähnlich auch Wolf (1997), S. 67.
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nicht auf die Tiere, die innerhalb unserer menschlichen Lebenswelt aufwachsen ausdehnen. Und dies sind gerade die Tiere, um die es bei der Gegenüberstellung von Tierwohl und Nutztierhaltung geht. Selbst wenn wir eine besondere, rein zwischenmenschliche, Beziehung akzeptieren, die dem Wohl aller Menschen einen exklusiven Vorrang vor dem Wohl anderer Lebewesen verleiht, sagt dies noch nichts darüber aus, inwieweit wir bei der Berücksichtigung des Tierwohls weniger strikten moralischen Anforderungen unterliegen. Es lässt sich bspw. philosophisch untermauern, dass besondere Beziehungen lediglich die Stärke positiver Hilfspflichten beeinflussen, die von negativen Unterlassungspflichten jedoch unverändert lassen. Einem Lebewesen seine Nahrung wegzunehmen oder ihm Schmerzen zuzufügen ist ein gleichwertiger Verstoß gegen negative Pflichten ihm gegenüber, egal in welcher Beziehung ich zu diesem Lebewesen stehe. 58 Dass viele von uns dennoch intuitiv stärker schockiert sind, wenn jemand ein Tier, für das er Verantwortung besitzt, vernachlässigt oder misshandelt, erklärt sich m.E. dadurch, dass in diesem Fall zusätzlich zu den negativen Pflichten (dieses Tier nicht zu schädigen) auch die positiven Pflichten (für dieses Tier zu sorgen und es vor Schädigung zu schützen) verletzt werden. 59 Durch besondere zwischenmenschliche Beziehungen lässt sich somit allenfalls rechtfertigen, mehr Ressourcen in die Förderung des Menschenwohls als in die Förderung des Tierwohls zu investieren. Damit lässt sich jedoch nicht pauschal rechtfertigen, die Lebensqualität von Tieren zugunsten menschlicher Interessen zu vernachlässigen oder abzustufen. Ebenso können besonders starke positive Pflichten gegenüber Menschen nicht automatisch die Vernachlässigung negativer Pflichten gegenüber Tieren übertrumpfen. McMahan zufolge kann bspw. die positive Pflicht, Leben zu retten, nicht die
58 Dabei muss nicht geleugnet werden, dass es ethisch relevante Gründe geben kann, einem Tier Nahrung wegzunehmen oder Schmerzen zuzufügen. Wenn ich andernfalls zu verhungern drohe oder ein Tier in die Flucht schlagen muss, weil es mein Leben bedroht scheinen diese Handlungen legitim. Damit ist jedoch nicht in Abrede gestellt, dass Tiere prima facie Ansprüche gegen Nahrungsentwendung und Schmerzzufügung besitzen, die durch ausreichend starke Gründe aber überwogen werden können. Es handelt sich hierbei um wirkliche Dilemmafälle, die das Verletzen von Ansprüchen Anderer legitimieren können. 59 In diesem Punkt unterscheidet sich meine Position zu der von McMahan und Scheffler, die es für möglich halten, dass auch negative Pflichten durch besondere Beziehungen beeinflusst werden können. Abgesehen von diesem Unterschied stützt sich meine Analyse der moralischen Relevanz besonderer Beziehungen auf die Vorarbeiten beider Autoren, siehe McMahan (1997), S. 107-138; McMahan (2002), insb. S. 236-237; Scheffler (2001a), S. 48-65; Scheffler (1997), S. 189-209.
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negative Pflicht übertrumpfen, nicht zu töten. 60 Ich habe kein Recht, einen Passanten zu töten, um seine Organe einem guten Freund zu geben, der sie zum Überleben benötigt – ganz gleich, wie stark meine positiven Hilfspflichten gegenüber dem Freund sind, sie bleiben den negativen Unterlassungspflichten gegenüber dem Passanten untergeordnet. Die Vorteile, die Menschen durch Zugang zu preiswerten Nahrungsmitteln erlangen oder das Ausüben bestimmter Berufe des Lebensmittelsektors, können nicht herangezogen werden, um das Halten und Nutzen von Tieren von vornherein zu legitimieren, wenn sich dies beeinträchtigend auf deren Wohl auswirkt. Eine pauschale Abstufung der moralischen Pflichten bezüglich des Tierwohls ist durch das Argument einer besonderen Spezies-Beziehung ebensowenig zu verteidigen, wie mit dem Verweis auf die unterschiedliche physische und psychische Komplexität von Menschen und Tieren. Unterschiede, die sich zwischen Menschen und Tieren benennen lassen, leiten lediglich unterschiedliche konkrete Ausgestaltungen ihrer Wohl-Komponenten her, reichen jedoch nicht aus, um das Tierwohl grundverschieden vom Menschenwohl zu konzipieren. Eine Weigerung, entsprechende Mensch-Mensch-Intuitionen auch auf Tiere auszuweiten, stellt damit eine nicht zu rechtfertigende Parteilichkeit dar. 4.3.3 Versuch 3: Schutz des Menschenwohls als besonderer Anspruch Wie Sumner und Haynes hervorheben, ist »Wohl« ein essentiell evaluatives Konzept und damit von vornherein wertbeladen. In diesem Begriff drückt sich aus, welche Lebenszustände wir für uns oder andere Individuen als gut und wünschenswert betrachten bzw. was wir als wertvoll, richtig und wichtig ansehen. 61 Mit Rückgriff auf diesen evaluativen Gehalt des Wohlbegriffs könnten Verteidiger der Menschenwohl-Tierwohl-Trennung nun behaupten, Menschen und Tiere hätten unterschiedliches moralisches Anrecht darauf, dass ihnen die Abdeckung bestimmter Komponenten ihres Wohls erleichtert bzw. nicht erschwert wird. »Wohl« ist in diesem Sinne nicht nur als Zustand eines Individuums zu verstehen, sondern als Anspruch das Leben eines Individuums in einer bestimmten Weise zu beeinflussen. So könnte behauptet werden, dass das Leben von Menschen und Tieren zwar durch vergleichbare Faktoren und in vergleichbarer Weise beeinflusst wird, dass aber die Auswirkungen dieser Beeinflussung in jeweils unterschiedlichem Ausmaß als ethisch relevant zu bewerten sind. Wenn diese Strategie aufgehen soll, muss jedoch auch gezeigt werden, welche Wertgrundlage hierbei die unter-
60 Vgl. McMahan (1997), S. 132. 61 Vgl. Sumner (1996), S. 8 sowie Haynes (2010), S. 100.
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schiedlichen Anspruchsgrade begründet und ob diese sich tatsächlich exklusiv auf Menschen anwenden lässt. Eine solche Rechtfertigung scheint jedoch erneut auf die bereits diskutierten – und zurückgewiesenen – Speziesargumente zurückgreifen zu müssen. Menschenwohl sei anspruchsvoller zu fassen: (a) weil der Mensch mehr Wert besitzt und daher auch sein Wohl, (b) weil alle Menschen untereinander in besonderer Beziehung stehen, die Parteilichkeit rechtfertigt/einfordert, (c) weil Menschen über Fähigkeiten verfügen, die sie von allen Tieren unterscheiden, was ihnen entweder besonderen Wert verleiht oder ihnen Wohlkomponenten zugänglich macht, die anderen Lebewesen verschlossen bleiben, (d) weil alle Menschen einer Gattung angehören, deren Mitglieder typischerweise über die Fähigkeiten aus (c) verfügen. Die bekannten Speziesargumente werden hierbei lediglich verschoben: von der Konzeption des Wohls als Zustand zur Konzeption des Anspruchs der Berücksichtigung des Wohls. Tatsächlich scheint mir eine Auseinandersetzung mit dem Anspruch, der mit dem Wohlbegriff verbunden ist, hilfreich und für bestimmte Sonderfälle auch unerlässlich, um unsere moralischen Pflichten gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen, aufzuklären. 62 Es kann jedoch nicht gelingen, einen strikt unterschiedlichen Wohlanspruch zwischen Menschen und Tieren zu fundieren, indem dieselben defizitären Speziesargumente erneut ins Feld geführt werden. Dass dem Wohl von Menschen besondere Aufmerksamkeit zukommt, würden viele Moralakteure unterschreiben. Gerade angesichts der einzigartigen Menschenrechtsverletzungen des 20. Jahrhunderts beharren manche darauf, allen Menschen gleichermaßen eine moralische Sonderstellung zuzuweisen. Damit soll ein unantastbarer Schutzanspruch jedes Menschen unabhängig von seinen Fähigkeiten bzw. biologischen Merkmalen hervorgehoben werden. Angesichts dieser Agenda werden tierethische Vorstöße, die die strikte moralische Trennung von Mensch und Tier aufweichen oder gänzlich infrage stellen, von vielen Kritikern als Bedrohung für einen egalitären Schutzanspruch aller Menschen betrachtet. Solche Überlegungen kommen insbesondere in der politischen und philosophischen Debatte um die Menschenwürde zum Tragen. 63 Die Idee hinter dieser Agenda, nämlich der Schutz aller Menschen, insbesondere der gesellschaftlich besonders schutzbedürftigen, ist zweifelsohne von großer Bedeutung. Sie darf jedoch nicht dazu herangezogen werden,
62 Ich vertiefe diesen Gedanken in III.5. hinsichtlich der Züchtung von Tieren ohne Bewusstsein. 63 Vgl. Wetz (2005), S. 20ff; Rippe (2011), S. 20 und besonders religiös durchsetzt Böckle (1984), S. 51ff. Interessante Gedanken zu menschlicher Sonderstellung als egalitär (bezüglich der Mitmenschen) und gleichzeitig elitär (bezüglich der Tiere) finden sich in Bittner (2017), S. 91-112.
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ethische Grundfragen im politisch-gesellschaftlichen Interesse komplett auszublenden. 64 Diese Agenda kann lediglich eine besondere Motivation begründen, Menschen und Tiere trotz fehlender ethischer Grundlage unterschiedlich zu behandeln. Ich bezweifle, dass wir mit der Aufgabe einer strikten ethischen Mensch-Tier-Trennung zugleich alle Möglichkeiten aus der Hand geben, Schutzansprüche und Hilfsansprüche für diejenigen Menschen ethisch zu begründen und einzufordern, die aufgrund ihrer eingeschränkten Fähigkeiten der Willkür und Gewalt Anderer besonders ausgeliefert sind. Darüber hinaus handelt es sich bei der Nutztierhaltung um kein Szenario, in dem der Schutz von Leib und Leben von Menschen und Tieren direkt einander gegenübersteht. Wir können leben und das Wohl von Menschen schützen und fördern ohne dafür Tiere züchten, halten und töten zu müssen – schon gar nicht auf industriellem Hochleistungsniveau. 65 Erneut lässt sich nicht rechtfertigen, Menschen- und Tierwohl als grundsätzlich verschiedene Gegenstandsbereiche zu verstehen. Noch lassen sich für beide Wohlbegriffe so grundsätzlich verschiedene moralische Ansprüche verteidigen, dass Eingriffe in die Lebenssituation von Tieren von vornherein als wenig dramatisch zu betrachten wären und daher die Übertragung von Mensch-Mensch-Intuitionen auf den Umgang mit Tieren verfehlt wäre. Was sich zugestehen lässt ist, dass wir gegenüber Menschen bestimmte Hilfspflichten besitzen, die gegenüber Tieren nicht bestehen. Da Menschen aufgrund ihrer biologischen Verfasstheit bspw. anders in der freien Natur zurechtkommen als Tiere. 66 Ebenso scheint zutreffend, dass die besonderen Beziehungen, die zwischen uns und anderen Menschen bestehen, niemals haargenau so beschaffen sind, wie die besonderen Beziehungen, die wir gegenüber Tieren besitzen können. Hieraus lässt sich jedoch keine Legitimation ableiten, Tierwohl auf faktische subjektive Einstellungen zu reduzieren oder die Lebens-
64 Eine solche politisch-emanzipatorisch ehrenwerte, aber philosophisch zu kurz greifende, Verteidigung menschlicher Sonderstellung (inklusive einer pauschalen Abwertung der Speziesismuskritik) findet sich bspw. in Ditfurth (1996), S. 123-178. 65 Wie mit der Lebensweise indigener Menschen umzugehen ist, die in landwirtschaftlich kaum nutzbaren Gebieten leben und daher auf andere Nahrungsquellen angewiesen sind, oder die ihre kulturelle Identität an das Jagen und Verarbeiten von Tieren knüpfen. Einige interessante Überlegungen zum kritischen aber respektvollen Umgang mit indigenen Traditionen der Tiernutzung und -tötung finden sich in Comstock (2004), S. 359-370. 66 Vgl. Nussbaum (2006), S. 192; ähnliche Überlegungen finden sich auch in Anderson (2004), S. 281-289.
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situation von Tieren zum Vorteil von Menschen nach Lust und Laune zu beeinflussen. 67 Wenn sich somit auch nicht sämtliche Intuitionen, die wir im Umgang mit Menschen haben, auf Tiere übertragen lassen, so lässt sich dennoch die Übertragung derjenigen Mensch-Mensch-Intuitionen verteidigen, die essentiell sind für das grundlegende Verständnis individuellen Wohls und den grundlegenden moralischen Anspruch hinter der Berücksichtung von Wohl.
4.4 FÜR EINE AUSBILDUNG STÄRKERER MENSCH-TIERINTUITIONEN Viele Menschen bilden faktisch gegenüber Tieren und ihrem Wohl weitaus schwächere moralische Intuitionen aus als gegenüber Menschen. Dies liefert eine Erklärung dafür, warum viele von uns offenbar schneller bereit sind, das Wohl von Tieren auf subjektive affektive mentale Zustände zu reduzieren, das Menschenwohl hingegen anspruchsvoller auffassen. Wolf jedoch betont, dass unsere faktischen moralischen Intuitionen – bei Wolf die Form und Stärke von Mitleid – bereits gegenüber Menschen unterschiedlich stark ausgebildet sind. Nicht alle Menschen interessieren uns gleichermaßen. Dennoch sind wir in vielen Fällen überzeugt, dass uns auch das Wohl derer, zu denen wir keinen Bezug haben, interessieren sollte. Wir meinen Grund zu haben, uns ihnen gegenüber zumindest so zu verhalten, wie wir es gegenüber den Individuen tun, an deren Lebenssituation wir auch faktisch emotional Anteil nehmen. 68 Indem oben gezeigt wurde, dass bestimmte Intuitionen, die für das Verständnis des Menschenwohls essentiell sind, auch plausibler Weise auf Tiere übertragen werden können, und zudem keine überzeugende Grundlage dafür spricht, sie allein Menschen vorzubehalten, haben wir Grund, die entsprechenden Intuitionen auch gegenüber der Beurteilung des Tierwohls anzuwenden. Entscheidend ist demnach nicht, wie stark der Wunsch nach Rücksichtnahme gegenüber Tieren faktisch ausgeprägt ist (woran sich empirische Tierwohlansätze stark orientieren), sondern ob eine stärkere Rücksichtnahme gegenüber Tieren plausibel eingefordert werden kann. Für eine solche Ausdehnung unserer Rücksichtnahme habe ich in diesem Kapitel argumentiert. Insofern sind politisch-
67 Zumal besondere Beziehungen erst einmal nur rechtfertigen, positive Handlungen gegenüber anderen Individuen zu vernachlässigen, nicht aber zugleich auch rechtfertigen, diese Individuen aktiv zu schädigen, um den uns nahe stehenden einen Vorteil zu verschaffen (vgl. Scheffler [1997], S. 199, 207). 68 Vgl. Wolf (1997), S. 57.
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pädagogische Anstrengungen zu befördern, die auch zur faktischen Ausbildung solcher Mensch-Tier-Intuitionen anregen. Ich habe diverse Optionen durchgespielt, anhand derer versucht werden könnte, eine klare Trennung zwischen der Konzeption des Menschenwohls und des Tierwohls zu verteidigen. Letztendlich erweist sich meiner Untersuchung nach keine dieser Argumentationslinien als haltbar. Sie stützen sich entweder auf speziesbezogene Argumente, die willkürlich sind und moralisch irrelevante Faktoren überbewerten. Oder sie stützen sich auf individuelle Fähigkeiten, die jedoch empirisch betrachtet keinen strikten Unterschied zwischen allen Menschen und allen Tieren fundieren. Die genaue Konkretisierung des individuellen Wohls kann sich bei Menschen und Tieren, aufgrund ihrer individuellen Fähigkeiten, dabei sehr wohl stark unterscheiden. Oftmals korrelieren diese Fähigkeitsunterschiede mit der Spezieszugehörigkeit – aber eben nicht in jedem Fall. Für meine Untersuchung ist auch nicht entscheidend, wie exakt deckungsgleich Menschen- und Tierwohl in ihrer letztendlichen Konkretisierung sind, sondern ob wesentliche Grundkomponenten des Menschenwohls bei Tieren legitimer Weise ausgespart werden können, was von mir explizit verworfen wurde. Auch das Tierwohl ist anhand eines anspruchsvollen hybriden Ansatzes mit subjektivistischen und objektivistischen Anteilen zu konzipieren und entsprechend zu berücksichtigen. D.h. das Wohl eines Tiers kann beeinflusst werden durch Faktoren, die das betroffene Tier möglicherweise selbst nicht faktisch subjektiv ablehnt oder bemerkt, sofern sich rational begründen lässt, dass dieses Tier Grund hat, diese Faktoren als positiv bzw. negativ zu betrachten. Und dies ist meinem Ansatz nach dann gegeben, wenn diese Faktoren die Möglichkeit des betreffenden Tiers beeinflussen, sozial zu interagieren, sich frei zu betätigen, sich wohl zu fühlen, sich am Leben sowie körperlich und psychisch vital zu erhalten (vgl. II.3). Die Legitimität der Fortführung unserer Praktiken an Tieren ist folglich daran zu bemessen, ob es möglich ist, die Nutztierhaltung in einer Weise zu reformieren, die diesem anspruchsvollen Tierwohlbegriff gerecht wird. Dies wird im III. Hauptteil ausgelotet werden.
III. Anwendung eines anspruchsvollen Tierwohlbegriffs auf die Nutztierhaltung
1
Konfliktpunkte zwischen Tierwohl und Nutztierhaltung
1.1 ZIEL DES DRITTEN HAUPTTEILS Nachdem ich im vorangegangenen Hauptteil zentrale Debatten und Argumentationslinien zum philosophischen Verständnis individuellen Wohls nachgezeichnet und ein entsprechend anspruchsvolles Tierwohlkonzept vorgestellt habe, wird es nun Zeit, den Bogen zu meiner Ausgangsfrage zurückzuschlagen: Sind die Berücksichtigung des Tierwohls und die Fortführung der (industriellen) Nutztierhaltung überhaupt miteinander vereinbar? Und wenn nicht, worin bestehen unüberwindbare Konfliktpunkte? Und welche Konsequenzen sind für unseren zukünftigen Umgang mit Tieren hieraus zu ziehen? Ich werde mich in diesem ersten Kapitel des III. Hauptteils auf grundlegende Bestandteile der Nutztierhaltung konzentrieren, die sich als Leid erzeugend (und damit das Tierwohl beeinträchtigend) herausstellen lassen. Besonderheiten von extensivierter oder Subsistenzhaltung werde ich dabei jedoch ausklammern, da ich sämtliche Formen der Nutztierhaltung als den gleichen Tierwohlkonfliktfeldern ausgesetzt ansehe. Mögliche Unterschiede der Tierwohleinschränkungen, die sich allein aus der Haltungsform ergeben, sehe ich als lediglich gradueller Natur an. In III.2 vertiefe ich die Konflikte zwischen Tiertötung und Tierwohl und argumentiere, dass selbst völlig leidfrei durchgeführte Tötung als Beeinträchtigung des Tierwohls zu verstehen ist. Da ich gleichzeitig die Tiertötung als essentiellen Bestandteil des Nutzenkalküls der Nutztierhaltung herausstelle, ergibt sich somit ein unausweichlicher Tierwohlkonflikt. In III.3 widme ich mich dem besonders komplexen Bereich der genetischen Manipulation von Nutztieren. Ich werde dort untersuchen, inwieweit die gezielte Anpassung von Tieren an die ihnen vorgesetzten Haltungsbedingungen und an die Zwecke ihrer Nutzung als Tierwohl beeinträchtigend anzusehen ist, selbst wenn sie leidfrei vollzogen wird. Auch die Anpassung von Tieren stelle ich dabei als essentiellen Bestandteil des Nutzenkalküls der Nutztierhaltung heraus.
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Da ich die Tötung und genetische Anpassung von Tieren als grundlegende Tierwohlkonfliktfelder kennzeichne, die zugleich fester Bestandteil der Nutztierhaltung sind, weise ich damit eine harmonische Vereinbarkeit von Tierwohl und Nutztierhaltung zurück. In III.4 diskutiere ich daher, ob es Fürsprechern einer Fortführung der Tiernutzung möglich ist, diese Unvereinbarkeit zwar anzuerkennen, aber bestimmte Beeinträchtigungen des Tierwohls dennoch als moralisch legitim zu verteidigen. Ich werde auch diese Strategie als nicht haltbar zurückweisen. In III.5 widme ich mich einem speziellen Sonderfall der genetischen Veränderung von Tieren, den ich als Bewusstseinsminderung bezeichnen werde. Diese Genmanipulation zielt auf die Erschaffung von Tieren ab, die gänzlich leid- und bewusstseinsunfähig sind. Dieser Fall stellt eine besondere Herausforderung für eine philosophische Kritik dar, da den hierbei betroffenen Tieren sämtliche Eigenschaften abgezüchtet werden, auf die sich gängige Tierethikansätze primär konzentrieren. Es scheint also zunächst, als könne die Nutztierhaltung doch legitimer Weise fortgeführt werden, wenn sie fortan nur noch bewusstseinsgeminderte Tiere einsetzt. Ich werde hierbei argumentieren, dass solche Tiere tatsächlich das Tierwohlkonzept an seine Grenzen bringen, dennoch aber die gezielte Züchtung solcher Tiere ethisch zurückweisbar ist. Damit behandle ich einerseits einen der philosophisch vertracktesten Fälle gegenwärtiger Tierwohldiskussionen, und betone andererseits, dass wir gerade durch Auseinandersetzung mit diesem Extremfall ein besseres Verständnis über den Sinn hinter dem Tierwohlkonzept erlangen können und ebenso ein besseres Verständnis darüber, wer wir moralisch gesprochen sein wollen. Diese Überlegungen bündele ich zu meinem abschließenden Fazit in III.6 Ich werde dort dafür plädieren, dass wir nicht nur ein anspruchsvolleres Verständnis des Tierwohls benötigen, sondern auch eine umfassendere Auseinandersetzung mit unserem eigenen moralischen Selbstverständnis. Die Hoffnung der Fürsprecher der Nutztierhaltung, selbige durch innovative Reformen mit rundum »gutem Gewissen« fortführen zu können, erweist sich dabei als fehlgeleitet.
1.2 TIERHALTUNG UND DAS ZUFÜGEN BZW. ZULASSEN VON LEID Dem verbreiteten gesellschaftlichen Konsens nach dürfen Tiere für menschliche Zwecke erschaffen, körperlich angepasst, in Gefangenschaft gehalten, genutzt und getötet werden, es darf ihnen dabei jedoch kein (unnötiges) Leid zugefügt werden. 1 Nichtsdestotrotz würde wohl niemand bestreiten, dass selbst vermeintlich gerecht-
1
Vgl. FAWC (2009a), S .13.
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fertigtes Leid Tiere in ihrem Wohl beeinträchtigt. Es stellt sich daher einerseits die Frage, inwiefern die Nutztierhaltung und die Berücksichtigung des Tierwohls miteinander vereinbar sind, und andererseits, ob die Nutztierhaltung in einer Weise reformierbar ist, die zwar immer noch Tierwohlbeeinträchtigungen mit sich bringt, jedoch in einem Grad, der ethisch legitimierbar ist. Ich konzentriere mich daher zunächst darauf, welche grundlegenden Praktiken der Nutztierhaltung mit dem Tierwohl konfligieren, unabhängig der Frage, ob sich bestimmte Konflikte dieser Art legitimieren lassen (was in III.4 nachgeholt wird). Dabei konzentriere ich mich in diesem Kapitel auf Tierwohlbeeinträchtigungen, die mit subjektiven negativen Empfindungen zusammenhängen. Eine Thematisierung von Tierwohlbeeinträchtigungen, durch das Vorenthalten positiver Erfahrungen, die das Leben von Tieren zwar bereichern würden, deren Ausbleiben aber nicht als leidvoll erlebt wird, erfolgt unter III.2 und III.3. Zunächst einmal könnte einschränkend eingewandt werden, dass bestimmte Arten von Leid das Wohl von Tieren allem Anschein nach befördern können. Etwa eine Impfung, bei der ein Tier einen schmerzhaften Einstich erleidet, sowie Angst, weil es nicht versteht, was gerade mit ihm geschieht, und Unbehagen, weil es bei diesem Vorgang festgehalten wird. Diese Leiden stellen jedoch für sich genommen nichts Positives dar, sondern werden lediglich durch den Schutz vor einer insgesamt noch leidvolleren Krankheit aufgewogen. Könnten wir eine Situation herbeiführen, in denen das betroffene Tier überhaupt kein Übel zu wählen hätte, würde es um sein Wohl besser bestellt sein als in der beschriebenen Dilemmasituation. Handelt es sich bei der Impfung z.B. um eine Krankheit, die ein Tier überhaupt nicht bekommen würde, wenn seine Haltungsbedingungen andere wären, so erscheint das Verabreichen einer Injektion nicht mehr als notwendiges Mittel, um dem Krankheitsbefall vorzubeugen. Wir können dieses Tier auch einfach anders halten, wodurch das Zufügen geringen Leids gar nicht mehr nötig wäre. Diese Option steht uns möglicherweise nicht offen, wenn ein Tier sich bereits in einer Krankheit anregenden Haltungsumwelt befindet. Für dieses Tier ist es in diesem Fall sicherlich besser, die Impfung zu bekommen. Aber eben nur deshalb, weil andere Optionen in seinem konkreten Fall nicht (mehr) zur Verfügung stehen. Ebenso müssen wir uns fragen, mit welchem Recht wir auch in Zukunft andere Tierindividuen in eine ähnliche Lebenslage bringen, die Impfungen zur Krankheitsabwehr erforderlich macht. Was für den Umgang mit konkreten Tierindividuen vielleicht als »kleineres Übel« zulässig sein mag, ist nicht automatisch zulässig als Individuen übergreifende dauerhaft fortlaufende Praktik. 2 So weist etwa Andreas Schmidt darauf hin, dass die Nutztier-
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Ähnliche Überlegungen äußert bereits Brambell in Bezug auf das Schnäbelkürzen bei Hühnern, das allenfalls kurzfristig als »kleineres Übel« dem Kannibalismus zwischen den Tieren vorzuziehen sei (vgl. Brambell et al. [1965], S. 12, §33 sowie S. 53, §195).
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haltung eine Praktik darstellt, die auf lange Zeit angelegt ist, mit sich ständig wiederholenden Abläufen. 3 Wenn also eine Praktik Leid beinhaltet, so stellt dies grundsätzlich einen Konfliktpunkt mit der Berücksichtigung des Tierwohls dar. Solche Konflikte können allenfalls in Einzelfällen als Vermeidung größeren Leids gerechtfertigt werden, dessen Verursachung außerhalb unseres Einflussbereichs liegt. Soweit wir beeinflussen können, dass bestimmte Dilemmasituationen gar nicht erst entstehen, stellt dies eine deutliche Beförderung des Tierwohls im Vergleich zum »kleineren Übel« dar. Auch aufwiegbare Leiden beinhalten Tierwohleinschränkungen, denen so frühzeitig vorzubeugen ist, dass wir überhaupt kein Leid zu wählen brauchen. Es kann noch zusätzliche Gründe geben, die eine Beeinträchtigung des Tierwohls rechtfertigen, auch wenn dem betroffenen Tier selbst keine (relativen) Vorteile daraus erwachsen. Etwa weil das Wohl eines anderen Individuums, ob nun Mensch oder Tier, auf dem Spiel steht. Ich werde dieser Möglichkeit in III.4 weiter nachgehen. Aber selbst wenn wir zugestehen würden, dass sich das hierbei verursachte Leid von Tieren legitimieren lässt, bleibt zunächst einmal zu konstatieren, dass das Zufügen oder Geschehenlassen von Leid Tiere in ihrem Wohl beeinträchtigt und einer Legitimierung bedarf. Weitere mögliche Einschränkungen der Relevanz von Leid diskutiert Yeates. Er diskutiert verschiedene Wohlkonzepte, bei denen Leidzufügung unter unterschiedlichen Voraussetzungen als wohlrelevant betrachtet werden kann. Nach dem sufficient-significance-Ansatz bspw. können nur solche Leiden zu Recht als Beeinträchtigungen bezeichnet werden, die das Wohl des Individuums substantiell, statt nur trivial und oberflächlich, negativ beeinflussen. Eine weitere Alternative ist der agent-relativity-Ansatz, wonach nur die Zustände relevant sind, die Moralakteure einem anderen Lebewesen hinsichtlich dessen Lebensqualität schulden. Damit wird »Wohl« von vornherein anhand unserer moralischen Pflichten definiert. Demnach wäre es bspw. keine Beeinträchtigung des Wohls, wenn ein Lebewesen unter bestimmten Schmerzen leidet, sich aber zeigen ließe, dass kein Moralakteur verpflichtet ist, diese Form von Schmerz zu verhindern, zu unterlassen oder zu heilen. 4 Beide Ansätze vermengen jedoch bereits von vornherein die Frage, was das Wohl beeinflusst, und die Frage, welche Beeinflussung ethisch relevant ist. Zwar habe ich, mit Verweis auf Haynes und andere argumentiert, dass der Wohlbegriff immer schon normativ aufgeladen ist. Jedoch bezog sich diese Aussage darauf, dass wir weder den Inhalt des Wohlbegriffs, noch die Motivation hinter seiner Konzeptionierung glaubhaft erklären können, ohne bereits auf vorangehende Wertannahmen zurückzugreifen. Damit ist aber nicht automatisch gesagt, dass alle Zustände, die
3
Vgl. Schmidt (2015), S. 100.
4
Vgl. Yeates (2010), S. 235.
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sich entlang dieser Wertannahmen als Beeinträchtigung beschreiben lassen, auch gleiches normatives Gewicht beinhalten müssen, also gleichermaßen ethisch alarmierend sind. So ist es unplausibel zu behaupten, ein leichter Kopfschmerz sei keine Beeinträchtigung des Wohls, nur weil er triviales Ausmaß hat. Ebenso kann ich zugestehen, dass ich nicht jeder frei lebenden Maus schuldig bin, sie vor Fressfeinden oder Raubjägern zu schützen, was aber nichts daran ändert, dass eine Maus in ihrem Wohl beeinträchtigt ist, wenn sie Hunger leidet oder von einem Greifvogel erfasst wird. Leid ist daher unabhängig von möglicherweise hinzukommenden ethischen Gründen ein Faktor, der das Tierwohl beeinträchtigt. Worunter Tiere leiden, habe ich unter II.3 und II.4 umrissen. Tiere leiden als Lebewesen mit verletzlichen Körpern und bewusster Selbstwahrnehmung unter physischen Schmerzen, unter bedrohlichen Situationen, und unter Krankheiten, die mit Schmerzen, und Beeinträchtigung ihrer Agilität einhergehen. Als soziale Lebewesen leiden sie psychisch unter Eingriffen in ihre sozialen Strukturen, unter Einsamkeit, sowie unter der Unfähigkeit, sich an sozialen Interaktionen psychisch und physisch beteiligen zu können, etwa aufgrund von Krankheit oder Verletzungen. Solche Tierwohlbeeinträchtigungen stellen für die Praktik der Nutztierhaltung, insbesondere der intensivierten industriellen Form, ein grundlegendes Problem dar, da sie in ihr nicht nur gelegentlich, sondern typischerweise vorkommen. Ich werde dies im Folgenden anhand dreier essentieller Bestandteile der Nutztierhaltung illustrieren: der körperlichen Anpassung von Tieren an ihren Nutzungszweck, der Gefangenhaltung und der Tötung von Nutztieren.
1.3 LEID DURCH KÖRPERLICHE EINGRIFFE Die Nutztierhaltung greift nicht einfach auf Tiere zurück, die sie in der Welt vorfindet und die sich für die jeweils anvisierten Nutzungszwecke eignen. Tiere werden an Zwecke angepasst sowie an die Haltungsbedingungen, die Menschen ihnen vorsetzen. Der Prozess dieser Anpassung und die Folgeerscheinungen erzeugen jedoch Leiden, die als standardmäßig vorkommende Tierwohlprobleme zu kritisieren sind. So leiden Tiere bspw. unter ihrer genetischen Anpassung auf Hochleistung. Tiere, die speziell für die Fleischproduktion gezüchtet werden, setzen so viel Gewicht an, dass sie in ihren Bewegungen und dem Ausüben speziestypischen Verhaltens stark eingeschränkt sind. Hochleistungsschweine können sich nur noch behäbig bewegen und ihre Gelenke leiden unter dem enormen Gewicht, das sie zu tragen haben. 5 Truthähne setzen mittlerweile so viel Brustfleisch an, dass sie nur noch
5
Vgl. Webster (2011a), S. 23; Scott (2011), S. 322; Streiffer/Basl (2011), S. 836-837.
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schwer das Gleichgewicht halten können und es ihnen körperlich unmöglich ist, sich zu paaren, 6 was auf Frustrationsgefühle rückschließen lässt. Kühe leiden durch die Hochzüchtung ihrer Milchleistung unter starken Stoffwechselbeschwerden. Rinder und Schweine leiden aufgrund ihrer Hochzüchtungen unter verstärkter Stressanfälligkeit und Aufgeregtheit, was für diese Tiere sowohl psychisch als auch physisch aufreibend ist. 7 Masthühner leiden aufgrund ihres erhöhten Gewichts oft unter Lahmheit und Fußverletzungen. 8 Die Vermeidung solcher Leiden erfordert naheliegender Weise den Verzicht auf diese Zuchtlinien, d.h. bestimmte Tiere sollten nicht nur anders gehalten, sondern überhaupt nicht erst zur Existenz gebracht werden, da bereits ihre eigene körperliche Konstitution ihnen Leid verursacht. Eine körperliche Konstitution, die Menschen aus ökonomischen Erwägungen gezielt hervorgebracht haben. Eine weitere verbreitete Anpassung stellt die Amputation bzw. Verformung von Körperteilen bei Tieren dar. Dies soll vermeiden helfen, dass die gehaltenen Tiere sich oder Andere verletzen (hierbei überschneiden sich die Problemfelder Gefangenhaltung und körperliche Eingriffe). Standardisierte Praktiken sind etwa das Schnäbelkürzen bei Hühnern und Puten, das Zähnekappen und Schwänzekürzen bei Schweinen oder das Enthornen bei Kühen. Hierbei handelt es sich um erhebliche und vor allem schmerzvolle Eingriffe in die körperliche Verfasstheit des Tiers. Im Laufe der Zeit wurden Anästhesie und Amputationstechnologien weiterentwickelt, und damit auf gesellschaftliche Kritik reagiert. 9 Es ist jedoch stark zu anzuzweifeln, ob diese Praktiken mittlerweile völlig ohne Stress und Schmerzen für die Tiere durchführbar sind. Demgegenüber scheint die gentechnische Modifikation von Tieren tatsächlich leidfreie Eingriffe in deren körperliche Beschaffenheit zu versprechen. So wird etwa diskutiert, Kühe von vornherein ohne Hörner zu züchten, was stress- und schmerzreiche Amputationen überflüssig macht. 10 Solche genetischen Methoden sind derzeit zwar denkbar, aber noch nicht allgemein etabliert. Zudem erfordert die Entwicklung dieser Methoden eine ausgiebige Erprobung durch Züchtung und Beobachtung entsprechender Versuchstiere. Die Risiken, dabei versehentlich so genannte »Qualzuchten« zur Existenz zu bringen (Tiere, die aufgrund von Missbildungen oder angeborener Gesundheitsprobleme nicht leidfrei leben können), müssen dabei mitbedacht werden und sind ihrerseits ein erheblicher
6
Vgl. Hurnik/Lehman (1988), S. 315.
7
Vgl. Streiffer/Basl (2011), S. 836-837.
8
Vgl. McCulloch (2012b), S. 177.
9
Vgl. Fraser (2008), [keine zitierfähigen Seitenzahlen im Original].
10 Eine kontroverse aber auch hilfreiche Diskussion dieses Punktes findet sich u.a. in Rollin (1995), S. 170.
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Leidfaktor. 11 Darüber hinaus rufen gerade solche körperlichen Eingriffe, die sich als leidfrei verteidigen lassen, bei vielen Menschen starke intuitive Abneigung hervor, wodurch die körperliche Integrität des Tiers zu einem zentralen Schlagwort in aktuellen Tierwohl-Debatten geworden ist. Da mit solchen Einwänden die Thematik der Leiderzeugung explizit verlassen wird, thematisiere ich sie erst in III.3.
1.4 LEID DURCH GEFANGENHALTUNG Ein weiterer Ursprung für Leid ist die Gefangenhaltung von Tieren und die damit einhergehende Beschränkung ihrer Verhaltensmöglichkeiten. So formuliert etwa DeGrazia: »We can understand harmful confinement as involving external constraints on movement that significantly interfere with an individual’s ability to live well.« 12
Sicher macht es hierbei einen Unterschied, welche Haltungsform gewählt wird. Bspw. werden nicht alle Legehennen in der inzwischen gesellschaftlich scharf kritisierten Einzelkäfighaltung untergebracht. Und gerade in lokalen ländlichen Strukturen sind immer wieder große Gärten zu sehen, in denen Hühner freien Auslauf, Schatten, Schutz vor Witterung, die Möglichkeit zum »Sandbaden« und zum Ausleben anderer Triebe besitzen, obgleich sie eingezäunt sind. Eine solche extensivierte Haltungsform scheint keine auffälligen Leiden zu verursachen, und es scheint hierbei auch um Gruppengrößen zu gehen, bei denen die Tiere stabile Sozialstrukturen ausbilden können. Gleichzeitig sind Solche Haltungsformen weder ökonomisch lukrativ, noch stehen sie in vergleichbarem Umfang der industriellen Haltung gegenüber. Gerade die Fortführung Letzterer steht aber bei derzeitigen Tierwohldiskussionen im Zentrum. McCulloch kritisiert diesbezüglich, dass Intensivierung von vornherein auf Konflikte mit dem Wohl der jeweils gehaltenen Tiere hinsteuert. Intensivierung stellt gerade den Versuch einer Kosten-NutzenMaximierung dar: »Intensive livestock means confinement, high stocking densities and rapid growth rates, often causing animal suffering. […] Intensification involves reducing inputs (e.g. floor space,
11 Auf den Umstand, dass vermeintlich leidfreie Gentechnologien immer erst durch das Leid von Versuchstieren entwickelt und etabliert werden müssen, weist Arianna Ferrari hin (vgl. Ferrari [2012], S. 67-72). 12 DeGrazia (2011), S. 740.
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bedding etc), increasing productivity (growth rates and yields) and economies of scale (larger production units).« 13
Es entspricht der Logik intensivierter Haltung, auf dem jeweils zur Verfügung stehenden Betriebsgelände so viele Tiere wie möglich unterzubringen und entsprechend jedem Tier nur soviel an Platz zum Bewegen und Ausleben von Verhaltensbedürfnissen zur Verfügung zu stellen, wie unbedingt nötig. Wie im I. Hauptteil deutlich wurde, kann »nötig« dabei mehrere Perspektiven enthalten: gesundheitliche Anforderungen der Tiere, Produktivität begünstigende Anforderungen, sowie zunehmend gesellschaftliche Anforderungen, sprich, was die Öffentlichkeit gewillt ist an Umgang mit Tieren zu tolerieren und mit ihrem Konsumverhalten zu unterstützen. 14 Anhand der von U. Wolf vorgestellten Wohl-Dimensionen lässt sich weiter verdeutlichen, inwiefern Gefangenhaltung Leid erzeugt (die Einflussbereiche können sich dabei überschneiden). Je rigider die Einschränkung von Bewegungsmöglichkeiten, umso stärker werden Tiere daran gehindert, ihre soziale Wohl-Komponente zu befriedigen. Sie können bei isolierter Haltung nicht mit Artgenossen in Kontakt treten. Bei starker Enge entstehen Stress und Aggression, die an Nachbartieren abreagiert werden, welche gleichzeitig durch die starke Beengung kaum in der Lage sind, Angriffen auszuweichen. Mehr Raum ermöglicht zwar ein besseres Miteinander, die Möglichkeit ausgelassen zu spielen, kann dennoch weiterhin eingeschränkt bleiben, was den Gemütszustand der Tiere belastet. Das wiederum beeinflusst, wie spielfreudig oder gereizt Tiere aufeinander zugehen, oder sich zu meiden versuchen. Auf passiv-erlebender Ebene wird durch extreme Beengung Leid erzeugt, indem Tiere sich an ihren Einzäunungen (Gitter, Trennbretter, etc.) wund reiben. Die mangelnde Möglichkeit zum Ausstrecken erzeugt Gelenkschmerzen. Die Tiere sind gezwungen, ihre Notdurft dort, wo sie stehen, zu verrichten, was ihrer Hygiene und damit sowohl ihrem Behagen als auch langfristig ihrer Gesundheit schadet. Ebenso wirken sich die oben genannten sozialen Beeinträchtigungen verheerend aus, indem Tiere durch Artgenossen angegriffen werden, ihre Lebenssituation als stressbeladen
13 McCulloch (2012b), S. 175-176. 14 Toleranz und Konsumverhalten sollten nicht als gleichbedeutend verstanden werden. Was wir einkaufen, bemisst sich nicht allein daran, was wir über ein Produkt wissen, sondern auch daran, welche finanziellen Ressourcen wir besitzen, welche alternativen Kaufangebote wir in räumlicher Nähe zur Verfügung haben und welche alternativen Ziele wir mit unseren finanziellen und zeitlichen Ressourcen gleichzeitig auch mit abdecken wollen.
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erfahren und kaum Möglichkeit haben, Konfliktsituationen auszuweichen, was den Stress erneut verstärkt. Auf aktiv-handelnder Ebene werden Tiere durch Gefangenschaft in ihrem Trieb zu spielen, zu rennen, oder sich anderweitig zu bewegen, behindert. Je nach Stallarchitektur ist es Tieren erschwert oder unmöglich, sich Schlafecken einzurichten, da vorgegeben wird, wo die Tiere liegen und sich aufhalten können. Außerdem haben viele Tiere ein instinktives Bedürfnis, an einem anderen Ort zu essen, zu schlafen und sozial zu interagieren, als dort, wo ihre Fäkalien liegen. Durch starke Raumeinschränkung sind sie jedoch genau dazu gezwungen. Das Ausblocken all dieser Bedürfnisse verursacht Unwohlgefühl, Deprimiertheit, Langeweile und Aggressivität. Zu einem ähnlichen Urteil gelangt auch DeGrazia, wobei er besonders die Berücksichtung spezies-spezifischer Grundbedürfnisse von Tieren betont: »What counts as an animal’s basic needs will vary depending on the nature of the animal in question. Physical needs include appropriate food, water, the sort of shelter (if any) animals of that species characteristically seek and depend on, freedom from conditions that cause significant experiential harm and whatever exercise is needed for good health. Animals of sufficient mental complexity also have psychological needs. Depending on the type of animal in question, these needs may include sufficient stimulation, opportunities to play, access to family or other group members, and freedom from excessively stressful situations.« 15
Nun werden aber nicht alle Tiere in extremer Beengung gehalten. Gleichwohl macht McCullochs vorheriger Hinweis auf den Charakter intensivierender Haltungsformen deutlich, dass die Protagonisten der Nutztierhaltung bestrebt sind, die räumliche Größe ihres Betriebsgeländes so ökonomisch effizient wie möglich einzusetzen, also nach Möglichkeit Tieren weniger als mehr Platzangebot zur Verfügung zu stellen. So mag zwar zunehmend versucht werden, das Platzangebot für Tiere – auch in Form von gesetzlichen Richtlinien – so zu erweitern, dass Hautabschürfungen, grobe Verletzungen, Hygieneprobleme und Kämpfe zwischen den gehaltenen Tieren verringert werden. Kein Vertreter der Nutztierindustrie würde jedoch zuversichtlich erklären, dass die genannten Probleme der Vergangenheit angehören. Vielmehr ist man bemüht, die »Rate« an Erkrankungen, Verletzungen, Kannibalismus und an tot getretenen Jungtieren herabzusenken. Die Fortschritte innerhalb der letzten Jahrzehnte müssen dabei nicht in Abrede gestellt werden. Bestimmte extreme Formen der Gefangenhaltung sind gesellschaftlich geächtet (bspw. die Einzelkäfighaltung bei Legehennen in Deutschland). Die Standards für Platzangebot, Gruppengrößen, Betätigungsmöglichkeiten, sogar für Spiel- und
15 DeGrazia (2011), S. 741.
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Beschäftigungsmaterial, werden immer strenger und weiter ausgebaut. Gleichzeitig muss aber eben konstatiert werden, dass die genannten Probleme dadurch nicht verschwunden sind. Die intensivierte Nutztierhaltung muss diesbezüglich als Leid erzeugend angesehen werden, selbst wenn Management und Qualitätskontrolle sich fortlaufend verbessert haben. Extensivierte Haltungsmethoden scheinen demgegenüber im Vorteil, da sie ein größeres Platzangebot (mit Zugang zur Welt außerhalb des Stalls) beinhalten sowie stabilere Sozialstrukturen und ein weniger eingeschränktes Ausleben von Bedürfnissen ermöglichen. Eine extensivierte kleinbäuerliche Haltung mag es theoretisch ermöglichen, die aufgezählten Leiden abzumildern oder sogar zu vermeiden. Sie stellt jedoch weder den aktuellen Standard der Nutztierhaltung dar, noch wird ein solcher derzeit politisch und juristisch eingefordert. Wir können uns nicht einfach darauf berufen, dass die Gefangenhaltung von Tieren ohne Leid möglich ist, wenn dies faktisch nur in geringem Maße geschieht und aus ökonomischer Sicht für Tierhalter auch nicht attraktiv ist. Die wenigsten Tierhalter nehmen Nutztiere ohne ökonomisches Interesse in ihre Obhut auf. 16 Selbst wenn also zugestanden wird, dass Gefangenhaltung von Tieren ohne Leiderzeugung möglich ist und lobenswerten Motiven folgen kann, ist eine Vereinbarkeit von Tierwohl und der Praxis der Nutztierhaltung damit keineswegs gezeigt. Insbesondere, wenn es sich, wie praxisnahe Tierwohlansätze betonen, um eine veritable, ökonomisch effiziente Nutztierhaltung handeln soll, 17 in der also Wirtschaftlichkeit stets in Konkurrenz zum Tierwohl steht. 18
1.5 LEID DURCH TÖTUNG Zuletzt ist als elementare Quelle von Leid der Schlachtungsprozess zu nennen. Diesen durchlaufen sämtliche Nutztiere, sofern sie nicht durch Umsiedelung auf einen »Lebenshof« o. Ä. der wirtschaftlichen Verwertung entzogen werden. Ihre Schlachtung erfolgt zu dem Zeitpunkt, ab dem die weitere Versorgung dieser Tiere nicht mehr ökonomisch rentabel ist. Bei Schlachttieren ist dies der Zeitpunkt, ab dem sie genügend Fleisch angesetzt haben, so dass sich ihre Schlachtung finanziell lohnt und eine weitere Versorgung keinen zusätzlichen ökonomischen Vorteil
16 Man denke an so genannte »Gnadenhöfe« oder »Lebenshöfe«, auf denen ehemalige Nutztiere bis zu ihrem Lebensende versorgt und der ökonomischen Verwertung entzogen werden. Oder an die Gärten von Tierfreunden, die vielmehr am Zusammenleben mit Tieren interessiert sind oder an Sinn stiftenden Lebensaufgaben, wie dem Umsorgen schutzbedürftiger Lebewesen. 17 Bspw. bei FAWC (2009b). 18 Vgl. McCulloch (2012b), S. 175-176.
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bietet. 19 Gleiches gilt für Tiere, die speziell zur Gewinnung von Pelz oder Leder gehalten werden. Bei Nutztieren hingegen, die nicht primär für ihre anschließende Tötung gehalten werden – da, sie entweder zur Züchtung oder als Lieferanten von Eiern, Milch, Wolle, etc. dienen – erfolgt die Schlachtung, sobald ihre Leistungsfähigkeit abnimmt, sie also nur noch geringe Mengen des gewünschten Produkts und in geringerer Qualität liefern, so dass ihre weitere Haltung Kosten verursacht, die die Gewinnmarge bei der Vermarktung der Produkte verringert oder sogar zum Verlustgeschäft macht. Auch hier sind die Leid erzeugenden Faktoren vielfältig. Der Transport zum Schlachthof, bei dem Tiere auf Lastwagen hinauf und anschließend wieder hinausgetrieben werden, sowie das beengte Ausharren im Fahrzeug, ist bereits mit Stress verbunden. 20 Hinzukommt, dass zunehmend wenige neu gebaute Großschlachtanlagen die vielen kleineren Schlachthöfe ablösen, womit die Transportwege für Tiere immer länger werden, da nur noch wenige Schlachtbetriebe über das Land verteilt sind. 21 Die Tiere werden durch die Fahrt im ständig ruckelnden Transporter körperlich und nervlich belastet. Bei Schweinen kommt es aufgrund von Enge und Stress oft zu kämpfen, was an äußeren Verletzungen später im Schlachtbetrieb festgestellt werden kann. Deimel et al. fassen diese Problematik wie folgt zusammen: »Die zentralen Tierschutzprobleme stellen in Bezug auf die Schlachtung von Tieren Stress durch unsachgemäßes Einfangen, Verladen und Transportieren sowie Stress durch lange Verweilzeiten vor der Schlachtung dar; darüber hinaus verursachen unsachgemäße Tötungsbzw. Schlachttechniken und Fehlbetäubungen eklatante Missstände.« 22
Vor diesem Hintergrund werfen die Autoren die Frage auf, inwiefern es überhaupt gerechtfertigt sein kann, Tiere diesen Leiden beim Transport auszusetzen, der ja mit dem alleinigen Ziel unternommen wird, diese Tiere anschließend zu töten. 23 Auch das Durchlaufen der Schlachtanlage selbst ist bei den Tieren mit Stress und Angst verbunden. Die Tiere finden sich in einer ungewohnten Umgebung wieder. Sie verstehen nicht, was mit ihnen und um sie herum geschieht und dies erzeugt Unsicherheit, die dadurch verstärkt wird, dass sie in diesem Zustand von Schlachtarbeitern, zu denen sie keinen Bezug haben, vorwärts getrieben oder per Hand verladen werden. Dies alles geschieht unter Zeitdruck. Die Schlachtarbeiter
19 Vgl. McMahan (2016), S. 65. 20 Dieser Faktor wurde bei Brambell noch ausgeklammert, dafür bei FAWC bereits ab 1979 mit hervorgehoben (vgl. Brambell et al. [1965], S. 1 §3; FAWC [1979]). 21 Vgl. Busch/Kunzmann (2004), S. 79. 22 Deimel et al. (2010), S. 50. 23 Vgl. ebd., S. 50.
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haben in der Regel nur wenige Augenblicke für die zu tätigenden Handgriffe und Arbeitsschritte, so dass sie eher grob als behutsam mit den Tieren umgehen. Viele der Tiere geraten in Panik, sobald sie das Blut bereits geschlachteter Tiere wittern und weiter in einen Raum hineingetrieben werden, der ihnen Unbehagen bereitet. 24 Der hierbei entstehende Stress kann sich, gerade in Verbindung mit Zeitdruck, auf die Schlachtarbeiter übertragen, so dass sie ihre Anspannung an den Tieren abreagieren, die ihnen schutzlos ausgeliefert sind. 25 Der Schockeffekt beim Durchlaufen der Schlachtanlage kann für Tiere, die zuvor unter vergleichsweise guten Bedingungen gehalten wurden, noch größer sein, da sie bislang nur wenig Aufregung und andere Leiden erfahren haben. Auch Tiere aus biologischer bzw. extensivierter Haltung durchlaufen in vielen Fällen dieselben hochindustriellen Schlachtanlagen wie konventionell gehaltene Tiere. 26 Hinzukommt der Tötungsprozess selbst. Dabei wird technisch versucht dafür zu sorgen, dass das Tier den Tötungsakt selbst nicht bewusst erlebt. Aktuell scheint die in Deutschland am meisten verbreitete Methode darin zu bestehen, die Tiere zunächst durch einen Raum zu leiten, in den Kohlendioxid eingeleitet wird, so dass die Tiere für einige Minuten in Bewusstlosigkeit verfallen. In diesem kurzen Zeitraum wird ihnen die Kehle aufgeschnitten, so dass sie ausbluten, was einen schnellen und nach Möglichkeit schmerzlosen Tod bewirken soll. Durch die hohe Automatisierung und den Zwang zum schnellen Arbeiten ist jedoch fraglich, ob dies in jedem Fall gelingt. Abgesehen von der Frage, ob alle Tiere im gleichen Zeitraum auch gleichermaßen bewusstlos sind, hängt die schmerzfreie Tötung auch von der Kompetenz der Schlachtarbeiter im Umgang mit ihren Geräten und ihrer Konzentrationsfähigkeit bei ihrer Tätigkeit ab, die während einer mehrstündigen Arbeitsschicht unter Zeitdruck schwerlich immer gleich hoch sein dürfte. 27 Betriebe können versuchen, durch präventive Maßnahmen solche Risiken zunehmend zu verringern und stärkere Qualitätskontrollen einführen, die fehlerhafte Tötung und Handhabung der Tiere besser erkennen lassen. Damit wird jedoch zugleich konstatiert, dass solche Leiden empirisch bedingter Teil der Tierverarbeitung sind. Auch wenn diese Leiden in Zukunft weniger oft entstehen, stellen sie dort, wo sie auftreten nichtsdestotrotz eine deutliche Beeinträchtigung des Tierwohls dar. Ebenso ist es trotz aller theoretischen Verbesserungsmöglichkeiten noch immer Standard, dass eine Vielzahl der Nutztiere gesundheitlich unter ihren Hal-
24 Ich stütze mich hierbei auf persönliche Eindrücke während der Besichtigung unterschiedlicher Schlachtbetriebe in Niedersachsen im Jahr 2013 sowie Schilderungen bei Gruzalski (2004), S. 132 und Wolf (2012), S. 123. 25 Vgl. Gruzalski (2004), S. 127 sowie Brambell et al. (1965), S. 58, § 216. 26 Vgl. Gruzalski (2004), S. 128 sowie Gruen (2011), S. 97. 27 Vgl. Streiffer/Basl (2011), S. 835.
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tungsbedingungen leidet. So betont bspw. Algers, dass der Öffentlichkeit ein kritisches Bewusstsein vermittelt werden muss hinsichtlich der empirischen »Normalzustände« innerhalb der industriellen Nutztierhaltung: »The fact that many dairy cows year after year are treated for mastitis, that a large proportion of our pigs suffer from pneumonia or that a high proportion of broilers are suffering from foot and leg problems are phenomena that should not be hidden from public awareness but on the contrary should be brought forward to help create understanding of which are the trade offs between the production of cheap food and animal welfare.« 28
Ich habe argumentiert, dass Tierwohl eine Kategorie ist, die sich auf bewusstseinsfähige und fühlende Individuen bezieht, nicht auf abstrakte Gruppen. 29 Insofern macht es keinen Unterschied für das individuelle Tier, das leidet, ob außer ihm selbst nur wenige andere Tiere ein ähnliches Leid durchstehen müssen, oder ob es zu einer großen Gruppe an ähnlich Leidenden gehört. Die Tötung von Tieren, insbesondere im Kontext ihrer industriellen Nutzung ist in aller Regel mit Leiden für Tiere verbunden und damit als Tierwohlproblem ernstzunehmen.
1.6 FAZIT DES KAPITELS Verteidiger der Nutztierhaltung müssen sich bewusst sein, dass Tiere, sobald sie in ökonomische Verwertungsprozesse eingebunden sind, empirisch bedingt auf vielfältige Weise leiden werden. Die mittlerweile umgesetzten Tierschutzrichtlinien und Verbesserungen in Technik, Management und Qualitätskontrolle verhindern das grundsätzliche Auftreten dieser Leiden nicht. Dafür hängen diese Leiden zu eng mit den grundlegenden Praktiken zusammen, die die Verwertung von Tieren begleiten: gezielte Züchtung auf Hochleistung, körperliche Anpassung an die Haltungsbedingungen, Gefangenhaltung sowie der Schlachtungsprozess. Wenn es überhaupt möglich ist, Tiere weiterhin (insbesondere industriell) zu nutzen und zu verwerten, ohne die genannten Leiden dabei in Kauf nehmen zu müssen, so sind selbst »vorbildliche« Betriebe von diesem Ziel noch deutlich entfernt.
28 Algers (2008) [keine zitierfähigen Seitenzahlen im Original]. 29 Metaphorische Redensarten vom Wohl des Teams oder der Nation sind nur dann philosophisch belastbar, wenn sie sich auf das Wohl der individuellen Mitglieder dieser Gruppierungen übersetzen lassen. Gruppen, Nationen, Spezies, etc. sind keine für sich existierenden, bewussten und fühlenden Entitäten und verfügen damit über kein eigenes Wohl (vgl. Wolf [2012], S. 18).
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Da ich in meiner Konzeption des Tierwohls neben Leid auch eine eigenständige Rolle positiver Erfahrungen betont habe, ist der Vollständigkeit halber auch zu untersuchen, inwiefern essentielle Praktiken der Nutztierhaltung Tiere in ihrem Zugang zu positiven Erfahrungen einschränken. In den folgenden Kapiteln III.2 und III.3 werde ich daher untersuchen, was gegen die körperliche Anpassung/Spezialisierung von Tieren und ihre Tötung bezüglich des Tierwohls einzuwenden wäre, falls es doch gelänge, diese Praktiken für alle beteiligten Tiere vollständig leidfrei zu gestalten. Eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Gefangenhaltung von Tieren klammere ich hierbei aus, da diese Thematik eine eigene besondere Komplexität besitzt, die den Rahmen meiner Untersuchung sprengen würde. 30 Die körperliche Anpassung von Tieren und ihre Tötung sollen daher zur Illustration der essentiellen Unvereinbarkeit von Tierwohl und Nutztierhaltung genügen. Ich beginne dabei zunächst mit einer Diskussion von Tiertötung, da diese Thematik m.E. im Vergleich zur körperlichen Anpassung von Tieren weniger komplex ist und sich daher zum Einstieg anbietet.
30 Ich halte die Gefangenhaltung von Tieren insgesamt für eine Praktik, die theoretisch leidfrei durchgeführt werden kann und unter extrem günstigen Bedingungen die positiven Erfahrungsmöglichkeiten der gehaltenen Tiere nicht substantiell einschränkt. Gleichzeitig halte ich dies aber weder für eine empirisch umsetzbare, noch ökonomisch rentable Option innerhalb des Kontextes der Nutztierhaltung. Bestimmte Formen der Gefangenhaltung von Tieren mögen für ihr Wohl sogar förderlich sein (etwa abgezäunte Naturschutzgebiete oder Auffangstationen für kranke, verletzte oder bedrohte Tiere). Diese Haltungsformen unterstehen aber auch nicht demselben Nutzenkalkül wie innerhalb der Nutztierhaltung. Aufschlussreiche Diskussionselemente zu dieser Thematik finden sich bei Cochrane, der Tieren ein eigenständiges Interesse an Freiheit abspricht (vgl. Cochrane [2012]), und Andreas Schmidt, der Tieren ein »nicht-spezifisches Interesse« an Freiheit zuweist (vgl. Schmidt [2015], S. 92-109).
2
Töten ohne Leid
2.1 IST LEIDFREIE TÖTUNG EIN WOHLNEUTRALER AKT? Bei der ethischen Bewertung von Tötungsakten ist innerhalb der Philosophie die Grundannahme vorherrschend, dass der Tod selbst keinen moralisch ablehnungswürdigen Zustand darstellt. Epikur bereits betont, dass ein Individuum nicht unter seinem Tod selbst leiden kann, da es mit dem Tod aufgehört hat zu existieren. Ist kein Individuum mehr vorhanden, so kann auch auf kein Individuum verwiesen werden, dass in diesem Fall durch den Tod geschädigt wird. 1 Entsprechend betonen praxisnahe Ansätze in ihrem prinzipiellen Festhalten an der Tiernutzung, dass die industrielle Herbeiführung des Todes von Tieren kein eigenständiges moralisches Problem darstelle. 2 Problematisch sei vielmehr der Tötungsakt bzw. die Art der Durchführung. Denn zu diesem Zeitpunkt ist das Individuum noch vorhanden und kann unter allen Handlungen leiden, die dem Eintreten des Todes vorausgehen. Gelingt es jedoch, einen Tötungsakt ohne Leid für das Opfer durchzuführen, so gäbe es der obigen Position nach an diesem Tötungsakt nichts zu kritisieren. Philosophen wie Singer oder Sunstein argumentieren, dass für ein Tier nur wichtig sei, dass es ihm innerhalb seines Lebens gut geht, nicht aber, wie lange dieses (hoffentlich überwiegend positiv geprägte) Leben insgesamt andauert. Es zähle allein die Lebensqualität, nicht die Lebensspanne. 3 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass wir das Töten von Menschen, ganz gleich wie »human«, nicht als moralisch neutralen Akt betrachten. Die Verkürzung ihres Lebens stellt für uns einen schwerwiegenden Eingriff dar, der ausreichend zu begründen ist. Was aber erklärt diese moralischen Vorbehalte gegenüber der Tö1
Vgl. Epikur (2001), S. 40ff. Ähnliche Züge finden sich bei Lukrez, der darauf verweist, dass Nicht-Existenz kein negativer Zustand sei (siehe Darstellung in McMahan [2006b], S. 213-226).
2
Vgl. Yeates (2010), S. 229.
3
Siehe die Darstellung in Francione (2008), S. 153-156.
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tung bzw. der Verkürzung von Lebenszeit? Und mit welcher Berechtigung übertragen wir diese Vorbehalte nicht auch auf die Verkürzung der Lebenszeit von Tieren? Ich werde im Folgenden unterschiedliche in der philosophischen Literatur vorherrschende Argumente heranziehen, um zu untermauern, dass selbst ohne die Zufügung von Leid, die Tötung von Tieren zwangsläufig mit dem moralischen Anspruch konfligiert, das Tierwohl zu schützen und zu befördern. Entscheidend ist dabei die These, dass Tieren durch ihren vorzeitigen Tod positive Erfahrungen vorenthalten werden, die ihre Lebensqualität bereichert hätten. Ebenso folgt die Tötung von Nutztieren einem Kalkül, das unvereinbar ist mit dem Anspruch, Tiere um ihrer selbst willen in ihrem Wohl zu berücksichtigen. Verteidiger der Tiernutzung können sich allenfalls darauf berufen, dass einige Fälle von Tötung eine Wohleinschränkung darstellen, die sich anhand überwiegender Gründe moralisch rechtfertigen lässt. Zu behaupten, dass das Tierwohl durch leidfreie Tötung überhaupt nicht berührt werde, lässt sich jedoch nicht glaubhaft verteidigen.
2.2 TÖTUNG ALS VERSTOSS GEGEN FÜRSORGE Sofern wir unter der Berücksichtigung des Tierwohls den Anspruch verstehen, einem Tier ein positiv geprägtes Leben 4 zu ermöglichen, scheint es nicht möglich, ein Tier auf tierwohlgerechte Art vorzeitig zu töten. Haynes verdeutlicht, dass die Tötung eines Lebewesens dessen Wohl zwangsläufig berührt. Eben weil am Leben zu sein eine notwendige Vorbedingung für den Besitz eines eigenen Wohls ist. Er zitiert hierbei Nordenfelt, der seinerseits die Schlachtung von Tieren als inhärent problematisch ausweist: »Livestock can be kept in a reasonable way, with consideration for their welfare, before being taken to slaughter. But the act of slaughtering is certainly something different. Whatever our ultimate view of the slaughter of animals we must concede that the act of slaughter is the direct opposite of caring for the health and welfare of the animal.« 5
Mit der Tötung eines Individuums wird ihm jegliche Grundlage für ein prudentiell gutes Leben genommen. Und es ist schwer ersichtlich, warum es für das Wohl des Tiers neutral sein sollte, wenn es von einem Moment auf den nächsten plötzlich gar
4
Womit ein Leben gemeint ist, das in »authentischer Weise« vom betroffenen Lebewesen als positiv wahrgenommen wird (siehe II.3.).
5
Nordenfelt zitiert nach Haynes (2010), S. 121.
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kein Wohl mehr hat. So betont auch Bradley: »Death makes an impact on its victim’s well-being, by reducing it to zero […]« [Hervorhebung im Original]. 6 Dem könnte entgegengehalten werden, dass zum gleichen Zeitpunkt, an dem das Wohl auf Null gesetzt wird, auch das Individuum um dessen Wohl es geht, aufhört zu existieren, also kein Individuum mehr vorhanden ist, das diese radikale Veränderung des Wohllevels in irgendeiner Form bemerken könnte – vorausgesetzt, dass der Tötungsakt leidfrei herbeigeführt wird. Dieses Gegenargument kann jedoch nur überzeugen, wenn wir ein stark hedonistisch geprägtes Verständnis von Wohl verwenden. Und ein eben solches Verständnis findet sich etwa bei Singer und Sunstein, die das Wohl von Tieren allein darauf beziehen, was das Tier selbst bewusst erfährt. Ein solches radikal-subjektivistisches Wohlverständnis wurde jedoch von mir bereits als zu verkürzt abgelehnt. Insbesondere sollten wir hierbei reflektieren, warum wir uns mit dem Wohl eines Tiers (oder eines anderen Lebewesens) überhaupt beschäftigen. Ich habe dafür plädiert, dass es uns nur indirekt um das Wohl gehen sollte und direkt um den Träger dieses Wohls. Damit grenze ich mich deutlich von konsequentialistischen Ansätzen wie Singers ab, wo Glück und Leid im Vordergrund stehen und das Individuum als Träger von affektiven Zuständen nur indirekt betrachtet wird. Eine solche Fokussierung auf das Wohl um des Wohls willen, bzw. auf eine abstrakte Gesamtsumme an Wohl in der Welt, scheint mir von unserer emotionalen Lebenswirklichkeit völlig entfremdet. Wenn wir als vernunft- und empathiefähige Akteure mit anderen Lebewesen interagieren, dann kann (oder zumindest sollte) es uns nicht um einen abstrakten Wohl-Wert gehen, sondern um das Individuum dahinter. So schreibt etwa Darwall: »The good parent sees his child’s welfare as mattering because he sees his child as mattering.« [Hervorhebung im Original]. 7 Ein Abwägen darüber, welche Handlungen die Summe an positiven Eindrücken in der Welt maximieren und negative Eindrücke minimieren, mag methodisch-systematische Orientierung liefern. Dieses Vorgehen deckt sich jedoch schlichtweg nicht mit der Art und Weise, wie wir sozial mit Anderen interagieren. Wie und warum wir auf Andere zugehen, emotionale Beziehungen eingehen und Verantwortungen für Andere übernehmen, lässt sich durch solche Ansätze nicht befriedigend einfangen. Dies gilt für den ethischen Umgang mit Menschen und es ist nicht ersichtlich, warum die Sorge um das Tierwohl anders zu fassen wäre. Dabei kann die Sorge um das Individuum unterschiedlich begründet sein. Entweder aus emotionaler Nähe, weil uns das Individuum faktisch am Herzen liegt, oder aufgrund von Verantwortungsbewusstsein, indem wir anerkennen, dass wir diesem Individuum gegenüber in ethisch relevanter Kausalbeziehung stehen. So
6
Bradley (2009), S. 44.
7
Darwall (2002), S. 89.
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bspw. wenn dieses Individuum von uns abhängig ist, wir uns bereit erklärt haben, uns um sein Wohl zu kümmern, oder weil wir seine Abhängigkeit selbst verursacht haben. Tierhalter besitzen solche Beziehungen zu den Tieren, die sie halten und nutzen. Sie haben sich bereit erklärt, diese Tiere auf ihren Betrieben aufzunehmen, haben sie bei den Zuchtbetrieben angefordert, und durch ihre Nachfrage die Erschaffung von Tieren, die auf sich allein gestellt nur schwer überleben können, mit befördert. Ebenso fördern Halter die Abhängigkeit dieser Tiere durch Gefangenhaltung, wodurch diese Tiere in ihrer Nahrungssuche und der Abdeckung weiterer Lebensbedürfnisse von menschlicher Hilfe abhängig sind. Die moralische Verantwortung, die Halter für die Tiere in ihrer Obhut tragen, ist entsprechend hoch einzustufen. Wenn jemand aus emotionaler Nähe oder aus Verantwortungsgefühl Fürsorge für ein anderes Lebewesen übernimmt, darf es ihm intuitiv betrachtet nicht egal sein, ob das Lebewesen, um das er sich sorgt, früh stirbt. Und schon gar nicht darf so jemand gleichmütig den vorzeitigen Tod dieses Lebewesens herbeiführen. Zumindest sofern wir unter Fürsorge den Wunsch bzw. die Bereitschaft verstehen, für ein anderes Individuum da zu sein. Das vorzeitige Beenden aller Lebensfunktionen eines Tiers hat mit so einer Fürsorge intuitiv nichts zu tun. Es sei denn, es handelt sich um Akte von Sterbehilfe, die jedoch eben darauf beruhen, dass die Lebenssituation eines Tiers (oder anderen Lebewesens) so miserabel ist, dass ihm kein authentisch positives Leben überhaupt noch möglich ist. Die standardisierte Tötung von Nutztieren geschieht aber ohnehin nicht aus fürsorglichen Gründen. Diese Tiere durchlaufen die Schlachtanlagen zur Gewinnung von Konsumgütern oder aufgrund anderer menschlicher ökonomischer Zielsetzungen. Verstehen wir die Berücksichtigung von Tierwohl als moralischen Anspruch, fürsorglich mit den Tieren umzugehen, die wir halten und nutzen, so können wir uns nicht das Recht vorbehalten, diese Tiere zu einem Zeitpunkt leidfrei zu töten, der uns aus ökonomischen oder anderen Gründen gelegen kommt. Denn das würde unseren Ausgangsanspruch ad absurdum führen. Das Töten von Nutztieren scheint somit zwar leidneutral durchführbar, jedoch nicht wohlneutral oder ethisch neutral. Ich werde im Folgenden die intuitive Skepsis an dem untermauern, was man sarkastisch als »fürsorgliche Schlachtung« bezeichnen könnte, und begründen, warum es für die Bewertung der Lebensqualität eines Individuums auch eine Rolle spielt, ob seine Lebenszeit verkürzt wird.
Töten ohne Leid | 241
2.3 TÖTUNG ALS FRUSTRATION VON LEBENSPLÄNEN Sapontzis bezweifelt bereits, dass die leidfreie Tötung von Tieren im Kontext der hochindustriellen Schlachtung überhaupt empirisch möglich ist. Tiere wirklich leidfrei zu töten, und nicht nur um eine Minimierung an Leid bemüht zu sein, stellt Sapontzis zufolge eine rein logisch mögliche Option dar. Denn Leid umfasst nicht nur akute Schmerzen, sondern auch Stress und Angst, die kaum vermeidbar scheinen: »In the discussions of the suffering of food animals, ›pain‹ is used to cover not only the intensely unpleasant sensations caused by a knife, bullet, or other implement slicing through one’s body but also the anticipatory fear of being taken to slaughter or anesthetized for it knows not what reason, and the distress that the individual likely feels as life ebbs away. It follows that truly painless slaughter would have to be totally unanticipated and instantaneous, and it is doubtful that any process for the routine killing of animals could meet these requirements.« 8
Selbst wenn wir diese empirischen Schwierigkeiten ausklammern und um der Argumentation willen annehmen, Schlachtung könnte in verlässlicher Weise leidfrei durchgeführt werden, ist die Wohlneutralität von Tötungsakten damit keinesfalls gegeben. Die Verkürzung von Lebenszeit stellt Raz zufolge bereits einen Konflikt mit dem Wohl des Opfers da, indem Zukunftspläne durchkreuzt und Wünsche frustriert werden. Jedoch gelte dies nur dann, wenn tatsächlich entsprechende Lebenspläne und Wünsche vorhanden sind. 9 Demnach müssten wir nur den richtigen Zeitpunkt abpassen, in dem ein Lebewesen keine aktuellen Bestrebungen hinsichtlich seiner Zukunft besitzt. Ein solches Vorgehen scheint jedoch erneut den Anspruch ad absurdum zu führen, das Wohl eines Individuums um des Individuums willen zu berücksichtigen. Ebenso wirkt es unglaubwürdig, das Wohl eines Individuums berücksichtigen zu wollen, indem man es auf indoktrinierende Weise daran hindert, Pläne und Wünsche auszubilden. In diesem Fall versteifen wir uns auf bestimmte Wohlzustände, statt das Individuum in den Blick zu nehmen. Ein solcher Umgang würde in Bezug auf Menschen von wohl niemandem akzeptiert werden und meiner Argumentation aus II.4 folgend scheint es schwer, ihn für alle Menschen als unzulässig und gleichzeitig für alle Tiere als unproblematisch zu begründen.
8
Sapontzis (1987), S. 202. Er verwendet hierbei »Schmerz« in der Weise, wie ich sie für »Leid« vorbehalte.
9
Vgl. Raz (2004), S. 283-284.
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Verteidiger der Tiertötung versuchen mitunter darauf zu verweisen, dass Tiere keine ausreichenden psychologischen Fähigkeiten besitzen, um Zukunftspläne und wünsche zu entwickeln. Dieses Argument trifft jedoch zum einen auch sämtliche Menschen mit stark eingeschränkten psychologischen Fähigkeiten (Kleinkinder, Menschen mit stark fortgeschrittener Demenz, Alzheimer oder schwerer geistiger Behinderung). Zum anderen lässt sich plausibel verteidigen, dass viele Tiere sehr wohl ihre Zukunft antizipieren können, wenn auch in einem geringeren Ausmaß und Abstraktionsgrad als bei menschlichen Personen. 10 Kaum jemand würde bestreiten, dass Tiere durch gemachte Erfahrungen »lernen« können und Zukunftserwartungen ausbilden, indem sie bspw. Situationen, die sie als unangenehm erlebt haben, künftig ausweichen, noch bevor eine ähnliche unangenehme Erfahrung erneut eintritt. 11 Francione hingegen versucht die Wohlrelevanz von Tötungsakten auf evolutionsbiologischem Weg zu belegen. Er argumentiert, dass jedes Lebewesen, das über Sinneswahrnehmung verfügt, ein automatisches Interesse am eigenen Leben besitzt. Genauer: dass die Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung hinreichender Grund ist, einem Lebewesen ein Interesse am eigenen Fortleben zuzuschreiben. 12 Insofern geht es Francione nicht um ein faktisches subjektives Interesse am eigenen Fortleben, sondern um ein objektives Interesse oder zumindest ein objektiviertes subjektives Interesse. Dieses Interesse am eigenen Fortleben leitet er aus der evolutionsbiologischen Funktion von Sinneswahrnehmung ab. Lebewesen entwickeln Sinneswahrnehmungen, weil die Fähigkeit, die eigene Umwelt wahrzunehmen, sich in ihr zu orientieren, und auf Störreize zu reagieren, das Überleben des Individuums begünstigt. Entsprechend könne man laut Francione nicht annehmen, dass es für Lebewesen, die über Fähigkeiten verfügen, die ihr Überleben begünstigen, ohne Belang ist, ob sie überleben oder nicht. 13 Diese Argumentationslinie enthält jedoch mehrere Probleme. Einerseits kann Francione hier ein Sein-Sollen-Fehlschluss unterstellt werden. Seine Betonung der Funktion der Sinneswahrnehmung scheint zu besagen: »Weil Lebewesen mit Sinneswahrnehmung in ihrem Überleben begünstigt sind, sollen Lebewesen mit Sinneswahrnehmung überleben.« Andererseits grenzt Francione seine Definition von Sinneswahrnehmung nicht klar genug ein. Vor allem geht er auf keine Unterscheidung von bewussten Sinneseindrücken und nicht-bewussten Stimuli ein, wie sie etwa DeGrazia explizit trennt. 14 Wenn Francione mit seinem Schlagwort sentience tatsächlich sämtliche Formen von Orientie-
10 Vgl. Gruen (2011), S. 101 sowie Nussbaum (2006), S. 384. 11 Vgl. Wolf (2012), S. 92-93, 116. 12 Vgl. Francione (2008), S. 11. 13 Vgl. ebd., S. 157. 14 Vgl. DeGrazia (1996), Ch. 5.
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rung und Reaktion auf die Umwelt meint, so müssten auch Insekten, die bspw. auf Temperaturveränderungen oder eine herannahende Hand reagieren, als Individuen betrachtet werden, die ein eigenes Interesse daran haben, nicht getötet zu werden. Sogar Pflanzen reagieren auf ihre Umwelt (wenden sich dem Licht zu, etc.) und sind dadurch besser überlebensfähig. Bei Pflanzen und Insekten ist jedoch stark zu bezweifeln, dass es ihnen um ihrer selbst willen etwas ausmachen kann, wie ihr eigenes Leben verläuft. Diese Lebewesen verfügen über keine eigene Subjektivität und entsprechend könnte ein Interesse am Fortleben bei ihnen nur als rein objektives Interesse gedacht werden. Diese Interessen aber haben mit dem Wohl im ethisch relevanten Sinne, wie es Wolf beschreibt (siehe II.3.3.1), nichts mehr zu tun. Außerdem entwickeln Lebewesen Sinneswahrnehmung nicht, um besser überleben zu können. Bestimmte Lebewesen überleben und bilden stabile zeitlich überdauernde Populationen aus, weil sie bestimmte Eigenschaften entwickeln, die in ihrer jeweiligen Umgebung das Überleben begünstigen. Dahinter steckt kein bewusster Plan der betroffenen Lebewesen und somit auch kein latentes Interesse am Fortleben. Franciones Kriterium der Empfindungsfähigkeit ist unabhängig von diesem problematischen evolutionsbiologischen Argument jedoch in anderer Hinsicht philosophisch belastbar. Empfindungsfähigkeit ermöglicht es einem Wesen, das eigene Leben als angenehm zu erfahren (sofern seine Lebensumstände dies zulassen). Insofern ist es plausibel, einem Lebewesen ein begründetes Interesse daran zuzusprechen, nicht nur jetzt, sondern auch später und auch noch morgen, sein Leben als angenehm erfahren zu können, was ihm nur möglich ist, solange es am Leben bleibt. »To be a sentient being means to have an experiential welfare. In this sense, all sentient beings have an interest not only in the quality of their lives but also in the quantity of their lives. Animals may not have thoughts about the number of years they will live, but by virtue of having an interest in not suffering and in experiencing pleasure, they have an interest in remaining alive. They prefer or desire or want to remain alive.« 15
Damit ist erneut die Sinneswahrnehmung des Individuums von Bedeutung. Jedoch eben nicht aufgrund ihrer Begünstigung der Überlebensfähigkeit des Individuums, sondern als Teil der Selbstwahrnehmung. Diese ermöglicht es einem Individuum, die eigene Lebensverfasstheit und seine Umwelt bewusst wahrzunehmen, zu empfinden, zu bewerten und entsprechend auf sie zu reagieren. Damit ist nun auch klarerweise ein anspruchsvollerer Begriff als der von Stimuli gemeint. Indem ein Tier getötet wird, wird ihm die Möglichkeit genommen, künftige positive und
15 Francione (2008), S. 157.
244 | Tierwohl und Tierethik
negative Empfindungen zu erleben. Dieses Kriterium beschränkt sich logischer Weise nur auf solche Individuen, die überhaupt Empfindungen haben können. Entscheidend ist hierbei, dass es zwei Möglichkeiten gibt, den Verlust von künftigen positiven Eindrücken als Beeinträchtigung des Wohls eines Tötungsopfers zu verstehen. Zum einen, indem der Verlust künftiger positiver Eindrücke vom betroffenen Individuum aktuell antizipiert und faktisch als frustrierend empfunden wird. Dieses Argument können wir laut Gruen und Nussbaum auch auf Tiere anwenden, selbst wenn ihre Zukunftsantizipation weniger ausgeprägt ist als die menschlicher Personen. 16 Zum Anderen, indem wir als Außenstehende den Verlust künftiger positiver Eindrücke als Beeinträchtigung der Lebensqualität des Tötungsopfers verstehen, und zwar unabhängig davon, ob das Opfer selbst sich dieses Verlustes bewusst ist oder sich überhaupt um seine eigene Zukunft Gedanken macht. Gerade dieses Verständnis von Wohlbeeinträchtigung scheint auch die Intuition zu begründen, dass der Schutz des Wohls mehr von uns verlangt, als einfach nur den »richtigen Moment« abzuwarten, in dem ein Individuum mit seinem Leben rundum zufrieden ist oder sich nicht für das, was morgen ist, interessiert. 17 Dieser Aspekt wird in dem von mir vorgeschlagenen Tierwohlansatz besonders betont. Wir dürfen uns nicht bloß daran orientieren, worum sich das Individuum selbst sorgt, sondern müssen auch beachten, worum das betroffene Individuum – gemessen an unverfälschten und wohl informierten eigenen Wertmaßstäben – besorgt sein sollte. 18 Die Tötung eines Lebewesens ist demnach als Eingriff in sein Wohl zu werten, wenn sich zu Recht annehmen lässt, dass das Individuum durch seinen frühzeitig von uns herbeigeführten Tod etwas verliert, was prudentiell gut für das betroffene Individuum gewesen wäre (erneut gemessen an unverfälschten und wohl informierten eigenen Wertmaßstäben). 19 Ich werde diesen Aspekt im nächsten Abschnitt vertiefen.
16 Vgl. Gruen (2011), S. 101 sowie Nussbaum (2006), S. 384. 17 Vgl. Harman (2011), S. 730-731. 18 Bei diesem Konzept orientiere ich mich maßgeblich an McMahans Begriff des egoistic concerns (vgl. McMahan [2002], S. 39-42). McMahan betont dabei einerseits, dass Individuen auch ohne faktisches Interesse Grund haben, sich um Ereignisse in ihrer Zukunft und Gegenwart sorgen zu machen (vgl. ebd., S. 80). Gleichzeitig bindet auch McMahan diesen Grund zur Sorge wieder an die subjektive Empfindungsfähigkeit des Individuums zurück (vgl. ebd., S. 39-42). 19 Dass wir nicht mit völliger Sicherheit wissen können, was die Lebensqualität eines Tiers im Konkreten beeinflusst, stellt einen zusätzlichen verkomplizierenden Faktor dar. Es scheint zu viel verlangt, wenn wir bei unserer Berücksichtigung des Tierwohls moralisch
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2.4 TÖTUNG ALS BERAUBUNG POSITIVER KÜNFTIGER EINDRÜCKE Warum wir die Herbeiführung des Todes überhaupt als moralisch rechtfertigungsbedürftigen Akt verstehen, wird von Bradley plakativ formuliert: »Death is typically one of the worst things that can happen to someone. It is bad for someone when it deprives her of a life that is good for her.« 20
Er übernimmt damit die durch Nagel bekannt gewordene Beraubungsthese. 21 Dabei wird eingeräumt, dass tot zu sein einen neutralen Zustand darstellt, da kein Lebewesen mehr vorhanden ist, für das der Tod schlecht sein könnte. Zugleich wird aber betont, dass Tötung sich auf Individuen richtet, die aktuell noch am Leben sind. Hier sind also Lebewesen vorhanden, für die die abrupte Beendigung ihres Lebens sehr wohl negative Auswirkungen haben kann. Indem wir ein Lebewesen töten, nehmen wir ihm die Möglichkeit, die positiven und negativen Erfahrungen zu machen, die sein künftiges Leben enthalten hätte. Es ist dieser Verlust bzw. das Vorenthalten einer lebenswerten Zukunft, die den Tod eines Individuums beklagenswert macht, 22 und seine absichtliche Herbeiführung damit stark begründungsbedürftig. In Bezug auf Menschen wird diese These kaum bestritten. Wir beklagen den vorzeitigen Tod von Menschen nicht nur, weil sie uns fehlen, sondern verweisen auch darauf, dass sie weniger Zeit gehabt haben, ihr Leben zu leben und zu genießen, als ihnen andernfalls möglich gewesen wäre. Die Lebensspanne wird als Teil ihres Wohls angesehen. Und es ist gesondert zu zeigen, warum dieses Prinzip nicht auch auf Tiere zu übertragen wäre. 23 Da auch Tiere über zeitlich ausgedehnte Leben verfügen, in denen sie positive wie negative Eindrücke sammeln können, bedeutet ihre vorzeitige Tötung einen Verlust bzw. ein Vorenthalten von Eindrücken, die ihre Lebensqualität bereichert oder ihnen zumindest den fortdauernden Genuss ihrer Lebensqualität ermöglicht hätten. So fassen Bruijnis et al. zusammen:
verpflichtet wären, auf Dinge außerhalb unserer Kenntnis Rücksicht zu nehmen. Gleichwohl müssen wir uns als verantwortungsbewusste Moralakteure solcher Ungewissheiten im Umgang mit anderen Lebewesen bewusst sein und entsprechend alle unsere Handlungen mit Bedacht ausüben. 20 Bradley (2009), S. 1. 21 Vgl. Nagel (1970), S. 73-80. 22 Vgl. Bradley (2009), S. 47. 23 Ähnlich auch Sapontzis (1987), S. 172.
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»Depriving an animal of a positive future harms it because positive welfare is taken away […] the duration of life directly influences the ability to have positive experiences.« 24
Die Lebensspanne erhält ihre Relevanz anhand der in ihr realisierten und erfahrenen Lebensgüter, da sich diese auf die subjektive Erfahrung des Individuums auswirken. 25 Die enge Verbindung zwischen Tötung und Tierwohl, die Schlachtung (unabhängig von Leidzufügungen) moralisch rechtfertigungsbedürftig macht, baut dabei auf zwei Annahmen auf: (1.) Positive Eindrücke beeinflussen das Wohl eines Lebewesens in entscheidender Weise. (2.) Das Wohl eines Lebewesens lässt sich nicht darauf reduzieren, was das betroffene Lebewesen aktuell in hedonistischer Weise subjektiv bemerkt. Die erste Annahme ist wichtig, da sie eine Verbindung zwischen positiven Eindrücken und der prudentiellen Lebensqualität herstellt. Die zweite Annahme ist wichtig, weil sie nicht nur gegenwärtige positive Eindrücke aufnimmt, sondern auch mögliche zukünftige positive Eindrücke. Wie im I. Hauptteil deutlich wurde, akzeptieren praxisnahe Ansätze (mittlerweile) die erste Annahme. Die Erkenntnis, dass das Wohl eines Individuums nicht einfach nur in der Vermeidung negativer Eindrücke besteht, sondern auch positive Eindrücke benötigt, um lebenswert genannt werden zu können, stellt einen wichtigen Fortschritt innerhalb praxisnaher Tierwohlkonzeptionen dar. 26 Die zweite Annahme wird jedoch von praxisnahen Ansätzen nicht ausreichend diskutiert. In meiner Zurückweisung radikal-subjektivistischer Ansätze habe ich dafür argumentiert, das Wohl eines Lebewesens als Ausdruck eines moralischen Anspruchs zu verstehen, bei dem das Individuum, um dessen Wohl es geht, um seiner selbst willen moralische Rücksicht erhalten soll. Und eben dieser Anspruch wird unglaubwürdig, wenn wir uns nur dafür interessieren, wie es einem Lebewesen genau jetzt geht, seine Zukunft uns aber nicht interessiert. Einfach zu behaupten, ein Lebewesen, das getötet wird, habe keine Zukunft um die wir uns zu sorgen hätten, ist zwar trivial wahr, aber gleichzeitig auch zynisch und eine unbefriedigende Auslegung des zuvor genannten Anspruchs. Dieser Eindruck wird verstärkt durch zwei Intuitionen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen. Zum einen betont Comstock, dass es intuitiv einer Rechtfertigung bedarf, ein Lebewesen, das aktuell
24 Bruijnis et al. (2013), S. 198. 25 Was nicht bedeutet, dass wir die Lebensqualität als bloße Summe an isolierten positiven Lebenserfahrungen (abzüglich der negativen) verstehen sollten. Es scheint aber unstrittig, dass ein Leben, das reich an positiven Erfahrungen ist, einem Leben vorzuziehen ist, das diese stark entbehrt. 26 Vgl. FAWC (2009a), S. 2; Webster (2011a), S. 7.
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sein Leben als angenehm genießen kann, daran zu hindern, es auch künftig weiterhin zu genießen. 27 Zum anderen scheint es, Ladwig zufolge, intuitiv einleuchtend, dass ein langes angenehmes Leben einem kurzen angenehmen Leben vorzuziehen ist. 28 Zusammenhänge zwischen der ethischen Gewichtung positiver Lebenseindrücke und einem Anspruch auf die fortdauernde Möglichkeit positive Eindrücke zu erleben, werden auch in McMahans ethischer Theorie des Tötens sichtbar. McMahan betont, dass es schwerwiegende kontraintuitive Folgen hätte, wenn wir annähmen, dass positive Eindrücke kein ethisches Gewicht hätten. Ausgangspunkt bildet seine These, dass wir Grund haben, ein Lebewesen nicht zur Existenz zu bringen, wenn anzunehmen ist, dass das zukünftige Leben dieses Individuums von Leid geprägt sein wird. 29 Denn wenn wir moralische Pflichten besitzen, das Wohl anderer Lebewesen zu berücksichtigen, so verlangt diese Rücksicht auch, kein Lebewesen entstehen zu lassen, dessen Wohlzustand mit hoher Wahrscheinlichkeit katastrophal sein wird. Empirisch betrachtet, so McMahan, enthält jedoch jedes Leben Leid. Es ist praktisch unvorstellbar, dass ein empfindungsfähiges Wesen innerhalb seiner Lebenszeit keinerlei negative Erfahrungen macht, wie Angst, Stress, Erschöpfung, Hunger oder Traurigkeit. Sofern wir nur negativen Eindrücken normatives Gewicht beimessen, wären wir laut McMahan moralisch verpflichtet, kein empfindungsfähiges Lebewesen zur Existenz kommen zu lassen, da jedes Leben Leid enthält. Wir müssten auch allen bereits existierenden empfindungsfähigen Lebewesen attestieren, dass ihr Leben nicht lebenswert sei, da es ja Leid enthalte und außer Leid sonst nichts zähle. 30 Dieses Resultat ist absolut kontraintuitiv. Vielmehr scheinen wir doch überzeugt, dass positive Eindrücke im Leben Leid auszugleichen vermögen (zumindest bis zu einem bestimmten Grad). Dies betrifft auch zukünftige positive Eindrücke, die Ausgleich schaffen können für vergangene oder gegenwärtige Leiderfahrungen. 31 Wir dürfen das Wohl eines Individuums daher nicht ausschließlich danach bewerten, wie es um seine aktuelle Lebensqualität bestellt ist, sondern auch hinsichtlich dessen, was sein Leben künftig an Qualität enthalten würde, wenn wir sein Leben entstehen und fortdauern lassen. Es ist daher
27 Vgl. Comstock (1991), S. 153-154. 28 Vgl. Ladwig (2014), S. 31. 29 Vgl. McMahan (2002), S. 300. 30 Vgl. McMahan (2016), S. 69. 31 Ich habe in I.3.8. kritisiert, dass das absichtliche Zufügen von Leid nicht automatisch durch spätere positive Erfahrungen moralisch neutralisiert werden kann. Nichtsdestotrotz kann ein Leben trotz Leiderfahrungen lebenswert sein, wenn es viel Gutes enthält. Positive Eindrücke beeinflussen die Bewertung der Lebensqualität, liefern aber keine automatische Rechtfertigung für Leidzufügungen.
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unbefriedigend, einfach darauf zu verweisen, dass für Tiere innerhalb der Nutztierhaltung eine begrenzte Lebenszeit von vornherein fest eingeplant wird. Tieren entgehen durch ihre vorzeitige Tötung sämtliche positive Erfahrungen, die ihr künftiges Leben enthalten hätte. Und die Tötung von Tieren erfolgt innerhalb der Nutztierhaltung auch nicht zu einem Zeitpunkt, ab dem im Leben dieser Tiere körperliche Leiden und Degeneration positive Eindrücke überwiegen würden. Schlachtungen erfolgen zu ökonomisch vorteilhaften Zeitpunkten, bei denen das Wohl der zu tötenden Tiere eben nicht im Vordergrund steht. Das Töten dieser Tiere geschieht weder aus Sorge um ihr Wohl, noch kann es als sonderlich wohlförderlich angesehen werden.
2.5 DIE IRRELEVANZ ABSTRAKTER KONZEPTE Das oben vorgestellte Argument, das die Fähigkeit von Tieren hervorhebt, positive und negative Eindrücke zu erfahren, ist gegen klassische Einwände gewappnet, die Tieren ein Interesse am eigenen Fortleben pauschal absprechen. So etwa der Einwand, ein Individuum könne nur dann durch leidfreie Tötung geschädigt werden kann, wenn es über ein abstraktes Konzept des eigenen Todes, der eigenen Zukunft sowie ein komplexes Verständnis darüber verfügt, dass der eigene Tod das Ende seines Lebens und all seiner Pläne bedeutet. 32 Dabei kann zugestanden werden, dass der Besitz solcher abstrakten Konzepte und ein komplexes Verständnis der eigenen Existenz und Lebensverfasstheit den schädigenden Einfluss von Tötung auf das eigene Wohl verstärken können. Durch die Fähigkeit, den eigenen Tod als Eingriff in die Möglichkeit zu begreifen, das eigene Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und auszuleben, wird dem Individuum eine zusätzliche Wohl-Dimension zugänglich, die entsprechend zu berücksichtigen ist. Je komplexer das eigene Leben und der eigene Tod vom Individuum begriffen werden können, umso vielfältiger und möglicherweise auch intensiver wird das Individuum durch seine Tötung in seinem Wohl geschädigt. 33 Wie der vorherige Abschnitt verdeutlicht, ist diese anspruchsvolle Abstraktionsebene keine notwendige Bedingung dafür, dass ein Lebewesen überhaupt in irgendeiner Form durch Tötung in seinem Wohl beeinträchtigt wird. Tiere sind fähig, ihre eigene Lebenssituation als angenehm oder leidvoll zu erfahren, und
32 Sapontzis bspw. diskutiert und verwirft eine solche Argumentationsstrategie bei Ruth Cigman (vgl. Sapontzis [1987], S. 163-164). 33 Vgl. Akhtar (2011), S. 501-502. Francione bezweifelt hingegen, dass Lebewesen, denen solche abstrakten Konzepte fehlen, weniger durch ihre Tötung verlieren, als menschliche Personen, die über diese Konzepte verfügen (vgl. Francione [2008], S. 10, 20).
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benötigen dafür keine abstrakten Konzepte ihres eigenen Lebens und der Welt um sie herum. So verweist Sapontzis darauf, dass es absurd wäre zu behaupten, Tiere könnten nicht unter der Zerstörung ihres Lebensraums leiden, weil sie über kein abstraktes Konzept von Umweltzerstörung verfügen. 34 Und selbst wenn Tiere, aufgrund geringer ausgeprägter psychologischer Fähigkeiten weniger durch ihre Tötung verlieren, als menschliche Personen, so bleibt festzuhalten, dass sie dennoch etwas verlieren. Hinzu kommt erneut, dass die Berücksichtigung des Tierwohls aus der Perspektive dritter Erfolgt, und dass es sich bei diesen außenstehenden Beobachtern – uns – um kompetente Moralakteure handelt, die in der Lage sind, die Lebenssituation der betroffenen Tiere komplexer aufzufassen, als dies den Tieren selbst vermutlich möglich ist. D.h. selbst wenn Tiere nicht begreifen, welchen radikalen Einschnitt ihre Tötung für ihre Fähigkeit, ein angenehmes Leben zu führen bedeutet, so ändert dies nichts daran, dass wir wissen, was ihre Tötung diesbezüglich bedeutet. Der Anspruch, das Wohl der Tiere, die wir halten und nutzen, zu schützen und zu fördern, scheint schwerlich vereinbar mit dem abrupten Beenden des Lebens dieser Tiere, wodurch ihnen jede Möglichkeit genommen wird, weiterhin ein lebenswertes Leben zu führen. Einem Lebewesen, das sein Leben als angenehm empfinden kann, kann vernünftigerweise um seiner selbst willen ein Interesse daran zugeschrieben werden, sein Leben auch künftig als angenehm empfinden zu können. Vor allem aber erkennen die meisten von uns an, dass Verantwortung für andere zu übernehmen auch bedeutet, sie vor Schädigungen zu schützen, von denen sie selbst vielleicht nichts bemerken. Dieses Verständnis nur auf Menschen zu beziehen, nicht aber auf Tiere, scheint erneut nur durch Verweise auf Speziesunterschiede zu gelingen, die ich in II.4 als nicht überzeugend zurückgewiesen habe. Auch Argumente wie bei Nussbaum oder Anderson, die eine stärkere Hilfsabhängigkeit und Verletzlichkeit von menschlichen Nicht-Personen im Vergleich zu tierlichen Nicht-Personen betonen, 35 können nicht begründen, warum ausschließlich Tiere abstrakte Konzepte benötigen sollten, um durch leidfreie Tötung geschädigt zu werden. Wie verletzlich und hilfsbedürftig menschliche und tierliche Nicht-Personen jeweils sind, gibt lediglich Aufschluss darüber, durch welche Lebensumstände sie jeweils in ihrem Fortleben bedroht sind. Abstrakte Konzepte scheinen aus den genannten Gründen weder für Menschen noch für Tiere eine notwendige Vorbedingung zu sein, um durch den
34 Vgl. Sapontzis (1987), S. 163-164. 35 Vgl. Nussbaum (2006), S. 192 sowie Anderson (2004), S. 281-285.
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Verlust des Lebens und aller positiver Eindrücke, die es noch enthalten hätte, in ihrem Wohl beschnitten zu werden. 36
2.6 DAS ARGUMENT NATÜRLICHER LEBENSERWARTUNG Die oben genannten Argumentationsstrategien machen deutlich, dass sich belastbare Begründungsversuche ins Feld führen lassen, um die Tötung von Tieren als wohlrelevant auszuweisen, ganz gleich wie human und geschickt sie auch durchgeführt werden mag. Darüber hinaus wird innerhalb tierethischer Debatten noch eine weitere Strategie ins Feld geführt, um die Relevanz von Lebensverkürzungen für das Wohl des Individuums zu untermauern. Auch wenn ich diese Strategie nicht für aussichtsreich halte, sollte sie der Vollständigkeit halber thematisiert werden, zumal in den Debatten immer wieder auf sie zurückgegriffen wird. Tieren ist hiernach ein Anrecht zuzuschreiben, ihre »natürliche Lebenserwartung« voll auszuleben. So gehöre es etwa zur »Natur« eines Tiers, eine bestimmte speziesspezifische Lebensdauer zu haben. Solche Akzente finden sich bspw. bei Bruijnis et al., die sich ihrerseits auf Rollins Konzept des telos eines Tiers beziehen. 37 Dabei betonen Bruijnis et al. dass es rechtfertigungsbedürftig sei, ein Tier, das biologisch betrachtet viele Jahre alt werden kann, bereits nach einem Bruchteil seiner natürlichen Lebenserwartung zu töten. Und tatsächlich ist die Verkürzung der Lebenszeit, die Nutztiere durch ihre Tötung erfahren, beträchtlich. So fasst McMahan zusammen: »Beef cattle have a natural life span of about thirty to thirty-five years, but they are normally killed at about three years of age. Pigs can live about fifteen years, but they tend to be killed at about six months, while chickens can live about eight years but are killed less than a year after birth. The reason these animals are killed when young is that it is economically wasteful to invest resources in keeping them alive after they have reached their full size.« 38
36 Ich erinnere daran, dass meiner hybriden Wohlkonzeption zufolge nicht nur zählt, ob ein Leben positive subjektive Eindrücke enthält oder enthalten würde, sondern auch, ob diese positiven Eindrücke in »authentischer Weise« dem Individuum zugänglich sind. So scheint mir ein Individuum intuitiv nicht viel durch seine Tötung zu verlieren, wenn es keine Möglichkeit mehr besitzt, aus der Interaktion mit seiner Umwelt positive Eindrücke zu schöpfen und es nur noch durch die Verabreichung starker Narkotika und künstlich induzierter Traumbilder Genuss und Freude empfinden könnte. 37 Vgl. Bruijnis et al. (2013), S. 191-193. 38 McMahan (2016), S. 65.
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Die Zahlen über durchschnittliche Lebenserwartung und Tötungszeitpunkt schwanken durchaus innerhalb der Literatur. Jedoch bleibt das Gesamtbild dabei dasselbe. 39 Nutztiere haben lediglich die Möglichkeit einen Bruchteil ihrer natürlichen Lebenserwartung auch wirklich zu durchleben. Der mir bekannte Extremfall sind Masthühner, die nach bereits 30 Tagen als »schlachtreif« abtransportiert werden. 40 Diese erheblichen Einschnitte in die Lebenszeit sind intuitiv beunruhigend und lassen die Behauptung, die Lebensdauer habe nichts mit dem Wohl eines Tiers zu tun, zweifelhaft erscheinen. Dieses intuitive Unbehagen lässt sich jedoch bereits einfangen und untermauern durch Verweis auf die Zukunft, die diesen Tieren vorenthalten wird. Ein Verweis auf speziesspezifische »Natürlichkeit« scheint daher unnötig. Zudem habe ich zuvor kritisiert, dass »Natürlichkeit« weniger ein prudentielles als ein perfektionistisches Gut darstellt. 41 Auch weist Rollin, auf den sich Bruijnis et al. stützen, selbst auf das Problem hin, dass die Natur von Lebewesen veränderbar ist und durch menschliche Eingriffe gezielt beeinflusst werden kann. 42 McMahan diskutiert in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, Tiere so züchten, dass sie von vornherein eine verkürzte Lebenserwartung besitzen und automatisch zu dem Zeitpunkt sterben, an dem sie »schlachtreif« sind. 43 Eine solche Praktik ließe sich schwerlich als Tötung bezeichnen. Auch fällt es schwer, von einer Verkürzung der Lebenszeit zu sprechen, denn ein auf diese Weise gezüchtetes Tier besitzt von Beginn an keine längere Lebenserwartung. Dieses Tier kann hierbei also keiner positiv geprägten Zukunft verlustig gehen. Es handelt sich um ein Tier, in dessen »Natur« es liegt, frühzeitig zu sterben – zumindest sofern wir die natürliche Veranlagung eines Lebewesens anhand seines Gencodes definieren, 44 was m.E. die
39 Bspw. nennt Scott bei Legehennen eine Lebenserwartung von 10 Jahren und eine Tötung nach 75 Wochen (vgl. Scott [2011], S. 326). Solche Schwankungen entstehen u.a. durch unterschiedliche Standards in den verschiedenen Ländern, die jeweils statistisch erfasst werden. Und auch diese Standards und Durchschnittswerte sind mit fortlaufender Modernisierung und Umstrukturierung landwirtschaftlicher Prozesse ständigem Wandel unterworfen. 40 Ich beziehe mich hierbei auf eine Betriebsbesichtigung in Niedersachsen im September 2013. 41 Siehe II.2.4. 42 Vgl. Rollin (1995), S. 39-46, 171-172. 43 McMahan (2008b), S. 73-74. 44 Hilfreiche Hinweise zum Zusammenhang zwischen der »Natur« eines Individuums und seinen genetischen Merkmalen und Veranlagungen finden sich in McMahan (2008a), S. 87-93.
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einzig plausible Definition ist. Andernfalls müssten wir einen metaphysisch aufgeladenen Begriff der »Natur eines Lebewesens« bemühen, der unabhängig davon funktioniert, zu was sich ein Organismus tatsächlich entwickeln kann. Und im Fall von Tieren, in deren genetischem Code festgeschrieben wurde, frühzeitig zu sterben, ist nicht ersichtlich, inwiefern es in ihrer »Natur« läge, ein längeres Leben zu führen. Wir können die speziesspezifische Lebenserwartung anderer Tiere, die eine andere (nicht von Menschen beeinflusste) Genetik besitzen, nicht zur Bewertung des Wohls eines genetisch veränderten Tiers heranziehen. 45 Selbst wenn es sich bei den genetischen Unterschieden nur um prozentual minimale Abweichungen handelt, wirken sich diese Abweichungen substanziell darauf aus, welche Art von Leben und welche Lebensspanne einem Tier mit und ohne Genmanipulation jeweils offen stehen. McMahan rät eine solche Züchtung auf Kurzlebigkeit keinesfalls an, sondern teilt das intuitive Unbehagen gegenüber solchen Manipulationen. Er verdeutlicht jedoch, wie schwer dieses Unbehagen argumentativ gestützt werden kann – zumindest wenn man sich an die dominierenden ethischen Einwände gegen Tötungsakte hält. Verstehen wir »Natur« hingegen als einen Zustand ohne menschliche Eingriffe überhaupt, so stehen wir vor dem Problem, dass Menschen durch praktisch all ihre Handlungen Einfluss auf ihre Umwelt nehmen, egal wie rücksichtsvoll und auf Nachhaltigkeit bedacht sie dabei auch vorgehen mögen. Zudem entwickeln sich die »Naturen« von Lebewesen evolutionär und damit in ständiger Interaktion mit ihrer Umwelt. Daher kann schwerlich von einer unbeeinflussten »Natur« von Tieren gesprochen werden. Das Heraussondern direkter menschlicher Einflussnahme auf die Genetik von Tieren muss eigens begründet werden. 46 Diese Überlegungen verdeutlichen erstens die Problemanfälligkeit von Tierwohlargumentationen, die »Natürlichkeit« als Kriterium gegen Nutztierpraktiken ins Feld führen. Zweitens geraten wir hier an eine Schnittstelle, an der Fragen der Rechtfertigbarkeit von Tötung in Fragen der Rechtfertigbarkeit von körperlichen Eingriffen übergehen. Ich werde in III.3 näher beleuchten, inwiefern leidfreie körperliche Modifikationen das Wohl von Tieren berühren und dabei auch aufzeigen, warum das Züchten und Nutzen von auf Kurzlebigkeit gezüchteten Tieren moralisch kritikwürdig ist. An dieser Stelle ist jedoch festzuhalten, dass die genetische Beeinflussung der Lebenserwartung von Tieren offensichtlich in der Lage ist, einige Hauptargumente zu umgehen, die eine Verbindung zwischen Tierwohl und Tiertötung ziehen lassen. Dies scheint aber auch nur deshalb zu gelingen, weil es sich bei dieser Praktik eben nicht mehr um Tötung im eigentlichen Sinne handelt, sondern um die Erschaffung eines von vornherein kurzen Lebens. Entsprechend
45 Vgl. Rollin (1995), S. 171-178. 46 Vgl. ebd., S. 39-46.
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erhärtet dies den Verdacht, dass die Tötung von Tieren, selbst wenn sie leidfrei vonstatten geht, eine Beeinträchtigung des Tierwohls bedeutet, die nur umgangen werden kann, wenn Tiere eben nicht mehr getötet, sondern allenfalls genetisch manipuliert werden.
2.7 KANN SCHLACHTEN DAS TIERWOHL (INDIREKT) BEGÜNSTIGEN? Verteidiger der Nutztierhaltung argumentieren mitunter, dass Nutztiere durch die Praktik der Tötung unter bestimmten Umständen in ihrem Wohl geradezu begünstigt werden können. Dabei lassen sich zwei mögliche Argumentationslinien unterscheiden: 1. Es sei besser ein kurzes Leben zu führen, als niemals existiert zu haben. Nutz-
tiere profitieren daher von der Nutztierhaltung, da sie andernfalls niemals zur Existenz gebracht worden wären. 2. Nicht immer sei die Zukunft, die ein Tier durch Tötung verliert, positiv geprägt. Frühzeitige Tötung verhindert, dass Tiere unter Altersbeschwerden leiden. Und gerade auf Hochleistung gezüchtete Tiere entwickeln Krankheitsbilder und Leiden, die sich erst nach einer gewissen Zeit ausprägen. Keine der beiden Varianten ist jedoch in der Lage, das zu liefern, was sich ihre Vertreter offensichtlich dabei versprechen: ein Argument für die prinzipielle Unbedenklichkeit leidfreier Tiertötung. Die erste Variante wird meiner Erfahrung nach am häufigsten in der entsprechenden Literatur sowie in landwirtschaftlichen Diskussionen bemüht. 47 Dieses Argument ist jedoch grundlegenden philosophischen Schwierigkeiten ausgesetzt. Denn es ist fraglich, ob es für ein Lebewesen überhaupt besser oder schlechter sein kann, nie existiert zu haben? McMahan verdeutlicht, dass es sich bei »besser« und »schlechter« um vergleichende Begriffe handelt, die in diesem Szenario nicht sinnvoll verwendet werden können: »[I]t is incoherent to suppose that an animal’s being caused to exist could be worse for it. Because ›worse for‹ is comparative, the claim that it is worse for an individual to be caused to exist implies that it would have been better for that individual not to have been caused to exist – that is, never to have existed at all. But there cannot be anyone for whom it is better never to exist. Similarly, to say that it is better for an animal to be caused to exist implies that
47 Ein beispielhafter Vertreter dieses Arguments ist Appleby. Für eine illustrative Diskussion und Kritik an seiner Position siehe Haynes (2010), S. 138.
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it would have been worse for that same animal never to have existed. But again, there cannot be anyone for whom it is worse never to exist. In one clear and relevant sense, there are no individuals who never exist.« [Hervorhebungen im Original] 48
Es kann, rein logisch betrachtet, nicht für dasselbe Individuum besser sein, zu existieren, weil es sich bei einem existierenden Individuum und einem Individuum, das niemals existiert hat, nicht um dasselbe Individuum handeln kann. Es gibt keine Individuen, die nie existiert haben. Um Vergleiche dieser Art ziehen zu können, müssten wir annehmen, dass Lebewesen, bevor sie geboren oder gezeugt werden, bereits als vorkörperliche Entitäten existieren und quasi nur noch darauf warten, in physisch realisierter Form zur vollen Existenz zu gelangen. 49 Dies verlangt zu viele metaphysische Annahmen, um sich glaubhaft verteidigen zu lassen. Es kann daher für ein Individuum nicht besser sein, zur Existenz gebracht zu werden. Demgegenüber kann jedoch behauptet werden, dass es besser für ein Individuum ist, weiterhin zu existieren. Denn hierbei haben wir es mit einem Individuum zu tun, das existiert und dessen Leben wir in verschiedenen Szenarien vergleichen können, etwa: a) ein Tier, das noch 5 Jahre positiv geprägter Zukunft vor sich hätte, jetzt leidfrei zu töten. b) ein solches Tier in einem Jahr leidfrei zu töten. c) ein solches Tier in 4½ Jahren leidfrei zu töten. Wir können bei einem solchen existierenden Individuum sinnvolle Vergleiche darüber anstellen, ob und in welchem Ausmaß eine frühere oder spätere Tötung das Wohl dieses Individuums beeinflussen würde. Auch McMahan stützt sich beim Vergleichen unterschiedlicher Tötungszeitpunkte auf die Beraubungsthese und argumentiert: »[D]eath is bad for an individual primarily because it deprives him of further life that would have been good for him […] the degree of misfortune an individual suffers in dying varies with the quality and quantity of the life he would otherwise have had.« 50
Wenn sich die Schädigung des Todes aber anhand der hierdurch vorenthaltenen Zukunft bemisst, dann ist es naheliegend, dass ein Tod umso mehr Schädigung
48 McMahan (2008b), S. 68. 49 Eine illustrative Beschreibung und Zurückweisung eines solchen metaphysischen Zustands findet sich in Sapontzis (1987), S. 204. 50 McMahan (2016), S. 70.
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bedeutet, je mehr Zukunft einem Individuum durch entsprechend frühe Tötung vorenthalten wird. 51 Entsprechend können wir behaupten, dass es besser für ein solches Tier ist, eher später als früher getötet zu werden, da es sich so länger an seinem Leben erfreuen kann, und vielleicht sogar bestimmte besonders intensive positive Erfahrungen erst innerhalb der fraglichen Zukunft erleben würde. Andersherum ist es aber nicht möglich rückblickend zu sagen, dass es für ein Individuum schlechter gewesen wäre, niemals existiert zu haben. Denn das Individuum, um dessen Wohl es hierbei geht, existiert bereits. Hätte es niemals existiert, so wäre überhaupt kein Bezugsindividuum vorhanden, über dessen Wohlzustand Vergleiche gezogen werden könnten. Alternativ könnten wir versuchen, auf vergleichende Vokabeln wie »besser« und »schlechter« zu verzichten und überlegen, ob es absolut betrachtet »gut« oder »schlecht« für ein Individuum sein kann, zu existieren oder nicht zu existieren. Doch auch auf diesem Weg kann McMahan zufolge nicht glaubhaft belegt werden,
51 McMahan akzeptiert diese Konsequenz, fügt jedoch eine zusätzliche Einschränkung hinzu. Es zählt nicht nur, wie viel an künftiger Zeit und darin realisierten Gütern ein Lebewesen durch seinen Tod verliert. Es ist für die Bewertung der Schädigung ebenfalls wichtig, wie stark die psychologische Verbindung ist zwischen dem Individuum zum Zeitpunkt seiner Tötung und dem Individuum, das bestimmte Güter in der Zukunft genossen hätte. Bestehen nur schwache psychologische Verbindungen, so handelt es sich in McMahans Terminologie nicht mehr im relevanten Sinne um die Zukunft desselben Individuums. McMahan fasst diese hochkomplexe Konzeption unter der Bezeichnung Timerelative Interest Account zusammen (vgl. McMahan [2002], insb. S. 78-80, sowie Ch. 3). Für meine Diskussion der Tötung von Tieren kann diese Einschränkung zur Bewertung von Schädigung durch Tötung vernachlässigt werden. Ich erwähne diese Feinheit jedoch aus zwei Gründen. (1.) Ohne diese Einschränkung müsste folgen, dass Abtreibungen schlimmer sind als Morde an Erwachsenen, da einem menschlichen Fötus hierbei mehr an Lebenszeit vorenthalten wird, als dem Erwachsenen, was aber kontraintuitiv ist (vgl. ebd., S. 165-167). (2.) Diese Einschränkung wird relevant, wenn wir die Tötung sehr junger Tiere betrachten, die (noch) sehr schwach ausgebildete psychologische Bezüge zu den Individuen besitzen, zu denen sie sich in der Zukunft entwickeln würden, wenn sie nicht vorher getötet werden. Dies betrifft eine der öffentlich am heftigsten kritisierten Nutztierpraktiken: das Töten männlicher Küken in der Legehennenzucht. Soweit diese extrem frühe Tötung leidfrei erfolgt, scheinen wir m.E. tatsächlich konstatieren zu müssen, dass diese Tiere in ihrem Wohl nur minimal geschädigt werden. Dass uns die massenhafte Erzeugung von Jungtieren, die kurz nach ihrer Geburt als ökonomisch überflüssig eingestuft und getötet werden, Unbehagen verschafft, muss dann offensichtlich auf anderem Wege eingefangen werden als durch den Wohl-Begriff. Dies kann durch Bezug auf unser moralisches Selbstverständnis gelingen (siehe III.5.).
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dass es gut für Tiere ist, zur Existenz gebracht zu werden und noch weniger, dass es schlecht für ein Wesen sei, nicht zu existieren. McMahan fasst dies in seiner Assymetry-These zusammen: »The Asymmetry is the view that, while the expectation that a person’s life would be worth living provides no moral reason to cause that person to exist, the expectation that a person’s life would be worth not living does provide a moral reason not to cause that person to exist.« [Hervorhebung im Original] 52
Wenn wir also vor der Wahl stehen, ein Tier zur Existenz zu bringen oder nicht, so liefert uns die Voraussicht, dass sein Leben von Leid geprägt sein wird, Gründe, dieses Tier nicht zur Existenz zu bringen. Nicht, weil es für ein jetzt nicht existierendes Tier schlecht wäre zu existieren – denn dies wäre, wie erwähnt, logisch inkohärent –, sondern, weil es für das später existierende Tier schlecht wäre, ein von Leid geprägtes Leben zu erfahren. Andersherum liefert uns aber die Voraussicht, dass das Leben eines Tiers positiv geprägt sein wird, keinen Grund, dieses Tier zur Existenz zu bringen. Wir handeln nicht moralisch kritikwürdig, wenn wir gar kein Wesen zur Existenz bringen. In neuesten Veröffentlichungen zieht McMahan seine Annahme teilweise in Zweifel und überlegt, ob die Voraussicht, dass ein Leben sehr positiv geprägt wäre, nicht doch ethische Gründe liefert, dieses Leben entstehen zu lassen. 53 Selbst wenn wir dies akzeptieren, erhalten wir dennoch kein überzeugendes Argument dafür, dass Tiere durch ihre Tötung in ihrem Wohl begünstigt werden. Was für die erschaffenen Tiere gut ist, ist ein positiv geprägtes Leben zu führen, nicht ihre Tötung selbst. Die Absicht der Tötung kann als Motivation allenfalls mittelbar eine Rolle spielen. So kann es gut für ein Tier sein, ein positiv geprägtes Leben zu führen, das ihm nur deshalb ermöglicht wurde, weil es genutzt und getötet werden soll. Aber wer zwingt uns denn, ein Tier, das wir nur zur Existenz gebracht haben, um es später zu töten, auch anschließend wirklich umzubringen? Sobald ein Tier erst einmal existiert, ist eine anschließende Tötung nicht erforderlich, um ihm ein lebenswertes Leben zu verschaffen. Ganz im Gegenteil profitiert, wie ich bereits aufgezeigt habe, ein Tier gerade davon, nicht getötet zu werden, sofern seine Zukunft positiv geprägt sein würde. Wenn es ethische Gründe gibt, möglichst viele »glückliche Tiere« in die Welt zu setzen, so erfordert dies keinen gleichzeitigen Plan, diese Tiere zu nutzen und zu töten.
52 Ebd., S. 300. Auch wenn McMahan an dieser Stelle nur von Personen spricht, lässt sich die These auch auf Nicht-Personen übertragen, siehe auch McMahan (2016), S. 65-85. 53 Vgl. ebd., S. 65-85.
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Verteidiger der Tierhaltung könnten nun einwenden, dass es keine Motivation mehr gibt, Nutztiere zu erschaffen, wenn wir sie nicht, wie ursprünglich geplant, nutzen und töten. Auf lange Sicht (vermutlich sogar sehr zügig) würden wir dann aufhören, Nutztiere zu erschaffen. Nur müssen Verteidiger dieser These auch erklären, warum genau es einen ethischen Missstand darstellen sollte, keine Nutztiere mehr zu erschaffen oder in einer Welt zu leben, in der es keine Nutztiere mehr gibt. Vor allem ist unklar, warum dies hinsichtlich des Wohls der fraglichen Nutztiere selbst einen Misstand darstellen sollte. Über ein Wohl verfügen nur Tiere, die existieren (und damit auch Tiere, die künftig existieren werden, ab dem Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Existenz). Diejenigen Tiere, die bereits erschaffen wurden, profitieren von ihrem Fortleben mehr, als von ihrer ursprünglich geplanten Tötung. Und die Tiere, die aufgrund der Beendigung der Nutztiertötung gar nicht mehr erschaffen werden, können in Ermangelung eines eigenen Wohls sowie einer Existenz nicht durch ihre Nicht-Erschaffung geschädigt werden. Das Argument, die Praktik der Nutztiertötung ermögliche vielen Tieren überhaupt erst, zu leben und dieses Leben genießen zu können, ist daher nicht überzeugend. Dagegen berührt die eingangs genannte zweite Variante, wonach Tötung künftigem Leid vorbeugen kann, einen wichtigen Punkt, der auch in McMahans Asymmetry-These zum Ausdruck kommt. Ein Leben kann so sehr von Leid erfüllt sein und so arm an positiven Eindrücken, dass ein Individuum durch seine Tötung nichts Wesentliches verliert, sondern vielmehr von seinem Leid befreit wird. In diesem Sinne kann Tötung den Wohlzustand eines Tiers offenbar tatsächlich begünstigen. Jedoch scheint diese Beschreibung vielmehr auf das Einschläfern kranker und stark verletzter Tiere zuzutreffen, als auf die industrielle, immer wieder vom Neuen stattfindende Tötung von Nutztieren, zumal diese Tiere eben nicht getötet werden, um ihnen Leid zu ersparen, sondern aus ökonomischen Motiven: um an ihr Fleisch zu gelangen oder um uns derjenigen Tiere zu entledigen, deren weitere Versorgung nicht mehr ausreichend durch ihre Produktivität rentabel bleibt. Nutztiere werden zu einem Zeitpunkt getötet, der ökonomisch vorteilhaft ist, und nicht erst kurz bevor ihr Leben von Leid geprägt sein würde. Gleichwohl ist zuzugestehen, dass mittlerweile viele Nutztiere so sehr auf Hochleistung gezüchtet sind, dass sie rasch körperliche Leiden entwickeln können. So etwa Kreislaufbeschwerden, überhöhter Stoffwechsel, Übergewicht und damit die Überlastung von Organen, Gelenken und Fußballen. 54 In diesem Kontext kann die Schlachtung Nutztieren künftiges Leid ersparen und damit Beeinträchtigungen ihres Wohls verhindern. Bruijnis et al. heben demgegenüber hervor, dass der Schutz des Tierwohls mehr von uns verlangt, als Tierleiden durch Tötung vorzubeugen, insbesondere, wenn Alternativen zu ihrer Tötung bestehen. Durch Anpassung der
54 Vgl. Webster (2011a), S. 23; Scott (2011), S. 322; Streiffer/Basl (2011), S. 836-837.
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Haltungsbedingungen und der Nutzungsprozesse etwa wären Tiere weniger körperlichen Belastungen ausgesetzt. 55 Bruijnis et al. beziehen sich dabei jedoch vorrangig auf Leiden, die durch Haltung statt durch Genetik verursacht werden. Wenn ein Tier durch Züchtung auf rasche Gewichtszunahme unter Gelenkschmerzen leidet, kann eine verbesserte Haltung, die z.B. viel Bewegung und komfortable Ruhebereiche bietet, genetisch bedingte Leiden nur bedingt ausgleichen. Unter Umständen können wir diesen Tieren tatsächlich am ehesten dadurch helfen, dass wir sie töten, anstatt ihnen durch ständige Zufuhr von Medikamenten und Schmerz lindernden Mitteln ein kaum lebenswertes fortlaufendes Dasein mit stark eingeschränkter psychischer und physischer Aktivität zu verschaffen. Der Anspruch, Tiere in ihrem Wohl zu befördern, verlangt uns dann aber auch ab, zu verhindern, dass Tiere die erwähnten genetischen Leiden ausbilden. Da diese Leiden durch menschlich initiierte Hochzüchtung entstehen, bedeutet dies, dass bestimmte Zuchtlinien nicht weiter fortgesetzt werden sollten und die Hochzüchtung auf ökonomisch gewünschte körperliche Eigenschaften allgemein einzustellen ist. Dass hochgezüchtete Tiere bei guter Umsorgung für einen gewissen Zeitabschnitt ein gutes Leben führen können, kann allenfalls begründen, warum wir bereits existierenden Tieren mit genetischer Leidanfälligkeit ein möglichst gutes Leben verschaffen sollten und eine möglichst lange Zeit, in der sie dieses Leben auch genießen können. Dieser Umstand liefert aber keine Begründung dafür, dass die Praktik der Züchtung auf Hochleistung mit anschließender Schlachtung als Gesamtkomplex dem Wohl von Tieren förderlich wäre, geschweige denn förderlicher als die Erschaffung von Tieren ohne diese Leidanfälligkeit. Ebensowenig liefert dies eine Begründung dafür, warum wir immer wieder und wieder Tiere mit einer solchen Leidanfälligkeit von Neuem zur Existenz bringen sollten. Dies genau ist aber Teil industrialisierter Praxis. Wir reden hierbei nicht über Einzelfälle, bei denen Tiere durch eine besondere Leidanfälligkeit belastet sind, die ihnen ein langes angenehmes Leben unmöglich macht. Wir reden über Tierleiden, die durch menschliche Züchtungspraktiken fortlaufend hervorgebracht werden. Der Tod kann für ein Individuum unter bestimmten Umständen die bessere Alternative zum Leben darstellen. Wir dürfen die Tötung von Nutztieren jedoch nicht von vornherein einkalkulieren, wenn wir ihr Wohl glaubhaft berücksichtigen wollen. Die Erschaffung und vorgeplante Tötung von Nutztieren stellt daher keine glaubhafte Beförderung des Tierwohls dar.
55 Vgl. Bruijnis et al. (2013), S. 197.
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2.8 ETHISCHE PROBLEME DES TÖTENS UNABHÄNGIG VON WOHL Die Berührungspunkte zwischen Tötungsakten und dem Wohl des betroffenen Individuums sind offensichtlich vielfältig, selbst dann wenn eine wirklich psychisch wie physisch leidfreie Tötung gelingen würde. Die Praktik der Nutztierhaltung, welche die Tötung von Tieren essentiell beinhaltet, steht damit vor einem grundsätzlichen Problem hinsichtlich der Berücksichtigung des Tierwohls. Abschließend sollte jedoch auch in den Blick genommen werden, ob die ethische Zulässigkeit von Tötungsakten allein durch Bezüge auf das Wohl des betroffenen Individuums befriedigend geklärt werden kann. Neben Argumenten, die die Lebensqualität des Individuums ins Zentrum stellen, finden sich innerhalb der philosophischen Literatur ebenfalls Stimmen, die den moralischen Charakter der Akteure ins Licht rücken, welche die Tötung von Individuen durchführen, in Auftrag geben, oder diesen Vorgang gleichmütig geschehen lassen. Bradley etwa verweist darauf, dass wir intuitiv Tötungsakte nicht nur danach bewerten, welche Auswirkung sie auf das Wohl des Opfers haben, sondern auch danach, aus welchen Motiven sie durchgeführt werden. Als Beispiel nennt Bradley den fiktiven Erbschleicher Max, der seinen schwerkranken Onkel leidfrei ermordet, um an dessen Geld zu gelangen. Aufgrund seiner schweren Krankheit verliert der Onkel in diesem Fall keine lebenswerte Zukunft, vielmehr wird ihm Leid erspart. Dennoch, so Bradley, sträuben wir uns, Max’ Tötungsakt als moralisch neutral oder lobenswert anzusehen, selbst wenn wir akzeptieren, dass dies für den Onkel von Vorteil war. 56 Ähnlich äußert auch Comstock, dass uns der Umstand, dass ein Lebewesen durch seine Tötung wenig verliert, keinen automatischen Freifahrtschein erteilt, seinen Tod herbeizuführen. 57 Auch McMahan, auf dessen Vorarbeit sich Comstock u.a. bezieht, argumentiert, dass eine Tötung, die keine wesentliche Schädigung bedeutet, zunächst einmal nur leichter gerechtfertigt werden kann, dennoch aber eine Rechtfertigung erfordert. 58 Diese Stoßrichtung ist attraktiv, da sie bestimmte Intuitionen einzufangen vermag, etwa die Ablehnung von Max’ Verhalten in Bradleys Beispiel. Dies wirft jedoch die Frage auf, was genau an »nicht-schädlichen« Tötungsakten moralisch verwerflich sein soll bzw. was genau den Charakter eines Moralakteurs tadelnswert macht, der solche Tötungsakte begeht, einfordert oder toleriert. In Bradleys Erbschleicherbeispiel scheint es der Umstand zu sein, dass Max sich um das Wohl
56 Vgl. Bradley (2009), S. 67-68. 57 Vgl. Comstock (2004), S. 365. 58 Vgl. McMahan (2002), S. 189-203, 234-249.
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seines Onkels nicht schert, sondern dessen Gesundheitszustand als Vorwand nimmt. Insofern spielt das Wohl des Onkels eine Rolle, nur misst Max diesem Wohl und vor allem dem Individuum dahinter, nicht die angemessene Bedeutung bei. In Bezug auf die Tötung von Tieren lässt sich argumentieren, dass auch hier den Individuen und ihrem Wohl nicht die angemessene Beachtung geschenkt wird. Tiere werden hierbei wiederholt und in enormer Zahl zur Existenz gebracht, nur um von uns genutzt und anschließend getötet zu werden. Selbst wenn die betroffenen Tiere hierbei nicht durch ihre Tötung geschädigt würden, erregt es den Verdacht von Egozentrismus, wenn wir Tiere als derart nutzbar und austauschbar behandeln. Doch es bleibt hierbei unklar, was genau Tieren oder anderen Lebewesen einen ethischen Wert verleiht, der angemessen zu würdigen ist, wenn nicht ihre Fähigkeit, das eigene Leben als positiv und negativ auffassen zu können und eine Zukunft zu haben, die für sie Wert ist, gelebt zu werden. Schließlich züchten und konsumieren wir auch Gemüse. Und die augenscheinliche Rechtfertigung hierfür scheint gerade zu sein, dass es Pflanzen nichts ausmachen kann, auf hohen Ertrag gezüchtet, in großer Zahl angebaut und weiterverarbeitet zu werden. Ich führe diese Überlegungen hier an, um zu verdeutlichen, dass die ethische Betrachtung des Tötens moralische Intuitionen berührt, die nicht vollständig vom Wohlbegriff abgedeckt werden. Diese Intuitionen bedürfen jedoch einer argumentativen Untermauerung, um vom Wohl unabhängige Überlegungen als ethisch relevant belegen zu können. Andernfalls könnten Skeptiker entgegenhalten, dass Aspekte, die nicht vom Wohlbegriff eingefangen werden, womöglich auch keine ethische Relevanz besitzen und uns nicht zu kümmern brauchen. Ich werde diesen Gedanken in III.5 vertiefen und verdeutlichen, dass sich unsere moralischen Handlungsgebote und -verbote nicht allein auf das Wohl von Individuen beziehen, sondern auch auf unsere Rolle als Moralakteure im Umgang mit anderen Individuen.
2.9 FAZIT ZUR VEREINBARKEIT VON TÖTUNG UND TIERWOHL Das Töten eines Tiers hat immer Einfluss auf dessen Wohl, selbst wenn dies auf »humane« Weise vollzogen wird. Es kann durchaus zugestanden werden, dass bestimmte Tötungsakte dem Wohl von Tieren förderlich sein können, jedoch nur, wenn das Leben dieses Tiers eben nicht (mehr) lebenswert ist. Dies gibt uns aber keine automatische Berechtigung, fortlaufend Tiere zu erschaffen, deren Leben voraussehbar ab einem bestimmten Zeitpunkt von Leid geprägt sein wird. Vor allem gibt es uns keine Berechtigung, selbst die Lebensumstände herbeizuführen unter denen Tiere leiden würden, wenn wir sie nicht vorzeitig töten. Diese Kritik trifft die Praktik der Nutztierhaltung im Kern. Ebenso zeigt sich, dass das Tierwohl
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als ethischer Faktor nicht isoliert betrachtet werden sollte, sondern seine Relevanz überhaupt erst im größeren Kontext unseres Umgangs mit Tieren zutage tritt und begreifbar wird. Die Nutztierhaltung steht bereits aufgrund der Tatsache, dass sie die Tötung von Tieren immer anstrebt, oder zumindest im Zusammenhang mit ökonomischen Zwängen mit einschließt, grundsätzlich im Konflikt mit dem Schutz des Tierwohls. Sie ist daher von Grund auf moralisch kritikwürdig. Verteidiger einer Fortführung der Nutztierhaltung können allenfalls versuchen, ausreichend gewichtige Gründe anzuführen, warum das Tierwohl zugunsten der menschlichen Interessen, die hierbei im Spiel sind, in dieser Form eingeschränkt werden darf. Bevor ich diesen Legitimierungsversuch der Nutztierhaltung in III.4 diskutiere, und letztendlich zurückweise, werde ich im nächsten Kapitel zunächst beleuchten, inwieweit die körperliche Anpassung von Nutztieren an menschliche Zwecke ein grundlegendes ethisches Problem für die Praxis der Nutztierhaltung darstellt.
3
Körperliche Eingriffe ohne Leid
3.1 IST LEIDFREIES KÖRPERLICHES ANPASSEN EIN WOHLNEUTRALER AKT? Die Möglichkeiten, Tiere körperlich zu manipulieren, sind vielfältig, ebenso die Absichten, die hiermit verfolgt werden. Ich unterscheide hierbei drei Grundmotive (die sich in Einzelfällen überschneiden können). Körperliche Eingriffe können erstens dazu dienen, Verletzungsgefahren zu verringern. Dies betrifft einerseits Verletzungen der Tiere untereinander (hierauf zielen v.a. Amputationen von Schweineschwänzen und das Kürzen von Hühnerschnäbeln ab) sowie andererseits Risiken für Menschen bei der Arbeit mit Nutztieren (etwa durch das Amputieren der Hörner bei Kühen). Zweitens können körperliche Eingriffe dazu dienen, die Anforderungen, die ein Tier für sein Wohl benötigt, zu senken. Wie ich unter II.1.5 diskutiert habe, ist es menschlichen Haltern möglich, die faktische subjektive Lebenszufriedenheit von Tieren zu beeinflussen. Ich habe mich dabei auf gezielte Indoktrination und Täuschung konzentriert. Solche Manipulationen dienen dazu, Reibungspunkte zwischen dem, was ein Individuum für sein Wohl benötigt, und seinen konkret vorliegenden Lebensbedingungen vor dem betroffenen Individuum selbst zu verbergen. Sie beeinflussen, über welche Informationen ein Tier verfügt und wie es diese subjektiv einordnet. Durch Veränderungen des Körpers, die in diesem Kapitel im Fokus stehen, ist es möglich zu beeinflussen, welche Haltungsbedingungen sich negativ und positiv auf das individuelle Wohl überhaupt auswirken können. Dabei werden Konfliktpunkte zwischen objektiver Lebenssituation und subjektiver Einschätzung offenbar nicht mehr verschleiert, sondern »aus der Welt geschafft«, so dass es nichts mehr zu verschleiern gibt. Drittens können körperliche Eingriffe dazu dienen, Tiere so zu verändern, dass sie Eigenschaften entwickeln, die menschlichen Konsuminteressen entgegenkommen. So wurde bereits versucht, Schweine genetisch so zu verändern, dass ihr
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Fleisch mehr Omega-3-Fettsäuren enthält und dadurch für den menschlichen Verzehr besser geeignet ist. 1 Gemäß der von mir vorgeschlagenen Konzeption des Tierwohls müssen Einflussnahmen auf die Körper von Tieren folgende Kriterien erfüllen, um das Tierwohl nicht zu beeinträchtigen: 1. Sie dürfen keine negativen Empfindungen auslösen wie Schmerz, Stress, Lan-
geweile, Angst, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit, etc. 2. Ebenfalls dürfen sie ein Tier keiner positiven Erfahrungen berauben bzw. ihm gegenwärtige oder künftige positive Erfahrungen vorenthalten. 3. Negative Empfindungen müssen auf eine Weise vermieden und positive Erfahrungen zugänglich gemacht werden, die dem Individuum die Möglichkeit lässt, seine Umwelt in authentischer Weise wahrzunehmen und zu bewerten. Dabei klammere ich vorerst aus, ob ein Tier trotz körperlicher Eingriffe insgesamt betrachtet noch immer ein überwiegend positiv geprägtes Wohl haben kann. Es geht mir zunächst nur um die grundlegende Klärung, inwieweit körperliche Eingriffe grundsätzlich mit der Berücksichtigung des Tierwohls in Konflikt stehen. Mit der Frage, ob wir bestimmte graduelle Beeinträchtigungen rechtfertigen können, solange der Wohlzustand des betroffenen Tiers insgesamt »ausreichend« positiv bleibt, setze ich mich in III.4 auseinander. Unabhängig von der Frage, ob wir bestimmte Beeinträchtigungen rechtfertigen können, geht es zuerst darum, festzuhalten, inwieweit leidfreie körperliche Eingriffe eine Rechtfertigung erfordern. Ebenso werde ich in diesem Kapitel auch Eingriffe behandeln, die man als »absorbierte« Übel versuchen könnte zu rechtfertigen. Gemeint sind Eingriffe, die zwar Leid erzeugen bzw. positive Eindrücke blockieren, jedoch in einem geringeren Ausmaß, als wenn diese Eingriffe nicht vorgenommen worden wären (bspw. das Schnäbelkürzen bei Hühnern zur Verringerung gegenseitiger Verletzungen). Ich werde dabei herausarbeiten, welche Bedingungen körperliche Eingriffe erfüllen müssen, um auf diese Weise als tierwohlförderlich ausgewiesen werden zu können und urteilen, dass gängige körperliche Eingriffe innerhalb der Nutztierhaltung diese Hürde nicht nehmen können. Besondere Aufmerksamkeit widme ich in diesem Kapitel zudem der Gentechnik, da sie neue Möglichkeiten der Einflussnahme eröffnet. Sie kann zum einen körperliche Eigenschaften gezielter und vielfältiger beeinflussen als die traditionelle selektive Züchtung. Zum anderen könnte sie eine Reihe besonders kontroverser Amputationen bei Tieren überflüssig machen, indem man dafür sorgt, dass diese Tiere bereits fertig angepasst auf die Welt kommen: Kühe ohne Hörner, Schweine
1
Vgl. Lai et al. (2006), S. 435-436.
Körperliche Eingriffe ohne Leid | 265
ohne Ringelschwänze, Hühner mit stumpferen Schnäbeln. Dies wirft aus philosophischer Sicht die Frage auf, ob ein Akt, der einem Tier körperliche Merkmale und Fähigkeiten nimmt, genauso zu bewerten ist wie ein Akt, der dafür sorgt, dass ein Tier diese Merkmale und Fähigkeiten niemals entwickelt. Es ist daher sinnvoll zu trennen zwischen der körperlichen Beeinflussung bereits existierender Tiere einerseits und zukünftiger Tiere andererseits, deren Beeinflussung mit ihrer Erschaffung einhergeht. Die körperliche Einflussnahme auf die Beschaffenheit von Tieren eröffnet zugleich die Beeinflussung psychologischer Merkmale und Fähigkeiten und zwar insofern, als dass auch diese biologisch beeinflusst sind: anhand der Gehirnentwicklung, der Funktionsweise der Synapsen, dem Ausschütten von Hormonen etc. Es ist somit gentechnisch möglich, auch mentale Zustände von Tieren zu beeinflussen. Die Möglichkeiten der körperlichen Anpassung von Tieren sind somit vielfältig und es ist mir im Rahmen dieses Buchs nicht möglich, sie alle ausführlich zu behandeln. Ich beschränke mich daher auf einige illustrative Beispiele. Bei allen Eigenheiten, die unterschiedliche Eingriffe an Tieren enthalten mögen, bin ich dennoch zuversichtlich, dass jede körperliche Einflussnahme auf Tiere mindestens einen der von mir im Folgenden kritisch diskutierten Aspekte berührt.
3.2 EINGRIFFE AN BEREITS EXISTIERENDEN TIEREN 3.2.1 Amputationen Ich widme mich zunächst den oben erwähnten Amputationen, die an Tieren vorgenommen werden, um Leid zu verhindern – bei ihnen selbst, ihren Artgenossen und den Menschen, die mit ihnen arbeiten. Bereits der Brambell Report besagt, dass solche Eingriffe in die körperliche Verfasstheit von Tieren ihr Wohl beeinträchtigen, jedoch als »kleineres Übel« geboten scheinen, um schmerzhaftere Verletzungen zu vermeiden. Brambell stützt seine Ablehnung explizit darauf, dass diese Amputationen leidvoll seien. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass innovative Methoden entwickelt werden, die deutlich weniger Schmerzen und Stress beim Amputieren verursachen, als heute noch der Fall ist. Auch leidfreie Amputationen können aber immer noch ein Übel darstellen, sofern sie ein Tier darin beschränken, positive Erfahrungen zu machen. Es ist aber nicht bei allen Amputationen ersichtlich, warum ihre leidfreie Durchführung einem Tier positive Erfahrungen vorenthalten sollte. Für das Amputieren eines Beins trifft dies klarerweise zu, denn ein Tier wird so gehindert, zu rennen, zu spielen, oder anderen bereichernden Tätigkeiten nachzugehen. Warum aber sollte bspw. die Fähigkeit einer Kuh, sozial zu interagie-
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ren oder anderen Aktivitäten nachzugehen, durch das Fehlen von Hörnern eingeschränkt sein? Dennoch bleibt m.E. ein Rest an intuitiver Ablehnung gegenüber solchen Eingriffen bestehen. Ist es wirklich völlig irrelevant Tieren ihre Schwänze abzuschneiden, Schnäbel mit Infrarot-Lasern zu beschießen, oder Hörner abzusägen, sofern dies leidfrei geschieht und das Tier durch die fehlenden Körperpartien nicht in seinen Verhaltensweisen eingeschränkt oder anderweitig positiver Erfahrungen beraubt wird? Tatsächlich scheint es schwierig, Eingriffe, die die obigen Bedingungen erfüllen, als Beeinträchtigung des Tierwohls zu behaupten, selbst hinsichtlich der Wahrung von Authentizität. Weder wird ein Tier bei Amputation getäuscht, noch lässt sich belastbar argumentieren, dass ihm Wertmaßstäbe vorgegeben werden oder ihm die Möglichkeit genommen wird, eigene Lebenspläne zu verfolgen. Möglicherweise lehnen manche Menschen Amputationen bei Tieren aus ästhetischen Gründen ab, weil sie das Abtrennen von Hörnern und das Durchtrennen von Körpergewebe als brutalen Akt auffassen, der gesondert zu rechtfertigen ist. Medizinisch dringende Amputationen lassen sich bspw. rechtfertigen, weil sie für das Überleben des Tiers notwendig sind. Hierbei wird die ästhetische Ablehnung des Amputationsaktes durch den Schutz des Tierlebens und damit auch seines Wohls überwogen. Ästhetische Urteile besitzen aber keine moralische Verbindlichkeit. Das Ablehnen von Amputationen würde dabei zu einer Geschmacksfrage erklärt. Demgegenüber betonen einige Menschen, dass es generell einer ausreichenden Rechtfertigung bedarf, in den physischen Zustand eines Tiers einzugreifen. In aktuellen ethischen Debatten kommt hierbei dem Begriff der »körperlichen Integrität« des Tiers besondere Aufmerksamkeit zu. Dieser wird verstanden als körperlicher Zustand eines Tiers, der in bestimmter Hinsicht als schützenswert oder berücksichtigungswürdig angenommen wird. Dabei konzentrieren sich Vertreter dieses Begriffs vornehmlich auf menschliche Eingriffe in diese Integrität und nicht etwa auf Verstümmelungen, die durch andere Tiere, herabfallende Felsen, o.Ä. bewirkt werden. 2 Sofern sich diese Tierintegrität als eigenständiger moralischer Faktor verteidigen lässt, hätten wir eine Unterfütterung der aversiven Intuition gegenüber Amputationen bei Tieren, selbst wenn sie Leid vermeiden, positive Erfahrungen nicht einschränken und Authentizität bewahren. Hierbei aber handelt es sich um einen neuen Faktor, der explizit vom Tierwohl unabhängig wäre. Solche wohlunabhängigen Kategorien scheinen den eigentlichen Rahmen meiner Untersuchung zu verlassen, die die Vereinbarkeit von Tierwohl und Nutztierhaltung behandelt. Aus zwei Gründen empfiehlt sich dennoch eine
2
Vgl. Bovenkerk et al. (2002), S. 16-22; Schmidt (2008), Kap. 4; Gavrell Ortiz (2004), S. 94-120.
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kurze Auseinandersetzung mit dem Begriff der Tierintegrität. Zum einen zielt meine Untersuchung auch auf ein grundlegendes Verständnis des Tierwohlbegriffs und seiner Bedeutung für tierethische Fragen ab. Daher ist es auch relevant, wo mögliche Grenzen des Tierwohlbegriffs liegen, und einen Blick über sie hinaus zu werfen. Zum anderen untersuche ich auch die Legitimität der Fortführung der Nutztierhaltung. Somit ist es von Belang, deutlich zu machen, dass die Nutztierhaltung, selbst wenn es gelingen sollte, das Tierwohl angemessen zu berücksichtigen, noch vor weiteren Rechtfertigungsproblemen stehen kann. Darüber hinaus werde ich argumentieren, dass in den gegenwärtigen Debatten zur Tierintegrität Überlegungen hervortreten, die auch für unser Verständnis des Tierwohls aufschlussreich sind. 3.2.2 Tierintegrität Der Begriff der Integrität ist notorisch schillernd und es herrscht unter seinen Anhängern große Uneinigkeit darüber, wie er am widerspruchfreiesten zu fassen ist. Rutgers versucht dem Begriff der Integrität nicht nur normative Geltung zuzusprechen, sondern bereits die inhaltliche Bestimmung der Integrität normativ herzuleiten. Eine Verletzung der Tierintegrität liegt für Rutgers nämlich nicht automatisch vor, sobald wir in den körperlichen Aufbau eines Tiers eingreifen, sondern nur dann, wenn dieser Eingriff moralisch verwerflich ist. So sei das Amputieren des Schwanzes bei einem Hund dann eine solche Verletzung, wenn dies aus ästhetischen Gründen geschieht. Eine Amputation aus dringenden medizinischen Gründen sei dagegen nicht etwa eine Verletzung, die durch die Absicht überwogen wird, das Leben des Hundes zu retten, und damit gerechtfertigt ist. Sie stellt für Rutgers überhaupt keine Verletzung der Integrität dar. Es gibt in seiner Argumentation keine gerechtfertigten Integritätsverletzungen. 3 Dabei bleibt jedoch ungeklärt, was genau einen körperlichen Eingriff in manchen Fällen moralisch verwerflich macht und in anderen nicht. Und wenn sich hierfür klare Kriterien benennen lassen, wozu wäre dann der Begriff der Integrität noch extra nötig? Der Begriff selbst trüge so nichts Eigenes zur Klärung moralischer Fragen bei, sondern bliebe einzig ein plakativer Sammelbegriff für bestimmte Moralurteile. 4 Zudem ist die Betonung der körperlichen Integrität irreführend, da es für Rutgers nicht um die Unangetastetheit der körperlichen Verfassung des Tiers geht, sondern um die Intention mit der eingegriffen wird. 5
3
Ich stütze mich hierbei auf die Darstellung von Rutgers Ansatz in Bovenkerk et al.
4
Eine ähnliche Kritik übt etwa Hoerster am Würde-Begriff (vgl. Hoerster [2002], S. 18).
5
Vgl. Bovenkerk et al. (2002), S. 17-18.
(2002), S. 17-18.
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Kirsten Schmidt dagegen definiert Integrität generell als ein Intaktsein des Körpers. Integrität beschreibe »Unversehrtheit und harmonisches Zusammenwirken der einzelnen Komponenten eines Organismus«. 6 Demnach stellt Integrität ein deskriptives biologisch-objektives Kriterium dar. Um zu erkennen, ob die körperliche Integrität eines Tiers verletzt wurde, müssen wir untersuchen, ob in seinen körperlichen Aufbau eingegriffen wurde. 7 In einem nächsten Schritt bleibt dann zu klären, ob dieser Eingriff moralisch gerechtfertigt war. Die Integrität selbst versteht Schmidt als eine Eigenschaft, die dem Tier selbst anhaftet und unabhängig von menschlichen Werturteilen ist. Dabei lässt Schmidt jedoch unbeleuchtet, wie viel moralisches Gewicht der körperlichen Intaktheit eines Lebewesens zukommt und damit, wie gewichtig eine Rechtfertigung für Integritätsverletzung sein muss. Ebenso bleibt offen, was der körperlichen Intaktheit überhaupt das moralische Gewicht verleiht, welches hierbei zu überwiegen wäre. Schmidt lässt die Tierintegrität als normativen Eigenwert ungestützt stehen und erweckt damit den Verdacht eines unterschwelligen Wertrealismus. Kompetente Moralakteure zeichneten sich also gewissermaßen dadurch aus, dass sie den normativen Wert von Integrität erkennen und in ihren Handlungen respektieren. Wie ich in II.2.4 argumentiert habe, sollten wir wertrealistischen Argumentationen gegenüber jedoch skeptisch sein. Als dritte und letzte Variante des Integritätsbegriffs ziehe ich die gemeinsame Position von Bovenkerk, Brom und van den Bergh heran. Ihr Ansatz weist zunächst Parallelen zu Rutgers auf. Jede Verletzung der Integrität sei illegitim bzw. sofern es gute Gründe für einen Eingriff gäbe, sei nicht mehr von einer Integritätsverletzung zu sprechen: »An animal’s integrity is violated when through human intervention it is no longer whole or intact, if its species-specific balance is changed, or if it no longer has the capacity to sustain itself in an environment suitable to its species. However, when the intervention is directed toward the animal’s own good, we do not speak of a violation of its integrity.« 8
Das Konzept der »species-specific balance« klammere ich in meiner Diskussion aus, da es m.E. für das Kernargument vernachlässigbar ist. 9 Bovenkerk et al. verdeutlichen dabei, dass körperliche Unversehrtheit keinen objektiven Wert besitzt, sondern erst dadurch zum moralisch relevanten Kriterium wird, dass moralfähige Akteure bewusst in die körperliche Verfassung eines Tiers eingreifen. Es geht nicht um den körperlichen Zustand des Tiers selbst, sondern um unsere Rolle als han-
6
Schmidt (2008), S. 216.
7
Vgl. ebd., S. 228.
8
Bovenkerk et al. (2002), S. 21.
9
Dieses Konzept wird u.a. näher diskutiert in Rutgers/Heeger (1999), S. 41-51.
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delnde Moralakteure, die sich u.a. darin ausdrückt, mit welcher Selbstverständlichkeit und welchen Absichten wir bestimmen, wie ein Tier körperlich beschaffen sein soll, welche Verhaltensweisen es ausüben kann, und wie abhängig es von äußerer Unterstützung in seiner täglichen Lebensbewältigung ist. 10 Integrität sei (ebenso wie Wohl) kein rein empirisches, sondern ein wertbeladenes Kriterium. 11 Hierin besteht eine harte Abgrenzung zu Schmidt, die Integrität allein am objektiven Zustand des betroffenen Tiers selbst festmacht. Dem entgegen argumentieren Bovenkerk et al., dass wir mit dem Begriff Integrität unsere Ansichten darüber zum Ausdruck bringen, wie ein Tier beschaffen sein sollte und was wir als schützenswert betrachten. 12 Erneut finden sich hierbei Verweise auf speziestypische Eigenschaften, ohne dass die Autoren dabei klären, inwiefern es relevant sein sollte, was für eine bestimmte Gattung an körperlichen Merkmalen typisch ist. Sie betonen lediglich, dass der Umstand, dass wir ein Tier gezielt so erschaffen, dass es sich von typischen Gattungsvertretern unterscheidet, intuitiv nach einer Erklärung für unser Verhalten verlangt. Es ist m.E. naheliegend, die Ablehnung gegenüber der Veränderung speziestypischer Merkmale so zu interpretieren, dass wir fragen sollten, was uns denn motiviert, typische Merkmale eines Tiers zu verändern. Dabei antizipieren wir, dass die Motive, die hierbei im Spiel sind, in bestimmter Weise moralisch diskreditiert sein können. Diese Diskreditierung müsste jedoch in einem weiteren Schritt erläutert werden. Ich unternehme diesen Versuch in III.5 An dieser Stelle möchte ich lediglich aufzeigen, dass sich hier eine Argumentationsstrategie ergibt, die unsere Handlungsmotive stärker in den Vordergrund rückt, was die Tierwohldebatte um wichtige Akzente bereichert. Bovenkerk et al. attestieren dem Integritätsbegriff letztendlich selbst Unschärfe. Sie sehen darin jedoch keinen schlagenden Einwand gegen seine Verwendung. Vielmehr sei es eine Aufgabe für die Zukunft, uns intersubjektiv darüber auszutauschen und zu verständigen, nach welchen Kriterien wir Handlungen gegenüber Tieren als Integritätsverletzungen – und damit als moralisch problematische Handlungen – einstufen sollten. Dabei diene »Integrität« ausschließlich als Vehikel, um moralische Überzeugungen zu transportieren und Kriterien für einen ethisch gerechtfertigten Umgang mit Tieren schrittweise zu erschließen. Selbst ohne einen breiten gesellschaftlichen Konsens könne das Schlagwort »Integrität« zumindest zu einer übergreifenden gesellschaftlichen Reflexion über unseren Umgang mit Tieren anregen:
10 Vgl. Bovenkerk et al. (2002), S. 21. 11 Vgl. ebd., S. 18. 12 Vgl. ebd., S. 21.
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»And even if we could not reach this agreement, the notion of integrity still has an important function, namely to clarify the moral debate and criticize existing practices.« 13
Damit ist aber auch die Funktion des Identitätsbegriffs klarer umrissen: Er wird bei Bovenkerk et al. zu einem Schlagwort von politischer und gesellschaftlicher Tragweite, weniger zu einem genuin philosophischen Begriff. Dass durch solche Begriffe auch ethisch-philosophische Debatten vorangetrieben werden und profitieren können, ist damit nicht in Abrede gestellt. Tatsächlich sehe ich in der Zuhilfenahme solcher Begriffe Chancen, die Tierethik über den Begriff des Tierwohls hinaus weiter auszuleuchten. Darüber hinaus halte ich auch den Begriff des Tierwohls selbst letzten Endes nur für ein Vehikel, das moralische Überzeugungen zum ethisch vertretbaren Umgang mit Tieren klarer umreißen und einfangen helfen soll. 14 3.2.3 Erkenntnisse aus der Betrachtung des Integritätsbegriffs Die Argumentation von Bovenkerk et al. scheint mir, trotz aller Unbestimmtheit, hilfreich, da sie den Blick auf grundlegende moralische Fragen lenkt, die m.E. auch für unsere Motivation, das Tierwohl zu berücksichtigen, eine wichtige Rolle spielen. Wie die Autoren hervorheben, geht es ihnen nicht um die Bewertung der körperlichen Zustände an sich, sondern um eine Bewertung unserer Handlungen, die diese Zustände herbeiführen. Es geht hier nun nicht mehr darum zu urteilen, ob es gut für eine Kuh ist, Hörner zu besitzen (im prudentiellen, ästhetischen oder perfektionistischen Sinne), sondern, ob es (im moralischen Sinne) gut, schlecht oder wertneutral ist, dass wir durch unser Handeln einer Kuh ihre Hörner nehmen. Wir müssen uns fragen, warum wir ein Tier körperlich verändern wollen und in welchem Kontext wir diese Veränderung durchführen. So ist u.a. zu beachten, dass wir eher bereit sind, die Körper der Tiere, die wir vorfinden, für unsere Konsuminteressen zu verändern, als unsere Konsuminteressen abzuwandeln und mit Tieren in einer Weise umzugehen, die solche Eingriffe überhaupt nicht erforderlich macht. Die Kreativität und Energie, die Tierwohlwissenschaftler an den Tag legen, um solche körperlichen Eingriffe leidfrei zu gestalten, verdeutlichen diese Ungleichgewichtung. Denn wir müssen uns fragen, warum nicht mit vergleichbarer Kreativität und Energie alternative Wege der Nahrungsabdeckung etabliert werden und ein Ausstieg aus der Tiernutzung unternommen wird. 15
13 Ebd., S. 21. 14 Ich werde diesen Punkt in III.5.4.3. vertiefen. 15 Das mittlerweile in Deutschland eingeführte Verbot des Schnabelkürzens bei Hühnern zeigt, dass in gewissen Bereichen durchaus Bereitschaft besteht, verstärkt Methoden zu
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Hierbei handelt es sich um moralische Überlegungen, die vom Wohlzustand selbst unabhängig sind, aber für den Bereich der Tierethik dennoch von Belang. Um diesen tierwohlunabhängigen Teil zu erfassen, benötigen wir nicht zwingend den Begriff der Tierintegrität. Dieser Begriff kann aber, wie Bovenkerk et al. argumentieren, als Schlagwort dienen, um uns in der ethischen Reflexion unseres Umgangs mit Tieren voranzutasten. Inspirierend ist nach meiner Interpretation der Tierintegritätsdebatte, der Umstand, dass dort im Gegensatz zur Tierwohlforschung, die Rolle von Handlungsmotivationen eigenständige Aufmerksamkeit erfährt. Zwar besteht innerhalb der Debatte Uneinigkeit über die Relevanz von Motiven und Intentionen – Bovenkerk et al. weisen diesen eine besondere Bedeutung zu, K. Schmidt hingegen möchte sie heraushalten – aber zumindest werden sie als Diskussionsgegenstand verhandelt. Zugegebenermaßen bleibt bislang noch ungeklärt, warum wir uns daran stören sollten, Moralakteure zu sein, die eher Tiere an menschliche Zwecke anpassen als Tiere als Individuen zu betrachten, die unseren Zwecken Grenzen setzen. Ich werde in III.5 dieser, bisher noch recht vagen, Intuition weiter nachgehen. An dieser Stelle begnüge ich mich mit dem Verweis darauf, dass wir nicht nur darüber reflektieren können, welchen Einfluss unsere Handlungen auf das Wohl von Tieren haben, sondern auch, mit welchem Selbstverständnis wir Tieren gegenübertreten und sie behandeln. Wie ich im Folgenden argumentieren werde, sind solche Überlegungen insbesondere für die Beurteilung der Manipulation zukünftiger Tiere erhellend.
3.3 EINGRIFFE AN ZUKÜNFTIGEN TIEREN Philosophisch noch weitaus herausfordernder und komplexer ist die Bewertung körperlicher Einflussnahme auf Tiere, die mit deren Erschaffung bereits einhergeht. Hierzu zählt einerseits die traditionelle selektive Züchtung mit dem Versuch, ein Tier »gewünschte« Merkmale ausbilden zu lassen, indem Elterntiere ausgewählt werden, bei denen diese Merkmale bereits stark ausgeprägt sind. Andererseits ist die Veränderung des tierlichen Embryos anhand der modernen Gentechnologie zu betrachten. Letztere ermöglicht eine noch gezieltere Einflussnahme auf die körper-
suchen und zu entwickeln, die zumindest diese körperlichen Eingriffe überflüssig machen: durch mehr Platzangebot, Vermeidung von Stress, durch Spiel- und Beschäftigungsmöglichkeiten und die Möglichkeit, stabile Sozialgefüge zu bilden, und damit Kämpfen zwischen den Tieren vorzubeugen. Unklar ist jedoch, ob der Gesetzgeber die Intuition teilt, dass eher unser Umgang mit Tieren und eben nicht das Tier selbst modifiziert werden sollte, oder ob hintergründig doch daran gezweifelt wird, gänzlich leidfreie Schnabelkürzungen umsetzen zu können.
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liche Entwicklung eines Tiers. 16 Wie oben erwähnt, lassen sich so Tiere erschaffen, bei denen bspw. Amputationen überflüssig sind, da sie die entsprechenden Körperteile gar nicht erst ausbilden. Da zum Zeitpunkt dieser Einflussnahme bereits ein Embryo vorhanden ist, der nachträglich verändert wird, 17 lässt sich darüber streiten, ob es sich hierbei streng genommen um die Erschaffung eines angepassten Wesens handelt oder um die Anpassung eines bereits existierenden, aber noch nicht fertig entwickelten Wesens. Von dieser Deutung hängt u.a. ab, inwiefern gentechnische Eingriffe mit dem Tierwohl konfligieren. Dieser Klärung ist der nächste Abschnitt gewidmet. 3.3.1 Das Verhältnis zwischen Embryo und späterem Individuum Ein tierlicher Embryo und das spätere Tier unterscheiden sich so stark in ihrem Entwicklungsstadium und den damit einhergehenden physischen und psychologischen Merkmalen, dass wir nicht von ein und demselben Individuum sprechen können. Dennoch gibt es Philosophinnen und Philosophen, die eine enge Verbindung zwischen Tierembryo und späterem Tier annehmen. Schmidt bspw. schreibt dem Tierembryo ein Potenzial zu, zum späteren Tier zu werden. 18 Um zu klären, wie haltbar diese und ähnliche Positionen sind, kann auf die philosophische Literatur zum moralischen Status menschlicher Embryonen zurückgegriffen werden. Bei allen benennbaren Unterschieden zwischen Menschen und Tieren bleibt die hier entscheidende Kernfrage die gleiche: Besteht eine moralisch relevante Verbindung zwischen Embryo und späterem Individuum, die uns Grund gibt, Handlungen, die dem Embryo widerfahren, so zu bewerten, als widerführen sie dem späteren Individuum? Schmidt behauptet anhand ihres Potenzialitätsarguments somit nicht, dass Embryo und späteres Tier miteinander identisch seien, jedoch bestehe eine moralisch relevante Verbindungsbeziehung zwischen beiden, eben weil der Embryo das »Potenzial« besitzt, sich zum späteren Individuum zu entwickeln. Einerseits kann mit Potenzialität gemeint sein, dass im Embryo ein essentieller Teil des späteren Individuums bereits »schlummert«. Das würde bedeuten, dass das spätere Individuum in gewisser Hinsicht bereits doch teilweise schon existiert, sobald auch nur der Embryo vorhanden ist. Damit verläuft sich das Potenzialitätsargument jedoch insgeheim in ein Identitätsargument. 19 Zudem ist die Annahme, dass ein Individuum, mit all
16 Vgl. Ferrari (2012), S. 68. 17 Vgl. Schmidt (2008), S. 369. 18 Vgl. ebd., S. 352ff. 19 Für eine übersichtliche Darstellung und Kritik des Identitätsarguments siehe Stoecker (2003), S. 129-145.
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seinen psychologischen und physischen Merkmalen, die es einzigartig machen, bereits vor deren Ausprägung vorhanden sei, metaphysisch aufgeladen. Wenn zugegeben wird, dass diese Merkmale noch nicht ausgeprägt wurden, so bleibt unverständlich, inwiefern davon gesprochen werden kann, dass das spätere Individuum (oder ein essentieller Teil von ihm) bereits in Form des Embryos zugegen sei. Andererseits kann der Verweis auf die Potenzialität des Embryos auch als moralischer Appell an uns verstanden werden. Es könne uns, so die implizite Aussage, doch nicht einfach ungerührt lassen, dass der tierliche Embryo in der Lage ist, sich zu einem Lebewesen mit komplexen Fähigkeiten zu entwickeln. Und dass wir uns bei Genmanipulation bewusst dafür entscheiden, diese Entwicklung (zumindest in Teilen) zu blockieren. Schmidts Position ist der zweiten Variante zuzurechnen, da sie selbst betont, dass das Potenzial des Embryos noch nicht realisiert ist: »Der Embryo, aus dem durch einen genetischen Eingriff ein transgenes Tier TA entsteht, hätte sich zu einem nicht-transgenen Tier A entwickeln können […]« [Hervorhebung im Original] 20
Ebenso gibt Schmidt hierbei zu bedenken, dass es sich bei der Gentechnik um ein aktives Eingreifen handelt, nicht einfach nur um ein zufälliges Ereignis, mit dem wir uns als Moralakteure nicht weiter kritisch auseinanderzusetzen brauchen. Gleichwohl steht Schmidt vor denselben argumentativen Problemen, die alle Vertreter von Potenzialitätsargumenten zu bewältigen haben. Sie muss eine Begründung dafür liefern, warum nicht-realisierte Eigenschafen und Fähigkeiten überhaupt normatives Gewicht besitzen. Bettina Schöne-Seifert weist daraufhin, dass die genetische Veranlagung eines Embryos, sich zu einem empfindungsfähigen Lebewesen zu entwickeln, nicht begründen könne, dass beide Entitäten denselben moralischen Status besitzen. Wir schulden dem Embryo selbst nichts, da er keinen moralischen Status und kein eigenes Wohl im moralisch relevanten Sinne besitzt. Anders verhält es sich mit dem späteren Individuum. Insofern müssen wir beim Umgang mit dem Embryo berücksichtigen, wie sich unsere Eingriffe auf das Wohl des späteren Individuums auswirken werden. 21 Bei »Qualzuchten« bspw. ist es demnach nicht der Embryo, der unter der veränderten Genetik leidet, sondern das Tier, das sich aus ihm entwickeln wird. Solche Manipulationen verstoßen klarerweise gegen das Tierwohl, da sie Leid erzeugen. Ebenso kann einem Tier infolge seiner genetischen Manipulation der Zugang zu bereichernden Lebenserfahrungen erschwert oder völlig versperrt werden, so dass sein Leben von negativen Empfin-
20 Schmidt (2008), S. 369. »A« steht hierbei für »animal« und »TA« für »tansgenic animal«, also einem genmanipuliertem Tier. 21 Vgl. Schöne-Seifert (2003), insb. S. 181-182.
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dungen dominiert sein wird. In beiden Fällen stützt sich die Kritik an solchen Züchtungen eben nicht darauf, dass wir uns am Embryo in bestimmter Weise »vergreifen«, sondern, dass wir ein Tier entstehen lassen, das später ein von Leid geprägtes Leben haben wird. Es ist jedoch schwieriger zu kritisieren, einen Embryo so zu verändern, dass dem späteren Tier bestimmte positive Erfahrungen zwar unzugänglich bleiben, es aber immer noch ein insgesamt positiv geprägtes Leben führen wird. Hier kann nicht glaubhaft eingewandt werden, dass dem betreffenden Individuum etwas an positiver Lebensqualität »geraubt« wird – anders als Schmidt offenbar annimmt. 22 Um von einer Beraubung sprechen zu können, muss eine Identitätsbeziehung aufgezeigt werden zwischen dem Individuum, dem diese positiven Erfahrungen versagt bleiben, und dem Individuum, das ohne unser Eingreifen diese positiven Erfahrungen erlebt hätte. Dies sorgt u.a. dafür, dass einem Tier durch seine vorzeitige Tötung Lebenszeit und Lebensqualität »geraubt« werden können (siehe III.2). Eine solche Identitätsbeziehung ist bspw. vorhanden zwischen einem ausgewachsenen Schwein zum Zeitpunkt t1 (einen Tag vor seiner geplanten Schlachtung) und t2 (drei Monate später, sofern die geplante Schlachtung nicht ausgeführt wird). Zwischen t1 und t2 scheint ein Schwein einfach keine markanten Veränderungen zu durchlaufen, so dass die positiven Erfahrungen, die das »Schwein-t2 « erfahren hätte, auch als Güter von »Schwein-t1« zu bewerten sind. Anders verhält es sich jedoch mit einem Schwein im embryonalen und im erwachsenen Stadium. Die positiven Erfahrungen, die ein erwachsenes Schwein ohne Geneingriff hätte erleben können, lassen sich nicht mit vergleichbarer Plausibilität als Verlust des Schweinembryos bewerten. Wichtiger noch: Es lässt sich nicht mit vergleichbarer Plausibilität eine Identitätsbeziehung behaupten zwischen dem erwachsenen Schwein, das aus dem veränderten Embryo entsteht und dem erwachsenen Schwein, das aus diesem Embryo entstanden wäre, wenn keine genetische Veränderung vorgenommen worden wäre. Es handelt sich bei beiden Schweinen um unterschiedliche Individuen. Das reichhaltige Leben, das dem erwachsenen Schwein offen steht, welches sich aus dem nicht-veränderten Embryo entwickelt (bei Schmidt »A« für »animal«), ist nicht das Leben des erwachsenen Schweins, welches sich aus dem veränderten Embryo entwickelt (bei Schmidt »TA« für transgenic animal). Durch unseren genetischen Eingriff sorgen wir nicht dafür, dass Schwein-TA positive Erfahrungen vorenthalten werden. Wir sorgen dafür, dass Schwein-A, welches diese positiven Erfahrungen erlebt hätte, gar nicht zur Existenz kommt, sondern Schwein-TA an seiner statt. Auch wenn sich beide in vielen physischen und psychischen Eigenschaften stark geähnelt hätten, handelt es sich um keine Deprivation positiver Erfahrungen. Es handelt sich hierbei um eine Variante von Parfits Problem der Nicht-
22 Vgl. Schmidt (2008), S. 367.
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Identität. 23 Sofern wir also bei der Genveränderung vermeiden, dass dem späteren Tier so viele positive Erfahrungen versagt bleiben, dass sein Leben von leidvollen Erfahrungen dominiert wird, scheinen wir nichts moralisch Verwerfliches zu tun. 24 Aber selbst wenn wir den Grad an Lebensqualität von Schwein-TA und Schwein-A nicht direkt miteinander in Verbindung setzen können, so können wir, wie die Diskussion des Integritätsbegriffs bereits illustriert hat, auf anderem Weg ethische Kritik üben. Denn wir können immer noch hinterfragen, was es über uns als handelnde Moralakteure aussagt, bewusst ein Tier mit niedrigerer Lebensqualität zu erschaffen (Schwein-TA) anstelle eines anderen Tiers, das mehr Lebensqualität genossen hätte (Schwein-A). In dieser Hinsicht können Geneingriffe auch dann moralisch kritikwürdig sein, wenn sie einem Tier weder etwas »rauben«, noch in anderer Hinsicht sein Wohl beeinträchtigen. Ich halte daher Schöne-Seiferts folgende Anmerkung für zutreffend: »Unter der Bedingung des Geborenwerdens also muß bereits jede vorgeburtliche Entwicklungsstufe in den Grenzen des Möglichen und des Zumutbaren so behandelt werden, daß ihr Potential, ein langes, gesundes, erfülltes Leben zu führen, nicht beeinträchtigt wird.« [Hervorhebung im Original] 25
Dieses Potenzial des Embryos zählt dabei nicht deshalb, so meine Interpretation, weil Potenzial einen Eigenwert besitzt und zu schützen ist, oder weil dem noch nicht (vollständig) ausgebildeten Individuum etwas geraubt würde, wenn wir den zuvor existierenden Embryo verändern. Vielmehr gibt unsere Bereitschaft, diese Veränderung vorzunehmen, Hinweis auf mögliche moralisch defizitäre Motive und Einstellungen, denen kritisch nachzugehen ist. Ich werde diese Überlegung im Folgenden näher erörtern, indem ich mich kritisch mit Positionen auseinandersetze, die eine prinzipielle Zulässigkeit von körperlichen Manipulationen am Tier entweder verteidigen oder bestreiten. Ich beschränke mich dabei auf einige wenige, aber m.E. illustrative, Argumentationslinien. Eine ausführliche Beleuchtung der argumentativen Landschaft zum Thema Züchtung und Gentechnik bei Tieren müsste Gegenstand einer eigenen wissenschaftlichen Ausarbeitung mit entsprechendem Schwerpunkt sein. Ich bin jedoch zuversichtlich, hiermit bereits einen Orientierungsrahmen geben zu können, der durch weiterführende Arbeiten ergänzt werden kann.
23 Vgl. Parfit (1984), Ch. 16. Die Bedeutung des Problems der Nicht-Identität für die Kritik genetischer Veränderungen von Tieren betont insb. Palmer (vgl. Palmer [2011a], S. 45). 24 Hilfreiche Hinweise zu dieser Komplikation finden sich u.a. bei McMahan (2002), S. 3966 sowie bei Streiffer/Basl (2011), S. 832ff. 25 Schöne-Seifert (2003), S. 181.
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3.3.2 Cochrane und das Interesse, nicht manipuliert worden zu sein Auch Cochrane betont, dass im Falle von Züchtungen und Genveränderungen am Embryo das spätere Tier, um dessen Wohl es geht, noch nicht vorhanden ist. Bei Genveränderungen ist zwar ein Embryo existent, dieser habe jedoch selbst keine eigenständigen Interessen. Gemeint ist damit nicht nur, dass ein Embryo über keine bewussten subjektiven Interessen wie Wünsche, Pläne, Bestrebungen oder Bedürfnisse verfügt, sondern auch, dass nichts im Interesse dieses Embryos sein kann. Ein Embryo verfügt nicht über die Voraussetzungen für den Besitz eines subjektiven Wohls. 26 Wenn man sinnvoll davon sprechen könnte, dass etwas gut oder schlecht für den Embryo ist, dann lediglich im gleichen Sinne, wie es gut für eine Pflanze ist, ausreichend gegossen zu werden und schlecht, zu viel gegossen zu werden. Dies aber stellt, wie zuvor argumentiert, keine Wohlaussage im moralisch relevanten Sinne dar. Zum Zeitpunkt von Züchtung und Genveränderung ist kein Individuum zugegen, für das es im moralisch relevanten Sinne gut oder schlecht wäre, auf eine bestimmte Weise erschaffen zu werden. Es kann daher laut Cochrane für das gezüchtete oder genmanipulierte spätere Tier höchstens ein Interesse geben, rückblickend betrachtet nicht auf diese Weise gezüchtet oder genmanipuliert worden zu sein. 27 So ein Interesse besteht bspw. wenn das Tier aufgrund von Genmanipulation chronisch leidet. Tieren könne jedoch kein prinzipielles Interesse daran zugesprochen werden, per se nicht körperlich beeinflusst worden zu sein. Zum einen, da eine solche Beeinflussung der Lebensqualität des Tiers zugutekommen kann, bspw. wenn das Tier als deren Folge resistenter gegen Krankheiten ist. 28 Zum anderen, so betont Cochrane, fehle Tieren als Nicht-Personen die Fähigkeit zur Autonomie, verstanden als: »the ability to frame, revise, and pursue their own conception of the good«. 29 Dagegen wird die Beeinflussung der körperlichen Beschaffenheit einer Person als Einflussnahme auf deren Lebensverlauf interpretiert. Hierdurch werde vorherbestimmt, wie das Leben dieses Individuums verlaufen wird, und somit über den Kopf der Person hinweg entschieden. Dabei muss nicht geleugnet werden, dass die Genetik nur einen Einflussfaktor auf den Verlauf eines Lebens bildet neben sozialen Interaktionen und Umweltereignissen. Doch die Genetik nimmt bspw. auch Einfluss darauf, zu welchen sozialen Interaktionen ein Lebewesen fähig ist, und welche Umweltereignisse sein Überleben ernstlich gefährden. Eine solche Einflussnahme
26 Vgl. Cochrane (2012), S. 34ff. 27 Vgl. ebd., S. 104. 28 Vgl. ebd., S. 106. 29 Ebd., S. 11.
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stellt Cochranes Argumentationslinie nach eine Beschränkung der Fähigkeit der Person dar, den Verlauf des eigenen Lebens selbst zu bestimmen. 30 Tiere als NichtPersonen hingegen, besäßen lediglich die Fähigkeit, ihr Leben zu leben und als angenehm oder unangenehm zu empfinden. Es sei ihnen jedoch nicht möglich, auf übergeordneter Ebene darüber zu reflektieren, wie ihr Leben beschaffen ist, was sie sich vom Leben erhoffen, und welche Art von Leben sie am liebsten führen würden. Cochrane folgert daher: »Lacking autonomous agency, sentient animals are not necessarily harmed when they are interfered with, used for particular purposes, or even have their desires shaped and molded by others.« 31
Dementsprechend können wir einem Tier laut Cochrane nur dann ein Interesse daran zuschreiben, nicht körperlich beeinflusst worden zu sein, wenn diese Beeinflussung mindestens eins der folgenden Kriterien erfüllt. Erstens, wenn ein Tier aufgrund vorheriger embryonaler Manipulation bestimmten Leiden ausgesetzt ist. 32 Dies gilt etwa für »Qualzuchten«, oder für Tiere, die so erschaffen wurden, dass sie zwar über speziestypische Verhaltensbedürfnisse verfügen, aber unfähig sind, sie auszuleben. Man denke an Truthähne, die aufgrund ihrer angezüchteten Gewichtszunahme so korpulent werden, dass es ihnen unmöglich ist, sich zu paaren und damit ihren Sexualtrieb auszuleben. Zweitens dürfen dem erschaffenen Tier aufgrund vorheriger embryonaler Manipulation nicht weniger positive Erfahrungsmöglichkeiten offenstehen, als das Leben von Vertretern der gleichen Spezies typischerweise enthält. 33 Cochrane stützt sich insofern explizit auf eine Speziesnorm, ähnlich der, die ich bei meiner Auseinan-
30 Dabei hebt Cochrane m.E. nicht genügend hervor, dass es sich hierbei um Einschränkungen der eigenen Lebensführung handelt, die von Moralakteuren absichtlich herbeigeführt werden, indem eine Person bewusst genetisch beeinflusst wird, um eine von anderen vorgeplante Lebensfunktion zu erfüllen. Denn die Genetik einer späteren Person beeinflussen Eltern bereits durch die Wahl ihres Sexualpartners. Auch scheint es nur dann sinnvoll, von einer Übertretung der Autonomie der Person zu sprechen, wenn durch eine genetische Beeinflussung die Fähigkeiten, das eigene Leben nach eigenen reflektierten Vorstellungen zu führen, vermindert wird. Dagegen scheint es die Fähigkeit, das eigene Leben autonom zu leben, vielmehr zu begünstigen, wenn die Person aufgrund unseres Eingriffs in ihrer Ausbildung intellektueller, sozialer und gesundheitlicher Eigenschaft befördert wird. 31 Ebd., S. 11. 32 Ebd., S. 105-106. 33 Ebd., S. 105-106.
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dersetzung mit Nussbaums Ansatz bereits kritisiert habe. 34 Der Bezug auf speziestypische Merkmale rückt den Fokus vom betroffenen Individuum selbst auf Gruppenstandards. Wenn wir kritisieren, dass ein manipuliertes Tier weniger positive Eindrücke in seinem Leben hat als andere Tiere derselben Spezies, scheinen wir von prudentiellen Wertaussagen in perfektionistische abzudriften. Die Wichtigkeit, der Speziesnorm zu entsprechen, scheint erneut am ehesten unter Rückbezug auf die Vermeidung von Leid begründbar. Einerseits könnten Tiere, denen bestimmte Fähigkeiten fehlen, von ihren Artgenossen schnell dominiert und ausgestoßen werden. Dieses Problem scheint aber nicht von Belang, wenn die komplette Gruppe der gehaltenen Tiere über dieselben Defizite verfügt. Andererseits können wir Zweifel daran hegen, ob ein Tier nicht doch unter seinen eingeschränkten Fähigkeiten leidet. Wir können etwa einwenden, dass ein auf Blindheit gezüchtetes Huhn durch fehlendes Sehvermögen nicht nur bestimmte positive Eindrücke nicht erlebt, sondern zugleich durch seine eingeschränkte Orientierung unter ständigem Stress steht. 35 Mit Bezug auf McMahan könnte ebenfalls eingewandt werden, dass ein Tier mit weniger positiven Erfahrungen eher Gefahr läuft, ein von Leid dominiertes Leben ohne ausreichendes positives Gegengewicht zu führen. 36 Dies muss aber nicht bei jeder Einschränkung positiver Erfahrungen automatisch der Fall sein. Cochrane selbst liefert m.E. keine befriedigende Begründung, sondern verweist nur darauf, dass Vergleiche zwischen Gruppenstandards und Einzelindividuen sich in ethischen Diskursen etabliert hätten: »The species norm is the appropriate comparative standard because it plays an important role in our ordinary determinations of harm done to individuals.« 37
Die Bezugnahme auf eine Speziesnorm soll es dabei offenbar ermöglichen, eine moralische Kritik zu formulieren an der gezielten Erschaffung von Tieren, mit geringerem Zugang zu positiven Erfahrungen, selbst wenn wir zugestehen müssen, dass diesen Tieren in philosophisch belastbarer Weise nichts »geraubt« wird. Cochrane folgt somit der Intuition, dass es uns nicht einfach egal sein darf, ob wir ein Tier erschaffen, dass deutlich weniger positive Erfahrungen in seinem Leben machen kann als für Vertreter seiner Spezies typisch ist, in deren Genetik wir nicht auf gleiche Weise eingegriffen haben. Dabei ist sich Cochrane des Problems der NichtIdentität bewusst:
34 Siehe II.2.4.4. 35 Vgl. Sandøe et al. (2016), S. 13-28. 36 Vgl. McMahan (2016), S. 76. 37 Cochrane (2012), S. 122-123.
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»[T]ake away the genetic manipulation of the embryo and either no individual would have been created or a completely different individual would have been created. Given this, we cannot say that these engineered animals are worse off for having been engineered with diseases or disabilities.« 38
Ein direkter Vergleich zwischen der Lebensqualität des hypothetischen nichtmanipulierten Tiers und der Lebensqualität des erschaffenen manipulierten Tiers ist nicht möglich. Als Ausweg bemüht Cochrane daher einen Vergleich zwischen dem speziestypischen Repertoire an positiven Erfahrungsfähigkeiten einerseits und dem Repertoire andererseits, welches dem konkreten erschaffenen Individuum zur Verfügung steht. Wie ich oben verdeutlicht habe, kann das Heranziehen der Speziesnorm aber nicht plausibel begründen, warum es prudentiell schlecht(er) für ein Individuum sein soll, weniger positive Erfahrungsfähigkeiten zu besitzen als typische Vertreter seiner Spezies. Erneut scheint es mir erfolgversprechender, unsere Abneigung gegenüber solchen körperlichen Anpassungen dadurch einzufangen, dass wir hinterfragen, was es über Moralakteure aussagt, wenn sie eher bereit sind, Tierwohlprobleme durch Veränderung der Tiere auszuhebeln als durch Veränderung ihres Umgangs mit Tieren. Gerade die Möglichkeiten der modernen Gentechnik zeigen m.E., dass wir unseren moralischen Horizont erweitern müssen. Wir müssen nicht bloß untersuchen, welcher Umgang mit Tieren sie in ihrem Wohl beeinträchtigt. Wir müssen ebenfalls fragen, auf welche Weise es in konkreten Szenarien gelingt, Beeinträchtigungen des Tierwohls zu umgehen und welche Intentionen uns dabei anleiten. 3.3.3 Körperliche Einflussnahme als Standardpraktik der Nutztierhaltung Die Anpassung von Tieren an ihre Haltungsbedingungen ist als Standardpraktik der Nutztierhaltung anzusehen 39 – egal ob diese Anpassung durch selektive Züchtung oder durch Gentechnologie herbeigeführt wird. Tierhalter greifen nicht einfach auf die Tiere zurück, die ihnen gerade über den Weg laufen, sondern wählen Tiere gezielt danach aus, welche Zwecke sie mit deren Aufzucht und Nutzung verfolgen. So hebt etwa Rollin hervor: »We furthermore have a historical tradition as old as domestication for changing (primarily agricultural) animal telos (through artificial selection) to fit animals into human society to
38 Ebd., S. 119. 39 Vgl. Comstock (2000), S. 106.
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serve human needs. We selected for nonaggressive animals, animals that depend on us not only on themselves, animals disinclined or unable to leave our protection, and so on.« 40
Die Erschaffung zukünftiger Nutztiere ist darauf ausgelegt, Tiere zu erzeugen, die für die von Menschen vorgegebenen Zwecke möglichst gut geeignet sind. Tiere, die zur Schlachtung erschaffen werden, werden durch Selektion bzw. Genmanipulation so beeinflusst, dass sie schnell und viel Fleisch ansetzen. Tiere, die zur Produktion von Milch oder Eiern dienen sollen, werden entsprechend auf hohe Milch- oder Legeleistung hin selektiert bzw. genmanipuliert. Selbst wenn die Nutztierhaltung in Zukunft auf das Amputieren und Verformen von Tierkörpern vollständig verzichtet, bleibt die Beeinflussung der körperlichen Verfasstheit von Nutztieren im Zuge ihrer Erschaffung eine Standardpraktik der Nutztierhaltung. Sofern sich zeigen lässt, dass die gezielte Anpassung von Tierkörpern an Nutzzwecke mit der Berücksichtigung des Tierwohls konfligiert, steht die Nutztierhaltung somit vor einem unausweichlichen Moralkonflikt. 3.3.4 Verbesserung von Gesundheit Tatsächlich scheint sich nichts dagegen einwenden zu lassen, ein Tier durch Züchtung oder Genveränderung weniger anfällig für Krankheiten zu machen oder genetisch vererbte Krankheitsveranlagungen auszuschalten. Insofern ist Cochrane Recht zu geben, dass es kein prinzipielles Interesse von Tieren geben kann, nicht manipuliert worden zu sein – und daraus abgeleitet auch kein prinzipielles moralisches Verbot, Tiere überhaupt körperlich zu verändern. 41 Dennoch müssen wir auch kritisch hinterfragen, in welchem Kontext diese Verbesserung des Tierwohls vorgenommen wird. Indem wir ein Tier daran hindern, in einer stark verschmutzten Haltungsumwelt mit schlechter Luft- und Wasserqualität krank zu werden, steigern wir zweifelsohne sein Wohl. Ein Tier, das in einer miserablen Haltungsumwelt gesund und resistent leben kann, hat es besser als ein Tier, das in dieser miserablen Haltungsumwelt auch noch mit Krankheitsbeschwerden zu kämpfen hat. Solche Züchtungen dienen aber gerade dazu, auf eine Verbesserung der Haltungsumgebung zu verzichten, die nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Gemütszustände und Aktivität eines Tiers beeinflusst. Wir laufen so Gefahr, mit dem Fokussieren auf Krankheitsvermeidung andere Wohlfaktoren zu übersehen, denen auch krankheitsresistente Tiere weiter ausgesetzt sind. Zudem lässt die Bereitschaft, eher die Krankheitsanfälligkeit der Tiere als die Qualität ihrer Umgebung zu modifizieren, Zweifel an unserer Aufrichtigkeit auf-
40 Rollin (1995), S. 174. 41 Vgl. Cochrane (2012), S. 106.
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kommen, das Tierwohl um des Tiers willen berücksichtigen zu wollen. Wir scheinen hierbei eher dem Wohlzustand des Tiers normatives Gewicht beizumessen als dem Träger dieses Wohls selbst. 3.3.5 Genmanipulation zur Senkung von Tierwohlanforderungen 3.3.5.1 Reduktion von Leidfähigkeit Die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der Gentechnik sind vor allem deshalb von philosophischem Interesse für die Untersuchung des Tierwohls, weil gentechnische Eingriffe es offenbar ermöglichen, Tieren bestimmte Leidfähigkeiten gänzlich zu nehmen. So könnte bspw. versucht werden, bestimmte Schmerzrezeptoren bei Tieren »auszuschalten«. Die extremste Form der Beeinflussung von Leidempfindungen stellen genetische Eingriffe dar, die darauf abzielen, jegliche negative Empfindung unmöglich zu machen, Schmerzreize ebenso wie psychische Leiden. Dies geschieht, indem Tiere so manipuliert werden, dass sie entweder gar kein Gehirn oder nur ein minimal ausgebildetes entwickeln und damit bewusstes Empfinden vollständig unmöglich wird. 42 Die Idee hinter diesem gentechnischen Mindern von Fähigkeiten ist das Vermeiden von Tierwohlkonflikten, was sich in der Formel »animal disenhancement for animal welfare« 43 ausdrückt. Unter dem Schlagwort Animal Disenhancement (fortan: AD) wird in der philosophischen Literatur sowohl das Ausschalten bestimmter Schmerzwahrnehmungen diskutiert, als auch das Ausschalten speziestypischer Verhaltenstriebe und der Bewusstseinsfähigkeit. Gerade das völlige Ausschalten von Bewusstsein wirft jedoch spezielle philosophische Probleme auf, weshalb ich zur besonderen Kennzeichnung zwischen zwei Formen von AD trenne. Das vollständige Ausschalten jeglicher Bewusstseinsfähigkeit (und damit auch der Empfindungsfähigkeit) bezeichne ich als Bewusstseinsminderung. Für alle anderen Fälle verwende ich die Bezeichnung Fähigkeitsminderung (d.h. auch die manipulative Einschränkung kognitiver Fähigkeiten bezeichne ich als Fähigkeitsminderung, solange ein Tier noch prinzipiell über ein Bewusstsein verfügt und damit über ein subjektives Wohl). In diesem Kapitel werde ich mich auf Fähigkeitsminderung konzentrieren und Bewusstseinsminderung aufgrund seiner speziellen Problematik in III.5 gesondert behandeln. Durch das Ausschalten der Fähigkeit, bestimmte Schmerzen zu empfinden, lassen sich zwar einige leidvolle Sinneswahrnehmungen vermeiden, für das Wohl des betroffenen Tiers ist eine solche Manipulation insgesamt betrachtet jedoch verheerend. Schmerzreize stellen Warnsignale dar, die ein Lebewesen dazu anregen,
42 Vgl. Streiffer/Basl (2011), S. 838. 43 Vgl. Ferrari (2012), S. 66.
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Situationen auszuweichen, die für seine Gesundheit und sein Überleben bedrohlich sind. 44 Sie motivieren ein Tier ebenfalls dazu, sich nicht körperlich zu überanstrengen, sondern gegebenenfalls mit verminderter Intensität seinen Aktivitäten nachzugehen. Ohne diese Warnsignale läuft ein Tier Gefahr, seine Gesundheit völlig zu ruinieren bzw. Leid durch andere Rezeptoren zu empfinden, die nicht gezielt ausgeschaltet wurden. Darüber hinaus würde ein solches Ausschalten nur physisches Leid abdecken, denn das Individuum kann so immer noch an Deprimiertheit, Einsamkeit, Langeweile, Stress, etc. leiden. Und diese Leiden können mitunter durch dieselben Haltungsgegebenheiten ausgelöst werden, die normalerweise Schmerzen verursachen. Solche Geneingriffe gefährden das Wohl also eher als es zu begünstigen. Das genetische Verringern der Leidfähigkeit kann also immer noch in einer Verstärkung von Leiderfahrungen resultieren und verstößt damit gegen den Schutz des Tierwohls. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass selbst wenn es gelänge, mit der Leidfähigkeit auch Leiderfahrungen insgesamt zu verringern, immer noch anzuzweifeln ist, ob hierbei nicht zugleich der Zugang des Tiers zu bestimmten positiven Erfahrungen erschwert oder völlig blockiert wird. Bestimmte Reizrezeptoren könnten bspw. sowohl schmerzhafte als auch angenehme Berührungen wahrnehmen lassen, die bei Deaktivierung beide entfallen. Ebenso entgeht einem solchen Lebewesen das positive Gefühl, einem Störreiz entgegenzuwirken (das Gefühl, Durst zu löschen, ist ein anderes als das Nicht-Vorhandensein von Durst). Ich habe jedoch zuvor auf das Problem der Nicht-Identität hingewiesen, wonach es nicht möglich ist, die Fülle an positiven Erfahrungen, die einem manipulierten Tier zugänglich ist, direkt zu vergleichen mit der Fülle, die einem nicht-manipulierten Tier offen gestanden hätte. Wir »rauben« einem Tier, dessen Wahrnehmungsfähigkeiten wir partiell ausschalten, nichts an positiven Erfahrungen. Wir erschaffen gezielt ein Tier, dem weniger positive Erfahrungstypen zugänglich sind, als anderen Tieren. Jedoch wirken positive Erfahrungen, wie ich unter Berufung auf McMahan argumentiert habe, auch als Ausgleich für leidvolle Erfahrungen (III.2.4). Indem wir ein Tier mit eingeschränktem Zugang zu positiven Erfahrungen erschaffen, riskieren wir, ihm bestimmte besonders intensive und bereichernde Erfahrungen unzugänglich zu machen. Und damit wiederum riskieren wir letztendlich die Balance zwischen leidvollen und positiven Erfahrungen innerhalb seines Lebens so zu beeinflussen, dass sein Leben absolut betrachtet miserabel ausfällt. Ebenfalls können wir kritisch hinterfragen, ob die »Authentizität« des Tierwohls gewahrt bleibt, wenn wir ein Tier so beeinflussen, dass es schlichtweg unfähig ist, seine Lebensumstände als physisch schmerzhaft zu empfinden. Wir enthalten hierbei einem Tier gewissermaßen also doch Informationen vor, in Form von
44 Vgl. Sumner (1996), S. 141.
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Schmerzreizen, an denen es andernfalls erkennen könnte, dass seine aktuellen Lebensbedingungen gesundheitsschädlich, kräftezehrend und lebensbedrohlich sind. Auch wird dieses Tier durch unser gezieltes Eingreifen darin eingeschränkt, eine negative Einstellung gegenüber seinen aktuellen Lebensbedingungen zu entwickeln – zumindest hinsichtlich der physisch-sinnlichen Komponente. Es ist daher unglaubwürdig, dass die Erschaffung solcher Tiere tatsächlich durch genuine Sorge um deren Wohl motiviert ist. Im Authentizitätskriterium findet unsere Rolle als Moralakteure Betonung, die die Lebenssituation anderer Individuen beeinflussen können. Vielleicht wäre es treffender zu sagen, dass nicht das Wohl des betroffenen Tiers durch Manipulationen unauthentisch ist, sondern die Art unserer Berücksichtung seines Wohls. Wenn wir uns mit dem Tierwohl beschäftigen, tun wir dies nicht aus unbeteiligter Neugier, sondern immer bereits mit dem Anspruch, dieses Wohl in einer Weise zu berücksichtigen, die wir vor uns selbst und Anderen als nicht-willkürlich, glaubwürdig und als Zeichen ernster Anteilnahme vertreten können, und eben nicht als bloßes Kalkül aus Eigennutz. Wohlbegriff und Berücksichtigungsanspruch sind in diesem Sinne als eng zusammenhängender Komplex zu verstehen. Daher kann das genetische Abzüchten von Fähigkeiten eben nicht glaubwürdig als Fähigkeitsminderung zum Wohle des Tiers bezeichnet werden. Eine Verpflichtung, Lebewesen nicht einfach nach unseren Wünschen zu genmanipulieren, lässt sich hiermit auch sinnvoll auf Individuen beziehen, ohne in Cochranes Sinne hoch ausgebildete Fähigkeiten der Selbstreflexion und den Besitz einer eigenen Vorstellung von »gut« voraussetzen zu müssen. 3.3.5.2 Reduktion von Verhaltensbedürfnissen Ein anderer Versuch, die Anforderungen der Tierwohlberücksichtigung gentechnisch zu senken, besteht darin, Tiere so zu erschaffen, dass sie bestimmte Verhaltenswünsche gar nicht erst ausbilden. Prominente Beispiele für Verhaltensbedürfnisse, denen die Nutztierhaltung nur mit großer Mühe nachkommen kann, sind der Nisttrieb und das »Sandbaden« bei Hühnern, sowie das Suhlen bei Schweinen. Genetische Eingriffe eröffnen die Option, Veranlagungen wie den Nisttrieb bei Hühnern, gezielt auszuschalten. 45 Indem dieses Verhaltensbedürfnis gar nicht erst vom Huhn entwickelt wird, wird zugleich ein Tierwohlfaktor ausgeschaltet, den es sonst zu berücksichtigen gäbe. Hühner benötigen nun keine spezielle Ausgestaltung ihrer Haltungsumgebung mehr, die es ihnen ermöglichen würde, Nestbaumaterial zu sammeln, einen abgeschiedenen ruhigen Nistplatz zu finden, etc.
45 Vgl. Schmidt (2008), S. 347-348.
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Ebenso eröffnet sich die Option, Tiere am Ausbilden individueller, also nicht allgemein speziestypischer Verhaltensvorlieben genmanipulativ zu hindern. 46 Das Ausbilden von Wünschen, die über rein biologische Veranlagungen hinausreichen, setzt ausreichend hohe kognitive Fähigkeiten voraus. Aufgrund dieser Verbindung zwischen Individualität und kognitiven Eigenschaften scheint es daher möglich, individuelle Bedürfnisse auszuschalten. Hierfür müssen einfach die kognitiven Fähigkeiten eines Lebewesens so eingeschränkt werden, dass es nicht in der Lage ist, über seine biologischen Veranlagungen hinaus eigenständige Bedürfnisse und Vorlieben zu entwickeln. (Ich bezeichne diese Fälle weiterhin als Fähigkeitsminderung, da es nicht um das komplette Ausschalten von Bewusstsein geht, sondern von partiellen Fähigkeiten, die mit Bewusstsein zusammenhängen.) Damit ließe sich ein grundsätzlicher Einwand gegen das Gefangenhalten von Tieren aushebeln, den Andreas Schmidt formuliert. Die Nutztierhaltung beinhaltet das Gefangenhalten einer hohen Anzahl an Tierindividuen in standardisierten Haltungsmethoden und in großen Gruppen. Diese Haltungsbedingungen sind somit bestenfalls auf die Abdeckung durchschnittlicher speziestypischer Verhaltensbedürfnisse ausgerichtet, riskieren aber, darüber hinausgehende individuelle Bedürfnisse der Tiere zu übergehen. 47 Durch Genmanipulation können wir es theoretisch unmöglich machen, dass ein Tier überhaupt fähig ist, Bedürfnisse zu entwickeln, die wir übersehen könnten. Die Idee, die Bedürfnisse von Tieren durch Anpassung der Tiere an ihre Haltungsbedingungen zu vereinfachen, folgt einer bestimmten Logik, wonach Tierwohl anhand der Deckungsgleichheit von faktischen Bedürfnissen und faktischer Lebenssituation eines Tiers zu bemessen ist. Ein solches Modell wurde vor allem von Wiepkema in die Tierwohlwissenschaft eingebracht aber auch durch Sandøe prominent vertreten. 48 Dieses Verständnis des Tierwohls ist als Ist-Wert-Soll-WertModell konzipiert. Je mehr Deckungsgleichheit zwischen dem Soll-Wert (was sich das Tier wünscht bzw. was es körperlich/psychisch benötigt) und dem Ist-Wert (was das Tier wahrnimmt oder vorfindet) besteht, umso positiver fällt der Gesamtwert des Tierwohlzustands aus. Je stärker Ist- und Soll-Wert voneinander abwei-
46 Wer Kontakt zu unterschiedlichen Tierindividuen gehabt hat, wird schwerlich bestreiten, dass bei Tieren mit komplexen sozialen Interaktionsfähigkeiten keins genau dem anderen gleicht, sondern neben speziestypischen Merkmalen auch individuelle Aspekte zutage treten. Siehe auch Gruen (2011), S. 150. 47 Vgl. Schmidt (2015), S. 98-102. 48 Vgl. Wiepkema (1987), S. 113-133; Sandøe (1996), S. 11-15; für dazu gehörige Diskussionen siehe Bracke/Hopster (2006), S. 81-82; Schmidt (2008), S. 320 sowie Weber/ Zárate (2005), S. 482-483.
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chen, umso problematischer steht es um den Wohlzustand des betroffenen Tiers. 49 Kritisch an diesem Modell ist, dass es ausschließlich nach der Deckungsgleichheit beider Werte fragt, jedoch nicht in den Blick nimmt, auf welchem Weg Ist- und Soll-Wert zur Übereinstimmung gebracht werden, denn das Resultat bleibt hinsichtlich der Deckungsgleichheit dasselbe. Dieser Ansatz ist somit streng ergebnisorientiert. Eher das Tier als seine Haltungsbedingungen zu verändern, wird jedoch innerhalb der Tierwohlwissenschaft zunehmend als kritikwürdig betrachtet. Demgegenüber wird die Relevanz von »natürlichem« bzw. »normalem« Tierverhalten für das Tierwohl betont. Dies kann einerseits durch Verweis auf die Rolle positiver Erfahrungen für das Tierwohl erklärt werden. Die Anpassung an eine beengende und minimal ausgestaltete Haltungsumwelt verhindert zwar Leid, es bleibt aber zu befürchten, dass dem Tier dennoch positive Erfahrungen entgehen, die es in einer besser ausgestalteten Haltungsumwelt erlebt hätte. Dies knüpft an das obige Argument an (siehe III.3.3.5.1), wonach das Blocken positiver Erfahrungen die Balance der Lebensqualität von Tieren absolut betrachtet ins Negative ziehen kann. Ebenso verdient die Bereitschaft, ein Tier gezielt mit weniger positiven Erfahrungsmöglichkeiten zu erschaffen, eine kritische Betrachtung unserer Motive. Wir sollten hinterfragen, welche Intentionen und welches Selbstverständnis unseren Umgang mit Tieren bestimmen (wozu auch ihre gezielte Erschaffung zählt). Hierfür scheint auch die intuitive Ablehnung bestimmter Umgangsweisen mit Tieren ein Beleg, die bspw. in Websters Bemerkungen zur Verantwortungsrolle von Tierhaltern zum Ausdruck kommt. Der verantwortungsvolle Tierhalter muss hiernach erkennen, dass er für das Wohl der Tiere in seiner Obhut Sorge zu tragen hat, und eben nicht einfach nur versuchen muss, auf ganz gleich welchem Weg Tierwohlkonflikte zu vermeiden. 50 Diese motivationsbezogene Kritik scheint mir darüber hinaus philosophisch belastbarer als »normalen« bzw. »natürlichen« Verhaltensweisen und Eigenschaften eines Tiers einen normativen Eigenwert zuzuschreiben, wie es in vielen öffentlichen Tierwohldiskussionen der Fall ist. Wie unter 3.3.5.1 bereits betont, vermengen wir hierbei prudentielle Aussagen über die Lebensqualität eines Tiers mit perfektionistischen Annahmen darüber, was unserer Ansicht nach zu einem guten Vertreter einer Tiergattung dazugehört. Dabei übergehen wir das betroffene Individuum zugunsten von abstrakten Gruppenstandards. Hinzukommt die Schwierigkeit, klar einzugrenzen, was noch natürlich/normal für Nutztiere ist, die bereits über viele Generationen durch selektive Züchtung und Domestizierung in ihren Eigenschaften und Verhaltensweisen durch Menschen
49 Vgl. Bracke/Hopster (2006), S. 81-82. 50 Vgl. Webster (2011a), S. 5.
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gezielt beeinflusst wurden. 51 Was kann bei den diversen landwirtschaftlich etablierten Zuchtlinien von Tieren bspw. noch als ein typisches Schwein gelten? Und selbst wenn wir davon ausgehen, dass natürliche/normale Verhaltensweisen (wie auch immer diese zu bestimmen wären) mit bestimmten einzigartigen positiven Erfahrungserlebnissen einhergehen, können wir erneut aufgrund des Problems der Nicht-Identität nicht sinnvoll davon sprechen, dass diese Erfahrungen manipulierten Tieren »geraubt« würden. Der Vergleich zwischen der Fülle an positiven Erfahrungen bei »typischen« nicht-manipulierten Tieren und denen, die wir manipulieren, ist nur in Bezug auf unsere eigenen moralischen Ansprüche, Tiere und ihr Wohl ernstzunehmen haltbar. Denn die Anpassung von Tieren an menschlich vorgegebene Haltungsbedingungen offenbart eine unzureichende Beachtung ihres Wohls. Es ist daher nicht möglich, durch Zuhilfenahme innovativer gentechnischer Methoden die Fortführung der Nutztierhaltung moralisch unbedenklich zu machen. 3.3.6 Anpassung als Resultat menschlicher Konsumwünsche Arianna Ferrari betont, dass für die ethische Beurteilung von Geneingriffen auch der Kontext zu beachten ist, in dem genetische Anpassungen von Tieren an ihre Haltungsbedingungen überhaupt erwogen werden. Solche Anpassungen entspringen nicht dem Wunsch, Tieren, losgelöst von menschlichen Eigeninteressen, einfach ein besseres Leben zu verschaffen. Sie stehen von vornherein im Kontext der beabsichtigten Haltung und ökonomischen Nutzung der betroffenen Tiere, sowie des Konsums der ihnen abgerungenen Produkte. Die Manipulation dieser Tiere steht damit von vornherein im Zeichen ihrer anschließenden Gefangenhaltung und Tötung. 52 Da beide dieser Praktiken an Tieren Ferraris (wie auch meiner) Beurteilung nach moralisch problematisch sind, sei auch eine Anpassung von Tieren moralisch kritikwürdig, die explizit auf die anschließende Durchführung dieser Praktiken ausgelegt ist. Dementsprechend ist es für Ferrari unzulässig, über die Legitimität von genetischen Anpassungen isoliert vom Gesamtkontext unseres Umgangs mit Tieren zu debattieren. 53 Es gelingt Ferrari jedoch nicht, überzeugend zu belegen, warum das Gefangenhalten und Töten von Tieren auch dann noch problematische Praktiken darstellen,
51 Das FAWC den Begriff des Normalen dem des Natürlichen vorzieht, dürfte auch dadurch motiviert sein, dass ein Anspruch, »natürliches« Verhalten zu schützen, das Domestizieren und Halten von Tieren grundsätzlich infrage stellt – was tunlichst vermieden wird (vgl. FAWC [2009a], S. 2). 52 Vgl. Ferrari (2012), S. 66. 53 Vgl. ebd., S. 70-74.
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wenn es uns gelänge, Tiere erfolgreich so anzupassen, dass sie keine Bedürfnisse ausbilden, die in Gefangenschaft eingeschränkt werden, oder zum idealen Schlachtungszeitpunkt automatisch sterben. Ferrari versucht ihre Ablehnung der Nutztierhaltung unter Zuhilfenahme des Begriffs der »Ausbeutung« zu fundieren. Ausbeutung umschreibt dabei jeglichen Umgang mit Tieren, bei denen ihnen moralische »Grundrechte« vorenthalten werden, hier vor allem das Recht auf Leben und auf Freiheit. 54 Ferrari erläutert jedoch nicht ausreichend, was genau Tieren ein Recht auf Leben und Freiheit verschafft. Der Verdacht liegt nahe, dass hintergründig doch wieder auf die Fähigkeiten von Tieren Bezug genommen wird, unter Gefangenschaft zu leiden, und positiver Erfahrungen beraubt zu werden. Gerade dies aber würde durch eine erfolgreiche Anpassung des Tiers verhindert. Faktoren, unter denen nicht-manipulierte Tiere durch Gefangenhaltung und Tötung in ihrem Wohl beeinträchtigt werden, lassen sich nicht, wie oben argumentiert, einfach nahtlos auf manipulierte Tiere übertragen. Dagegen scheint Ferraris Betonung des Gesamtkontexts der Nutztierhaltung insofern eine philosophisch belastbare Kritik an der Genmanipulation zu ermöglichen, als dass erneut auf unsere Rolle als verantwortungsbewusste Moralakteure verwiesen wird. Wenn wir unsere Anstrengungen darauf richten, Tiere vor Beeinträchtigungen ihres Wohls zu schützen, nur um sie für menschliche Konsum- und Ökonomieinteressen nutzen und töten zu können, lässt dies ernsthafte Zweifel an der Aufrichtigkeit unserer Sorge um das Tierwohl aufkommen. Vielmehr fokussieren wir uns darauf, Wohlbeeinträchtigungen bei Tieren zu vermeiden, deren Haltung und Verwertung wir nicht gewillt sind, aufzugeben. Zudem geht es hierbei um die Vorbeugung von Wohlbeeinträchtigungen, die aus unserer Haltung und Nutzung dieser Tiere überhaupt erst resultieren würden. 55 Entsprechend wirkt es nicht überzeugend, die hier relevanten Geneingriffe als Handlungen im Sinne des Tiers zu verstehen. Bereits mit unserem Festhalten an der ökonomischen Nutzung dieser Tiere bringen wir zum Ausdruck, dass Nutzungsinteressen und nicht die Tiere selbst vornehmlich berücksichtigt werden sollen. Wir haben somit allen Grund zur Skepsis an Cochranes optimistischer Einschätzung, dass genetische Eingriffe Teil einer fürsorglichen und verantwortungsvollen Mensch-Tier-Beziehung innerhalb unserer Gesellschaft sein könnten.
54 Vgl. ebd., S. 66. 55 Tiere können auch ohne die Nutztierhaltung an Krankheiten, Verletzungen und Angriffen durch andere Tiere leiden. Aber es würden vermutlich andere Krankheiten, andere Verletzungen und andere Angriffe sein, die sie erdulden müssten. Und sie wären nicht durch uns verschuldet.
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»I see no reason why an act of genetic modification that produces a cow that is resistant to mastitis needs to also involve a rapacious and arrogant attitude toward all nature. In fact, if political communities adopt systems of genetic engineering that are thoughtful, they could well foster a more appropriate attitude toward the natural world than we have at present.« 56
Cochrane bezieht sich zugegebenermaßen auf die Verminderung von Krankheitsanfälligkeit, nicht auf Fähigkeitsminderung. Es ist dennoch schwer ersichtlich, von wie viel Sorge um das Tier selbst unsere Anstrengungen zeugen, Kühe gegen Entzündungskrankheiten wie Mastitis resistenter zu machen, die durch die Nutztierhaltung erst verstärkt werden. 57 Auch wird das Gefangenhalten und letztendliche Töten der krankheitsresistenteren Kühe – zu keinem anderen Zweck werden sie erschaffen und gehalten – dabei nicht infrage gestellt. 58 Möglicherweise können aber andere Geneingriffe Cochranes Ideal entsprechen und zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit Tieren anregen. Wir könnten etwa dafür sorgen, dass die Nachfahren von Laborratten ihre Anfälligkeit für Krebsbildung verlieren (die durch menschlichen Eingriff überhaupt erst verursacht worden ist). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um Eingriffe, bei denen Bewusstseins- oder Empfindungsfähigkeiten gemindert werden. Ebensowenig folgt diese Veränderung des Genmaterials einem Nutzenkalkül. Hier wird tatsächlich eine verbesserte Lebensqualität des Tiers um seiner selbst willen beabsichtigt. Demgegenüber betont Palmer einerseits, dass Fähigkeitsminderung (und Bewusstseinsminderung) i.d.R. einer moralisch kritikwürdigen Haltung entspringt, bei der wir Tiere für menschliche Zwecke instrumentalisieren. Andererseits glaubt aber auch sie, dass das Mindern von Bewusstseins- oder Empfindungsfähigkeiten prinzipiell in einer moralisch unverfänglichen Weise betrieben werden könnte: »Presumably disenhancement projects could be pursued with humility, respect and compassion. [Hervorhebung im Original]« 59 Gegen diese prinzipielle Möglichkeit richtet sich Ferraris Kritik. Und auch Palmer benennt kein Szenario, in der es ein Gebot des Mitgefühls oder Respekts gegenüber Tieren zu sein scheint, sie mit verminderten Fähigkeiten zur Existenz zu bringen. Wovor wollen wir Tiere durch einen solchen Eingriff schützen? Und warum wird dieser Eingriff dezidiert für Tiere erwogen, die einen bestimmten Nutzen erbringen sollen und nicht für andere
56 Cochrane (2012), S. 114. 57 Die hohe Anfälligkeit für Mastitis ist u.a. eine Folge der Züchtungen von Milchkühen auf Hochleistung (vgl. Streiffer/Basl [2011], S. 836-837). 58 Cochrane selbst lehnt die Tötung von Tieren als moralisch verwerflich ab, zieht jedoch anders als Ferrari keine enge Verbindung zwischen Tiertötung und genetischer Manipulation (vgl. Cochrane [2012], S. 80). 59 Palmer (2011a), S. 48.
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Tiere auch? Die Motivation, Tiere mit verminderten Bewusstseins- und Empfindungsfähigkeiten überhaupt zu erschaffen, entspringt offenbar der Einsicht, dass wir Tiere, durch die Nutztierhaltung unausweichlich in ihrem Wohl beeinträchtigen. AD dient dem Wunsch, unsere Praktiken fortführen zu können, ohne uns dem Vorwurf der Tierwohlbeeinträchtigung ausgesetzt zu sehen. Mit Respekt oder Mitgefühl hat dies wenig zu tun. Hypothetische Fälle, die AD moralisch vertretbar oder geboten machen, sind somit nicht in Sicht. Darüber hinaus betont Palmer eine weitere Ungereimtheit im Ansatz, Tierwohl durch AD zu schützen oder sogar zu befördern. Aufgrund des Problems der NichtIdentität, könne einerseits nicht sinnvoll davon gesprochen werden, dass es für ein konkretes Tier schlechter ist, mit weniger Fähigkeiten erschaffen zu werden, als es ohne menschlichen Eingriff besessen hätte. Das nicht-manipulierte TierA ist mit dem manipulierten TierTA nicht identisch und somit sind ihre beiden Lebenssituationen auch nicht direkt miteinander vergleichbar. 60 Wir können sagen, dass TierTA bestimme positive Erfahrungsqualitäten unzugänglich sind, die TierA offen gestanden hätten. Wir können aber nicht sinnvoll sagen, dass es schlechter für TierTA ist, anstelle von TierA zu existieren. Im Umkehrschluss, so betont Palmer, können wir aber auch nur sinnvoll sagen, dass TierTA bestimmte Leiderfahrungen erspart bleiben, die TierA durchlitten hätte. Wir können aber nicht sinnvoll sagen, dass es besser für TierTA ist, anstelle von TierA zu existieren. Wir können durch AD das Wohl von Tierindividuen nicht verbessern. 61 Erneut können wir aber hinterfragen, was für Motive uns antreiben, eher ein manipuliertes Tier zu erschaffen, das weniger leidet, aber auch weniger positive Erfahrungsmöglichkeiten besitzt, anstelle eines anderen, nicht-manipulierten Tiers, das wir ebenso hätten erschaffen können. Daraus folgt kein automatisches Gebot der Wohl-Maximierung. Aber wir sollten ausreichend begründen, warum wir uns dafür entscheiden, ein Lebewesen mit eingeschränkteren Wohlmöglichkeiten zu erschaffen. Bekanntermaßen erreichen bspw. kleine Hunde ein höheres Lebensalter als große Hunde. Eine Verpflichtung, nur noch kleine Hunderassen zu erschaffen, wirkt aber intuitiv absurd. 62 Demgegenüber ist es weitaus weniger absurd zu fordern, Welpen nicht mehr auf »Reinrassigkeit« zu züchten, da dies Erbkrankheiten begünstigt. 63 Zudem scheint die Bevor-
60 Ich übernehme der textlichen Konsistenz halber Kirsten Schmidts Abkürzungen A für das nicht-manipulierte »animal« und TA für das manipulierte »transgenic animal« (vgl. Schmidt [2008], S. 369). 61 Vgl. Palmer (2011a), S. 47. 62 Ich danke Jeff McMahan für diesen Hinweis im Rahmen der Summer School der Universität Essen vom 13.-15. Juli 2016. 63 Dieses Hundewelpen-Beispiel ist erneut bei Palmer entlehnt (vgl. ebd., S. 46).
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zugung von »reinrassigen« Welpen gegenüber »Mischlingen« nur durch ästhetische Vorlieben oder biologistische Reinheitsideologien erklärbar. Solche Motive liefern keine befriedigende Begründung dafür, einen Welpen mit vergleichsweise eingeschränktem Wohl zu erschaffen, anstelle eines anderen Welpen ohne diese Einschränkung, selbst wenn beide Welpen insgesamt ein angenehmes Leben führen würden. Interessanterweise enthält auch Cochranes Position zumindest in Teilen Bezüge auf die Haltung, mit denen wir als Moralakteure Tieren gegenübertreten. So betont Cochrane etwa, dass wir Tiere nicht ausschließlich als Mittel für unsere Zwecke betrachten und behandeln dürften. Wir müssten anerkennen, dass es sich um eigenständige Lebewesen mit einem eigenen Leben handelt. 64 Diese Formulierung ist jedoch auffallend schwach. Es kann nicht nur darum gehen, neben unseren eigenen Interessen auch die Interessen der Tiere, die wir halten und nutzen, in nur irgendeiner Form zu bedenken, ganz gleich in welchem Grad wir dies tun. Wollen wir das betroffene Tier selbst ernst nehmen, so muss dies in einer Weise geschehen, die seinen Interessen substantielles Gewicht beimisst. Dass uns dies aber gelingt, solange wir unsere Interessen denen des Tiers klar voranstellen, ist zu bezweifeln. Genau dieses Voranstellen unserer menschlichen Interessen geschieht aber genau bei der Anpassung von Tieren an unsere Konsumwünsche. 65 Insofern ist Ferrari Recht zu geben, dass die moralische Legitimität der genetischen Manipulation von Tieren (sei es durch selektive Züchtung oder Gentechnologie) auch davon abhängt, in welchem Kontext diese Manipulationen erwogen werden. Gerade wenn zugestanden wird, dass die Berücksichtigung des Tierwohls einen moralischen Anspruch darstellt, der sich auf Tiere als Individuen bezieht, so ist nicht einzusehen, wie wir diesem Anspruch gerecht werden könnten, indem wir Praktiken fortführen, die Tiere von vornherein unseren Konsuminteressen unterordnen. Selbst wenn wir die Praktiken, mit denen wir unseren Konsuminteressen nachgehen, so modifizieren, dass Tiere weniger leiden und mehr positive Erfahrungen erleben als bisher der Fall war, so löst sich der Konflikt zwischen Nutztierhaltung und Berücksichtigung des Tierwohls nicht gänzlich auf. Wenn wirklich das Tier um
64 Vgl. Cochrane (2012), S. 108. Ähnliche Akzente, wonach das Nutzen anderer Individuen zu eigenen Zwecken moralisch gerechtfertigt sein kann, solange wir andere nicht vollständig und ausschließlich als Mittel ansehen, finden sich auch bei Hoerster, der dies bereits auf den Umgang mit menschlichen Personen anwendet (vgl. Hoerster [2002], S. 14). 65 Eine historisch bemerkenswerte Quelle stellt in diesem Kontext ein Aufsatz von Hazel zur Berechnung optimaler Zuchtlinien bei Nutztieren dar. Bemerkenswert deshalb, weil hier mit beispielloser Offenheit der Wert eines Tiers vollständig auf dessen ökonomische Verwertbarkeit reduziert wird (vgl. Hazel [1943], S. 476-490).
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seiner selbst willen in den Blick geraten soll, so dürfen wir es nicht länger wie selbstverständlich als Mittel oder Ressource betrachten, die wir nutzen können. Sapontzis formuliert daher die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Umdenkens: »[C]hanging our attitude toward animals from one that regards them as beings that must be treated humanely but that are, nonetheless, fundamentally resources for fulfilling human interests to an attitude that regards animals as fellow beings whose interest in an enjoyable, satisfying life must be respected and protected in the way basic human interests are respected and protected.« 66
Die Berücksichtigung des Tierwohls verlangt in diesem Sinne mehr von uns, als nur dafür zu sorgen, dass wir Tieren, die wir als Ressourcen behandeln, ein gewisses Maß an Lebensqualität zukommen lassen. Sie verlangt, Tiere eben nicht mehr als Ressourcen zu betrachten und zu behandeln. Die Anpassung von Tieren an ihre Haltungsbedingungen und menschliche Konsumvorlieben repräsentiert jedoch gerade ein Fixieren auf einen bestimmten Level an Lebensqualität und nicht auf unseren Umgang mit Tieren. 3.3.7 Fürsorge vs. Nutzenkalkül Das Ergebnis dieser Diskussion lässt sich rückbeziehen auf meine vorherige Kritik (III.2.6) an der Erschaffung von Tieren, die genetisch vorprogrammiert werden, frühzeitig zu sterben – zu einem Zeitpunkt, den wir durch genetischen Eingriff festlegen und der unseren Konsuminteressen entgegenkommt. Das Verwerten der Körper dieser Tiere, mag für einige weniger moralisch verwerflich sein, als die Verwendung von Körpern, für die Tiere extra getötet werden mussten. Die genmanipulierten Tiere, um die es hierbei geht, hätten ohnehin nicht länger gelebt. Wie ich in diesem Kapitel argumentiert habe, spielt jedoch nicht bloß der Effekt unserer körperlichen Eingriffe auf Tieren eine Rolle, sondern ebenso unsere Intentionen dahinter. Die Vorprogrammierung auf Kurzlebigkeit geschieht offensichtlich nicht im Interesse des Tiers, das wir zu erschaffen planen, sondern allenfalls im Interesse eines solchen Tiers hinsichtlich unserer Pläne, es zu erschaffen, zu halten und zu verwerten. Wer ein Tier als eigenständiges Lebewesen mit einem eigenen Leben
66 Sapontzis (1987), S. 78. Sapontzis’ Begriff »fellow beings« kann an dieser Stelle ungeklärt bleiben. Ich argumentiere in Wawrzyniak (2015), S. 14-22, dass Begriffe wie »Mitgeschöpf« oder »Mitlebewesen« für Fragen der Genmanipulation von Tieren eine wichtige Funktion erfüllen können. Sie verleihen moralischen Intuitionen Ausdruck und appellieren an uns, die Suche nach ihrer philosophischen Unterfütterung nicht vorschnell aufzugeben.
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und eigenem Wohl moralisch ernst nimmt, kann nicht bestrebt sein, dessen Lebenszeit vorzuprogrammieren, um den eigenen Konsuminteressen Rechnung zu tragen. Leidfreie körperliche Einflussnahmen auf Erscheinungsbild, Verhalten, Lebenszeit und andere biologische Merkmale können Tierwohl-Probleme nur dann umgehen, wenn wir einen bereits sehr reduktionistischen Tierwohlbegriff verwenden, der sich auf den physischen und psychischen Zustand allein konzentriert, anstatt auf das betroffene Individuum. Ich habe in diesem Kapitel zugestanden, dass bestimmte genetische Eingriffe dennoch tierwohlförderlich sein können (etwa das »Ausschalten« von Erbkrankheiten). Dies aber sind gerade Eingriffe, bei denen anzunehmen ist, dass eben kein Konsuminteresse, sondern tatsächlich das Tier selbst im Vordergrund steht. Es geht hierbei um Geneingriffe, die es Tieren erleichtern, ein angenehmes Leben zu führen, und nicht bloß ein im Rahmen konkreter menschlicher Nutzungsabsichten angenehmeres Leben. Damit aber verlassen wir den Kontext der Tiernutzung, die gerade unseren Konsuminteressen dient. Somit kann die Genmanipulation von Tieren, dort wo sie sich verteidigen lässt, nicht zugleich dafür herangezogen werden, das Halten und Verwerten von Tieren moralisch zu legitimieren. Meine enge Verkoppelung des Tierwohlbegriffs und des moralischen Anspruchs seiner Berücksichtigung legt den Einwand nahe, dass ich die inhaltliche Bestimmung des Tierwohls an dieser Stelle bereits mit einem bestimmten moralischen Ideal unseres Umgangs mit Tieren vermenge. 67 Ich habe jedoch darauf verwiesen, dass Wohl ein immanent normatives Konzept darstellt. 68 Ohne ein Hinzuziehen von Wertannahmen darüber, wie wir mit Tieren umgehen wollen oder welche Lebensumstände wir für Tiere als ethisch unzumutbar betrachten, fehlt eine überzeugende moralisch-praktische Handlungsmotivation dafür, sich überhaupt mit der Lebenssituation von Tieren auseinanderzusetzen. In diesem Sinne ist Wohl eben nicht strikt von einem bestimmten Ideal zu trennen, sondern dient als Vehikel, um ein bestimmtes moralisches Ideal des Umgangs mit Tieren zu operationalisieren. Indem wir beim Tierwohl Ideale von vornherein ausklammern, entziehen wir uns die Grundlage, die überhaupt erst zur Konzipierung des Wohlbegriffs anregt. Die Unterstellung einer Vermengung von Ideal und begrifflichem Inhalt ist somit zutreffend, jedoch kein überzeugender Einwand gegen mein Vorgehen. Gerade eine philosophisch-intuitionistisch geprägte Analyse des Tierwohls zielt darauf ab, Ideale nicht gänzlich auszusondern, sondern herauszukristallisieren welche Ideale
67 In einer ähnlichen Weise mahnt Birnbacher an, dass »Glück« (verstanden als faktisches subjektives Wohlgefühl) und ein bestimmtes »Glücksideal« (welche Wohlgefühle moralisch relevant und welche diskreditiert sind) nicht miteinander vermengt werden sollten (vgl. Birnbacher [2005]). 68 Vgl. Sumner (1996), S. 20 sowie Haynes (2011), S. 112.
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hinter unseren Annahmen hinsichtlich des Tierwohls zum Vorschein kommen und diese dann auf ihre Belastbarkeit zu prüfen. 3.3.8 »Triviale« Veränderungen zugunsten menschlicher Konsumwünsche Der Kontext manipulativer Eingriffe in die körperliche Entwicklung von Tieren ist ebenfalls für die moralische Bewertung von Fällen entscheidend, die ich hier als »triviale Veränderungen« bezeichne. Gemeint ist die Beeinflussung von Merkmalen, die allem Anschein nach weder in Bezug auf Leid von Bedeutung sind, noch für die Möglichkeit das eigene Leben auf authentische Weise als positiv geprägt zu erfahren eine Rolle spielen. Ein solches Beispiel sind die erwähnten Geneingriffe, die darauf abzielen, dass Schweine in ihrem Fleisch mehr Omega-3-Fettsäuren ausbilden, die für den menschlichen Verzehr bekömmlicher sind. 69 Ebenso gibt es Versuche, Ziegen so zu modifizieren, dass sie in ihrer Milch Hormone ausbilden, die für die Medikamentierung von Menschen nutzbar sind. 70 Sofern diese Eingriffe tatsächlich leidfrei und ohne Beeinträchtigung authentischer positiver Erfahrungen vollzogen werden können, scheinen solche trivialen Veränderungen tatsächlich tierwohlneutrale und auch ethisch neutrale Handlungen darzustellen. Es stellt sich jedoch die Frage, was uns dazu motiviert, solche Eingriffe vorzunehmen. Die genannten Beispiele stehen offensichtlich weiterhin im Kontext eines Nutzenkalküls. Die betreffenden Tiere werden so angepasst, dass sie für menschliche Zwecke besser taugen, um dann auch für menschliche Zwecke gefangen gehalten, genutzt und letztlich getötet zu werden. Selbst wenn einzelne genetische Anpassungen für sich genommen das Wohl nicht berühren, so sind sie in Handlungsabläufe und Verwertungsketten eingebunden, die insgesamt das Tierwohl auf vielfältige Weise einschränken. Wer Tiere züchtet, deren Fleisch sich für den menschlichen Verzehr besser eignet, hat auch vor, diese Tiere zu töten und zu verzehren. Wer Tiere züchtet, die medizinischen Nutzen erbringen, wird diese Tiere nur solange versorgen, wie sie diesen Nutzen auch rentabel erbringen können. Triviale Züchtungen können isoliert betrachtet als tierwohlneutral bezeichnet werden. Sie werden jedoch niemals isoliert erwogen und durchgeführt.
69 Vgl. Lai et al. (2006), S. 435-436. 70 Vgl. Cochrane (2012), S. 103.
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3.3.9 Leiderzeugung auf dem Weg zu leidfreien Manipulationen Ein zusätzliches empirisches Problem ergibt sich durch den Umstand, dass gentechnische Methoden vor ihrer erfolgreichen Etablierung zunächst wissenschaftlich entwickelt, getestet, schrittweise optimiert und wieder neu getestet werden müssen. Innerhalb dieses langwierigen Prozesses werden zwangläufig Versuchstiere eingesetzt werden, sowie neue Versuchstiere erschaffen, bei denen ungewiss ist, wie sich ihre genetische Manipulation in ihrem konkreten Fall auswirken wird. 71 Selbst wenn wir akzeptieren würden, dass die Genmanipulation von Tieren es ermöglicht, Tierwohlkonflikte innerhalb der Nutztierhaltung auszuhebeln, bleibt das Problem bestehen, dass der Weg zu einer erfolgreichen Etablierung der entsprechenden gentechnischen Methoden selbst mit Tierwohlkonflikten verbunden ist. Im Gesamtkontext betrachtet sind körperliche Eingriffe daher empirisch bedingt niemals vollständig ohne Leiderzeugung zu haben. Sie beinhalten zwangsläufig ein Opfern des Wohls von Versuchstieren zur Vermeidung von Wohlkonflikten bei zukünftigen angepassten Tieren. Sowohl die Existenz zukünftiger Tiere als auch die Umstände ihres Lebens (wie sie gehalten werden und ob sie überhaupt menschlichen Verwertungsmechanismen unterzogen werden) sind jedoch keine vorherbestimmten Konstanten. Es ist unsere Entscheidung, ob diese Tiere existieren und ob sie für unsere Konsumwünsche genutzt werden. Entsprechend gibt es keine zwingende Notwendigkeit, entsprechende Genmanipulationen zu erforschen und zu realisieren. Ohne eine solche Notwendigkeit fehlt jedoch gleichzeitig ein normativ ausreichender Grund, das Wohl bereits existierender und zukünftiger Tiere durch Versuchsreihen zu beeinträchtigen, zugunsten späterer transgener Tiere. Dieser empirische Einwand, der v.a. von Ferrari stark gemacht wird, 72 ist philosophisch besonders belastbar, da er auf die Vermeidung von Leid rekurriert, dem unstrittigsten Faktor in allen Tierwohldebatten. Die moralische Kritikwürdigkeit der genetischen Anpassung von Tieren lässt sich jedoch, wie ich im Verlauf dieses Kapitels zu verdeutlichen versucht habe, nicht allein darauf reduzieren, dass wir hintergründig weiterhin ein Risiko von Leiderzeugungen annehmen. Angenommen wir wüssten durch eine plötzliche geistige Offenbarung alles über gentechnische Eingriffe und könnten sicher sein, aus dem Stand heraus die »gewünschten« Tiere erschaffen zu können; selbst dann ließe sich das Halten und Verwerten dieser Tiere nicht als im Einklang mit der Berücksichtigung des Tierwohls verteidigen. Wir würden zugegebenermaßen weniger Leid bei diesen Tieren erzeugen, vielleicht sogar mehr subjektive Zufriedenheit, als durch eine Fortführung der Nutztierhaltung mit unangepassten Tieren. In diesem Sinne betont auch Rollin, dass angepasste
71 Vgl. Ferrari (2012), S. 67. 72 Vgl. ebd., S. 67.
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Tiere ein besseres Leben haben als solche, die denselben Verwertungsmechanismen unterzogen werden ohne daran angepasst worden zu sein. Zugleich weist Rollin aber auch darauf hin, dass wir uns fragen sollten, was es über uns aussagt, wenn wir eher bereit sind, Tiere zu verändern, als unseren Umgang mit ihnen zu modifizieren. 73 Meiner Argumentation folgend behandeln wir in solchen Fällen Tierwohl als eine moralische Hürde, die einschränkt, auf welchem Weg wir unsere – als selbstverständlich angenommenen – Konsuminteressen weiterhin verfolgen können. Damit würden wir Tieren zwar eine gewisse moralische Berücksichtigungswürdigkeit zugestehen, gleichzeitig aber dem Umstand, dass es sich bei Tieren um Lebewesen mit einem eigenen Leben und einem eigenen subjektiven Wohl handelt, nicht ausreichend Rechnung tragen. Dem Ziel, die Nutztierhaltung »mit gutem Gewissen« fortzuführen, kann so nicht entsprochen werden.
3.4 FAZIT ZUR VEREINBARKEIT VON TIERWOHL UND KÖRPERLICHEN EINGRIFFEN Ich habe in diesem Kapitel verdeutlicht, dass die körperliche Anpassung von Tieren an die Bedingungen der Nutztierhaltung und menschliche Konsuminteressen mit der Berücksichtigung des Tierwohls in vielerlei Hinsicht kollidiert. Erstens bergen diese körperlichen Eingriffe die Gefahr, das Tierwohl nur partiell zu verbessern, gleichzeitig aber andere Tierwohlfaktoren zu verschlechtern. Zweitens besteht die Gefahr, Tieren durch körperliche Eingriffe, die ihnen eigentlich Leid ersparen sollen, zugleich auch vielfältige positive Erfahrungsmöglichkeiten vorzuenthalten. Drittens verstoßen körperliche Eingriffe, die es einem Tier schlichtweg unmöglich machen, bestimmte Eindrücke negativ zu erfahren oder zu bewerten, gegen das Authentizitätskriterium. Wir beeinflussen hierdurch von außen, wie ein Tier sich und seine Umwelt wahrnimmt und geben ihm nicht den Spielraum, das eigene Leben gemessen an eigenen Werturteilen als angenehm zu bewerten. Viertens geht die Entwicklung leidfreier und positive Erfahrungen berücksichtigender Geneingriffe empirisch bedingt mit Tierversuchen einher, die Leid erzeugen und positive Erfahrungen beeinträchtigen. Fünftens erfolgt die Anpassung von Tieren an die Nutztierhaltung im Kontext eines Nutzenkalküls, das nicht auf die fürsorgliche Berücksichtigung des Wohls von Tieren abzielt, sondern auf die Fortführung von derzeitigem menschlichen Konsumverhalten und ökonomischen Kreisläufen.
73 Vgl. Rollin (1995), S. 171-176. Letztendlich fällt Rollins Akzeptanz für eine Vielzahl an Genveränderungen m.E. überraschend hoch aus. Rollin behauptet jedoch an keiner Stelle, dass die Gentechnik der perfekte Ausweg aus allen Tierwohlkonflikten sei.
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Es ist der Nutztierhaltung möglich, auf bestimmte körperliche Anpassungen zu verzichten, indem Tierwohlkonflikte stattdessen durch Verbesserung der Haltungsund Nutzungsbedingungen vermieden werden. Diese Umsetzung ist jedoch empirisch schwierig und konfligiert mit der gleichzeitig angestrebten ökonomischen Rentabilität. Solange Tiere einem Nutzenkalkül unterzogen bleiben, wird ihr Wohl immer beeinträchtigt werden. Innovative Methoden, die solche Beeinträchtigung verhindern sollen, bleiben dabei kritikwürdigen Handlungsmotiven verhaftet, die einem aufrichtigen Berücksichtigungsanspruch entgegenstehen. Wir können daher das Anpassen von Tieren zur Fortführung der Nutztierhaltung nicht als ethisch neutralen Akt ausweisen und somit auch nicht die Gesellschaft zum Konsum der dabei erzeugten Tierprodukte mit »gutem Gewissen« ermutigen. Ich werde mich unter III.4 einer zentralen Argumentationslinie widmen, auf die sich Verteidiger der Nutztierhaltung berufen. Diese besagt, es bestehe überhaupt keine Notwendigkeit, Tierwohlbeeinträchtigungen gänzlich zu vermeiden, um ein »gutes Gewissen« haben zu können. Entscheidend sei nur, dass das Wohl der Tiere, die wir halten und nutzen, einen bestimmten Qualitätslevel nicht unterschreitet. Ließe sich dies verteidigen, so wäre meine grundsätzliche Ablehnung der Nutztierhaltung entkräftet und es bestünde doch die Möglichkeit, durch innovative Methoden ihre Fortführung zu legitimieren. Ich werde dies zurückweisen, wobei erneut die weitreichende ethische Bedeutung von Handlungsmotiven deutlich werden wird.
4
Ein Recht auf Tierwohleinschränkung? Rechtfertigungsstrategien und Einwände
In den vorangegangen vier Kapiteln habe ich ausführlich dargelegt, dass die Praktik der Nutztierhaltung auf vielfältige Weise mit enormen Beeinträchtigungen des Wohls der jeweils gehaltenen Tiere einhergeht. Verbesserungen des Managements sowie innovative Methoden und Technologien zur Aufzucht, Haltung, Nutzung, zum Transport und zur Tötung dieser Tiere können derzeitige Tierwohleinschränkungen abmildern, möglicherweise sogar bestimmte Aspekte gänzlich vermeiden. Andere Einschränkungen werden jedoch immer vorhanden bleiben. Wer ein Tier in Gefangenschaft hält oder frühzeitig tötet, nimmt zwangläufig Einschränkungen des Wohls dieses Tiers in Kauf. Und wer ein Tier zu diesen speziellen Zwecken körperlich verändert und an menschliche Nutzungszwecke anpasst, schränkt entweder dabei das Wohl dieses Tiers ein oder verliert das Individuum, dessen Wohl beachtet werden soll, aus dem Blick. Wie im I. Hauptteil verdeutlicht wurde, ist es das erklärte Ziel praxisnaher Tierwohlansätze, Nutztieren einen Grad an Lebensqualität zu ermöglichen, der Aussicht darauf hat von der breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit akzeptiert zu werden. 1 Es soll den Tieren, die wir halten und nutzen, »gut gehen«. Was also sollte schlimm daran sein, dass Tiere durch die Nutztierhaltung grundsätzlich in ihrem Wohl eingeschränkt werden, solange wir garantieren könnten, dass ihre Lebensqualität insgesamt positiv geprägt ist? Verteidigern der Nutztierhaltung steht somit als Strategie offen, anzuerkennen, dass die Nutztierhaltung immer eine Einschränkung der hierbei gehaltenen Tiere beinhalten wird, gleichzeitig aber zu behaupten, dass diese Einschränkungen moralisch gerechtfertigt sind. In diesem Kapitel werde ich verschiedene Varianten einer solchen Position kritisch untersuchen.
1
Siehe I.3.5; I.4.2.1; I.5.1.
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4.1 LEGITIMIERUNG DURCH GRENZEN MENSCHLICHER VERANTWORTUNG Um zu klären, inwieweit die Beeinträchtigung des Tierwohls per se einer Rechtfertigung bedarf, muss genauer untersucht werden, welche Form von moralischer Verantwortung Menschen gegenüber den Tieren, die sie halten und nutzen, belastbarer Weise zugeschrieben werden kann. Eine oft in landwirtschaftlichen Diskussionen aufkommende These ist, dass Menschen zwar gegenüber den Tieren, die sie halten und nutzen, Verantwortung besitzen, diese aber stark begrenzt ist. Ihnen zufolge schulden wir Tieren ein insgesamt gutes Leben, aber nichts darüber hinaus. Anders ausgedrückt: Alles, was wir mit Tieren machen, ist legitim, solange ihr Wohlzustand insgesamt »gut« bleibt. Solange es Tieren insgesamt gut geht, hätten sie keinen vernünftigen Grund, sich über ihre Lebenssituation zu beklagen. Dass wir Tieren nicht nur ein gutes, sondern ein über alle Maßen beglückendes Leben schulden, sei weder moralisch geboten, noch ökonomisch oder auch nur empirisch möglich. Ich werde diesen Annahmen im Einzelnen nachgehen. 4.1.1 Gegen Maximierung Zunächst können sich Verteidiger der Nutztierhaltung darauf berufen, dass sie nicht moralisch verpflichtet sind, Tieren ein Maximum an Wohl zu verschaffen, um diese halten und nutzen zu dürfen. Eine Pflicht zur Maximierung des Wohls eines anderen Individuums wäre schlicht und ergreifend moralisch inakzeptabel. Wir können nie haargenau wissen, welche Auswirkungen unsere Handlungen gegenüber Anderen haben werden. Aufgrund solcher epistemischen Grenzen ist es möglich, dass Personen mit besten Intentionen, anderen unbeabsichtigt Schaden zufügen, während böswillige oder eigennützige Personen, Handlungen ausführen, die Anderen unvorhergesehener Weise zugute kommen. Aus diesem Grunde kann nicht von uns verlangt werden, gegenüber Tieren immer das zu tun, was für ihr Wohl am besten ist. Wir können nicht wissen, mit welcher Handlung wir dies erreichen würden, egal wie viel wir über die physische und psychische Verfasstheit eines Tiers oder die Naturgesetze wissen. Man kann daher nicht mehr von uns verlangen, als gegenüber Tieren möglichst gewissenhaft und umsichtig zu handeln. Das Erreichen eines jeweils maximalen Tierwohls steht nicht zur Debatte. Ohnehin ist fraglich, ob es so etwas wie ein maximales Wohl geben kann. Wie hätte man sich so einen Zustand vorzustellen? Selbst wenn eine Person authentischer Weise wunschlos glücklich ist, scheint es m.E. zweifelhaft, dass ihr Wohl durch das ein oder andere hinzukommende Gut nicht noch ein wenig gesteigert werden könnte. Und sei es auch nur, dass uns im glücklichsten Moment unseres Lebens ein geliebter Mensch zusätzlich auch noch ein tief berührendes Kompliment
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macht. Selbst wenn wir nichts weiter für unser Wohl benötigen, kann ein kleiner Bonus unsere Lebenszufriedenheit noch ein wenig »abrunden«. Dies lässt sich auch auf Tiere übertragen. Ein Tier kann satt, entspannt sowie sozial und bewegungstechnisch ausgelastet sein. Dennoch könnten ein neues aufregendes Spielzeug, ein besonders attraktiver Leckerbissen o.Ä. seine Lebenszufriedenheit noch etwas heben. Der Punkt scheint vielmehr zu sein, dass ab einem bestimmten Grad von Lebenszufriedenheit, weitere Steigerungen nicht mehr signifikant ins Gewicht fallen. Daher ist ein Maximum an Wohl erstens niemals erreichbar, und zweitens wäre es, selbst wenn es erreichbar wäre, nicht im Umgang mit anderen Individuen moralisch geboten. Tiere, die einen eigenen moralischen Status besitzen und damit verbunden die Fähigkeit ihr Leben zu genießen oder zu leiden, sollten von uns so behandelt werden, dass sie ein gutes Leben haben können. Und sofern sich aufzeigen lässt, dass wir zu diesen Tieren in besonderer Verantwortungsbeziehung stehen, sollten wir diese Tiere aktiv dabei unterstützen, ein gutes Leben zu haben. Wir müssen ihnen aber kein »über alle Maßen« gutes Leben verschaffen. Dies kann Verteidigern der Nutztierhaltung zugestanden werden. 4.1.2 Was ist schlimm an einem Leben, das immer noch gut genug ist? Wenn kein Maximierungsgebot des Tierwohls besteht, scheint sich aber ableiten zu lassen, dass Tierwohlbeeinträchtigungen unproblematisch sind, sofern sie diesem Tier weiterhin ein gutes Leben ermöglichen. Diese Schlussfolgerung übergeht jedoch den Unterschied zwischen negativen und positiven Handlungspflichten. Der Umstand, dass es einem Individuum gut geht, schwächt die positiven Pflichten ihm gegenüber ab. Geht es einem Lebewesen bereits gut, so muss ich ihm weniger an zusätzlichen Ressourcen bereitstellen und weniger aktive Unterstützung zukommen lassen, als zu Zeitpunkten, an denen es sich nur »einigermaßen durchschlagen« kann, oder es ihm sogar an basalen Gütern mangelt. Dies berechtigt einen Moralakteur jedoch nicht automatisch, das Wohl eines Tiers aktiv zu beeinträchtigen (und damit negative Verantwortungspflichten zu verletzen), solange dessen Leben dabei insgesamt immer noch ein gutes ist. In Dilemmasituationen können wir allenfalls moralisch berechtigt sein, einem Tier, das sich bereits oberhalb einer bestimmten Schwelle von Lebensqualität befindet, ein wenig an Lebensqualität zu nehmen, um damit die Lebensqualität eines weniger gut aufgestellten Tiers zu verbessern. Dies aber impliziert kein automatisches Recht auf Einschränkung des Wohls des bereits gut aufgestellten Tiers. Es besagt einzig, dass in einer Konfliktsituation zu überlegen ist, ob die Bedürftigkeit weniger be-
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günstigter Tiere den Schutz der Lebensqualität besser gestellter Tiere überwiegen können. Befürworter der Nutztierhaltung müssten also versuchen, Abstriche bei der Berücksichtigung bzw. Beförderung des Wohls von Nutztieren anhand einer Dilemmasituation zu verteidigen, bei der ausreichend gewichtige menschliche Interessen auf dem Spiel stehen. Und je grundlegender und intensiver die Abstriche auf Seiten des Tierwohls sind, umso gewichtiger müssen auch die menschlichen Interessen sein, die diesem gegenübergestellt werden. Die Beeinträchtigung oder partielle Vernachlässigung des Tierwohls bleibt dabei aber eben kein ethisch neutraler Akt, sondern bedarf weiterhin einer Rechtfertigung. Nur kann zugestanden werden, dass eine solche Rechtfertigung unter bestimmten Umständen gegeben sein kann. Wir können jedoch nicht nach Lust und Laune den Wohlzustand eines Tiers beeinträchtigen und uns mit dem bloßen Verweis, sein Wohl sei insgesamt noch positiv genug, weitere Begründungen unseres Handelns ersparen. Wie ich hervorgehoben habe, ist es eben nicht der Wohlzustand selbst, der uns interessieren muss, sondern auch der moralische Anspruch, den wir im Umgang mit Tieren an uns selbst stellen (sollten). So zeugt es von einer zweifelhaften Anerkennung der moralischen Berücksichtigungswürdigkeit von Tieren, wenn man die Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität in bestimmten Situationen als keinerlei Rechtfertigung bedürftig ansieht. Wenn wir unsere Verpflichtungen Tieren gegenüber ausschließlich an einer Schwelle ausreichend hoher Lebensqualität ausrichten, über die hinaus uns nichts weiter zu interessieren hätte, dann scheinen wir uns keinerlei Mühe geben zu müssen, Beeinträchtigungen des Tierwohls so gering wie möglich zu halten, oder darauf hinzuarbeiten, ihr Wohl immer seltener und in immer geringerem Ausmaß zu beeinträchtigen. Hierdurch würden Tiere eben nicht als Individuen ernst genommen, deren Wohl uns moralisch etwas angeht, sondern Individuen, deren Wohl uns erst ab einer bestimmten Schwelle etwas angeht. Es müsste dann überzeugend geklärt werden, was genau Individuen nur unterhalb einer solchen Schwelle berücksichtigungsbedürftig macht. 2 Eine solche Erklärung ist m.E. nicht plausibel konzipierbar. Dass bestimmte Tierwohlzustände besonders besorgniserregend sind, bedeutet nicht, dass uns andere Tierwohlzustände völlig gleichgültig sein können. Wir können nicht einfach wie selbstverständlich einem Tier Ressourcen wegneh-
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Dieser Punkt berührt auch die Argumentationen von Seel und Wolf, die darauf verweisen, Tieren müsse lediglich ein ausreichender »Spielraum« an wohlförderlichen Tätigkeiten ermöglicht werden bzw. die ausreichende Möglichkeit, ein angenehmes Leben führen zu können (vgl. Seel [1998], S. 279ff; Wolf [2012], S. 90-109.). Diese Argumentation läuft jedoch Gefahr, die gezielte Beeinträchtigung der Betätigungsmöglichkeiten von Tieren als moralisch irrelevant abzutun, solange nur der entsprechende »Spielraum« bzw. die Möglichkeitsbedingungen eines angenehmen Lebens gewahrt bleiben.
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men oder vorenthalten, die sein Wohl steigern würden und Kritik an diesem Vorgehen mit der Bemerkung vom Tisch fegen, dass es diesem Tier doch immer noch gut genug gehe. Selbst bei geringen Einmischungen müssen wir unser Handeln ausreichend begründen können. Dies schließt auch unsere positiven Verantwortungspflichten gegenüber Tieren mit ein. Wir nehmen ein Tier eben nicht als moralisch zählendes Individuum ernst wenn wir ihm willkürlich, oder aus trivialen Gründen, bestimmte Unterstützung nicht zukommen lassen, mit dem bloßen Vermerk, sein Leben sei bereits ausreichend positiv geprägt. Wir müssen, wie oben argumentiert, das Wohl eines Tiers nicht bis ins Unermessliche fördern. Ebenso können wir darauf verweisen, dass wir unsere Energie, Zeit und andere Ressourcen auch für unser eigenes Wohl benötigen und entsprechend damit haushalten dürfen. Dies ist aber eben auch kein trivialer Grund, sondern trägt dem Umstand Rechnung, dass auch wir selbst moralisch zählen und Berücksichtigung verdienen. 3 Ein Leben, das weniger gut ist als es sein könnte, aber insgesamt immer noch gut ist, stellt somit für sich genommen keinen moralisch problematischen Zustand dar. Moralisch kritikwürdig ist jedoch unser Umgang mit Tieren, der diesen Zustand herbeiführt. Es sei denn wir können ausreichende Gründe für unser Handeln anführen und damit aufzeigen, dass wir die hierbei betroffenen Tiere als eigenständige Individuen mit moralischem Status weiterhin respektieren, indem wir sie einer Rechtfertigung für unser Handeln als wert erachten und entsprechend behandeln.
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Gerade im Bezug auf frei lebende Tiere mag die Vorstellung absurd wirken, dass wir uns überhaupt dafür rechtfertigen müssen, Tieren, die auch ohne unsere aktive Hilfe gut zurechtkommen, nicht noch zusätzlich zu unterstützen. Wie ich in III.4.4.1. und 4.4.2. verdeutlichen werde, besitzen wir gegenüber den Tieren, die wir in unsere Obhut aufnehmen, jedoch besondere positive Pflichten, die wir nicht gegenüber allen Tieren generell besitzen. Indem wir Tiere in der täglichen Bestreitung ihres Lebens von menschlicher Hilfe abhängig machen, erwerben wir eine besondere Verantwortung für sie, die gegenüber den Tieren, die ihr Leben auf sich selbst gestellt bestreiten können, nicht besitzen. Die Weigerung, gehaltenen Tieren mehr Unterstützung als unbedingt nötig zukommen zu lassen, erfordert daher eine besondere Rechtfertigung. Dass wir eine solche Rechtfertigung für das Unterlassen positiver Hilfsanstrengungen gegenüber frei lebenden Tieren nicht vorbringen müssen, kann somit zugestanden werden, da die entsprechenden Verantwortungsbeziehungen dort nicht vorliegen.
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4.1.3 Ein Recht auf »Dauerurlaub«? Die Annahme einer Obergrenze dessen, was Nutztieren an Lebensqualität von menschlicher Seite geschuldet wird, ist in praxisnahen Tierwohldebatten allgegenwärtig. Dieses Grundverständnis bei Tierwohlwissenschaftlern und Erzeugern von Tierwohlprodukten lässt sich veranschaulichen anhand der Äußerung, es könne ja wohl nicht verlangt werden, dass Halter Tieren eine Art »Dauerurlaub« verschaffen. 4 Abgesehen von der Schwierigkeit, zu bestimmen, was der Wohlzustand eines Tiers enthalten muss, um so bezeichnet werden zu können, enthält dieser Ausdruck mehrere problematische Konnotationen. Erstens dient er dazu, einen als absurd luxuriös aufgefassten Tierwohlzustand emphatisch abzuwerten. Dabei schwingt die Auffassung mit, dass Tiere bestimmten Luxus überhaupt nicht benötigen, um ein zufriedenes Leben führen zu können. Zweitens kommt hierin die oben beschriebene Auffassung zum Tragen, dass es doch egal sei, wie wir mit Tieren umgehen, solange ihr Leben insgesamt betrachtet immer noch ausreichend gut verläuft. Diese Schlussfolgerung habe ich bereits ausführlich kritisiert. Drittens betont der Ausdruck »Dauerurlaub« einen harten Kontrast zwischen dem Komfort, den ein Nutztier hierbei genießen kann und den Belastungen, die dem Tierhalter und allen anderen in der Produktion involvierten Akteuren dafür abverlangt werden. Es entsteht ein unterschwelliges Bild des Menschen, der alle Opfer bringen muss, und des Tiers, das einfach nur genießt. Hierin kommt ein Arbeitsethos zum Ausdruck, wonach Leistung belohnt und Müßiggang abschätzig betrachtet werden müsse, was nun auf Tiere übertragen wird. Allerdings sind die Einrichtungen, in denen Tiere gezüchtet, gehalten und geschlachtet werden, weit davon entfernt, als Kurpensionen für Tiere angesehen werden zu können. Und auch die Bezeichnung »Urlaub« ist selbst bei komfortablen Lebensbedingungen verfehlt, da Nutztieren per definitionem immer eine Leistung abverlangt wird (Fleischmasse ansetzen, Eier legen, Milch produzieren, etc.). Von einem genüsslichen Faulenzen dieser Tiere kann daher nicht die Rede sein. Ein Tier, das tatsächlich nichts, oder nicht genug leistet, wird innerhalb der Nutztierhaltung umgehend als unrentabel aus dem Bestand entfernt – d.h. getötet, sofern der Halter nicht mit einem lokalen Lebenshof zusammenarbeitet, der dieses Tier aufnimmt und versorgt. Dabei handelt es nicht bloß um eine Einzeläußerung, bei der sich ein Verteidiger der Tierhaltung im Ton vergriffen hat. Die oben erwähnten Gedankengänge, die
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Diese Äußerung findet Erwähnung in Busch/Kunzmann (2004), S. 57-58. Die Autoren beziehen sich dabei auf eine Anekdote von Brom, der von einer Tierwohl-Konferenz berichtet, auf der einer der Teilnehmer betonte, dass Tieren zwar Berücksichtigung, aber kein »permanent holiday« geschuldet sei.
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sich darin widerspiegeln, sind m.E. stark verbreitet. Der Verzicht auf die Redeweise vom »Dauerurlaub« löst nicht die dahinter liegenden Überzeugungen plötzlich auf. Ich werde im Folgenden insbesondere die darin mitschwingende Annahme zurückweisen, ein völliges Vermeiden von Tierwohlbeeinträchtigungen stelle eine inakzeptable und unnötige Überforderung der menschlichen Protagonisten und Nutznießer der Nutztierhaltung dar.
4.2 LEGITIMIERUNG DURCH VORRANG MENSCHLICHER INTERESSEN Zur Legitimierung der beschriebenen Beeinträchtigungen wird üblicherweise auf die damit verbundenen Vorteile für den Menschen verwiesen. Hierbei wird den menschlichen Interessen, denen die Nutztierhaltung dient, ein enormes moralisches Gewicht zugeschrieben, welches die Interessen der Tiere an einem (noch) besseren Wohlzustand überwiege. Ins Feld geführt werden u.a. die Ernährung der Bevölkerung, der Zugang zu erschwinglichen Nahrungsmitteln, die Angst vor Nährstoffmangelerscheinungen bei einem völligen Verzicht auf Tierprodukte, und nicht zuletzt die Arbeitsplätze in den Tier züchtenden, haltenden und weiterverarbeitenden Wirtschaftssektoren. Diese Interessen werden unter anderem deshalb betont, da sie nicht so einfach als trivial abgetan werden können, wie dies bei kulinarischen Vorlieben der Fall ist, die beim Konsum von Tierprodukten eine zentrale Rolle spielen. Ich habe in II.4 bereits zurückgewiesen, dass menschlichen Lebewesen und ihren Interessen ein automatischer Vorrang vor den Interessen aller anderen Lebewesen zukommt. Damit habe ich mich gegen zentrale Aussagen des Anthropozentrismus gewandt. Wenn sich menschliche Interessen benennen lassen, die die Einschränkung des Tierwohls zum Zwecke ihrer Nutzung rechtfertigen, so kann dies jedenfalls nicht dadurch belegt werden, dass es sich um die Interessen von Menschen gegenüber denen von »bloßen« Tieren handelt. Die zuvor aufgezählten Gründe, die von Verteidigern der Nutztierhaltung ins Spiel gebracht werden, sind zumindest diskutierbar. Die Möglichkeit, sich ausreichend und ausgewogen zu ernähren, berührt die körperliche Gesundheit von Menschen und damit basale menschliche Interessen. Ebenso ist die Möglichkeit, das eigene Leben finanziell und materiell absichern zu können, in unserer wirtschaftlich eingerichteten Welt von zentraler Bedeutung für das eigene Wohl. Ohne eine solche Absicherung sind Menschen erheblich eingeschränkt in ihrem Zugang zu Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und in ihrer Teilhabe am menschlichen Sozialleben. Wer innerhalb der Nutztierhaltung arbeitet oder in daran anknüpfende
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Wirtschaftszweige involviert ist, hat ein sehr basales Interesse an der Fortführung der Nutzung von Tieren. Nehmen wir einmal an, es gelänge uns, Tiere so zu halten und zu verwerten, dass ihr Wohl bis zu ihrer Schlachtung (und natürlich auch während dieser) nur geringfügig eingeschränkt wird. Es scheint dann zumindest diskutabel, Tieren, die immer noch ein gutes Leben haben, einen gewissen »Bonus« an Lebensqualität zu nehmen bzw. vorzuenthalten, um damit Menschen entgegenzukommen, die andernfalls ihre Nahrung und weitere Lebensgrundlagen verlören. Diese Argumentation stößt jedoch auf drei Probleme. Erstens bleibt auch bei verbesserten Haltungsstandards unverändert, dass Tiere einen enormen Teil ihrer Lebenszeit einbüßen, um ökonomisch möglichst effizient nutzbar zu sein. Wir nehmen ihnen nicht bloß einen kleinen Bonus an Lebenskomfort, sondern einen beträchtlichen Teil der Zeit, in der sie ihr (hoffentlich) gutes Leben genießen können. Zweitens kann das obige Argument nicht dazu herhalten, die derzeitige Nutzung von Tieren zu rechtfertigen, da diese, wie auch durch FAWC, UFAW, etc. bestätigt, momentan erhebliche Tierwohleinschränkungen schon zu Lebzeiten dieser Tiere beinhaltet: schmerzvolle Amputationen, Erkrankungen, starke soziale Einschränkungen, Stress, Verletzungen, Pfusch während des Transports und bei der Schlachtung, um nur einige Faktoren zu nennen. 5 Selbst wenn eine Fortführung der Tiernutzung sich unter idealen Bedingungen rechtfertigen ließe, so fehlt uns bis zur Etablierung der benötigten Verbesserungen die Rechtfertigung, Tiere zwischenzeitlich weiter zu halten und zu nutzen. Drittens ist zu hinterfragen, ob das Aufgeben der Nutztierhaltung tatsächlich einer zwangsläufigen Gefährdung menschlicher Absicherung mit Nahrung und anderen Lebensgrundlagen gleichkäme. Das wäre sie nämlich nur, wenn das Halten und Nutzen von Tieren für diese Zwecke alternativlos wäre. Menschen können sich aber anders ernähren, andere Produkte herstellen und konsumieren, andere Berufe ausüben und anders wirtschaften. 6 Statt nach innovativen Haltungs- und Nutzungsmethoden sollte daher initiativ nach Ausstiegsmöglichkeiten aus der Tiernutzung gesucht werden. Möglichkeiten einer tierproduktfreien Ernährung wurden innerhalb der letzten Jahrzehnte kontinuierlich ausgebaut. Einige vegane Produkte sind selbst in Discount-Supermärkten mittlerweile Teil des Standardrepertoires geworden. Ebenso könnten und sollten Wege gesucht werden, Arbeitsplätze in andere Betätigungsbereiche umzuverlagern. Das dies nicht ad hoc geschehen kann ist offensichtlich. Menschen brauchen alternative Lebensabsicherungen, Berufsaufbildungen, etc. In einigen Fällen können auch noch emotionale Identifikationen mit dem aktuellen Berufsleben hinzukommen, wie etwa bei Familienunternehmen, Bauernhöfen oder einem gewissen Stolz
5
Siehe I. Hauptteil.
6
Ähnlich auch Wolf (2012), S. 128.
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auf das erlernte und ausgeübte Handwerk. 7 Darüber hinaus erfordert die langfristige Versorgung und Unterbringung der derzeit lebenden Massen an Tieren, die für die Nutztierhaltung zur Existenz gebracht wurden, eine aufwendige Vorbereitung und Umsetzung. Mit einem einfachen Öffnen aller Käfig- und Stalltüren ist es nicht getan, zumal es sich hierbei um Tiere handelt, die in vielen Fällen durch ihre Konditionierung oder Züchtung von menschlicher Unterstützung abhängig (geworden) sind. Wir haben unsere gesellschaftliche und ökonomische Lebensweise in vielerlei Hinsicht an den Fortbestand der Nutztierhaltung gekoppelt. Dieser Umstand ist ernstzunehmen für die Entwicklung künftiger Handlungsstrategien. Er gibt uns aber nicht das Recht, Tiere in ihrem Wohl einzuschränken aufgrund von Lebensstilen, die wir reflektieren und ändern können, oder aufgrund von ökonomischen Zwängen, die nicht die betroffenen Tiere, sondern wir zu verschulden haben, aufgrund der Weise, wie wir die Welt, in der wir leben, einrichten. Menschenwohl und Tierwohl sind in unserer aktuellen gesellschaftlichen Lebensweise zwar eng miteinander verkettet, jedoch handelt es sich dabei um kein echtes Dilemma, aus dem kein Weg herausführt. Nur muss auf diese Auswege in der oben beschriebenen Weise hingearbeitet werden.
4.3 LEGITIMIERUNG DURCH EINEN MENSCH-TIERVERTRAG Alternativ zur behaupteten Unvermeidbarkeit des Haltens und Nutzens von Tieren, wird in ethischen und landwirtschaftlichen Diskussion häufig die These eines Mensch-Tier-Vertrags ins Spiel gebracht. Statt zu behaupten, dass (bestimmte) menschliche Interessen die Wohlansprüche von Tieren übertrumpfen, wird hier argumentiert, dass Tiere in ihrem Wohl eingeschränkt werden dürfen, weil sie für diese Beeinträchtigungen auf anderer Seite kompensiert werden. Die Nutztierhaltung wird damit zu einem Geben und Nehmen erklärt. Ich werde im Folgenden kritisch untersuchen, inwieweit sich eine Vertragssituation zwischen Menschen und
7
Comstock schildert solche emotionalen Bezüge, anhand seines eigenen biographischen Hintergrunds als Kind einer traditionellen Farmerfamilie. Er erklärt, dass ein Fortbestand von »family farms« für ihn und andere Menschen emotional bedeutsam sei. Gleichwohl betont er, dass das Tierwohl diesen menschlichen Bestrebungen nicht einfach geopfert werden darf. Farmen sollten erhalten bleiben, aber so umgestaltet werden, dass sie nur noch agrarwirtschaftliche Produkte erzeugen, die von der Nutztierhaltung unabhängig sind (vgl. Comstock [1991], S. 153-156). Eine abgewandelte Fortführung des Fleischerhandwerks ist dagegen nicht vorstellbar.
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Tieren sinnvoll konzipieren lässt, und ob Lebensqualität und Lebenszeit überhaupt legitimer Gegenstand eines Vertrags sein können. 4.3.1 Ist Nutztierhaltung als Mensch-Tier-Vertrag sinnvoll konzipierbar? Ein innerhalb der Tierethik prominenter Ansatz, in dem das Interaktionsverhältnis zwischen Menschen und Nutztieren als wechselseitiger Austausch konzipiert wird, stammt von Rollin. 8 Entscheidend ist jedoch, dass Rollin keineswegs ein romantisierendes Bild eines einträchtigen Nebeneinanders von Mensch und Tier zu beiderseitigem Vorteil skizziert. Vielmehr argumentiert er, dass es in der traditionellen Nutztierhaltung für Landwirte zum vorausschauenden Kalkül gehörte, die Tiere in ihrer Obhut ausreichend zu versorgen. Tiere, die an Mangelernährung, Krankheit und körperlicher Ausgezehrtheit leiden, können nicht rentabel genutzt werden. In Rollins Bild willigt ein Tier nicht ein, genutzt zu werden, um als Gegenleistung bestimmte Vorteile durch den Menschen zu erhalten. Der Mensch allein entscheidet, Tiere zu nutzen und ist aus rein rationalen Gründen gezwungen, im Gegenzug Tieren bestimmte Vorteile zukommen zu lassen. 9 Dabei stellt Rollin das prinzipielle Nutzen von Tieren nicht infrage. Es wird als selbstverständlicher Akt behandelt, der jedoch mit moralisch verbindlichen Handlungsbeschränkungen einhergeht. Das Bereitstellen von Vorteilen dient bei Rollin nicht dazu, die Tiernutzung überhaupt erst zu rechtfertigen. Ihm geht es darum, Nutztierhalter an ihre Fürsorgepflichten gegenüber Tieren in ihrer Obhut zu erinnern. Diese Stoßrichtung wird insbesondere in Rollins Diskussion der Haustierhaltung deutlich. Er beschreibt diese als ein Vertragsverhältnis, bei dem Haustiere uns Gesellschaft leisten und wir im Gegenzug Ernährung, Beschäftigung und soziale Interaktionen bereitstellen bzw. ermöglichen müssen, da dies Tieren durch ihre Gefangenhaltung selbst nicht möglich ist. Dabei attestiert Rollin vielen Haltern, dass sie ihren Verpflichtungen nicht ausreichend nachkommen: »[T]here is indeed a contract between humans and companion animals, and animals are holding up their part well, but humans were significantly failing to do so […]« 10
Rollin beschreibt die Haustierhaltung eben nicht als ein Verhältnis, bei dem Tiere in die Beschneidung ihrer Freiheiten einwilligen, um bestimmte Vorteile genießen zu
8
Vgl. Rollin (1995), S. 141ff; Rollin (2005), S. 105-121; eine gute Übersicht hierzu gibt Haynes (2010), S. 79-80.
9
Vgl. Rollin (1995), S. 141.
10 Rollin (2005), S. 114.
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können. Es wird innerhalb seines Modells gar nicht erst danach gefragt, welchen Grund Tiere hätten, solche Beziehungen einzugehen, sei es als Haus- oder Nutztier. Stattdessen wird wie selbstverständlich konstatiert, dass sich viele Tiere bereits in menschlichen Haltungsverhältnissen befinden. Demgegenüber argumentieren Autoren wie Coppinger und Smith, oder auch Budiansky, dass Tiere sich im Prozess ihrer Domestizierung dafür »entscheiden«, in menschlicher Obhut zu leben, anstatt die Nähe von Menschen zu meiden. Sie bauen ihre Angst vor Menschen ab, entwickeln Zutrauen, und schätzen die Bereitstellung von Nahrung und Witterungsschutz, den sie durch Menschen erfahren. Als Folge entscheiden sie sich, dem Menschen nahe zu bleiben, anstatt auf sich gestellt in der freien Natur zu leben. 11 Diesem Ansatz nach erklären sich Tiere bereit, vom Menschen angebotene Vorteile fortdauernd entgegenzunehmen, woraus die genannten Autoren ein Recht des Menschen ableiten, im Gegenzug diese Tiere für eigene Zwecke zu nutzen, was mit einer Beeinträchtigung bestimmter Wohl-Dimensionen einhergeht. Allein die Tatsache, dass sich Tiere überhaupt erfolgreich domestizieren lassen, spricht hiernach dafür, dass sie in menschlicher Obhut substantielle Vorteile genießen und von sich aus wählen. Gegen dieses zweite Modell der Vertragsidee (aber auch gegen Rollins 12), wendet sich ausdrücklich Haynes. Er gesteht Coppinger, Smith und Budiansky zu, dass individuelle Tiere sich dafür entscheiden können, nahe beim Menschen zu leben, dort zu bleiben, und mit Menschen zu interagieren. Daraus könne aber nicht abgeleitet werden, dass diese Individuen – geschweige denn die gesamte Spezies, der sie angehören – sich dazu entschieden hätten, domestiziert zu werden. Domestizierung ist ein abstraktes Konzept mit langzeitlichen Auswirkungen, die Tiere in ihrer vollen Tragweite nicht antizipieren können. Entsprechend können sie einem solchen Prozess und der Veränderung all ihrer Nachkommen auch nicht bewusst zustimmen. 13 Ähnlich betont auch Palmer, dass wir Tieren zwar unterstellen können, sich auf bestimmte Interaktionsformen mit Menschen freiwillig eingelassen zu haben. Daraus aber könnten wir keine generelle Zustimmung zum gesamten Prozess von Domestizierung und Nutztierhaltung ableiten: »Whatever immediate interactions animals might have »consented« to (petting, being fed, etc.), they could not, after all, realistically be construed as tacitly consenting to the process of
11 Ich stütze mich hierbei auf die Diskussion der genannten Autoren in Haynes (2010), S. 136. 12 Vgl. ebd., S. 84. 13 Vgl. ebd., S. 136.
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domestication. The dramatic, generational changes involved could not be reasonably thought to be tacitly consented to by eating a crust of bread thrown in a doorway.« 14
Zudem könnte sich so ein Argument, wie oben bereits angedeutet, allenfalls auf diejenigen Tierindividuen beziehen, die tatsächlich einmal die Option hatten, die vom Menschen bereitgestellte Haltungsumwelt abzulehnen und ihr fernzubleiben. Heutige Nutztiere werden jedoch direkt in ihr Haltungs- und Nutzungsverhältnis hineingeboren. 15 Sie werden gezielt hierfür erschaffen und es wird von menschlicher Seite akribisch darauf geachtet, dass sie diesen Kontext auch nicht eigenmächtig verlassen. Viele der heutigen Nutztiere sind so gezüchtet, dass ihnen ein Leben ohne ständige menschliche Fürsorge auch gar nicht mehr möglich ist. Sie haben keine Wahl. Und selbst diejenigen Tiere, die in freier Natur überleben könnten, werden nicht einfach ziehen gelassen. Tiere, denen es gelingt, aus ihren Gehegen auszubrechen, werden nach Möglichkeit wieder eingefangen, anstatt dies als Zeichen zu deuten, dass sie die Vorteile menschlicher Obhut zugunsten von mehr Handlungsspielraum aufzugeben bereit sind. Sie werden in jedem Fall dazu genötigt, Leistung zu erbringen. Nicht, weil sie bereits menschliche Fürsorge erhalten haben und durch ihren Ausbruchversuch gewissermaßen »die Zeche prellen« würden, sondern, weil diese Tiere bereits von vornherein als Eigentum betrachtet werden. Den Aktivisten, die Tiere aus ihren Ställen befreien, wird von Haltern eben nicht vorgeworfen, dass sie Tiere eigenmächtig aus einem reziproken Verhältnis entfernen, ohne geprüft zu haben, ob die betroffenen Tiere diesen Austritt von sich aus begrüßen. Was ihnen vorgeworfen wird ist Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und die Entwendung von rechtmäßig erworbenem Eigentum: den Tieren. 16 Es ist darüber hinaus bemerkenswert, dass Verteidiger der Nutztierhaltung üblicherweise ausdrücklich davor warnen, Tiere zu »vermenschlichen«, also Konzepte und Fähigkeiten auf Tiere zu projizieren, die aufgrund intellektueller Fähigkeiten nur auf menschliche Personen sinnvoll angewandt werden können. 17 Gleichzeitig aber gibt es von Seiten dieser Verteidiger offensichtlich wenig Hemmung, Ideen
14 Palmer (2010), S. 59-60. 15 Vgl. ebd., S. 60. 16 Solche Zusammenhänge machen die Tragweite der Kritik von Francione und Sapontzis deutlich, die einfordern, ein ethisch legitimer Umgang mit Tieren müsse damit beginnen, sie zuallererst als eigenständige Individuen und nicht mehr als rechtlich zu schützendes Eigentum anzuerkennen (vgl. Francione [2008], S. 7ff; Sapontzis [1987], S. 78). 17 Nach meinen Diskussionserfahrungen muss mit Verteidigern der Nutztierhaltung um jede einzelne ethisch relevante Fähigkeit, die Tieren zugesprochen werden kann, lange und zäh gerungen werden.
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von vertraglichen Bindungen, Leistungsaustausch, reziproken Anspruchsrechten und Arbeitsethos, 18 die das menschliche Gesellschaftsleben prägen, auf Tiere und ihre Lebenswelt zu übertragen. Sicher kann eingewandt werden, dass den Verteidigern dieser Idee nicht das exakt gleiche Vertragsverhältnis wie zwischen menschlichen Akteuren vorschwebt. Niemand erwartet, dass Tiere Nutzungsverträge verstehen, reflektieren und wortwörtlich unterschreiben können. Wenn aber das Zustandekommen dieses QuasiVertrags nicht dieselben Anforderungen benötigt wie ein vollwertiger Vertrag, dann ist unklar, warum dieser Quasi-Vertrag dennoch dieselbe Verbindlichkeit haben sollte. Tiere sind keine kompetenten Vertragspartner. 19 Entsprechend stellt Nietzsche bekanntermaßen fest, dass der Mensch das einzige Tier ist, das »versprechen darf« (und damit auch Verträge verbindlich eingehen). 20 Die Idee eines Quasi-Vertrags zwischen Mensch und Nutztier kommt auch im Konzept der Zoopolis von Kymlicka und Donaldson zum Tragen. 21 Die Autoren halten an der prinzipiellen Nutzung von Tieren zwar fest, halten jedoch nur solche Formen für legitim, bei denen Nutztiere für erbrachte Leistungen angemessen entschädigt und über ihre Nützlichkeit hinaus fürsorglich behandelt werden. Sobald ein Nutztier keine ausreichend rentablen Leistungen mehr erbringt, darf es nicht einfach geschlachtet werden, sondern hat durch die zuvor erbrachte Leistung einen Anspruch auf Versorgung für den Rest seines Lebens. 22 Wir besitzen Verantwortung gegenüber Nutztieren und können uns ihrer nicht einfach entledigen. Die Verkürzung der Lebenszeit von Tieren wird von den Autoren als nicht ausgleichbar betrachtet. Egal wie gut wir die Tiere, die wir halten und nutzen, behandeln, wir können die Vorteile, die wir ihnen für ihr Wohl bereitstellen, nicht als Rechtfertigung dafür anführen, ihnen hinsichtlich anderer Dimensionen ihres Wohls erhebliche Abstriche abzuverlangen, bspw. durch frühzeitige Tötung. Problematisch ist an Kymlickas und Donaldsons Entschädigungsgedanken, dass offen bleibt, wie wir mit Tieren umgehen dürfen, die niemals einen Nutzen erbracht haben: bspw. männliche Küken bei Legehennen oder körperlich unterentwickelte Tiere. Denkbar ist, dass für die Autoren, Tiere kein sinnvolles Interesse daran haben können, Verträge einzugehen, deren Bedingungen sie ihrerseits nicht einlösen können, wodurch der Nutzungsvertrag in diesen Fällen von vornherein ungültig
18 Im Sinne von: »Für genossenen Komfort hat man Gegenleistungen zu erbringen!« 19 Ähnlich auch Wolf (2012), S. 97-98. 20 Vgl. Nietzsche (1999), S. 291-294. 21 Vgl. Donaldson/Kymlicka (2011). Es geht hierbei um die Idee, das Zusammenleben bzw. Koexistieren von Menschen und Tieren nach politischen und rechtlichen Mustern zu gestalten, die bislang ausschließlich für das zwischenmenschliche Leben konzipiert wurden. 22 Vgl. Donaldson/Kymlicka (2014), S. 5-26.
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wäre. Diese Tiere hätten demzufolge keinen Anspruch auf menschliche Versorgung, dürften aber auch gleichzeitig nicht von Menschen gehalten werden. Wie Ladwig hervorhebt, ist aber bereits die Grundidee, Tieren ein Anspruchsrecht auf angemessene Entschädigung zuzuschreiben, nicht plausibel stützbar. Tiere verfügen weder über ein abstraktes Konzept von Vertragsabschlüssen, noch besitzen sie eine Vorstellung von angemessener Entlohnung oder Leistungsausgleich. Sie können nicht antizipieren, ob die Vorteile, die sie in menschlicher Obhut genießen, gemessen an der Leistung, die Menschen ihnen abverlangen, angemessen und fair sind. Es kann ihnen lediglich etwas ausmachen, wie sich ihre Lebenssituation auf ihr Wohl und ihr Weiterleben auswirkt. 23 Alternativ kann jedoch auch versucht werden, die Nutztierhaltung als Interaktionsverhältnis zu konzipieren, welches Tiere zwar nicht in seiner Abstraktheit verstehen können, ihrem Wohl aber so förderlich wäre, dass ihnen ein objektivierbares subjektives Interesse zugeschrieben werden kann, dieses Verhältnis einzugehen. Haynes beschreibt eine solche Möglichkeit anhand des Konzepts des constructed consent, einer Art hypothetischer Zustimmung. Wenn wir für andere Individuen Verantwortung übernehmen, kann es gute Gründe geben, stellvertretend für sie wichtige Lebensentscheidungen zu treffen. Voraussetzung ist hierbei, dass die Betroffenen selbst nicht in der Lage sind, zu verstehen, welche Optionen ihnen offenstehen und welche drastischen Auswirkungen diese für ihr Wohl haben. Solche Entscheidungen treffen Menschen für Tiere ständig, 24 bspw. wenn es darum geht, ein Tier einer lebensrettenden aber auch leidvollen Operation zu unterziehen, oder ein Tier einzuschläfern. Die ökonomische Nutzung von Tieren lässt sich laut Haynes aber gerade nicht durch einen constructed consent rechtfertigen. Seine Idee hypothetischer Zustimmung bezieht sich auf Szenarien, in denen das Wohl eines Individuums akut bedroht ist und Menschen aus Fürsorge versuchen, stellvertretend zu entscheiden, was am besten für das betroffene Individuum ist. Dabei wird das nicht kalkulierbare Risiko von Fehleinschätzungen in Kauf genommen, weil man überzeugt ist, dass es für das Wohl des betroffenen Individuums ebenfalls fatal wäre, wenn man in dessen Lebenssituation nicht eingriffe und den Dingen einfach ihren Lauf ließe. 25 Constructed consent stützt sich auf altruistische Motive, bei denen wir das betroffene Individuum und sein Wohl in den Fokus stellen, anstelle unserer eigenen Absichten. Wir halten und nutzen Tiere aber eben nicht zu ihrem Wohl, sondern zu unserem. Die Annahme einer hypothetischen Zustimmung bedeutet immer, das betroffene Individuum nicht nach seiner eigenen Position zu fragen und über seinen
23 Vgl. Ladwig (2014), S. 35. 24 Vgl. Haynes (2010), S. 54. 25 Vgl. ebd., S. 54.
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Kopf hinweg über dessen weiteren Lebensverlauf zu entscheiden. Wenn wir ein Tier als eigenständiges Wesen mit moralischem Status tatsächlich ernst nehmen, müssen wir ausreichend gewichtige Gründe vorweisen, um diese Fremdbestimmung rechtfertigen zu können. 26 Verteidiger der Nutztierhaltung müssen glaubhaft machen, dass Tiere außerhalb des Nutzungskontextes wesentlich »ärmer dran« wären, um Beschränkungen ihres Wohls innerhalb der Nutztierhaltung zu legitimieren. Eine hypothetische Zustimmung lässt sich bspw. glaubhaft begründen für Tiere, die in Schutzstationen gehalten und versorgt werden. Denn es ist anzunehmen, dass die verletzten oder unterentwickelten Tiere, um die es hierbei geht, außerhalb menschlicher Obhut kaum Chancen auf ein einigermaßen angenehmes Leben hätten. Vor allem aber werden diese Tiere nicht für menschlichen Nutzen, sondern zu ihrem eigenen Schutz dort gehalten. Bei Haynes constructed consent geht es dezidiert nicht um Leistungsaustausch oder ein nachträgliches Rechtfertigen unserer Nutzung von Tieren. Genau das aber scheinen Verteidiger der Nutztierhaltung anzustreben, wenn sie hypothetische Verträge oder Tauschhandel ins Spiel bringen. 4.3.2 Nutztierhaltung als vorteilhafter »Deal« für Tiere? Ich habe im vorherigen Unterabschnitt zurückgewiesen, dass das Halten von Tieren, mit dem Ziel sie zu nutzen, als altruistischer Akt bezeichnet werden könne, der aus Interesse am Wohl des betroffenen Tiers unternommen wird. Eine solche altruistische Haltung aber scheint entscheidend für ein Recht, die Lebenssituation von Tieren gezielt zu beeinflussen. Ein Tier als eigenständiges Individuum mit moralischem Status anzuerkennen, beinhaltet auch, dass wir nicht wie selbstverständlich die Lebenssituation von Tieren in unserem Interesse gestalten dürfen, selbst wenn unsere Ziele sich auch für die betroffenen Tiere vorteilhaft auswirken. Aber auch die Behauptung, dass Tiere durch die Nutztierhaltung hinsichtlich ihres Wohls besser abschneiden, als wenn wir sie sich selbst überließen, ist bereits anzuzweifeln. Auch Nutztiere, die ein Leben in sehr komfortablen Haltungsbedingungen führen, ohne Stress und Verletzungen durch Artgenossen, mit Beschäftigungsmöglichkeiten, Ruhephasen und sozialen Interaktionen, werden aus Gründen der ökonomischen Rentabilität nur für einen kurzen Zeitraum dieses Leben genießen können. Ihre Vorteile enden mit Erreichen des angestrebten Schlachtgewichts oder deutlicher Abnahme der Leistungsfähigkeit. Was Tieren hierbei hypothetisch zur Auswahl steht, ist ein kurzes aber durch menschliche Hilfe abgesichertes und komfortables Leben einerseits, oder ein Leben ohne menschliche Handlungsein-
26 Vgl. ebd., S. 137.
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schränkungen andererseits, mit weniger Komfort und ungewisser Lebenserwartung, die aber auch deutlich höher ausfallen kann als innerhalb der Nutztierhaltung. Aus kurzzeitiger Perspektive scheint das Angebot, ein stark verkürztes aber sehr komfortables Leben führen zu können, sehr verlockend. Und vielen Tieren kann auch eine eher kurzzeitige Perspektive unterstellt werden. Wie unter II.1 argumentiert, besagt dieser Umstand aber nur, dass Tiere sich für ihre ferner liegende Zukunft faktisch nicht interessieren, nicht aber, dass es für das Wohl dieser Tiere belanglos wäre, wie diese Zukunft aussehen würde. Wir als Außenstehende sind jedoch in der Lage, zukünftige Ereignisse im Leben dieser Tiere zu antizipieren und mit einiger Verlässlichkeit zu urteilen, dass sie sich auf ihr Wohl positiv oder negativ auswirken werden. Bspw. können wir davon ausgehen, dass ein Tier es auch morgen noch genießen würde, wenn es ein angenehmes Leben führt, auch wenn dieses Tier selbst keine Vorstellung vom Morgen hat. Wir dürfen die zeitliche Kurzsichtigkeit von Tieren nicht einfach als Rechtfertigung für unsere Handlungsabsichten missbrauchen. Einige domestizierte Tiere, vor allem wenn sie aus stark spezialisierten Zuchtlinien stammen, sind jedoch vermutlich nicht lebensfähig außerhalb menschlicher Obhut. 27 Das spricht jedoch lediglich dafür, dass wir verpflichtet sind, diese Tiere nicht einfach sich selbst zu überlassen. Ihre Unfähigkeit, alleine in der Natur zurechtzukommen, ist eine Folge menschlicher Züchtung und Domestizierung und hieraus leiten sich positive Pflichten gegenüber diesen Tieren ab. Wir können ihre Unfähigkeit jedoch nicht als Rechtfertigung nehmen, diese Tiere für unsere Zwecke zu nutzen. 28 Noch weniger können wir hieraus das Recht ableiten, Tiere, die in dieser Form von Menschen abhängig sein werden, immer wieder und wieder zu erschaffen, um sie dann nutzen zu können. Die Nutztierhaltung ist keine Praxis, die diesen von Menschen abhängigen Tieren zugute kommt. Sie erschafft überhaupt erst diese Tiere in ihrer Abhängigkeit. Und wie in III.2.7 verdeutlicht wurde, kann es für ein Tier nicht schlecht sein, nie existiert zu haben. Gleichwohl wendet sich bspw. Haynes nicht gegen das prinzipielle Nutzen von Tieren. Er ist überzeugt, dass wir in moralisch legitimer Weise mit Tieren interagieren können, wozu auch bestimmte Formen der Nutzung von Tieren und ihrer Pro-
27 Vgl. ebd., S. 137. Wobei Haynes betont, dass etwa Schweine sehr gut ausgewildert werden können. Man kann hiervon Schweine ausnehmen, die aufgrund ihrer Züchtung so stark Gewicht ansetzen, dass sie in ihren Bewegungen stark eingeschränkt sind und daher in der Wildnis nicht gut zurechtkämen. Hierbei aber handelt es sich ohnehin um »Qualzuchten«, deren Erschaffung bereits gegen das Gebot der Leidvermeidung verstößt. 28 Vgl. Wolf (2012), S. 97-98.
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dukte gehören. Bedingung ist jedoch, dass Tiere für den Nutzen, den wir ihnen dabei abverlangen, ausreichend entschädigt werden, im Sinne von Fairness. 29 Auch Evelyn Pluhar argumentiert in diese Richtung. Sofern wir Tieren ein gutes Leben verschaffen, sei es in Ordnung bspw. Eier und Milch von ihnen abzuzweigen, quasi als stummes Tauschgeschäft. 30 Dabei scheint Pluhar implizit anzunehmen, dass bei einem fairen stummen Tausch Tiere in ihrem Wohl insgesamt eben nicht beeinträchtigt werden, sondern vorhandene Beeinträchtigungen durch genossenen Komfort in menschlicher Haltung vollständig ausgeglichen werden können. Das Abzweigen von Eiern und Milch bei Tieren, die wir unabhängig von ihrer Nützlichkeit halten und weiterversorgen, ließe sich noch als moralisch unproblematisch diskutieren. Wann immer aber Tiere in ökonomisch rentabler Weise genutzt werden sollen, werden ihre Lebenszeit und bestimmte Dimensionen ihre Wohls in einem Ausmaß eingeschränkt, das nicht auf diese Weise ausgleichbar scheint. Hühner, die keine Eier mehr legen, werden geschlachtet. Kühe werden für die Milchproduktion gezielt befruchtet und von ihren Kälbern getrennt. Und auch sie werden letztendlich geschlachtet, wenn sie nicht mehr genügend Milch geben. Die Frage, ob Tiere für ihre Nutzung ausreichende Vorteile als Entschädigung erhalten können, hängt bereits von der Frage ab, ob Lebenszeit und Lebensqualität selbst Gegenstand eines fairen Tauschhandels oder »stummen Vertrags« sein dürfen. Oder besser: Ob (hypothetische) Verträge, die einer Partei das Recht zugestehen, der anderen Partei Lebenszeit und Lebensqualität zu nehmen, überhaupt moralisch zulässige Abmachungen darstellen. Ist dies nicht der Fall, so kann es schlichtweg keine angemessene Entschädigung für die Verkürzung ihres Lebens oder für andere gezielte Beeinträchtigungen ihres Wohls geben. 4.3.3 Kann es angemessene Entschädigungen für Gefangenschaft und Lebensverkürzung geben? Bei einem »stummen Vertrag« unterstellen wir laut Haynes, dass ein Tier Gründe hat, diesem Vertrag zuzustimmen. Und zwar Gründe, die nicht willkürlich, irrational oder das Ergebnis von Täuschung und Indoktrination sind. 31 Warum aber sollte es im Sinne des betroffenen Tiers sein, einen Tauschhandel einzugehen, indem es für genossenen Komfort in menschlicher Obhut Lebenszeit und bestimmte andere Aspekte seines Wohls aufgibt? Autoren wie Appleby scheinen es für plausibel zu halten, dass ein Tier zu Lebzeiten ausreichend dafür entschädigt werden kann, dass ihm beträchtliche künftige
29 Vgl. Haynes (2010), S. 53-55. 30 Vgl. Pluhar (2004), S. 96. 31 Vgl. Haynes (2010), S. 137.
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Lebenszeit genommen wird. 32 Comstock hingegen betont, dass Lebenszeit ein zu zentrales Gut ist, als dass es einfach durch zuvor genossenen Komfort aufgewogen werden könnte. Er beschreibt den »Nutzungsvertrag« zwischen Menschen und Schlachttieren als einen Handel, der die betroffenen Tiere übervorteilt: »To pay us back with their lives at an early age simply to satisfy our pleasure in eating their carcasses. The contract seems a bit one-sided.« 33
Könnten Tiere solche Verträge wirklich abschließen, hätten wir als verantwortungsvolle Moralakteure die Pflicht, sie hiervon abzuhalten. Anders verhielte es sich, wenn die Zukunftsaussichten eines Tiers nur wenig Positives bereithalten. In einem solchen Fall ist eine komfortable kurzzeitige Zukunft einer langzeitigen von Leid oder Stagnation geprägten tatsächlich vorzuziehen. 34 Das Nutzen und frühzeitige Töten solcher Tiere durch deren düstere Zukunftsperspektive zu rechtfertigen, hieße menschliche Hilfsleistungen an die Gegenforderung zu binden, diese Tiere für menschliche Konsuminteressen nutzen zu dürfen. Wenn wir unsere »Hilfsbereitschaft« an solche Gegenforderungen koppeln, ist dies Ausdruck von Motiven, die nichts mehr mit Fürsorge zu tun haben. In solchen Fällen haben wir es mit menschlichen Akteuren zu tun, deren vorrangiges Ziel es ist, ihre konsumtiven Interessen zu befriedigen und denen die wenig rosige Lebensperspektive einiger Tiere dabei sehr gelegen kommt. Wir können Tiere auch aktiv unterstützen, versorgen, und vor strapazierenden Umwelteinflüssen und zukünftigen Leiden schützen, ohne sie für menschliche Zwecke nutzen zu müssen. Außerdem ist zu bezweifeln, dass sich genügend Tiere mit trister Langzeitperspektive finden lassen, um hierdurch eine ökonomisch rentable Tierproduktindustrie am Laufen zu halten. Wir dürfen uns hierbei nicht darauf berufen, dass derzeit viele Tiere durch Züchtung, Verletzungen oder Erkrankungen, kein allzu positives langes Leben vor sich hätten, da diese Lebensumstände durch menschliche Praktiken erst verursacht werden. Sie sind bereits das Ergebnis eines Nutzungsverhältnisses, welches Tiere aus guten Gründen ablehnen sollten. Was aber ist mit Tieren, die nichts Wesentliches mehr zu verlieren haben, weil ihr Tod auch ohne menschliches Zutun unmittelbar bevorsteht? Comstock hält diese Form der Tiernutzung zumindest für eher vertretbar:
32 Ich stütze mich hierbei auf die Darstellung von Appleby und ähnlich positionierten Autoren in ebd., S. 81, 113-114. 33 Comstock (2000), S. 111. 34 McMahan vertieft diese Problematik in McMahan (2016), S. 65-85.
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»If the terms of the agreement were to support hogs into comfortable retirement and then take the carcasses of animals dying of natural causes for sausages, the covenant argument would be more persuasive.« 35
Ich habe bereits in den vorangegangen Kapiteln betont, dass das gezielte Züchten von Tieren auf Kurzlebigkeit eine spitzfindige Ausnutzung solcher Argumente darstellen würde. Als Kern von Positionen wie Comstocks verstehe ich hingegen eine bestimmte Einstellung gegenüber Tieren, wonach wir ihre Körper (oder Teile davon) nutzen dürfen, weil die betroffenen Individuen diese selbst nicht mehr benötigen. In Comstocks Szenario scheinen Tiere tatsächlich nichts Signifikantes zu verlieren. Auch scheint es unplausibel, Tieren einen eigenen Wunsch darüber zu unterstellen, was mit ihren Körpern nach ihrem Tod geschehen soll. Insofern lassen sich schwer Gründe benennen, warum ein Tier es ablehnen sollte, dass sein Körper nach seinem Tod genutzt und verwertet wird. 36 Das schließt nicht die Möglichkeit aus, das Verzehren und Verarbeiten von Tierkörpern aus Pietätgründen auch in solchen Fällen abzulehnen. 37 Darüber hinaus scheint der von Comstock diskutierte Konsum von Tieren, die ohne menschliches Zutun gestorben sind, ohnehin eine Abkehr vom Nutzenkalkül einzufordern. Es muss hierbei, so meine Interpretation, um Tiere gehen, auf deren Tod nicht bereits von vornherein geduldig gewartet wird, um eine von Anfang an herbeigesehnte Konsumbefriedigung zu erlangen. Andernfalls bekommt das Halten und Versorgen dieser Tiere eine perfide Note und offenbart eine Motivation, die nichts mit Fürsorge zu tun hat und der Anerkennung als Lebewesen mit eigenem moralischem Status. Denn selbst wenn diese Tiere zu Lebzeiten gut versorgt würden, ist dem Nutzenkalkül folgend nur ihr Ableben von Interesse. Auch auf diesem Weg lässt sich die Nutztierhaltung nicht zu einer Praxis reformieren, die wir mit »gutem Gewissen« fortführen können.
4.4 WAS SCHULDEN WIR TIEREN AN WOHL? Im Folgenden werde ich klarer umreißen, was wir Tieren moralisch schulden und welche Funktion der Berücksichtigung ihres Wohls dabei zukommt. Es geht hierbei ausdrücklich nicht um eine Aufzählung konkreter Ressourcen, da dies eine eigen-
35 Comstock (2000), S. 111. 36 Die unter dem Schlagwort »road kill« geführte Diskussion darüber, ob wir Tiere essen dürfen, die unbeabsichtigt auf Straßen überfahren wurden, setzt an diesem Gedanken an (siehe bspw. Bruckner [2016], S. 30-47). 37 Vgl. Wolf (2012), S. 73.
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ständige empirische Ausarbeitung erfordern würde. Ziel dieses Abschnittes ist stattdessen, ein grundsätzlicheres Verständnis darüber zu gewinnen, wie wir mit Tieren umzugehen haben, und inwiefern ihre Haltung und Nutzung mit diesem moralischen Anspruch in Konflikt steht. 4.4.1 Pflichten gegenüber Tieren aufgrund besonderer Beziehungen Unsere Handlungsverpflichtungen gegenüber anderen Individuen ergeben sich anhand zweier Komponenten. Erstens, inwieweit dieses Individuum fähig ist, das eigene Leben bewusst als leidvoll oder angenehm zu empfinden. Dies ist die Grundlage dafür, einem Wesen ein eigenes subjektives Wohl zuzuschreiben und die Voraussetzung (notwendige wie hinreichende), ihm überhaupt etwas moralisch direkt zu schulden. 38 Die Tiere, die in der Nutztierhaltung vornehmlich eingesetzt werden, Schweine, Hühner und Kühe, erfüllen diese Voraussetzung unstrittiger Weise. Andernfalls könnte auch nicht sinnvoll innerhalb der empirischen Wissenschaften über ihr Wohl diskutiert werden, da sie dann kein subjektives Wohl hätten. 39 Scheffler spricht hierbei von allgemeinen Pflichten gegenüber Individuen, Rawls von natürlichen Pflichten. 40 Zweitens spielen die Beziehungen zwischen menschlichen Moralakteuren und den Lebewesen, mit denen sie interagieren, eine Rolle. Hieraus leiten sich zusätzliche, besondere Pflichten gegenüber bestimmten Individuen in bestimmten Kontexten ab. Je nach Art der vorliegenden Beziehungen variieren auch die Art und die Stärke unserer negativen und positiven besonderen Handlungspflichten gegenüber den entsprechenden Individuen. Wir schulden nicht allen Lebewesen exakt das gleiche Maß an Berücksichtigung, selbst wenn sie vergleichbare intellektuelle oder Empfindungsfähigkeiten besitzen. Wir befinden uns immer zugleich in konkreten Beziehungskontexten zu den Individuen, mit denen wir interagieren. 41 Die Arten, in denen Individuen zueinander in Beziehung stehen können, sind vielfältig. Nicht alle
38 Vgl. ebd., S. 73ff, 107ff. 39 Die Möglichkeit, die Nutztierhaltung durch Wechsel auf andere Tiere zu reformieren, bleibt damit weiter offen, indem wir etwa auf Muscheln oder proteinhaltige Insekten umsteigen. Mir geht es an dieser Stelle um eine Kritik des Haltens und Nutzens derjenigen Tiere, die die Schwelle der moralischen Berücksichtigung klarerweise erreichen. Mit einer Ausnahme: Tiere, die sich nur deshalb unterhalb dieser Schwelle befinden, weil Menschen durch genmanipulative Eingriffe gezielt hierfür gesorgt haben (siehe III.5.). 40 Vgl. Scheffler (2001a), S. 48; Rawls (1999), S. 98. 41 Vgl. Wolf (2012), S. 107ff. Auch Palmer kritisiert, dass klassische Tierethikansätze sich allein auf die Fähigkeiten von Tieren versteift hätten (vgl. Palmer [2010], Ch. 3).
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besitzen ethische Relevanz 42 und nicht alle lassen sich sinnvoll auf Mensch-TierBeziehungen übertragen (ich vertiefe dies unter III.4.4.2). Wir können dabei zu anderen Individuen in mehreren Beziehungen gleichzeitig stehen. Und, was noch wichtiger ist, einige unserer Beziehungen können fortdauern, während andere bereits aufgelöst wurden. Zu den wichtigsten Beziehungsformen, die Menschen gegenüber Tieren besitzen können, gehören für Palmer kausale Beziehungen und emotionale. Emotionale Beziehungen bestehen bspw. darin, besondere Sympathie für ein konkretes Tierindividuum zu entwickeln, verbunden mit dem Wunsch, Verantwortung für es zu übernehmen. 43 In Bezug auf die Nutztierhaltung konzentriert sich Palmer auf die kausalen Verantwortungsbeziehungen zwischen Menschen und Tieren. Aber auch die emotionalen Beziehungen zwischen Menschen und den Tieren in ihrer Obhut verdienen eine eigene Auseinandersetzung – zumal viele Landwirte in Gesprächen betonen, dass ihnen die Tiere, die sie halten und nutzen, nicht egal sind, und sie nicht nur aus ökonomischen, sondern auch empathischen Gründen, an deren Wohl interessiert seien. Wenn Landwirte von »ihren Tieren« sprechen, schwingt dabei oftmals zugleich die Betonung von Besitzverhältnissen und von Verantwortungsbeziehungen mit. Zwar werden medial immer mehr Fälle behandelt, in denen Landwirte, Züchter, Schlachthöfe, etc. die Tiere in ihrer Obhut mit augenscheinlicher Gleichgültigkeit misshandeln. Dennoch lässt sich m.E. nicht pauschal leugnen, dass viele Erzeuger von Tierprodukten, um einen rücksichtsvollen Umgang mit Tieren bemüht sind, um nicht nur vor Medien und Verbrauchern, sondern auch vor sich selbst nicht als »Unmenschen« dazustehen. Ich richte meine Aufmerksamkeit in diesem Abschnitt dennoch Palmer folgend primär auf kausale Verantwortungsbeziehungen zu Nutztieren. Menschliche Moralakteure können laut Palmer Tieren gegenüber in zweierlei Hinsicht besondere Kausalbeziehungen besitzen: 1. vulnerability and dependence: Indem wir Tieren bestimmte Eigenschaften
anzüchten, die ökonomisch vorteilhaft, für ein Überleben in freier Natur aber nachteilig sind, erzeugen wir eine hohe Verletzbarkeit dieser Tiere und damit eine hohe Abhängigkeit ihrerseits von menschlicher Fürsorge. Gleiches gilt für die Gefangenhaltung von Tieren, durch die wir sie extern darin einschränken, sich selbst zu versorgen, und intern an von Menschen kontrollierte Haltungs-
42 Es gibt triviale Beziehungen, wie zufälligerweise am selben Tag wie jemand anderes geboren zu sein. Auch gibt es, wie Scheffler betont, starke emotionale Beziehungen, die keine besonderen Verpflichtungen und Anspruchsrechte generieren, etwa die Beziehung zwischen erklärten Erzfeinden (vgl. Scheffler [1997], S. 199). 43 Vgl. Palmer (2011b), S. 708.
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umgebungen gewöhnen, so dass sie außerhalb dieser nicht mehr zurechtkommen. 2. prior harm: Indem wir ein Tier durch unsere Handlungen schädigen, besitzen wir ihm gegenüber eine besondere Verpflichtung, es aktiv in seinem Wohl zu unterstützen. 44 Palmer fasst den Ursprung dieser Verantwortungsbeziehungen eindrucksvoll in zwei Textpassagen zusammen: »Domesticated animals, in contrast, are deeply entangled in human society. Their natures are shaped by us. They are bred by us. Their bodies have the forms that we have selected, and, to some degree, at least, their minds reflect human influence. They may not be able to provide for themselves, and even if they could, they are often confined in ways that makes this impossible for them. So, while wild animals provide for themselves, the existence, nature, and situation of domesticated animals is causally bound up with humans.«
45
»This dependence has not just come about serendipitously. It has been brought about by deliberate human activities. In most cases, humans are largely responsible for (a) the actual situation in which domesticated animals live, often closely confined in spaces that prevent them from finding food, mates, and the like independently of human provision; (b) key facets of domesticated animal natures, including in many cases an inability to be self-sufficient owing to physiological or temperamental changes; and (c) the very existence of most individual domesticated animals, because they are bred by humans.«
46
[Hervorhebungen im Origi-
nal]
Wir stehen hiernach zu den Tieren, die wir in unserer Obhut halten, in besonderer Beziehung, weil wir es sind, die diese Tiere aktiv darin behindern, ihre Bedürfnisse unabhängig von menschlicher Unterstützung zu befriedigen. Und insbesondere bei der Nutztierhaltung handelt es sich um schutzbedürftige Tiere, die ihren Haltern nicht einfach in den Schoß fallen. Landwirte entscheiden sich explizit dazu, Tiere zu halten und bei Züchtern zu bestellen, die sich ihrerseits explizit dazu entscheiden, Tiere für den Weiterverkauf an Landwirte zur Existenz zu bringen. Indem Menschen den Entschluss fassen, Tiere zu halten, nehmen sie sämtliche Wohlbeeinträchtigungen und Abhängigkeiten, die diese Praktik mit sich bringt, in Kauf. Es ist daher nicht entscheidend, ob Tierhalter sich faktisch gegenüber den Tieren in ihrer Obhut moralisch zur Fürsorge verpflichtet fühlen. Es genügt, dass Halter durch ihr
44 Vgl. ebd., S. S. 701-704, 714. 45 Ebd., S. 712. 46 Ebd., S. 713.
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Handeln Einschränkungen und Abhängigkeiten herbeiführen, welche Tiere betreffen, die moralische Berücksichtigung verdienen. 47 DeGrazia etwa übersieht diesen wichtigen Unterschied zwischen emotionalen und kausalen Beziehungen. Er behauptet, spezielle Fürsorgepflichten ergäben sich nur aus Beziehungen, die bereits von vornherein als Fürsorgebeziehungen verstanden und eingegangen werden. Das Halten von Haustieren bspw. enthalte eine klare Absicht, sich um das betreffende Tier zu kümmern. Das Halten von Nutztieren hingegen stelle ein rein instrumentelles Verhältnis zum Tier dar und enthält für DeGrazia damit keine besonderen Beziehungen. 48 Welche Absichten uns dazu treiben, empfindungsfähige Tiere in Lebenssituationen zu halten, in denen sie von Menschen abhängig sind, ändert jedoch weder etwas an der Empfindungsfähigkeit dieser Tiere, noch am Umstand, dass es die Halter sind, die diese Tiere aktiv in ihrer Lebensführung einschränken und von Menschen abhängig machen. 49 Haynes benennt eine Ausnahme, in der es Menschen gestattet ist, Tiere in ihre Obhut aufzunehmen, obwohl sie wissen, dass sie diesen Tieren keine sonderlich hohe Lebensqualität ermöglichen können. Nämlich dann, wenn es diesen Tieren außerhalb der Obhut genau dieser Menschen noch schlechter ergehen würde. 50 Die Halter in seinem Szenario suchen es sich nicht aus, Tieren weniger an Lebensqualität zukommen zu lassen als sie könnten – sie können einfach nicht mehr leisten. Zumindest nicht ohne einen signifikanten Grad an eigener Lebensqualität zu opfern, etwa indem sie Beträchtliches an Zeit, Energie, und finanziellen Mitteln aufwenden müssen und damit eigene Lebenspläne völlig hintan stellen. Menschen, die Tiere halten, um sie zu nutzen, statt sie vor vergleichsweise schlechteren Lebensverhältnissen zu beschützen, können sich dagegen nicht auf dieses Argument berufen. Erstens geht es ihnen nicht um den Schutz von Tieren, sondern um ökonomische oder konsumtive Interessen. Dass Nutztierhalter ausgerechnet diejenigen Tiere in hoher Stückzahl vor einem schlechteren Leben »bewahren wollen«, die in unserer Gesellschaft bevorzugt als Lieferanten von Konsumgütern gefragt sind, scheint alles andere als Zufall. Zweitens werden Nutztiere speziell zur Existenz gebracht. Ihnen selbst steht kein schlechteres Leben offen als das in menschlicher Haltung –
47 Vgl. Bok (2011), S. 770. 48 Vgl. DeGrazia (2011), S. 742-743. 49 Zumal auch das Halten von Haustieren von starken instrumentellen Intentionen bestimmt ist. Menschen schaffen sich Haustiere an, weil sie sich hiervon eine Steigerung der eigenen Lebensqualität versprechen, indem ihnen diese Tiere Gesellschaft leisten und angenehme Zeitgenossen sind. Sofern ein Tier eher zur Belastung wird oder seinem Halter nicht das gewünschte Vertrauen entgegen bringt, trennen sich viele Menschen sehr schnell von ihren Haustieren. 50 Vgl. Haynes (2010), S. 146.
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weil sie andernfalls gar nicht existiert hätten. Wir können also auch davon absehen, diese Tiere zu halten und zu nutzen, ohne sie dabei einer schlechteren Lebenssituation ausliefern zu müssen. Bei bereits existierenden Tieren, die den Zuchtlinien für Nutztiere entstammen, ist die Lage hingegen komplizierter, da einige von ihnen außerhalb menschlicher Haltung vermutlich nicht überleben können. Durch Züchtung und Gewöhnung an ihre Haltungsbedingungen fehlen ihnen Fähigkeiten, die in der freien Natur überlebenswichtig sind. Da aber diese Abhängigkeit durch menschliche Einmischung verursacht wurde, können sich Tierhalter nicht ihrer Fürsorgepflichten für diese Tiere entledigen, indem sie diese einfach in die Freiheit entlassen. Für diese Tiere stellt ein Leben in Freiheit tatsächlich eine schlechte Option für ihr Wohl dar, da sie so nicht überleben können. Diese Unfähigkeit macht es jedoch moralisch lediglich erforderlich, diese Tiere durch menschliche Unterstützung zu versorgen. Ein Recht oder eine Pflicht auf Nutzung dieser Tiere, lässt sich hieraus nicht ableiten. Menschen schulden diesen Tieren bereits Fürsorge, weil Menschen dafür kausal verantwortlich sind, dass ein Leben in Freiheit für diese Tiere keine wohlförderliche Option darstellt. Darüber hinaus verweist Burgess-Jackson darauf, dass moralische Fürsorgepflichten zwei Ebenen umfassen. Auf der ersten Verantwortungsebene haben wir die moralische Verpflichtung, Tiere angemessen zu versorgen, für die wir aufgrund vorangegangener Handlungen Verantwortung besitzen (bspw. weil wir sie aufgenommen haben, ihr Habitat zerstörten, oder sie zur Existenz brachten). Auf der zweiten, der Meta-Verantwortungsebene, besitzen wir moralische Verpflichtungen, uns keine Verantwortungspflichten aufzuerlegen, die wir unfähig sind einzulösen. 51 Übertragen auf die Nutztierhaltung können Halter sich nicht darauf berufen, Tieren in ihrer Obhut nicht mehr als ein »ausreichend gutes« Leben bieten zu können, ohne dabei sich selbst und ihre eigenen Lebenspläne völlig aufgeben zu müssen. Wenn es Menschen in dieser Weise nicht möglich ist, Tieren ein Leben von hoher prudentieller Qualität bereitzustellen, dann haben sie schlichtweg die Pflicht, solche Tiere einer anderen Person zu überantworten, die über bessere Fürsorgemöglichkeiten verfügt bzw. diese Tiere gar nicht erst in ihre Obhut aufzunehmen. Der von Haynes zugestandene Ausnahmefall bezieht sich auf Tiere, denen es signifikant schlechter ginge, wenn der betreffende Halter sie nicht aufgenommen hätte oder wieder abgäbe. 52 Das Halten von Tieren, insbesondere mit der hintergründigen Absicht ihrer Nutzung, erscheint dagegen keineswegs eine groß angelegte Tierschutzkampagne zu sein, bei der Tiere vor den Strapazen und Unbequemlichkeiten der freien Natur bewahrt werden sollen – insbesondere angesichts der
51 Vgl. Burgess-Jackson (1998), S. 179-184. 52 Vgl. Haynes (2010), S. 146.
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fortlaufenden Züchtung neuer Nutztiere. Wer Tiere vor schlechten Lebensbedingungen ernsthaft schützen will, bringt nicht in großer Stückzahl neue Tiere in die Welt, die von vornherein auf menschliche Unterstützung angewiesen sind und dadurch überhaupt erst in hohem Maß schutzbedürftig werden. 53 Tierhalter haben auch die Wahl, anstelle von ressourcenbedingten Abstrichen bei der Berücksichtigung des Tierwohls einfach keine Tiere mehr beim Züchter zu bestellen. Sobald wir Tiere halten, besitzen wir ihnen gegenüber besondere moralische Verpflichtungen der Fürsorge. Und andere Akteure, die mittelbar in diese Haltung involviert sind, z.B. Konsumenten, besitzen entsprechend mittelbare Verpflichtungen. 54 Können wir diesen Pflichten nur in eingeschränktem Maße nachkommen, so müssen wir ausreichende Gründe benennen, warum es dennoch im Sinne des betroffenen Tiers sei, in menschliche Obhut aufgenommen zu werden oder dort zu verbleiben. Andernfalls müssen wir davon absehen, dieses Tier zu halten bzw. überhaupt erst zur Existenz zu bringen. Dies hat schwerwiegende Folgen für die Legitimität der Nutztierhaltung. Denn weder kann mit Sicherheit behauptet werden, dass jedes der gehaltenen Nutztiere in freier Natur ein signifikant schlechteres Leben als in einer künstlichen Haltungsumgebung führen würde. Zudem scheint keine verlässliche Beurteilung darüber möglich, ob ein Tier insgesamt mehr durch die Wohl-Dimensionen profitiert, die durch ein Leben in Freiheit begünstigt werden, oder durch die Wohl-Dimensionen, die in künstlicher Haltungsumgebung befördert werden. In komfortabler Stallhaltung genießen Tiere Schutz vor Witterung, Nahrungsmangel durch Umwelteinflüsse oder Fressfeinde, Angriffen durch Raubjäger, etc. Dagegen stehen ihnen in freier Natur mehr Möglichkeiten zur Verfügung, individuell bevorzugten Beschäftigungen nachzugehen, sie leben in einer reizreicheren Umgebung und ihre Lebenserwartung ist durch kein menschliches Nutzenkalkül vorherbestimmt. Sofern davon ausgegangen werden kann, dass Tiere auch außerhalb menschlicher Obhut ein angenehmes Leben führen können, ist es begründungsbedürftig, Tiere in eine Lebenssituation zu bringen, in der sie von Menschen abhängig sind.
53 Francione etwa fordert in ähnlicher Konsequenz für die Haustierhaltung, existierende Tiere liebevoll zu umsorgen, jedoch zu verhindern, dass sich von Menschen abhängige Tiere weiter vermehren (vgl. Francione [2008], S. 13). 54 Vgl. Palmer (2011b), S. 714, 719-720.
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4.4.2 Tierwohlförderung zwischen Supererogation und »Schuldentilgung« Wenn Verteidiger der Nutztierhaltung betonen, dass Tiere bei komfortablen Haltungsbedingungen, guter Fürsorge und kompetentem Management ein angenehmes Leben führen können, dann versuchen sie nicht nur das Halten von Tieren zu rechtfertigen. Es geht zugleich auch um die Rechtfertigung der fortwährenden Erschaffung und Nutzung dieser Tiere. Dabei behandeln sie Anstrengungen zur Beförderung des Tierwohls nicht als eigenständige moralische Verpflichtung, sondern als supererogatorischen Akt, der zu Gegenleistungsforderungen berechtigt. Diese Einstellung kommt im Dauerurlaub-Vergleich (III.4.1.3) überspitzt zum Tragen und lässt sich m.E. wie folgt charakterisieren: Halter bringen Tieren Fürsorge entgegen und verschaffen ihnen damit Vorteile hinsichtlich bestimmter Wohlaspekte. Daher haben sie (a) das Recht, im Gegenzug diese Tiere ökonomisch zu nutzen; und (b) das Recht, im Gegenzug andere Wohlaspekte zu vernachlässigen oder aktiv zu beeinträchtigen. Die Fürsorge, die Tiere in menschlicher Haltung erhalten (sollten), ist aber eben nicht supererogatorisch, sondern den betroffenen Tieren bereits dadurch geschuldet, dass sie überhaupt gehalten bzw. gezüchtet werden. 55 Diese Fürsorgeleistungen können daher nicht noch einmal zusätzlich ins Spiel gebracht werden, um Gegenleistungen einzufordern. Indem wir unseren Fürsorgepflichten gegenüber Tieren nachkommen, tilgen wir unsere »moralischen Schulden«. Durch eine solche Tilgung werden bestehende Ansprüche ausgeglichen, aber keine neuen Gegenansprüche erzeugt. Dass wir unseren moralischen Pflichten gegenüber Tieren nachkommen – was bei derzeitiger Praxis ohnehin kaum der Fall ist – verleiht uns weder eine Vollmacht, Tiere für unsere Zwecke einzuspannen, noch können wir uns mit der besonders starken Berücksichtigung einiger Wohlaspekte, die Vernachlässigung oder aktive Beeinträchtigung anderer Wohlaspekte, die mit unseren Interessen kollidieren, erkaufen. Nun könnte eingewandt werden, dass bestimmte Beziehungen sowohl Verpflichtungen als auch das Recht auf Gegenforderungen einschließen. Etwa bei Freundschaften. Als Freund habe ich die Pflicht, meine Freunde zu unterstützen, wenn sie Hilfe brauchen. Ich habe zugleich aber auch ein Recht, von ihnen Hilfe einzufordern, wenn ich sie benötige. Freunde befinden sich in einem permanenten Zustand von Hilfspflichten und Hilfsanspruchsrechten, nie aber in einem Zustand der Ausgeglichenheit, wo niemand dem anderen etwas schuldet und niemand ein Anspruchsrecht an den anderen stellen kann. Das Recht auf Hilfe durch meine Freunde leitet sich aus meinem freundschaftlichen Verhalten ab. Sobald ich meinen
55 Vgl. Wolf (2012), S. 98.
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Pflichten als Freund nicht nachkomme, verwirke ich meine Anspruchsrechte auf im Gegenzug erfolgende Freundschaftsdienste – weil ich nämlich in so einem Moment kein echter Freund bin. 56 Komme ich hingegen meinen Freundschaftspflichten nach und erweise mich als echter Freund, so stärkt dies meinen Anspruch auf im Gegenzug erfolgende Freundschaftsdienste. Offenbar gibt es also doch besondere Beziehungen, bei denen das Erfüllen moralischer Pflichten zugleich bestimmte Anspruchsrechte herleiten kann. Es ist jedoch anzuzweifeln, dass das Halten von Nutztieren wie eine solche Freundschaftsbeziehung funktioniert. Nicht nur, weil es eine merkwürdige Art von Freundschaft darstellt, meinen Gegenüber in permanenter Abhängigkeit von mir zu halten, zu meinem Vorteil zu nutzen, und seinen Tod vorauszuplanen bzw. mich von ihm zu trennen, sobald er keinen Nutzen mehr für mich bringt. Entscheidend ist, dass Freundschaften reziproke Beziehungen darstellen, bei denen beide Seiten berechtigt sind, Ansprüche aneinander zu stellen. Eine solche Reziprozität ist jedoch innerhalb der Verantwortungsbeziehung von Haltern (und anderen involvierten Akteuren) zu Nutztieren nicht gegeben. Erstens ist daran zu erinnern, dass Tiere keine kompetenten Moralakteure sind und daher zu nichts moralisch verpflichtet sein können. Zweitens habe ich bereits hervorgehoben, dass sich Tiere nicht dazu entscheiden, gehalten und genutzt zu werden. Sie werden mit ihrer Züchtung vor vollendete Tatsachen gestellt (mit der möglichen Ausnahme der historisch ersten domestizierten Tiere sowie von ausgewilderten Tieren, die von selbst in menschliche Obhut zurückkehren 57). Wir haben es beim Halten von Tieren mit einem unilateralen Verantwortungsverhältnis zulasten menschlicher Moralakteure zutun. Tiere schulden den Menschen, die sie halten, nichts. Aber Menschen schulden den Tieren, die sie halten, sie in angemessener Weise zu versorgen. Möglicherweise können Halter für ihre Anstrengungen, Tieren ein gutes Leben zu verschaffen, in anderer Hinsicht Ansprüche auf Gegenleistungen geltend machen. So lässt sich argumentieren, dass Halter zu Recht erwarten dürfen, für ihre fürsorgenden Bemühungen Anerkennung und Entlastung von Seiten der solidarischen menschlichen Gemeinschaft zu erfahren (z.B. indem Halter finanziell oder durch Engagement von anderen Mitgliedern der Gesellschaft aktiv unterstützt werden). Es kann jedoch den gehaltenen Tieren selbst keine anerkennende Opferbereitschaft abverlangt werden. Somit lässt sich auch auf diese Weise kein Recht auf Nutzung von Tieren herleiten.
56 Wir müssen nicht alle Forderungen unserer Freunde erfolgreich erfüllen, zumindest aber nachvollziehbare Gründe benennen, warum wir bestimmten Wünschen nicht nachkommen. 57 Ein solches Beispiel wird besprochen in Brambell et al. (1965), Appendix III, S. 74.
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Die Tiernutzung kann ebenfalls nicht als reziproke symbiotische Mensch-TierBeziehung glaubhaft konzipiert werden. Tiere genießen bestimmte Vorteile allenfalls durch ihre Haltung, nicht aber durch ihre Nutzung und Schlachtung. Zudem müsste die Haltung, um auch nur annähernd moralisch vertretbar zu sein, 58 bereits so aufwendig gestaltet werden, dass eine rentable ökonomische Nutzung ohnehin ausgeschlossen ist. Eine Rechtfertigung der Wohlbeeinträchtigungen, die unvermeidlicher Bestandteil der Nutztierhaltung sind, ist durch Verweis auf die Vorteile, die Tiere gleichzeitig genießen können, somit nicht möglich. 4.4.3 Geschuldeter Tierwohlzustand vs. geschuldeter Umgang mit Tieren Da eine Maximierung des Tierwohls offenbar nicht moralisch geboten ist (III.4.1.1), muss die Schwelle dessen, was wir Tieren an Wohl schulden, anders gezogen werden. Ich habe diese Schwelle in Bezug auf Vorarbeiten von Sumner, Seel und Haynes als einen Zustand definiert, in dem ein Tier in der Lage ist, in authentischer Weise mit seiner Lebenssituation zufrieden zu sein. Ich habe außerdem im Verlauf dieser Arbeit betont, dass unsere moralischen Pflichten gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen, nicht einfach anhand eines rein empirisch-biologisch bestimmbaren Wohlzustands plausibel hergeleitet werden können. Was wir Tieren hinsichtlich ihres Wohlzustands schulden, bezieht immer normative Wertannahmen mit ein, in denen sich ausdrückt, wie wir unsere Rolle als kompetente Moralakteure verstehen, die durch ihr Handeln Einfluss auf das Leben von Tieren nehmen können. Es kann daher nicht ausschließlich darum gehen, einen bestimmten Tierwohlzustand bzw. eine Schwelle nicht zu unterschreiten. Es geht vor allem darum, mit welcher Einstellung und mit welchen Handlungsabsichten wir Tieren begegnen. Indem wir Tiere nutzen, insbesondere innerhalb eines ökonomischen Kontextes, nehmen wir in Kauf, ihr Wohl zu unserem Vorteil einzuschränken. Hierfür müssen wir eine ausreichende Begründung anführen und können nicht einfach darauf verweisen, dass eine bestimmte Schwelle an Tierwohl nicht unterschritten werde, wenn wir nur umsichtig genug vorgehen. Die Einschränkung des Tierwohls durch Tiernutzung berührt drei relevante Aspekte. Erstens kann empirisch bedingt nicht gewährleistet werden, die Nutztierhaltung in einer Weise fortzuführen, die den betroffenen Tieren ein substantiell positiv geprägtes Leben ermöglicht. Sofern Tiere dabei ein gutes Leben genießen, dann nur für kurze isolierte Zeitabschnitte in ihrem Leben. Die Nutzung von Tieren ist immer
58 Hierfür wäre eine erhebliche Minderung der derzeit üblichen Leiderzeugung und Einschränkung positiver Erfahrungen vonnöten.
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auf deren anschließende Tötung und auf Leistungserbringung ausgelegt, wodurch Tiere, wenn nicht gleich getötet, so doch körperlich aufgezehrt werden. Zweitens bemisst sich die moralische Legitimität von Einzelhandlungen nicht allein anhand ihrer Auswirkungen auf das Wohl eines Lebewesens als Ganzes betrachtet. Dass ein Tier fähig ist, bestimmte Einschränkungen zu verkraften und weiterhin ein gutes Leben zu führen, macht das Zufügen solcher Beeinträchtigungen nicht automatisch zu einem moralisch irrelevanten Akt. Ich habe bereits in meiner Kritik an FAWC ausgeführt, dass wohlbeeinträchtigende Handlungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie notwendiger Bestandteil einer Praktik sind, die das Tierwohl insgesamt befördert (I.3.8). Das Nutzen von Tieren ist aber kein solcher notwendiger Bestandteil. Es gibt keinen logisch-analytischen Zwang, gehaltene Tiere auch zu nutzen. Es genügt auch nicht, darauf zu verweisen, dass die ökonomische Nutzung dieser Tiere bereits fest eingeplant wurde, um die Anschaffung dieser Tiere, ihre temporäre Versorgung und den eigenen materiellen Lebenserhalt finanziell abzudecken. Denn wie Wolf verdeutlicht, steht es uns offen, uns von solchen finanziellen Problemen zu befreien, indem wir aufhören, unsere materielle Absicherung an Tierprodukte zu knüpfen. 59 Ebenso ist es nicht die Entscheidung der gehaltenen Tiere, zur finanziellen Belastung zu werden, noch deren nachlässiges Verschulden. Drittens kommt Tieren ein moralischer Anspruch auf Berücksichtigung aufgrund ihrer Moralbedürftigkeit zu. Und moralbedürftig ist ein Individuum, so Ladwig, sofern es verletzlich, der Gewalt anderer ausgesetzt und damit schutzbedürftig ist. Und wenn es ihm bewusst etwas ausmachen kann, was mit ihm geschieht. 60 Tiere sind hinsichtlich ihres Wohls zu berücksichtigen, weil ihnen sinnvoller Weise ein Interesse daran zugeschrieben werden kann, ein eher besseres als schlechteres Leben zu führen. Dieses Interesse verschwindet nicht plötzlich oberhalb einer bestimmten Schwelle an Lebensqualität oder wird erst abrupt unterhalb dieser Schwelle wirksam. Wir können allenfalls argumentieren, dass ab einer bereits sehr hohen Lebensqualität das Vorenthalten noch höherer Qualitätsgrade vergleichsweise weniger problematisch ist. Denn plausibler Weise kann einem Tier, dem es miserabel geht, ein noch stärkeres Interesse an der Verbesserung seiner Lebenslage zugeschrieben werden als einem bereits sehr gut versorgten Tier. Es kann letzterem aber nicht einfach überhaupt kein Interesse an einer Verbesserung seines Wohls unterstellt werden. Wohlbeeinträchtigungen, die nur minimal sind, oder immer noch oberhalb der Schwelle eines authentisch zufriedenstellenden Lebens liegen, lassen sich daher leichter rechtfertigen. Eine Rechtfertigung benötigen aber auch sie.
59 Vgl. Wolf (2012), S. 128; ähnlich auch Francione (2008), S. 13-14, 164. 60 Vgl. Ladwig (2014), S. 29.
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Das bedeutet keineswegs, dass wir im täglichen Leben kaum noch etwas tun dürfen, aus Angst, Tiere in ihrem Wohl einzuschränken. Es kann für viele Einschränkungen, die wir anderen Individuen durch unser Handeln auferlegen, sehr gute Begründungen geben. Wir dürfen Tiere, die sich ohne unser Zutun Zugang zu unseren Wohnungen verschaffen, vor die Tür setzen und müssen nicht den Inhalt unserer Vorratsschränke mit ihnen teilen. Denn dies würde eine dauerhafte Stressbelastung darstellen, die Menschen die Möglichkeit nimmt, sich im eigenen Wohnraum zurückziehen und wohl fühlen zu können, und mitunter auch Gesundheitliche Probleme mit sich bringen kann. Mein Punkt ist lediglich, dass die Einschränkung des Tierwohls, egal wie hoch der Grad an Wohl schlussendlich auch bleibt, niemals einen moralisch neutralen Akt darstellt, jedoch auch mit keinem absoluten Handlungsverbot einhergeht. Meine Kritik an der Nutztierhaltung bezieht sich nicht darauf, dass Tiere überhaupt in ihrem Wohl eingeschränkt werden, sondern dass diese Einschränkung keine befriedigende Begründung besitzt, und Verteidiger dieser Praxis diese Einschränkungen zu Unrecht herunterspielen, bzw. als neutral und nicht rechtfertigungsbedürftig behaupten.
4.5 FAZIT DIESES KAPITELS Ich habe in diesem Kapitel argumentiert, dass die Berücksichtigung des Wohls der Tiere, die wir halten und nutzen, nicht einfach ab einem bestimmten Grad an Lebensqualität plötzlich aufhört moralisch verbindlich zu sein. Wann immer wir Tiere in ihrem Wohl einschränken, müssen wir hierfür eine ausreichende Rechtfertigung liefern. Die Suche nach einem Punkt, ab dem es Tieren »ausreichend gut« geht, die die Tierwohlwissenschaft weiterhin zu dominieren scheint, ist insofern eine verfehlte Strategie. Tiere verdienen moralische Berücksichtigung, weil es ihnen etwas ausmachen kann, was mit ihnen geschieht und dies nicht bloß dann, wenn ihre Lebensqualität besorgniserregend ist. Ein Tier hat immer Grund, eine graduelle Verschlechterung seiner Lebensqualität bzw. ein Vorenthalten von mehr Lebensqualität abzulehnen. Gemessen am jeweils resultierenden Grad an Lebensqualität können die Gründe, Beeinträchtigungen abzulehnen, in ihrem Gewicht variieren. Aber auch schwache Gründe dürfen nicht einfach ignoriert werden. Sobald wir aufhören Einschränkungen des Tierwohls moralisch zu begründen, ignorieren wir, dass Tiere einen moralischen Status und damit Berücksichtigungswürdigkeit besitzen. Wir können uns nicht darauf berufen, dass wir Tieren in menschlicher Haltung einfach nicht mehr an Lebensqualität bieten könnten, ohne uns selbst völlig zu verausgaben. Dieses Argument unterstellt, die Nutztierhaltung sei nicht wegzuden-
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ken und ihre Fortführung nicht infrage zu stellen. Aber niemand zwingt uns, Tiere zu halten, geschweige denn ökonomisch zu nutzen. Ebenso wenig können wir das Nutzen von Tieren und damit einhergehende Wohlbeeinträchtigungen als Gegenleistung deklarieren, die wir Tieren dafür abverlangen dürfen, dass wir ihnen in menschlicher Obhut immerhin ein »ausreichend gutes« Leben ermöglichen. Wir schulen es Tieren in unserer Obhut von vornherein, sie nach Kräften zu versorgen. Auch kann die Nutztierhaltung nicht glaubhaft als Schutz dieser Tiere, vor einem harten, beschwerlichen Leben in freier Natur konzipiert werden, zumal ökonomische und konsumtive Interessen klar im Zentrum der Tiernutzung stehen. Die Beeinträchtigung des Tierwohls durch die Nutztierhaltung stellt damit einen prinzipiellen Missstand dar, ganz gleich welch hohe Lebensqualität wir Tieren durch Innovationen auch bereitzustellen fähig wären. Wir haben nur dann gute Gründe, Tiere trotz Wohleinschränkungen zu halten, wenn wir aus ernst gemeinter Sorge um sie handeln. Dies aber beinhaltet den Wunsch, dass es Tieren gut gehen soll, fernab von Überlegungen darüber, welchen Nutzen diese Tiere für uns erbringen können. Und es muss uns daran liegen, für eine Welt zu sorgen, in der Tiere gut leben können, ohne auf uns angewiesen zu sein. Sobald die Nutztierhaltung mit der Berücksichtigung des Tierwohls kollidiert, ist sie moralisch zu kritisieren. Verbesserungen des Tierwohls innerhalb der Nutztierhaltung haben einzig den Effekt, die Tiernutzung entsprechend dem Grad der Verbesserung, etwas weniger moralisch ablehnungswürdig zu machen. Hierdurch mag es bereits gelingen, der breiten Öffentlichkeit das Halten und Nutzen von Tieren als ethisch vertretbar zu verkaufen. Mehr scheinen praxisnahe Ansätze, wie im I. Hauptteil deutlich wurde, oftmals auch nicht anzustreben. Es kann aus ethischer Perspektive jedoch nicht bloß darum gehen, was eine Gesellschaft faktisch gutzuheißen bereit ist. Entscheidend ist, welche gesellschaftliche Akzeptanz sich ethisch reflektierter Weise fundieren lässt. Im folgenden Kapitel wird dies anhand der Züchtung bewusstseinsunfähiger Tiere eine wichtige Rolle spielen, die zwar von Erzeugern und Verbrauchern emphatisch abgelehnt wird, jedoch philosophisch schwer als verwerflich auszuweisen ist.
5
Grenzen des Tierwohlkonzepts
In meiner Diskussion der Genmanipulation von Tieren (III.3.3.5) habe ich Versuche diskutiert, Tiere so zu erschaffen, dass bestimmte Reibungspunkte zwischen Nutztierhaltung und Tierwohl umgangen werden. Ich habe solche Versuche als Verstoß gegen einen anspruchsvollen Tierwohlbegriff zurückgewiesen. Indem Tieren bestimmte Leidensfähigkeiten abgezüchtet werden (wie bei AD), werden ihnen zugleich Möglichkeiten genommen, bestimmte positive Erfahrungen zu machen. Ebenso wird einem Tier vorgegeben, mit welchen Lebensumständen es zurechtkommen kann, wodurch das Authentizitätskriterium des Tierwohls verletzt wird. Ich habe innerhalb dieser Diskussion eine extreme Variante kurz erwähnt, aber vorläufig ausgespart, die ich als Bewusstseinsminderung bezeichne. Gemeint ist, dass ein Tier genetisch so manipuliert wird, dass es keinerlei Bewusstseinsfähigkeit entwickeln kann. Dieser Extremfall, so werde ich argumentieren, bringt das Konzept des Tierwohls als ethisches Bewertungsmuster für unseren Umgang mit Tieren endgültig an seine Grenzen. Die Erschaffung derart manipulierter Tiere stößt jedoch auf tief empfundene Ablehnung, sowohl innerhalb der breiten Öffentlichkeit, als auch bei vielen philosophischen Autoren und auch bei praxisnahen Verteidigern der Nutztierhaltung. In diesem Kapitel diskutiere ich unterschiedliche Versuche, solche ablehnenden Intuitionen einzufangen. Die dabei häufig ins Spiel gebrachten Konzepte von Würde, Integrität, und grundlegenden Tierrechten, erweisen sich, so meine These, als letztendlich unzureichend. Gleichwohl offenbaren die Argumentationsmuster, in die sie eingebettet sind, inspirierende Akzente, die genutzt werden können, um einem befriedigenden Lösungsansatz näher zu kommen. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, dass in der Literatur alternative Begriffe wie Würde, etc. lediglich als Erweiterung und eben nicht als vollständige Konkurrenz zum Tierwohl vorgeschlagen werden. Die entscheidende Kernaussage lautet, dass unser Umgang mit Tieren nicht ausschließlich anhand des Tierwohls zu bewerten ist, sondern multikonzeptionell betrachtet werden muss. Dies hat erneut verheerende Konsequenzen für die Legitimität der Nutztierhaltung. Neben einer ethisch
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zufriedenstellenden Beachtung des Tierwohls – was ich bereits als nicht zu bewältigende Aufgabe für eine ökonomisch orientierte Tiernutzung herausgestellt habe – kommen dann auch noch zusätzliche ethische Hürden hinzu.
5.1 BEGRENZTHEIT DES TIERWOHLKONZEPTS ANHAND DES PROBLEMS DES ANIMAL DISENHANCEMENT 5.1.1 Sonderfall Bewusstseinsminderung Bei der Praktik des AD habe ich unter III.3.3.5 zwei Varianten unterschieden. Zum einen Fälle, bei denen es um das Herabsenken oder gänzliche Ausschalten einzelner sehr konkreter Fähigkeiten geht, bspw. die eigene Umwelt und den eigenen Körper wahrzunehmen, indem bestimmte Schmerzrezeptoren bei Tieren ausgeschaltet werden, oder beim Züchten blinder Hühner. Ebenso gehören hierzu das Ausschalten bestimmter Verhaltensbedürfnisse wie Nisttrieb, Bewegungsdrang oder andere Bedürfnisse, die in Stallanlagen nicht adäquat ausgelebt werden können. Diese Fälle habe ich als Fähigkeitsminderung bezeichnet. Bei dieser Form des AD gelingt es jedoch lediglich, einige Tierwohlkonflikte symptomatisch zu umgehen, während andere bestehen bleiben oder noch verstärkt werden. Blinde Hühner etwa weisen zwar weniger Aggressivität auf, zugleich aber auch starke Orientierungslosigkeit, Verletzungsanfälligkeit und Stereotypien, 1 was wiederum auf eine hohe Stressbelastung und Frustration hindeutet. 2 In anderen Fällen, wie etwa dem Ausschalten des Nisttriebs bei Puten, werden durch das Neutralisieren entsprechender Hormone zwar Frustrationserlebnisse verhindert, gleichzeitig aber die Puten auch zu rascherem Eierlegen mit weniger Brutpausen animiert, wodurch sie schneller körperlich aufgezehrt werden. 3 Insofern lässt sich ein solcher Umgang mit Tieren bereits durch Rückgriff auf das Tierwohlkonzept kritisieren. Schwieriger zu bewerten sind Fälle, bei denen Tieren die übergeordnete Fähigkeit genommen wird, überhaupt die eigene Umwelt und den eigenen Körper wahrzunehmen, sowie das eigene Leben in irgendeiner Form eigenständig bewerten zu können. Ich habe diese Fälle als Bewusstseinsminderung bezeichnet (fortan: BM). Hierbei geht es nicht mehr bloß um das Ausschalten oder Herabsenken von Reizempfindlichkeit, hormonellen Antrieben oder Ähnlichem. Es geht um die Erzeugung eines Tiers ohne jegliche Bewusstseinsfähigkeit. Diese Form der Manipulation scheint anhand des Tierwohlkonzepts nicht mehr kritisierbar, denn mit dem
1
Vgl. Sandøe et al. (2016), S. 18-21, 23-25.
2
Vgl. Nicol (2011), S. 56-59.
3
Vgl. Streiffer/Basl (2011), S. 839.
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Fehlen jeglicher Bewusstseinsfähigkeit fehlt einem Tier auch die Grundvoraussetzung dafür, überhaupt so etwas wie ein eigenes, moralisch relevantes Wohl zu besitzen. Es kann einem Tier ohne jegliches Bewusstsein nichts ausmachen, was mit ihm geschieht, weil lediglich ein tierlicher Organismus vorhanden ist, aber kein stabiles bewusstes Individuum. Dadurch können ihm nicht einmal stellvertretend durch Dritte sinnvoller Weise irgendwelche Interessen zugeschrieben werden. Ein nicht bewusstseinsfähiger tierlicher Organismus unterscheidet sich somit nicht wesentlich von einer Pflanze. 4 Ein Tier, das durch BM manipuliert wurde, kann durch nichts in seinem Wohl geschädigt werden, schlicht und ergreifend, weil es über kein eigenes Wohl im moralisch relevanten Sinne verfügt. Demzufolge müssten wir auch alles mit einem solchen Tier anstellen dürfen. Es scheint, als wäre die ultimative Lösung sämtlicher Tierwohlprobleme innerhalb der Nutztierhaltung hiermit gefunden: ein kompletter Umstieg auf die ökonomische Haltung und Nutzung bewusstseinsgeminderter 5 Tiere. Ein solcher Umstieg wäre aus moralischer Sicht offenbar geradezu geboten, wenn an der Fortführung der Nutztierhaltung festgehalten werden soll. Denn die Nutzung bewusstseinsfähiger Tiere geht, meiner Untersuchung nach, unvermeidbar mit Tierwohlkonflikten einher. BM ermöglicht, unsere Konsuminteressen abzudecken und den Erhalt des Nutztiersektors zu gewährleisten, ohne dass ein Tier dabei in seinem Wohl beeinträchtigt wird. 6 Was also spräche gegen dagegen, diesen Weg zu beschreiten? 5.1.2 Breite Ablehnung gegenüber Bewusstseinsminderung So vielversprechend die Methode von BM hinsichtlich der Vermeidung von Tierwohlschädigungen offenbar scheint, so wenig trifft sie auf Akzeptanz – sei es von praxisnahen Tierwohlwissenschaftlern, Philosophen oder der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.
4
Vgl. Wolf (2012), S. 73, 114 sowie Cochrane (2012), S. 125.
5
Ich wähle diese Bezeichnung anstelle des neutralen Begriffs »bewusstseinsunfähig«, um zu betonen, dass es sich hierbei um Lebewesen handelt, deren Bewusstseinsunfähigkeit das direkte Ergebnis gezielter menschlicher Eingriffe in ihre biologische Entwicklung ist. Theoretisch fallen hierunter sowohl existierende Tiere, denen nachträglich die Bewusstseinsfähigkeit genommen wurde, als auch Tiere, die bereits ohne Bewusstseinsfähigkeit erzeugt wurden. Ich beschränke mich auf eine Kritik der Züchtung solcher Tiere, da m.E. das Auslöschen der Bewusstseinsfähigkeit bei bereits existierenden und zuvor noch bewusstseinsfähigen Tieren im Wesentlichen einer Tötung des Individuums gleichkommt. Ich folge hierin McMahan (2002), S. 43ff.
6
Auf diesen Punkt hat prominent Rollin hingewiesen (vgl. Rollin [1995], S. 170-173, siehe auch Gavrell Ortiz [2004], S. 97-98).
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Trotz ihrer sonst weit reichenden Zustimmung zur Tötung, Gefangenhaltung und Manipulation von Tieren, sprechen sich Vertreter praxisnaher Tierwohlansätze emphatisch gegen die Züchtung von Tieren ohne Bewusstsein aus. 7 Auch Verbraucher und Tierprodukterzeuger stehen nicht nur BM, sondern AD allgemein, aversiv gegenüber. 8 Und auch unter Philosophen ist die starke Ablehnung von BM der Regelfall. In der philosophischen Literatur wird bisweilen Rollin als der Autor genannt, der am gewilltesten ist, dem Erzeugen von bewusstseinsgeminderten Tieren zuzustimmen. 9 Auch Rollin tut dies jedoch explizit unter der Einschränkung, dass die Nutzung bewusstseinsgeminderter Tiere lediglich im Vergleich zur Nutzung bewusstseinsfähiger Tiere und unter den derzeitigen stark Tierwohl einschränkenden Bedingungen als attraktive Alternative anzusehen sei. 10 Seine Ausführungen legen keineswegs nahe, dass es sich bei AD und BM absolut betrachtet um erstrebenswerte Innovationsmethoden für die Nutztierhaltung handelt, die es uns gestatten, unseren Umgang mit Tieren ohne jede Zurückhaltung und Bedachtsamkeit fortzusetzen. Rollin ist im Vergleich zu anderen Autoren lediglich zurückhaltender bzw. kompromissbereiter in seiner Ablehnung. 11 Dagegen ist Cochrane eindeutig bereit einzuräumen, dass es trotz gegenläufiger Intuitionen (von denen auch Cochrane selbst nicht gänzlich frei scheint) nichts gegen das Erschaffen bewusstseinsgeminderter Tiere einzuwenden gäbe. Dieses Zugeständnis hängt jedoch gerade damit zusammen, dass Cochrane moralischen Intuitionen generell keine große Aussagekraft beimisst. 12 Es sind aber eben diese Intuitionen, auf die sich entschiedene Kritiker von BM stützen. Sie teilen alle die Überzeugung, dass es »irgendwie« moralisch falsch scheint, bewusstseinsgeminderte Tiere gezielt zu erschaffen. Mary Midgley betont hierbei (ähnlich wie McMahan 13), Bauchgefühle stellten einen wichtigen Indikator dafür dar, dass eine Praktik kritisch zu hinterfra-
7
Vgl. FAWC (2009a), S. 3; Webster (2011a), S. 7, 29.
8
Dies bekam bspw. Paul B. Thompson deutlich zu spüren, nachdem er in einer Radiosendung im Jahr 2001 anmerkte, wie schwierig es sei, das Züchten blinder Hühner ethisch zu bewerten und zu kritisieren. Es folgten heftige Reaktionen von Bürgern, die darauf beharrten, man könne das Züchten solcher Tiere keinesfalls gutheißen, gefolgt von wütenden Anrufen von Vertretern der Geflügelindustrie, die ein Interesse an solchen Züchtungen strikt von sich wiesen und eventuelle gegenteilige Andeutungen als Rufmord ansahen (vgl. Thompson [2008], S. 306).
9
Vgl. Gavrell Ortiz (2004), S. 97-98.
10 Vgl. Rollin (1995), S. 171-176. 11 Ich werde weiter unten aufzeigen, dass Rollin eine Anpassung der Lebensverhältnisse an das Tier der umgekehrten Alternative vorzieht. 12 Vgl. Cochrane (2012), S. 112, 126. 13 Vgl. McMahan (2000), S. 103-109.
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gen ist, auch wenn wir unsere Kritik derzeit noch nicht in philosophisch belastbarer Weise fassen können. Wir sollten Intuitionen daher nicht vorschnell übergehen: »The gut sense that something is repugnant or unsavory—the sort of feeling that many now have about various forms of biotechnology—sometimes turns out to be rooted in articulable and legitimate objections, which with time can be spelled out, weighed, and either endorsed or dismissed. But we ought not dismiss the emotional response at the outset as ›mere feeling‹.« 14
Wie aber lässt sich die intuitive Ablehnung von BM philosophisch unterfüttern, wenn doch die hierbei erzeugten Tiere über kein Bewusstsein und damit auch über kein eigenes Wohl verfügen? In der philosophischen Literatur haben sich hierzu in der Vergangenheit unterschiedliche Strategien herausgebildet, die in den folgenden Unterabschnitten grob umrissen werden.
5.2 PHILOSOPHISCHE STÜTZUNGSVERSUCHE DER INTUITIVEN ABLEHNUNG GEGENÜBER BEWUSSTSEINSMINDERUNG Eine wirklich tiefgründige Auseinandersetzung mit den vorhandenen kritischen Positionen zu AD im Allgemeinen und BM im Besonderen, bedarf einer eigenständigen Forschungsarbeit. Im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit Inhalt und ethischer Bedeutsamkeit des Tierwohlkonzepts möchte ich lediglich aufzeigen, dass dieses Konzept hier an seine Grenzen stößt und unterschiedliche Ergänzungskonzepte zum Tierwohl bereits in die philosophischen Debatten eingebracht wurden. Sie bleiben jedoch unbefriedigend, indem sie entweder insgeheim auf das Tierwohlkonzept zurückfallen oder Fehler enthalten, die ich bereits in Bezug auf defizitäre Tierwohlkonzeptionen behandelt habe. Mein Ziel ist die Schaffung eines Fundaments, auf dem stärker detaillierte Auseinandersetzungen mit Ergänzungskonzepten zum Tierwohl aufbauen können, sowie einen eigenen tentativen Ausblick auf einen Gegenentwurf zu liefern, der mir am überzeugendsten scheint. Ein philosophisches Konzept muss, um die oben beschriebene Aversion gegenüber BM adäquat aufnehmen zu können, zwei Funktionen erfüllen: Erstens muss das Konzept den beschriebenen moralischen Intuitionen Ausdruck verleihen. Es genügt nicht, einfach irgendeinen Grund anführen zu können, der im Endergebnis dieselben Praktiken zurückzuweisen hilft, die auch in unseren Intuitionen abgelehnt werden. Moralische Intuitionen sind als Orientierungshilfe für ethi-
14 Midgley (2000), S. 7.
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sche Untersuchungen ernstzunehmen – wenn auch nicht unkritisch zu übernehmen. Die starken Intuitionen selbst (oder besser ihr Kern) müssen in einem ethischen Konzept Ausdruck finden. Zweitens muss das Konzept den eingefangenen Intuitionen eine philosophisch belastbare Unterfütterung geben. Es muss eine nachvollziehbare argumentative Struktur aufweisen und klare Kriterien zur moralischen Bewertung an die Hand geben. Die im Folgenden vorgestellten Ergänzungskonzepte zum Tierwohl bleiben hinsichtlich dieser zwei Funktionen in unterschiedlicher Weise defizitär. 5.2.1 Kritik anhand eines erweiterten Tierwohlkonzepts Die überzeugende Fundierung der stark verbreiteten Aversion gegenüber BM stellt für einige Autoren ein kaum auflösbares philosophisches Problem dar. Ihre aversiven Intuitionen sind einerseits so stark verankert, dass sie nicht bereit sind, sie vorschnell als willkürlich über Bord zu werfen. Andererseits erkennen sie an, dass gängige tierethische Argumente bei BM ins Leere laufen. Solche Züge finden sich etwa bei Paul B. Thompson oder bei Palmer. 15 Insbesondere Thompson konstatiert hierbei, es sei bisherigen philosophischen Ansätzen bestenfalls gelungen, unsere Gefühle von Abscheu oder Erschaudern angesichts der Genmanipulation von Tieren mit immer neuen Labeln zu versehen, jedoch keine wirklich belastbaren Konzepte zutage zu fördern. 16 Es muss den Autoren nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie trotz dieses Zugeständnisses weiter an ihren schwer unterfütterbaren Intuitionen festhalten. Wenn wir starke Intuitionen besitzen, diese sich aber in ein konsistentes und rational belastbares Theoriegebäude nicht einfügen lassen, so ist dies zwar ein ernstzunehmendes Indiz dafür, unsere Intuitionen kritisch hinterfragen zu müssen. Die Konsistenz und Belastbarkeit der Theorie aber reicht nicht aus, um eine Intuition als abwegig auszuweisen. Dafür müsste die betreffende Intuition selbst als fehlerhaft oder auf »unlauteren« Quellen aufbauend ausgewiesen werden (etwa wenn unsere Intuitionen uns einindoktriniert wurden; wenn sie auf mangelhaftem Wissen über die Welt aufbauen; wenn sie in sich widersprüchlich sind; wenn sie von fantastischen Annahmen ausgehen; etc.). Je stärker unsere Intuitionen verankert sind, und je besser sie einer kritischen Prüfung standhalten, umso mehr geben sie im Gegenzug Anlass dazu, die anfangs angenommene Lückenlosigkeit eines Theoriegebäudes anzuzweifeln, welches diese Intuitionen nicht einzubinden vermag. 17 Rollin
15 Vgl. Thompson (2008), S. 308; Palmer (2011a), S. 43-48. 16 Vgl. Thompson (2008), S. 313. 17 Ich folge hierin der intuitionistischen Position McMahans (vgl. McMahan [2000], S. 92110 sowie McMahan [2002], S .238).
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hegt den Verdacht, dass die gesellschaftlich verbreiteten Intuitionen gegen Genmanipulation an Tieren zurückführbar seien auf Technikangst, metaphysisch oder religiös aufgeladene Vorstellungen einer nicht anzutastenden Natur, oder ästhetische Urteile. 18 Dies lässt aber immer noch die Möglichkeit offen, dass es noch weitere hier relevante Intuitionen gibt, die in gesellschaftlichen Diskursen aber weniger Aufmerksamkeit erfahren. Andere Autoren scheinen überzeugt, ihre aversiven Intuitionen gegenüber AD doch noch durch eine entsprechende Auslegung des Tierwohlkonzepts einfangen zu können. Comstock etwa versucht aufzuzeigen, dass auch das Ausschalten von Fähigkeiten eine Schädigung der Lebensqualität eines Tiers darstellen kann. Er argumentiert, dass Tieren Interessen zweiter Ordnung zugeschrieben werden können. Also ein Interesse daran, bestimmte Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten zu besitzen oder entwickeln zu können, auch wenn ein Tier kein faktisches subjektives Interesse dieser Ordnung verspürt. Werden diese Interessen zweiter Ordnung frustriert, so werde das betreffende Tier in einem bestimmten Sinne in seinem Wohl geschädigt. 19 Auch ich habe argumentiert, dass es für ein Tier besser sein kann, bestimmte Fähigkeiten nicht abgezüchtet zu bekommen, da hierdurch seine Möglichkeiten, positive Erfahrungen zu machen, eingeschränkt werden. Da ein bewusstseinsgemindertes Tier jedoch über kein moralisch relevantes Wohl verfügt, kann eine solche Argumentation hier nicht greifen. 20 Eine andere Strategie scheint sich aus Nussbaums Fähigkeitsansatz ableiten zu lassen, da Nussbaum die Möglichkeit zu »gedeihen« als eigenständige Komponente des Wohls eines Lebewesens versteht. Explizite Äußerungen Nussbaums zu BM sind mir nicht bekannt. Ich weise lediglich darauf hin, dass ihr Ansatz für diese Thematik eine gewisse Attraktivität besitzt. Denn es scheint verlockend, zu argumentieren, dass Tieren, indem sie als bewusstseinsgeminderte Lebewesen erschaffen werden, von menschlicher Seite her die Möglichkeit genommen wird, ihr volles Potenzial zu entfalten. 21 Aber Tiere, die als bewusstseinsgemindert erschaffen werden, zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie das Potenzial, Bewusstsein zu entwickeln, nicht besitzen und nie besessen haben. Wie Palmer in ihrer Betonung des Problems der Nicht-Identität deutlich macht, hat vor der Erschaffung des bewusstseinsgeminderten Tiers kein Individuum existiert, dem hierbei angeblich ein Potenzial genommen wurde. 22
18 Vgl. Rollin (1995), S. 44-46, 174-175, 192-193. 19 Vgl. Comstock (2000), S. 95-138. 20 Ähnlich auch Gavrell Ortiz (2004), S. 99-102. 21 Ein solche Auslegung schwingt auch bei Palmers Diskussion von Nussbaums Ansatz mit (vgl. Palmer [2010], S. 40ff). 22 Vgl. Palmer (2011a), S. 45.
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Ebenso ist ins Gedächtnis zu rufen, dass Nussbaum den Anspruch auf ein Gedeihen letztendlich daran rückbindet, dass es einem Lebewesen etwas ausmachen kann, wie sein Leben verläuft und welches Potenzial es entfalten kann. 23 Bewusstseinsgeminderte Tiere aber verfügen über keinerlei subjektive Perspektive in der ihr Gedeihen oder Nicht-Gedeihen für sie selbst von irgendeiner Bedeutung sein könnte. Durch die Entwicklung von Bewusstsein profitieren kann nur ein Individuum, das über ein eigenes Wohl verfügt und dies ist bereits an den Besitz von Bewusstseinsfähigkeit gekoppelt. Für bewusstseinsgeminderte Tiere lässt sich somit nicht sinnvoll ein Anspruchsrecht auf Entwicklung und Entfaltung von Bewusstseinsfähigkeit herleiten. Ebenso wenig kann ein Bezug auf die Speziesnorm weiterhelfen, aus der Nussbaum weitreichende Anspruchsrechte von Individuen ableitet, in ihrer speziestypischen Entwicklung gefördert oder zumindest nicht behindert zu werden. Ich habe bereits dargelegt, dass eine solche Speziesnorm nicht abbilden kann, inwiefern eine bestimmte Lebenssituation prudentiell gut oder schlecht für das betroffene Tier selbst ist (II.2.4). Die Speziesnorm verweist zunächst einmal nur auf eine Abweichung von dem, was für eine bestimmte Spezies typisch ist. Nussbaum führt zwar Beispiele an, die verdeutlichen, dass es für ein Individuum prudentiell wichtig sein kann, speziestypische Verhaltensweisen ausüben und am Gemeinschaftsleben mit anderen Mitgliedern der gleichen Spezies teilnehmen zu können. 24 Erneut können solche Aktivitäts- und Interaktionsmöglichkeiten jedoch nur sinnvoll auf Individuen bezogen werden, denen es aus einer subjektiven Perspektive etwas ausmachen kann, ob sie in ihrer Entwicklung und ihren Interaktions- sowie Aktivitätsmöglichkeiten hinter ihren Artgenossen zurückbleiben. Auf bewusstseinsgeminderte Tiere trifft dies, in Ermangelung eines eigenen subjektiven Wohls, nicht zu. Man könnte auch versucht sein, den von Rollin in die Tierwohldebatte eingeführten Begriff des telos aufzugreifen, um das Abzüchten von Bewusstseinsfähigkeit bei Tieren zu kritisieren. Rollin selbst aber versteht das Verändern der Genetik von Tieren explizit nicht als prinzipielle Verletzung ihres telos. Anders als bei Aristoteles, stellt telos bei Rollin keine metaphysische Natur oder Blaupause dar, die unantastbar ist und anhand derer sich bemisst, was einen guten Vertreter einer Art ausmacht. Telos umfasst bei Rollin stattdessen alle Fähigkeiten und Bedürfnisse, die beeinflussen, was die Lebensqualität eines konkreten Tiers negativ oder positiv beeinflussen kann. Wird durch Genmanipulation verändert, welche Fähigkeiten ein Tier besitzt, so wird laut Rollin dessen telos nicht verletzt, sondern ihm
23 Vgl. Nussbaum (2004), S. 299-320 sowie Nussbaum (2006), S. 192ff, 386. 24 Vgl. ebd., S. 188-192, 357-365.
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ein anderes telos gegeben, als es ohne menschlichen Eingriff gehabt hätte. 25 Diesen Veränderungsakt hält Rollin explizit für ethisch neutral. Er macht nur eine einzige Einschränkung: Durch das veränderte telos darf es einem Tier nicht schlechter ergehen, als der Elterngeneration aus der es hervorgegangen ist. 26 Da es einem Tier ohne Bewusstseinsfähigkeit aber weder gut noch schlecht, geschweige denn besser oder schlechter als einem anderen Individuum ergehen kann, ermöglicht auch Rollins telos-Ansatz keine befriedigende Kritik an BM. Und Rollin selbst unternimmt auch keinen solchen Versuch. Eine Erweiterung des Tierwohlbegriffs selbst kann keine überzeugende Kritik an BM liefern, da kein moralisch relevantes subjektives Wohl vorhanden ist, auf das Rücksicht zu nehmen wäre. Wollen wir das starke Unbehagen gegenüber dieser Praktik nicht über Bord werfen, müssen wir auf andere Argumentationsstrategien zurückgreifen. 5.2.2 Kritik anhand ergänzender tierethischer Konzepte zum Tierwohl Gemeinsam ist den im Folgenden vorgestellten Ansätzen, dass sie dafür plädieren, unser tierethisches Vokabular zu erweitern. Dabei bringen sie unterschiedliche ergänzende Konzepte ins Spiel. Thompson steht solchen Versuchen insgesamt skeptisch gegenüber und spricht bei der aktuellen Tendenz, neue Begriffe in tierethische Debatten einzuführen (oder auch traditionelle religiöse Begriffe zu reaktivieren), mit deutlich sarkastischem Unterton von einer »minor industry of linguistic innovation«. 27 Es wäre jedoch voreilig, gänzlich auszuschließen, dass bei solchen Ergänzungsversuchen auch einige erhellende Begriffe oder zumindest argumentative Akzente zum Vorschein kommen. Als zentrale Schlagworte erscheinen mir hierbei Tierintegrität, Tierwürde und Tierrechte. Alle drei Begriffe weisen, trotz unterschiedlicher Konzeptionen, gemeinsame, sich wiederholende Elemente und Akzentsetzungen auf, die unsere Aufmerksamkeit verdienen. 5.2.2.1 Tierwürde Das in der breiten Öffentlichkeit populärste Schlagwort scheint derzeit der Würdebegriff. Entsprechende Ansätze betonen, dass Tieren eine eigene Würde zukommt, die auch dann verletzt werden kann, wenn Tiere nicht in ihrem Wohl geschädigt
25 Vgl. Rollin (1995), S. 159, 165, 170-172; Für eine Diskussion der Unterschiede von telos bei Aristoteles und Rollin siehe Schmidt (2008), S. 265-307. 26 Vgl. Rollin (1995), S. 172, 176ff. 27 Vgl. Thompson (2008), S. 315.
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werden. Worin genau die Würde des Tiers bestehen soll, ist hingegen nur schwer aus den Debatten zu ersehen. Zentrale Vokabeln in Verbindung mit Würde sind »Instrumentalisierung«, wahlweise auch »Erniedrigung«, wobei letztere stärker auf menschliche Personen beschränkt wird. 28 Hierbei können unterschiedliche Definitionen von Würde parallel ansetzen. Einige Autoren verstehen Würde als einen moralisch zu achtenden Wert, der einem Tier einen besonderen Schutz vor menschlichem Zugriff verleiht. 29 Für andere besteht die Würde eines Tiers darin, sich auf eine bestimmte Weise bewegen, verhalten und mit anderen Lebewesen interagieren zu können. Also auf eine Weise leben zu können, die sich für ein bestimmtes Tier geziemt. Eine solche Position klingt etwa bei Sarah Gavrell Ortiz an: »The goods necessary for the good life of an animal are those functions, whatever they may be, that a member of its species can normally perform; and respecting the uninhibited development of those functions is respecting the dignity of the animal.« 30
Mehr als diese eher verschachtelte Würde-Definition erhalten wir von Gavrell Ortiz leider nicht. Sie zeigt aber bereits aufschlussreiche Elemente auf, bspw. einen erneuten Bezug auf eine Speziesnorm und auf die Fähigkeiten, die ein Tier ohne menschliche Einmischung entwickeln würde. Diese Bestandteile tauchten aber bereits bei den obigen Versuchen auf, BM durch eine Erweiterung des Tierwohlbegriffs zu kritisieren. Gavrell Ortiz selbst zieht explizit eine enge Verbindung zwischen Würde und Wohl. Wir respektieren ihr zufolge die Würde eines Tiers, wenn wir es nicht daran hindern (oder es darin unterstützen), ein gutes Leben gemäß seiner Speziesnorm zu führen. Insofern scheinen wir nicht viel Neues zum Tierwohlkonzept dazu gewonnen zu haben. Balzer, Rippe und Schaber liefern einen anderen, und besonders viel diskutierten, Versuch, den Würdebegriff in Anwendung auf Tiere systematisch zu untersuchen und auf ein stabiles argumentatives Fundament zu stellen. 31 Sie konzentrieren sich dabei auf die Formulierung der »Würde der Kreatur« in der Schweizerischen Bundesverfassung 32 (fortan: SBV) und stoßen bei ihrer Unternehmung auf erhebliche Ungereimtheiten. Nicht nur herrscht bereits große Uneinigkeit unter Philoso-
28 Vgl. Balzer et al. (1998), S. 28-31. 29 Vgl. ebd., S. 41-45; Schmidt (2008), S. 216-233; Gruen (2011), S. 151-155. 30 Gavrell Ortiz (2004), S. 114. 31 Hierbei ist anzumerken, dass die Autoren primär bemüht sind, dem Begriff »Würde der Kreatur«, so wie er in den Gesetzestexten der SBV auftaucht, einen greifbaren Sinn zu geben. Rippe bspw. äußert sich an anderer Stelle als entschiedener Gegner des Würdekonzepts (vgl. Rippe [2008], Kap. 3). 32 Vgl. SBV, Art. 120.
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phen darüber, wie die Würde des Menschen zu fassen ist – was die Übertragung dieses Konzepts auf Tiere von vornherein erschwert. 33 Hinzukommt auch das Problem, dass der Begriff »Kreatur« alles umfasst, was »geschaffen« wurde, womit ambivalent wird, inwiefern auch Pflanzen eine Würde zugesprochen werden müsste. 34 Was aber haben Menschen, Tiere und Pflanzen gemeinsam, was sie in einer besonderen würdebezogenen Weise moralisch schützens- und berücksichtenswert macht? 35 Und wenn es keine solchen Gemeinsamkeiten gibt, mit welcher Legitimität kann dann in allen Fällen noch dieselbe Vokabel »Würde« verwendet werden? 36 Letztendlich entscheiden sich auch Balzer, Rippe und Schaber dafür, die Würde der Kreatur als Schutz speziestypischer Eigenschaften des Individuums zu konzipieren 37 und sind damit denselben Schwierigkeiten wie Gavrell Ortiz ausgesetzt. Auch ist auffällig, dass etwa der französischsprachige Text der SBV den Begriff »Würde der Kreatur« durch »l’intégrité des organismes vivants« ersetzt, da es den Übersetzern zufolge für französische Muttersprachler merkwürdig klinge, den Würdebegriff auf Tiere anzuwenden. 38 Der Würdebegriff erscheint dadurch als ein Notbehelf, der in anderen Sprachen durch entsprechend andere Vokabeln besetzt wird. Darüber hinaus weist Brom daraufhin, dass die Einführung des Würdebegriffs in die SBV nicht das Ergebnis einer langwierigen philosophisch-politischen Debatte oder Expertenrunde war, sondern per Plebiszit direkt von der breiten Öffentlichkeit eingefordert wurde. 39 »Würde« erweist sich dabei vor allem als eines: ein alltagssprachlich etablierter Begriff, der gesellschaftlich stark verbreitete moralische Intuitionen abbildet, dabei aber nicht klar strukturiert oder belastbar unterfüttert ist. Die Verwendung von »Würde« als Schlagwort ist vor allem Ausdruck eines tief empfundenen breiten gesellschaftlichen Unbehagens. Ein klar umrissener Würdebegriff, der sich in eine nachvollziehbare und überzeugende Argumentationsstrategie einbetten lässt, ist zumindest im derzeitigen Konglomerat an philosophischen Beiträgen m.E. nicht auszumachen. Ich muss mich im Rahmen dieser Arbeit auf die wenigen genannten illustrativen Beispiele beschränken. Klar strukturierten Quellen gelingt es hierbei allenfalls, die vielfältigen Bedeutungsebenen und miteinander verwobenen intuitiven Einstellungen in der
33 Vgl. Balzer et al. (1998), S. 17-31, 41-50. 34 Vgl. ebd., S. 33-38. 35 Das Lebendigsein selbst kann nicht überzeugen, da dies zu einer metaphysisch schillernden These der Heiligkeit allen Lebens führt. Zudem müsste dann auch eine Würde von Viren angenommen werden. 36 Vgl. Rippe (2008), S. 70-71; Schmidt (2008), S. 219. 37 Vgl. Balzer et al. (1998), S. 44-48, 58. 38 Vgl. Rippe (2011), S. 10. 39 Vgl. Brom (2000), S. 55.
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Verwendung des Würdebegriffs nachzuzeichnen und zu ordnen. So etwa bei Balzer, Rippe und Schaber; 40 Heike Baranzke 41; oder Kirsten Schmidt, 42 die alle diesem Begriff zudem eher skeptisch gegenüberstehen. Auch eine historische Beleuchtung des Würdebegriffs hilft nur bedingt weiter. »Würde« ist ein historisch gewachsenes Gemisch aus stark religiös 43 und metaphysisch hergeleiteten Wertzuschreibungen, deren Einzelelemente im heutigen alltäglichen Gebrauch des Begriffs nur schwer auseinander sortiert werden können. 44 Gerade das scheint den Würdebegriff so attraktiv für das Einfangen von noch nicht klar umrissenen Intuitionen zu machen: der Würdebegriff selbst ist nicht klar umrissen und erlaubt daher vielfältige Anknüpfungspunkte für starke Intuitionen. Diese Offenheit droht jedoch schnell zur Beliebigkeit und Unverbindlichkeit zu werden. Das Schweizerische Tierschutzgesetz (TSchG) verzichtet auf den selbst schon problematischen Begriff der »Kreatur« und spricht von einer »Tierwürde«. Diese werde bspw. durch Genveränderung verletzt, selbst wenn dabei das Tierwohl nicht beeinträchtigt wird. Das klingt genau nach dem, was wir suchen, um die Ausgangsintuition gegen BM einzufangen. Der konkrete Gesetzestext ist jedoch enttäuschend. Er stellt das Manipulieren von Tieren, sei es durch Gentechnik oder durch Selektion, in keiner Form grundsätzlich infrage. Gefordert wird lediglich: »[D]ass bei den Tieren durch die Erzeugungs- und Zuchtmethoden keine Schmerzen, Leiden, Schäden oder Verhaltensstörungen auftreten und auch sonst der Würde des Tieres Rechnung getragen wird«. 45
Dabei wird Würde zu großen Teilen anhand von Kriterien umrissen, die bereits durch das Wohlkonzept abgedeckt werden: negative affektive Zustände, Gesundheit, und die Fähigkeit, positive Erfahrungen zu machen. Was »auch sonst« zur Würde gehört, wird leider nicht näher bestimmt.
40 Vgl. Balzer et al. (1998). 41 Vgl. Baranzke (2002). 42 Vgl. Schmidt (2008). 43 Auch in einer säkularen Gesellschaft muss der Rückgriff auf religiös geprägte Vokabeln nicht von vornherein diskreditierend für ein ethisches Konzept sein. Da religiöse Begriffe in unserem täglichen Reden und Denken etabliert sind, können sie uns helfen, moralische Intuitionen, die argumentativ noch wenig greifbar sind, zumindest alltagssprachlich ein wenig greifbarer zu machen. Ich führe diesen Gedanken näher aus in Wawrzyniak (2015), S. 14-22. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in Baranzke (2002), S. 43. 44 Für einen historischen Überblick siehe Wetz (2005). 45 TSchG, Art. 11, Abs. 4.
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Außerdem wird die Tierwürde hier, anders als traditioneller Weise bei der Menschenwürde, 46 ausdrücklich nicht mit einem unantastbaren Eigenwert verbunden. Laut TSchG kann der Schutz der Tierwürde durch ausreichend gewichtige Gründe überwogen werden: »Würde: Eigenwert des Tieres, der im Umgang mit ihm geachtet werden muss. Die Würde des Tieres wird missachtet, wenn eine Belastung des Tieres nicht durch überwiegende Interessen gerechtfertigt werden kann. Eine Belastung liegt vor, wenn dem Tier insbesondere Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden, es in Angst versetzt oder erniedrigt wird, wenn tief greifend in sein Erscheinungsbild oder seine Fähigkeiten eingegriffen oder es übermässig instrumentalisiert wird […]« 47 [Hervorhebung im Original]
Dieser Kontrast zwischen der Annahme, die Würde des Menschen gebiete einen nicht-überwiegbaren Schutz, und der oben beschriebenen überwiegbaren Tierwürde, stützt die Kritik von Balzer, Rippe und Schaber. Das Schlagwort »Würde« wird als Etikett für grundlegend unterschiedlich konzipierte Verständnisse von moralischer Berücksichtigung herangezogen und schafft damit mehr Verwirrung als Klarheit. Verkomplizierend kommt hinzu, dass innerhalb der verschiedenen Würdeansätze Uneinigkeit besteht, ob (a) Würde, wie das TSchG nahelegt, tatsächlich selbst ein Eigenwert ist, der Tieren anhaftet, (b) Würde diesen Eigenwert verleiht, nicht aber mit ihm identisch ist, oder (c) die Zuschreibung von Würde allein der Ausbuchstabierung dessen dient, was die Achtung des besonderen Eigenwerts von Tieren von uns moralisch verlangt. 48 In jedem Fall bleibt ungeklärt, worin genau der Eigenwert besteht, auf den sich Würde bezieht. Hoerster erklärt die letztendliche argumentative Schwäche des Würdebegriffs damit, dass die Betonung der Würde eines Individuums im eigentlichen Sinn kein genuines Argument darstellt, sondern vielmehr ein Ausdrucksverstärker für Überzeugungen ist, die wir bereits hegen. 49 In erhitzten ethischen Debatten können sich Kontrahenten gleichermaßen auf den Schutz der Würde eines Individuums beziehen und dennoch zu völlig verschiedenen Urteilen kommen. 50 Wir leiten unsere moralischen Urteile eben nicht direkt aus dem Würdebegriff ab, sondern aus teils offen-
46 Vgl. Rippe (2008), S. 73-76. 47 Vgl. TSchG, Art. 3a. 48 Vgl. Schmidt (2008), S. 217-218. 49 Vgl. Hoerster (2002), S. 19; ähnlich auch Rippe (2008), S. 87. 50 So etwa bzgl. der Menschenwürde bei der Frage, ob die Würde des Patienten ein Recht auf Sterbehilfe herleitet, oder diese Würde es einem Menschen verbietet, das eigene Leben vorzeitig zu beenden (vgl. Schroeder [2008], S. 236).
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liegenden, teils verborgenen moralischen Prinzipien, die in der Betonung der »Würde« des Individuums, lediglich ihren emphatischen Ausdruck finden. Der Würdebegriff kann innerhalb der philosophischen Diskussionen daher die erste der beiden von mir eingeforderten Funktionen erfüllen. Er dient dem Hochhalten starker moralischer Intuitionen und dem Appell, die ethische Auseinandersetzung mit den betreffenden Fragestellungen weiterzuführen, selbst wenn belastbare Argumentationsstrategien noch nicht in befriedigender Weise entwickelt wurden. Die zweite Funktion, eine nachvollziehbare und plausible Argumentationsstrategie zu liefern, um diese Intuitionen auch als relevant zu verteidigen, bleibt jedoch unerfüllt. Um belastbar unterfüttert zu werden, müssen handfeste Kriterien benannt werden, auf die sich die Würdezuschreibung an Tiere stützen kann. 51 Die hier vorgestellten Ansätze bleiben diesbezüglich sehr vage. Auffällig ist jedoch, dass dort, wo Kriterien benannt oder zumindest angedeutet werden, diese bereits im Tierwohlkonzept verankert sind. Etwa in den oben erwähnten Ausführungen des TSchG oder von Gavrell Ortiz. Dabei wird auf die Empfindungsfähigkeit (und damit zusammenhängend auch auf die Bewusstseinsfähigkeit) von Tieren verwiesen. Hänge der Eigenwert von Tieren jedoch mit diesen Fähigkeiten zusammen, so hilft der Tierwürdebegriff bei der Zurückweisung von BM nicht weiter. Denn diese Fähigkeiten sind bei bewusstseinsgeminderten Tieren eben nicht vorhanden. Zudem betont Rippe, dass es zwar moralische Pflichten gibt, den Eigenwert von Lebewesen zu respektieren. Es gäbe aber keine Verpflichtung, einen solchen Wert zu realisieren. 52 Wenn die Würde des Tiers also letztendlich doch wieder aus genau den Fähigkeiten abgeleitet wird, die auch für den Besitz eines subjektiven Wohls benötigt werden, so kann das Würde-Argument nur darauf hinweisen, dass Tiere zu schützen sind, wenn sie faktisch über ein solches Wohl verfügen. Es lässt sich auf diese Weise aber nicht argumentieren, dass Tiere so zu erschaffen sind, dass sie ein subjektives Wohl entwickeln. Es genügt auch nicht, darauf zu verweisen, dass bestimmte Tiere typischerweise über die benannten Fähigkeiten verfügen. Eine solche Verkoppelung des Würdebegriffs mit einer Speziesnorm versucht Gavrell Ortiz. 53 Dann müsste aber behauptet werden (ähnlich wie bei Speziesnormbezügen im Tierwohl), dass es in wertrealistischer Weise normativ geboten ist, ein Tier so zu erschaffen, dass es typische Eigenschaften seiner Spezies besitzt. Dabei bleibt völlig unklar, warum genau es ethisch relevant ist, dass ein Tier ein typischer Vertreter seiner Spezies ist, ohne auf hintergründige prudentielle oder perfektionistische Wertannahmen zurückzugreifen
51 Vgl. Hoerster (2002), S. 27-29. 52 Vgl. Rippe (2011), S. 12-13. 53 Vgl. Gavrell Ortiz (2004), S. 114.
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(siehe II.2.4.2). Prudentielle Annahmen laufen hierbei ins Leere, weil bewusstseinsgeminderte Tiere kein Wohl besitzen. Perfektionistische Annahmen bleiben dagegen diffus, weil nicht klar wird, warum genau es ethisch von Belang ist, ein typischer Speziesvertreter zu sein. Trotz der genannten Probleme illustriert die Tierwürdediskussion aufschlussreiche Grundannahmen, die es lohnt, im Hinterkopf zu behalten. Offenbar spielt es für viele Autoren eine wichtige Rolle, dass bei Genveränderung Menschen eigenmächtig bestimmen, zu welchem Leben ein Tier fähig sein wird. Und es spielt für die Autoren eine Rolle, dass es sich hierbei um eine fundamental andere Lebensverfasstheit handelt als bei Tieren, die nicht von Menschen in dieser Form manipuliert wurden. Gerade diese Züge werden m.E. in Lori Gruens Rede von einer »wild dignity« von Tieren besonders deutlich. Gruens Konzept ist zugegebenermaßen sehr unscharf umrissen und teils mit perfektionistischen und ästhetischen Annahmen vermischt. 54 Interessant ist jedoch, dass sie die Motive des handelnden Moralakteurs und die Haltung, mit der er sich auf ein Tier bezieht, stärker in den Fokus rückt. »Wild dignity« bezieht sich für Gruen eben nicht auf die Annahme eines metaphysisch diffusen Eigenwerts, sondern dient als Ausdruck für eine bestimmte wertschätzende Umgangsweise mit Tieren. Wir sollten uns hiernach fragen, was uns dazu treibt, die Lebensverfasstheit von Tieren in so radikaler Weise zu beeinflussen, wie es bei BM der Fall ist. Ebenso müssen wir reflektieren, welche Haltung sich in der Erwägung von BM ausdrückt, und ob diese Haltung eine ist, die wir guten Gewissens einnehmen können. So schreibt Gruen zum generellen Umgang mit Tieren: »When we project our needs and tastes onto them, try to alter or change what they do, and when we prevent them from controlling their own lives, we deny them their Wild dignity. In contrast, we dignify the wildness of other animals when we respect their behaviors as meaningful to them and recognize that their lives are theirs to live.« 55
Doch auch hier scheint BM wichtige Kriterien auszuhebeln. Tiere ohne Bewusstseinsfähigkeit besitzen kein moralisch relevantes eigenes Leben, weil kein bewusstes Individuum existiert, um dessen Leben es ginge, und für das irgendetwas von Belang sein könnte. Gleichwohl berührt Gruen hierbei einen Punkt, der lohnt weiterverfolgt zu werden: Wir sollten uns fragen, was es über uns als Moralakteure aussagt, wenn wir Tiere und ihre Lebensverfassung wie selbstverständlich unseren eigenen Interessen
54 Vgl. Gruen (2011), S. 151-155. 55 Ebd., S. 155.
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unterordnen. Dieser Gedanke scheint aber nicht am Würdebegriff selbst zu hängen, sondern ist ein eigenständiges Element, das lediglich in der Rede von »Würde« transportiert wird. Solche Akzente lassen sich auch aus anderen Argumentationsstrategien herauskristallisieren, wie ich im Folgenden darlegen werde. 5.2.2.2 Tierintegrität Stärker naturwissenschaftlich orientierte Kritiker richten ihre Hoffnung auf den Begriff der tierlichen »Integrität«. Dieser fand während des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, durch das Aufkommen moderner Methoden der Gentechnik, Einzug in die tierethischen Debatten – insbesondere im niederländischen Raum. 56 Zentrale Merkmale und Probleme dieses Konzepts wurden bereits unter III.3 vorgestellt und thematisiert. Mein dort gefälltes Urteil, dass dieses Konzept, trotz inhaltlicher Unklarheiten und argumentativer Schwächen, einige interessante Aspekte anspricht, lässt sich in Auseinandersetzung mit BM bestätigen. Ich erinnere daran, dass, trotz Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Ansätzen, Tierintegrität im Kern als körperliche Unberührtheit, Unversehrtheit oder Intaktsein des Tiers verstanden werden kann in Bezug auf menschliche Handlungen und Einflussnahme. 57 Interessant ist bei den unterschiedlichen Ansätzen v.a. die Streitfrage, inwieweit nicht nur die Folgen eines Eingriffs in die physische – und vermittels Gehirnmasse, Hormonhaushalt, etc. auch psychische – Beschaffenheit eines Tiers bestimmen, wann eine Wahrung bzw. Verletzung von Tierintegrität stattfindet, sondern auch die Motive eines Moralakteurs relevant sind. Rutgers bindet erwähntermaßen Integritätsverletzungen sehr eng an die Motive des eingreifenden Moralakteurs. Integrität werde nur verletzt, wenn in das Intaktsein eines Tiers aus trivialen, eigennützigen, bösartigen oder anderen diskreditierenden Absichten eingegriffen wird. Dient ein Eingriff aber den Interessen des Tiers selbst, sei von keiner Integritätsverletzung zu sprechen. 58 Kirsten Schmidt hingegen versteht Integrität als strikt objektiv-biologisches Konzept. Inwieweit ein Eingriff in die Integrität eines Tiers ethisch verwerflich, zulässig, oder sogar geboten ist, müsse in einem nächsten Schritt geklärt werden und sei nicht bereits am Inhalt des Begriffs abzulesen. 59
56 Vgl. Schmidt (2008), S. 120-123. 57 Zumindest werden in den mir behandelten Quellen mögliche Integritätsverletzungen durch Natureinwirkung oder durch andere Tiere nicht eigens diskutiert. Dies zöge u.a. auch die Frage nach sich, ob Tiere durch Alterung und den damit einhergehenden körperlichen Abbau in ihrer Integrität verletzt werden. 58 Ich beziehe mich hierin auf die Darstellung von Rutgers in Bovenkerk et al. (2002), S. 17-18. 59 Vgl. Schmidt (2008), S. 176.
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Bovenkerk et al. scheinen gewissermaßen dazwischen angesiedelt zu sein. Einerseits binden sie deutlicher als Rutgers objektiv-biologische Kriterien in ihre Zuschreibung von Integritätsverletzungen mit ein. Andererseits betonen sie, im Gegensatz zu Schmidt, dass Integrität ein wertbeladenes Kriterium sei, indem ausgedrückt wird, wie ein Tier unserer Ansicht nach beschaffen sein sollte. 60 Und sie machen das Vorliegen einer Verletzung der Tierintegrität u.a. davon abhängig, ob ein Eingriff in das Intaktsein und die Überlebensfähigkeit auf die Beförderung der Interessen des betroffenen Tiers abzielt. Dabei betonen sie zusätzlich, dass ein Tier körperlich fähig sein muss, auf eigene Faust zu überleben, ohne auf permanente Unterstützung angewiesen zu sein. 61 Hierin wird erneut Bezug auf eine Speziesnorm genommen, denn es geht nicht darum, ob ein Tier überhaupt in irgendeiner Umgebung überlebensfähig ist. Es muss explizit die Art von Umgebung sein, die Vertreter der gleichen Spezies typischerweise bewohnen und in der sie sich zurechtfinden können. Dieser Punkt ist insofern interessant, da bewusstseinsgeminderte Tiere in überhaupt keiner Umgebung ohne ständige Unterstützung überleben können. Sie können z.B. keine Nahrung selbstständig zu sich nehmen, geschweige denn danach suchen. Was aber ist daran schlimm, wenn diese Tiere kein eigenes subjektives Wohl besitzen? Der bloße Verweis darauf, dass Tiere der gleichen Spezies diese Fähigkeiten typischer Weise besitzen, ist zu dürftig. Auch der Verweis von Bovenkerk et al., dass Integrität verletzt wird, wenn Eingriffe nicht dem betroffenen Tier selbst zugute kommen (»directed toward the animal’s own good« 62), wird hier ausgehebelt, da in Ermangelung eines subjektiven Wohls nichts gut oder schlecht für ein solches Tier sein kann. Ich komme auf Schmidts Ansatz zurück, der stellenweise Parallelen zu Comstock und Nussbaum aufweist (III.5.2.1). Schmidt bindet sowohl speziestypisches Potenzial (Nussbaum) als auch Interessen zweiter Ordnung (Comstock) in ihren Ansatz ein. Sie gesteht dabei zu, dass Tiere in Ermangelung von Bewusstseinsfähigkeit über kein moralisch relevantes Wohl verfügen. 63 Zentral sei aber, dass es sich hierbei um Tiere handelt, die nicht von Natur aus, sondern aufgrund gezielter menschlicher Eingriffe in ihre biologische Entwicklung, über kein solches Wohl verfügen. Daraus leitet Schmidt die These ab, dass diese Tiere ohne menschlichen Einfluss die hier relevanten Fähigkeiten besessen hätten. 64 Das Ausbilden der entsprechenden Bewusstseinsfähigkeiten rechnet sie dem speziestypischen Potenzial bestimmter Tiere zu. Indem Menschen verhindern, dass ein Tier diese
60 Vgl. Bovenkerk et al. (2002), S. 18. 61 Vgl. ebd., S. 21. 62 Ebd., S. 21. 63 Vgl. Schmidt (2008), S. 329, 347-353. 64 Vgl. ebd., S. 352, 369.
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Fähigkeiten ausbilden kann, werde es dieser Fähigkeiten »beraubt«. 65 Dies stelle eine Schädigung des Tiers da, nicht hinsichtlich seines Wohls, aber seiner Integrität. 66 Was aber macht die Integrität eines Lebewesens zu einem eigenständigen normativen Faktor? Zunächst einmal kann nicht sinnvoll davon gesprochen werden, dass einem erschaffenen bewusstseinsgeminderten Tier etwas »geraubt« wird, aufgrund des bereits behandelten Problems der Nicht-Identität. Das biologische Potenzial, Bewusstsein auszubilden, hatte vor dem Eingriff nicht das erschaffene Tier besessen, sondern nur der zuvor existierende Embryo. Wäre der Embryo nicht manipuliert worden, so hätte sich ein anderes Individuum daraus entwickelt. 67 Wollen wir von einer »Beraubung« sprechen, so müssen wir uns auf den Embryo beziehen, dem jedoch die Fähigkeiten fehlen, die moralischen Status verleihen (siehe III.3.3.1). Zudem richten sich die eingangs benannten aversiven Intuitionen offenbar auf das resultierende bewusstseinsgeminderte Tier selbst und nicht rückblickend auf den Embryo, als wäre ihm ein Unrecht angetan worden. Schmidts Integritätsansatz offenbart eine enge Verkoppelung mit dem Tierwohlkonzept. Gegen die Integrität eines Tiers verstoßen Handlungen, die sein Intaktsein verletzen. Und dies wird wiederum als ethisch relevant angenommen, da Eingriffe in das Intaktsein Leid erzeugen und die Fülle an positiven Erfahrungen einschränken, die ein Tier erfahren kann. Durch das Aufgreifen von Comstocks Interessen zweiter Ordnung versucht Schmidt letztendlich doch zu belegen, dass Tiere, die ohne ihre speziestypische Bewusstseinsfähigkeit gezüchtet werden, in ihrem Wohl geschädigt werden, 68 obwohl Schmidt zuvor selbst eingesteht, dass diese Tiere kein Wohl besitzen. Da für ein Lebewesen, das kein Wohl besitzt, nichts gut oder schlecht sein kann, kann es auch nicht in zweiter Ordnung gut für dieses Lebewesen sein, ein Wohl zu besitzen (zumal der Besitz eines eigenen Wohls mit psychischen Eigenschaften einhergeht, die die Identität des Individuums beeinflussen). Dagegen berührt Schmidt mit ihrem Hinweis, dass bewusstseinsgeminderte Tiere Lebewesen sind, die in dieser Form ohne gezielte menschliche Einmischung nie existiert hätten, 69 einen wichtigen Punkt. Es handelt sich nicht bloß um Lebewesen, denen es einfach nichts ausmachen kann, was mit ihnen geschieht. Es handelt sich um Lebewesen, bei denen Menschen gezielt dafür gesorgt haben, dass ihnen nichts etwas ausmachen kann. Schmidts Intuition, dass diese Einflussnahme menschlicher
65 Vgl. ebd., S. 367. Schmidt verwendet die Bezeichnung »berauben« explizit. 66 Vgl. ebd., S. 367. 67 Vgl. Palmer (2011a), S. 47. 68 Vgl. Schmidt (2008), S. 368f. 69 Vgl. ebd., S. 352.
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Moralakteure unsere Aufmerksamkeit verdient, teile ich. Ihr Rückriff auf ein Potenzialitätsargument kann jedoch nicht plausibel erklären, warum diese Art von Einflussnahme moralische Kritik verdient. Integritätsansätze scheinen insgesamt nicht in der Lage, die Ausgangsintuitionen gegenüber BM plausibel zu verteidigen. Auch sie scheitern damit, wie bereits der Würdebegriff, an der zweiten Funktion, die ein Kritikansatz an BM erfüllen muss. Hinsichtlich der ersten Funktion (der Aufnahme und Beleuchtung solcher Intuitionen) weisen Integritätsansätze dagegen erhellende Elemente auf. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf den Akt der Einflussnahme auf die Beschaffenheit von Tieren und darauf, welche Rolle menschliche Moralakteure dabei spielen. Ansätze wie die von Rutgers sowie Bovenkerk et al. betonen zudem, dass nicht nur die Ergebnisse unserer Eingriffe moralische Aufmerksamkeit verdienen, sondern auch unsere Motive, solche Eingriffe überhaupt erst vorzunehmen. 5.2.2.3 Tierrechte Innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Tierwohlkonzepts seit den 1920er Jahren, können Tierrechtsansätze als dessen traditioneller Gegenspieler angesehen werden. Sie betonen, dass unser Umgang mit Tieren grundsätzlicher kritisiert werden muss, als dies bei einer Fokussierung auf das Tierwohl geschieht. 70 Bestimmte Handlungen gegenüber Tieren seien moralisch verwerflich, selbst wenn sie so innovativ durchgeführt werden, dass Tiere hinsichtlich ihres Wohls hierbei nicht beeinträchtigt werden, da diese Handlungen gegen deren moralische Rechte verstoßen. Die Literatur aus diesem Lager ist groß und kann in ihren unterschiedlichen Variationen hier nicht ausführlich behandelt werden. Stattdessen werde ich mich exemplarisch auf den Ansatz von Arianna Ferrari beziehen und diesen zu generellen Tierrechtsargumenten in Verbindung setzen. Ihr Ansatz wurde ebenfalls bereits unter III.3 vorgestellt. Ferarri spricht Tieren grundlegende moralische Rechte zu, allem voran das Recht auf Freiheit und Fortleben, und bezeichnet Praktiken als »Ausbeutung«, die diese Rechte übertreten. 71 BM ist für Ferrari als Praktik moralisch diskreditiert, da sie von vornherein dem klaren Ziel dient, die Nutztierhaltung fortzuführen, obwohl diese immer mit der Gefangenhaltung und frühzeitigen Tötung von Tieren einhergeht, also im Kontext von Ausbeutung überhaupt erst erdacht und entwickelt wird. 72 Die Frage ist jedoch,
70 Vgl. Haynes (2011), S. 105-107. 71 Vgl. Ferrari (2012), S. 66. Ferrari selbst spricht neutral von einem Recht zu leben, was ich aber im Sinne von Fortleben interpretiere – nicht als Anrecht darauf, überhaupt erst zur Existenz gebracht zu werden. 72 Vgl. ebd., S. 66-67. In eine ähnliche Richtung geht auch Francione, wenn er betont: »The standards of animal welfare are more concerned with recognizing that if we want to ex-
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worauf genau sich die moralischen Rechte von Tieren gründen, die durch Ausbeutung verletzt werden. Die naheliegenden Kriterien für ein Recht auf Freiheit und Fortleben sind genau diejenigen, die mit dem Tierwohl zusammenhängen. Gefangenhaltung führt empirisch bedingt zu Leid bei Tieren oder schränkt Tiere doch zumindest hinsichtlich bestimmter positiver Lebenserfahrungen stark ein. Und die Fortführung des eigenen Lebens ist für ein Tier von Bedeutung, da es nur während dieser Lebenszeit positive Erfahrungen machen kann (siehe III.2). Was aber verleiht bewusstseinsgeminderten Tieren ein Recht auf Freiheit und Fortleben, wenn es ihnen mangels subjektiver Wohlperspektive überhaupt nichts ausmachen kann, ob sie in Gefangenschaft und nur für stark verkürzte Zeit ihr Dasein fristen? Der Tierrechtsbegriff scheint insofern bereits eng an den des (anspruchsvoll verstandenen) Tierwohls gekoppelt, was ihn für eine Kritik an BM sowohl überflüssig als auch untauglich macht. Haynes selbst sieht den Streit zwischen Tierwohlvertretern und Tierrechtsvertretern darin begründet, dass erstere bislang traditionell einen stark reduktionistischen subjektivistischen Wohlbegriff verwendet haben. Versteht man Wohl jedoch als komplexeres Konzept, in dem auch objektive (oder besser: objektivierbare subjektive) Komponenten eine Rolle spielen, müssten beide Lager laut Haynes zu ähnlichen moralischen Urteilen hinsichtlich unseres Umgangs mit Tieren gelangen: »It has been my thesis that if we correctly conceptualize animal welfare, using a correct account of human welfare as our model, respecting the welfare of animals would require eliminating most of their use in science and all of their use when slaughtered for food. So true animal welfare advocates, if they correctly conceptualize ›animal welfare‹ would be indistinguishable from ›animal rightists‹.« 73
Eine weitere grundlegende Verbindung zwischen der Idee von Tierrechten und Tierwohl besteht darin, dass der Besitz von Tierrechten an den Besitz eines moralischen Status gekoppelt ist. Und der moralische Status wiederum ist an den Besitz eines eigenen Wohls gebunden. So formuliert etwa Wolf: »Die Moral im engeren Sinn sollte man auf das Handeln gegenüber Wesen beschränken, denen es etwas ausmachen kann, wie man sie behandelt, die ein subjektives Wohlbefinden haben.« 74
ploit animals in particular ways we have no choice but to provide at least some protection for their interests.« (Francione [2008], S. 100). 73 Haynes (2010), S. 151. 74 Wolf (2012), S. 73.
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Es ist gerade der Sinn von moralischen Rechten, wie auch Sapontzis betont, den Rechtsträger in seinem eigenen Interesse davor zu schützen, den Interessen anderer Individuen geopfert zu werden. 75 Damit aber etwas überhaupt im Interesse des betroffenen Lebewesens sein kann, muss es ihm etwas ausmachen können, wie sein Leben verläuft, d.h. es muss ein eigenes Wohl besitzen. In Tom Regans klassischem Ansatz dienen Tierrechte dem Schutz von Tieren, die Subjekt-eines-Lebens sind und denen daher ein inhärenter Wert zukommt. Auch dieser Subjekt-Status ist aber erneut an den Besitz eines eigenen Wohls gebunden: »[I]ndividuals are subjects-of-a-life if they have beliefs and desires; perception, memory, and a sense of the future, including their own future; an emotional life together with feelings of pleasure and pain; preference- and welfare-interests; the ability to initiate action in pursuit of their desires and goals; a psychophysical identity over time; and an individual welfare in the sense that their experiental life fares well or ill for them, logically independently of their utility for others and logically independently of their being the object of anyone else’s interests. Those who satisfy the subject-of-a-life criterion themselves have a distinctive kind of value – inherent value – and are not to be viewed or treated as mere receptacles.« 76
Alles, was Regan in dieser langen Liste anführt, fehlt jedoch bewusstseinsgeminderten Tieren. Auch Francione betont explizit, dass Empfindungsfähigkeit – und damit der Besitz einer subjektiven Wohlperspektive – notwendige Bedingung für den Zuspruch von moralischen Rechten ist, wie er sie einfordert. 77 Tierrechtsansätze sind somit in zweierlei Hinsicht mit dem Tierwohlkonzept eng verknüpft. Sie fordern einerseits Rechte ein, die auf das Wohl von Tieren Auswirkungen haben. Insofern scheint es überflüssig einen Tierrechtsbegriff zu bemühen, dessen Kerngehalt sich bereits durch erweiterte Tierwohlansätze aufgreifen lässt. Andererseits werden Tiere in Tierrechtsansätzen gerade deshalb als moralisch berücksichtigungswürdig angesehen, weil sie über ein eigenes subjektives Wohl verfügen. Wo das Tierwohlkonzept scheitert, dort scheitert also auch die Zuschreibung von Tierrechten. 78 Ganz gleich, welchen einflussreichen theoretischen Ansatz zur Tierethik wir aufgreifen, die entscheidenden Kriterien, anhand derer Tieren moralischer Status
75 Vgl. Sapontzis (1987), S. 119. 76 Regan (1983), S. 243. 77 Vgl. Francione (2008), S. 10-11. 78 So schreibt Gavrell Ortiz, die Mehrheit der Tierrechtsvertreter habe inzwischen widerstrebend einsehen müssen, dass das Konzept der Tierrechte nicht in der Lage ist, BM zu kritisieren. Dies mache das Würdekonzept gerade attraktiv (vgl. Gavrell Ortiz [2004], S. 95).
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oder Rechte zugesprochen werden, beziehen sich immer auf die Fähigkeit bewusster subjektiver Empfindungen. Und eben diese Fähigkeit ist bei bewusstseinsgeminderten Tieren nicht vorhanden. 79 Ihr Vorhandensein wurde durch menschliches Eingreifen erfolgreich eliminiert und gerade dies ist auch das angestrebte Ziel von BM. Diese Schwierigkeit lässt sich auch nicht durch den Hinweis umgehen, dass sich unsere moralische Verantwortung gegenüber Tieren nicht allein anhand deren individueller Fähigkeiten bemisst, sondern ebenso die Beziehungen, die wir zu Tieren besitzen eine Rolle spielen. Selbst Palmer, die die Bedeutung besonderer Beziehungen zu Tieren besonders stark macht, 80 betont, dass die Fokussierung auf die Fähigkeiten des Tiers unsere moralischen Pflichten ihm gegenüber zwar unvollständig abbildet, diese Fähigkeiten aber zugleich Vorbedingungen für moralisch relevante Beziehungen sind. Besondere Pflichten aufgrund von Beziehungen ergänzen generelle Pflichten, die wir Individuen anhand ihrer Fähigkeiten schulden. Sie sind jedoch nicht vollständig von ihnen unabhängig. 81 Wenn es gelingt, Tieren diejenigen Fähigkeiten zu nehmen, die sie überhaupt erst moralisch berücksichtigungswürdig machen, so gelingt es im selben Zug, ihnen die Grundlage für besondere beziehungsbasierte Berücksichtigungswürdigkeit zu nehmen. 82 Ferrari scheint letztendlich, ähnlich wie Schmidt, das genmanipulative Ausschalten von Bewusstseinsfähigkeit bei Tieren als »Beraubung«, und damit implizit doch wieder als Wohlbeeinträchtigung anzusehen. Dabei versucht sie, Palmers Hinweis auf das Problem der Nicht-Identität als unzutreffend zurückzuweisen. Sie verweist darauf, dass bei gentechnischen Eingriffen eine bereits existierende, befruchtete Eizelle nachträglich manipuliert wird. Die noch unmanipulierten Zygoten, mit dem ihnen innewohnenden Potenzial, bezeichnet Ferrari als »already formed identities«. 83 Diese Behauptung aber läuft ins Leere. Selbst wenn Zygoten oder Embryonen als eigenständige (numerische) Identitäten gelten können, so sind sie dennoch nicht identisch mit den späteren Organismen, die sich aus ihnen entwi-
79 Vgl. Palmer (2011a), S. 44 sowie Streiffer/Basl (2011), S. 840. Dabei klammere ich explizit religiöse und metaphysisch aufgeladene Ansätze wie etwa Schweitzers aus, die Tieren aufgrund ihres Lebendigseins oder als göttlich erschaffene Geschöpfe ihren Status bzw. Rechte zuschreiben. Diese nehmen innerhalb der Tierethik eine marginale Rolle ein. 80 Vgl. Palmer (2010); Palmer (2011b), S. 701-725. 81 Vgl. Palmer (2010), S. 48-49; Palmer (2011b), S. 701-725 sowie Palmer (2011a), S. 4445. Palmer ist sich dessen bewusst und erkennt daher BM als tiefgründige philosophische Herausforderung an. 82 Dieser Zusammenhang wird u.a. verdeutlicht bei McMahan (2005), S. 353-380, insb. S. 364 FN 17. 83 Vgl. Ferrari (2012), S. 68.
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ckeln. Ich folge hierin McMahans Argument, wonach nicht entscheidend ist, ob ein erwachsenes Individuum und ein Embryo biologisch zueinander in Verbindung stehen, indem sich das eine aus dem anderen entwickelt. Es müssen ausreichend starke psychologische Verbindungen zwischen zwei Entitäten vorhanden sein, um sinnvoll davon sprechen zu können, dass für die eine Entität von eigenem Interesse sein kann, was der anderen widerfährt. 84 Es besteht keine nennenswerte psychologische Verbindung zwischen der Zygote und dem später entstehenden Tier. Ferrari kann somit nicht belegen, dass wir bewusstseinsgeminderten Tieren dieselben Rechte zugestehen müssten, die in der tierethischen Tradition explizit für bewusstseinsfähige Tiere konzipiert worden sind. Aus demselben Grund kann auch der anfänglich existierenden befruchteten Eizelle kein moralisches Anrecht zugesprochen werden, sich zu einem bewusstseinsfähigen Individuum weiterzuentwickeln. Wirklich belastbar scheint nur Ferraris Hinweis, dass die Entwicklung und Etablierung von BM empirisch bedingt Leid für viele bewusstseinsfähige Tiere erzeugen wird, aufgrund der hierfür erforderlichen Tierversuche und Testzüchtungen. 85 Dieser Einwand benennt zwar handfeste Kriterien (1. Funktion), diese beziehen sich jedoch wieder auf Tierwohlfaktoren. Wichtiger aber ist, dass dieser Einwand der Ausgangsintuition nicht gerecht wird (2. Funktion). Das intuitive Unbehagen gegenüber BM bezieht sich nicht darauf, dass wir andere Tiere moralisch falsch behandeln, wenn wir bewusstseinsgeminderte Tiere erschaffen. Die moralische Besorgnis bezieht sich auf die erschaffenen Tiere selbst. Es ist zumindest fraglich, ob sämtliches Unbehagen verschwinden würde, wenn die entsprechenden Genwissenschaftler über Nacht einen Geistesblitz hätten und aus dem Stand heraus die gewünschten Tiere ohne Risiken erschaffen könnten. 86 Es ist der Prozess des hierfür benötigten fortlaufenden menschlichen direkten Eingreifens, der unsere Aufmerksamkeit verdient. Ferraris Kritik an BM birgt m.E. viel mehr an Erkenntnis, wenn wir dies als Kritik am moralischen Charakter menschlicher Akteure verstehen. Es ist eine Kritik an Menschen, die eher bereit sind, Tiere unter großem Aufwand an unsere Bedürfnisse anzupassen, anstatt die Tiere, die uns heute umgeben, rücksichtsvoll zu behandeln. Denn hierbei scheinen sich Menschen eben nicht in einer ernstzunehmenden Weise um das Wohl von Tieren zu sorgen, sondern versuchen gezielt Tiere zu erschaffen, bei denen sie sich sämtliche Sorgen sparen können. Auch wenn damit alle moralische Berücksichti-
84 Vgl. McMahan (2002), S. 39-94. 85 Vgl. Ferrari (2012), S. 69, 73-75. Ähnlich argumentiert erneut Schmidt, sowie Comstock, auf den sich Schmidt direkt bezieht (für beide Positionen siehe Schmidt [2008], S. 329, 347-353, 370). 86 Weitere Überlegungen hierzu finden sich in ebd., S. 347-353.
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gungswürdigkeit der betreffenden Tiere erfolgreich vom Tisch gefegt wird, kann in einem nächsten Schritt gefragt werden, was von Moralakteuren zu halten ist, die auf solche Weise mit moralischen Konfliktsituationen umgehen. Auch der Tierrechtsbegriff kann somit keine belastbare Kritik an BM liefern. Wie schon bei den zuvor genannten alternativen Konzepten, treten aber auch hier Akzente ans Tageslicht, die sich eher als Kritik am moralischen Charakter von Akteuren verstehen lassen und damit Möglichkeiten der moralischen Kritik eröffnen, die bislang vernachlässigt wurden. Es geht dann eben nicht mehr um die Frage »Wird diese oder jene Praktik Tiere schädigen?«, sondern um die Frage »Sollten wir mit Tieren in dieser oder jener Weise umgehen?«. Dieser Weg scheint mir, angesichts der Probleme der bislang vorgestellten Ergänzungskonzepte zum Tierwohl, erfolgversprechender.
5.3 DIE VERNACHLÄSSIGTE ROLLE VON HANDLUNGSMOTIVEN UND MORALISCHEM CHARAKTER Auch wenn die Erschaffung bewusstseinsgeminderter Tiere nicht mehr mit den Kriterien des Tierwohls kritisierbar ist, so hat sie für die Thematik des Tierwohls dennoch Bedeutung. Eben deshalb, weil die Frage nach dem Tierwohl von Seiten der Nutztierwissenschaft mit einer sehr konkreten Agenda gestellt wird. Es geht darum, zu klären, in welcher Weise dem Wohl von Tieren Rechnung getragen werden muss, um »mit gutem Gewissen« deren Haltung und Nutzung auch weiterhin fortführen zu können. Ich habe im I. Hauptteil kritisiert, dass praxisnahe Ansätze die ethische Legitimität unseres Umgangs mit Tieren überwiegend an der faktischen gesellschaftlichen Akzeptanz festmachen. Dabei wird zu selten thematisiert, inwieweit aktual vorherrschende gesellschaftliche Einstellungen zum Umgang mit Tieren willkürlich, schlecht informiert oder von Desinteresse an ethischer Reflexion geprägt sind. Doch auch praxisnahe Quellen dürften unterschwellig annehmen, dass die Gesellschaft nicht aus unreflektierten Ignoranten besteht, sondern die Menschen ein Interesse daran haben, ihre Überzeugungen glaubhaft vor sich und anderen vertreten zu können. Der Vorsatz, Tiere »mit gutem Gewissen« zu nutzen, zu halten und zu töten, muss daher mehr beinhalten als nur, was die Öffentlichkeit mehrheitlich faktisch zu akzeptieren bereit ist. Wir müssen mit Tieren in einer Weise umgehen, die gegen moralische Kritik ausreichend gewappnet ist. Dabei wird vorschnell davon ausgegangen, dass außerhalb des Tierwohlkonzepts kein anderer Bewertungsmaßstab für unseren Umgang mit Tieren infrage käme. Wenn sich jedoch zeigen lässt, dass einige Umgangsweisen mit Tieren selbst
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dann noch ethisch kritisierbar sind, wenn die betroffenen Tiere über kein eigenes Wohl verfügen, so liefert uns dies einerseits ein tiefergehendes Verständnis der Tierethik. Und wir erhalten anderseits eine Antwort auf die Frage, ob das gezielte Züchten bewusstseinsgeminderter Tiere es überhaupt ermöglicht, an der Fortführung der Tiernutzung »mit gutem Gewissen« festzuhalten, nur weil Tierwohlkonflikte erfolgreich umgangen werden. Palmer meint, dass BM höchstens anhand eines »impersonal view« kritisiert werden könne. Hiernach kann eine Handlung moralisch falsch sein, wenn sie bestimmte Zustände herbeiführt, die Ablehnung verdienen, selbst wenn sie kein konkretes Individuum negativ affizieren. Palmer selbst bleibt aber skeptisch, wie ein solcher Ansatz belastbar konzipiert werden könnte. 87 Ich habe in meiner Auseinandersetzung mit den obigen Ergänzungskonzepten argumentiert, dass sich bei ihnen stellenweise Akzente herauskristallisieren lassen, die nicht mehr allein den Zustand des manipulierten Tiers betreffen, sondern das Verhalten und den Charakter eines Moralakteurs, der den Zustand, in dem sich dieses Tier befindet, absichtlich herbeiführt. Es geht hierbei um einen eigenständigen normativen Aspekt, den Kirsten Schmidt mit dem Ausdruck moralische Integrität umschreibt. Darunter versteht sie, grob zusammengefasst, dass ein Moralakteur, den eigenen Prinzipien entsprechend handelt, sich selbst treu bleibt oder redlich ist, und damit moralisches Lob verdient. 88 Schmidt selbst versäumt es allerdings, dieses Konzept in ihrem Ansatz näher aufzugreifen, und beschränkt sich auf die körperliche Integrität des Tiers. Thompson merkt seinerseits an, dass eine Kritik an BM am ehesten durch Verweise auf moralische Tugenden kritisierbar sei, und damit auf den Charakter des Moralakteurs. Statt zu überlegen, wie wir unseren Umgang mit Tieren verändern können, zielt BM darauf ab, Tiere so zu verändern, dass wir uns um Tierwohlprobleme innerhalb der Tiernutzung nicht mehr zu kümmern brauchen. Dieses Vorgehen zeugt für Thompson von einem defizitären moralischen Charakter: »[T]he entire project exhibits the vices of pride, of arrogance, of coldness, and of calculating venality.« 89
87 Vgl. Palmer (2011a), S. 47. 88 Vgl. Schmidt (2008), S. 120. Der Begriff »Lob« ist hierbei von mir gewählt und soll sowohl Handlungen umfassen, die höchste Anerkennung verdienen (etwa jemanden in Not retten), wie auch Selbstverständlichkeiten (etwa ein körperlich unterlegenes Individuum nicht einfach herumschubsen). 89 Thompson (2008), S. 314. Ähnlich argumentiert aus einer tugendethischen Perspektive Hursthouse (2014), S. 345. Anders als beim Kantischen Verrohungsargument richtet sich die hier gemeinte Kritik am Charakter eines Akteurs nicht auf die Befürchtung, er könne
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Das Hinzuziehen eines tugendethischen Vokabulars läuft jedoch einigen Kritikern zufolge erneut Gefahr, mehr zu verschleiern als aufzuklären. Für Cochrane ist unklar, was bspw. damit gewonnen sein soll, wenn Kritiker der Genmanipulation fordern, wir müssten Tieren, und der Natur allgemein, mit »Demut« gegenübertreten. Demut vor wem oder vor was genau? Der Verdacht liegt nahe, dass hier metaphysisch bzw. religiös aufgeladene Wertannahmen bemüht werden, wie die Unantastbarkeit der Natur oder das Verbot »Gott zu spielen«. 90 Dies sind Vorwürfe, mit denen auch der Würdebegriff zu kämpfen hat. Thompson selbst befürchtet, dass die tugendethische Kritik die Frage nach der moralischen Verwerflichkeit von BM nur verschiebt ohne sie wirklich aufzuklären. 91 Welchen Sinn hat also die Rede vom moralischen Charakter überhaupt, die in solchen Argumentationsstrategien Einzug hält? Sapontzis betont, dass sich unser moralischer Charakter in unseren Handlungen ausdrückt, also darin, welche Prinzipien und Überzeugungen uns anleiten und inwiefern wir bereit sind, diesen entsprechend zu handeln. Es geht hierbei nicht nur darum, welche konkrete Handlung wir wählen und welche konkreten Konsequenzen sie haben wird. Es geht beim moralischen Charakter eines Akteurs vor allem darum, aus den »richtigen Gründen« zu handeln. 92 Nicht nur was wir bewirken, sondern auch, warum wir es bewirken wollen, spielt für die Bewertung moralischen Handelns eine wichtige Rolle. Wir können den moralischen Charakter von Akteuren aber noch unter einem weiteren Aspekt verstehen. Unsere Handlungen vermitteln ebenfalls einen Eindruck davon, mit welcher Art von Selbstverständnis wir anderen gegenübertreten, und auf welchem Weg wir bereit sind, Konflikte zu lösen zwischen unseren eigenen Interessen und den Interessen anderer Individuen, die hierbei mit betroffen sind. Handlungen, die aus kritikwürdigen Motiven vollzogen werden, müssen dabei, wie Bradley betont, nicht zwangsläufig schädlich für das betroffene Individuum sein. Bradley trennt hierbei Handlungen, die Individuen in ihrem Wohl schädigen und daher »harmful« sind, von Handlungen, die davon unabhängig moralischen Tadel verdienen und als »blameworthy« bezeichnet werden. Erinnert sei hier an Bradleys Beispiel des fiktiven Max, der seinen reichen und zugleich schwerkranken Onkel heimlich und schmerzfrei im Schlaf tötet, einzig um an dessen Geld zu gelangen (III.2.8). Bradley kritisiert, dass viele von uns versucht seien, die Abscheu vor Max’ eigensüchtigem Handeln durch den Wohlbegriff einzufangen, indem auf
Grausamkeit gegenüber seinen Mitmenschen entwickeln. Es geht um eine Kritik am Charakter, die von Handlungskonsequenzen unabhängig Bestand hat. 90 Vgl. Cochrane (2012), S. 112. 91 Vgl. Thompson (2008), S. 315. 92 Vgl. Sapontzis (1987), S. 19-20, 32, 225.
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Biegen und Brechen zu belegen versucht wird, dass Max seinen Onkel doch in irgendeiner Hinsicht geschädigt habe. 93 Stattdessen haben wir jedoch auch die Option, anzuerkennen, dass die Tötung des Onkels gut für diesen war oder er zumindest nichts Substantielles verloren hat (bspw. wenn anzunehmen ist, dass am nächsten Morgen akute Schmerzen eingesetzt und den Rest seines Lebens überschattet hätten). Wir sind jedoch – und das ist der wesentliche Punkt an Bradleys Gedankenexperiment – keineswegs gezwungen, Max’ Handlung zu befürworten. Seine Handlung verdient moralischen Tadel, weil er aus tadelnswerten Motiven gehandelt hat. Er hat sich weder empathisch noch rational mit der Lebenssituation seines Onkels oder alternativen Handlungsmöglichkeiten auseinandergesetzt. Er hat sich in einer Weise verhalten, die er aller Wahrscheinlichkeit nach bei anderen Akteuren missbilligen würde, wenn er selbst oder ein Mensch, der ihm wirklich etwas bedeutet, dabei betroffen wäre. Dieser Gedankengang lässt sich auf die Erschaffung bewusstseinsgeminderter Tiere übertragen. Wir können zugestehen, dass diese Tiere durch nichts geschädigt werden können, und dass eine große Zahl nicht-manipulierter Tiere davon profitieren würde, dass nun nicht mehr sie für menschliche Zwecke herhalten müssen. Damit geben wir keineswegs jegliche Kritikmöglichkeit an dieser Praktik aus der Hand. Genau dies scheinen viele Autoren aber zu befürchten, wenn sie versuchen, BM als Verletzung des erweiterten Tierwohls oder Verstöße gegen eine Speziesnorm zu behaupten. Wir können eine solche Praktik aber auch zurückweisen, indem wir herausstellen, dass die Erschaffung solcher Tiere nur mittelbar dem Ziel dient, Tierwohlkonflikte zu verhindern. Sie dient primär der Fortführung von Lebensweisen, an die wir uns gewöhnt haben. Es geht dann eben nicht nur darum, ob es uns prinzipiell gelingen kann, Tiere zu halten, zu nutzen und zu töten, ohne sie dabei in ihrem Wohl zu beeinträchtigen. Es geht auch darum, welchen Weg wir einschlagen, um dieses Ziel zu erreichen. Nicht nur das Ergebnis unserer Handlungen ist moralisch relevant, sondern auch, wie wir uns verhalten, welche Entscheidungen wir treffen und wodurch wir uns hierbei leiten lassen. So betont Wolf bspw. als Kern moralischer Handlungsabwägungen: »Die Moral betrifft zunächst nicht die Frage, wie eine optimale Welt zu organisieren wäre, in der möglichst wenig moralisches Unrecht geschieht, noch weniger die Frage, wie wir die Welt einrichten müssten, damit alle relevanten Wesen Bedingungen haben, unter denen sie ihr subjektiv gutes Leben realisieren können. Die primäre Frage an die Person als moralischer Akteur ist vielmehr, wie sie sich innerhalb derjenigen Handlungsbereiche und Beziehungen, mit denen sie in ihrem Leben konfrontiert ist, verhalten sollte.« 94
93 Vgl. Bradley (2009), S. 67-68. 94 Wolf (2012), S. 156.
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Moralische Reflexion sollte eben nicht rein ergebnisorientiert sein. Wir müssen auch reflektieren, wie wir als verantwortungsbewusste, selbstkritische und moralisch integere Akteure leben wollen (erst daraus leitet sich nach Wolf die Reflexion darüber ab, in welcher Art von Welt wir leben wollen). Ohne solche Bezüge bleibt bereits die Feststellung, dass Tiere durch Nutztierhaltung Leid empfinden und in ihren positiven Erfahrungen eingeschränkt werden, eine bloße Zustandsbeschreibung ohne normativen Gehalt. Utilitaristen etwa begehen den Fehler, zu glauben, dass das Vorkommen von Leid und Glück in der Welt aus sich heraus bereits normatives Gewicht besitzt und wir deshalb möglichst wenig Leid und möglichst viel Glück herbeiführen sollten. 95 Die normative Bedeutung von Leid und Glück wird dagegen wesentlich verständlicher, wenn wir einen Bezug zu unseren moralischen Intuitionen herstellen. Wir können reflektieren, ob wir wirklich in einer Welt leben wollen, die durch Leid geprägt ist, und, ob wir uns wirklich als Akteure erleben wollen, die Leid verursachen und Andere in ihren positiven Erfahrungen beschneiden. In meiner Auseinandersetzung mit den obigen Ergänzungskonzepten kam immer wieder die Intuition zum Vorschein, dass es kritikwürdig ist, wenn wir eher gewillt sind, Tiere zu verändern, als unsere eigene Lebensweise an ihre Bedürfnisse anzupassen. Bovenkerk et al. betonen etwa, dass bei AD Tiere eben nicht zu ihrem, sondern zu unserem Vorteil verändert werden. 96 Es handelt sich um eine Anpassung von Tieren an menschliche Konsuminteressen und an menschliche moralische Hemmschwellen: Tiere sollen optimaler und »mit besserem Gewissen« weiterhin gehalten, genutzt und getötet werden. Ich habe konstatiert, dass bewusstseinsgeminderte Tiere tatsächlich keinerlei Wohl besitzen, je besessen haben, oder werden, und wir sie daher nicht in ihrem Wohl beeinträchtigen können, weder durch ihre Erschaffung, noch durch ihren Einsatz in der Nutztierhaltung. Was aber ist von der Art und Weise zu halten, durch die hier Tierwohlprobleme – unbestrittener Weise erfolgreich – umgangen werden? Entscheidend für das hier relevante intuitive Unbehagen ist laut Thompson und Rollin, dass wir hintergründig bereits immer davon ausgehen, dass es eine Alternative zum Verändern von Tieren gibt: nämlich die Veränderung unserer eigenen Lebensweise, indem wir mit Tieren in einer Weise umgehen, die eine vorsorgliche Eliminierung eines eigenen Wohls überflüssig macht. 97 Damit widerspricht dieses intuitive Unbehagen genau dem, was das von Wiepkema und anderen praxisnahen Vertretern vorgeschlagene Istwert-Sollwert-Modell des Tierwohls suggeriert. Es geht eben nicht einfach nur darum, dass die Bedürfnisse (Sollwert) eines Tiers und
95 Vgl. Raz (2004), S. 269-270. 96 Vgl. Bovenkerk et al. (2002), S. 16. 97 Thompson (2008), S. 314 sowie Rollin (1995), S. 175-176.
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die Bedürfnisabdeckung innerhalb seiner Haltungsumwelt (Istwert) deckungsgleich sind, ganz gleich, auf welchem Weg diese Deckungsgleichheit herbeigeführt wird. 98 So ist es für Thompson intuitiv alles andere als egal, ob wir eher bereit sind, ein Tier als »mindless blob« zu erschaffen, anstatt über eine alternative Organisation unserer Ernährung, Kleidungsindustrie, Landwirtschaft, etc. nachzudenken. 99 Rollin erkennt seinerseits an, dass es sich bei beiden Optionen der Deckungsgleichheit um erfolgreiche Lösungswege zur Vermeidung von Tierwohlproblemen handelt. Nur scheint auch ihm einer dieser Lösungswege moralisch diskreditiert. Selbst wenn genmanipulierte 100 Tiere, deren telos in Rollins Terminologie verändert wurde, nicht in ihrem Wohl eingeschränkt werden können, sollten wir uns dennoch selbstkritisch fragen: »»Is this the sort of solution we are nurturing in society in our emphasis on economic growth, productivity, and efficiency? […] Do we really want to encourage a mind-set willing to change venerable and tested aspects of nature at the drop of a hat for the sake of a few pennies? Is tradition of no value?« In the face of this sort of component to moral thought, I suspect that society might well resist the changing of telos. But at the same time, people will be forced to take welfare concerns more seriously and to decide whether they are willing to pay for tradition and amelioration of animal suffering, or whether they will accept the »quick fix« of telos alteration. Again, I suspect that such musings will lead to changes in husbandry, rather than changes in chickens.« 101
Indem wir zugunsten unserer Interessen eher Tiere als unsere eigene Lebensweise verändern, räumen wir der Fortführung heutiger gesellschaftlicher Konsumgewohnheiten einen auffallend hohen Stellenwert ein. Und dies eröffnet die Frage, ob wir tatsächlich Moralakteure sein wollen (oder sein wollen sollten) die ihre Prioritäten auf diese Weise setzen. Sapontzis etwa versteht es gerade als Kern der moralischen Berücksichtigung von Nutztieren, anzuerkennen, dass es sich bei ihnen um Lebewesen mit einem eigenen Wohl und korrespondierenden Interessen handelt. 102 Es scheint zumindest eine fragwürdige Reaktion von Moralakteuren zu sein, wenn sie diesem Umstand
98
Ich beziehe mich hierbei auf die Darstellung bei Bracke/Hopster (2006), S. 81-82. Siehe auch III.3.3.5.2.
99
Vgl. Thompson (2008), S. 314.
100 Rollin selbst bezieht sich hierbei auf Genmanipulation von Tieren im Allgemeinen. Ich halte seine Ausführungen aber insb. hinsichtlich BM für aufschlussreich. 101 Rollin (1995), S. 175-176. 102 Vgl. Sapontzis (1987), S. 78.
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Rechnung tragen wollen, indem sie ihre Anstrengungen daran setzen, Tiere zu erschaffen, die keine solche Berücksichtigung verdienen. Midgley sieht ihrerseits in der Genmanipulation von Tieren eine problematische Geisteshaltung bzw. einen Trend am Werke, der moralische Kritik verdient. Die enormen Möglichkeiten der modernen Gentechnik verführten dazu, »bio-chemische Lösungen« für soziale Probleme zu suchen. 103 Mit sozialen Problemen hängt die Nutztierhaltung insofern zusammen, als dass sie diversen gesellschaftlichen Zwecken dient, bspw. der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und anderen Konsumtionsmitteln, oder der Arbeitsplatzsicherung der im Tiernutzungssektor beschäftigten Menschen. Tiere genetisch zu manipulieren, bedeutet hierbei, in einer streng ergebnisorientierten pragmatistischen Manier Auswege zu suchen, die es einem ersparen, langfristige, umfassende Zukunftsalternativen zu entwickeln für die Art, wie wir unser Leben organisieren und mit anderen Individuen interagieren. Eine ähnliche Kritik scheint auch bei Rollin angelegt zu sein, wenn er im obigen Zitat negativ konnotiert über den »quick fix« spricht, sowie über eine gesellschaftliche Fixierung auf ökonomisches Wachstum, Produktivität und Effizienz. 104 Die genannten Textpassagen beinhalten eine besondere Kritik, die m.E. bisher zu wenig Beachtung findet. Es ist eben nicht egal, auf welche Weise wir versuchen moralische Konfliktsituationen aufzulösen. Durch Praktiken wie BM würden wir nicht der eigentlichen moralischen Herausforderung gerecht werden, der es zu begegnen gilt: Wie können wir leben, ohne die Kosten unserer Lebensweise dabei auf das Wohl von Tieren abzuwälzen? BM stellt dagegen den Versuch dar, uns durch technisch-innovative Abkürzungen moralische Problematiken vom Hals zu schaffen. Moralakteure, die auf diese Weise verfahren, lassen sich zweifelsohne als zielorientiert und pragmatisch denkend charakterisieren. Sie haben aber mit dem von Sapontzis beschriebenen charakterlich lobenswerten Moralakteur nicht mehr viel gemeinsam, da sie moralische Handlungsbeschränkungen primär als ein zu lösendes »Problem« zu verstehen scheinen. Damit wird moralisches Handeln auf Befugnisse und Hindernisse reduziert. Moral, so betont McMahan, ist jedoch wesentlich mehr als nur ein durchkalkuliertes Regelwerk, das dazu dient, das Zusammenleben von Individuen zu optimieren. 105 Moral enthält als wesentlichen Kern Aussagen darüber, wer wir, moralisch gesprochen, sein wollen. Es darf uns daher
103 Vgl. Midgley (2000), S. 12-14. Daneben sind in Midgleys Text auch eine gewisse Technikskepsis und Ehrfurcht vor einer von menschlichen Eingriffen freien Natur zu erkennen, sowie Bezüge auf Speziesintegrität. Diese Ausführungen bleiben aber diffus. Demgegenüber scheint mir Midgley mit dem oben diskutierten Argument einen wichtigen Punkt zu berühren. 104 Vgl. Rollin (1995), S. 175-176. 105 Vgl. McMahan (2000), S. 99.
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nicht bloß interessieren, welche Zustände in der Welt herbeizuführen sind, sondern auch, wie wir uns zu verhalten haben und welche Intentionen uns anleiten sollten. 106 Wie können wir ernsthaft behaupten, uns würde Rücksicht auf Tiere anleiten, wenn wir spezielle Tiere erschaffen mit dem Ziel, diese dann nicht berücksichtigen zu müssen? Thompsons Rede von menschlicher Arroganz, emotionaler Kälte und berechnendem Kalkül, 107 die er mit der Anpassung von Tieren verbindet, ist somit durchaus gerechtfertigt. All diese Überlegungen verdeutlichen die Dringlichkeit, sich mit den Motiven und dem Charakter auseinanderzusetzen, den wir als Moralakteure im Umgang mit Tieren an den Tag legen. Vertreter der Würde-, Integritätsoder Tierrechtsposition begehen den Fehler, diesen Aspekt nicht genügend zu berücksichtigen. Sie konzentrieren sich in ihren Abschlussurteilen allein auf den Zustand des Tiers, statt auch die menschlichen Moralakteure in den Blick zu nehmen, die den Zustand eines Tiers herbeiführen. 108 Besonderes Augenmerk auf den Charakter von Moralakteuren zu richten, wird in der philosophischen Literatur vornehmlich als Domäne tugendethischer Ansätze verstanden. Das spricht m.E. aber noch nicht dafür, sich von einer deontologischen Grundhaltung, wie ich sie bisher vertreten habe, zu verabschieden und sich stattdessen vollständig der Tugendethik zu verschreiben. Es ist aber anzuerkennen, dass die Tugendethik hier einen wichtigen ethischen Faktor betont, dem deontologische und konsequentialistische Ansätze oftmals zu wenig Aufmerksamkeit schenken. 109
106 Hieran lassen sich auch Erkenntnisse aus der ökofeministischen Literatur anknüpfen. Dort wird explizit unterschieden zwischen dem bloß kompetenten Verwalten von Tieren und ihrem Wohl (»caretaking«, »stewardship«) einerseits und einer anteilnehmenden Fürsorge (»caregiving«, »Ethics of Care«) andererseits (vgl. u.a. Kheel [2004], S. 327-341; Haynes [2010], Ch. 16). 107 Vgl. Thompson (2008), S. 314. 108 Diese bedauerliche Tendenz scheint mir in Schmidts Ansatz am stärksten (vgl. Schmidt [2008], S. 171-176). 109 Die mir bekannten tugendethischen Ansätze bleiben für mich in unterschiedlicher Weise unbefriedigend. Einige haben die Tendenz, menschliche Interessen völlig in den Vordergrund zu stellen, so etwa wenn Scruton das Töten und Verzehren von Tieren als unverzichtbare kulturelle Praxis verteidigt, die das menschliche Leben bereichere und nicht wegzudenkend sei (vgl. Scruton [2004], S. 81-91). Andere Ansätze tendieren dazu, die Besorgnis um das betroffene Tier mit der Besorgnis um die Umwelt, sowie Kritik an der Verschwendung von Ressourcen, oder Ärger über die Ignoranz einiger Menschen zusammenzuwerfen (bspw. bei Hursthouse [2014], S. 327, 341). Hierin äußert sich m.E. eine Fixierung auf die Tugendhaftigkeit bzw. Lasterhaftigkeit des Akteurs, die eben nicht mehr zur Berücksichtigung des betroffenen Tiers ergänzend hinzukommt, sondern plötzlich die gesamte Bühne einnimmt.
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Dabei kann es jedoch nicht allein um die Feststellung gehen, was uns im täglichen Leben de facto anleitet und welchen Charakter wir aufweisen. Erstens scheint es offensichtlich, dass sich dies nicht einheitlich für sämtliche menschliche Akteure beantworten lässt. Zweitens erfordert kritisch-reflektiertes Handeln auch, unsere jeweiligen Wertannahmen zu hinterfragen. Wenn ich daher argumentiere, dass BM anhand von Intentionen und moralischem Charakter zu kritisieren ist, so gründe ich dies auf die These, dass wir in einer moralisch-universalistischen Weise danach fragen können, welche Intentionen kompetente Moralakteure anleiten sollten und welche Art von moralischem Charakter sie kultivieren sollten. Ich behaupte, dass es trotz aller Unterschiede zwischen Moralakteuren eine Art gemeinsamen Kern, ein gemeinsames moralisches Selbstverständnis gibt, vor dessen Hintergrund wir unser Handeln als moralisch relevant begreifen und bewerten. Diesen Gedanken werde ich im Folgenden näher veranschaulichen.
5.4 MORALISCHES SELBSTVERSTÄNDNIS UND DIE ROLLE DES TIERWOHLKONZEPTS Mit der Kategorie des moralischen Charakters wird ein weites argumentatives Feld betreten, welches eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Fragen der MetaEthik, insbesondere der Motivation moralischen Handelns, erfordert. Ich kann mich im Rahmen der vorliegenden Arbeit lediglich tentativ und ausblickhaft diesem Feld annähern, aber keine ausgearbeitete Position liefern. Meine obige Kritik dient vor allem dazu, zu weiteren Untersuchungen dieses Feldes in Anwendung auf die Tierethik anzuregen. Um meine Argumentation nicht völlig frei schweben zu lassen, möchte ich aber zumindest kurz erläutern, auf welche Weise versucht werden kann, den moralischen Charakter von Akteuren als belastbare ethische Kategorie zu behaupten. 5.4.1 Grundlage eines gemeinsamen moralischen Selbstverständnisses Der naheliegende Einwand gegen meine Argumentation, die sich auf ein bestimmtes moralisches Selbstverständnis stützt, lautet: »Wollen wir denn alle tatsächlich Moralakteure sein, denen es wichtig ist, Tiere um ihrer selbst willen ernstzunehmen, und deren Selbstverständnis es widerspricht, lieber Tiere, als die eigenen Lebensweisen zu verändern?« Dass Tiere heute auf Industrieniveau erschaffen, gehalten und getötet werden, scheint eher dafür zu sprechen, dass ein großer Teil der heutigen Moralakteure eine völlig andere Einstellung zum Umgang mit Tieren hat. Selbst die steigende Anzahl
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vegan lebender Menschen ändert nichts daran, dass viele Verbraucher kein Problem darin sehen, Tiere zu halten, zu nutzen und zu töten, sofern ihr Wohl dabei ein bestimmtes Mindestmaß an Berücksichtigung erfährt. Das moralische Selbstverständnis, auf das ich oben verwiesen habe, wird faktisch von vielen Moralakteuren nicht geteilt. Nun gehört es aber zum Kern des von mir mit vertretenen moralischen Intuitionismus, die moralischen Überzeugungen von Menschen als Input aufzunehmen, jedoch auch kritisch zu hinterfragen. McMahan benennt einige hilfreiche Kriterien, die sich als Leitfragen formulieren lassen: Beruht die fragliche Überzeugung auf Vorurteilen? Was weiß die urteilende Person über den Gegenstand, über den sie sich hier eine Meinung bildet? Liegen dem Urteil herauskristallisierbare Prinzipien zugrunde oder urteilt die Person völlig willkürlich? Und wenn Prinzipien zugrunde liegen, werden diese auch in allen vergleichbaren Situationen von der handelnden Person konsistent angewandt? 110 Die faktischen Moralurteile von Akteuren können mitunter so widersprüchlich und unreflektiert sein, dass daran gezweifelt werden sollte, ob dass, was ein Akteur über seine Ansichten zur Welt und zum Umgang mit anderen Lebewesen äußert, wirklich ausdrückt, wer dieser Akteur, moralisch gesprochen, sein will – selbst wenn er dies im Brustton der Überzeugung behauptet. Bernard Williams zufolge müssen wir nicht nur hinterfragen, auf welcher Informations- oder Wertgrundlage wir zu moralischen Urteilen kommen. Wir müssen auch kritisch reflektieren, welche Informationen wir emotional an uns heran lassen, und welchen wir uns dagegen verschließen. Ebenso ist zu prüfen, inwiefern wir rechtfertigen können, bestimmten Individuen ein hohes Maß an Empathie entgegenzubringen, anderen gegenüber ein nur sehr geringes, oder sie vielleicht gänzlich zu ignorieren. 111 Begegnet uns eine Person, die bspw. am Wohl bestimmter Individuen großen Anteil nimmt, sich für das Wohl anderer aber nicht im Geringsten interessiert, können wir kritisch hinterfragen, worauf sich ihre unterschiedliche Empathiebereitschaft gründet. Wir können im Zuge dieser Reflexion, Williams folgend, versuchen, unser Gegenüber für die Lebenssituation anderer Individuen zu sensibilisieren, indem wir
110 Vgl. McMahan (2000), S.102-104 sowie McMahan (2002), S. 238-246. 111 Vgl. Williams (1978), S. 16-19. Ein klassisches Beispiel für selektive Empathie ist der auffallende Kontrast zwischen der Stellung, die »Haustiere« im Gegensatz zu »Nutztieren« in den Herzen vieler Menschen einnehmen. Nicht ohne Grund kritisieren Tierrechtsgruppen die Selbstverständlichkeit, mit der Hunde und Katzen als Weggefährten, Schweine, Kühe und Hühner hingegen als Nahrungsquelle in unserer Gesellschaft angesehen werden.
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Informationen über sie ins Spiel bringen: 112 über ihre Lebensumstände, ihre Verletzlichkeit, und welche Rolle die Gesellschaft und die Art, wie wir leben, dabei spielen, dass die Lebenssituation dieser Individuen so ist, wie sie ist. Williams selbst beschränkt seinen Ansatz auf den Umgang mit Menschen, er ist m.E. aber auf Tiere übertragbar. Wenn eine Person behauptet, ihr seien Tiere völlig egal, und dass sie auch explizit jemand sein möchte, dem alle Tiere egal sind, können wir hinterfragen, ob diese Person ihre moralischen Äußerungen tatsächlich angemessen reflektiert und aufrichtig zu uns und auch zu sich selbst ist. Zur Illustration können wir folgende Fragen durchspielen: Welche Informationen hat diese Person über die Fähigkeiten von Tieren und darüber, was es für die Lebenssituation eines Tiers bedeutet, gehalten, genutzt und getötet zu werden? Hat sich diese Person mit den besonderen Beziehungen auseinandergesetzt, die wir gegenüber diesen Tieren besitzen? Steht diese Person allen Tierarten gleichermaßen indifferent gegenüber? Wonach wählt sie aus, wem gegenüber sie Empathie zeigt und wem gegenüber nicht? Verhält sich die Person dabei konsistent oder willkürlich? Kann sie glaubhaft darlegen, warum ihr die Lebenssituation bestimmter Tiere egal sein kann, oder weigert sie sich, bestimmte Informationen emotional an sich heran zu lassen? 113 Ergibt sich aus den moralischen Urteilen und der Empathiebereitschaft dieser Person eine stimmige praktische Identität, mit der sich die Person aufrichtig und emotional identifizieren kann? Oder tun sich Widersprüche und Aspekte auf, über die diese Person bisher nicht nachgedacht hat oder nicht nachdenken möchte? Normatives Gewicht kann nur moralischen Urteilen, Überzeugungen, Selbstverständnissen, etc. belastbar zugeschrieben werden, die einer solchen Prüfung standhalten. Hierbei müssen wir, wie oben dargelegt, einerseits unsere epistemischen Kenntnisse über den Betrachtungsgegenstand reflektieren, sowie die logische Konsistenz unserer Urteile. Andererseits müssen wir auch unsere emotionalen Einstellungen reflektieren, also inwieweit wir bestimmten Urteilen auch emotional zustimmen können, oder sie bei aller logischen Konsistenz dennoch emotional verstörend finden. 114 Und wir müssen wiederum aus einer logisch-rationalen Perspektive
112 Vgl. ebd., S. 16-19. 113 Auf diesen Aspekt macht Steinfath aufmerksam. Er verweist darauf, dass wir allein durch mehr Informationen nicht automatisch unsere Urteile ändern (vgl. Steinfath [1998a], S. 19). Ein eingefleischter Rassist etwa wird sich nicht durch Informationen über die Lebenssituation von Flüchtlingen bekehren lassen, solange er der Meinung ist, dass ihn nur das Leben von »Volksgenossen« etwas angehen müsse. 114 Die Ungerührtheit, mit der Singer an seinen vielfach kritisierten Thesen festhält, indem er deren logische Schlüssigkeit betont, ist ein markantes Beispiel für eine Grundhaltung,
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prüfen, ob sich unsere emotionalen Einstellungen auf Unkenntnis, Fehlinformationen oder andere diskreditierende Fundamente stützen. 115 Durch ein solches wechselseitiges Prüfen gelangen wir zu moralischen Prinzipien und abgeleiteten Urteilen, die ich im Folgenden als empathisch-reflektiert bezeichne, da sowohl die Fähigkeit von Moralakteuren logisch-rational zu reflektieren, als auch empathisch auf andere Individuen Bezug zu nehmen, hierbei zum Tragen kommen. Hieran lässt sich auch Williams These anknüpfen, dass sich Moralakteure trotz unterschiedlicher Moralurteile über gemeinsame moralische Grundprinzipien verständigen können. Unstimmigkeiten seien lediglich ein Indiz dafür, dass wir uns in der Anwendung und Übertragung von grundlegenden Moralprinzipien auf unser Handeln uneinig sind. 116 Gemeint sind hierbei Prinzipien, die auf einer grundlegenderen Ebene angesiedelt sind als etwa konkrete Moraltheorien. Denn es ist gerade der Sinn von Moraltheorien, unsere (hoffentlich empathisch-reflektierten) Grundüberzeugungen einzufangen und in eine stimmige Form zu bringen. 117 Wir können somit auf die Frage »Warum sollten wir alle Moralakteure sein wollen, deren Selbstverständnis BM zuwiderläuft?« antworten: »Weil BM einer Einstellung gegenüber Tieren entspringt, die grundlegende moralische Prinzipien ignoriert, mit denen sich empathisch-reflektierte Moralakteure identifizieren.« Die berechtigte Nachfrage, wie genau diese Prinzipien lauten, kann ich, im Rahmen dieser Arbeit nur tentativ beantworten. Mein vorrangiges Ziel ist, zu untermauern, dass wir allen Grund zur Skepsis haben, dass eine befürwortende oder indifferente Einstellung gegenüber BM einer wohl informierten, empathischen Reflexion standhält. 5.4.2 Welche normative Verbindlichkeit hat ein »moralisches Selbstverständnis«? Ohne einen Rückbezug auf ein interindividuelles moralisches Selbstverständnis ist überhaupt nicht nachvollziehbar, warum wir komplexen Konzepten wie Bewusstsein oder Wohl überhaupt moralische, Status verleihende Relevanz zuschreiben.
in der ein solcher emotionaler Bezug fehlt. Er verdeutlicht seine Ablehnung emotionaler Einstellungen als Erkenntnisquelle in Singer (2005), S. 331-352. 115 Vgl. McMahan (2000), S. 101-106. 116 Vgl. Williams (1978), S. 26. Anders als McMahan oder ich, geht Williams jedoch nur davon aus, dass sich Moralakteure auf diese Weise verständigen können, nimmt aber keinen Kern eines gemeinsamen Moralverständnisses an, der durch diesen Verständigungsprozess »freigelegt« werden kann. Ich danke Mario Brandhorst für diesen Hinweis. 117 Vgl. McMahan (2000), S. 95 sowie McMahan (2002), S. 246-247.
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Wenn nur zählt, ob subjektives Wohl bei einem Lebewesen vorhanden ist, nicht aber warum es vorhanden ist oder nicht, dann versteifen wir uns auf die Eigenschaften bzw. Fähigkeiten eines Individuums allein und lassen das Individuum selbst außer Acht. 118 Es könnte uns dann analog auch bereits egal sein, auf welchem Weg wir dafür sorgen, dass ein Tier mit seinem Leben zufrieden ist. Ginge es uns nur darum, ob ein Tier Leid oder Zufriedenheit empfindet, ganz gleich, wie sein Leben verfasst ist, dann versteifen wir uns allein auf Leid und Zufriedenheit als isolierte Zustände, als besäßen sie aus sich selbst heraus moralische Relevanz. Diese Annahme wäre aber wertrealistisch und daher als Basis für moralische Prinzipien höchst fragwürdig. Zudem kann bei näherer Auseinandersetzung mit unseren emotionalen Einstellungen diese Fetischisierung von Leid und Zufriedenheit, wie sie gerade im Utilitarismus hervortritt, 119 unsere Handlungsmotivationen nicht befriedigend einfangen. Zwar gehe ich bspw. Freundschaften ein, weil mich dies glücklich macht, aber doch nicht, weil ich glaube, dass meine Zufriedenheit einen für sich genommen positiven Wert darstellt, und ich mich durch ein Gebot, möglichst viel Positives in der Welt zu realisieren, motiviert fühle, Freundschaften zu schließen. Ebenso stellt die Vorstellung, durch Berücksichtigung des Tierwohls mehr Lebenszufriedenheit in der Welt zu realisieren, keine überzeugende Motivation dar. Ich habe zugestanden, dass bei BM kein bewusstes Individuum vorhanden ist, auf das Rücksicht genommen werden kann, sondern lediglich ein tierlicher Organismus. 120 Dennoch können wir kritisieren, was uns dazu treibt, Tiere so zu erschaf-
118 Die Kritik an einer solchen Fetischisierung von Eigenschaften scheint m.E. auch Cora Diamond anzutreiben, die jedoch das Kind mit dem Bad ausschüttet, indem sie den psychologischen und physischen Eigenschaften von Tieren offenbar jegliche Relevanz aberkennen will (vgl. Diamond [1995], S. 324-326). Dagegen betont McMahan, dass solche Eigenschaften zwar nicht der Adressat moralischer Verpflichtungen sind, sehr wohl aber qualifizierende Kriterien, wenn er schreibt: »Respect is for persons, not for their capacities alone.« (vgl. McMahan [2002], S. 243). Der Personenstatus leitet sich zwar aus konkreten psychologischen Eigenschaften des Individuums ab (vgl. ebd., S. 45), Adressat von Rücksichtnahme bleibt dennoch der Träger des Status und nicht der Status selbst oder dessen Kriterien. Diese These lässt sich auf die Relevanz von Bewussteins- und Empfindungsfähigkeit bei Tieren übertragen, die Grundlage von Wohlzuschreibung sind. 119 Vgl. Raz (2004), S. 269-270 sowie Palmer (2011a), S. 47. 120 Die Trennung von Kategorien wie »Tier«, »tierlicher Organismus« oder »tierlicher Klumpen« wirft eigene philosophische Schwierigkeiten auf. So ist zu fragen, ob das Züchten eines »Steaks im Nährbad« aus totipotenten Tierzellen sich im Wesentlichen vom Züchten eines ausgewachsenen Schweins ohne Gehirn unterscheidet. Einige Autoren argumentieren, dass beide Fälle Züchtungen in verschiedene »Richtungen« darstel-
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fen, dass kein berücksichtigungswürdiges Individuum vorhanden sein wird, indem wir hinterfragen, warum wir überhaupt Tiere oder irgendein anderes Individuum moralisch berücksichtigen sollten. In Anlehnung an Nussbaum können wir darauf verweisen, dass wir als moralfähige Akteure unsere eigene Verletzlichkeit reflektieren können und auch erkennen, dass andere Individuen um uns herum ebenso verletzlich sind, selbst wenn sie nicht unserer Spezies angehören. 121 Indem wir begreifen, dass wir durch unser Handeln das Leben anderer verletzlicher Wesen beeinflussen können, bilden wir moralische Grundüberzeugungen aus. Wir fragen uns, wie wir mit diesen Erkenntnissen umgehen sollten und daraus folgend, wer wir, moralisch gesprochen, sein wollen. Wolf betont, dass wir in solchen Reflexionsprozessen als empathiefähige Moralakteure Mitleid und eine Disposition der Rücksichtnahme gegenüber anderen verletzlichen und damit schutzbedürftigen Lebewesen entwickeln. 122 Zugestandenermaßen können wir mit bewusstseinsgeminderten Tieren nicht mitleiden, da sie selbst nicht leiden können. Ebenso ist bei BM kein stabiles Individuum vorhanden, auf das Rücksicht zu nehmen wäre. Dennoch können uns Praktiken wie BM nur dann moralisch »tadellos« erscheinen, wenn wir nicht weiter hinterfragen, warum wir uns überhaupt mit dem Wohl von Tieren beschäftigen. 123 Die Grundidee hinter der Entwicklung eines moralischen Bewussteins und Verantwortungsgefühls für das eigene Handeln wird unterhöhlt, wenn wir herausfiltern, welche Eigenschaften einem Lebewesen moralischen Status verleihen, nur um anschließend Anstrengungen zu unternehmen, diese Eigenschaften nicht zum Entstehen kommen zu lassen und uns entsprechender Verantwortungen zu entledigen.
len. Zellen werden zu Gewebe hochgezüchtet, Tiere zu bewusstseinslosen Klumpen runtergezüchtet (vgl. Thompson [2008], S. 308-314; Schmidt [2008], S. 370). Ich teile die Intuition dieser Autoren, dass Hochzüchtungen eher verteidigt werden können als Runterzüchtungen. Dennoch entwickeln sich in beiden Fällen einfache Zellhaufen zu komplexeren Zellstrukturen bzw. Organismen, womit fraglich ist, inwieweit das Richtungsargument greift. Um klären zu können, ob auch das Züchten von »Steaks im Nährbad« von defizitärem moralischen Charakter zeugt, benötigen wir m.E. genauere technische Informationen, wie genau die gentechnischen Eingriffe jeweils vonstatten gehen (siehe auch Ferrari [2012], S. 69). Bezüglich unserer Einstellungen gegenüber Tieren macht es m.E. einen Unterschied, ob wir ein Stück Fleisch erschaffen oder einen Tierorganismus, den wir als Fleischquelle betrachten. 121 Vgl. Nussbaum (1998), S. 211-212; Nussbaum (2004), S. 314-317. Das Anerkennen der Verletzlichkeit Anderer wird ebenfalls betont in Seel (1999), S. 305. 122 Vgl. Wolf (1997), S. 57-63. 123 Das scheint auch die Stoßrichtung bei Ferrari zu sein (vgl. Ferrari [2012], S. 74).
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Auch wenn einigen Menschen Tiere völlig gleichgültig sind, oder viele Tierwohlbesorgte sich tatsächlich nur für die isolierten Gemütszustände von Tieren interessieren, lässt sich anzweifeln, ob solche Einstellungen einer empathischreflektierten Prüfung der jeweils eigenen Handlungsmotive und moralischen Überzeugungen standhalten. Konkrete Moralüberzeugungen können sich nicht nur durch ihre Robustheit gegenüber Kritik verfestigen, sondern auch dadurch, dass wir oder die Menschen, um uns herum, sie selten oder nie infrage stellen und grundlegend reflektieren. Die unterschiedlichen Tierwohleinstellungen, die wir im Alltag vorfinden, sind daher kein Beleg dafür, dass sich kein gemeinsamer Kern eines universalen moralischen Selbstverständnisses bei Moralakteuren bei tiefgründiger Selbstreflexion freilegen lässt. Unser Alltag ist selten von solchen Bemühungen geprägt. 5.4.3 »Tierwohl« als Vehikel Diese Auseinandersetzung wirft ein neues Licht auf die Bedeutung des Tierwohlkonzepts. Wie Haynes anmerkt, handelt es sich hierbei um ein moralisch aufgeladenes Wertkonzept: wir befassen uns mit dem Wohl von Tieren, weil wir davon überzeugt sind, dass ihr Wohl uns moralisch etwas angeht. 124 Und eine konkrete Tierwohlkonzeption verliert an Plausibilität, wenn sie Faktoren ignoriert, die uns intuitiv wichtig erscheinen und sich als moralisch relevant begründen lassen. Tierwohl fungiert dabei zunächst als vager Oberbegriff, der u.a. unseren moralischen Ansprüchen an unser Handeln Ausdruck verleihen soll, aber gleichzeitig auch als Ausgangpunkt dient, um Kriterien zur Ausfüllung des Tierwohlbegriffs zu konkretisieren. Weder leiten wir nahtlos aus dem Begriff des Tierwohls alle diese Kriterien ab, noch besitzen wir bereits zu Beginn eine konkrete umfassende Vorstellung, was uns moralisch im Umgang mit Tieren wichtig ist, der wir das Label »Tierwohl« nur noch überzustülpen brauchen. Das Tierwohlkonzept dient somit als Vehikel, um uns praktische Orientierung für unser Handeln gegenüber Tieren zu verschaffen, aber auch, um unsere moralischen Grundüberzeugungen freizulegen, zu ordnen, zu überdenken und zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen. Hierdurch können wir wiederum selbstsicherer und gefestigter unsere Handlungen und Einstellungen gegenüber Tieren ethisch reflektieren und bewerten. Wir klären hierbei nicht nur, wie ein konkretes Konzept wie Tierwohl am adäquatesten zu fassen ist, wir verschaffen uns auch mehr Klarheit darüber, welchen Faktoren wir moralische
124 Vgl. Haynes (2011), S. 112.
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Relevanz zuschreiben, wie belastbar unsere Zuschreibungen sind, und auch, welche Art von Moralakteur wir sein wollen. 125 Unser moralisches Selbstverständnis begleitet dabei von Beginn an sämtliche ethische Überlegungen. Nur besteht dieses Selbstverständnis aus einer komplexen Vielzahl an bewussten und latenten moralischen Überzeugungen, so dass es für uns weniger greifbar ist als konkrete Konzepte, die uns praktische Orientierung verschaffen. Sofern ein Konzept, wie in diesem Fall das des Tierwohls, nicht mehr greift, sind wir darauf angewiesen uns neu zu orientieren, was anhand des moralischen Selbstverständnisses geschehen muss, dass uns überhaupt erst dazu bringt, Konzepte als Vehikel zu entwickeln, anzuwenden, zu hinterfragen und zu überarbeiten. Tierethische Ansätze, die allein den Zustand des betroffenen Tiers ins Zentrum rücken, übersehen diese Notwendigkeit, so etwa bei Schmidt. Ihr zufolge schleusen Ansätze, die sich etwa auf eine Würde oder eine Instrumentalisierung des Tiers beziehen, Kriterien ein, die eben nicht für das betroffene Tier selbst, sondern nur für menschliche Betrachter relevant sind. 126 Und augenscheinlich sind auch Ansätze, die den moralischen Charakter von menschlichen Akteuren ins Spiel bringen, von ebendieser Kritik betroffen. Warum aber sollten Faktoren, die für menschliche Moralakteure allein eine Rolle spielen, für die Tierethik unerheblich sein, wenn es doch darum geht, wie wir mit Tieren umgehen sollten? Kern der Tierethik ist eben nicht, welche Lebensverfasstheit eines Tiers »gut« ist und daher in der Welt realisiert werden sollte. Es geht um unser Verhalten, als kompetente Moralakteure gegenüber Tieren. Es kann (und sollte) daher sehr wohl Teil unserer moralischen Urteilsfindungen sein, inwieweit sich unser Umgang mit Tieren mit moralischen Prinzipien verträgt, mit denen wir uns empathisch-reflektierter Weise identifizieren können. Ob, und worunter, ein Tier leiden und gedeihen kann, ist nicht das einzige Kriterium für die moralische Bewertung unserer Handlungen gegenüber Tieren. Die besonderen Beziehungen zwischen menschlichem Moralakteur und betroffenem Tier, die Palmer hervorhebt, 127 sind ein Beispiel dafür. Als ein ebenso wichtiges Kriterium erweisen sich, insbesondere bei BM, die Motive, aus denen wir Tieren gegenüber handeln und dabei unseren moralischen Charakter ausdrücken. Dieser Aspekt hat die Besonderheit, dass er, anders als die besonderen Beziehungen, die Palmer benennt, eben nicht erfordert, dass das betrof-
125 Den Zusammenhang zwischen der Untersuchung unseres Wollens und der Generierung einer eigenen stabilen und gegen äußere Kritik gewappneten praktischen Identität verdeutlicht insb. Steinfath (vgl. Steinfath [2001], S. 23-29). 126 Vgl. Schmidt (2008), S. 370. 127 Vgl. Palmer (2010), insb. Ch. 3.
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fene Tier bestimmte Eigenschaften als Grundvoraussetzung mitbringt. Es geht hierbei nicht bloß um das Vorhandensein von Eigenschaften, sondern darum, welche Rolle wir dabei gespielt haben, dass ein Lebewesen bestimmte moralisch relevante Eigenschaften besitzt oder nicht. Der Einbezug unseres moralischen Charakters als Bewertungsmaßstab eröffnet m.E. ein überzeugenderes Fundament zur Beurteilung philosophisch komplexer Fälle wie BM, als die bislang dominierenden Ansätze. Diese verbeißen sich oftmals in Verweisen auf eine Speziesnorm, deren Relevanz ungenügend belegt wird, oder sie schaffen es nicht, sich vom Tierwohlkonzept zu lösen. Ein Tierethikansatz, der in der von mir beschriebenen Weise unser moralisches Selbstverständnis stärker aufgreift und das Tierwohlkonzept selbst nur als Orientierungshilfe versteht, wäre noch konkreter zu entwickeln. 128 Ziel dieses Kapitels war aufzuzeigen, dass es guten Grund gibt, optimistisch zu sein, dass dies mit Blick auf die Zukunft gelingen kann.
5.5 FAZIT DIESES KAPITELS Die einzige Möglichkeit, die Nutztierhaltung ohne Tierwohlkonflikte fortzuführen, besteht darin, Tierwohl als Faktor zu eliminieren, was bei BM gelingt. Solche Tiere besitzen kein eigenes Wohl mehr und es ist kein Individuum vorhanden, auf das um seiner selbst willen Rücksicht genommen werden kann. Diese Feststellung untermauert meine These, dass Nutztierhaltung und Tierwohl unausweichlich miteinander konfligieren. Die ökonomischen und konsumtiven Interessen hinter der Nutztierhaltung werden bei BM eben nicht mit den Ansprüchen einer Berücksichtung des Tierwohls in Harmonie gebracht. Tierwohl wird lediglich als »störendes Element« aus der ethischen Gleichung gestrichen. Die starke intuitive Aversion gegenüber der Vorstellung, Tiere als »bewusstseinslose Klumpen« zu züchten, kann durch eine Fixierung auf den Tierwohlbegriff, nicht eingefangen werden. Auch die Vorschläge zu ergänzenden tierethischen Konzepten, die bisher in der Literatur diskutiert wurden, weisen zwar wichtige Akzente und Denkanstöße auf, bleiben jedoch hauptsächlich eines: Platzhalter, bis eine greifbarere argumentative Unterfütterung gefunden ist. Bisherige Versuche, handfeste Kriterien gegen BM oder andere Praktiken des AD zu benennen, bleiben in der Regel enttäuschend. Sie erweisen sich oftmals als metaphysisch aufgeladen oder in Vokabeln Zuflucht suchend, die lediglich moralische Überzeugungen emphatisch unterstreichen, ohne sie jedoch argumentativ zu fundieren. Und viele
128 Ansätze in diese Richtung finden sich in Wolf (1997), S. 62ff und Sapontzis (1987), S. 19-20, 32, 225.
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dieser Ansätze verfallen letztendlich doch wieder auf das Tierwohlkonzept zurück, das hier nichts ausrichten kann. Demgegenüber wurde der moralische Charakter von Menschen im Umgang mit Tiere bei verschiedenen Autoren zwar als ethischer Aspekt angesprochen, bisher jedoch nicht ausreichend als eigenständiger Faktor untersucht. Ich selbst habe in diesem Kapitel nur einen Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten diesbezüglich geben können. Mein Hauptanliegen bestand darin, die Notwendigkeit zukünftiger Untersuchungen in dieser Richtung aufzuzeigen. Obwohl eine breite gesellschaftliche Ablehnung gegenüber BM vorhanden ist, stützt sich diese zumeist auf philosophisch nicht belastbare Kritikpunkte (Technikangst, Annahme einer Unantastbarkeit der Natur, Fixierung auf Tierwohl, etc.). Ich verstehe es gerade als Rolle der Philosophie, derzeitige diffuse gesellschaftliche Einstellungen aufzugreifen, zu beleuchten und, wo dies möglich ist, auf ein stabileres Fundament zu stellen. Die kritische Auseinandersetzung, auch mit Praktiken, die keine breite gesellschaftliche Akzeptanz genießen, ist daher alles andere als überflüssig. Die Diskussion um BM verdeutlicht, dass das Schlagwort »Tierwohl« nur ein Vehikel ist, um uns moralische Orientierung darüber zu verschaffen, wie wir mit Tieren umgehen sollten. Ich habe in diesem Kapitel argumentiert, dass der Tierwohlbegriff hierfür alleine nicht genügt, auch wenn er bereits sehr weitreichende praktische Orientierung zu liefern vermag. Ich verstehe dies u.a. als Appell an die empirische Tierwohlwissenschaft, ihre Fixierung auf das Tierwohlkonzept zu lösen und sich auf eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit tierethischen Fragen einzulassen. Es geht nicht allein darum, Tierwohl anspruchsvoller und belastbarer zu definieren als bisher. Es geht auch darum, die ethische Rolle von Tierwohl innerhalb unseres Umgangs mit Tieren besser zu begreifen.
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Gesamtfazit und Ausblick
Ausgangspunkt meiner Untersuchung war der von Protagonisten der Nutztierhaltung vertretene Anspruch, unsere Praktiken gegenüber Nutztieren so zu verbessern, dass eine Nutztierhaltung möglich wird, die, in meinen Worten, »mit gutem Gewissen« fortgeführt werden kann – durch eine entsprechende Berücksichtigung des Tierswohls. Die Klärung, was uns dieser Anspruch abverlangt, machte die Klärung dessen notwendig, was Tierwohl bedeutet, und welche moralischen Handlungspflichten sich hieraus ergeben. Dabei habe ich mich wegbewegt von einer kriteriellen Klärung des Tierwohlbegriffs, hin zu einem breiteren Verständnis der Rolle, die der Wohlbegriff in tierethischen Überlegungen spielt.
6.1 RÜCKSCHAU AUF DEN I. HAUPTTEIL Im ersten Hauptteil habe ich anhand einer kritischen Betrachtung einflussreicher praxisnaher Tierwohlansätze die Dringlichkeit einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Tierwohlbegriff verdeutlicht, wobei sich erste zentrale normative Grundannahmen herauskristallisierten, die in den praxisnahen Ansätzen dominieren. Ich habe nachgezeichnet, dass die Beschäftigung mit dem Tierwohl vom 20. Jahrhundert an von vornherein im Kontext der Haltung, Nutzung und Tötung von Tieren für menschliche Zwecke stand. Mit Tierwohl wird sich dort befasst, um zu klären, welche Handlungen gegenüber den Tieren, die wir halten und nutzen, legitim, geboten oder untersagt sind. Dabei dominiert bis heute ein reduktionistisch-subjektivistisches Tierwohlverständnis, das jedoch selbst von den eigenen Vertretern nicht ungebrochen durchgehalten wird. Bestimmte Praktiken an Tieren werden emphatisch abgelehnt, obwohl sich dies aus ihrem Tierwohlverständnis nicht ableiten lässt. Zu nennen sind hierbei v.a. die Ablehnung der Züchtung von Tieren ohne Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit, die unter nichts leiden können, sowie die Leidvermeidung durch
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ständige Medikamentierung. An solchen Stellen greifen die Autoren auf tief empfundene moralische Intuitionen zurück, die auf eklatante Lücken ihrer Ansätze hinweisen, was aber nicht ausreichend thematisiert wird. Beim Versuch, diese Intuitionen in die eigene praxisnahe Position einzubinden, wird das zugrunde liegende reduktionistisch-subjektivistische Theoriegerüst nicht kritisch hinterfragt. Zusätzliche ethische Aspekte werden stattdessen auf den ursprünglichen Ansatz aufgepfropft, ohne Rücksicht darauf, inwieweit Grundgerüst und Erweiterung miteinander kompatibel sind. Es mangelt diesen Ansätzen an einer konsistenten theoretischen Fundierung ihrer Moralurteile, die durch eine moralphilosophische Auseinandersetzung geliefert werden muss. Darüber hinaus lassen praxisnahe Ansätze einen moralischen Anspruch erkennen, wonach die betroffenen Tiere um ihrer selbst willen als moralisch berücksichtigungswürdig anzuerkennen sind – als Individuen, die über ein eigenes Leben und ein eigenes Wohl verfügen. Die Berücksichtigung des Tierwohls hat sich dabei seit den 1920er Jahren stückweise weiterentwickelt von einem Anspruch, die Tiere, die genutzt werden sollen, »gut in Schuss zu halten«, zu einem verantwortungsvollen, gewissermaßen empathischen, Umgang mit Tieren, deren Wohl als bedeutsam begriffen wird, weil uns die Träger dieses Wohls moralisch etwas angehen. Dennoch sind Untersuchungen der empirischen Wissenschaften über Definition und Kriterien des Tierwohls weiterhin von der klaren Zielsetzung geprägt, die Nutztierhaltung in jedem Fall fortzuführen, und lediglich abzuklären, welcher Grad an Leidfreiheit, an Zufriedenheit, sprich an Wohlberücksichtigung, von menschlicher Seite aus gewährleistet werden muss, um diese Fortführung ethisch legitimieren zu können. Die Legitimität der Tiernutzung wird dabei explizit an den moralischen Überzeugungen festgemacht, die in unserer Gesellschaft aktuell dominieren. Die vorherrschende öffentliche Meinung wird insofern unhinterfragt übernommen, anstatt ethische Bewertungskriterien und Prinzipien von Grund auf zu entwickeln oder kritisch zu prüfen. Hier kann eine philosophische Betrachtung des Tierwohls einen wichtigen Beitrag leisten.
6.2 RÜCKSCHAU AUF DEN II. HAUPTTEIL Im zweiten Hauptteil habe ich eine philosophisch belastbare Arbeitsdefinition des Tierwohls schrittweise herausgearbeitet, die für die spätere Bewertung der Nutztierhaltung herangezogen wurde. Ich habe mich hierbei dem seit langem geführten Streit zwischen Vertretern des Subjektivismus und Objektivismus gewidmet. Mit ihrer Fixierung auf die subjektiven Geisteszustände des Tiers, lassen sich die praxisnahen Ansätze dem subjektivistischen Lager zuordnen. Diese Debatte verdeut-
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licht, dass das individuelle Wohl weder rein subjektivistisch noch rein objektivistisch zufriedenstellend konzipiert und verstanden werden kann. Subjektivistische Ansätze berühren einen wichtigen Kern des Wohlbegriffs: die subjektive Perspektive des betroffenen Individuums. Wenn wir uns mit dem Wohl eines Individuums auseinandersetzen, kann es uns nicht egal sein, wie es dem betroffenen Individuum selbst subjektiv ergeht. Rein subjektivistische Ansätze begehen aber den Fehler, diese subjektive Perspektive nicht bloß zu betonen, sondern nichts neben ihr gelten zu lassen. Daraus würde aber folgen, dass es einem Menschen gut geht, ganz gleich wie sehr er von anderen ausgenutzt, getäuscht und manipuliert wird, solange er dabei subjektiv glücklich bleibt. Das aber ist kontraintuitiv, weil hierdurch die subjektive Perspektive des Individuums letztendlich als Spielball für andere Akteure freigegeben wird. Das Individuum selbst gerät damit aus dem Blick. Konzipieren wir das Tierwohl nach diesem Muster, so wird der Anspruch der Wohlberücksichtigung verzerrt. Zudem bleibt ein rein aus subjektiver erster Perspektive konzipiertes Wohl dem Urteil von Außenstehenden völlig verschlossen. Damit wäre es unmöglich, die Lebenssituation verschiedener Individuen miteinander zu vergleichen, sowie sie als zufriedenstellend oder besorgniserregend zu bewerten. Dann aber lässt sich nicht mehr nachvollziehen, warum wir empathisch Anteil an der Lebenssituation anderer nehmen. Dass wir uns um das Wohl anderer Gedanken machen, und ihre Lebenssituation in bestimmten Fällen als bedenklich einstufen, zeigt gerade, dass wir das Wohl anderer eben nicht für ein von uns völlig entferntes Mysterium ohne jede Zugangsmöglichkeit halten. Außerdem würden wir uns damit jede Möglichkeit nehmen, allgemeinverbindliche Tierwohlstandards einzufordern, geschweige denn den Wohlzustand konkreter Tiere zu bewerten. Diese erwähnten Mängel machen objektivistische Ansätze attraktiv. Denn diese betonen, dass bestimmte Lebensumstände objektiv gut für ein Individuum sind, unabhängig von dessen subjektivem Empfinden. Hierdurch erhalten wir die Möglichkeit, das Wohl verschiedener Individuen anhand objektiver Wohlstandards untereinander zu vergleichen, ohne selbst Zugang zu deren subjektiver Erfahrungsqualität zu besitzen. Gleichwohl lässt sich durch Bezug auf die objektiven Lebensumstände des Individuums, ohne Einbindung dessen subjektiver Perspektive, nicht befriedigend klären, was objektiven Faktoren normative Relevanz verleiht. Objektivistische Ansätze tendieren hierbei oft dazu, perfektionistische oder ästhetische Aussagen ins Wohl einzuschmuggeln, wonach bestimmte Dinge objektiv gut seien, weil sie ein Individuum zu einem »guten« oder »typischen« Vertreter seiner Art machen. Den Bezug auf solche Speziesnormen habe ich zurückgewiesen, da ohne Rückbezug auf die subjektive Perspektive des Individuums unklar ist, warum es wichtig sein sollte, ein typischer Speziesvertreter zu sein. Wir riskieren so, dem Individuum unsere Wertmaßstäbe in paternalistischer Weise aufzuoktroyieren. Auch ein reiner Objek-
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tivismus verliert somit das Individuum aus dem Blick, um das es uns, dem Anspruch nach, bei der Berücksichtung seines Wohls aber doch gehen soll. Ich habe mich daher für einen objektivierten Subjektivismus ausgesprochen, bei dem die subjektiven Erfahrungsfähigkeiten des Individuums die Grundlage dafür bilden, dass etwa gut oder schlecht für dieses Individuum sein kann. Dessen subjektive Urteile sind jedoch anhand objektivierbarer Bewertungsmaßstäbe hinterfragbar. So haben wir Grund, anhand der Kenntnisse, die wir bspw. über die biologischen und sozialen Bedürfnisse eines Individuums besitzen, stutzig zu werden, wenn dieses Individuum sich mit Lebensumständen zufrieden gibt, die diese Bedürfnisse nicht oder nur kärglich erfüllen. Diese Konzeption betont zugleich, dass Tierwohl nicht einfach einen bestimmten Gemütszustand darstellt, sondern Bezug nimmt auf Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit der Tiere in menschlicher Obhut. Es ist dabei das Individuum, das um seiner selbst willen berücksichtigungswürdig ist, nicht sein Wohlzustand für sich genommen. Das erklärt, warum es unbefriedigend ist, ein Lebewesen durch Täuschung, Indoktrination, etc. mit kärglichen Lebensumständen zu versöhnen. Hierbei wird nur dem resultierenden Gemütszustand, nicht aber dem Individuum um seiner selbst willen direkte Beachtung geschenkt. Ich habe dabei zugestanden, dass das Wohl menschlicher Personen, aufgrund komplexerer psychologischer Fähigkeiten bestimmte zusätzliche Wohl-Dimensionen besitzt, die Tieren fehlen. Hieraus aber ergibt sich keine Rechtfertigung, das Tierwohl generell rein subjektivistisch zu konzipieren, noch ergibt sich ein automatischer Vorrang sämtlicher Belange des Menschenwohls, dem das Tierwohl in jeglicher Hinsicht unterzuordnen wäre. Für die Frage der Legitimität der Nutztierhaltung, ist dies eine wichtige Feststellung.
6.3 RÜCKSCHAU AUF DEN III. HAUPTTEIL Anhand des vorgestellten anspruchsvollen Tierwohlverständnisses habe ich im dritten Hauptteil untersucht, ob es überhaupt möglich ist, eine Fortführung der Nutztierhaltung »mit gutem Gewissen« zu erreichen. Ich habe zunächst argumentiert, dass es empirisch nicht umsetzbar ist, Tiere im Kontext eines ökonomisch orientierten Nutzenkalküls zu halten und zu nutzen, ohne dabei Leid (Schmerzen, Stress, Angst, Langeweile, Frustration, etc.) bei den betroffenen Tieren zu erzeugen. Reformen der Tiernutzung können solche Konflikte lediglich abmildern, aber kein gänzlich leidfreies Halten, Nutzen und Töten realisieren. Es ist nicht logisch ausgeschlossen, Methoden der Haltung, Nutzung und Tötung zu entwickeln, die vollständig leidfrei durchführbar sind. Diese würden jedoch gleichzeitig einen so enormen Aufwand bedeuten, dass die rentable Vermarktung dieser Tiere und ihrer
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Produkte nicht mehr gegeben wäre, was für die Fortführung der Nutztierhaltung jedoch grundlegend wäre. Zu solchen empirischen Konflikten kommen noch essentielle hinzu. Während es zumindest prinzipiell möglich scheint, Tiere ohne Leidzufügungen zu halten, zu nutzen und zu töten, ist es, meiner Argumentation nach, jedoch ausgeschlossen, solche Handlungen gegenüber Tieren durchzuführen ohne sie dabei hinsichtlich ihrer positiven Erfahrungen zu beeinträchtigen. Entgegen der dominierenden Meinung praxisnaher Ansätze habe ich argumentiert, dass die Tiertötung niemals ein wohlneutraler Akt ist. Damit ist nicht gesagt, dass es keine überwiegenden Gründe geben kann, ein Individuum zu töten. Noch wird geleugnet, dass einem Individuum in bestimmten Situationen durch seinen Tod Leid erspart werden kann. Gerade wenn es um unsere Verantwortungspflichten für die Tiere geht, die wir halten und nutzen, ist nicht bloß von Belang, was das betroffene Tier selbst von seiner Zukunft weiß, sondern auch, was wir davon wissen. Hierin kommt die objektivierbare Seite des Tierwohls zum Tragen. Wenn ein Tier fähig ist, das eigene Leben als angenehm empfinden zu können, muss ihm sinnvoller Weise auch ein Interesse daran zugeschrieben werden, zukünftiger angenehmer Lebenserfahrungen nicht verlustig zu gehen, unabhängig von dessen subjektiver Fähigkeit zur Zukunftsantizipation. Die Produkte der Nutztierhaltung lassen sich ohne die eingeplante Tötung von Tieren jedoch nicht in rentabler Weise (bei manchen Produkten wie Fleisch überhaupt nicht) erzeugen. Selbst wenn Tiere anschließend auf »Lebenshöfen« für den Rest ihres Lebens unter entsprechendem Kostenaufwand gepflegt würden, ist anzunehmen, dass durch die vorherigen Leistungsanforderungen ihre körperliche Verfassung in Mitleidenschaft gezogen worden ist, was eine Verkürzung ihrer Lebenszeit erwarten lässt. Die Verkürzung der Lebenszeit von Tieren von vornherein einzuplanen ist mit einer Berücksichtigung des Tierwohls, verstanden als Sorge um das Tier selbst, nicht vereinbar. Besondere Komplexität warf die gezielte körperliche Veränderung von Tieren auf. Viele Züchtungen erweisen sich bereits unter dem Aspekt der Leidvermeidung als problematisch. Andere genetische Eingriffe, beschränken Tiere hinsichtlich der positiven Erfahrungen, die ihnen offenstehen. Besondere Aufmerksamkeit richtete ich auf Fälle, die ich als Fähigkeitsminderung bezeichnet habe und die darauf abzielen, Tieren die Fähigkeit zu nehmen, unter ihren Haltungsbedingungen zu leiden, sowie die Güter zu vermissen, die ihnen durch ihre Haltung vorenthalten werden. Diese körperliche Einflussnahme stellt deshalb eine besondere philosophische Herausforderung dar, weil der Aspekt der Vorenthaltung positiver Erfahrungen hier nur noch bedingt greifen kann. Es lässt sich zwar argumentieren, dass ein Tier ein besseres Leben hat, wenn es vielfältige Bedürfnisse entwickeln und befriedigen kann, als wenn ihm Bedürfnisse genommen werden. Ich habe jedoch eingeräumt,
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dass genetische Einflussnahmen an Tieren vorgenommen werden, die noch nicht existieren. 1 Damit berühren sie, wie Palmer verdeutlicht, das Problem der NichtIdentität. Genveränderte Tiere mögen weniger Bedürfnisse und entsprechend weniger Befriedigungsmöglichkeiten besitzen als nicht-manipulierte Tiere. Es kann dennoch nicht plausibel davon gesprochen werden, dass den manipulierten Tieren positive Erfahrungen vorenthalten werden, da diese die fraglichen positiven Erfahrungen niemals hätten erfahren können. Die starke intuitive Ablehnung gegenüber solchen Genveränderungen bei Tieren lässt sich am ehesten stützen, indem wir die Motive hinter der Erschaffung genmanipulierter Tiere kritisch untersuchen. Wenn wir Tiere körperlich Anpassen, damit wir sie weiterhin (oder noch effizienter) für menschliche Zwecke nutzen können, ohne dabei mit bestimmten Tierwohlproblemen konfrontiert zu sein, dann richten wir unsere Aufmerksamkeit eben nicht auf das betroffene Tier, sondern auf die zu vermeidenden Tierwohlkonflikte. Bemühungen, Tierwohlkonflikte durch raffinierte gentechnische Innovationen aus der Welt zu schaffen, widersprechen dem moralischen Sinn, sich überhaupt mit Tierwohl auseinanderzusetzen und können daher Nutztierhaltung und den Anspruch der Tierwohlberücksichtigung nicht miteinander in Einklang bringen. Dieser Umstand gibt uns keinen Freifahrtschein für eine »nicht perfekte« Nutztierhaltung, sondern diskreditiert diese Praxis als Ganzes. Damit ist nicht völlig ausgeschlossen, dass sich Gründe zur Fortführung dieser Praxis benennen lassen, welche die Verstöße gegen das Tierwohl überwiegen. Aber es kann auch dann nicht behauptet werden, dass wir die Nutztierhaltung ohne jegliches Bedauern fortführen könnten. Die Beschränkung des Tierwohls wäre auch dann kein ethisch neutraler oder absolut gerechtfertigter Akt, sondern lediglich ein »gerechtfertigtes Übel«, das wir nicht einfach immer wieder und wieder hervorbringen dürfen, so oft es uns beliebt. Das aber ist gerade ein Wesenszug einer kontinuierlich fortgeführten Nutztierhaltung. Hieran können eigenständige Diskussionen darüber anknüpfen, ob uns ein gänzlicher Verzicht auf das Nutzen von Tieren und ihren Produkten zu viel an Opferbereitschaft abverlangen würde. Eine steigende Anzahl an Menschen, die bereits vegan leben oder zumindest auf eine Änderung ihrer Konsumgewohnheiten hinarbeiten, verneint diese Frage explizit. Ebenso ist zu hinterfragen, inwieweit wir eine (vermeintliche) Abhängigkeit von der Nutztierhaltung durch unsere gesellschaftliche Lebensweise selbst verschuldet haben, und damit eine Pflicht besitzen, Auswe-
1
Hierin unterscheiden sich gentechnische Züchtungen ethisch fundamental von Gentherapien an bereits existierenden Tieren, die bis zu unserem genetischen Eingreifen die fraglichen Bedürfnisse und Leidensfähigkeiten tatsächlich besessen haben.
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ge aus dieser Abhängigkeit zu entwickeln, anstatt Tiere die Kosten unserer Lebensgewohnheiten tragen zu lassen. Eine solche Rechtfertigung lässt sich, wie ich ausführlich dargelegt habe, auch nicht anhand eines hypothetischen Mensch-Tier-Vertrags herleiten. Wir schulden Tieren bereits dadurch die aktive Beförderung ihres Wohls, dass wir sie von uns aus in unsere Obhut aufnehmen. 2 Diese, von unserer Unterstützung abhängigen, Tiere anständig zu versorgen, ist unsere moralische Pflicht, kein supererogatorischer Akt, den wir ihnen wie eine Dienstleistung in Rechnung stellen können, um uns damit das Recht zu erkaufen, sie für unsere Interessen zu nutzen. Auch lässt sich nicht plausibel behaupten, dass Tiere einen Vorteil davon haben, genutzt zu werden. Sie profitieren ausschließlich von einer geschützten Haltungsumgebung, medizinischer Versorgung und der Abdeckung ihrer Bedürfnisse (sofern dies tatsächlich eingelöst wird), nicht aber von ihrer Nutzung und Tötung, die keine notwendige Bedingung dafür sind, sich um das Wohl von Tieren zu kümmern. Ebenso gibt es keine Schwelle an Lebensqualität, ab der Tierwohl automatisch »mit gutem Gewissen« beeinträchtigt werden kann, ohne dass eine ausreichend gewichtige Rechtfertigung zu liefern wäre. Eine Fortführung der Nutztierhaltung, gänzlich ohne Tierwohlkonflikte, scheint allein dadurch möglich, Tieren ihre Bewusstseins- und Empfindungsfähigkeiten abzuzüchten, so dass diese kein Wohl im moralisch relevanten Sinne besitzen. Auch diese Strategie lässt sich jedoch nicht »mit gutem Gewissen« verfolgen, da sie einem empathisch-reflektierten moralischen Selbstverständnis zuwiderläuft. Ich habe behauptet, dass wir als empathiefähige Moralakteure Individuen sein wollen, denen es nicht egal ist, ob andere Individuen um uns herum leiden, geschweige denn, ob wir dieses Leid selbst verursachen. Das gezielte Ausschalten der Fähigkeit unter den Lebensbedingungen zu leiden, die wir den Tieren vorsetzen, stellt einen Bruch mit diesem Anspruch dar: Im ersten Schritt wird anerkannt, dass uns das Wohl von Tieren etwas angeht, im zweiten Schritt jedoch nach Mitteln und Wegen gesucht, um uns moralische Pflichten der Rücksichtnahme im Umgang mit Tieren vom Hals zu schaffen. Eine solche ergebnisfixierte, strategische Herangehensweise verkennt den Kern von moralischer Reflexion und deren Bezug zu unserer praktischen Identität. Tierwohl wird hierdurch zu einer Problemstellung degradiert, die es nur möglichst geschickt aufzulösen gilt. Eine moralisch vertretbare Fortführung der Nutztierhaltung, muss somit nicht bloß Tierwohlkonflikte umgehen, sondern auch moralischer Kritik standhalten, die über das Konzept des Tierwohls hinausgeht.
2
Über die Rechtfertigung, Tiere überhaupt zu domestizieren und gefangen zu halten, ist damit noch nichts gesagt. Diese Frage wäre eigens zu erörtern.
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6.4 ABSCHLUSSURTEIL ZUR FRAGE DES TIERWOHLS UND DER ROLLE MENSCHLICHER VERANTWORTUNG Durch eine direktere Auseinandersetzung mit unserem moralischen Selbstverständnis, wird der Begriff des Tierwohls keinesfalls überflüssig. Vielmehr gewinnt der Begriff hierbei an Klarheit und Belastbarkeit, indem er mit einem grundlegenderen Verständnis darüber unterfüttert wird, was moralische Berücksichtung bedeutet, was sie motiviert und wie sie in praktische Handlungsanweisungen übersetzt werden kann. Dieses Verständnis konkreter zu erarbeiten, ist eine gesonderte, und aller Voraussicht nach langwierige, philosophische Aufgabe. Mein Beitrag im Rahmen dieser Arbeit ist lediglich, auf diese Aufgabe aufmerksam zu machen und ihre Verkettung mit der Thematik des Tierwohls zu beleuchten. Bei der täglichen Beurteilung unseres Umgangs mit Tieren kommen wir über weite Strecken ohne ein tiefgründiges, aufgeklärtes Verständnis unserer praktischen Identität aus. Der Begriff des Tierwohls kann als Vehikel bereits wichtige Handlungsverpflichtungen gegenüber Tieren transportieren, wenn es etwa um das Zufügen oder Zulassen von Leid geht. Mit einer anspruchsvollen Tierwohlkonzeption, bei der wir bereits beginnen, grundsätzlicher nach unserem Umgang mit Tieren zu fragen, erhalten wir ein entsprechend umfassenderes Verständnis unserer Handlungsverpflichtungen, so dass sich auch hier der Tierwohlbegriff als philosophisch belastbar und Orientierung verschaffend erweist. Sobald wir aber die Möglichkeit besitzen, die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Tieren zu manipulieren, können wir auf eine tiefgründige Auseinandersetzung mit unserem moralischen Selbstverständnis nicht verzichten. Für die Tierwohlforschung allgemein ergibt sich aus meiner Untersuchung die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels. Statt sich auf Tierwohl als Zustand zu versteifen, diesen Begriff für sich allein stehend zu definieren, und zum Ausgangspunkt unserer Verantwortung gegenüber Nutztieren zu erklären, muss Tierwohl als Vehikel begriffen werden. Es ist ein Behelfskonzept, das uns auf grundlegende moralische Überzeugungen und Ansprüche aufmerksam macht, denen im täglichen Umgang mit Tieren Rechnung zu tragen ist. Die Anerkennung unserer moralischen Verantwortung gegenüber den Tieren, mit denen wir interagieren, hat bereits in der historischen Weiterentwicklung des praxisnahen Tierwohlverständnisses erste Spuren hinterlassen. War Tierwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein bloßes Qualitätsmerkmal für gute wissenschaftliche Arbeit bei Tierversuchen, bei der Herstellung von Tierprodukten sowie ein Gebot umsichtigen Wirtschaftens, so richtete sich nach und nach der Blick immer mehr auf das betroffene Tierindividuum selbst. Diese Entwicklung gilt es weiter voranzutreiben. Ich habe in meiner Untersuchung praxisnaher und philosophischer Ansätze herausgearbeitet, dass das betroffene Individuum zwar in diesen Ansätzen adressiert wird, insgesamt jedoch noch zu sehr im Hintergrund bleibt und stattdessen sein körperlicher und geistiger
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Zustand die Hauptaufmerksamkeit erhält, als sei dieser Zustand der eigentliche Adressat moralischer Handlungsverpflichtungen. Dies erklärt auch, warum Verteidiger der Nutztierhaltung glauben, das Halten, Nutzen und Töten von Tieren durch ausreichende Berücksichtigung deren Wohls erkaufen zu können. Tiere als moralisch berücksichtigungswürdig anzuerkennen, bedeutet, dass auch die Motive, die unser Verhalten ihnen gegenüber anleiten, ethisch bedeutsam sind – und nicht bloß, welchen Wohlzustand ein Tier als Resultat unserer Handlungen aufweist. Die Tierwohlforschung muss sich daher von ihrer bisherigen Ergebnisfixierung lösen und stärker in den Blick nehmen, welche Handlungen dem moralischen Status von Tieren und unserem eigenen moralischen Selbstverständnis gerecht werden. Daher kann die Nutztierhaltung insgesamt nicht »mit gutem Gewissen« fortgeführt werden. Von vornherein wird sie nicht aufgrund von Empathie für die betroffenen Tiere betrieben, sondern allein zur Abdeckung unserer menschlichen Interessen, für die wir Tiere einspannen. Beim Versuch, ihr Wohl dabei zu schützen und zu befördern, kann es uns lediglich gelingen, das Ausmaß unserer moralischen Verstöße gegen die Berücksichtigung, die wir Tieren schulden, vergleichsweise gering zu halten. Bislang hat sich die Tierwohlforschung darauf beschränkt, technische und methodische Innovationen zu entwickeln, um eine relative Verbesserung des Tierwohls zu erreichen. Es ist zu konstatieren, dass eine Legitimierung der Nutztierhaltung hierdurch nicht erreicht werden kann. Stattdessen ist auf einen Ausstieg aus der Nutztierhaltung hinzuarbeiten, was sich gleichwohl als langwieriger Prozess erweisen dürfte.
6.5 ÜBERLEGUNGEN FÜR DIE ZUKUNFT DER TIERWOHLWISSENSCHAFT Bevor die Protagonisten der Nutztierhaltung dazu bewegt, oder nötigenfalls juristisch dazu gezwungen werden können, diesen Ausstieg mit einzuleiten, wird weiterhin viel an gesellschafts-politischer Arbeit zu leisten sein. Gesetzeseinführungen und gesellschaftliches Umdenken folgen vorangegangenem politischen Druck, den es aufzubauen gilt, 3 und an dem diverse Tierrechtsorganisationen bereits seit Jahren aktiv wirken. Um solche Umwälzungen juristisch und gesellschaftlich stabil etablieren zu können, ist es wichtig, die Bevölkerung von der Dringlichkeit einer Änderung unserer Lebensweise zu überzeugen und ihre Offenheit für alternatives Konsumverhalten und alternative Produkte zu befördern. 4 Das alles wird viel Zeit in
3
Vgl. Francione (2008), S. 109-112, 122.
4
Vgl. Cochrane (2012), S. 43.
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Anspruch nehmen. Zeit, in der Tiere weiterhin in menschlicher Obhut gehalten, genutzt und getötet werden. Wenn uns das Wohl individueller Tiere interessieren muss, wofür ich argumentiert habe, dürfen sich unsere Bemühungen nicht allein auf das Wohl künftiger Tiere richten, die nicht mehr der Nutztierhaltung unterzogen werden, sondern auch das Wohl derer, die ihr bis zum umgesetzten Ausstieg weiterhin noch unterworfen sind. Eine Verbesserung ihrer Haltungs- und Lebensbedingungen ist anzustreben, und hier kann die Tierwohlforschung bereits wichtige Beiträge leisten. 5 Ebenso wird sich bei einem Ausstieg aus der Nutztierhaltung um all die Tiere zu kümmern sein, die von menschlicher Unterstützung abhängig sind oder sich nicht so einfach auswildern lassen. Ein erster wichtiger Schritt muss daher der Stopp der Massenzüchtung von Nutztieren sein. Die Unterbringung, Pflege und evtl. Auswilderung dieser Tiere stellt ohnehin eine komplizierte Herausforderung dar. Die enorme Masse an Tieren, die derzeit fortlaufend zur Existenz gebracht wird, verkompliziert diesen Prozess zusätzlich, so dass wir dringend dafür sorgen müssen, die Situation nicht noch weiter eskalieren zu lassen. Ich widerspreche daher Franciones Befürchtung, relative Verbesserungen des Tierwohls würden zwangsläufig die Bevölkerung im Glauben bestärken, dass die Nutztierhaltung reformierbar und damit auch legitimierbar sei, was einen Ausstieg aus der Nutztierhaltung in weite Ferne rücke. 6 Diese Gefahr besteht zwar, jedoch nicht zwangsläufig, sondern nur wenn vernachlässigt wird, zu vermitteln, was das Ziel von relativen Tierwohlverbesserungen sein muss: denjenigen Tieren ein zumindest angenehmeres Leben zu ermöglichen, die aus den oben aufgeführten Gründen weiterhin der Nutztierhaltung unterzogen bleiben werden. Denn auch ihr Wohl verdient Berücksichtigung. Keine besseren Haltungsbedingungen für sie zu einzufordern, hieße das Wohl jetziger Tiere, zugunsten einer schnelleren Befreiung zukünftiger Tiere vom Nutzenkalkül, komplett zu opfern. Ich habe außerdem betont, dass Tierwohl-Konflikte nicht bloß an offensichtlichen Leidzufügungen und katastrophalen Haltungsumgebungen festzumachen sind, wie dies in Schockberichten über die Zustände innerhalb der intensivierten Nutztierhaltung meist geschieht. Die erhebliche Verkürzung von Lebenszeit und das
5
Die Tierwohlforschung steht hierbei vor dem Problem, wie sie ihre weitere Forschung ohne traditionelle Tierversuche betreiben kann. Ich sehe kein ethisches Problem darin, existierende Tiere, die auf menschliche Haltung angewiesen sind, in ihrer Haltungsumwelt zu beobachten und in Versuchen, die für die Tiere selbst spielerischen Charakter haben, mehr über ihre Bedürfnisse zu erfahren. Wichtig muss hierbei sein, dass Tiere dem Nutzenkalkül entzogen werden, d.h. die Interessen des betroffenen Tiers müssen im Vordergrund stehen. Es genügt nicht der Verweis darauf, dass andere Tiere durch die Wohleinschränkungen beim betroffenen Versuchstier letztendlich profitieren können.
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Vgl. Francione (2008), S. 15f, 70, 106f.
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Beschränken positiver Erfahrungsmöglichkeiten verdienen auch dann moralische Ablehnung, wenn sie sich nicht in medienwirksamen Bildern niederschlagen. Um auf einen Ausstieg aus der Nutztierhaltung hinzuarbeiten, muss die Öffentlichkeit gerade für diese weniger auffälligen Tierwohlkonflikte sensibilisiert werden, während Schockbeispiele gerade die Gefahr bergen, die Nutztierhaltung nicht grundsätzlich, sondern nur in ihrer derzeitigen, auffällig mangelhaften Form zu kritisieren. 7 Ein zentrales Argument für die Fortführung der Nutztierhaltung besteht in der Behauptung, dass uns ein Ausstieg mehr abverlangen würde, als man moralisch gerechtfertigter Weise von Menschen fordern dürfe. Es bleibt jedoch zu prüfen, ob unsere lieb gewonnenen Lebensweisen tatsächlich so festgefahren und unaufgebbar sind, wie hierbei behauptet wird. Dass wir in Dilemma-Situationen geraten können, die es uns moralisch gestatten, das Wohl anderer Individuen einzuschränken, um uns nicht selbst völlig aufopfern zu müssen, kann dabei zugestanden werden. Wir haben jedoch kein Recht, uns immer wieder und wieder selbst verschuldet in solche Dilemmata hineinzumanövrieren. Ebensowenig dürfen wir den Umstand, dass wir uns in einem Dilemma befinden, als Vorwand nehmen, das Wohl anderer so oft es uns beliebt einzuschränken, nur weil uns ein vollständiges Vermeiden von Wohleinschränkungen nicht möglich ist. 8 Stattdessen müssen wir uns bemühen, Wohlkonflikte so selten wie möglich entstehen zu lassen, und auf eine Welt hinarbeiten, in der solche Dilemmata seltener sind oder gänzlich umgangen werden können. Mit anderen Worten, eine Welt, in der wir anders leben und konsumieren und anders mit Tieren interagieren, und so die derzeitige, vermeintliche Abhängigkeit von der Nutztierhaltung auflösen. Auf dem Weg dorthin darf man uns sehr wohl Anstrengungen und Opfer abverlangen, allein schon deswegen, weil kaum zu bestreiten ist, dass die »Abhängigkeit« von der Nutztierhaltung nicht von Seiten der betroffenen Tiere initiiert wurde. Es ist ein Gebot der Fairness, Tiere nicht die Kosten für eine Bredouille tragen zu lassen, die auf menschliche Lebensentscheidungen zurückzuführen ist. Der nötige Elan, um diesen Ausstieg greifbarer zu machen und letztendlich vollständig zu realisieren, kann erst dadurch entstehen, dass genügend Menschen davon überzeugt werden können, dass es zwar zu begrüßen ist, Nutztiere zuneh-
7
Zudem weist Pachirat auf den Effekt hin, dass Schockbilder den Betrachter auch abstumpfen und unempathisch machen können. Auch können sie eher dazu treiben, die Augen zu verschließen, anstatt für die abgebildete Problematik sensibilisiert zu werden (vgl. Pachirat [2011], S .253-254).
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Ähnlich auch Francione (2008), S. 64 sowie Donaldson/Kymlicka (2011), S. 41-42.
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mend besser zu behandeln, dies aber nicht ausreicht. 9 Diese Aufgabe kann ich mit der vorliegenden Untersuchung allenfalls für eine wissenschaftliche Leserschaft erfüllen. Ich habe eine philosophische Fundierung dafür geliefert, warum ein anderer Umgang mit Nutztieren nötig ist, jedoch kaum umrissen, wie ein gesellschaftliches Umdenken realisiert werden soll. Dies wäre eine Aufgabe für Pädagogik und Psychologie, die sich auf das Aufbereiten und Vermitteln von Inhalten verstehen. Anhand eines belastbaren philosophischen Fundaments können obige Disziplinen verständlichere Faustformeln im Umgang mit Tieren und zum Verständnis ihres Wohls ableiten, und eine konkretere Agenda formulieren. Diese konkreten Lösungen muss die philosophische Vorarbeit nicht bereits mitliefern. Sie muss dagegen einen Ausgangspunkt liefern, der sich moralphilosophisch verteidigen lässt und damit verlässliche Orientierung bietet. Komplexe Inhalte müssen der Verständlichkeit halber vereinfacht und pragmatische Umsetzungsmöglichkeiten gesucht werden. Philosophische Ansätze dürfen jedoch nicht von vornherein darauf ausgelegt sein, möglichst leicht verständlich, übersichtlich und umsetzbar zu sein. Solche Eigenschaften machen Ansätze besonders attraktiv, nicht aber automatisch auch besonders adäquat und belastbar. 10 Tierwohl ist ein komplexer Gegenstand, ebenso wie die Beziehungen, die wir zu Tieren besitzen, komplex und vielfältig sind. Ein von vornherein simpel und pragmatisch konzipierter Ansatz kann dem nicht gerecht werden. Ich habe dies im ersten Hauptteil als eine zentrale Schwäche praxisnaher Ansätze herausgestellt. Auch hier ergibt sich also ein wichtiger Appell an die derzeitige Tierwohlwissenschaft: Eine Auseinandersetzung damit, was pragmatisch umsetzbar ist und eine leicht verständliche Formulierung dessen, worum es beim Schutz des Tierwohls geht, mögen unverzichtbar sein für eine erfolgreiche Tierwohl-Agenda. Die Tierwohlwissenschaft darf diese Belange der Anwendungsebene
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Haynes befürwortet in diesem Zusammenhang die schrittweise Reformierung der Nutztierhaltung, betont hierbei jedoch einen Unterschied zwischen strategischem und suffizientem Reformismus. Er vertritt dabei Ersteren, der dazu dient, Verteidigern der Nutztierhaltung beharrlich mehr und mehr an Zugeständnissen abzutrotzen, ohne dabei zu vergessen, dass diese Zwischenschritte unseren Umgang mit Tieren nur graduell weniger ablehnungswürdig machen, nicht aber vollständig moralisch legitimieren. Letzterer erklärt hingegen bereits einen eingegangen Kompromiss als völlig ausreichend und leugnet die Notwendigkeit weiterer und radikalerer Umwälzungen (vgl Haynes [2010], S. ix-xi, 127).
10 Diesen Punkt macht insbesondere Ross deutlich (vgl. Ross [2002], S. 19-23). Dagegen vermengt bspw. Bradley pauschal Attraktivität mit Belastbarkeit, wenn er plakativ behauptet: »Simple and elegant views are to be preferred over complicated, convoluted, and ugly views.« (vgl. Bradley [2009], S. 51).
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jedoch nicht bereits auf die Theorieebene übertragen und damit unseren kritischen Blick schon im Vorfeld verengen. 11 Die Tierwohlwissenschaft muss ihre derzeitige Versteifung auf innovative Möglichkeiten der Wohlverbesserung innerhalb der Nutztierhaltung verlassen und auf grundlegende philosophische Beiträge zur Tierethik stärker zugehen. Erkenntnisse aus den derzeit dominierenden empirischen Disziplinen, wie Agrarwissenschaft, Veterinärmedizin, der Wirtschaftswissenschaften, etc., werden auch innerhalb eines radikalen Umdenkens im Umgang mit Tieren eine wichtige Funktion haben. Im Prozess des Ausstiegs aus der Tiernutzung kann auf deren Expertise hinsichtlich der Bedürfnisse von Tieren, sowie ökonomischer und landwirtschaftlicher Zusammenhänge, nicht verzichtet werden. Nur muss das bisherige Ziel einer Fortführung der Nutztierhaltung »mit gutem Gewissen« aufgegeben werden. Denn dies ist nicht einlösbar.
11 Aufschlussreiche Überlegungen zur Trennung von Theorie- und Anwendungsebene finden sich bspw. in McMahan (2006a), S. 23-41.
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