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German Pages 189 Year 2000
Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 60
Hugo Preuß Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik. Erstveröffentlichung der Dissertation von 1955. Mit einem Nachwort von Manfred Friedrich.
Von
Günther Gillessen
Duncker & Humblot · Berlin
Günther Gillessen · Hugo Preuß
Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 60
Hugo Preuß Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik Erstveröffentlichung der Dissertation von 1955
Von Günther Gillessen Mit einem Nachwort von Manfred Friedrich
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gillessen, Günther:
Hugo Preuß : Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik / von Günther Gillessen m. e. Nachw. v. Manfred Friedrich. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zur Verfassungsgeschichte ; Bd. 60) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1955 ISBN 3-428-10019-0
Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-10019-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Eine im Jahr 1955 abgeschlossene Dissertation nach fünfundvierzig Jahren gedruckt vorzulegen, ist ein Unternehmen, bei dem der Verfasser eines gewissen Wohlwollens der Fachkundigen bedarf. Die Schrift ist das Erstlingswerk eines damals jungen Mannes. Fast ein halbes Jahrhundert später erstmals wiedergelesen, offenbaren sich dem Autor Mängel der Darstellung und der Fragestellung. Sie hinzunehmen, geschieht in der einfachen Überlegung, daß diese Arbeit, bisher nur in wenigen, schwer leserlichen maschinenschriftlichen Exemplaren verfügbar, noch immer ein größeres biographisches Werk über Hugo Preuß ersetzen muß. Zu der großen Biographie wird es vermutlich nie kommen, weil der private Nachlaß Hugo Preuß' im Zusammenhang mit der erzwungenen Emigration der Familie nach 1933 verloren ging, wohl für immer. Die Quellenlage erforderte, sich auf die Darstellung des politischen Wirkens von Hugo Preuß zu beschränken, auf seine publizistische Tätigkeit, auf die Herkunft und Formung seiner staatsrechtlichen und verfassungspolitischen Ideen, aus denen schließlich der Entwurf der Weimarer Reichsverfassung geschöpft wurde. Beim Wiederlesen und Wieder-Erkennen der eigenen Arbeit drängten sich dem Verfasser vor allem vier Beobachtungen auf, auf die er wegen ihrer Gegenwartsbedeutung aufmerksam machen möchte. 1. Die Einleitung der Arbeit verbirgt nicht das von der Entstehungszeit gelenkte Forschungsinteresse an ihrem historischen Gegenstand. Sie läßt, gleich auf der ersten Seite, die damals empfundene Bangigkeit erkennen, ob die freiheitliche Ordnung der neuen Bundesrepublik sich lebensfähiger erweisen werde als die Weimarer Verfassung und fester und kräftiger ins Bewußtsein des Volkes einwachsen werde als jene. Niederdrückend nahe stand einem Studenten der letzten Kriegsund ersten Nachkriegsgeneration, die „Weimar" nicht mehr selbst erlebt hatte, das Ereignis des Untergangs der ersten Republik. Wie ungesichert, wie gefährdet erschien darum auch die Neugründung, wie ungewiß der demokratische Wille im eigenen Volk. Es waren natürlich die politischen Sorgen Älterer, die sich dem Studenten übertrugen und hier einen Niederschlag fanden. Inzwischen entnimmt man einer solchen Passage aber auch umgekehrt mit Freude, wie überraschend selbstverständlich sich das Grundgesetz und die neue Republik in das politische Bewußtsein des Landes eingeschrieben und darin festgesetzt haben. Daß die Neugründung gelang, war auch der Vernunft der westlichen Sieger- und Besatzungsmächte, vor allem der Amerikaner, zu danken, die ebenfalls „aus Weimar gelernt" hatten. Da fragt man sich dann, wieviel Bedeutung eigentlich den Details der Gewaltenteilung in einer im aristotelischen Sinne „gemischten", heute
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Vorwort
einfach „demokratisch" genannten Verfassung für die Stabilität einer freiheitlichen Staatsordnung überhaupt zukommt. Es gibt bessere und schlechtere Konstitutionen, und selbst das Urteil, was als besser und was als schlechter anzusehen sei, ändert sich von Zeit zu Zeit. Da zeigt sich, daß es vor allem die Vertrauensgrundlagen im Volk, ihre Voraussetzungen, ihre Erhaltung, auch die Vertrautheit einer Nation mit ihrer Verfassung sind, die am Ende ihre Festigkeit und Autorität bestimmen. Sind sie gegeben, läßt sich selbst mit einer nur mäßig tauglichen Verfassung gut regieren. 2. Diese Erfahrung relativiert die lange Diskussion über die Machtstellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik. Preuß hatte sie vorformuliert. Der „starke" Reichspräsident erwies sich in der Schlußphase der Weimarer Republik als die schwache Stelle, an der Hitler die Tür in das ihm verhaßte „System" geöffnet wurde. War der Reichspräsident wirklich „zu stark"? Er war nur dann stark, wenn das Parlament schwach war. Gegenüber einem willensstarken Parlament wäre der Reichspräsident in dem Hintergrund geblieben, in dem Preuß ihn als konstitutionelle Reserve-Macht in Bereitschaft halten wollte, in zutreffender Einschätzung der noch „nicht vollentwickelten" parlamentarischen Reife der Parteien.
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An deren Entwicklungszustand führte kein Weg vorbei. Man mußte durch dieses Stadium hindurch. Erfahrung und parlamentarische Verantwortung konnten nur aus der Praxis der Parlamentsarbeit entstehen. Ob die Republik es schaffte, hing davon ab, ob ihr dafür Zeit bliebe und die Problembelastung nicht allzu groß sein würde. Aber sie war es dann. Vergegenwärtigt man sich indessen Preuß' Vorschlag von 1917 für die Reform der Bismarckschen Reichsverfassung, dazu Robert Redslobs Argument zum Recht des Staatsoberhaupts, auf Verlangen des Regierungschefs das Parlament aufzulösen, sowie Preuß' eigenen Beitrag in den Beratungen mit Max Weber im Beirat des Reichsinnenministeriums im Dezember 1918, so läßt dieser Zusammenhang klar erkennen, daß es Preuß auf die unabhängige Legitimierung des Staatsoberhaupts ankam, damit er als Reservemacht bereit stehen könnte. In England war diese Legitimität kraft Geburtsrecht gegeben; im deutschen Kaiserreich hätte sie erhalten werden können; in der Republik konnte sie nur analog begründet werden, durch die Volks wähl des Präsidenten. Der Monarch der englischen Verfassung, die Rechtsfigur des „King in Parliament", stand Preuß bei der Volkswahl des Präsidenten vor Augen - nicht wie Max Weber, „Führung" durch einen amerikanischen Präsidenten im Vollbesitz aller exekutiven Gewalt. Für Preuß war der vom Volk gewählte Reichspräsident integraler Teil, nicht Widerspruch zu einer repräsentativ-demokratischen Verfassung des englischen Typus in seinem zeitgenössischen Entwicklungsstand. 3. Verfassungspolitisch ist immer noch die Auseinandersetzung Preuß' mit dem Begriff der Souveränität interessant. Die Tendenz zur inter- oder übernationalen Vergemeinschaftung zentraler staatlicher Aufgaben in der heutigen Staatenwelt gibt dazu Grund. Die Staaten werden nicht verschwinden, aber sie werden doch weniger und weniger die staatsrechtlich versiegelten Gefäße ihrer Nationen sein,
Vorwort
als die sie das klassische Völkerrecht ansah. Der Begriff der Souveränität kommt von innen und von außen mehr und mehr unter Druck. Innen stößt er gegen das Widerlager der unveräußerlichen Freiheiten und Grundrechte des Individuums, und außen hämmert auf ihn der Gedanke ein, daß die Staatengesellschaft berechtigt ist, mit Mehrheiten festzustellen, welches Verhalten von Einzelstaaten nicht mehr geduldet werden könne. Deutlich ist das an Bestrebungen zu sehen, Menschenrechte international einzuklagen und schwere Verletzungen vor internationale Strafgerichte zu bringen. Sie unterstellen, daß Staaten, ob sie wollen oder nicht, Glieder einer internationalen Gesellschaft sind, in der es Souveränität nur noch in eingeschränktem Sinne geben kann, als Teil-Souveränität, nicht unähnlich den Mitgliedern eines Staatenbundes oder, noch eingeschränkter, den Gliedstaaten eines Bundesstaates oder den Gemeinden. Doch in solcher Einschränkung hat der Begriff die ihm innewohnende Absolutheit und Ausschließlichkeit verloren, die sein Wesen ausmachen. Hugo Preuß' Angriff auf die Souveränität als einen Begriff, mit dem nichts Rechtes - im buchstäblichen Sinn - anzufangen ist, ist immer noch eine eindrucksvoll schlüssige Darlegung, daß das Prinzip der Souveränität historisch an das Zeitalter des Absolutismus gebunden und danach in keiner Gestalt mehr zu gebrauchen ist, nicht als Souveräntität eines Fürsten, eines Parlaments, des „Volkes", eines Richters oder „des Staates". Im Rechtsstaat kann niemand und nichts mehr wesenhaft „souverän" sein. 4. Die aktuellste Bedeutung von Preuß' Lebenswerk ist heute wohl in dem zu sehen, was er über den deutschen Bundesstaat zu sagen hat. Obwohl dieser Bundesstaat nicht mehr der Bund von Fürsten ist, als der das Bismarckreich gegründet worden war, dauert ein Charakteristikum jener Verfassung fort: die Mitregierung der Ministerpräsidenten, der „Landesfürsten" wie es treffend heißt, im Bund. Statt die Aufgaben von Bund und Ländern deutlich zu trennen und ihnen zur jeweils selbständigen und selbstverantwortlichen Erledigung zuzuweisen, haben die Erfindungen von „Gemeinschaftsaufgaben" und die mit ihnen einhergehende „Mischfinanzierung", die Expansion der Rahmengesetzgebung des Bundes in Zuständigkeiten der Länder, die Inflation der Koordinierungsräte zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern untereinander zu einer unübersichtlichen Aufgabenvermengung geführt. Dazu kommt eine Finanzverfassung, die wiederum vor allem Beteiligung bedeutet, nicht selbstständigen Zugriff auf Steuerquellen und klar unterscheidbare Verantwortung für die Folgen. Alles zusammen hat zu mehr Mitbestimmung der Ministerpräsidenten im Bund geführt bei gleichzeitiger Entleerung der Autonomie der Länder, vertreten durch ihre Landtage. Im Bund-Länder-Verhältnis, zumal im Bundesrat mit der gebundenen Stimmabgabe nach Art eines Gesandtenkongresses herrscht ein Zustand, den man im Vergleich etwa zum Ständerat der Schweiz oder des Senats der Vereinigten Staaten frei nach Redslob als unechten Föderalismus bezeichnen könnte. Zwar ist das preußische Problem der alten Bundesrats Verfassung, das Hugo Preuß beschäftigte, seit 1945 erledigt, aber das allgemeine Bund-Länder-Problem ist es nicht. Bei Hugo Preuß ist noch Einsicht in die gute Ordnung eines Bundesstaates zu holen.
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Vorwort
Die hier vorgelegte Arbeit ist - abgesehen von einigen minderen stilistischen Verbesserungen - der inhaltlich unveränderte Text von 1955. Unverändert ist auch der Anhang mit der Literaturliste. Es erschien nicht sinnvoll sie zu ergänzen, ohne den Textteil von Grund auf umzuarbeiten. Die Arbeit erscheint nun im Jahr des 75. Todestages von Hugo Preuß. Meinem politikwissenschaftlichen Kollegen Manfred Friedrich bin ich dankbar dafür, daß er die Arbeit zu diesem Datum in die „Schriften zur Verfassungsgeschichte" aufgenommen sehen wollte und dies Herrn Professor Dr. jur. h.c. Norbert Simon, Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, auch vorgeschlagen hat. Dankbar bin ich demselben für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Und sehr dankbar bin ich Herrn Professor Dr. Manfred Friedrich, daß er ein Nachwort verfaßte, das die Darstellung von 1955 zum heutigen Stand der Forschung in Beziehung setzt. Günther Gillessen
Vorwort von 1955 Die Anregung zu dieser Arbeit entsprang der Beschäftigung mit der Entstehungsgeschichte der Weimarer Reichsverfassung. Meine Aufmerksamkeit wurde bald von der Person des Verfassers des ersten Entwurfs gefesselt, die außer in einigen kleineren Studien von Ernst Feder, Theodor Heuß, Hedwig Hintze und Carl Schmitt von der Forschung ziemlich unberücksichtigt geblieben war. Es erschien reizvoll, die Entstehungsgeschichte der Grundgedanken des Verfassungsentwurfs in der persönlichen Entwicklung seines Verfassers zu verfolgen. Die Beschränkung auf eine ideengeschichtlich-politische Biographie entsprach der ursprünglichen Absicht, erwies sich dann aber auch als notwendig, weil außer ein paar Briefen, die mir Herr Dr. Ernst G. Preuß, einer der Söhne Hugo Preuß', freundlicherweise zur Verfügung stellte, der gesamte persönliche Nachlaß Hugo Preuß' vermutlich bei der Emigration der Söhne nach 1933 oder während des Luftkrieges in Berlin verloren gegangen ist. Leider konnten auch einige andere Quellen, die für diese Untersuchung wertvoll gewesen wären, nicht ausfindig gemacht werden, nämlich die Personalakten der Berliner Universität und der Berliner Handelshochschule, die Protokolle des Berliner Magistrats für die Zeit von 1911 bis 1918 und die Sitzungsprotokolle des Reichsministeriums (= des Reichskabinetts) vom November 1918 bis zum August 1919. Besonderen Dank schulde ich Herrn Professor Dr. Clemens Bauer für Anregungen, Hinweise und Kritik wie auch für die freundliche Aufmerksamkeit, die er der Entstehung dieser Arbeit stets widmete, ferner Herrn Dr. E. G. Preuß in London für einige persönliche Auskünfte über seinen Vater und den Beamten der Archive in Potsdam, Berlin, Merseburg und Karlsruhe und der Freiburger Universitätsbibliothek für ihre liebenswürdig gewährte Hilfe in den technischen Dingen. Freiburg im Breisgau, im Januar 1955.
Inhaltsverzeichnis Einleitung I. Grundriß einer Staatslehre
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1. Der Angriff auf die Souveränität
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2. Der genossenschaftliche Staat
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3. Rechtsstaat und Selbstverwaltung
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4. Das anstaltliche Element
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II. Ausbau der Selbstverwaltungslehre
34
1. Das Recht der Selbstverwaltungskörper
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2. Der Gegensatz zu Gneist
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3. Der Freiherr vom Stein - das Vorbild
43
4. Die „Urbanisierung" des Staates
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
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1. Die Verwestlichung Preußens
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2. Der Freundeskreis um „Die Nation"
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3. Kurswechsel nach links
57
4. Nationalstaat und internationale Gemeinschaft
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5. Der politische Professor
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6. Der „Fall Preuß"
64
7. Judentum und Antisemitismus
66
IV. Im Roten Rathaus
69
1. Um die Freiheit der städtischen Selbstverwaltung
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2. Sozialpolitik und Sozialreform in Berlin
72
3. Das Programm einer Verwaltungsreform in Preußen
76
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Inhaltsverzeichnis V. Im Kriege
82
1. „Das deutsche Volk und die Politik"
83
2. Die „Neuorientierung" und das preußisch-deutsche Rätsel
91
3. Vorschläge zur Reform der Reichsverfassung
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VI. Verfassungspläne des Winters 1918/1919
103
1. Berufung in die Reichsregierung
103
2. Die Konferenz der Sachverständigen
105
3. Die Gutachten Anschütz, Drews, von Payer, Meinecke
112
4. Der Neugliederungsplan
116
5. Die Denkschrift vom 3. Januar 1919
121
6. Grundzüge des Verfassungsentwurfs
123
7. Der Staatsbegriff des Verfassungsentwurfs
137
8. Wirkungen auf die spätere Rechtslehre
145
VII. Das Werk von Weimar
149
1. Kampf mit den Einzelstaaten
150
2. Revision vor der Nationalversammlung
154
3. Demission wegen Versailles
158
V I I I . Die letzten Jahre
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1. Wiederaufleben der preußischen Frage
160
2. Die verschleppte Verwaltungsreform in Preußen
163
3. Das Ende des preußischen Problems
164
4. Streiter und Lehrer für die Demokratie
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Anhang
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1. Verzeichnis der Schriften von Hugo Preuß
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2. Quellen-Verzeichnis
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3. Literatur-Verzeichnis
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Nachwort von Manfred Friedrich
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Einleitung Der Zusammenbruch der deutschen Monarchie am Ende des ersten Weltkrieges kennzeichnete den Anfang der deutschen Demokratie. Der Übergang vom einen zum andern ohne vermittelnde Zwischenformen und ohne zukunftsfähige Fortbildungen des Alten zu einem besseren Neuen, die ganze Ruckhaftigkeit der Ereignisse wiederholte sich in derselben Generation noch zweimal, am Anfang und am Ende des Hitlerreiches. Zweimal, 1918 und 1945, wurde die neue Staatsordnung trotz dem Eifer einer demokratischen Minderheit nicht von einem alle Widerstände überwältigenden, auf Freiheit und Selbstregierung gerichteten Volkswillen errungen, sondern durch den Lauf der Ereignisse selbst geradezu aufgedrängt. Nach dem Bankrott der alten Systeme blieb eben kein anderer Ausweg mehr offen. In diesem halb zufälligen Charakter der deutschen Demokratie lauert ständig die Gefahr des Rückfalls. Einstweilen schützen die Besatzungsmächte die neue Republik noch vor dem Schicksal der Weimarer Demokratie. Was freilich nicht unter Mühen errungen wird, wird auch nicht geliebt. Es scheint in dieser Lage sehr viel, wenn nicht alles darauf anzukommen, wenigstens nachträglich Demokratie und Parlamentarismus im Bewußtsein des Volkes heimisch zu machen und den fehlenden Unterbau noch Stück um Stück einzuziehen. Noch ist die Chance gegeben, die deutsche Demokratie, das von der Mehrheit des Volkes nicht gewünschte oder mindestens teilnahmslos hingenommene Ergebnis einer unabänderlichen historischen Entwicklung, nachträglich in seiner Notwendigkeit freiwillig zu bejahen und im allgemeinen Bewußtsein zu sichern. Aus der improvisierten Demokratie durch die Erforschung ihrer inneren historischen Notwendigkeit ein Bleibendes bilden zu helfen, einer realistischen und kritischen Betrachtungsweise der eigenen Geschichte und des eigenen historischen Standortes den Weg zu ebnen, geschichtlichen Sinn zu wecken und dadurch zu versuchen, die bestürzende Ruckhaftigkeit und verhältnismäßige Ergebnislosigkeit der neueren deutschen politischen Geschichte zu überwinden, erscheint nun für den Historiker über die reinliche Erkundung des faktischen Sachverhaltes hinaus als ein lohnendes Ziel. „Es fehlt", so schrieb Hugo Preuß am Vorabend der Revolution von 1918 zur Parlamentarisierung, die - wiederum sehr typisch - nicht durch einen übermächtigen Volkswillen erzwungen, sondern von der kaiserlichen Regierung unter dem Druck der militärischen Lage dekretiert wurde und deshalb einer Verankerung im öffentlichen Bewußtsein noch bedurfte, „bei alledem nicht völlig an geschichtlichen Anknüpfungspunkten in unserer politischen Entwicklung ... Diese Anknüpfungspunkte bietet unter zeitgemäßer Fort- und Umbildung einmal der große Stein'sche Reformplan und ferner das Werk der Frankfurter Paulskirche und seine
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Einleitung
Ausstrahlungen." Inzwischen ist Hugo Preuß selbst ein solcher Anknüpfungspunkt geworden, von wo aus die zerrissenen Fäden wieder aufgenommen werden können. In seinem Verfassungsentwurf verknüpften sich alle bedeutenden Linien der eigenen Entwicklung, Von da aus erhält eine politische Biographie Hugo Preuß' ihre Mitte und ihre Berechtigung. Um der Arbeit an der deutschen Reichsverfassung von 1919 willen wurde Hugo Preuß überhaupt erst eine historische Figur; ohne sie wäre er ein glänzender Name in der Rechtswissenschaft geblieben und hätte als Stadtverordneter vielleicht eine Notiz in der Berliner Stadtgeschichte erhalten. Um so fesselnder ist es, vom Ende und der Erfüllung der persönlichen Biographie her zu beobachten, wie sich in dieser Lebensgeschichte im Wandel der Jahre eines zum andern fügte, eine Erfahrung oder Erkenntnis die andere ergänzte und alles zusammen in erstaunlich gerader, sicherer Linie auf die Verfassung von 1919 hinzielte. Nicht als ob Hugo Preuß hätte wissen können, daß dies einmal der Höhepunkt seiner wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit sein werde - der Verfassungsentwurf war nur die Summe aus allem, aber gerade darin dann doch der vollendende Abschluß. In dieser Lebensgeschichte ist am deutlichsten die Wirkung zu erkennen, die die Lehre Otto Gierkes auf Hugo Preuß ausgeübt hat. Die Theorie der genossenschaftlichen Verbände, mit dem jener das Wesen von Gemeinde und Staat zu entschleiern versucht hatte, blieb für Hugo Preuß das Gerüst aller eigenen staatstheoretischen Studien. Aber er ging über Gierke hinaus, als er dessen gedankenreiche Assoziationstheorie zum rechtspolitischen Leitgedanken für das Verwaltungs- und Staatsrecht erhob und damit auf der einen Seite die moderne, rechtsstaatliche, repräsentative Demokratie zu konstruieren begann, und auf der anderen den durch die Stein'sehe Reform wiedererweckten Selbstverwaltungsgedanken gewaltig ausdehnte und mit neuer Energie erfüllte, indem er die gesamte innere Staatsverwaltung durch die Kette der genossenschaftlichen Gebietskörperschaften - Gemeinde, Kreis, Provinz und Staat - konsequent zu kommunalisieren suchte, nachdem er im Gedanken der Selbstbestimmung des Volkes die Wesenseinheit der kommunalen Selbstverwaltung und des modernen staatlichen Konstitutionalismus entdeckt hatte. Die hier vollzogene Reduzierung des bisherigen Staatsbegriffs, namentlich durch die Beseitigung des Souveränitätsprinzips, brach zugleich dem Gedanken überstaatlicher Rechtsorganisation eine Bahn. Es war unvermeidlich, daß Hugo Preuß, wie sein Lehrer Gierke, in offenen Gegensatz zu der herrschenden positivistischen Schule geriet. Recht erschloß sich ihm nie allein mit den Mitteln rein juristischer Begriffstechnik, sondern immer nur zugleich in historisch-politischer und sozialethischer Betrachtung. Der Einfluß der Lehre Rudolf von Gneists auf Hugo Preuß' Selbstverwaltungslehre wurde allerdings, wie gezeigt werden soll, bis vor kurzem beträchtlich überschätzt. Gneist selbst hatte einer durchgängigen Verwirklichung des Selbstverwaltungsprinzips in der gesamten inneren Verwaltung, wie Preuß sie forderte, durch seine, auf Hegel und Lorenz von Stein aufbauende Lehre über einen Gegensatz von Staat und Gesellschaft im Wege gestanden. Viel
Einleitung
stärker dagegen, als bisher angenommen wurde, haben englisches Denken und englische Rechtsinstitutionen Hugo Preuß beeindruckt; nie betrachtete er sie durch die Brille der Gneist'sehen Vorurteile gegen die Demokratie. Der entschieden demokratische Gedanke verband ihn früh mit der linksliberalen Gruppe um Heinrich Rickert (1833-1902), Ludwig Bamberger (1823-1899) und den Publizisten Theodor Barth. Aus diesem, aus dem Ideengut von 1848 lebenden Kreis, der sich 1880 im Kampf gegen Bismarck als „Secession" von den Nationalliberalen abgespalten und 1884 der Freisinnigen Partei angeschlossen hatte, wurden im letzten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts neue Anläufe zur Demokratisierung und Parlamentarisierung des deutschen Staates unternommen. Die taktische Wendung dieser Gruppe nach links, zur Sozialdemokratie, spiegelte sich auch in Hugo Preuß' politischem Denken. Diese „linke" Seite seines Denkens, seine sozialreformerische und „kommunalsozialistische" Haltung wurde bisher ebenfalls übersehen, weil sie sich fast nur in Hugo Preuß' kommunalpolitischer, bislang außer Acht gelassenen Tätigkeit äußerte. Gerade diese linke Einstellung brachte ihm aber das Vertrauen ein, das er als „Bürgerlicher" bei den aufgeschlossensten Sozialdemokraten genoß und ohne das er nie mit der Leitung der Verfassungsarbeiten betraut worden wäre. Erst das Vertrauen der Führung der Arbeiterschaft ermöglichte ihm die Verwirklichung des Wunschbildes der Achtundvierziger: des bürgerlichen deutschen Nationalstaates. Bismarck hatte das Reich zwar geeinigt, aber die moderne staatsbürgerliche Freiheit nicht zur Grundlage des Reiches gemacht. Hugo Preuß sicherte durch seine entschlossene Bereitschaft das kostbare Gut der nationalen Einheit im Schrecken des inneren Zusammenbruchs und wirkte an der sichtbarsten Stelle und mehr als irgend ein anderer einzelner Politiker an der Vollendung des deutschen Staates durch die politische Freiheit und Selbstbestimmung des Volkes mit. Das jahrzehntelange Warten Preuß', seine kritischen verwaltungs- und staatsrechtlichen Studien, seine publizistische Arbeit, selbst seine Ausgeschlossenheit von aller praktischen politischen Verantwortung, die er sich stets gewünscht hatte, die ständigen Zurücksetzungen in seiner akademischen Laufbahn, womit ihn das alte Regime zu bestrafen gesucht hatte, seine durch den Zusammenbruch der ganzen inneren Ordnung am Ende des Krieges überholten Pläne einer Modernisierung und Umgestaltung der monarchischen Verfassung des Reiches - alle diese vergeblichen Mühen und zahllosen Enttäuschungen erhielten am Ende durch die Berufung an die Spitze des Reichsamtes des Innern plötzlich noch einen Sinn. Alles Vorangegangene erwies sich als Vorbereitungszeit. Hugo Preuß hatte sie zu nützen verstanden. In der Stunde der notvollen Ratlosigkeit wußte er Rat, konnte er Führer sein auf einem Weg, den er in Gedanken schon oft gegangen und der ihm dabei längst vertraut geworden war. Er wußte die Antwort, ehe die Frage an ihn gerichtet wurde. Nur so ist verständlich, wie es gelingen konnte, in der unwahrscheinlich kurzen Zeit eines halben Jahres dem Reich ein neues politisches Grundgesetz zu geben und das rechtliche Fundament für seine Wiederaufrichtung zu legen. Dies war Hugo Preuß' bleibendes Verdienst.
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Einleitung
In dem Verfassungsentwurf erkennt man dann alle seine großen Gedanken wieder: Demokratie und genossenschaftlichen Rechtsstaat, Unitarismus und Selbstverwaltung, Liberalismus und sozialpolitischen Fortschritt, Parlamentarismus und internationale Organisation, den Nationalstaat - und zugleich dessen Relativierung. Mit Rücksicht darauf, daß die Vorgeschichte des Verfassungsentwurfs aktenmäßig noch wenig erhellt ist, vor allem aber wegen der überragenden Bedeutung des Verfassungsentwurfs für jede Preuß-Biographie erscheint das Bedürfnis nach einer verhältnismäßig breiteren Darstellung dieser Vorgänge unabweisbar. Dabei darf nicht achtlos an den Berührungspunkten Hugo Preuß' mit anderen bürgerlichen Reformern, besonders Max Weber, Friedrich Meinecke und Gerhard Anschütz vorübergegangen werden. In ihrem Kreis wurde das fundamentale Konstruktionsproblem einer deutschen Verfassung, das Verhältnis zwischen dem Reich und dem drei Fünftel seiner Bewohner umfassenden Preußen erörtert. Die preußische Hegemonie durfte nicht fortgesetzt werden. Aber wie? Das Problem glich der Quadratur des Zirkels. Hugo Preuß' Plan einer Aufteilung Preußens, nur eine von verschiedenen Lösungen, die er nacheinander versuchte, war einer der bemerkenswertesten Beiträge zu der Geschichte der preußischen Frage. Freilich, der Erfolg hierin blieb ihm ebenso versagt wie seinem weitgespannten Selbstverwaltungsprogramm. Aber über seinen Tod hinaus wirkten seine Gedanken weiter, vor allem durch den Einfluß auf den preußischen Staatsminister Bill Arnold Drews (18701938) und dessen Reformpläne für die preußische Verwaltung sowie auf die Bemühungen um die Reichs- und Verfassungsreform am Ende der zwanziger Jahre. Über Preuß' letzten Jahren lag eine erschütternde Tragik. Was er am Grabe seines Freundes Theodor Barth sagte, über ein Leben „reicher an Kämpfen als an Siegen", galt auch für ihn. Trotz allen Anstrengungen, die er ein Leben lang für die Verwirklichung des deutschen Verfassungsstaates unternommen hatte und die in der Weimarer Reichsverfassung einen Augenblick lang zum Ziel geführt zu haben schienen, mußte er ohnmächtig mitansehen, wie Verblendung, Torheit und böser Wille das eben vollendete Werk emsig zu untergraben begannen. Er erlebte nicht mehr die hoffnungsfroheren Tage von Locarno nach dem Elend des Jahres 1925 aber ein gütiges Geschick ersparte ihm auch, das Ende der Tragödie und die Aufrichtung einer Herrschaft in Deutschland zu sehen, die in allem das Gegenteil seines staatlichen Ideals darstellte. Sucht man nach einem Begriff, der Hugo Preuß' politische Gestalt am treffendsten beschriebe, so erscheint keiner unter den verschiedenen Archetypen des Politikers passender als der des Reformers. Er war nicht der große Parteiorganisator oder Redner, auch nicht der Typus des Verwaltungspraktikers oder Gesetzgebers oder des kompromißbereiten, diplomatischen Ausgleichers der Gegensätze, sondern der Mann der inneren Reformen - selbst wenn er dabei kaum zum Zuge kam. Hugo Preuß fühlte sich gern in einer Wahlverwandtschaft zum Freiherrn vom Stein, den er als sein politisches Vorbild verehrte. Eine gewisse Ähnlichkeit des Strebens ist in der Tat auffällig. Beide glaubten, der eine nach Jena, der andere am Ende des Weltkrieges, daß die Katastrophe des Staates kein Zufall, kein bloßer
Einleitung
Fehler der Regie gewesen war. Sie waren überzeugt, daß im gesamten System begründete, schwere politische Versäumnisse, eine historische Schuldhaftigkeit, den Zusammenbruch herbeigeführt hatten. Beide, Stein und Preuß, hatten frühzeitig die tönernen Füße des gewaltigen Erzbildes gesehen und die verborgenen inneren Schwächen des glanzvollen Staatsgebäudes durchschaut. Beide suchten nach einem solideren Unterbau. Der weit schauende, staatsmännische Gedanke einer politischen Erziehung des unpolitisch gebliebenen deutschen Volkes durch Selbstverwaltung und Selbstregierung vereinte so den im besten Sinne konservativen, reichsritterlichen Verwaltungsmann und den gewandteren großbürgerlichen Staatsrechtslehrer. Hugo Preuß war gewiß kein zweiter Stein; weder war ihm die für einen solchen Vergleich nötige längere Amtszeit vergönnt - wobei man fragen darf, ob dies eher an den Umständen oder an ihm selbst lag - noch fiel auf den demokratischen Reformer der Glanz eines Werkes, das seinen Schöpfer lange überdauerte. Der Schatten, der über der Weimarer Republik liegt, liegt auch über Hugo Preuß. Preuß' Tätigkeit in der verantwortlichen Führung blieb allzu knapp bemessen. Seine Partei ließ ihn an keine führende Stelle. Das gleiche Schicksal mußte Max Weber erfahren. Eigentlich kamen beide nicht viel über die Rolle von Gutachtern hinaus. Daß der Liberale Preuß überhaupt an die Spitze des Reichsamtes des Innern berufen wurde, war das Verdienst des Sozialdemokraten Eberl Ganz ähnlich erging es einem anderen bedeutenden Liberalen, Walther Rathenau, der ohne den Zentrumspolitiker Wirth nie in das Kabinett geholt worden wäre. Die modernen Massenparteien scheinen immer weniger fähig zu sein, außergewöhnliche politische Begabungen zu pflegen und nach vorn zu bringen. Für die Weimarer Republik war es überdies ein Unglück, daß sie aus der schmalen Elite befähigter Führer so rasch so viele verlor: Max Weber, Friedrich Naumann, Walther Rathenau, auch Erzberger und später Stresemann, Friedrich Ebert und Hugo Preuß. *
Hugo Preuß war am 28. Oktober 1860 als Sohn des Besitzers einer lithographischen Anstalt, Louis Preuß, geboren worden. Der Vater starb noch im selben Jahr, und die Witwe heiratete seinen Bruder Leopold Preuß, der ein gut gehendes Getreidegeschäft betrieb. Unter seiner Obhut wuchs Hugo Preuß als einziges Kind der Familie auf. Leopold Preuß legte großen Wert darauf, daß das Kind ihn als seinen Vater betrachtete, und so erfuhr Hugo Preuß erst sehr spät, nach seinem Studium, daß er seinen Stiefvater als Vater verehrt hatte1. Die beiden verband bis zu Leopold Preuß' Tod ein ausgezeichnetes Verhältnis. Wohl über ihn, der ein Mann von ausgesprochen liberalen Anschauungen war, fand Hugo Preuß die erste Berührung mit dem politischen Liberalismus. Aber alle Nachrichten über seine Kindheit und Jugend sind sehr spärlich. Nach dem Besuch des Sophien-Gymnasiums studierte er 1 Das ist die Ursache dafür, daß in einigen Nachschlagwerken Hugo Preuß als der Sohn Leopold Preuß' angegeben wird.
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Einleitung
vom Herbst 1879 an drei Semester in Berlin und drei Semester in Heidelberg Jura. Im Mai 1885 legte er beim Königlich-Preußischen Kammergericht sein erstes juristisches Staatsexamen ab, arbeitete als Referendar sechs Monate beim Amtsgericht Wittenberge, ein Jahr beim Landgericht und kurze Zeit auch an der Staatsanwaltschaft Berlin. Nach einem längeren Urlaub schied er zu Beginn des Jahres 1886 endgültig aus dem Justizdienst aus2. Wahrend des Studiums in Berlin hörte er wahrscheinlich noch bei Rudolf von Gneist. Otto Gierke hingegen lehrte damals noch an der Universität Breslau. Hugo Preuß kann ihn erst während der Arbeit an der Habilitationsschrift in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre persönlich kennengelernt haben. Durch Gierkes Schriften war er aber sicher schon längst ein Anhänger der Genossenschaftslehre geworden. Von der Heidelberger Zeit ist nur bekannt, daß er die Vorlesungen des Philosophen Kuno Fischer (1824-1907) sehr schätzte, der dort eine ungemein einflußreiche Stellung einnahm und eine glänzende akademische Tätigkeit entfaltete. Der Neu-Kantianismus verdankte ihm wichtige Anstöße. Es war unter den Studenten aller Fakultäten üblich, Kuno Fischer zu hören. Aber Hugo Preuß war kein philosophisch-spekulativer Kopf. Die Verehrung, die er dem berühmten Lehrer zeitlebens bewahrte, galt weniger der Lehre als der Persönlichkeit des gefeierten Mannes mit seiner Vorliebe für eine humanistisch-ästhetische Bildung, seiner von Eitelkeit nicht ganz freien Aufmerksamkeit für einen formvollendeten Stil, die ihn seine Vorlesungen geradezu zelebrieren ließ. Er war in allem der Typ des „professeur orateur" 3. Und wenn also Hugo Preuß die Welt vielmehr in der Weise des Historikers und des Juristen als des Philosophen zu betrachten neigte, so darf man doch vermuten, daß die schon auf dem Gymnasium angeregte Beschäftigung mit der Literatur der Antike und der deutschen Klassik, vor allem dem Drama, und die Sorgfalt, die Hugo Preuß auf einen gepflegten Stil verwandte, auch durch Kuno Fischer angeregt worden worden waren. Von einem guten Zeugnis pflegte Preuß nicht auf Intelligenz und Bildung zu schließen; so machte er sich das Doktorexamen so bequem wie möglich. Am 30. November 1885 promovierte er an der juristischen Fakultät Göttingen mit einer Dissertation über den „Evictionsregreß des in possessorio unterlegenen Käufers", einer Arbeit aus dem Pandektenrecht, die er später lächelnd als „wenig nutzvoll" bezeichnete und heute längst verschollen ist. Bei der Berufswahl schwankte er nicht lange. Zu einer kaufmännischen Tätigkeit und dem Umgang mit Geld empfand er keinerlei Neigung. „Politik als Beruf 4 war damals auch kein verlockendes 2 Diese Angaben sind vor allem Hugo Preuß' Lebenslauf bei den Akten zu seiner Habilitation in Berlin entnommen, jetzt in den Beständen des Deutschen Zentralarchivs II, (Ehemal. Preuß. Geh. Staatsarchiv), Merseburg, Rep. 76 (Preuß. Ministerium der geistl., Unterrichtsund Medicinalsachen), Abt. Va, Sekt.2, tit. IV, No. 49, vol. II („Die Privatdozenten in der Jurist. Fakultät Berlin"). 3 Wilhelm Windelband, Kuno Fischer, Heidelberg, 1907.
Einleitung
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Feld für einen Liberalen nach Gesinnung und Überzeugung. Nichts lag ihm dann näher als eine wissenschaftliche Laufbahn. Bald nach seiner Habilitation an der Juristischen Fakultät der Berliner Universität im Jahr 1889 heiratete er Else Liebermann, die Tochter des Geheimrats und Professors der Chemie Karl Liebermann und Verwandte des Malers Max Liebermann, und siedelte in das Haus ihrer Familie in der Mathäikirchstraße über, in dem er fast bis zum Ende seines Lebens wohnte und in dem auch seine drei Söhne geboren wurden. Den Sommer verbrachte die Familie stets in einem Landhaus am Wannsee. Die Muße dort draußen zog er jeder anderen Erholung vor; nur ungern ging er auf Reisen. Er liebte Gastfreundschaft und geselliges Leben in seinem Hause. Seine Freude an großen und schönen Häusern und dem damit verbundenen großzügigen Lebenszuschnitt bezeichnete seinen persönlichen Stil. Der zweite Weltkrieg ließ von dem Wohnviertel des wohlhabenden Berliner Bürgertums am Tiergarten nicht mehr viel übrig. Die großen Villen mit den schweren Fassaden aus den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts sind verschwunden. Das Haus an der Mathäikirchstraße, in dem Hugo Preuß wohnte, selbst das Grundstück ist seit der Einebnung der Ruinen nicht mehr zu erkennen. Hugo Preuß war ein echter Bürger dieser patrizischen Welt des Berliner Westens, einer gesellschaftlichen Schicht, in der Wohlstand, wenn nicht gar Reichtum, und eine urbane Bildung einen Geist unverkrampften, freien Selbstbewußtseins und einer unabhängigen, weltoffenen Gesinnung in persönlichen Dingen und öffentlichen Angelegenheiten erzeugt hatten. Diese stolze Unabhängigkeit erlaubte, je nach Lage die Sache der schwächeren, unterdrückten Partei oder die „splendid isolation" zu wählen, ohne zu Kompromissen mit den vorherrschenden Mächten des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens gezwungen zu sein. Hugo Preuß' Temperament wählte am liebsten das erste. So konnte er in der Berliner Stadtverordneten- Versammlung der uneigennützige Advokat der politisch organisierten Arbeiterschaft oder einer Minderheit wie der verschwindend kleinen Schar jüdischer Lehrerinnen werden - aber so blieb er auch der politisch unabhängige, ewige Privatdozent. Die individualistisch-autonome, beinahe außenseiterische Stellung dieses Berliner Großbürgertums, das als der gesetzte Widerspruch zu der Gesamtheit des Wilhelminismus erscheinen mußte, konnte sich bei Hugo Preuß in einer fast ungezügelten Spottlust äußern, die nichts zu fürchten und sich vor niemand zu ducken brauchte. Freilich vergriff er sich dabei auch einige Male, weil er nie gezwungen worden war, die Wirkung sorgfältiger abzuwägen. Um so sympathischer aber erschien derselbe Charakterzug wieder in seinen unbekümmerten Berliner „Schnoddrigkeiten", gewissen Respektlosigkeiten, die er auch im Umgang mit sich selbst liebte. Die Kriegsbriefe an einen seiner Söhne pflegte er mit „Dein Alter" zu unterschreiben. Hinter dem gänzlichen Mangel an Sentimentalität, dem Verzicht auf formelle Autorität, der saloppen Selbstironie und dem Humor des Berliners verstand sich eine im Grunde tief angelegte Humanität zu verbergen. Der äußere Ablauf dieses Lebens ist schnell nachgezeichnet. Der durch seine Tätigkeit als liberaler Stadtverordneter belastete Privatdozent für öffentliches 2*
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Einleitung
Recht an der Universität Berlin erhielt erst im Jahre 1906 eine Professur, an der neuen, privat gegründeten Berliner Handelshochschule, der er im letzten Kriegsjahre als Rektor vorstand, bis er nach der Revolution von Friedrich Ebert als Staatssekretär an die Spitze des Reichsamtes des Innern berufen wurde. Aber nach wenig mehr als einem halben Jahr, gerade lang genug, um die Arbeiten an der neuen Verfassung zu leiten, trat er mit dem Kabinett Scheidemann zurück, weil er die Verantwortung für die Unterzeichnung des Versailler Vertrages nicht mitübernehmen wollte. Nach der Verabschiedung der Reichsverfassung war er neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer bis zu seinem Tode am 9. Oktober 1925, kurz vor Vollendung des 65. Lebensjahres, Abgeordneter im preußischen Landtag.
Ι· Grundriß einer Staatslehre In den Jahren, die der Entscheidung zu einer wissenschaftlichen Laufbahn folgten, arbeitete der junge Preuß an seiner Habilitationsschrift über die Wesensgeleichheit der Gebietskörperschaften 1. Die Wahl der Universitätslaufbahn hieß für ihn aber nicht, sich mit einer Forschungsaufgabe ganz von der übrigen Welt abzulösen und damit zufrieden zu sein, solange niemand gewalttätig in die Einsiedelei wissenschaftlichen Spezialistentums einbrach. Von außen erhielt er vielmehr seine fruchtbarsten Anregungen, nach draußen, in seine politische Umwelt, richteten sich sein Denken und seine wissenschaftliche Tätigkeit. Er wollte diese Umwelt verändern, Einfluß auf sie ausüben, reformieren; in solchem Wollen gibt sich eine politisch gestimmte Natur zu erkennen. Auch in der akademischen Forschung und Lehre erkannte er eine politische Aufgabe. Dies verlieh seinen wissenschaftlichen Arbeiten denselben, unverkennbar aktuellen Zug wie seinen im engeren Sinne politischen Schriften und Aufsätzen. Je älter er wurde, um so mehr wuchsen auch seine Teilnahme an der öffentlichen Sache und seine Sorge um sie; mit steigendem Interesse beobachtete er die Grundströmungen des inneren politischen Lebens in Deutschland und suchte sie auf den Gebieten, wo er ein so ausgezeichneter Kenner wurde, dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht, mit seinen Mitteln zu lenken. Es war sehr bezeichnend, daß Hugo Preuß schon in seiner Habilitationsschrift die Aufgabe der staatsrechtlichen Theorie darin sah, an die realen Grundlagen der wirklichen Verhältnisse anzuknüpfen und durch ihre gedankliche Ausgestaltung der tatsächlichen vorzuarbeiten. Daß er von den Fragen der Staatswissenschaft zugleich in der persönlichsten Weise angesprochen wurde, verlieh seinen Schriften häufig einen leidenschaftlich bewegten Ton, eine zum Ende drängende Spannung, die sich nicht selten in energischer Polemik entlud. Der politische Zug seines wissenschaftlichen Werkes lag von der Mitte seines Lebens an ganz offen zutage; aber er war schon am Anfang, schon in der Habilitationsschrift, zu erkennen. Im Februar des Jahres 1889 habilitierte sich Hugo Preuß als Privatdozent an der juristischen Fakultät Berlin mit der Arbeit über „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften", die er noch im selben Jahre publizierte. Sie blieb zunächst ziemlich unbeachtet2. In diesem „Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie" enthüllen sich in überraschender Klarheit die Grundzüge von Preuß' Staatsdenken, die für die wissenschaftliche und poli1 2
Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, S. 295. In den namhaftten juristischen Zeitschriften findet sich keine Rezension des Buches.
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tische Arbeit eines ganzen, in allem geradlinigen Lebens gültig blieben. Wie kein anderes seiner Bücher ist gerade dieser wissenschaftliche Erstling geeignet, in die Grundbegriffe seiner staatsrechtlichen Theorie und in die Art und Weise einzuführen, in der Hugo Preuß zu argumentieren liebte. Preuß wies sich sogleich als ein Schüler Otto Gierkes aus, dem er die Schrift auch gewidmet hatte. Wie rasch sich die Wissenschaft, vor allem die positivistischen Gegner Gierkes, daran gewöhnten, Preuß in einem Atemzug mit der genossenschaftlichen Theorie zu nennen, zeigte bereits ein Jahr nach dem Erscheinen der Habilitationsarbeit das Wort Emil Linggs, man könne Gierke nun getrost beiseite legen und sich in Zukunft an Preuß halten3. Paul Laband, der hauptsächliche Gegner Gierkes und Preuß', äußerte sich bei der Beurteilung von Preuß' zweitem Buch über das „Städtische Amtsrecht in Preußen" ganz ähnlich4. Wenn sie aber damit meinten, Preuß mit Gierke identifizieren zu können, verkannten sie die Fortentwicklung der Lehre Gierkes durch Preuß und die Verschiedenheit ihrer Motive. Hugo Preuß wollte keinen Beitrag zur Rechtfertigung der konstitutionellen Monarchie in ihrer bestehenden Form leisten, wie dies Gierke tatsächlich, wenn auch ohne Absicht, tat. Hugo Preuß glaubte schon in seinem ersten Buch, Gierke Fehler nachweisen und ihm widersprechen zu müssen. Aber „nirgends mehr, als wo ich ihn bekämpfe, fühle ich mich als Gierkes Schüler", bekannte er 5. Trotz zahlreicher Ähnlichkeiten ihrer Lehre traf es zu, wenn Preuß meinte, er habe Gierke nicht die abschließende Lösung seiner eigenen Lehre zu danken.
1. Der Angriff auf die Souveränität Die zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion zur begrifflichen Erfassung des Bundesstaates, besonders die Theorien von Siegfried Brie, Robert v. Mohl, Carl Friedrich v. Gerber, Georg Meyer, auch Max v. Seydels glatte Leugnung eines über Staaten regierenden Staates, hatten den Referendar Preuß zu seiner Studie über die Gebietskörperschaften angeregt. Mit frappierender Sicherheit legte er mit den ersten Griffen die Stelle frei, über die sie gestolpert waren: den Souveränitätsbegriff. Erst nachdem er das störende Prinzip ganz aus dem Wege geräumt hatte, begann er von geebnetem Grund aus mit der theoretischen Konstruktion des deutschen Reiches. Es mußte nicht-souveräne Staaten geben, wenn die deutschen Gliedstaaten mehr als bloß autonome Provinzen und das Reich wirklich ein Bundesstaat sein sollten. Die herrschende Meinung hatte die Theorie der Waitz'sehen Schule einer zwischen Oberstaat und verschiedenen Unterstaaten geteilten Souveränität als logisch unhaltbar erkannt. Denn zum Begriff der Souveränität, wie 3 Emil Lingg, Empirische Untersuchungen zur allgemeinen Staatslehre, 1890, S. 38, Anm. 132. 4 Paul Laband nannte Preuß den bedeutendsten Verfechter der organischen Staatslehre neben Gierke (Archiv f. Öff. Recht, Bd. 18 (1903), S. 74. 5 Preuß, a. a. O., S. VII.
1. Der Angriff auf die Souveränität
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Bodin sie beschrieben hatte, gehörten ihre Einheit, Einzigartigkeit und Unabhängigkeit. Wenn es überhaupt Bundesstaaten gab, war es nötig, Staats- und Souveränitätsbegriff von einander zu trennen. Georg Liebe war mit seiner Lehre von den Hoheitsrechten Hugo Preuß darin ein Stück Weges vorausgegangen, als er die Souveränität für den Staatsbegriff nicht länger für wesentlich hielt, ohne indessen zu wagen, ganz auf ihn zu verzichten 6. Was aber hätten dann die nicht-souveränen Gliedstaaten eines Bundesstaates begrifflich den regionalen Selbstverwaltungskörpern eines Einheitsstaates voraus? Das Problem des Bundesstaates war damit noch nicht gelöst. Bei dieser einleitenden Auseinandersetzung mit den wichtigsten Lehrmeinungen legte Preuß eine glänzende Probe seiner kritischen Fähigkeiten ab. Prüfend und bohrend, mit allen Mitteln eines logisch geschulten, säuberlich denkenden Verstandes stellte er hier seine Gegenfragen und legte ohne langweilige Verstaubtheit und Umständlichkeit Fehler und Unschlüssigkeiten der bisherigen Versuche der Konstruktion des deutschen Bundesstaates frei. Und wo Gierke, Liebe und Georg Meyer aufgehört hatten und wieder umgekehrt waren, da bohrte Hugo Preuß nun mit rücksichtsloser, durchdringender Beharrlichkeit weiter. Einige Züge von Gierkes Genossenschaftstheorie traten nun einsichtig hervor, die der Meister zwar schon angelegt, aber selbst wieder verdeckt hatte. Dies galt namentlich wieder für den Souveränitätsbegriff. Hugo Preuß sah in diesem Begriff das Charakteristikum des absolutistischen Fürstenstaates. Weder der mittelalterliche Feudalstaat noch das römische Reich oder das orientalische Sultanat ließen sich begrifflich damit erfassen. Auch in einer neuen Phase der Entwicklung, bei der Konstruktion des modernen Verfassungsund Rechtsstaates, erschien die Souveränität als ein völlig heterogenes Begriffselement, an dem sich, wie Preuß in den einleitenden Kapiteln der Untersuchung gezeigt hatte, alle Versuche einer prinzipiellen Erfassung dieses modernen Staates „mit logischer Notwendigkeit" zerschlugen7. Der „souveräne" Staat des Absolutismus dagegen bedurfte dieses Prinzips. Seine Stellung als einziges Subjekt des öffentlichen Rechts glich ganz dem unantastbar-souveränen Rang des römischrechtlichen Individuums als einzigen ursprünglichen Subjekts des Privatrechts 8. Die Unterscheidung der römisch-rechtlichen und der deutsch-rechtlichen Person, jener als absoluter, unübertragbarer und unteilbarer Willensmacht, dieser aber als unlösbar gebunden in Rechten und Pflichten, ihr Wille teilbar und befähigt, Willenssplitter abzugeben und in der Vielheit anderer Willen die Einheit neuer deutsch-rechtliecher Persönlichkeiten zu bilden und zu höheren Gesamtpersonen über die Einzelperson zu erheben, samt der Möglichkeit ungleicher Rechtsfähigkeit, die zusammen mit der Übertragbarkeit des Willens erst jene vielfältigen Abstufungen des Freiheitsgrades und den Bau der umfassenden Lehenspyramide des 6
Georg Liebe, Staatsrechtliche Studien I, Leipzig, 1880. 7 Preuß, a. a. O., S. 93. s Preuß, a. a. O., S. 109.
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Reiches ermöglicht hatten9 - dies alles war ja die Grundlage für die Genossenschaftstheorie und Gierkes Rechtsstaatsgedanken gewesen. Aber trotz dieser gegenseitigen Gebundenheit der deutsch- rechtlichen Einzel- und Gesamtpersonen in der von unten nach oben aufsteigenden Kette der genossenschaftlichen Verbände hatte Gierke die Macht des obersten, des staatlichen Verbandes, die er durch keine höhere Macht beschränkt sah, zur Macht schlechthin und den Willen, der ihr entspricht, für „schlechthin allgemein" und „souverän" erklärt 10 . Jeder Kenner Gierkes weiß, wie leicht gerade eine solche Ansicht mit Gierkes eigenen Anschauungen widerlegt werden kann. Das tat Preuß auch prompt: auch die höchste Verbandsgewalt könne begrifflich nur relativ, eben nur Macht unter anderen Mächten, aber niemals die absolute, die Macht schlechthin sein. Preuß meinte, wenn man wie Gierke bestreite, daß das Individuum die absolute und einzige Person sei, wäre es konsequent, die Souveränität zu beseitigen11. Souveränität - und damit holte Preuß zum Hauptstoß aus - sei überhaupt kein Rechtsbegriff. Wenn das Wesen des Rechts in der Abgrenzung der Willensmacht der Persönlichkeiten bestehe, dann könne Macht im Rechtssinne eben nur eine durch andere Willenssphären beschränkte und umgrenzte Macht sein. „Eine absolute Macht, welche den mit ihr bekleideten Willen zum schlechthin allgemeinen, zum souveränen Willen macht, kann es im Gebiet des Rechts nicht geben ... Die Souveränität ist ... ein negativer Rechtsbegriff. Zugleich ein öffentliches Recht und seine Negation, den Souveränitätsbegriff, anzunehmen, ist eine logische Unmöglichkeit" 12 . Da aber der „Aufschwung und Ausbau des öffentlichen Rechts ... das charakteristische Kennzeichen für die Rechtsentwicklung unserer Zeit" sei, habe „ein Begriff, der diese Entwicklung negiert, der geschaffen wurde in einer Zeit, welche sich im Gegensatz zur heutigen durch den Mangel jeglichen öffentlichen Rechts charakterisiert 13, ... im modernen Recht keinen Raum mehr; er ist ein historischer Begriff. Die Eliminierung des Souveränitätsbegriffs aus der Dogmatik des Staatsrechts ist demgemäß nur ein kleiner Schritt vorwärts auf der von unserer Wissenschaft längst eingeschlagenen Bahn" 14 . Durch eine so radikale Forderung erübrigte sich für Preuß ein Eingehen auf die viel erörterte Unterscheidung zwischen Fürsten-, Volks- und Staatssouveränität. Wir werden uns bei den Weimarer Verfassungsverhandlungen an Preuß' tiefes Mißtrauen gegen den Souveränitätsbegriff, auch in der Gestalt der Volkssouveränität, zu erinnern haben. 9 Vgl. Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht II, Berlin, 1873, S. 29-37. 10 Gierke, Grundbegriffe des Staatsrechts (Zeitschrift für die gesamten Staats Wissenschaften, Bd. 30 (1874)) S. 304). n Preuß, a. a. O., S. 131 f. 12 Preuß, a. a. O., S. 133 f. 13 Darin lag ein für Gierke typischer Gedanke. Er und Preuß haben bei der Erörterung des absolutistischen Fürstenstaates häufig auf den privatrechtlichen Charakter seiner Rechtsbeziehungen, auf das Person-Sachen-Verhältnis hingewiesen: der absolutistische Fürstenstaat war das Geschöpf und die, Anstalt" des Monarchen, der außer- und oberhalb des Staates steht. 14 Preuß, a. a. O., S. 135.
2. Der genossenschaftliche Staat
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Warum aber legte Hugo Preuß so großen Wert auf die glatte Beseitigung des Souveränitätsbegriffs, daß er nahezu ein Drittel seines Buches, das doch von den Gebietskörperschaften handeln sollte, zur Erörterung dieser Frage verwandte? Rannte er nicht offene Türen ein, da er doch selbst gezeigt hatte, wie der Begriff bei Gierke, Rosin, Liebe, Georg Jellinek und anderen Staatsrechtslehrern nur noch formell beibehalten wurde und tatsächlich schon so ausgehöhlt war, daß er nicht mehr als ein essentiale des Staatsbegriffs gelten konnte? Gerade diese Bedeutungsumwandlung mußte Preuß für besonders verwirrend halten. Der in den vorangegangenen Jahrhunderten verhältnismäßig eindeutige Begriff hatte nun so zu schillern begonnen, daß jeder Autor etwas anderes damit meinen und ihn auf seine Weise definieren konnte. Aber auch nach der Entschärfung erwies sich die sprengende Kraft des Souveränitätsbegriffs noch stark genug, jede logisch schlüssige Bundesstaatstheorie wirksam zu verhindern. Selbst in ihrer verkrüppelten Form hörte die Souveränität nicht auf, ein Element des absolutistischen Obrigkeitsstaates zu sein und Geist von seinem Geiste in jede andere Staatskonstruktion zu tragen. Preuß wollte aber gerade den modernen Verfassungs- und Rechtsstaat fortentwickeln und jede Möglichkeit des Rückfalls in die „schlechte alte Zeit des absoluten Polizeistaates", wie er sich später ironisch ausdrückte 15, abschneiden. In dem Bemühen um eine streng rechtsstaatliche Theorie folgte er Otto Gierke; aber er war dabei gründlicher, konsequenter und logischer als der gedankenreichere Meister.
2. Der genossenschaftliche Staat Es kann uns hier nicht auf eine einigermaßen vollständige rechtsgeschichtliche oder rechtsphilosophische Analyse der Preuß'schen Staatstheorie ankommen, die in der juristischen Literatur übrigens noch fehlt. Aber wir müssen doch noch einige andere Grundgedanken kennen lernen, soweit sie jedenfalls von unmittelbarer politischer Bedeutung für das Lebenswerk von Hugo Preuß sind. Carl Schmitt sah, daß Preuß den Souveränitätsbegriff als ein Residuum des Obrigkeitsstaates nur hatte ablehnen können, weil er in der Theorie Gierkes mit den sich genossenschaftlich von unten nach oben aufbauenden Gemeinwesen eine Organisation fand, die das Herrschaftsmonopol des Staates nicht brauchte und daher ohne Souveränität auskam16. Das „genossenschaftliche Prinzip", das Gierke seit dem Erscheinen des ersten Bandes seines „Deutschen Genossenschaftsrechts" im Jahre 1868 in zahlreichen Veröffentlichungen darstellte, bestand darin, daß der Einzelne, „indem er von Hause aus sein Dasein zugleich als Einzelleben und als Gemeinleben führt und empfindet, seinen Willen aufzuspalten und dem Bereich des Fürsichseins der Einzelwillen ein Gebiet ihrer „Verbundenheit zum Gemeinwillen 15
Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, S. 156. 16 Carl Schmitt, Politische Theologie, München, 1922, S. 124 f.
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gegenüberzustellen vermag" 17 . Es war ganz im Sinne Gierkes, wenn Preuß überall dort eine Genossenschaft erkannte, wo zwischen einer Personenmehrheit ein rechtliches Band besteht, das sich nicht als ein rein individualrechtliches Obligationsverhältnis charakterisierte. „Das Kriterium der Genossenschaft ist der einem Personenverbände immanente Drang, aus Partikeln der Teilwillen einen Gesamtwillen zu organisieren" 18. Genossenschaftliche Verbände, im Unterschied zu individualrechtlichen „Gesellschaften", waren für Gierke Ehe, Familie, Dorf- und Markgenossenschaft, Stadt, Staat und Volk 19 . Wo aber jenes genossenschaftliche Prinzip eine eigene Verbandsperson als Träger des Gesamtwillens über die Einzelpersonen völlig herausgehoben hatte, sprach Preuß von einer Körperschaft, einer verdichteten Genossenschaft. In der Gesamtpersönlichkeit über den Gliedpersonen fand er das Merkmal der deutsch-rechtlichen Körperschaft 20. Dieser Korporationsvorgang hatte in der deutschen Geschichte zum ersten mal in den mittelalterlichen Städten stattgefunden 21; um dieses Fortschritts willen, der das Entstehen moderner Staatswesen22 und den Anfang eines öffentlichen Rechts in Deutschland bedeutete, bewahrten Gierke und Preuß den Städten stets eine überaus warme Sympathie. Es lag ganz im Wesen dieser Gesamtpersonen, daß sie wie alle deutsch-rechtlichen Personen sich wiederum mit anderen Gesamtpersonen zu einem neuen, weiteren Verband zusammenschlossen; darin sah Gierke die Ursache für eine von unten nach oben aufsteigende Bewegung, den Zusammenschluß immer umfassenderer Gesamtpersonen zu einer gewaltigen Kette von den Gemeinden an aufwärts bis zum höchsten Verband, dem Staat, und nach der Auffassung Hugo Preuß', sogleich darüber hinaus zur Völkerrechtsgemeinschaft. In ihr, der obersten Genossenschaft, sah Preuß „die Vollendung der Genossenschaftsidee" 23. Die deutsche Historische Rechtsschule, in deren Tradition Otto Gierke noch stand, hatte einst mit ihrem Angriff auf das Naturrecht zur nationalen Verengung des Rechtsgefühls in Deutschland und zur Abwertung des Völkerrechtsgedanken geführt. Hugo Preuß durchbrach hier, deutlich über Gierke hinausgehend, den Bannkreis des nationalen Rechts und fügte den nationalen Staat vorbehaltlos der internationalen Rechtsgenossenschaft als Glied ein. Der Verzicht auf die Souveränität kam einem solchen Schritt entgegen. Da nun die unsichtbare Gesamtperson als solche nicht handeln kann, beruft sie sichtbare Gliedpersonen zu ihren Organen. Jede Gliedperson kann so zur „Organ17 Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Recht-sprechung, Berlin, 1887, S. 24. Vgl. auch die Grundzüge seiner Personentheorie im Genossenschaftsrecht II, S. 29 ff. Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, S. 245. 19
Gierke, Genossenschaftsrecht II, S. 486. Preuß, a. a. O., S. 249: „Eine Körperschaft lag also vor, wenn die einer Gesamtheit immanente Einheit als Person erkannt und anerkannt war." 21 Vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht II, S. 825 ff. 22 Vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht II, S. 625 f. 23 Preuß, a. a. O., S. 256. 20
3. Rechtsstaat und Selbstverwaltung
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person" erhoben werden, wobei die übergeordnete Gesamtperson auch als „Organismus" angesehen werden kann. Vermöge der eigentümlichen Fähigkeiten der deutsch-rechtlichen Personen, sich in aufsteigender Kette zu gliedern, ist jede Person prinzipiell zugleich ein eigener Organismus und das Organ eines anderen Organismus, der nächsthöheren Gesamtperson. Das ist im wesentlichen der Inhalt der „organischen" Staatslehre Gierkes, die im engsten Zusammenhang mit dem Grundprinzip der Genossenschaftstheorie verstanden werden muß. Sie will nur das Verhältnis der Gemeinwesen untereinander und ihren Charakter als Gesamtpersonen durch die Analogie mit einem physischen Organismus verdeutlichen. Daß ein solcher erklärender Vergleich unumgänglich nötig war, läßt sich gewiß bestreiten. Hugo Preuß begab sich unnötigerweise in die Gefahr, wie Gierke mit dem Griff zu einer biologischen Metapher mißverstanden zu werden. Dessen Vergleich der menschlichen Verbände mit physischen Organismen 24 hatte eine Flut polemischer Auseinandersetzungen entfesselt, häufig nur wegen der erstaunlichsten Mißverständnisse, die zu erklären ein mühevolles und im Grunde auch fruchtloses Geschäft gewesen war. In diesem Streit stand Hugo Preuß seinem Lehrer von Anfang an mit seinem polemisch-publizistischen Talent bei.
3. Rechtsstaat und Selbstverwaltung Die rechtlichen und politischen Konsequenzen der Genossenschaftstheorie strahlten vor allem in zwei Richtungen: sie wandten sich gegen den ausschließlichen Herrschaftsanspruch eines Souveräns oder das Machtmonopol eines Staates, der sich souverän setzte, und mündeten andererseits in die große Selbstverwaltungsbewegung des 19. Jahrhunderts. In der Beförderung des Rechtsstaatsgedankens wirkten beide wiederum zusammen. Es war ja eine Vorbedingung für das Entstehen eines wahren öffentlichen Rechts, daß der absolutistisch-patrimoniale Territorialherr nicht länger über sein Territorium verfügte wie ein privater Eigentümer über Sachen. Die Anerkennung einer vom Herrscher unterschiedenen, besonderen Willenseinheit des Staates, einer Staatspersönlichkeit, war nötig, um überhaupt die Abgrenzung von Willenssphären, das heißt Recht, zu ermöglichen 25. Die Bedeutung der Genossenschaftstheorie lag dabei in der Aufklärung über die Beschaffenheit der Staatspersönlichkeit. Hier war bei der Durchforschung der geschichtlichen Entwicklung der Personenverbände auf die Existenz realer, wenn auch unsichtbarer Gesamtpersonen geschlossen worden. Der Rechtsstaatsgedanke brauchte sich nicht länger auf den unbeseelten „Homunkulus" der juristischen Person, wie Hugo Preuß spottete, auf ein der römisch-rechtlichen Person nacherfundenes Rechtssubjekt zu stützen, um Recht als Abgrenzung von Willenssphären zu ermöglichen. Aus der Entdeckung der 24
Gierke u. a., Das Wesen der menschlichen Verbände, Leipzig, 1902. 5 Vgl. Preuß, a. a. O., S. 213.
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I. Grundriß einer Staatslehre
Staatspersönlichkeit als einer genossenschaftlichen Gesamtperson folgte aber auch, daß die Rechtsbeziehungen in ihrem Innern, zwischen der Gesamtperson und den ihr eingeordneten Gliedpersonen durch Herrschaft und Subordination gekennzeichnet waren. Ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten entstanden also nicht erst durch individualrechtliche Verträge zwischen unabhängigen und gleichartigen Individuen 26 . Es war klar, daß in solcher Betrachtungsweise der Herrscher nicht länger als der Inhaber des Staates oder als der eine Partner eines individualrechtlichen Vertrages mit der Staatspersönlichkeit gelten konnte. Der Monarch war nur noch als dienendes Glied der staatlichen Gesamtperson denkbar, die durch ihn als eines ihrer Organe rechtlich beschränkte Herrschaft ausübte. Das Staatsoberhaupt konnte allenfalls noch oberstes Staatsorgan sein. Alle individualrechtlichen Befugnisse am Staat waren ausgeschlossen. Politisch bedeutete dies die konstitutionelle Monarchie. Die genossenschaftliche Anschauung mußte notwendig auch den ausschließlichen Herrschaftsanspruch des Staates bekämpfen. Denn die Eigenschaft, Gesamtperson zu sein und originäre Herrschaft über die Glieder ausüben zu dürfen, teilte die Staatspersönlichkeit, wie Gierke mit seiner These von der Wesensgleichheit der Personenverbände gezeigt hatte, mit allen anderen Verbänden, den Dorfgemeinden, Städten und weiteren Kommunalverbänden. Alle übten Herrschaft aus, nicht kraft eines vom Staate delegierten Rechts, sondern kraft eigenen Rechts, das im Zusammenschluß der Genossen begründet lag. Alle Gesamtpersonen standen aber auch in einem Herrschafts- und Subordinationsverhältnis untereinander, das gegenseitige Rechte und Pflichten begründete 27. Ihre Herrschaft war rechtlich, weil sie stets abgegrenzt war durch die Koexistenz anderer, selbständiger Willenseinheiten. Die Herrschaft des Staates konnte also gar nicht einzigartig und ausschließlich, das heißt souverän sein. Diese Gedanken brachten es mit sich, daß Hugo Preuß bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Staat und Recht den Staat nicht mehr für eine zweckbestimmte Schöpfung des Rechts, etwa eine Anstalt zur Verwirklichung des Rechts, jenen älteren Typus des Rechtsstaates bei Rotteck und Welcker, halten konnte, der immer nur vor dem Hintergrund der individualistischen Vertragstheorien und des Naturrechts vorstellbar gewesen war. Die umgekehrte Position, das Recht als Geschöpf des Staates, war noch weniger annehmbar. Die Frage nach dem Vorher und Nachher von Staat und Recht hielt Preuß überhaupt für verfehlt: „Wir sagen mit Gierke: ,Ιη Wirklichkeit sind Staat und Recht mit und durch einander entstanden und gewachsen. Der Mensch konnte nicht Mensch sein, ohne daß ein staatlicher Verband existierte und als Allgemeinheit über dem Individuum empfunden ward ... 4 Sobald zwei Menschen nebeneinander existieren," fuhr Preuß 26
Dies war einer der Hauptstreitpunkte Gierkes mit der Laband'schen Schule, die ja ebenfalls den Rechtsstaat zu stützen versuchte, freilich mit dem Mittel der römisch-rechtlichen juristischen Person. 27 Vgl. Preuß, a. a. O., S. 181 f.
3. Rechtsstaat und Selbstverwaltung
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fort, „ist die Notwendigkeit einer irgendwie gearteten Abgrenzung ihrer Willenssphären gegeneinander und damit die Idee des Rechts gegeben. Und sobald sich über den Einzelwesen das erste sie umfassende Gemeinwesen, d. h. die Familie, erhebt, ist die Idee des Staates gegeben"28. So fand Preuß von allem Anfang an neben der Existenz des Individuums auch die Existenz der Familie, die individualrechtlichen Beziehungen von Individuum zu Individuum und die sozialrechtlichen der Individuen zu ihrer organischen Einheit 29 . Die wahre Natur des Rechtsstaates erblickte er schließlich darin, „daß das Band, welches seine sämtlichen Teile, die ihm eingegliederten Einzel- und Gesamtpersonen, zu einer höheren organischen Einheit verbindet, ein Rechtsband ist. Der Staat erscheint als ein Zellengewebe, bestehend aus einfachen und zusammengesetzten Zellen in mannigfacher organischer Gliederung, und der Inhalt desselben ist nicht spezifisch rechtlicher Art, er enthält vielmehr die unerschöpfliche Fülle alles dessen, was dem Gemeinleben der Menschen überhaupt eignet. Aber die Struktur des Bindegewebes, welches diesen Inhalt umschließt und in tausendfacher Verästelung die Teilorganismen unter sich und mit dem Ganzen verbindet, ist rechtlicher Natur. Die Staatslehre, welche dies erkennt, ist die Rechtsstaatstheorie; ein Staat, welcher dies immanente Verhältnis zum positiven Ausdruck bringt, ist ein Rechtsstaat", sagte Preuß unter Berufung auf Gierke und Rudolf von Gneist 30 . Von da aus konnte Preuß sogleich eine Verfassungsgesetzgebung und eine Verfassungsrechtsprechung fordern. Er ging noch ein Stück weiter, als er meinte, aus der Einheit des Staates als einer aus der Vielheit der Individuen organisch zusammengesetzten Gesamtpersönlichkeit, aus seiner genossenschaftlichen Natur, lasse sich folgern, daß auch in der Staatsverfassung diese genossenschaftliche Natur durch eine Vertretung der zur Einheit organisierten Vielheit zum Ausdruck kommen, das heiße, daß die Verfassung des Rechtsstaates repräsentativ sein müsse. Indessen, gestand er, sei dies doch mehr ein dynamisches oder politisches als ein juristisches Postulat, eher ein naturale als ein essentiale der juristischen Erfassung des Rechtsstaates31. Eng mit dem genossenschaftlichen Rechtsstaatsgedanken hing sodann jene zweite Tendenz zusammen, die den Zug des Jahrhunderts zur Erweiterung der kommunalen Selbstverwaltung ausmachte. Aus der Wesengleichheit der Verbände hatten Gierke und Preuß deduzieren können, daß alle Gesamtpersonen Subjekte des öffentlichen Rechts waren. Die engeren Gemeinwesen waren also keine Staatsanstalten für die Lokalverwaltung, keine Objekte des Rechtssubjektes Staat. Wenn dem Staat aber ein ursprüngliches Herrschaftsrecht über seine Glieder zukam, er selbst aber auch nur ein Glied in der langen Kette wesensgleicher selbständiger 28 Preuß, a. a. O., S. 205. 29 Preuß, a. a. O., S. 208 f. 30 Preuß, a. a. O., S. 214. 31 Preuß, a. a. O., S. 217.
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I. Grundriß einer Staatslehre
Gesamtpersonen war, ergab sich, „daß im Rechtsstaat die Eigenschaft als Selbstverwaltungskörper dem Staat gemeinsam ist mit allen ihm eingegliederten Gesamtpersonen"32. Von da aus konnte Hugo Preuß Rudolf von Gneists These über die „obrigkeitliche Selbstverwaltung", also eine Verwaltung nur im Namen des Staates, bekämpfen 33 und den in Deutschland heimischen Dualismus zwischen Staatsverwaltung und Selbstverwaltung in der Einheit der genossenschaftlichen Idee überwinden. Das Selbstverwaltungsrecht war ein ursprüngliches Recht der Gemeinden, das der Staat nicht nach eigenem Ermessen gewähren oder wieder entziehen konnte. Durch die Rechtfertigung der Autonomie und Selbstverwaltung der engeren Gemeinwesen suchte Hugo Preuß von unten her den noch immer fortbestehenden alten Obrigkeitsstaat in den genossenschaftlichen Rechtsstaat umzuwandeln, ein Ziel, dem gleichzeitig die verschiedenen Bundesstaatstheorien von oben her durch die Zerstückelung des Souveränitätsbegriffs vorgearbeitet hatten. Gierke schloß sich freilich dem radikalen Streben seines Schülers nicht an. Er glaubte stets, daß das Bismarck'sche Reich im großen und ganzen bereits das Ideal des genossenschaftlichen Staates an Stelle des alten, absolutistischen Obrigkeitsstaates verwirkliche.
4. Das anstaltliche Element Das Gegenteil des genossenschaftlichen Prinzips erblickte Gierke im „anstaltlichen" Prinzip. Was bedeutet es? Preuß fand es mit Gierke am eindeutigsten in der Verfassung der katholischen Kirche. Die kirchliche Einheit beruht nicht auf dem Zusammenschluß der Gläubigen, sondern in der Person ihres göttlichen Stifters. Nach kanonischer Auffassung hat sie sich überhaupt nicht entwickelt, sondern ist eine gestiftete „Anstalt". Ihr Oberhaupt ist nicht Organ der Gesamtheit, sondern Stellvertreter des Stifters. Provinzen, Diözesen und Gemeinden wurden ebenfalls von oben her gestiftet, ihre Häupter sind ebenfalls keine Organe, sondern Vertreter und Diener der Obern. Das sich auf göttliche Einsetzung berufende absolutistische Fürstentum glich durchaus dem Papsttum, und der „souveräne" Obrigkeitsstaat als Staatsanstalt entsprach der Institution der Kirche als Heilsanstalt34. Die Darstellung des Kampfes des genossenschaftlichen und des anstaltlichen Prinzips in der deutschen Verfassungsgeschichte war eine der eindrucksvollsten Partien des Gierke'schen Hauptwerkes. Obwohl Gierke bei der Betrachtung des Kampfes den tiefen Gegensatz des obrigkeitlich-anstaltlichen und des genossen32 Preuß, a. a. O., S. 223 f. 33 Damit meinte Gneist die hauptsächlichsten Funktionen der lokalen Selbstverwaltung; sie galten als vom Staat auf die Kommunalverbände delegiert. Nur die sogenannte „wirtschaftliche" Selbstverwaltung, die Gneist von den hoheitlichen Verwaltungsaufgaben zu trennen suchte, gestand er den Gemeinden als originäres Recht zu. Auf Preuß' Widerspruch zu dieser Auffassung wird im folgenden Kapitel noch näher eingegangen werden. 34 Gierke, Genossenschaftsrecht III, Berlin, 1881, S. 799.
4. Das anstaltliche Element
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schaftlich-korporativen Elements erkannt hatte 35 , kam er bei der Schilderung der konstitutionellen Bewegung im 19. Jahrhundert zu der eigentümlichen Ansicht, der moderne Staat, womit er den preußisch-deutschen meinte, versöhne endlich den alten Gegensatz, indem er die genossenschaftliche Grundlage, die Staatsbürgergenossenschaft, und die obrigkeitliche Spitze, die Monarchie, nicht als bloße Summe, sondern „organisch" zu einer neuen, lebendigen Einheit verbinde 36. Gierke versäumte dabei den Nachweis, daß es sich wirklich um eine Synthese und nicht nur eine zeitweilige Summe der beiden Elemente unter dem Zwang der historischen Verhältnisse handele; gänzlich verkannte er den provisorischen Charakter der Bismark'schen Reichsverfassung, die sich „nur als ein System umgangener Entscheidungen begreifen läßt" 37 . Die unbefriedigende Verbindung des korporativen und des anstaltlichen Elements, die den von Gierke selbst herausgearbeiteten Organcharakter des Monarchen nur wieder verwirren mußte, war den kritischen Augen des jungen Preuß nicht entgangen. Stillschweigend wich er in seiner Habilitationsschrift von der Ansicht seines Lehrers ab 38 . Er stimmte Gierke darin zu, daß das Wesen der Körperschaft zuließ, auch nicht- genossenschaftliche Elemente „organisch" aufzunehmen. Das anstaltlich-obrigkeitliche oder auch „herrschaftliche" Element bestand nun, wie das Beispiel der kirchlichen Hierarchie und des absolutistischen Fürstenstaates gezeigt hatte, gerade darin, daß Personen einem fremden, „transzendenten" Willen unterworfen waren, der von oben und außen auf ihren Willen einwirken konnte. Preuß machte freilich auf das im Innern jeder Körperschaft ohnehin vorhandene anstaltliche Element aufmerksam: Indem jede Person der nächsthöheren Gesamtperson zu einem rechtlich bestimmten Teil als Glied unterworfen war, erschien der Wille der höheren Gesamtperson der Gliedperson als „anstaltliches Element", in dem Maße, wie sie dieser Herrschaft unterworfen, war 39 . Aber nicht Reste der alten Obrigkeit, die „monarchische Spitze" Gierkes, bildeten das anstaltliche Element in einem korporativen Gemeinwesen, sondern die Fähigkeit der Gesamt35 Gierke meinte, abgesehen vom Staat als der obersten Assoziation, müsse prinzipiell „an dem geschichtlichen Gegensatz der Körperschaft und der Anstalt festgehalten werden", Genossenschaftsrecht II. S. 974. 36 Gierke, Genossenschaftsrecht I, S. 833. Vgl. ferner Gierkes Kaisergeburtstagrede von 1909 über „Die Steinsche Städteordnung" („Akademische Reden und Abhandlungen"). Er sagt dort (S. 33), nun sei der anstaltliche Staat der absolutistischen Zeit in den genossenschaftlichen Staat der Gegenwart übergeführt. 37 Carl Schmitt, Hugo Preuß, Tübingen, 1930, S. 7. Diese knappe Monographie war aus einer Rede entstanden, die Carl Schmitt am 18. Januar 1930 in der Berliner Handelshochschule, auf dem Lehrstuhl von Hugo Preuß, gehalten hatte und die den liberalen Staatslehrer und Politiker Preuß ungewöhnlich wohlwollend beurteilte. 38 Auf diesen Unterschied zwischen Preuß und Gierke hat Reinhard Höhn, der die beiden „bürgerlichen" Rechtsdenker vom Standpunkt des Nationalsozialismus ablehnte, zum ersten Mal aufmerksam gemacht (Höhn, Otto von Gierke und unsere Zeit, Hamburg, Hanseatische Verlagsanstalt, 1936, S. 120). 3 9 Preuß, a.a.O.,S. 249 ff.
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I. Grundriß einer Staatslehre
person, zugleich ein eigener Organismus und Glied eines höheren Organismus sein zu können. In ihrem Wesen als Organismus fand das genossenschaftliche, in der Organschaft das anstaltliche Element seinen Ausdruck. Der Monarch konnte demnach nicht, wie bei Gierke, aus eigenem Recht dem Gemeinwesen anstaltliche Elemente einfügen. Preuß wollte ausschließen, daß der Verfassungsstaat in irgend eine Form monarchischer Selbstherrlichkeit zurückfallen könne. Das „persönliche Regiment" erschien als Widerspruch zum genossenschaftlichen Geist des modernen Staatswesens. Das anstaltliche Verhältnis zwischen den politischen Gemeinwesen galt nur für das Verhältnis der einen Gesamtperson zu der nächstniederen, nicht zu einer dritten, zu der sie in keinem direkten, gliedschaftlich-organischen Verhältnis stand40. Auf diese Beziehungen, so zeigten spätere Untersuchungen, gründete Preuß seine Grundsätze für die Verwaltung von Staat und Gemeinden und das staatliche Aufsichts- und Bestätigungsrecht des Staates gegenüber den kommunalen Selbstverwaltungskörpern. Darüber haben wir das Bundesstaatsproblem, den Anlaß der Untersuchung, etwas aus den Augen verloren. Das gemeinsame Kennzeichen, das Gemeinde, Staat und Reich von allen anderen Personenverbänden unterscheidet, fand der junge Staatsrechtler mit Gierke in einem besonderen Substrat, dem Gebiet, das diese Körperschaften als einen organischen Bestandteil in sich aufgenommen hatten41. Nach der kritischen Prüfung aller von der Staatslehre behaupteten Unterschiede zwischen den kommunalen Selbstverwaltungskörpern auf der einen Seite und Staat und Reich auf der anderen, die allesamt versagten und nur immer wieder die begriffliche Wesensgleichheit der Gebietskörperschaften zu erweisen schienen, ließ Hugo Preuß ein einziges Unterscheidungsmerkmal übrig, das das richtige sein mußte: die Gebietshoheit. Die Einzelstaaten und das Reich waren Gebietskörperschaften mit Gebietshoheit, die kommuanalen Verbände und autonomen Provinzen Gebietskörperschaften ohne Gebietshoheit42. Mit der Gebietshoheit an Stelle der alten Souveränität gelang ihm auf den letzten Seiten des Buches, geschickt das Tempo der Darstellung steigernd, eine schlüssige „deutsche Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie". Den Ausbau seiner Lehre in den beiden folgenden Jahrzehnten seiner wissenschaftlichen Laufbahn wollen wir an einzelnen, wiederum besonders politischen Zügen weiter beobachten. Deutlich war indessen schon geworden, wie der junge Staatstheoretiker sich die Umrisse des modernen deutschen Staatswesens dachte: als eine von den Gemeinden über Kreise und Provinzen aufsteigende Pyramide zahlreicher, immer umfassenderer, aber wesensgleicher Gebietskörperschaften mit dem gleichen ursprüng40 Preuß, a. a. O., S. 251 ff. 41 Vgl. Preuß, a. a. O., 10. Kapitel. 42
Preuß, a. a. O., S. 406. Diese Gedankengänge hat Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920, einer gründlichen Kritik unterzogen. Vgl. bes. §§ 18 und 19, S. 70 ff.
4. Das anstaltliche Element
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liehen und unveräußerlichen Selbstverwaltungsrecht wie die Einzelstaaten und das Reich. Der höchste staatliche Verband, das Reich, selbst wieder eingegliedert in die größere Völkerrechtsgemeinschaft, sollte als repräsentative Demokratie mit einem streng auf seine organschaftliche Stellung beschränktem Oberhaupt konstruiert werden, wobei Hugo Preuß sorgfältig eine Rechtfertigung der tatsächlichen staatlichen Verfassung Deutschlands vermied. Als Bundesstaat ruhte das Reich auf einer Reihe von Gliedstaaten, deren staatlicher Charakter nur noch an einem einzigen Kennzeichen, der Gebietshoheit, hing, ohne die sie nicht mehr von autonomen Provinzen eines dezentralisierten Einheitsstaates zu unterscheiden wären. Der Eifer für die Beseitigung des Souveränitätsbegriffs und eine durchgängige Verwirklichung des genossenschaftlichen Organisationsprinzips offenbarten den lebendigen rechtsstaatlichen Antrieb des jungen Gelehrten.
3 Gillessen
II. Ausbau der Selbstverwaltungslehre Mit auffallender Geradlinigkeit hielt Hugo Preuß an den in seiner Habilitationsschrift niedergelegten politischen und wissenschaftlichen Grundauffassungen fest. In den folgenden Jahren verwandte er eine ganze Reihe fachjuristischer Publikationen dazu, Gierke gegen Angriffe und Mißverständnisse beizustehen, Teilfragen zu klären und ihre Hauptsätze über Genossenschaft und Anstalt, Organ und Organismus, die deutsch-rechtliche Gesamtperson und die Wesensgleichheit der menschlichen Verbände zu entwickeln und zu erklären 1. Von Mal zu Mal offenkundiger bemühte er sich, ihren von Gierke teilweise selbst verleugneten Kern, die latent enthaltene Demokratie, freizulegen. Ohne seine politische Absicht zu verbergen, bezeichnete er die Verfassung der englischen Demokratie als das Muster genossenschaftlicher Organisation2. Das englische Vorbild rühmte Preuß besonders in dem Aufsatz, den er für die Festgabe für Paul Laband im Jahre 1908 schrieb. Dort zeigte er erneut, allein schon durch die Umkehrung der Überschrift „Souveränität, Staat, Gemeinde, Selbstverwaltung", die Heinrich Rosin für einen berühmten Aufsatz der achtziger Jahre gewählt hatte, wie sehr er mit Gierke übereinstimmte und wie wenig mit Paul Laband, dem zu Ehren er diesen Aufsatz schrieb. Aus Labands Lehre von der ausschließlichen Zwangsgewalt des Staates vernahm er nur immer wieder die individualistische Anschauung des Positivismus und den Anspruch einer a priori gesetzten obrigkeitlichen Souveränität3. Preuß' demokratischer Einstellung stand das Institut der Monarchie keineswegs grundsätzlich im Wege. Für Genossenschaftstheorie war es ziemlich gleichgültig, ob das Staatsoberhaupt durch Geburt oder Wahl bestellt wurde - sofern es nur ein echtes Glied und Organ des Staates war. Darauf allein kam es an. Die englische Verfassung bot auch dafür das Beispiel. Der demokratische Radikalismus Preuß' 1 Vgl. Preuß u. a., Stellvertretung oder Organschaft? (Iherings Jahrbücher, 2. Folge, 8. Band (1902), S. 429 ff.); Über Organpersönlichkeit (Schmollers Jahrbuch, 26. Jahrg. (1902), S. 557 ff.); Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität (Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband II, Tübingen, 1903, S. 199 ff.) und: Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform (Festgabe der Berliner jur. Fakultät für Otto Gierke, Breslau, 1910, S. 247 f.). 2 Preuß, in der Festgabe für Paul Laband II, S. 206. 3 Carl Schmitt, (in seiner Schrift über Hugo Preuß, S. 4) ist der Ansicht, in Preuß hätten sich die drei maßgebenden Richtungen des deutschen Staatsrechts, Gneist, Gierke und Laband verbunden. Für Laband kann dies nur gelten, wenn man in einer sehr tiefen und ein Leben lang dauernden Kontroverse eine Verbindung sehen will. Gierke und Preuß haben sich mit niemand schärfer und entschiedener auseinandergesetzt als mit Laband und seiner rein »juristischen" Methode.
1. Das Recht der Selbstverwaltungskörper
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zielte auf etwas Wesentlicheres als die republikanische Staatsform: den „inneren Ausbau der Verfassung", wie er mit einem Wort Gneists sagte. Damit meinte er die Umwandlung des Obrigkeitsstaates von unten und innen her, im Sinne einer konsequenten Durchsetzung des Selbstverwaltungsprinzips in der gesamten Verwaltung4. Durch Umformung der staatlichen Bureaukratie sollte der Staat auf stille Weise, innerhalb der formellen Staatsverfassung, demokratisiert werden. Dieses Bemühen lief in der gleichen Richtung, die die deutschen Liberalen 1849 vorläufig eingeschlagen hatten, als der gewaltsame Versuch der Demokratisierung durch eine revolutionäre Verfassungsgesetzgebung gescheitert war, Fortschritte der freiheitlichen Bewegung aber wenigstens in der kommunalen Verwaltung erhofft werden konnten. Es kam Hugo Preuß dabei darauf an, den Selbstverwaltungsgedanken zum einzigen Organisationsprinzip der Verwaltung zu erheben und den auf dem Weg zwischen Absolutismus und Demokratie steckengebliebenen preußisch-deutschen Staat durch die konsequente Verwirklichung der Selbstverwaltung im Innern doch noch an sein Ziel, den modernen Verfassungsstaat, zu führen. Mit dieser politischen Absicht wandte sich Preuß dem kommunalen Verwaltungsrecht und der Suche nach brauchbaren Organisationsprinzipien für eine fruchtbare Verwaltungsreform zu, während der viel weniger politisch interessierte Gierke sich wieder mehr privatrechtlichen Studien zuwandte, von denen er ursprünglich ausgegangen war. 1. Das Recht der Selbstverwaltungskörper Als Ergebnis seiner Untersuchungen brachte Hugo Preuß im Jahre 1902 sein zweites Buch, „Das städtische Amtsrecht in Preußen", heraus. Ein Kapitel über das Bestätigungsrecht war zuvor schon in Hans Delbrücks „Preußischen Jahrbüchern" abgedruckt worden 5; selbst Delbrück gingen die Forderungen Preuß' zu weit. Das preußische Königtum, so meinte er, werde sich nimmermehr darauf einlassen können, die leitenden Gemeindebeamten, wie Preuß dies verlangte, allein nach gesetzlichen Normen, nicht länger nach freiem Ermessen, zu bestätigen und die letzte Entscheidung einem Gericht zu übergeben. Im Konfliktsfalle dürfe nicht die Kommune, sondern müsse „der Staat, d. i. der König", siegen6. Das neue Buch des Berliner Dozenten fand in den juristischen Zeitschriften ein viel vernehmlicheres Echo als seinerzeit die Theorie der Gebietskörperschaften. Paul Laband griff Hugo Preuß zwar energisch an, besonders seine Auffassung des Beamtenverhältnisses, meinte aber trotzdem anerkennend, es wäre um die staatsrechtliche Wissenschaft gut bestellt, wenn es recht viele solcher Monographien 4 Preuß nannte diesen Vorgang „Munizipalisierung" des Staates; vgl. seine Einleitung des »Städtischen Amtsrechts in Preußen". 5 Preußische Jahrbücher, Bd. 107 (1902), Heft 2. 6 Hans Delbrück, a. a. O., S. 297. 3*
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II. Ausbau der Selbstverwaltungslehre
gäbe7. Preuß war mit diesem Buch die Ableitung von Grundsätzen für die Organisation der Selbstverwaltung der Gemeinden aus der Genossenschaftstheorie gelungen. Seine Untersuchungen gaben namentlich der Regelung des staatlichen Aufsichtsrechts über die Gemeinden in der Praxis später noch eine entscheidende Wendung8. Hugo Preuß wies sich mit diesem Buch als ein vorzüglicher Kenner des preußischen Stadtrechts und seiner Geschichte aus9. Vor all den zahlreichen für die Verwaltungspraxis erörterten Detailfragen ging es ihm um eine genaue Charakterisierung der Organverhältnisse. Der absolutistische Staat hatte die Beamten nur alsDiener des Monarchen gekannt, nicht aber ein unmittelbares, öffentlich-rechtliches Verhältnis zwischen dem Beamten und dem Gemeinwesen als solchem. Wenn die Beamten als „Werkzeug und Gehilfen" des Monarchen so handeln mußten, wie ihr Dienstherr gehandelt hätte, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, erschien Hugo Preuß die Rechtlosigkeit der Beamten - abgesehen von rein individualrechtlichen Ansprüchen auf Gehalt und Pension - als ein unabweisbares Postulat10. Ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis war nur auf andere Weise zu gewinnen: wenn nämlich der Beamte nicht länger bloß „Werkzeug" blieb, sondern als Organpersönlichkeit anerkannt wurde. Den bewußten Bruch mit dem Verwaltungssystem des absolutistischen Fürsten- und Polizeistaates sah Hugo Preuß in dem Werk des Freiherrn vom Stein, namentlich in der Wiederherstellung der Gemeinden als eigener Organismen, als Personen des öffentlichen Rechts im Gegensatz zu unselbständigen Verwaltungsbezirken des absolutistischen Staates11. Ihre Beamten, ob Vorgesetzte oder Untergebene, wurden dadurch Glieder und Organe dieses Organismus; sie waren im Prinzip nicht länger durch den Individual willen eines Dienstherrn, des Monarchen gegenüber ihrer Gemeinde „mediatisiert" 12 . Die rechtliche Sicherung der Unabhängigkeit des Beamten in seiner Amtsstellung setzte also seine Anerkennung als unmittelbares Organ eines selbständigen Gemeinwesens überhaupt voraus. Die Unmittelbarkeit der Organe gegenüber ihrem Organismus ergab sich so als Grundlage jeder wahren Selbstverwaltung. Diese Forderung entsprach dem genossenschaftlichen Prinzip, das von unten nach oben aufbauend, immer umfassendere, beschränkt selbständige Gesamtpersonen bildet, unter denen die engsten und untersten die ältesten und ursprünglichsten sind, die 7 Archiv f. Öff. Recht, Bd. 18 (1903), S. 73 ff. 8
Vgl. Reinhard Höhn, Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit, 1936, S. 114 f. Franz Steinbach hat indessen in seinen „Geschichtlichen Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung" (Bonn, 1932, Rheinisches Archiv, 20) Einzelheiten der Preuß'schen Darstellung ziemlich abgeschwächt. Namentlich zeigte er, daß Preuß' Behauptung (Amtsrecht, S. 33 f.), der fürstliche Absolutismus habe die Gemeinden zu staatlichen Verwaltungsbezirken und bloßen Subjekten des Privatrechts herabgesetzt, jedenfalls nicht für die westelbischen Besitzungen Preußens zutreffe (S. 75 ff.). 10 Preuß, a. a.O.,S.54ff. 9
h Preuß, a. a. O., S. 39. 12 Preuß, a. a. O., S. 44.
1. Das Recht der Selbstverwaltungskörper
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sich darum ihre Organe notwendigerweise selbst schaffen und denen sie deshalb auch allein gehören mußten. Das Prinzip der Unmittelbarkeit der Organe gegenüber ihrem Organismus ermöglichte Preuß eine Klärung des Verhältnisses zwischen den Staatsbehörden und den Gemeindebeamten. Ein direktes Subordinationsverhältnis zwischen den Gemeindebeamten und der staatlichen Verwaltung war ausgeschlossen. Die Gemeindeorgane konnten nur im Namen der Gemeinde handeln, nicht für eine andere Gesamtperson. Aber die Gemeinde ist nach der organischen Anschauung auch Glied und Organ einer höheren, ebenfalls sich selbstverwaltenden Gesamtperson, des Kreises, dieser dann Organ der Provinz und diese Organ des Staates. Indem also die Gemeinden staatliche Aufträge durch die Gemeindeorgane ausführen, dienen ihre Beamten zwar mittelbar einem Staatszweck, aber erhalten alle ihre Aufträge nur von ihrem eigenen Organismus, der Gemeinde, nicht aber direkt von den Beamten eines höheren Verbandes über der Gemeinde, als ob sie deren Untergebene wären. „Die Funktionen, die sie ausüben, sind samt und sonders Funktionen ihres Organismus, der Gemeinde, nicht des Staates, der im Prinzip nur durch die Vermittlung des kommunalen Organismus die kommunalen Organe in Tätigkeit setzen kann" 13 . Der entscheidende Zug eines solchen Verwaltungssystems besteht darin, daß es in seinem Innern keine direkte, durchlaufende Beamtenhierarchie von den Zentralbehörden des Staates abwärts bis in die kleinsten Gemeinden hinein gibt. Nur die Pyramide der Gebietskörperschaften als solchen stellt die Verbindung her; ihre Organe gehören immer nur unmittelbar den einzelnen Verbänden. Damit wird eine mehrgeschossige Gliederung des gesamten öffentlichen Verwaltungsbaus erreicht, die den einzelnen Organen immer nur eine genau beschränkte, aber auch rechtlich gesichelte Amtsbefugnis innerhalb ihres Verbandes gewährt. Diese horizontale Gliederung der Verwaltung in den Händen einer Mehrzahl von beschränkt autonomen Gebietskörperschaften ist aber nichts anderes als ein Korrelat jener berühmteren vertikalen Scheidung legislativer, exekutiver und rechtsprechender Staatsfunktionen, die das Kernstück der Doktrin Montesquieus über die englische Verfassung ausmachen. Die Anerkennung einer Mehrzahl von Selbstverwaltungskörpern mit voneinander unabhängigen Verwaltungsorganisationen an Stelle einer einzigen staatlichen Bureaukratie bis in die Lokalverwaltung offenbarte sich als ein Ausdruck des demokratischen Verfassungsstaates in der gleichen Art und Weise wie die Trennung von Justiz und Verwaltung. „Organisatorische Differenzierung ist eben in beiden Fällen das technische Mittel, wodurch das formengestaltende Recht die politische Idee einer Selbsttätigkeit des mündigen Volkes in Verfassung und Verwaltung plastisch realisiert.. ." 1 4 . Demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungsformen und Selbstverwaltung hingen so unmittelbar zusammen. Dem Konstitutionalismus des nationalen Verbandes ent13 Preuß, a. a. O., S. 120. 14 Preuß, a. a. O., S. 124.
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II. Ausbau der Selbstverwaltungslehre
sprach die Selbstverwaltung der engeren Verbände. In beiden äußerte sich dieselbe organisatorische Rechtsidee: die genossenschaftliche Organisation von unten herauf im Gegensatz zur anstaltlichen Organisation von oben herab. Inhaltlich lebte in beiden dieselbe politische Idee der „Selbstbestimmung eines mündigen Volkes im Gegensatz zur Bevormundung einer willenlosen Untertanenschaft durch eine absolute Obrigkeit" 15 . Mit der Entdeckung einer Wesensidentität von Konstitutionalismus und der kommunalen Selbstverwaltung des englischen Typus, den beiden Hauptforderungen des politischen Liberalismus im 19. Jahrhundert, hatte Preuß eine Weg zur Überwindung des in Deutschland klassisch gewordenen Dualismus zwischen staatlicher und kommunaler Verwaltung gefunden. Lorenz von Stein hatte ihn als Ausdruck des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft wissenschaftlich gerechtfertigt. Als Vorstellung lag er auch der Forderung des vormärzlichen Liberalismus zu Grunde, staatliche Tätigkeit müsse zugunsten eines staatsfreien Spielraums für das Individuum und die Gesellschaft zurückgedrängt werden. Unter dem Eindruck der Lehre Lorenz von Steins hatte Rudolf von Gneist eine folgenschwere Unterscheidung zwischen „wirtschaftlicher" und „obrigkeitlicher" Selbstverwaltung postuliert, wobei das eine als eine gesellschaftliche, das andere als eine spezifisch staatliche Funktion innerhalb der Kommunalverwaltung begriff. Es war klar, daß mit diesem Staatsbegriff stets der alte, obrigkeitliche Polizeistaat gemeint war. Hugo Preuß hatte ihn zunächst seiner Souveränität entkleidet und mit Gierkes Argumenten seine Wesensgleichheit mit allen anderen Gebietskörperschaften, den Gemeinden und den weiteren Kommunalverbänden, dargelegt. Jetzt trug er, aus der entgegengesetzten Richtung, vor, daß die Gemeinden an derselben öffentlich- rechtlichen Gewalt über ihre Glieder wie der Staat teilhätten: sie repräsentierten nicht eine Sphäre „bloß" wirtschaftlicher Betätigung des Individuums und der Gesellschaft unterhalb der für höher angesehehenen Sphäre eines „geistigen" und „sittlichen" Staates. Wegen der wesensmäßigen Verbundenheit der Selbstverwaltung und des Konstitutionalismus mußte Preuß' Kampf um die Erweiterung der Gemeindefreiheit letzten Endes auch der konstitutionellen Entwicklung zugute kommen. Gneist hatte bereits darauf hingewiesen, daß das englische Parlament und die englische Verfassung die Krönung, des gesamten inneren Verwaltungswesens waren. Freilich unterschieden sich Gneist und Preuß in einem wichtigen Punkt: Gneist verfocht den Selbstverwaltungsgedanken nicht als ein Mittel, sondern geradezu als einen Ersatz für die parlamentarische Regierung 16. Das erlaubte ihm und dem gemäßigten Flügel des liberalen Bürgertums nach dem preußischen Verfassungskonflikt schließ15 Preuß, a. a. O., S. 122. Derselbe Gedanke findet sich wieder in dem Buch „Entwicklung des deutschen Städtewesens", Berlin, 1906, S. 278, und im Artikel „Selbstverwaltung" im Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften", Jena, 1924, den Hugo Preuß als Mitherausgeber schrieb. 16 Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Suttgart, 1950, S.6.
1. Das Recht der Selbstverwaltungskörper
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lieh doch noch eine Verständigung mit dem Altpreußentum, dem die aristokratische Tendenz der Gneist'schen Selbstverwaltungsdoktrin, besonders seine Vorliebe für eine Selbstverwaltung der Kreise in den Händen von Ehrenbeamten aus dem grundbesitzenden Adel, entgegenkam. Preuß, der konsequentere Liberale, verstand die kommunale Selbstverwaltung nie als Entschädigung des Bürgertums für die vorenthaltene Parlamentarisierung; er sah beides nur in ihrer gegenseitigen Ergänzung und in ihrem inneren Zusammenhang. Solange deshalb die Volksvertretung dem gesamten Staatsbau wie ein Fremdkörper angebaut war und das genossenschaftlich-demokratische Prinzip nur die untersten Stufen der Verwaltung, aber nicht einheitlich das gesamte Verwaltungssystem durchdrang, erschien ihm, anders als Gierke, der deutsche Staat immer noch als die Fortsetzung des alten Polizeiund Obrigkeitsstaates. Den inneren Antagonismus des preußischen Verwaltungssystems mit dem Gegensatz zwischen Stadt und Land, sowie zwischen genossenschaftlichen und anstaltlichen Elementen erkannte Preuß in zahlreichen Einzelbestimmungen des preußischen Verwaltungsrechts, besonders aber in der Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Gemeinde und im staatlichen Aufsichts- und Bestätigungsrecht. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Organe im Verhältnis zu ihrem Organismus und das im englischen Staat verwirklichte Ideal der „communa communarum" 17 als, Gesamtheit der Selbstverwaltungsverbände, die ohne eine besondere staatliche Lokalverwaltung, so meinte er, neben der Gemeindeverwaltung auskam, lieferten ihm die Schlüssel für die Auflösung zeitgenössischer Fragen des preußischen Verwaltungsrechts. Das ständige Bedürfnis nach immer neuen Verwaltungsreformen zeigte, daß viele komplizierte und spitzfindige Lösungsversuche am Ende doch vergeblich unternommen worden waren. Die hergebrachte Unterscheidung zwischen „eigenen" und vom Staat nur „übertragenen" Verwaltungsaufgaben der Gemeinden, die Gneist „wirtschaftliche" und „obrigkeitliche" Selbstverwaltung genannt hatte, vereinfachte sich in ihrer ungeheuren praktischen Bedeutung, wenn der Staat, die genossenschaftlich organisierte communa communarum, sich auf die Zentralverwaltung zurückzog, die Aufgaben der „obrigkeitlichen" Lokalverwaltung den Gemeinden als seinen Organen überließ und sich auf diesen Gebieten auf die Kommunalaufsicht beschränkte, ohne im übrigen die Selbständigkeit der Gemeinden anzutasten. Alle Lokalverwaltung, auch die bisher als „staatlich" geltende Auftragsverwaltung in Polizei- und Schulsachen, sollte den Gemeinden gehören, wünschte Preuß. Die Stein'sche Städteordnung hatte einst die Ortspolizeiverwaltung als staatliche Aufgabe von dem Aufgabenkreis der Gemeinde geschieden, aber aus Gründen praktischer Zweckmäßigkeit doch wieder den Gemeindeorganen, freilich unter Umgehung der Gemeinde, übertragen. In Polizeisachen galten also die damit be17 Es handelt sich hier nur um einen anderen Ausdruck für das Wesen genossenschaftlicher Organisation. Der Ausdruck „communa communarum" taucht aber erst in den späteren Schriften Preuß' zur Selbstverwaltung auf, zum ersten Mal in der Festgabe für Paul Laband II, S. 218.
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II. Ausbau der Selbstverwaltungslehre
auftragten Gemeindebeamten als unterste Staatsbeamte. In dieser Funktion waren sie der Kontrolle der Gemeinde entzogen, ja ihr sogar überstellt. Das „Polizeimonopol" des Staates warf das unmöglich zu lösende Problem einer klaren Unterscheidung der Polizeifunktionen von den anderen Verwaltungsaufgaben auf. Fast jede Aufgabe der inneren Verwaltung konnte, mit mehr oder weniger Mühe, als eine Polizeifunktion dargestellt werden. Solange es bei dieser Art der Unterscheidung staatlicher und kommunaler Aufgaben blieb, konnte die staatliche Verwaltung die Gemeindefreiheit und Selbstverwaltung überall da aus den Angeln heben, wo sie polizeiliche Interessen beanspruchte. Ohne die Ortspolizeiverwaltung war die lokale Selbstverwaltung schutzlos den Eingriffen der staatlichen Bureaukratie ausgeliefert. In der Volksschulverwaltung waren die Verhältnisse noch verwickelter. Die Verwaltung der Schulgebäude und der Einrichtungen galt als Sache der Gemeinden, die „innere Schulverwaltung" dagegen als staatliche Aufgabe. Die Stellung der Lehrer zwischen den Kategorien der Gemeinde- und der Staatsbeamten war höchst ungeklärt 18. Alle diese Fragen boten, deshalb eine unerschöpfliche Fülle von Reibungsmöglichkeiten zwischen Gemeinde und Staat. Hugo Preuß verlangte vor allem, daß der Staat die Verwaltung der Schul- und Polizeisachen nicht direkt einzelnen Gemeindebeamten übertrage, sondern der Gemeinde als solcher. Dadurch ließ sich die doppelte, unbefriedigende Rechtsstellung der Gemeindebeamten, die im „eigenen" Wirkungskreis der Kommunen ihrer Gemeinde, im „übertragenen" Wirkungskreis aber staatlichen Behörden verantwortlich waren, auflösen 19. Die Gemeindebeamten sollten dadurch ausschließlich Gemeindebeamte werden, den staatlichen Verwaltungsbehörden persönlich unabhängig gegenüberstehen und lediglich indirekt zur Ausführung von Aufgaben verpflichtet sein, zu der die Gemeinde als solche durch Gesetz verpflichtet war. Im Einklang mit der rechtsstaatlichen Abgrenzung der Amtsbefugnisse standen auch Hugo Preuß' Forderungen für die Reform der staatlichen Kommunalaufsicht. Es war klar, daß sie nur für den Bereich staatlicher Auftragsangelegenheiten gelten konnte. Aber sie sollte „im Sinne des Rechtsstaates nur auf der Basis und in den Grenzen fester Rechtsnormen gehandhabt werden, welche die Gesetzgebung zu schaffen und die Rechtsprechung zu schirmen hat" 20 , nicht aber nach bloßen „Zweckmäßigkeitserwägungen der höheren Weisheit einer aufsichtführenden Obrigkeit", wie Preuß an anderer Stelle sagte. Eine so verstandene Oberaufsicht Schloß natürlich ein Weisungsrecht für den praktischen Einzelfall der Kommunal18 Mit der Frage der Schulverwaltung hat Hugo Preuß sich auch in einigen Spezialuntersuchungen beschäftigt, vgl. Die staatliche Bestätigung der Mitglieder städtischer Schuldeputationen nach preußischem Recht (Archiv f. Öff. Recht, Bd. 15 (1900), S. 202 ff.); Das Recht der städtischen Schulverwaltung in Preußen, Berlin, 1905; Zum Recht der städtischen Schulverwaltung (Archiv f. Öff. Recht, Bd. 20 (1905). 19 Preuß, Städtisches Amtsrecht, S. 144. 20 Preuß, a. a. O., S. 165.
2. Der Gegensatz zu Gneist
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Verwaltung aus. Der Staat sollte nur rechtlich feststellbaren Mißbräuchen der Lokalverwaltung Einhalt gebieten können. Analog verlangte Hugo Preuß auch für das staatliche Bestätigungsrecht bei der Berufung von Gemeindeorganen für die Funktionen staatlicher Auftragsverwaltung in Polizei- und Schulsachen, daß die Gründe, aus denen die Bestätigung versagt werden dürfe, rechtlich determiniert sein müßten und daß die staatliche Bestätigungsinstanz im Falle der Verweigerung einer Bestätigung zur Angabe von Gründen zu verpflichten sei, damit die Gemeinde die Rechtmäßigkeit der Entscheidung verwaltungsgerichtlich nachprüfen lassen könne 21 . Denn alle vom „freien Ermessen" allein bestimmten Eingriffe der staatlichen Verwaltung in die Rechtssphäre einer dem Staate eingegliederten. Einzeloder Gesamtperson seien, „in juristischem Sinne Willkür", das genaue Gegenteil rechtsstaatlicher Ordnung 22.
2. Der Gegensatz zu Gneist Bei dem Versuch einer ideengeschichtlichen Einordnung von Hugo Preuß' Selbstverwaltungsgedanken haben zuerst Theodor Heuß und Hedwig Hintze, später auch Carl Schmitt und Walter Simons23 auf den unmittelbaren Einfluß der Lehre Gneists hingewiesen. Für ihre Ansicht spricht vor allem der Nachruf, den der junge Preuß beim Tode Rudolf von Gneists in Theodor Barths Zeitschrift „Die Nation" im Jahre 1895 veröffentlichte 24. Betrachtet man indessen das Gesamtwerk Preuß' und die Unterschiede zwischen seiner und Gneists Selbstverwaltungslehre, dann erscheint die Ansicht Heinrich Heffters, ihre Verschiedenheit im Denken und Streben sei viel größer als das Gemeinsame, zutreffender 25. Seltsam genug ist freilich der begeisterte Nachruf des Linksliberalen Hugo Preuß auf einen Mann, der zwar einst die liberale Opposition im preußischen Verfassungskonflikt geführt, aber dann den liberalen Selbstverwaltungsgedanken aristokratisch zu verfälschen und von der Demokratie zu trennen versucht hatte; Bismarck hielt ihn in den achtziger Jahren sogar für genügend „gouvermental" gesinnt, um ihn für den staatsrechtlichen Unterricht des Prinzen Wilhelm vorzuschlagen26. Ein paar Jahre vor dem Tode Gneists hatte Preuß in seiner Habilita21 Die gleichen Forderungen erhob Gierke einige Jahre später in seiner „preußischen Städteordnung und ihre Nachfolgerinnen" im Jahrbuch der Bodenreform" (herausg. von A. Damaschke) 7. Bd. (1911), freilich weniger polemisch als Preuß. 22 Preuß, a. a. O., S. 166. 23 Theodor Heuß in der Einleitung zu Preuß, Staat, Recht und Freiheit, Tübingen, 1926; Hedwig Hintze, Hugo Preuß, in „Die Justiz" Bd. 2 (1926/27), S. 224; Carl Schmitt, Hugo Preuß (Recht und Staat, Bd. 72) Tübingen 1930; Walter Simons, Hugo Preuß (Meister des Rechts, Bd. 6), Berlin 1930. 24 Abgedruckt in Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 503-509. 2 5 Heinrich Heffter, a. a. O., S. 754. 26 Eugen Schiffer zitiert in seinem „Rudolf von Gneist" (Meister des Rechts, Bd. 2) auf S. 143 einen Brief des Prinzen Wilhelm vom 22. Februar 1888 an Kaiser Wilhelm I. Darin
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II. Ausbau der Selbstverwaltungslehre
tionsschrift schon zurückhaltend, aber doch vernehmlich Gneists Unterscheidung wirtschaftlicher und obrigkeitlicher Selbstverwaltung und seine Auffassung der Gemeinde als eines „Zwischenbaues zwischen Staat und Gesellschaft" abgelehnt 27 . Gneist selbst scheint den grundsätzlich anderen Ansatz seines jüngeren Fakultätskollegen erkannt zu haben28. Was Preuß zu Gneist hinzog, war wohl der Eindruck der Persönlichkeit: Die lebendige Einheit des Forschers und Politikers, die Bejahung der politischen Aufgabe der Wissenschaft und die praktische politische Arbeit Gneists als Berliner Stadtverordneter. Sie dürften den Theoretiker der Selbstverwaltung in den Augen Preuß in dieser Hinsicht vorteilhaft von dem eher unpolitischen Gierke abgehoben haben. Das überschwenglich formulierte Lob Preuß' aus dem Jahre 1895 für Gneist kann nur so gemeint gewesen sein. Denn auch später empfand Preuß die Gneist'schen Thesen als Widerspruch zu seinen eigenen Auffassungen. Gneists Lehre lief darauf hinaus, den von Preuß als schwer erträglich empfundenen Antagonismus von Obrigkeitsstaat und demokratisch-genossenschaftlicher Selbstverwaltung im preußischen Verwaltungsaufbau wissenschaftlich zu sanktionieren. Preuß wurde in seinem Widerspruch gegen Gneist noch bestärkt, als Josef Redlich im Jahre 1901 mit seinen Forschungen über die englische Lokalverwaltung nachwies, daß Gneist sich über das Wesen der englischen Selbstverwaltung, auf deren Vorbild er seine Theorie aufgebaut zu haben glaubte, getäuscht hatte 29 . Vor allem in der übertriebenen Einschätzung des englischen Friedensrichteramtes als erschöpfenden Ausdrucks des englischen selfgovernment sah Preuß dann den „großen Irrtum Gneists" 30 . Die Animosität Gneists gegen die großen englischen Reformen der dreißiger Jahre, seine Vorliebe für eine aristokratische Selbstverwaltung in den Händen des grundbesitzenden Adels und des gebildeten und besitzenden Bürgertums der Städte und seine von daher kommende Abneigung gegen das Werk der Reformer aus der Schule von Jeremy Bentham und James Mill, das er nur als die „Zersetzung" der englischen Selbstverwaltungskörper durch eine immer weitere, demokratische Ausdehnung des Wahlzensus betrachtete, hatte Hugo Preuß schon als Sechsundzwanzigjähriger abgelehnt, sogar etwas Tröstendes in dem Gedanken gefunden, daß durch diese Reformen „das alte Land politischer Freiheit sich mit allen Völkern europäischer Kultur auf der Bahn moderner politischer Entwicklung vereint" 31 . heißt es u. a.: „ . . . über Gneist hat mich der Fürst (= Bismarck) völlig orientiert und auch betont, wie er jetzt loyal und durch und durch gouvermental ist.. 27 Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin, 1889, S. 219-230. 28 Eugen Schiffer berichtet (a. a. O., S. 56), Gneist habe auf eine Frage, was er von dem jungen Privatdozenten Preuß halte, gesagt, in dem jungen Menschen steckten zweifellos neue Ideen; darüber aber sein Urteil abzugeben, ob es auch gute Ideen seien, fühle er sich zu alt. 29 In dem Aufsatz „Die Lehre Gierkes und die preußische Verwaltungsreform" (Festgabe für Gierke, Breslau, 1910) spendete Preuß den Forschungen Redlichs reichlich Beifall. 30 Preuß, Die Lehre Gierkes, a. a. O., S. 253. 31 Preuß, „Eine Biographie des englischen Parlaments", in dem Sammelband Staat, Recht und Freiheit, S. 518.
3. Der Freiherr vom Stein - das Vorbild
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Preuß teilte deshalb auch nie Gneists „übergroße Zurückhaltung" 32 in der Frage der Reform des preußischen Dreiklassen-Wahlrechts, sondern suchte, weil Demokratie und Selbstverwaltung für ihn dasselbe bedeuteten und er in der allmählichen Demokratisierung des selfgovernment ein „immanentes Entwicklungsgesetz" erkannte, den sozialdemokratischen Massen der Großstädte die Tore zu öffnen 33 . Am schärfsten hat Preuß seinen Gegensatz zu der Lehre Gneists in der Festgabe für Gierke im Jahre 1910 formuliert. Das moderne, demokratische England erschien ihm als das beste Vorbild seines „Volksstaates", das Ideal eine genossenschaftlichen Gemeinwesens, in dem die Wesensgleichheit des Staates und der Selbstverwaltungskörper und das einheitliche Prinzip der Selbstbestimmung des Volkes in der kommunalen Selbstverwaltung und dem Parlamentarismus des nationalen Verbandes ihren Ausdruck fanden. Auf dem Wege über Josef Redlich und Hugo Preuß wurde das Werk der radikalen Benthamiten doch noch, wenn auch spät, eines der ausländischen Vorbilder in der Ideengeschichte der deutschen Selbstverwaltung 34. Die andere Ansicht aber, Gneist habe einen maßgeblichen Einfluß auf Hugo Preuß ausgeübt, kann nicht länger aufrecht erhalten werden.
3. Der Freiherr vom Stein - das Vorbild Nicht Gneist konnte Hugo Preuß ein lebendiges politisches Vorbild sein, wie dies die episodische Gneistverehrung im Jahr 1895 einen Augenblick lang anzuzeigen schien. Für die weitaus längste Zeit seines Lebens nahm eine andere Figur aus der Geschichte der deutschen Selbstverwaltung diesen Platz ein, der Freiherr vom Stein, oder genauer, das Bild, das Hugo Preuß sich von ihm machte. Auf dem Höhepunkt seiner politischen Laufbahn, als Minister der Weimarer Republik, beschwor er vor der Nationalversammlung am Beginn der Verfassungsberatungen den Namen des Reichsfreiherrn, in dem er die beste politische Tradition und das reinste staatsmännische Wollen, den guten und eigentlichen Geist des politischen Deutschland verehrte. Beim Klang dieses Namens wurde in dem sonst so nüchternen, bis zur Respektlosigkeit ironischen Berliner ein tiefes Gefühl angerührt. Unter dem Eindruck der historischen Stunde, in der das deutsche Volk zum ersten Mal in seiner Geschichte daran ging, sich selbst eine Verfassung zu geben, wollte Hugo Preuß den Abgeordneten und durch sie dem Volke das Vorbild Steins aufzeigen, das als Autorität in der Mitte seines eigenen Denkens stand. Der Darstellung der Stein'schen Reformen und ihrer historisch-politischen Bedeutung widmete Hugo Preuß in zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und politischen Aufsätzen, besonders aber zur Jahrhundertfeier der Städteordnung von 1808, einen bevorzugten Platz. Die Sympathie für den Freiherrn ver32 Vgl. Eugen Schiffer, Rudolf von Gneist, S. 37 ff. 33 Vgl. Preuß, Entwicklung des deutschen Städtewesens, Berlin, 1906, S. 375- 376. 34 Heinrich Heffter, a. a. O., S. 746.
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II. Ausbau der Selbstverwaltungslehre
leitete ihn sogar dazu, die gleichmäßige Disposition einer Gesamtstudie darüber zu vergessen35. Der Stein'sche Reformversuch erschien Preuß trotz seinem unvollkommenen Gelingen als „das edelste Werk preußischer Geschichte"36 und die Städteordnung von 1808 als das „weitaus beste und fruchtbarste Werk der ganzen preußischen Gesetzgebung"37. Der Freiherr vom Stein habe, meinte er, die Aufgabe der Regeneration in der Beseitigung der feudalen Gesellschaftsordnung gesehen, „an deren Stelle die freie, privilegienlose, gleichberechtigte bürgerliche Gesellschaft zu treten hatte ... Das war aber nichts anderes als die Quintessenz der großen Ideen von 1789" 38 . Das Vorbild der französischen Konstituante glaubte Preuß besonders im Wesen der Stadtverordnetenversammlung wiederzuerkennen, deren Mitglieder „die ersten Volksvertreter in Preußen" gewesen seien. Und „nicht der begriffliche Gegensatz, sondern die begriffliche Homogenität von Gemeinde und Staat als genossenschaftlicher Gesamtperson ist ... der Leitgedanke der Reform." Deshalb sah Preuß in Gierkes Lehre von der Gliederung der Verbände „die wissenschaftliche Theorie der Stein'schen Reformidee, nicht wie sie zur Durchführung kam, sondern wie sie dem Geiste des großen Staatsmannes intuitiv vorschwebte, in ihren Einzelheiten und Zusammenhängen ihm selbst teilweise unbewußt" 39 . Dies mag genügen, um zu zeigen, wie Preuß den Freiherrn vom Stein sah: als einen Liberalen und Vorkämpfer des modernen Verfassungsstaates und der bürgerlichen Gleichberechtigung und Freiheit, als einen Gegner des absolutistischen Fürstenstaates und des bevorrechtigten Adels, als einen Mann im Lichtschein der Französischen Revolution. Der Gedanke der politischen Erziehung eines unpolitischen und zur Unselbständigkeit gedrillten Volkes in Steins Werk 40 paßte gut in dieses liberale Bild. Doch die ständisch-konservativen Züge fehlten fast ganz, ebenso die Abscheu Steins vor den „Ideen von 1789" und - seit der Schlacht von Jena - vor französischem Wesen überhaupt. Preuß hatte sich die liberale Stein-Interpretation Max Lehmanns zu eigen gemacht. Lehmann beeindruckte ihn hier weit mehr als Otto Gierke, dessen vorsichtigere und gemäßigtere Auffassung von der späteren Forschung in wesentlichen Teilen bestätigt wurde 41 . 35
Vgl. Robert Schachner's Rezension des „Städtewesens", in der Zeitschrift für Politik, 1. Bd. (1908) S. 551-552 und die Besprechung von Justus Hashagen in der Hist. Vierteljahrschrift, 12.Jahrg. (1909), S. 107. 3 6 Preuß, Städtewesen, S. 193. 3
? Preuß, Städtewesen, S. 225. Preuß, Städtewesen, S. 214. 39 Preuß, Die Lehre Gierkes, a. a. O., S. 261. 40 Vgl. Preuß, Staat und Stadt, 1909, in dem Sammelband Staat, Recht und Freiheit, S. 91, ferner „Ein Jahrhundert städtischer Verfassungsentwicklung, 1908, in dem Sammelband, S. 35. 38
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Gierkes Betrachtungsweise war gemäßigter und abwägender, weniger radikal als Preuß'; Gierke übersah nicht die konservativen Züge in Steins Wesen neben dem Fortschritt, den die Reform selbst für die Entwicklung des liberalen Verfassungsstaates bedeutete. Siehe dazu Gierke, Die Stein'sche Städteordnung (Akademische Reden und Abhandlungen, Berlin, 1909, S. 7 ff.). Seine Auffassung wurde in wesentlichen Teilen durch die Forschungen Gerhard Ritters („Stein", Stuttgart, 1931) bestätigt.
3. Der Freiherr vom Stein - das Vorbild
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Gierke war ohnehin der bessere Historiker als Hugo Preuß. Gierke neigte vor allem nicht dazu, eine andere Zeit in einprägsame Begriffe der politischen Gegenwart zu zwängen, wie Preuß es in seinen Darstellungen der Stein'schen Reform und dem Werk von 1906 über „Die Entwicklung des deutschen Städtwesens" tat. Als Jurist stand Hugo Preuß zwar mit Gierke und dessen Lehrer Georg Beseler in der Überlieferung der Historischen Schule der Rechtswissenschaft und lehnte ausdrücklich das „starre Dogma" Paul Labands ab, daß „alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen für die Dogmatik eine konkreten Rechtsstoffes ohne Belang" seien42. Aber trotz dem lebendigen historischen Interesse und dem historischen Sinn, der ihm von Historikern und Juristen zuerkannt wurde 43 und trotz manchen treffenden historischen Beobachtungen, die ihm gelangen, bot er mit Einseitigkeiten und vereinfachenden Zuspitzungen verfassungs- und wirtschaftsgeschichtlicher Vorgänge auf begriffliche Gegensatzpaare wie „genossenschaftlich" und „obrigkeitlich- anstaltlich" oder „urban" und „anti-urban / agrarisch" der historischen Kritik einige Blößen. Die Kritik fiel besonders scharf aus, wenn, wie bei den großen Historiker Georg von Bc\ow(lS5S-l921) 44, Differenzen in der Sache durch entschiedene Gegensätze der politischen Überzeugung erhitzt wurden. Keinesfalls konnte man von Hugo Preuß' Temperament eine leidenschaftslose, kühle Beurteilung verfassungspolitischer Entwicklungen verlangen - und andere Gebiete historischer Forschung verlockten ihn nicht. Er war zu sehr politische Partei, als daß er der Versuchung widerstanden hätte, den absolutistischen Polizeistaat, namentlich den brandenburgiseh- preußischen, durch eine erbarmungslose Beschreibung bloßzustellen. „Der Verfasser will historische Waffen liefern zum politischen Kampf...", beobachtete Justus Hashagen45. Hugo Preuß wollte mit der Darstellung der Entwicklung der Stadtverfassung auch gar kein Buch für die historischen Fachleute, sondern für die politische Bildung einer breiteren Öffentlichkeit schreiben. In diesem Werk verzichtete er auf den Apparat wissenschaftlicher Anmerkungen und zog manche pointierte Interpretation um der schärferen Profilierung der Parteien in den verfassungspolitischen Kämpfen der Vergangenheit willen der Gefahr vor, von der Kritik der zünftigen Historiker angegriffen zu werden. Dennoch zeugte es von historischem Verständnis, daß er die verfassungspolitische Rückständigkeit der staatlichen Entwicklung Deutschlands erkannte und durch ihre Beschreibung das Seine zu ihrer Überwindung beitragen wollte. Einer erfolgreichen wissenschaftlichhistorischen Tätigkeit hingegen - über das Studium der Geschichte für seine persönliche historisch-politische Bildung hinaus - stand immer wieder sein ungestümes, auf die Verfassungspolitik gerichtetes Temperament im Wege.
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Preuß, Amtsrecht, S. 5. 43 Justus Hashagen, Hist.Vierteljahrschrift, 12. Jahrg. 1909, S. 107 ff., ferner Hedwig Hintze in der Einleitung der von Preuß nachgelassenen „Verfassungspolitischen. Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa", Berlin, 1927. und A. Hensler im Archiv f. Öff. Recht, 22. Band, (1907), S. 543 ff. 44 G. v. Below, Bürgerschaften und Fürsten (Hist. Zeitschrift, Bd. 102 (1909), S. 524 ff.). 45 Hist. Vierteljahrschrift, 12. Jahrg. (1909), S. 107 ff.
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II. Ausbau der Selbstverwaltungslehre
4. Die „Urbanisierung 46 des Staates In dem Buch über die Entwicklung des Städtewesens fällt die Wärme auf, mit der Preuß das Eigentümliche städtischen Wesens beschrieb: die Stadt zwinge ihre Handel und Gewerbe treibenden Bürger nicht in ein Verhältnis zu Grund und Boden, nicht in eine „agrarische Herrschaftsorganisation"; die Stadt habe die Gewinnung und Bewahrung persönlicher Freiheit ermöglicht; denn „Stadtluft macht frei", und zwar „jedermann, woher er auch komme und welchen Standes er sei, der Jahr und Tag unangefochten in der Stadt gewohnt hat .. ." 4 6 . Die Stadt habe die Bürger zur politischen Korporation vereinigt und nach außen gegen Kaiser und Fürsten mediatisiert. Ihr ganzes innerstes Wesen war „antimonarchisch und republikanisch" und stand in unversöhnlichem Widerspruch zu der von oben nach unten, vom Kaiser bis hinab zum kleinsten Lehnsträger und zum unfreien Hintersassen sich entfaltenden „Feudalordnung" 47. „Das Prinzip des städtischen Wesens ist die politische und soziale Freiheit; das Prinzip des fürstlichen wie der adeligen Grundherrschaft ist die politische und soziale Unfreiheit" 48 . Preuß meinte also mit „urban" das bürgerliche und korporative, republikanischfreie Prinzip städtischer Selbstorganisation, und mit „agrarisch" das entgegengesetzte, auf den Absolutismus hinzielende anstaltliche, individualistische, unfreie, auf der Grundherrschaft beruhende Prinzip. In der Stein'schen Bauernbefreiung erblickte Preuß demgemäß „den großen Gedanken eines allgemeinen Staatsbürgertums ... als Prinzip einer Urbanisierung des ganzen Staatswesens, weil durch ihn die bürgerliche Freiheit und Gleichberechtigung, die ursprünglich das Charakteristikum der Städte gewesen war, auf das agrarische Land hinausgetragen, auf den ganzen Staat ausgedehnt wird" 4 9 . Brandenburg-Preußen aber war der „unübertroffene" Prototyp des agrarischen Landesfürstentums 50. Insofern die mittelalterlichen Städte es zuließen, meinte Preuß, daß das urbane Prinzip in die Grenzen ihres Weichbildes eingeschlossen blieb, förderten sie selbst den immer vollständigeren Sieg des agrarischen Prinzips auf dem Lande. Ihr von ihrer Schwäche bestimmter Verzicht auf die Ausbreitung des genossenschaftlich-urbanen Prinzips über die Stadtmauern hinaus und der Verfall des korporativen Lebens im Innern zu Zunftwirtschaft, Korruption und oligarchischer Rückbildung des Rats zu einer Art patrimonialer Stadtobrigkeit waren in Preuß' Augen Voraussetzungen für den Sieg, den das absolutistische Landesfürstentum dann über die deutschen Städte und ihre alte Freiheit erstritt. Denn wo das genossenschaftlich-urbane Prinzip, so lautete Preuß' hauptsächlicher Schluß, auf seine territoriale und soziale, immer weitere Schichten des Volkes ergreifende Ausdehnung verzichte, hemme es seinen eigenen Lebens46
Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, S. 24, auch „Staat und Stadt" (Staat, Recht und Freiheit, S. 82). 4 ? Preuß, a. a. O., S. 88. 48 Preuß, a. a. O., S. 93. 49 Preuß, a. a. O., S. 220. 50 Preuß, a. a. O., S. 157.
4. Die „Urbanisierung" des Staates
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ström und müsse seinen Gegnern erliegen. „Die allmähliche Demokratisierung seiner ursprünglich aristokratischen Gestalt ist sein immanentes Entwicklungsgesetz. Im Verlaufe dieser Evolution muß der Stadtherr der Geschlechterherrschaft, diese der Zunft Verfassung weichen. Der Stillstand der Entwicklung bedeutet den Rückschlag in das antagonistische Prinzip agrarischer Obrigkeit, in patrimoniale Erstarrung" 51 . Deshalb hielt Preuß auch in der Gegenwart alle Versuche des großstädtischen Bürgertums in Preußen und Sachsen, durch vielerlei Formen des Klassenwahlrechts die Massen des neuen Kleinbürgertums und der sozialdemokratischen Industriearbeiter von der Selbstverwaltung der Städte fernzuhalten, für verfehlt: „Bei der Verdichtung großstädtischer Lebensweise können Besitzende und Besitzlose, Arbeitgeber und Arbeiter ihre kommunalen Interessen nicht gegen und nicht ohne einander verfolgen. Jeder Versuch, die eine oder die andere dieser sozialen Gruppen auszuschalten oder zur Einflußlosigkeit herabzudrücken, stärkt, wenn er glückt, nicht die Macht des Siegers, sondern die der anti-urbanen Mächte und des von ihnen beeinflußten Polizeistaates"52, und so erhielt die mit der „Urbanisierung" des ganzen Staatswesens gemeinte Forderung nach Demokratisierung einen betonten Charakter bürgerlich-städtischer Solidarität gegenüber dem bureaukratischen Obrigkeitsstaat und den Resten feudaler Gesellschaftsformen im ostelbischen Deutschland. Mit dem Ausdruck „Urbanisierung" meinte er dasselbe, was er im „Amtsrecht" als „Munizipalisierung" des Staates genannt hatte: die durchgängige Verwirklichung des demokratisch-genossenschaftlichen Selbstverwaltungsgedankens. Damals hatte er ein Wort von vornehmlich verwaltungsrechtlichem, juristisch-technischem Klang benutzt. Nun wählte er mit „Urbanisierung" ein Wort, das die Gesamtheit städtischer Kultur umfaßte und das - im Vergleich zur „Munizipalisierung" - den Blick auf soziologische Zusammenhänge zu lenken geeignet war. Hugo Preuß hatte inzwischen deutlich erkannt, was in früheren Schriften erst angedeutet war, daß nämlich die Verfassungsgeschichte, vor allem der unselige, in Deutschland aber immer weiter geschleppte Zwiespalt zwischen obrigkeitlicher und genossenschaftlicher Regierung untrennbar mit den gesellschaftlichen Verhältnissen verknüpft war. Es war ja auch in der Tat sehr lehrreich zu sehen, wie trotz zahlreichen Versuchen die preußischen Verwaltungsreformen und eine konsequente Verwirklichung der Selbstverwaltungsidee seit dem Freiherrn vom Stein immer wieder am Widerstand der agrarisch-konservativen Kräfte in den östlichen Provinzen stecken geblieben waren. Hugo Preuß hatte eingesehen, daß der preußische Staat nicht einfach einer bloß technischen Verwaltungs- und Verfassungsreform, sondern einer gesellschaftlich- politischen Umwandlung von Grund auf bedürfe. Das Buch mit seiner betonten Sympathie für städtisches Wesen, städtische Kultur, städtische Formen der politischen Organisation und seinem Abscheu vor dem „agrarischen" Prinzip war eine Herausforderung an das ostelbische Junkertum. Es 51 Preuß, a. a. O., S. 375. 52 Preuß, a. a. O., S. 375 f.
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II. Ausbau der Selbstverwaltungslehre
war dazu bestimmt, die deutsche Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, daß eine kleine gesellschaftliche Schicht in ihrer strategisch überlegenen Stellung in Preußen den sozialen und verfassungspolitischen Fortschritt in ganz Deutschland zu lahmen vermochte. Mit der Darstellung des Gegensatzes von „urbanem" und „agrarischem" Wesen hatte Hugo Preuß sich einer eminent politischen, bis an die Wurzeln der inneren deutschen Politik rührenden Frage gestellt und eine entschiedene Antwort gegeben. Mit dieser großen Darstellung, der kleinere politische Arbeiten über die soziologischen und historischen Ursachen der verhängnisvollen Blockierung der inneren deutschen Entwicklung vorausgegangen waren, hatte sich Hugo Preuß nun beträchtlich von der Welt seines Lehrers Gierke entfernt 53. Zugleich aber war er auch in die Nähe der jungen soziologischen Schule, besonders Max Webers, gerückt.
53 Gierke: „Wenn mein verehrter Freund Preuß in seinen vortrefflichen und glänzend geschriebenen Werken über Städterecht stets die Kultur des städtischen Bürgertums mit der Kultur überhaupt identifiziert und in immer wiederkehrenden Sendungen die »Urbanisierung4 des platten Landes als Ziel fortschrittlicher Entwicklung hinstellt, so muß ich ihm in diesem Punkte energisch widersprechen. Eine einseitig städtische Kultur, wie sie das Altertum ausgebildet hat, kann nicht unser Ideal sein." (Die preußische Städteordnung und ihre Nachfolgerinnen, Jahrbuch der Bodenreform, 7. Band (1911), S. 176).
I I I . Der liberale Publizist der Vorkriegszeit 1. Die Verwestlichung Preußens Der parlamentarische Kampf um den Bau des Mittellandkanals hatte einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland in krasser Weise die Macht, aber auch die Engstirnigkeit der agrarischen Interessenpolitik des altpreußischen Junkertums gegenüber allgemeineren wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen des gesamten Deutschlands demonstriert 1. Hinter diesen Vorgängen sah Hugo Preuß das eigentliche Grundproblem der inneren Politik Preußens: die Gegensätzlichkeit zwischen den östlichen und den westlichen Provinzen, zwischen Land und Stadt, zwischen zwei Verfassungsformen, über die das Vorhandensein zweier Konstitutionen hinwegzutäuschen suchte. Auf dieses ungelöste Grundproblem preußischer und deutscher Politik wies Hugo Preuß in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg häufiger hin als auf jeden anderen einzelnen politischen Fragenkreis 2. Er machte sich dabei zum Sprecher des Bürgertums, das sich im Besitz der wirtschaftlichen Macht und der politischen Zukunft wußte und darum umso ungeduldiger die Wachablösung in der Regierung und die Herausgabe der politischen Macht verlangte. Es ging hier um ein Stück versäumter Französischer Revolution in Preußen, um die Einebnung der letzten Reste ständischer Vorherrschaft und Privilegien zugunsten eines gleichen, einheitlichen, modernen Staatsbürgertums, das auch die Kluft zwischen den schon „bürgerlichen" Westprovinzen und den noch zu „verwestlichenden" agrarisch-patrimonialen östlichen Provinzen Preußens hätte schließen können. Das stekkengebliebene Werk der Stein-Hardenberg'schen Reform, der Widerstand des ostelbischen Agrariertums gegen den Zollverein, die Reaktion der Fünfziger Jahre, das Treiben der „Kamarilla" am Hofe Friedrich Wilhelms IV., der preußische Verfassungskonflikt, schließlich die konservative Umbiegung der preußischen Verwaltungsreform der Siebziger Jahre, die Schutzzollpolitik und der Sturz Caprivis - das 1 Die erste Kanalvorlage im preußischen Landtag wurde 1899 von den Konservativen mit Hilfe agrarischer Rebellen aus anderen Parteien verworfen. Die zweite Vorlage scheiterte schon in den Kommissionsberatungen. Im folgenden Jahre setzten die Konservativen eine Erhöhung der Kornzölle durch. Erst dann konnte die dritte Kanalvorlage mit einigen Zugeständnissen an die ostelbischen Interessen 1905 den Landtag passieren; jedoch durfte zunächst nur eine Teilstrecke des Kanals gebaut werden. Der endgültige Ausbau des Mittellandkanals wurde erst von der Weimarer Republik unternommen. 2 Vgl. dazu Preuß' Aufsatzreihe zur „Junkerfrage" in Nr. 34 bis 42 der „Nation", Jahrg. 1897, die Artikel „Qu'est-ce que c'est le tiers état?" („Die Nation", 1899/1900, S. 402 ff.) und „West-östliches Preußen", 1899 (in Preuß, Staat, Recht und Freiheit, Tübingen, 1926, S. 200 ff.); ferner die satirischen „Novae epistolae obscurorum virorum", 1904 (ebenfalls in Staat, Recht und Freiheit, S. 560 ff.).
4 Gillessen
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
waren für Hugo Preuß die eindeutigsten Beweise der im stillen und offen wirkenden Macht des ostelbischen Junkertums, das sich, so glaubte er, wirtschaftlich bereits überlebt habe und desto verzweifelter seine politischen Machtpositionen in der lokalen Verwaltung der östlichen Provinzen, am Hofe, im preußischen Landtag und im konservativen Beamtentum verteidige. Mit der Staatskunst Bismarcks, des „größten preußischen Junkers", sei es gelungen, den unvermeidlichen Sturz noch einmal dadurch aufzuhalten, daß dieser Mann es verstanden habe, „das wichtigste politische Interesse des deutschen dritten Standes, die nationale Einheit, loszulösen von dem sozialen Emanzipationskampfe des preußischen Bürgertums" 3. Dieser ostelbische Adel hatte in den Augen von Hugo Preuß längst aufgehört, durch wirkliche Qualitäten im politischen und wirtschaftlichen Wettbewerb die Vorzugsstellung einer wahren Aristokratie sich immer wieder neu zu verdienen. Statt dessen suchte er sich durch mechanische Zwangsformen wie das Dreiklassenwahlrecht, und das Herrenhaus politisch und durch die Schutzzölle wirtschaftlich zu behaupten4. Das Junkertum habe dabei verstanden, seine eigenen Interessen mit den scheinbaren der preußischen Monarchie und ihrem Ansehen zu identifizieren, so daß das Königtum meinte, nie gegen die konservative Partei regieren zu können, gleichviel wie stark oder schwach deren Stellung im Land und im Parlament sein mochte. Eine andere Politik wäre ihm als „Selbstverrat des Königtums" erschienen5. Für noch bedeutungsvoller hielt Preuß, daß das ostelbische Agrariertum durch seine fast unangreifbare Stellung in Preußen, im Schutz des hochkonservativen Herrenhauses und des Dreiklassenwahlrechts, mit Hilfe der preußischen Stimmen im Bundesrat sowie den massiven Druckmitteln der preußischen Eisenbahn und der Armee-Organisation auch bei den Regierungen der anderen Gliedstaaten und im Reich jede fortschrittliche Gesetzgebung zu erschweren wenn nicht zu verhindern verstand. Jene kleine junkerliche Minderheit kontrolliere von ihrer höchst einflußreichen Position aus die deutsche und die preußische Politik nach ihren eigennützigen Maßstäben6. Der Pseudo-Konstitutionalismus im Reich und in Preußen liege ganz in ihrem Interesse. Der ostelbische Feudalismus, das war Hugo 3 Preuß, „Qu'est-ce que c'est le tiers état?", a. a. O., S. 402 ff. 4
Darin sah Preuß den eigentlichen Unterschied zwischen wahrer Aristokratie und jederlei Junkertum. Dabei glaubte er an die Aufgabe einer echten Aristokratie, als deren Muster er die englische „gentry" ansah. Er wußte, daß es überall, auch in der auf die staatsbürgerliche Gleichheit aller aufgebauten modernen Demokratie einer Elite bedarf, die sich im Wettbewerb bewährt („Die Nation", Jahrg. 1896/97, S. 587 f.). 5 Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 214 f. 6
Im preußischen Abgeordnetenhaus gab es im Jahr 1907 noch keinen einzigen Sozialdemokraten. Die Konservativen verfügten über eine beinahe absolute Mehrheit und konnten zusammen mit rechtsstehenden Mitgliedern anderer Gruppen jede fortschrittliche Maßnahme verhindern. Bei den Reichstagswahlen von 1903 hatten die Sozialdemokraten zwar bereits drei Millionen Stimmen erhalten, wegen der seit 1870 unveränderten Wahlkreiseinteilung und des Stichwahlsystems aber nur 81 Sitze, das Zentrum hingegen für weniger als zwei Millionen Stimmen hundert Sitze. Noch unmittelbar vor dem Weltkrieg widersetzten sich beide Häuser des preußischen Landtags energisch einem ernsthaften Versuch von BethmannHollwegs, das preußische Wahlrecht zu reformieren.
1. Die Verwestlichung Preußens
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Preuß' Erklärung, „muß sich mit der elementaren Leidenschaft des Selbsterhaltungstriebes jeder fruchtbaren Maßregel der inneren wie der wirtschaftlichen Politik entgegenwerfen". Da dieses Junkertum sich also freiwillig auf keine echten inneren Reformen einlassen wolle, forderte Hugo Preuß das Bürgertum offen auf, den Widerstand überlebter Gesellschaftsreste zu brechen7. Ohne die „Verwestlichung" Preußens, die Herstellung demokratischer Verhältnisse, diese „einzige große Aufgabe" der inneren Politik, müsse alles andere nur „unfruchtbares Stückwerk" bleiben8. Mit der Einsicht in diese Grundfrage preußischer Politik war Hugo Preuß nicht allein. Lujo Brentano, einer der Kathedersozialisten, hatte ebenfalls in der „Nation" diese Frage, freilich vor allem von der agrarpolitischen Seite des Großgrundbesitzes her, offen und kritisch erörtert 9. Berühmter wurden die Untersuchungen Max Webers über die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland und seine Aufsehen erregende Freiburger Antrittsvorlesung von 1895 „Der Nationalstaat und die Volks Wirtschaftspolitik" 10. Max Weber stimmte mit Hugo Preuß im Urteil über die eminent eigennützige Politik der ostelbischen Grundbesitzer überein, denen, so fand Weber, die für die Rolle einer wahren Aristokratie notwendige ökonomische Sicherheit und Unabhängigkeit fehle. Trotz dieser Übereinstimmung im praktischen Ergebnis ihrer Untersuchungen über das ostelbische Junkertum darf man nicht die Verschiedenheit der Begründung außer Acht lassen. Max Weber klagte das Ostelbiertum vom Standpunkt eines „ökonomischen Nationalisten" dafür an, daß es die deutschen Landarbeiter zur Abwanderung veranlasse und billige polnische und russische Arbeitskräfte an ihrer Stelle in deutsches Siedlungsland rufe und darin das Deutschtum verrate. Diese „kapitalistische" Politik hielt Max Weber für ein vor allem nationales und soziales Verhängnis. Preuß hingegen dachte gar nicht an die kapitalistische Bodenbewirtschaftung, die Weber so mißfrei, auch nicht an das Einströmen der polnischen Landarbeiter. Er sah die Frage nicht unter Max Webers Ideal des nationalen Machtstaates, sondern unter dem Gesichtspunkt des modernen Verfassungsstaates und im Vergleich mit der Reformwilligkeit des englischen Adels. Deshalb kritisierte er vor allem die überreife innenpolitische Bevorrechtigung des Junkertums, den patrimonialen Charakter der adeligen Lokalverwaltung, das preußische Wahlrecht, das Herrenhaus und den aller parlamentarischen Kontrolle entzogenen Einfluß des preußischen Adels auf die Krone, die sich allein in dieser Umgebung gesellschaftlich zu Hause fühle. Der Gedanke nationaler Machtpolitik lag Hugo Preuß fern.
7 Preuß, „Die Junkerfrage" („Die Nation", Jahrg. 1896/97, Nr. 42). 8 Preuß, West-östliches Preußen (Staat, Recht und Freiheit, S. 228). Siehe die Aufsatzreihe Lujo Brentanos über die preußische Agrarreform („Die Nation", Jahrg. 1896/97, Nr. 24-27), ferner Brentanos Memoiren „Mein Leben", Jena, 1931, S. 171 ff., besonders S. 176 f. 10 Max Weber, Gesammelte politische Schriften, München, 1921, S. 8 ff. 9
4*
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
2. Der Freundeskreis um die „Nation" Hugo Preuß kamen bei diesen Artikeln bedeutendes publizistisches Geschick und ein Stil von bestechender Eleganz zu statten. Freilich pflegte er auf die glatte Form auch sehr viel Mühe zu verwenden, die er dem Leser zu verbergen verstand11. Eine der köstlichsten Proben seines satirischen Talents legte er 1903 in den „Novae epistolae obscurorum virorum" in der „Nation" ab 12 ; in den fingierten Briefen, hinter glänzenden Charakteristiken eines pathetischen Hofpredigers, in dem er wohl den Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stoecker (1835 -1890) zu treffen hoffte, dem die Liberalen seine antisemitische Agitation verübelten, eines intrigierenden Kammerherrn, eines reichen Juden, der sich aus Opportunismus hatte taufen lassen, und eines schwadronierenden junkerlichen Kavalleristen, stellte er den Zynismus dar, mit dem im Offizierskorps und in der Bureaukratie der verfassungsmäßige Grundsatz staatsbürgerlicher Gleichheit auf kaltem Wege außer Kraft gesetzt wurde und Junkertum und Hof in enger Verflechtung dem Zeitgeist, dem bösen, zu widerstehen wüßten. Das war hinreißend geschrieben, prägnant und spitz, voll Tempo, ursprünglicher Angriffslust und sprühendem Witz. Als Fünfundzwanzigjähriger, 1885, hatte Hugo Preuß in der „Nation" seine ersten Artikel veröffentlicht. Schon in diesen ersten politischen Äußerungen zur Kolonialpolitik oder den russischen Auslieferungsverträgen 13, lange vor den Aufsätzen zur Junkerfrage, fällt der unitaristische Zug auf, der später auch die Habilitationsschrift charakterisierte 14 und bis auf den Höhepunkt von Preuß' politischer Laufbahn, bis zur Arbeit an der Weimarer Verfassung, bezeichnend blieb. In einem dieser Aufsätze nahm er eine Reichstagsdebatte über die Anschaffung einer Dampfbarkasse für den Gouverneur von Kamerun zum Anlaß, auf die staatsrechtlichen und praktischen Schwierigkeiten der föderalistischen Reichskonstruktion von 1871 im Hinblick auf die Kolonialpolitik hinzuweisen; er warf dabei die Frage auf, „ob Deutschland nunmehr die definitive Form seiner staatlichen Existenz" erlangt habe oder „ob nicht die bisherige Entwicklung bereits den Keim einer ganz bestimmten weiteren Entwicklung in sich trägt." In dem Artikel über die russischen Auslieferungsverträge, die der Zustimmung des Reichstags bedurften, wozu die Mehrheit nicht bereit war und Bismarck deshalb die Regierungen der 11 Preuß schrieb am 8. Januar 1918 in einem Brief an seinen an der Westfront stehenden Sohn Ernst G. Preuß: „ . . . Auf meinen Stil bilde ich mir ja höllisch viel ein; aber so eine scheinbar glatt hingeschmissene Periode ist auch meist höllisch durchgeknetet. Nur mach ich's nicht auf dem Papier, sondern im Kopf. Aber das ist individuell, wie ich auch noch niemals nach irgendeiner Disposition gearbeitet habe; was ich durchaus nicht zur Nachahmung empfehle 12 Abgedruckt in Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 560 ff. 13 Preuß, Kolonialpolitik und Reichsverfassung („Die Nation", Jahrg. 1884/85, S. 214ff.) - Die russischen Auslieferungsverträge und die Reichskompetenz („Die Nation", Jahrg. 1885/80, S. 127 ff.) und später „Reichs- und Landesfinanzen" („Volkswirtschaftliche Zeitfragen", Heft 121 /122) Berlin, 1894. 14 Siehe I., S. 32f.
2. Der Freundeskreis um die „Nation"
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Gliedstaaten zu Einzelabschlüssen veranlassen wollte, verteidigte der junge Referendar energisch die Zuständigkeit des Reiches. Die „Nation" galt damals als die angesehenste und geistreichste Zeitschrift des Linksliberalismus. Bis um die Jahrhundertwende vertrat Hugo Preuß vor allem von hier aus seine politischen Anschauungen, nicht nur zum Problem Reich und Einzelstaaten oder zur Junkerfrage, sondern auch über Demokratie, Liberalismus und Sozialdemokratie, zur Militärvorlage von 1887, zur Berliner Kommunalpolitik und zum „Antisemitismus. Theodor Barth, der Herausgeber der „Nation", war früh auf Preuß als Mitarbeiter seiner Zeitschrift aufmerksam geworden und hatte ihm den Zugang zu dem Kreis liberaler Politiker eröffnet, der sich in Barths Wohnung im Tiergartenviertel zu versammeln pflegte und daher den Namen „Tiergarten-Freisinn" davontrug. Dies war der Kreis derjenigen, die sich 1880 in scharfem Widerspruch zu Bismarcks Innenpolitik von der Nationalliberalen Partei als „Secession" abgespalten und 1884 der Deutschen Freisinnigen Partei angeschlossen hatte. Ihm gehörten die Abgeordneten Ludwig Bamberger (1823-1899), Heinrich Rickert (1833-1902), Maximilian von Forckenbeck (1821-1892), Franz August Freiherr von Stauffenberg (18341901), Georg von Bunsen (1824-1896), Friedrich Kapp (1824-1884), Georg von Siemens und Gelehrte wie Theodor Mommsen, Rudolf Virchow und später, nach Barths Wendung nach links, auch Lujo Brentano an 15 . Viele von ihnen zählten zu den regelmäßigen Mitarbeitern der „Nation". Theodor Barth (1849-1909) fühlte sich mit dem um zwölf Jahre jüngeren Preuß bald in einer engen persönlichen und politischen Freundschaft verbunden. Auch mancher Wesenszug verband sie. Barth war der Typ des aristokratischen Großbürgers, nicht in der Lebensführung, aber in der Wertschätzung innerer Unabhängigkeit, im Abscheu gegen alles Subalterne, in der Weitläufigkeit einer Urbanen Bildung. Barth war ein vielgereister, weltoffener Mann, dessen wirtschaftliches und politisches Denken englisch geprägt war. Er war ein ausgesprochener Individualist, der zwar einen Freundeskreis bilden konnte, aber zu gleichgültig für das eigentliche Parteiwesen war, um ein Parteiführer zu sein. Das erklärt manches Persönliche in dem Hader mit Eugen Richter (1838-1906), dem unbeugsamen, starrköpfigen, prinzipienfesten, ewig oppositionellen und bei allem auch provinziellen Führer und Organisator des „fortschrittlichen" Flügels der Freisinnigen Partei. Im Streit um die Unterstützung der Politik des Reichskanzlers von Caprivi hatte Richter den Ausschluß Barths aus der Partei betrieben. Brentano nannte Theodor Barth einmal „das Gewissen der Liberalen". Gesinnungen galten ihm mehr als „Tatsachen". Er fühlte eine tiefe Abneigung gegen die demoralisierend skrupellose und ideenfeindliche Politik Bismarcks. Barth war stets bereit, für die Sache des Schwächeren einzutreten, sei es zusammen mit Bamberger für das Ansehen Kaiser Friedrichs und der Kaiserin gegen skandalöse Pressekampagnen von rechts, sei es die Sache der Arbeiter im Kampf gegen 15 Hierzu und zu dem folgenden siehe vor allem die Schrift von Ernst Feder, Theodor Barth und der demokratische Gedanke, eingeleitet von Hugo Preuß, Gotha, 1919, das schöne Friedrich-Naumann-Buch von Theodor Heuß (Stuttgart, 1937, S. 235 ff.) und Friedrich C. Seil, Die Tragödie des Liberalismus, Stuttgart, 1953, S. 288 ff.
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
die Sozialistengesetze. Er war ein Liberaler der besten Art, auch in seinen Irrtümern und Illusionen. Er glaubte an den endlichen Sieg des besseren Arguments. Nie gab er die Hoffnung auf, doch noch eine elementare Volksbewegung für die Freiheits- und Machtfrage in Deutschland auslösen zu können. Hugo Preuß sah in ihm, was Deutschland in so auffälliger Weise fehle, einen „politischen Führer großen Stils". Barth war zur Führung berufen, aber nie dazu gekommen. Den eigentlichen Grund dafür sah Hugo Preuß „in der Unfähigkeit unseres Volkes, sich spontan von Männern führen zu lassen, die nicht von Obrigkeits- und Amtswegen dazu bestellt, sondern vom Gemeinwillen dazu berufen werden", und das war selbst in den Fraktionen so 16 , in deren Durchschnittlichkeit Barth nicht hineinpaßte - so wenig wie Hugo Preuß. Freilich, wenn der politische Sprachgebrauch des Kaiserreiches die Freunde Barths und Richters „linksliberal" nannte, bedeutete dies doch etwas anderes als den revolutionär gestimmten radikalen Liberalismus von 1848, der die deutsche Republik auf den Trümmern der einzelstaatlichen Monarchien hatte errichten wollen. Seine Anhänger, die „Demokraten", waren sogleich nach der Revolution verschwunden und zu Tausenden ausgewandert. Der jüngere Linksliberalismus im Kaiserreich stammte nicht von ihnen ab, sondern hatte sich 1861 als „Fortschritt" und 1881 als „Secession" von dem gemäßigten Liberalismus abgespalten. Wer sich nun, am Ende des liberalen Jahrhunderts, linksliberal und demokratisch nannte, dachte nicht an Revolution und Republik, sondern an eine entschieden freiheitliche Reformpolitik, vor allem die Beseitigung des Scheinkonstitutionalismus und eine freihändlerische Wirtschaftspolitik. Als die Hoffnung dieser Politiker auf eine liberale Ära unter Kaiser Friedrich, für dessen Thronbesteigung die Linksliberalen sich zu einer einzigen Partei zusammengeschlossen hatten, mit dem kranken Kaiser dahinsiechte, zerfiel auch die Partei, die sich um ihre Aufgabe als den Kristallisationskern einer künftigen Regierungskoalition gebracht sah, wieder in ihre beiden Bestandteile. Die Gruppe um Barth und Rickert erwies sich als beweglich und elastisch genug, in der Zeit der Kanzlerschaft Caprivis das überkommene liberale Ideengut zu überprüfen und vorsichtig Anschluß und Einfluß auf die Politik der Regierung zu suchen. Auf der anderen Seite drohte Eugen Richters Liberalismus des „alles oder nichts" immer mehr zu einer orthodoxen Lehre zu versteinern, aus Scheu vor, oder wie Friedrich Naumann sagte, aus Verzweiflung an der Macht 17 . Auch Hugo Preuß beklagte zuweilen, wohl mit dem Blick auf Richter, den offensichtlichen Mangel an politischem Ehrgeiz in den Reihen der Liberalen, den er für einem Mangel an politischer Leidenschaft überhaupt hielt 18 . Die Freisinnige Vereinigung um Rickert und Barth wollte zur Macht; denn im bestehenden Regierungssystem war Opposition ebenso nutzlos wie unverantwortlich, solange damit 16 Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 552. 17 Heuß, Friedrich Naumann, S. 241. ι 8 Vgl. die kleine Schrift von Ernst Feder, Hugo Preuß, ein Lebensbild (Berlin, 1926, S. 13) auf Grund persönlicher Bekanntschaft mit Preuß.
2. Der Freundeskreis um die „Nation"
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allenfalls Gesetzesvorlagen zu Fall gebracht, die Regierung aber kaum beeinflußt oder gestürzt werden konnte. Diese unbefriedigende Lage verlangte danach, daß die Liberalen ihre bisher verfolgten Politik prüften und strenger als bisher auswählten, was sie an ideologischem Marschgepäck unbedingt in die Zukunft mitgenommen und welche liebgewordenen, aber hinderlichen Vorstellungen nun aufgegeben werden mußten. Der Liberalismus war ja nie ein geschlossenes System gewesen obwohl klar war und bleiben mußte, daß die freie Selbstbestimmung des Individuums, besonders im Wirtschafts- und Erwerbsleben, die Säkularisierung des öffentlichen Lebens, die Beschränkung der staatlichen Gewalt auf den Rechtsschutz und die Sicherheit der Bürger, überhaupt Freiheit, Rechtsgleichheit und eine repräsentative Regierung nicht geopfert werden konnten. Preuß' Liberalismus hatte wie die gesamte liberale Linke einen entschieden demokratischen Zug, der sie vom gemäßigten, älteren Liberalismus unterschied, dessen Anhänger lange Zeit nur das besitzende und gebildete Bürgertum für berufen hielten, sich mit Adel und Monarchie in die Regierung zu teilen. Der Staat, so wünschte Hugo Preuß stets, sollte die Gesamtheit der gleichberechtigten Staatsbürger/Genossen sein. Es war deshalb selbstverständlich, daß Hugo Preuß nicht das Geringste mit jener älteren, ebenfalls „organisch" genannten, aber konservativen Staatsauffassung gemein hatte, deren Ahnenreihe bis zu Adam Müller (1768-1854) und Carl Ludwig von Haller (1779-1829 reichte und die versucht hatte, feudale und landschaftliche Besonderheiten als „organische Gliederungen berufständischer Interessenvertretung an die Stelle der Volksvertretung zu setzen"19. Hugo Preuß stimmte auch nie in den Hochgesang der älteren Liberalen auf den Individualismus ein. Das hätte sich ebenfalls nicht mit dem Geist genossenschaftlicher Gliederung vertragen, der die Einzelperson stets auch als Glied einer höheren Gesamtheit, gebunden in Rechten und Pflichten, ansah. Als junger Privatdozent hatte er einen absoluten Individualismus im Wirtschaftsleben für „genau so unfruchtbar und widersinnig" wie einen absoluten Sozialismus gehalten, vielmehr eine „relative Betrachtungsweise" vertreten und in Haftpflicht, Fabrik- und Arbeiterschutzgesetzgebung und den verschiedenen Arten der Zwangsversicherang nur eine Minderung der Freiheit und eine Steigerung der Gebundenheit, aber keinen prinzipiellen Bruch mit der wirtschaftlichen Freiheit in ihrem allein vertretbaren relativen Sinne gesehen20. Er war kein grundsätzlicher Gegner jedes staatlichen Eingriffs in die Wirtschaft, sofern die Zweckmäßigkeit dies erfordere; umgekehrt wollte er aber auch nur das Gebot der Zweckmäßigkeit, keine Doktrin als Maßstab einer Stellungnahme zur Sozialisierung anerkennen21. Schon einige Jahre vor den neuen Überlegungen über die parlamentarische Taktik des Linksliberalismus hatte 19 Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 211. 20
Preuß, Die Bodenbesitzreform als soziales Heilmittel („Volkswirtschaftliche Zeitfragen) Berlin, 1892, S.5ff. 2 1 Ebd., S. 88.
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
Preuß in seinen frühen politischen Schriften wirtschaftspolitische Auffassungen vertreten, die seine spätere Wendung nach links zur Sozialdemokratie hin erleichterten. Als Hauptsache des Liberalismus betrachtete er das Streben nach dem Rechtsstaat, als dessen Gegensatz er freimütig das „persönliche Regiment" bezeichnete. Die Seele des Rechtsstaates, sagte er 2 2 . bestehe nicht vor allem in dem Zweck, „Gerechtigkeit" zu üben; das habe der „aufgeklärte Despotismus" Friedrichs des Großen und Josefs II. auch gewollt. Der Rechtsstaat sei nicht auf „Gerechtigkeitsliebe, sondern auf Gesetze gegründet, nicht auf das Belieben der leitenden Männer, sondern vor allem auf die Kraft und Güte der staatlichen Institutionen. Hier liegt der springende Punkt des Gegensatzes von Autokratie und Liberalismus". Auch das Ideal des Nachtwächterstaates, die möglichste Beschränkung des Staates, den der ältere Liberalismus sich eben immer nur als „Obrigkeit" hatte vorstellen können, auf den Rechtsschutz, brauchte Preuß' demokratischer Liberalismus nicht länger aufrecht zu erhalten 23. Der demokratische Rechtsstaat der Zukunft und seine Institutionen an Stelle der alten Obrigkeit durften, ja sollten stark sein; denn ein solcher Staat würde nicht länger im Gegensatz zu Volk und Gesellschaft stehen. Diese Überzeugung behielt Preuß ebenfalls bei bis in die Verhandlungen der Weimarer Nationalversammlung, wo er für eine starke Exekutivgewalt eintrat. Über alles wollte der junge Liberale den „unerschütterlichen Glauben an die Macht der Ideen, der großen Prinzipien, die im Völkerleben walten" gestellt sehen. Erst danach sollte die Politik die Kunst des Möglichen sein; jeder Politiker sei „in gewissem Sinne", so schränkte er ein, ein Realpolitiker. Autokraten wie Napoleon und Bismarck verachteten Ideen und Prinzipien. Cavour hingegen galt ihm als ein Muster des liberalen, vom Glauben an die nationale Selbstbestimmung und den freiheitlichen Grundzug der Zeit erfüllten Politikers 24 . Ein solches Programm, das nun im wesentlichen nur an Demokratie, Selbstverwaltung und Rechtsstaat festhielt, brauchte den sozialen Fortschritt und die Erfordernisse des modernen Industrie- und Massenstaates nicht auszuschließen; das mußte den Kreis der Freunde um Theodor Barth in die Lage versetzen, beweglich und realistisch den liberalen Fortschritt zu betreiben, die bestehenden innenpolitischen Gruppierungen aufzulockern und die liberalen Parteien, die Bismarck im Kampf mit der Sozialdemokratie durch das Gespenst der proletarischen Revolution nach rechts abgedrängt und manövrierunfähig gemacht hatte, wieder ins Spiel zu bringen.
22 Preuß, Liberale und autokratische Revolutionäre, 1888 (abgedruckt in Staat, Recht und Freiheit, S. 519 ff.). 23 Vgl. dazu die Bemerkungen über Staat und Recht oben I. 3., S. 28 f. 24 Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 525 f.
3. Kurswechsel nach links
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3. Kurswechsel nach links Die politische Neubesinnung der linksliberalen Gruppen in diesen Jahren war vor allem Friedrich Naumann, Max Weber und Theodor Barth zu danken. Friedrich Naumann (1860-1919) 25 war aus der evangelischen Sozialbewegung, dem Rauhen Haus Johann Hinrich Wicherns (1808-1881), hervorgegangen, wurde als Pfarrer einer sächsischen Bergwerksstadt von der Not des Proletariats, aber auch dem „Materialismus" der Sozialdemokratie beeindruckt. Eine Zeitlang Schloß er sich der „christlich-sozialen" Bewegung um den Hofprediger Adolf Stoecker an und entfaltete eine soziale Tätigkeit aus stark liberalidealistischen und individualistisch-religiösen Motiven, bis er, unter anderem, wegen Stoeckers Antisemitismus und der Einsicht in die Unfruchtbarkeit „friedlicher" und konservativer Wege sozialer Politik 1896 um seine Zeitschrift „Die Hilfe" eine eigene Gruppe, den National-Sozialen Verein, sammelte, von dem sich gebildete Liberale wie Adolf von Harnack, Hans Delbrück, Friedrich Meinecke, Rudolf Sohm, Max Weber und Lujo Brentano viel erhofften. Bei Max Weber, dem bahnbrechenden Soziologen, verbanden sich starke soziale Antriebe mit der Tradition einer liberalen Berliner Familie und dem betont „realistischen" Ideal einer von Klugheit und Maß gelenkten Politik nationaler Machtentfaltung zur Sicherung der Existenz einer rasch wachsenden Industrienation. Doch während des Weltkrieges wurden seine Überzeugungen von der Notwendigkeit nationaler Machtpolitik unter dem Eindruck der annexionistischen Kriegsstimmung der Alldeutschen schwer erschüttert. Friedrich Naumann, der „demokratische Imperialist", hingegen wollte den nationalen Machtstaat für eine entschlossene Sozialpolitik zu Gunsten der Arbeiterschaft benutzen. Für Max Weber war Sozialpolitik eher ein Mittel nationaler Konsolidierung, der Grundlage einer weitsichtigen Weltmachtpolitik. Naumann kam es vor allem auf die Entfaltung des Individuums in den Arbeitermassen an, Max Weber auf die Sicherung und Wohlfahrt der Nation. Naumann arbeitete, besonders seit er unter dem Einfluß Max Webers die Machtinteressen des modernen Nationalstaates zu verstehen und zu rechtfertigen gelernt hatte 26 , eifrig auf eine Verständigung zwischen der Sozialdemokratie und dem Liberalismus hin, ja hoffte, seine „National-Sozialen" als eine nichtmarxistische, weit nach links reichende Sammlungsbewegung in das Parlament fuhren zu können. Aber seine Gruppe blieb eine bürgerliche Elite ohne weitere Anhängerschaft. Der Ausgang der Reichstags wählen von 1905, die Naumann wiederum keinen Erfolg gebracht hatten, legten ihm endgültig nahe, sich einer linksliberalen Gruppe anzuschließen und von dort aus politischen Einfluß zu erobern. Um die Fusion der National-Sozialen mit der Freisinnigen Vereinigung machte sich vor allem Barth verdient, dessen läutere Persönlichkeit den Freunden Naumanns die Entscheidung 25
Siehe dazu die Biographie Naumanns von Theodor Heuß. Marianne Weber, Max Weber, Tübingen, 1926, S. 141 ff. Dies wird freilich von Theodor Heuß (a. a. O., S. 137) bestritten. 26
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
erleichterte. Umgekehrt aber konnte auch Theodor Barth bei seinen Freunden für Naumann werben. Aus diesem Jahre 1905 datierte die „Barth-Naumann'sehe Taktik" parlamentarischer Verständigung mit den Sozialdemokraten von Fall zu Fall über erreichbare gemeinsame Ziele. Hinter ihr stand Naumanns Plan eines großen linken Blocks im Reichstag „von Bassermann bis Bebel" - den Parteiführern der Nationalliberalen und der Sozialdemokraten - um damit die Herrschaft der Konservativen zu brechen und die längst überfällige Parlamentarisierung und Demokratisierung zu erzwingen. Unter dem Einfluß Naumanns hatten schon in den Jahren vor dem Zusammenschluß Ludwig Bamberger und Theodor Barth ihre Einstellung zur Sozialdemokratie geändert, und ungefähr gleichzeitig mit ihnen auch Hugo Preuß 27. Den Wandel von Hugo Preuß' Auffassung über die große sozialistische Arbeiterpartei kann man an einigen seiner Aufsätze sehr deutlich nachzeichnen. Im Jahre 1891 glaubte er, etwas keck und mit seiner Vorliebe für gewagte Antithesen, die Sozialdemokratie sei „die spezifische Negation des Liberalismus" und die „größte Feindin des Parlamentarismus"; ihre Staatsauffassung hielt er für „eminent reaktionär" wegen ihrer Rousseau'schen Ideale und ihres Hanges zur alten „eudämonistischen Vielregiererei" 28. Der bürgerliche Individualist stieß sich vor allem an der „mechanischen Gleichheit und alle freie Tätigkeit aufsaugenden Zentralisation" der Sozialdemokraten. Immer werde man nämlich einer Aristokratie und einer von den Geführten ungleichen Führerschaft bedürfen. Dabei vertrage sich eine „natürliche Aristokratie" wie, er sie wünschte, durchaus mit dem demokratischen Zug der Zeit. Das Wesen der Gleichheit könne nur darin bestehen, möglichst alle an äußerlich-formale Momente geknüpften Unterschiede wie adelige Geburt, Grundbesitz und Vermögen auszuschalten, um die tatsächliche Ungleichheit, die natürliche Aristokratie aus allen Schichten des Volkes sich entfalten zu lassen29. Gerade um einer solchen Differenzierung willen und aus Abneigung gegen das „sozialistische Gleichheitsprinzip" verfocht Hugo Preuß von Anfang an das gleiche Wahlrecht in Preußen und die Beseitigung der Sozialistengesetze30. Ein knappes Jahrzehnt später, 1899, bedauerte Preuß in der „Nation", daß „noch heute der Wahn mächtig ist, daß die Sozialdemokratie eigentlich außerhalb des gemeingültigen Parteien Verkehrs stehe"31. Bismarck habe mit der Furcht vor der „roten Republik" die natürliche Solidarität von Bourgeoisie und Proletariat gegen27
Vgl. Ernst Feder, Theodor Barth, und Feders Einleitung zu den geheimen Tagebüchern Ludwig Bambergers („Bismarcks großes Spiel", Frankfurt, 1932, S. 37 f.). 28 Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 144 f. 29 Nach einer Mitteilung von Dr. Ernst G. Preuß wünschte Hugo Preuß auch hohe Erbschaftssteuern; denn es sei „gefährlich, wenn die dummen Jungen tüchtiger Väter eine Menge Geld in die Hände bekämen". 30 Siehe dazu auch den Aufsatz Preuß' über seinen „Besuch in Hottingen-Zürich" in einer Druckerei illegaler sozialdemokratischer Schriften (abgedruckt in Staat, Recht und Freiheit, S. 554 ff.). 31 Preuß, West-östliches Preußen (Staat, Recht und Freiheit, S. 207 und 227).
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über dem Feudalismus sprengen wollen. Und in einem Aufsatz aus dem Jahre 1905, unmittelbar nach den Reichstagswahlen, die den Sozialdemokraten drei Millionen Stimmen eingebracht hatten, betrachtete er die proletarischen Nachbarn zur Linken mit offenem Wohlwollen. Sie hätten ja inzwischen stillschweigend die verfassungspolitischen Anschauungen des demokratischen Radikalismus und Parlamentarismus angenommen und spännen im großen und ganzen in den verfassungspolitischen Fragen denselben Faden, wenn auch eine etwas andere Nummer als der entschiedene Liberalismus. Preuß wies das Bürgertum auf die beginnende Abkehr der besten Köpfe der Arbeiterpartei von der marxistischen Lehre, der materialistischen Geschichtsauffassung und von dem „Gleichheitskommunismus" und auf die Hinwendung zu evolutionärem Denken hin. Umgekehrt wies Preuß die Sozialdemokratie auf den „eminent sozialen Charakter" des modernen Konstitutionalismus hin, dessen Grundlage in der Gesamtpersönlichkeit der sozialen Gemeinwesen zu suchen sei, die mehr und anderes sei als die Summe der eingegliederten Individuen. Am Ende dieses Aufsatzes kam er zu der Ansicht, daß der Konstitutionalismus „der rückhaltlosen Mitarbeit des Sozialismus in Theorie und Praxis nicht mehr entraten" könne 32 . Freilich kam es vor dem Kriege, nicht mehr zu dem parlamentarischen Bündnis der liberalen Parteien und der Sozialdemokratie. Weder war Naumann der überragende politische Führer, dessen es bedurft hätte, noch reichten die Kräfte des evolutionären Flügels der Sozialdemokratie und der demokratischen und sozialreformerischen Gruppen des Liberalismus zur Bildung einer festgefügten demokratischen Mehrheit. Aber was für Hugo Preuß ursprünglich nur taktische Überlegungen für die Demokratisierung gewesen waren, wobei das Bündnis mit der Sozialdemokratie der liberalen Elite die Unterstützung der Arbeitermassen hätte bringen sollen, entwickelte sich zu einer sozialen Gesinnung aus individualistischhumanitären Motiven. Als Minister der Weimarer Republik wies Hugo Preuß in seiner großen Rede zur Begründung des Verfassungsentwurfs am 24. Februar 1919 vor der Nationalversammlung darauf hin, daß „die politische Freiheit und Verantwortlichkeit, die sittliche Würde der Demokratie", auch die Voraussetzung dafür werden müsse, „den arbeitenden Massen den Aufstieg zu freiem Menschentum mit seiner sittlichen Würde und Verantwortlichkeit zu bahnen"33. Das war der Gedanke einer liberalen und sozialen Demokratie. Die geistige Elite des liberalen Bürgertums, einst in den politischen Professoren des „klassischen Liberalismus" repräsentiert, hatte sich von der Rechten in das Lager der demokratischen und unter dem Einfluß der „Kathedersozialisten" auch sozialreformerischen Linken verschoben. Naumànn, Max Weber und Hugo Preuß waren ihre Sprecher. Naumann gelang mit Mühe der Eintritt in den Reichstag. Die beiden Professoren fanden keinen Abgeordnetensitz mehr - ein deutliches Zeichen für die innere Schwäche des liberalen Gedankens in dem neuen Jahrhundert. 32
Preuß, Sozialismus und Konstitutionalismus (in Staat, Recht und Freiheit, S. 230 ff.). 33 Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 397.
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
Hugo Preuß machte nie ein Hehl daraus, daß er, ein Politiker aus Leidenschaft, gerne einen Parlamentssitz eingenommen hätte. Aber alle seine schon frühzeitig unternommenen Versuche blieben vergeblich. Freilich war er vom Standpunkt einer Parteiorganisation aus kein bequemer Mann, zu eigenwillig, zu unabhängig, als daß er leicht in eine Fraktion gepaßt hätte. Er blieb stets ein Außenseiter der liberalen Parteipolitik und bemühte sich auch nie um ein Amt in der Partei. Lediglich mit Theodor Barth zusammen unternahm er Wahlreisen in die Städte der Umgebung Berlins. Den von der Pike auf gedienten, sich nach Verdienst um die Parteiorganisation und Anciennität einschätzenden Politikern zweiten und dritten Ranges blieb vermutlich nicht verborgen, daß Hugo Preuß sie nicht allzu ernst nahm. Empfindliche Leute schienen ihm auch seine unverblümten Offenheiten und seine Berliner „Schnoddrigkeiten" verübelt zu haben34. Noch mehr aber machten ihn seine persönlichen Freundschaften mit unabhängig denkenden Männern aus anderen Parteien, vor allem den Sozialdemokraten Friedrich Ebert, (der damals noch nicht Parteivorsitzender der SPD war) und Albert Südekum (1871-1944), Fachmann der SPD für kommunale Fragen und später preußischer Finanzminister (1919-1920) in den Augen vieler Liberaler verdächtig. Die Meinung des Bürgertums bis weit in seinen linken Flügel hinein war offensichtlich noch nicht reif für ein engeres Zusammengehen mit den Sozialdemokraten. (Auch später, bei den Wahlen zum ersten Reichstag der Republik, mißlang Preuß der Eintritt ins Parlament. Nachdem zu Anfang des Jahres 1919 Hugo Preuß' Pläne zur Aufteilung Preußens bekannt geworden waren, verstärkte sich der Widerstand innerhalb der neuen Deutschen Demokratischen Partei, vor allem von ihrem nationalliberalen Flügel her, gegen ein Reichstagsmandat für den Mitgründer der neuen Partei, der ihr das Odium der 35 „ Z e r s c h l a g u n g Preußens" eingebracht hätte .) Die Ausschließung von der praktischen Arbeit im Parlament war in ganz ähnlicher Weise auch Max Webers Schicksal; auch er dachte zu unabhängig, zu kompromißlos und in der Wirtschaftspolitik zu „sozialistisch". Trotz der gemeinsamen Freundschaft zu Friedrich Naumann blieben die persönlichen Beziehungen zwischen Max Weber und Hugo Preuß noch längere Zeit, bis in die Kriegsjahre, ziemlich lose 36 .
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Nach einer Mitteilung von Dr. E. G. Preuß. Besonders diesen Grund führen Theodor Heuß (Friedrich Naumann, S. 605) und Ernst Feder (Hugo Preuß, S. 25 f.) an. In Berlin kam es damals sogar zu förmlichen Entschließungen gegen eine Kandidatur Preuß' für die Nationalversammlung. Im Gegensatz zu Heuß und Feder bestand aber Dr. Ernst G. Preuß in einem Gespräch am 3. Juli 1954 in Wimbledon darauf, daß die Parteimeinung seinem Vater in erster Linie die Sympathie für ein engeres Zusammengehen mit der Sozialdemokratie verübelte. 35
36 Hugo Preuß spottete über Max Weber und seinen Freund Friedrich Naumann gern als „Theoretiker". Max Weber hielt er für den Typus eines „deutschen Professors" mit all seinen Schwächen und Vorzügen. Darin lag eine ungewollte Ironie. Denn Hugo Preuß war selbst ein richtiger „deutscher Professor" und jedenfalls nicht der Praktiker, für den er sich gern hielt (nach Mitteilungen von Dr. E. G. Preuß und Professor Dr. Willibalt Apelt).
4. Nationalstaat und internationale Gemeinschaft
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4. Nationalstaat und internationale Gemeinschaft Friedrich Naumann hatte unter dem Einfluß Max Webers bei den Freisinnigen nicht nur jene Tendenz zur Verständigung mit der Sozialdemokratie maßgeblich bestärkt, sondern auch die Aufnahme eines gemäßigten Imperialismus zu einem beträchtlichen Teil vorbereitet. Hugo Preuß hingegen hielt sich von solchen Ideen ganz frei, wohl mit einem Gefühl für die Problematik eines liberalen und sozialen Imperialismus. Konnte es in der politischen Wirklichkeit einen klugen Nationalismus und Imperialismus geben, dessen Klugheit, so hatte es Max Weber gewünscht, sich darin zu erweisen hätte, daß er nicht kurzsichtige nationalistische und „dumme" Machtpolitik trieb, sondern sich weitsichtig von den wirklichen Interessen statt Prestigebedürfnissen der Nation bestimmen ließ? Hätte die Analyse der nationalen Interessen in langer Perspektive nicht bald zu der Überzeugung führen müssen, daß die wahren Interessen der einzelnen Nation letzten Endes mit dem Wohl der Völkergemeinschaft vereinbar sein, am Ende gar als identisch gelten müßten? In dieser Richtung jedenfalls scheinen sich Hugo Preuß' Gedanken bewegt zu haben, für die es einige Zeugnisse aus seinen politischen Anfängen gibt; in der Mitte seines Lebens werden sie spärlicher, aber wieder recht zahlreich während des Weltkrieges. Von Anfang an wehte bei Hugo Preuß ein über-nationaler Geist, etwa in einer Schrift über Völkerrecht und Weltwirtschaft 37 aus dem Jahre 1891, in der er sowohl für die tatsächliche Existenz eines allgemeinen internationalen Rechts als auch seine Verbindlichkeit agrumentierte. Auch in einer Anzhal von Artikeln für die „Nation" fällt neben einem zurückhaltenden nationalen Selbstbewußtsein eine liberal-weltbürgerliche und kosmopolitische Einstellung auf. So erinnerte er im Jahre 1888 im Gedenken an die Französische Revolution 38 an die „ideelle internationale Gemeinschaft der Staaten und Völker", deren Hebamme die Französische Revolution gewesen sei, und beklagte die nationale Absperrung, die inzwischen zum internationalen Charakterzug geworden sei. Er sprach von der großen staatsbildenden Kraft des Nationalitätsprinzips 39, doch auf die Spitze getrieben, wirke es staatszerstörend. Einen Wesenszug der europäischen Kultur erblickte er gerade im Austausch und der Mischung scheinbar originär nationaler Eigentümlichkeiten wie Sprache, Sitte, Recht und Religion, wofür ihm das englische Volk wiederum ein hervorragendes Beispiel zu sein schien. Für Eroberungszüge hielt der junge Liberale den modernen Nationalstaat ganz und gar nicht disponiert. Der Expansionstrieb sei die einzige Lebensregung innerlich toter, despotischer Staaten wie des zaristischen Rußlands. „Für das zivilisierte Europa ist die Zeit der bloßen Eroberungskriege vorbei; die Nationen, konstituiert und organisiert 37
Preuß, Das Völkerrecht im Dienst des Wirtschaftslebens (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 99/100), Berlin, 1891. 38 Preuß, Die Jubelfeier der Französischen Revolution (Staat, Recht und Freiheit, S. 538 ff.). 39 Preuß, Nationalitäts- und Staatsgedanke, 1887 (Staat, Recht und Freiheit, S. 531 ff.).
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
im modernen Staat, werden keinen Anlaß geben, ständig und unausgesetzt nur nach außen zu schauen". Er wünschte sich die völlige Aussöhnung zwischen dem Nationalitäts- und dem Staatsgedanken, die zu Völkerfrieden führen werde. Dreißig Jahre später, in seiner Rektoratsrede vom 19. Oktober 1918, noch im Kriege, bekannte er sich zum Ideal einer internationalen Gemeinschaft der Völker und zu einem künftigen Völkerbund. Max Webers, des einstigen Alldeutschen, gemäßigter Nationalismus ging nie so weit, auch nicht im Anblick der unliebenswürdigen Züge des Parvenü und des Wilhelminismus im zeitgenössischen Bild des deutschen Nationalcharakters, die er kritisierte. Für Weber gab es keine schlichte Synthese zwischen Nationalstaat und Völkergemeinschaft. Sie fiel Hugo Preuß leicht, auch deshalb weil nur an den Machtfragen der inneren, nicht der auswärtigen Politik wirklich interessiert war. Auf dem Feld der Verfassungspolitik allerdings vereinte die beiden politischen Professoren ein gleicher, unbedingter Wille zum parlamentarischen System und zumKampf gegen die Klassenherrschaft des ostelbischen Junkertums, das Ideal einer natürlichen Aristokratie sowie ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der Sozialdemokratie und sozialpolitischer Reform.
5. Der politische Professor Damit stellt sich freilich eine Grundfrage für denjenigen, der sich wissenschaftlich mit den Erscheinungsformen menschlichen Zusammenlebens beschäftigt. Soll der Historiker und Sozialwissenschaftler nur wissen wollen, wie die Welt ist oder war - oder darf er auch fragen, wie sie sein soll? Ist der „politische Professor" eine erlaubte Erscheinung, und wenn nicht, gibt es überhaupt einen wirklich unpolitischen Weg geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung? Gierke wußte sich mit Laband trotz allem, was sie trennte, darin einig, daß „die saubere Trennung des Rechts von der Politik eine der vornehmsten Aufgaben der echten Staatslehre" sei. Gierke glaubte an die Lösbarkeit einer solchen Aufgabe. Aber es entging ihm doch nicht, daß durch Labands als streng und ausschließlich juristisch deklarierte Staatslehre politische Motive hindurchschimmerten 40. Auch gibt es keinen Zweifel, daß Gierke trotz seiner subjektiv „unpolitischen" Einstellung in hohem Grade politisch wirkte und zur Rechtfertigung des bestehenden konstitutionellen Systems beitrug. Hugo Preuß hingegen, dem Außenseiter der Staatsrechtslehre, wurde häufig der Vorwurf des politisierenden Juristen, der Vermengung von Jurisprudenz und Politik gemacht. Abgesehen davon, daß die Urheber dieses Vorwurfs sich damit eines spezifischen politischen Kunstgriffs bedienten, bezeichnet das Wort „politisch" doch gar kein eigenes Sachgebiet, das man von anderen Sachgebieten unterscheiden könnte 41 , sondern den Intensitätsgrad eines 40 Gierke, Labands Staatsrecht, Schmollers Jahrbuch, Bd. 7, (1883), S. 1105 ff. Carl Schmitt, Hugo Preuß, S. 5.
5. Der politische Professor
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zweckbestimmten Wollens. Da es in den Disziplinen der Geistes Wissenschaften keine Objektivität im strengen Sinne geben kann, solange die Wertmaßstäbe nicht dem betreffenden Sachgebiet selbst entnommen werden können, war es jedenfalls ehrlicher und selbstkritischer, wenn Hugo Preuß die politischen Antriebe und Maßstäbe seines Forschens nicht verheimlichte. Damit ist allerdings die Problematik des politisch gesinnten Wissenschaftlers nicht zu Ende. In welche Gefahren Preuß dabei geraten konnte, haben wir bei seinen historischen Studien gesehen. Besteht aber schon von der Sache her ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Jurisprudenz und den politisch-historischen Entwicklungen, für die jene die Formen rechtlicher Organisation zu liefern hat, so bekam Hugo Preuß innere Verknüpfungen auch recht handgreiflich in den auffälligen Hemmungen seiner Laufbahn als Universitätslehrer zu spüren. Da wurde der Rechtswissenschaftler für die Sünden des Kommunalpolitikers wider den Geist des monarchischen Prinzips bestraft. Diese Vorgänge werfen ein sehr interessantes Licht auf die Art und Weise, wie die konservativen, vorgeblich „staatserhaltenden" Kräfte in Preußen sich eines ihrer Gegner erwehrten. Hugo Preuß hatte sich Anfang Februar 1889 für das Fach des Staatsrechts an der Universität Berlin habilitiert 42 . Die Probevorlesung vor der Fakultät behandelte die organische Bedeutung der Artikel 15 und 17 der Reichs Verfassung. Die beiden Artikel bestimmten das Verhältnis des Reichskanzlers zum Kaiser und zum Reichstag. Entscheidend war das Vertrauen des Monarchen; auf den Mehrheitswillen des Reichstages kam es bei der Regierungsbildung verfassungsrechtlich nicht an: hier war der Schein- oder Halbkonstitutionalismus der Bismarck'sehen Reichsverfassung mit Händen zu greifen. In der veröffentlichten Form trug der Vortrag den Titel „Deutschland und sein Reichskanzler gegenüber dem Geist unserer Zeit". In den folgenden Semestern entfaltete Hugo Preuß eine lebhafte Vorlesungstätigkeit über allgemeines und vergleichendes Staatsrecht, vor allem über die Verfassungen Preußens und des Reiches, über Verwaltungsrecht, Steuerwesen und deutsches Städterecht. Von Anfang an beschäftigte er sich auch mit europäischer Verfassungsgeschichte und politisch-rechtstheoretischen Gegenständen. Gerade diese Vorlesungen waren bald seine besuchtesten Kollegien, die er an Hand weniger Notizen aus dem lebendigen Augenblick in freiem Vortrag stets neu zu formulieren liebte. Die Teilnahme an seinen Seminaren pflegte er streng auf zehn, höchstens zwölf Studenten zu beschränken43. In jenen ersten Jahren begann auch ein engerer wissenschaftlicher und geselliger Umgang mit dem Römisch-Rechtler Ernst Eck (1838-1901), Otto Gierke und dem Kriminalisten Franz von Liszt (1851 -1919). 42 Die folgende Darstellung beruht, wo nicht anders vermerkt, vor allem auf den Personalakten des preußischen Kultusministeriums in den Beständen des ehemaligen Preußischen Geheimen Staatsarchivs, jetzt Deutschen Zentralarchivs II, Merseburg, Rep. 76, Abt. Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 49, vol. I I und III („Die Privatdozenten der juristischen Fakultät der Universität Berlin und deren Renumeration"). 43 Nach einem Brief von Dr. E. G. Preuß vom 24. Januar 1954.
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Im zweiten Jahr seiner Tätigkeit als Privatdozent wollte die juristische Fakultät Preuß' Gesuch um die Ernennung zum Extraordinarius noch nicht unterstützen. Seine wissenschaftlichen Leistungen seien noch nicht ausreichend, hieß es in dem Gutachten an das Ministerium. Doch schon bei dieser Gelegenheit meldete sich im Hintergrund bereits der Antisemitismus als eine der Gegenkräfte an, die sich Hugo Preuß erst später offen in den Weg stellten44. Sechs Jahre später, im Dezember 1902, befürwortete die Fakultät ein erneutes Gesuch Preuß' um eine außerordentliche Professur an der Berliner Universität und lobte dabei sehr den wissenschaftlichen Wert seiner Publikationen, namentlich das neue „Amtsrecht in Preußen". Ein halbes Jahr später lehnte Friedrich Althoff, der Leiter der Hochschulabteilung des Ministeriums, das Gesuch unter dem Vorwand etatrechtlicher Rücksichten ab. Bei Althoffs Akten lag die Abschrift eines Briefes des Hofmarschalls der Kaiserin, des Grafen Mirbach, an den Rektor der Berliner Universität, in dem es hieß, „Ihre Majestät vertrauen, daß Eure Magnifizenz geeignete Mittel finden werden, um die Gefahren abzuwenden, daß solche jüdischen Spötter Lehrer unserer heranwachsenden Jugend sind." Die Fakultät erneuerte zwar sogleich ihr Gesuch, jedoch wiederum vergeblich.
6. Der „Fall Preuß" Was war geschehen? Am 26. Oktober 1899 hatte Hugo Preuß in der Berliner Stadtverordneten-Versammlung zugunsten einiger jüdischer Lehrerinnen in den Berliner Volksschulen45 scharf gegen den Versuch des preußischen Kultusministers protestiert, den gesetzlich geregelten nicht-konfessionellen („Simultan"-)Charakter der Berliner Volksschulen im Verwaltungswege stillschweigend insofern aufzuheben, als jüdische Lehrkräfte allenfalls noch zur Erteilung jüdischen Religionsunterrichtes, aber nicht mehr für die anderen Fächer eingestellt werden sollten. Hugo Preuß wandte sich scharf dagegen, daß die Stadt Berlin einen so schweren Eingriff des Ministers in die Rechte der kommunalen Selbstverwaltung in ergebener Untertänigkeit und der Stimmung des Bibelverses dulde: „Exzellenz hat es gegeben, Exzellenz hat es genommen, der Name seiner Exzellenz sei gelobt". 44 Der langjährige, gefürchtete Leiter der Hochschulabteilung im preußischen Kultusministerium, Friedrich Althoff, pflegte, wie sein Biograph Arnold Sachse („Friedrich Althoff", Berlin, 1928, S. 179) berichtet, jüngere Beamte des Ministeriums in die Vorlesungen zu schicken, damit sie ihm über die betreffenden Dozenten und Professoren berichteten. Der vertrauliche Bericht eines dieser Beamten vom 13. Mai 1896 über eine rechtsphilosophische Vorlesung Preuß' meldete die Anwesenheit von sechs Hörern, „von denen vier dem Aussehen nach Juden waren". Preuß trage nicht uninteressant vor, heißt es weiter, indessen bewegten sich seine Ausführungen wesentlich nur an der Oberfläche und ließen „die wünschenswerte Tiefe" vermissen. Althoff lehnte kurze Zeit später Preuß' Gesuch ab. 45 Vgl. dazu auch die vorhergegangenen Reden Preuß' in der Stadtverordneten-Versammlung am 19. März 1896, 18. März 1897, 1. Dezember 1898 und den Aufsatz „Das Bekenntnis des Kultusministers und die Konfessionalität der Berliner Schulen", in der „Nation", Jahrg. 1898/99, S. 396 ff.
6. Der „Fall Preuß"
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Am 1. November meldete die „Germania", die Zeitung der Zentrumspartei, unter der Überschrift „Jüdische Frechheit" die Entrüstung der evangelischen Brandenburgischen Provinzialsynode darüber; vor der Annahme einer Protestresolution habe einer der Synodalen „Klage vor Gott und dem ganzen Lande" erhoben, daß von dem Privatdozenten Dr. Preuß, der ein Jude sei, Dinge in den Staub gezogen würden, die allen Christen heilig seien. Die „Kreuzzeitung", die Zeitung der Konservativen Partei, hatte schon einen Tag zuvor eine ähnliche Meldung veröffentlicht und das Stichwort der „Judenfrage" ausgegeben, andere Blätter oder rechtsstehende Gruppen wie der Pommersche Provinzialverband der Deutsch-Sozialen Reformpartei waren gefolgt. Sie alle verrieten das augenfällige Bemühen, Preuß' Parodie zu mißdeuten. In keinem der Kommentare wurde gefragt, warum Preuß überhaupt gesprochen hatte: nämlich als Advokat städtischer Freiheit und einer kleinen Minderheit, die ihres Glaubens wegen und entgegen den eindeutigen Grundrechtsbestimmungen der preußischen Verfassung heimlich und offen verfolgt und zu Bürgern minderen Rechts herabgedrückt werden sollte. Es nützte Hugo Preuß deshalb auch nichts, daß er, sogleich im „Berliner Tageblatt" erklärte, er habe niemand in seinem religiösen Gefühl verletzen wollen, und wenn es doch geschehen sei, bedaure er es; im übrigen aber, meinte er, liege doch, wenn sich jemand Dichterworte oder Sprüche auf die Lippen drängten, wirklich nichts ferner als die Absicht, diese Worte verhöhnen zu wollen. Die Sache war damit nicht zu Ende. Sie wuchs sich zu einem „Fall Preuß" aus, als der Oberhofmeister der Kaiserin dem Kultusminister in einem als geheim bezeichneten Brief ihrer Majestät allerhöchstes Mißfallen über Herrn Preuß mitteilte und um die Verfolgung der Angelegenheit bat. Einen ähnlichen Brief richtete Mirbach am 3. November an den Rektor der Universität. Das wurde bekannt, und nun griff die freisinnige Presse, namentlich die „Frankfurter Zeitung", das „Berliner Tageblatt" und die „Vossische Zeitung", ein. Für sie ging es jetzt um Prinzipienfragen, die Gefahr einer „Nebenregierung" vom Hofe aus und die Vermengung akademischer Disziplinarfragen mit politischen Äußerungen in einer StadtverordnetenVersammlung - sonst sei bald die „ Z e n s u r " da. Die juristische Fakultät beeilte sich inzwischen mit dem gewünschten Disziplinarverfahren und erteilte Preuß einen „Verweis", die mildeste Strafe, die überhaupt möglich war. Hugo Preuß legte keine Berufung ein, um die Fakultät nicht in noch ärgere Verlegenheit zu bringen. Sie wurde ohnehin von den freisinnigen Blättern für ihre Nachgiebigkeit gerügt. Wie geringfügig auch der Stein des Anstoßes und wie grotesk der Lärm dazu gewesen waren, so wurde doch deutlich, daß der politisch konservative, vorgeblich „christliche" Antisemitismus nur auf eine passende Gelegenheit gewartet hatte. Preuß hatte drei Jahre zuvor, 1896, den Skandal in der Schulpolitik aufgedeckt und seitdem immer wieder daran gerührt. Das war ihm nicht vergessen worden. Als er die geringste Blöße zeigte, war die Gelegenheit gekommen, nicht nur den jüdischen Dozenten, sondern auch den liberalen Kommunalpolitiker und Publizisten zu bestrafen. Im Winter 1910, einundzwanzig Jahre nach Preuß' Habilitation, bemühte sich die Berliner Fakultät, besonders Otto Gierke 46 , abermals um eine außerordentliche 5 Gillessen
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
Professur für den ewigen Privatdozenten. Im Ministerium wurden wieder die alten Akten über den Vorfall vor mehr als einem Jahrzehnt gelesen und auch Preuß' Sympathie für die Sozialdemokraten vermerkt 47. Das Gesuch der juristischen Fakultät wurde erneut unter etatrechtlichen Vorwänden abgelehnt. Inzwischen war Hugo Preuß schon Professor an der neuen, von der Berliner Kaufmannschaft errichteten Handelshochschule. Bevor das Handelsministerium jedoch Preuß' Berufung an die neue Hochschule bestätigte, hatte das Kultusministerium wiederum vertraulich auf das Mißfallen der Kaiserin an Herrn Preuß aufmerksam gemacht. Sein anerkannter wissenschaftlicher Rang verhalf ihm an keiner staatlichen Universität zu einer Professur. Der „Fall Preuß" mit seinen Folgen zeigte zugleich die Bedeutung wirtschaftlicher Unabhängigkeit für eine politisch unabhängige Meinung. Preuß hätte kaum standhaft bei seinen Überzeugungen bleiben können, wenn er auf das Kolleggeld eines Privatdozenten angewiesen gewesen wäre. Er hätte sonst entweder seine politische Opposition oder seinen akademischen Beruf aufgeben müssen. Tatsächlich entsprachen seine privaten Verhältnisse und sein Verhalten ganz einem alten englischen Ideal: dem des wirtschaftlich unabhängigen Gentleman, der weder vom Ertrag seiner Studien noch von der Politik leben muß, sondern beides wie ein Amateur aus uneigennützigem Interesse betreiben kann und weder um einer Beförderung im Amt noch um einer Funktion in der Partei willen seine Überzeugung anpassen muß. Im Strudel des Weltkrieges und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs ist dieser Typus des Politikers samt dem gebildeten Bürgertum, das ihn hervorbrachte, untergegangen.
7. Judentum und Antisemitismus Nach allem könnte es scheinen, Hugo Preuß habe vor allem wegen seiner jüdischen Glaubensgenossen in den Berliner Schulstreit eingegriffen. Das war tatsächlich nicht der Fall. Er focht nicht aus Gruppeninteresse. Er kämpfte für liberale Prinzipien, für die staatsbürgerliche Gleichberechtigung und für die Freiheit der 46 Nach einer Mitteilung von Dr. E. G. Preuß. Gustav Schmoller soll hingegen gegen eine Professur Preuß' intrigiert haben. Sein Antisemitismus geht im übrigen aus einer unerfreulichen Besprechung von Preuß' Buch „Das deutsche Volk und die Politik" (in Schmollers Jahrbuch, Bd. 40 (1916), S. 423 ff., später wieder abgedruckt in Schmollers Schrift „Walther Rathenau und Hugo Preuß, München, 1922) hervor: Preuß sei „einer der Häuptlinge des Berliner Freisinns geworden, der, sozial auf semitischer Millionärsbasis beruhend, unsere Hauptstadt mehr oder weniger beherrscht". Die verfassungsmäßige Gleichberechtigung sei noch nicht gröblich verletzt, „weil einzelne Ämter noch nicht jedem jüdischen ungetauften Bewerber erreichbar sind, weil einzelne Regimenter das ihnen zustehende freie Wahlrecht noch zum Judenausschluß benutzen, weil an den Universitäten noch nicht alle zahlreichen jüdischen Privatdozenten so rasch Professoren werden, als sie persönlich glauben, es nach ihrem Talent zu verdienen 47 Auf dem Gesuch der juristischen Fakultät vom 2. Dezember 1910 befindet sich eine Bleistiftnotiz eines Ministerialbeamten: „Herr Preuß kooperiert mit den Sozialdemokraten gegen Herrn Cassel"; Cassel war der Führer der rechtsliberalen Stadtverordneten-Fraktion.
7. Judentum und Antisemitismus
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städtischen Verwaltung vor rechtswidrigen Eingriffen einer staatlichen Behörde 48. Das war etwas ganz anderes. Man muß sich verdeutlichen, wie unwichtig eigentlich die „jüdische Frage" für ihn war. Lange Zeit begriff er gar nicht, daß es sie geben konnte. Als während des Weltkrieges einem seiner Söhne, der mit dem Eisernen Kreuz, ausgezeichnet worden war, das längst fällige Offizierspatent jahrelang vorenthalten wurde, schrieb Hugo Preuß in einem Brief an die Westfront: „Überhaupt liegt da irgend ein Etwas, das uns erblich anhaften muß und das mit dem Credo allein nicht erschöpft ist. Ich habe in meinem leider schon langen Leben auf anderen Gebieten ganz analoge Erfahrungen gemacht; ja, ich mache sie heute noch immer wieder, wovon ich Dir vielleicht dies und das erzählen kann. Wir wachsen über die Stellungen hinaus, die wir doch nicht kriegen. So ist es auch mit dem Isoliertsein und dem Draußenstehen. Das liegt in uns; mir geht es immer und überall so, und zwar keineswegs nur gegenüber den „Anderen", sondern genau so auch gegenüber „unseren Leuten". Es scheint wir sind ein Fort für uns. Da ist wohl im allgemeinen nicht viel zu ändern." Mit den „Anderen" meinte er die Nicht-Juden, mit „unseren Leuten" die Juden, die in der strengen Tradition des Judaismus lebten und den liberalen Preuß als „Abtrünnigen" anzusehen geneigt waren. Seine eigene, aufgeklärt-liberale Auffassung des Judentums trennte ihn auch von seinem Freund Paul Nathan, dem Herausgeber von Ludwig Bambergers Lebenserinnerungen (1899). Hier hat man wohl die Ursache zu suchen, warum Preuß die „unselige Frage", wie er einmal sagte, nicht ganz verstand. Die Juden waren doch kein eigenes Volk, sagte er. Gehörten sie nicht den Völkern an, an deren Kultur und Sprache sie teilnahmen? „Nur wer es selbst empfunden hat, an eigener Seele erfahren, was es heißt, als Fremdling zu gelten im Vaterland, alle Schmähungen verblendeten Nationalhasses zu erdulden in der eigenen Muttersprache traulich lieben Klang, sich in einen feindlichen Zwiespalt gebracht zu sehen mit eben jener Kultur, in der man lebt und webt, deren bestimmende Keime man vor allem Bewußtsein schon in sich aufgenommen hat, sich auf Schritt und Tritt als ein Anderer unter Gleichen, als ein Ausgeschlossener unter den Genossen fühlen zu müssen - nur wer all das empfunden hat von den Spielen der Jugendzeit ab ... vermag vielleicht einmal den rechten und vollen Ton zu treffen, um auf die Judenfrage 4 die gebührende Antwort zu geben" 49 . Preuß litt darunter, aber er begriff nicht. Ausdrücklich wandte er sich gegen die wachsende Neigung unter den Juden, der stillschweigenden Mißachtung der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung mit eigenen Interessenvertretungen in den Landtagen zu begegnen. Ein „jüdisches Zentrum", argumentierte er damals50, würde nur noch mehr die Auffassung stützen, daß die Konfession die Grundlage für die - am Ende gar noch nach Verhältniszahlen zu regelende - Beteiligung am Staate sein könnte. Der liberale Gedanke der Gleichberechtigung, der den Juden die Emanzipation 48 Dies sprach Preuß besonders deutlich in dem erwähnten Artikel in der „Nation", Jahrgang 1898/99, S. 396 ff. aus. 49 Preuß, „Konfessionelle Kandidaturen", in der „Nation", 1898/99, S. 18. 50 Preuß, a. a. O., S. 17 ff.
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III. Der liberale Publizist der Vorkriegszeit
gebracht habe, verwerfe jede Berücksichtigung der Konfession im Bereich der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Der Gedanke der religiösen Gleichberechtigung bedeute ja, „daß bei Wahl eines Volksvertreters sein Glaubensbekenntnis absolut gleichgültig" sei. Und die Abhilfe sah er nur in der Stärkung dieser liberalen Idee, nicht in der konfessionellen Sonderung. Erst sehr spät, im Krieg, wie jener Brief zeigt, begann er zu ahnen, daß da außer dem „Credo" noch irgend etwas anderes sein müsse, etwas, das im hellen Licht der aufgeklärten Vernunft nicht zu erkennen, aber gleichwohl da und voller Bitterkeit war. Hugo Preuß sprach selten darüber, aber man weiß doch, wie hart ihn später das lügenhafte Wort der „undeutschen Reichsverfassung", der Jüdischen Weimarer Republik" getroffen hat - den Mann, der in der höchsten Not der deutschen Niederlage die Einheit des Reiches an vorderer Stelle retten half und sein Land zum allermindesten so aufrichtig liebte wie jene, die das böse Wort erfanden und im Namen ihrer Partei besonders deutsch und national zu sein behaupteten51.
Preuß, Die „Undeutsche Reichsverfassung", in Staat, Recht und Freiheit", S. 473 ff.
IV. Im Roten Rathaus 1. Um die Freiheit der städtischen Selbstverwaltung „Meine Herren, in den meisten Fällen meiner Betätigung bin ich sicher, mir Ihr Mißfallen zugezogen zu haben. Ich habe immer das Dreiklassenwahlrecht bekämpft, dem Sie anhängen. Ich bin immer für die Eingemeindung auch der ärmeren Vororte eingetreten, die Sie nicht wollen. Auch in vielen anderen Fragen habe ich Anschauungen vertreten, die nicht die Ihrigen sind, und ich bin durchaus entschlossen, auf diesem Weg weiter zu gehen." So schilderte Hugo Preuß, gutgelaunt, einmal eine „Wahlrede" vor den sieben oder acht Wählern in der ersten Klasse seines Wahlkreises, die ihm immer wieder in die Berliner StadtverordnetenVersammlung wählten1, wohl in dem Gedanken, daß Preuß, ein wohlhabender Mann wie sie selbst, gewiß nicht letzten Endes zu seinem eigenen Schaden handle, wenn er einen ausgesprochen linken Kurs in der Berliner Kommunalpolitik steuerte. 1895, als Fünfunddreißigjähriger, war er zum ersten Mal als freisinniger Stadtverordneter in das Rote Rathaus gewählt worden. Für die folgenden Wahlperioden wurde er stets wiedergewählt. Im Jahr 1910 wurde er mit den Stimmen der Sozialdemokraten, aber gegen eine sehr starke Minderheit der bürgerlichen Rechten als unbesoldeter Stadtrat in den Berliner Magistrat entsandt. Nach der Novemberrevolution, als Staatssekretär des Innern, bat er nach 23-jähriger Tätigkeit in der Berliner Kommunalpolitik die Stadtverwaltung um seinen Abschied. Als Stadtverordneter war er Mitglied der Deputationen für Petitionen, Steuer- und Schulwesen gewesen, und als Mitglied des Magistrats arbeitete er vor allem im Verkehrsdezernat, den Deputationen für Schulwesen, Statistik, zeitweilig auch Wasser- und Hochbauwesen und während des Weltkrieges vor allem in der kommunalen Kriegsbeschädigtenfürsorge 2. Hier, in den Verhältnissen der stürmisch wachsenden Riesenstadt, in den ständigen Reibungen der Stadtverordneten-Versammlung mit dem Magistrat und der preußischen Bureaukratie, die den Kleinkrieg Bismarcks und des preußischen Innenministers der achtziger und neunziger Jahre, Robert v. Putt1 Ernst Feder, Hugo Preuß, S. 14 f. Diese Angaben sind den entsprechenden Jahrgängen des Jahrbuchs der Berliner Stadtverordneten-Versammlung und den Personalakten des Berliner Stadtmagistrats (im Stadtarchiv Berlin (Ost), Band Ρ 2) entnommen. Die folgende Darstellung stützt sich vor allem auf die stenographischen Protokolle der Berliner Stadtverordneten-Versammlung (1895-1910) und die kommunalpolitischen Schriften von Hugo Preuß. Leider sind die Magistratsprotokolle für die Jahre 1911-1918 vermißt. 2
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IV. Im Roten Rathaus
kamer (1828-1900) gegen den hauptstädtischen Liberalismus fortsetzte, erwarb sich Hugo Preuß politische Erfahrung. Die Selbstverwaltung der großen Städte mit ihrer Freiheit bot politischen Naturen in mancher Hinsicht ein fruchtbareres Arbeitsfeld als die zu ohnmächtiger Kritik verurteilten Volksvertretungen. Vor allem aber war die städtische Selbstverwaltung das Modell des modernen genossenschaftlichen Gemeinwesens, wie Hugo Preuß es sich wünschte. Der Vorzug einer modernen großstädtischen Verwaltung lag für ihn darin, daß ihr bestimmender Geist weit weniger einer gestrengen Obrigkeit als einer einfachen Geschäftsführung für um so wichtigere Gemeinschaftsinteressen glich 3 . Gerade gegen einen solchen Typus des politischen Gemeinwesens empfand die eingewurzelte Anschauung, wie sie in der staatlichen Bureaukratie, aber nicht nur da zu Hause war, ein instinktives Mißtrauen. Für Hugo Preuß wurde deshalb die Kommunalpolitik das Kampffeld 4, von dem aus das Prinzip genossenschaftlicher Organisation und Selbstregierung schrittweise ausgebreitet werden sollte. Der Gedanke, in dieser ehrenamtlichen politischen Tätigkeit eine Forderung seines verehrten Vorbildes, des Freiherrn vom Stein, zu erfüllen, muß ihm eine persönliche Genugtuung gewesen sein. Mit frappierender Sicherheit im Aufspüren wesentlicher Probleme forderte der Stadtverordnete Dr. Preuß in seiner Jungfernrede 5 im Jahre 1895 eine entschlossene Eingemeindungspolitik zur Beseitigung der häufigen Konflikte der in qualvoller Enge wachsenden Stadt mit ihren Vororten. Darin wurde er damals nicht einmal von seinen Parteifreunden unterstützt, geschweige denn von der Mehrheit des Hauses. Erst in dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts wurde die Bedeutung dieser Frage von der Allgemeinheit allmählich erkannt; sie blieb eines der wichtigsten Anliegen Preuß' bis zu seinem Ausscheiden aus der Kommunalpolitik. Namentlich forderten die zahlreichen Konflikte mit der staatlichen Aufsichtsbehörde seinen leidenschaftlichen Widerstand heraus. Noch Jahre später, nachdem er das erste Mal die Benachteiligung der jüdischen Lehrerinnen ans Licht der Öffentlichkeit gebracht hatte, kämpfte er mit der Unterstützung der Mehrheit der Stadtverordneten gegen das ungesetzliche Vorgehen des Kultusministeriums 6. Das war für ihn nicht nur eine Frage von Gerechtigkeit, Toleranz und Humanität, auch nicht lediglich eine Frage des kulturellen Fortschritts, den er in der Simultanschule gegenüber der Konfessionsschule erblickte; er glaubte nämlich, die Konfessions3 Preuß, Zur Verwaltungsorganisation größter Städte, in der „Hilfe", Jahrg. 19 (1913), 20. und 27. November, S. 759 f. 4 In einem Konflikt der Berliner Stadtverwaltung mit dem „Kultusabsolutismus", wie Preuß sich ausdrückte, fragte er die Stadtverordneten am 15. Juni 1899: „Wo sollen denn die besseren und günstigeren Verhältnisse des öffentlichen Lebens herkommen, wenn die, die an erster Stelle dazu berufen sind, für freiheitliche Rechte einzutreten und zu kämpfen, nicht das tun, was in ihren Kräften steht? ... Die Rolle, die den Stadtverordneten von Berlin in diesem großen Kampfe zufällt, ist keine ganz bescheidene und keine ganz kleine." 5 6
Preuß in der Stadtverordneten-Versammlung, am 21. Februar 1895. Vgl. dazu den „Fall Preuß", Abschnitt f) im vorhergehenden Kapitel.
1. Um die Freiheit der städtischen Selbstverwaltung
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schule werde stets zur Kirchenschule zurückführen, von der sie sich emanzipiert hatte7, und hielt sie überhaupt wegen der Gefahr des Gewissenszwanges für unvereinbar mit dem Schulzwang. Vor allem sah er in dem Schulstreit einen Kampf bürgerlich-städtischer Selbstverwaltung gegen staatlich-absolutistische Bevormundung8. Dem Stadtmagistrat, der als Behörde dem staatlichen Druck stärker ausgesetzt und deshalb eher zum Einlenken geneigt war als die radikalere Stadtverordneten-Versammlung, leistete Hugo Preuß als „des Magistrats allergetreueste Opposition"9 nach Kräften Widerstand, um dessen Rücken gegenüber den Staatsbehörden zu stärken, zum Beispiel gegenüber der ungerechtfertigten Verweigerung der staatlichen Bestätigung für das erste sozialdemokratische Mitglied der Schuldeputation10, die - ebenfalls ein steter Anlaß von Preuß' Kritik - zugleich als städtische und staatliche Behörde fungieren sollte und dabei immer wieder in unlösbare Konflikte geraten mußte - oder gegenüber der Behinderung der städtischen Einnahmepolitik durch das staatliche Aufsichtsrecht 11 oder einer scheinbaren Kleinigkeit wie der Aufstellung eines Märchenbrunnens im Stadtgebiet, die von einer landesherrlichen Konzession abhängig gemacht werden sollte 12 . Immer sprach Preuß als ein eifersüchtiger und furchtloser Wächter städtischer Selbstverwaltung und Freiheit, der hinter den Streitobjekten die prinzipielle Frage von Recht und Willkür herausarbeitete. Daneben ging, weniger auffällig, doch mit Fleiß und Treue im Kleinen, die Beschäftigung mit Details kommunaler Steuerpolitik und die jahrelange Arbeit an den Besoldungsordnungen für die städtischen Bediensteten und Volksschullehrer einher. Hier wie in den Fragen der Hinterbliebenenversorgung, der Erhöhung des Schulgeldes für die höheren Schulen, des Schulgesundheitswesens, der Einrichtung von Berufs- und Fortbildungsschulen, freier Krankenhausbehandlung für die ärmeren Teile der Bevölkerung, machte er sich häufig zum Anwalt des sozialpolitischen Fortschritts gegen die Rechte, die mit Besorgnis das gewaltige Anwachsen des städtischen Haushalts beobachtete und zu verhindern suchte. Die Annäherung an die Sozialdemokratie, die man in jenen Jahren so deutlich an Preuß' politischen Schriften ablesen kann, fand ihre Parallele in der praktischen kommunalpolitischen Arbeit.
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Preuß, in der Stadtverordneten-Versammlung am 26. Oktober 1899. s Preuß, ebd., am 1. Dezember 1898.
9 Das war eine Anlehnung an den herkömmlichen Titel der englischen Parlamentsopposition, „His Majesty's most loyal opposition". 10 Preuß in der Stadtverordneten-Versammlung, am 15. Juni 1899. h Preuß, ebd., am 9. Mai 1895. 12 Preuß, ebd., am 17. Oktober 1901.
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IV. Im Roten Rathaus 2. Sozialpolitik u n d Sozialreform i n B e r l i n
Das Wort „Sozialpolitik" gewann für Preuß seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts unter dem Eindruck der Berliner Entwicklung bald einen besonderen, bedeutungsvollen Inhalt. Berlin war in den Siebziger und Achtziger Jahren die größte Stadtgemeinde Deutschlands, ja des Kontinents geworden, hatte, als Preuß sich der Kommunalpolitik zuwandte, die Millionengrenze längst überschritten und war als Hauptstadt auch der wirtschaftliche und geistige Mittelpunkt des Reiches geworden 13 , allerdings unter schweren Wachstumsstörungen, die sich am augenfälligsten im Elend der Mietskasernen offenbarten. Der Ausbau des Gesundheitswesens, der Kanalisation, Energieversorgung, Schlachthöfe, Markthallen, Schulen, der Armenpflege - alle diese neuen Aufgaben des industriellen Zeitalters dehnten notwendigerweise die kommunale Verwaltungstätigkeit gewaltig aus. Die gleichzeitige, nicht weniger rapide Flächenausdehnung der Stadt vollzog sich unter einem für die Art der Entwicklung typischen Vorzeichen, der fortschreitenden Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte, die in enger Wechselwirkung von Folge und Ursache die komplizierten Fragen des großstädtischen Verkehrs aufwarfen. „Die moderne Großstadt und Berlin speziell wohl noch mehr als manche andere ist ihrem innersten Wesen nach Verkehrsstadt" 14. Als Verkehr im weiteren Sinne darf man auch auch alle Einrichtungen der großstädtischen Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität samt der Abwasserkanalisation auffassen. Als zusammenhängende Momente bestimmen sie Boden-, Wohnungs- und Ansiedelungspolitik entscheidend mit. Der Besitz der Massenverkehrsmittel erwies sich als das wichtigste Element in allen weiteren Fragen der Versorgung und absichtsvollen, geplanten Ausdehnung des großstädtischen Gemeinwesens. Diese Zusammenhänge hatte Hugo Preuß früh verstanden, als er schon vor der Jahrhundertwende als einer der ersten liberalen Berliner Politiker in der Stadtverordneten-Versammlung für die Kommunalisierung der privaten Berliner Pferdebahn, die damals gerade auf elektrischen Betrieb umstellen wollte, plädierte 15. Die Verkehrsprobleme der Großstadt im Zusammenhang mit ihrer Flächenausdehnung, das rasche Wachstum der selbständigen westlichen Vororte mit der immer drängenderen Notwendigkeit der Eingemeindung als einem Erfordernis gerechter und erfolgreicher Steuerpolitik, damit sich nicht die zahlungskräftigsten Steuerzahler durch Umzug in die selbständigen Vororte den vielfältigen, nur gemeinsam zu tragenden Lasten der Kerngemeinde Berlin zum Nachteil der proletarischen Einwohnerschaft im alten Stadtkern und in den östlichen Bezirken entziehen könnten. Die Fragen, die sich aus der fortschreitenden Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte ergaben, meinte er, ließen sich nur dann befriedigend lösen, wenn man Berlin und die formell noch selbständigen Gemeinden des Groß-Berliner Gebietes als einen einheitlichen sozialen Organismus verstand. 13
Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, S. 618 f. Preuß, Sozialpolitik im Berliner Verkehr, Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform, Ortsgruppe Berlin, Jena, 1911, S. 11. 15 Preuß, in der Stadtverordneten-Versammlung, am 15. April 1897. 14
2. Sozialpolitik und Sozialreform in Berlin
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Mit der Anerkennung der Gemeinde als eines sozialen Organismus war der Begriff „Sozialpolitik" nicht mehr nur auf Armenpflege, Arbeiterversicherung und Arbeitsschutz beschränkt. Sozialpolitik, sagte Preuß mit den Worten eines Kollegen an der Berliner Handelshochschule, des Nationalökonomen und Historikers Ignaz Jastrow (1856-1937), ist die Politik jedes Verwaltungszweiges unter dem Gesichtspunkt der Gemeinschaft 16, und dies gelte für Verkehrsfragen in gleicher Weise für die Aufschliessung neuer Ausdehnungsräume für die Großkommune, für Boden- und Wohnungspolitik, Steuer- und Schulfragen, Wohlfahrtspflege - überhaupt für alle Fragen sozialer Gruppierung im Räume. Voraussetzung einer einheitlichen und zweckdienlichen kommunalen Sozialpolitik in diesem Sinne sei die Kontrolle über das Verkehrswesen, das deshalb nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden sollte. Preuß entschied sich um so leichter für diesen „Munizipalsozialismus", als er bemerkt hatte, daß es freie Konkurrenz bei modernen Massenverkehrsmitteln und energiewirtschaftlichen Versorgungsbetrieben offenbar nicht geben könne. Es handele sich um „natürliche Monopole" - die dann jedenfalls eher der öffentlichen Kontrolle und dem Allgemeininteresse als dem privaten Gewinnstreben unterworfen sein sollten 17 . Der versteckte Kampf der privaten Großen Straßenbahn-Gesellschaft gegen die Stadt und der Interessentendruck, dem selbst die Stadtverordneten-Versammlung ausgesetzt war, lieferten Hugo Preuß stets neue Argumente. In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende gelang es dann eine Mehrheit für den Grundsatz städtischer Verkehrslinien zustande zu bringen - gegen den beträchtlichen Widerstand der Anhänger der älteren liberalen Doktrin. 1905 wurden die ersten städtischen Verkehrslinien gebaut. Hugo Preuß setzte sich so mit der dogmatisch hochgehaltenen Position der Liberalen auseinander, daß wirtschaftliche Unternehmungen keinesfalls in die öffentliche Hand gehörten, ohne daß sie sich fragten, ob überhaupt noch „die Seele und innerste Existenzberechtigung" aller Privatunternehmung, die freie Konkurrenz 18 gesichert sei. Später sagte er, sehr hart 19 , die liberale Theorie stagniere, während die sozialistische Publizistik von der Agitation, vom Ausbau des sozialistischen Dogmas und auch von seiner kritischen Revision zur positiven Behandlung politischer Probleme übergehe und den Raum auszufüllen beginne, den die liberale 16
Preuß, Sozialpolitik im Berliner Verkehr, a. a. O., S. 11. Für diese Auffassung hat Preuß in zahlreichen Sitzungen der Stadtverordneten, u. a. am 15. April 1897) 1. November 1898. 17. Januar 1901, 2. Juni 1904, 26. Oktober 1905 geworben, ebenso in einigen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, „Ein sozialpolitischer Schwanengesang", Preuß. Jahrbücher, Bd. 136 (1909), S. 103 ff.; „Politische Literaturglossen", Berliner Tageblatt, 5. und 6. Februar 1909, in der erwähnten Schrift „Sozialpolitik im Berliner Verkehr" und dem Artikel „Zur Verwaltungsorganisation größter Städte", in der „Hilfe", 20. und 27. November 1913. 18 Preuß, in seiner Kritik an dem „radikalen Manchestertum" Lord Aveburys (Ein sozialpolitischer Schwanengesang, a. a. O.). 19 Preuß, Politische Literaturglossen, Berliner Tageblatt, 5. und 6. Februar 1909. 17
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IV. Im Roten Rathaus
Literatur leergelassen habe. Sie hänge noch dem „Wahnglauben" an, daß „kapitalistische" und „sozialistische" Staats- und Gesellschaftsordnung absolute, einander ausschließende Begriffskategorien seien. Um so lebhafter nehme nun die Sozialdemokratie an der fachwissenschaftlichen Literatur über den gewaltigen Urbanisierungsprozeß der letzten Jahrzehnte teil, denn in den kommunalpolitischen Problemen liege „recht eigentlich der Brennpunkt jener Durchdringung kapitalistischer und sozialistischer Entwicklung" 20 . Unter dem Eindruck der praktischen Berliner Kommunalpolitik und ihrer Nöte mit den monopolistischen Privatgesellschaften, nicht auf Grund einer sozialistischen Doktrin, war Preuß zum Anhänger des „Kommunalsozialismus" geworden, wie man damals sagte. Seine sozialreformerische Anschauung vom Wesen einer Stadtgemeinde erlaubte ihm im Jahr 1913, dem Entwurf eines preußischen Wohnungsgesetzes im Grundsatz, aber auch nur darin, zuzustimmen, weil jetzt zum ersten Mal die Fragen des Wohnungsbaus nicht länger rein privatrechtlich, sondern auch öffentlich-rechtlich betrachtet würden 21 . Schon früher hatte er die Mängel des Berliner Wohnungsbauwesens, auch vor der „Gesellschaft für Soziale Reform", kritisiert und einer Reform des Enteignungsrechts im Sinne der Frankfurter „Lex Adickes" für die notwendigen Stadterweiterungen und einer kommunalen Bodenund Preispolitik zur Eindämmung der Spekulation das Wort geredet, der er mehr als den Hausbesitzern die Schuld an dem Wohnungselend gab 22 . Er bemühte sich jahrelang um eine Steuer auf Bodenspekulationsgewinne als „unverdientes Vermögen, lediglich durch das Wachstum der Stadt selbst hervorgerufenen Wertzuwachs" 23. Endlich, am 3. März 1910, passierte die Wertzuwachssteuer fast einstimmig die Stadtverordnetenversammlung. Die Argumente, die Preuß in diesen jahrelangen Bemühungen vorbrachte, bewegten sich nahe den Gedanken Damaschkes. 20 Ganz ähnlich erblickte Preuß in der Kritik an Lord Avebury, a. a. O., S. 116, ein modernes Entwicklungsgesetz darin, daß „gerade an den Brennpunkten der Verdichtung des modernen Gemeinlebens, in den Stadtgemeinden, die Formen für die diesem Gemeinleben notwendige Durchdringung von Kapitalismus und Kommunismus, von Sozialismus und individueller Bewegungsfreiheit erzeugt" werden. In dem erwähnten Aufsatz im Berliner Tageblatt lobte Hugo Preuß die steigende Einsicht der sozialdemokratischen Führer in die entscheidende Bedeutung der städtischen Kommunalpolitik und Selbstverwaltung, wie sie namentlich in der Kommunalpolitischen Rundschau als ständiger Rubrik der Sozialistischen Monatshefte, und in Albert Südekums (1871-1944), des späteren preußischen Finanzministers (19191920), Zeitschrift „Kommunale Praxis" (an der mitzuarbeiten Hugo Preuß sich nicht scheute) zum Ausdruck kam. Hugo Preuß betonte neben der Würdigung der sozialistischen Anschauungen und der Feststellung der Verhärtung der liberalen Wirtschaftsdoktrin überhaupt den Mangel einer zeitgemäßen Fortbildung liberaler Staatsanschauung, die dem Bekenntnis zum Liberalismus einen positiven, lebendigen Inhalt anstelle der „erschreckenden geistigen Verödung des liberalen Denkens" gebe. 21
Preuß in der Vossischen Zeitung, 13. und 20. Februar 1913. Preuß in der Stadtverordneten-Versammlung, am 29. September 1904. 23 Preuß in der Stadtverordneten-Versammlung am 14. März, 21. März und 26. September 1907 und am 25. November 1909. Vergi, auch seine Schrift „Kommunale Steuerfragen", Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform, Heft 15, 1904. 22
2. Sozialpolitik und Sozialreform in Berlin
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Adolf Damaschke (1865-1935) war der Führer der neueren deutschen Bodenreformbewegung. Er war 1898 zum Vorsitzenden des „Bundes deutscher Bodenreformer" gewählt worden. Er warb, wie aus dem Programm des Bundes hervorging, für die Auffassung, daß Grund und Boden als Grundlage aller nationaler Existenz unter ein soziales Recht gestellt werden müsse, das seinen Gebrauch als Wohn- und Werkstätte befördere, Mißbrauch ausschließe und die Wertsteigerung, die der Boden ohne die Arbeit des einzelnen erfahre, möglichst dem Volksganzen nutzbar mache. Die Grundrente sollte deshalb soziales Eigentum werden, Kapital und Arbeit dagegen der freien individuellen Tätigkeit überlassen bleiben. Damaschke dachte nicht an eine Verstaatlichung von Grund und Boden. Aber die Grundrente, die allein durch die Entwicklung der Gesellschaft wächst, die sogenannte „Zuwachsrente", sollte als „unearned increment" der Gesamtheit zugeführt werden. Die Einführung der Wertzuwachssteuer in vielen Gemeinden, sowie andere, parallele Bestrebungen zur Reform des Wohnungswesens, vor allem die Beseitigung von Mißständen im Mietwohnungswesen der Großstädte, waren ein Erfolg von Damaschkes Tätigkeit. Wirksame Berliner Sozialpolitik in dem weiten Sinne, wie Preuß sie verstand, setzte voraus, daß die Groß-Kommune auch rechtlich als Einheit organisiert wurde, die sie wirtschaftlich längst war. „Wir alle kennen ja die unheilvollen Folgen der kommunalpolitischen Anarchie Groß-Berlins" 24. Damit rührte der erfahrene Kommunalpolitiker wieder an jene Wachstumsprobleme, die ihn als jungen Anfänger zum ersten Mal beschäftigt hatten. Die Etablierung einer einheitlichen Gemeinde Groß-Berlin war neben den Verkehrsfragen und dem grundsätzlichen Anliegen der Freiheit der Selbstverwaltung das dritte große Thema seiner Kommunalpolitik. Preuß schilderte die Lage Berlins zuweilen als „eingekeilt zwischen den Privatgesellschaften und dem Staat". Dieser „anti-urbane" preußische „Obrigkeitsstaat" hatte ein sehr verständliches Interesse, ein Gemeinwesen wie Berlin, eine der Hochburgen der politischen Anschauungen, die gerade nicht die seinen waren, möglichst einzuschränken und zu behindern. Der Streit der Stadt Berlin mit der preußischen Verwaltung um den Erwerb des Tempelhofer Feldes war ein einzelnes, wenn auch ein ungewöhnlich krasses Beispiel für den jahrzehntelangen „preußischen Bürgerkrieg gegen die Reichshauptstadt" 25 . Preuß erblickte in solchen Fällen, darunter auch zum Beispiel der staat24
Preuß, Sozialpolitik im Berliner Verkehr, a. a. O., S. 24. Die Berliner Stadtverwaltung hatte sich um die Eingemeindung von Tempelhof bemüht, um dringend benötigten Baugrund für eine aufgelockerte Bauweise zu gewinnen. Die Gemeinde Tempelhof war ursprünglich sehr geneigt gewesen, aber unter dem Druck der Staatsbehörden wieder umgefallen. Das in Frage kommende Baugelände, das Tempelhofer Feld, das bisher für militärische Zwecke verwendet worden war, wurde von dem federführenden preußischen Kriegsministerium nach sehr unaufrichtig gefühlten Verhandlungen mit der Berliner Stadtverwaltung (der Bericht von Bürgermeister Dr. Reicke vor den Stadtverordneten, am 29. September 1910 sprach von einem „Pferdehandel") unter Mißachtung aller öffentlichen Interessen an eine private Gruppe von Banken und Bodenspekulanten verkauft. Vergi, dazu auch Preuß' Artikel „Der Tempelhofer Feldzug" in der „Hilfe", 9. Oktober 1910, S. 634 ff. 25
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IV. Im Roten Rathaus
liehen Hilfestellung für die privaten Verkehrsgesellschaften gegen die Stadt Berlin und der hartnäckigen Verhinderung der Eingemeindung der umliegenden Kommunen, vor allem des Kreises Teltow, den großen Plan einer staatlichen „Strangulierungspolitik" in der Absicht, „die Stadt Berlin mit einem Kreis selbständiger Stadtgemeinden zu umgeben, gewissermaßen zu zernieren" 26 und die Konsolidierung Groß-Berlins zu verhindern. Solange die rasch sich bevölkernden suburbanen Gebiete isolierte Kommunen blieben und die tatsächliche Einheit des großstädtischen Agglomerations-Gebietes nicht verwaltungsrechtlich anerkannt war, war auch eine sinnvolle und einheitliche Sozialpolitik nicht möglich, deren Früchte alle Bewohner, auch die der ärmeren Stadtteile und Vororte, genießen, deren Lasten aber gerecht auf die stärkeren und schwächeren Glieder der Gemeinschaft verteilt werden sollten 27 . Es gelang zwar schon im Jahre 1912, einen Gemeinde verband Groß-Berlin zur Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen Berlins und der angrenzenden Gemeinden zustande zu bringen. Aber der Vorband erhielt nicht die Kompetenzen, die Hugo Preuß für unerläßlich hielt 28 . Was er statt dessen wünschte, war die Konsolidierung einer einheitlichen Gemeinde Groß-Berlin mit hinreichenden Kompetenzen für die gemeinsame Spitze, jedoch mit weitgehender Dezentralisation und der Selbstverwaltung relativ selbständiger Teilgemeinden, etwa nach dem Vorbild der Grafschaft London und ihrer 29 Teilgemeinden oder der Stadt Wien 29 . Dieses Ziel erreichte die Berliner Kommunalpolitik erst im Jahr 1920.
3. Das Programm einer Verwaltungsreform in Preußen Als Kommunalpolitiker fand Hugo Preuß reichlich Gelegenheit, die Unzulänglichkeiten des preußischen Verwaltungssystems vor allem an jenen Stellen kennen zu lernen, wo sich die Selbstverwaltung der gewaltig anwachsenden Hauptstadt und die staatlichen Behörden aneinander rieben. Die Berufung einer preußischen Immediatkommission durch königlichen Erlaß vom 7. Juni 1909, die Vorschläge für eine Reform der inneren Verwaltung ausarbeiten sollte, veranlaßte ihn, seine eigenen Reformvorschläge nun in einem größeren Zusammenhang zu erörtern und Einfluß auf die Gedanken der Kommission zu gewinnen zu suchen. Immer lauter waren, vor allem aus den Reihen der Bureaukratie selbst, in den letzten Jahren die Rufe nach einer Beseitigung der „Misere der Regierungsorganisation" und des „vollendeten Bureaukratismus" geworden. Gab es doch seit den Reformen der siebziger Jahre in Preußen eine bemerkenswert komplizierte Behördenorganisation 26
Preuß, Kommunale Steuerfragen, a. a. O., S. 38. Preuß in der Stadtverordneten-Versammlung, 29. September und 8. Dezember 1910. 28 Preuß in „Das Jahr 1913", S. 121, auch in der Vossischen Zeitung am 28. September 1915 („Großberliner Neuorientierung?") und im Berliner Tageblatt am 28. Dezember 1917 („Groß-Berlins Zukunft?"). 29 Preuß, Zur Verwaltungsorganisation größter Städte, in der „Hilfe", Jahrg. 1913, S. 757. 27
3. Das Programm einer Verwaltungsreform in Preußen
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und eine so unübersichtliche Zahl von Verwaltungsstatuten, daß man kaum mehr von einem „System" sprechen konnte: nebeneinander bestanden sechs verschiedene Landgemeindeordnungen, sieben verschiedene Städteordnungen, abgesehen von den neuvorpommerschen Stadtrezessen, eine für Stadt und Land gemeinsame Gemeindeordnung in Hohenzollern, sechs verschiedene Kreis- und ebenso viele Provinzialordnungen, dazu eine hohenzollernsche Landesordnung, ein Landesverwaltungs- und Zuständigkeitsgesetz samt einem Spezialgesetz für Posen und einem unvollständig gebliebenen Verwaltungsgesetz30. Statt der Absicht in der Bismarck'schen Reformperiode, die Verwaltung durch möglichste Selbstverwaltung zu vereinfachen, war gerade das Gegenteil erreicht worden. Die bisher bestehenden Träger bureaukratisch-obrigkeitlicher Verwaltung, die Regierungspräsidenten mit den kollegialen Rudimenten der Bezirksregierung und die Landräte waren geblieben. Die Oberpräsidenten, ursprünglich nur die ständigen Kommissare des Ministeriums in den einzelnen Provinzen, waren 1875 endgültig voll ausgebaute Verwaltungsinstanz zwischen den Bezirksregierungen und der Zentralgewalt geworden. Hinzu waren nicht nur Selbstverwaltungsorgane der Kreis- und Provinzialgemeinde, sondern auch neue Kollegialbehörden, die Provinzialräte und Bezirksräte, getreten. Diese beiden Arten von Staatsorganen standen den Kommunalorganen gegenüber und trugen den darin ausgedrückten Gegensatz staatlicher und kommunaler Verwaltung auch in die Kreisinstanz, wo der Kreisausschuß einmal als Kommunalorgan, ein andermal als Organ der allgemeinen Landesverwaltung betrachtet wurde. Dieser allgemeine Verwaltungsaufbau wurde dadurch weiter kompliziert, daß der Kreisausschuß, der vor allem eine beschließende Behörde für „nicht-streitige Verwaltungssachen" war, in bestimmten streitigen Fällen auch erste Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit war und Recht sprach. Auf der Ebene der Bezirks- und der Provinzialregierung dagegen waren besondere, zu einem maßgeblichen Verhältnis sogar aus Verwaltungsbeamten gebildete Verwaltungsgerichte eingerichtet worden 31 . In diesem Labyrinth von Behörden fehlte es an einem Prinzip für die Abgrenzung der Kompetenzen. Unvermeidlich erhob sich aus diesem Zustand die Notwendigkeit, durch eine immer umfangreichere und kompliziertere Kasuistik festzustellen, wo die Grenze zwischen den „kommunalen" und den polizeilichen, in Preußen als „staatlich" geltenden Aufgaben verlaufe, und ferner, was innerhalb des Bereiches der staatlichen Aufgaben „laufende" Verwaltungssachen seien, die dem Regierungspräsidenten und dem Oberpräsidenten als Einzelbeamten zukamen, und was zu dem Aufgabenkreis gehörte, für dessen Behandlung die Mitwirkung der kollegialen Staatsbehörden, des Bezirks- oder Provinzialrats, ausdrücklich vorgeschrieben war. Eine dritte Reihe von dauernden Kompetenzzweifeln ergab sich aus dem Umstand, daß nicht alle Verwaltungsakte 30 Preuß, Zur preußischen Verwaltungsreform, Denkschrift verfaßt im Auftrage der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, Leipzig und Berlin, 1910, S. 8 f. 31 Die Texte der Kreisordnung von 1872, des Gesetzes über die Organisation der allgemeinen Landesverwaltung von 1880 und Landgemeindeordnung von 1891 finden sich bei Wilhelm Altmann, Ausgewählte Urkunden zur Brandenburgisch-Preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Band 2, Berlin, 1897.
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justiziabel waren - was im Einzelfall immer erst geklärt werden mußte. Jeder bisherige Versuch, das Knäuel der Kompetenzen und Instanzen vom Boden ihrer Voraussetzungen aus zu entwirren, hatte das Problem nur noch kompliziert. Verwaltungsfachleute wie Freiherr von Zedlitz, Lötz, Graf Hue de Grais und - von der Wissenschaft - Gerhard Anschütz, der Heidelberger Staatsrechtslehrer (1867-1948) und später der führende Kommentator der Weimarer Reichsverfassung, glaubten, daß es sich bei der dringend notwendigen Vereinfachung vor allem um ein Problem juristischer Technik handele, und richteten deshalb ihr Augenmerk auf die Beseitigung einer der beiden Mittelinstanzen, der Provinzial- oder der Bezirksregierung. Hugo Preuß aber, neben Anschütz der einzige Wortführer der entschieden demokratischen Linken, stellte in einer Reihe von Schriften 32 die Reformfrage in den Zusammenhang seiner weitgespannten Selbstverwaltungsidee und stieß damit in tiefere Bezirke vor, wo er die Mitte des Problems sah: in der Unentschiedenheit des bisherigen Systems, zwischen einander widersprechenden politischen Organisationsprinzipien eindeutig und vorbehaltlos wählen zu wollen. So betrachtet, erschien das Ergebnis der Reformen von 1872-1883 als ein Kompromiß zwischen dem altpreußischen Obrigkeitsstaat und dem gemäßigten Flügel des liberalen Bürgertums, wobei die Selbstverwaltungsidee, die 1848 ganz auf eine freiheitliche Staatsordnung hingezielt hatte, konservativ abgebogen und - auf die niederen Kommunalverbände beschränkt - dem monarchischen Konstitutionalismus addiert worden war, gewissermaßen als „Ersatz für das parlamentarische Regierungssystem der westlichen Demokratie .. ," 3 3 . Dieser Kompromiß suchte drei grundverschiedene Leitmotive nebeneinander zu erhalten: den alten, in Preußen noch unüberwundenen Feudalismus in Gestalt der selbständigen Gutsbezirke, die moderne Selbstverwaltung in beschränkter Gestalt für die Städte und in noch beschränkterer für die Landgemeinden, und schließlich die alte Obrigkeit, deren Hierarchie von der Zentralverwaltung bis in die Gemeinden reichte, solange die Bürgermeister und Gemeindevorsteher, die Inhaber der lokalen Verwaltung, als Beauftragte der als staatlich angesehenen Polizeiverwaltung denselben Gemeinden übergeordnet waren, deren Organe sie waren. Da Preuß überhaupt die Möglichkeit einer bloß technischen Reform bestritt, welche die bestehenden innenpolitischen Machtverhältnisse nicht antasten wollte, versuchte er, seine Reformvorschläge allein an seiner entschieden demokratischen Selbstverwaltungsidee auszurichten und in den Zusammenhang mit der von der Linken geforderten Demokratisierung des gesamten Staatswesens zu stellen34. 32 Preuß, Verwaltungsreform, und Politik (Zeitschrift für Politik, Bd. 1 (1908), S. 9 5 126); ferner die oben genannte Denkschrift „Zur preußischen Verwaltungsreform", die auch recht ausführlich die Geschichte der Reformgesetzgebung der siebziger Jahre darstellt, ferner die Aufsätze „Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform" (Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Otto Gierke, Breslau, 1910, Bd. 1, S. 247304) und „Verwaltungsreform und Staatsreform in Österreich und Preußen" (Zeitschrift für Politik, Band V., 1912, S. 215-235). 33 Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1950, S. 6.
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Daß die Reformer der Ära der Eulenburg - zwei Grafen Eulenburg waren nacheinander als preußische Innenminister mit der Verwaltungsreform befaßt, Friedrich Eulenburg (1815-1881) bis 1878 und sein Neffe Botho Eulenburg (1831-1912) von 1878 bis 1881 - zwar die Vereinfachung der Verwaltungsorganisation richtig in der „Dezentralisierung durch Selbstverwaltung" gesehen hätten, aber diesen einzigen Weg nicht rückhaltlos gegangen seien, darin sah Hugo Preuß die Ursachen der Behördenhypertrophie. Das System war so kompliziert geworden, weil die Selbstverwaltungskörper neben die allgemeine Landesverwaltung, nicht an ihre Stelle gesetzt worden waren, weil das bureaukratische Subordinationsverhältnis von der Zentralverwaltung bis in die Gemeinden hinein weiter bestehen blieb, da der Staat sich nicht auf die Aufsicht über die Selbstverwaltungskörper hatte beschränken lassen, sondern nach wie vor mitverwalten und mitregieren wollte. Das staatliche Polizeimonopol, den deutlichsten Ausdruck des bureaukratischen Subordinationsprinzips inmitten einer nur mit halbem Herzen eingerichteten, bruchstückhaften Selbstverwaltung, kritisierte Hugo Preuß ganz besonders. Indem er die Beseitigung dieses Dualismus verlangte, der die Gemeinden praktisch ungeschützt der staatlichen Mit- und Hineinregierung ausgeliefert hatte, sofern nur die staatliche Aufsichtsbehörde ein polizeiliches Interesse vorschützen konnte, kämpfte er gegen die noch wirksame Doktrin Gneists über einen begrifflichen Unterschied zwischen staatlicher und kommunaler Verwaltung, der doch nur in dem preußischen System bestand. Der Gegensatz bestand, so suchte Preuß zu zeigen, gar nicht wesentlich zwischen Staat und Gemeinde, sondern zwischen Selbstverwaltung und bureaukratischem Absolutismus. Besonders vernehmlich verlangte Preuß in einem Aufsatz in der Festgabe für seinen Lehrer und Freund Gierke 35 die rückhaltlose Verwirklichung von Gierkes Erkenntnis der Wesensgleichheit der genossenschaftlichen Verbände. Daraus folgte für ihn die Einheitlichkeit der lokalen Verwaltungspolizei 36 und die Beseitigung des staatlich-kommunalen Dualismus in der örtlichen Schul Verwaltung. Die Kommunalbeamten sollten allein ihren Kommunalkörpern verantwortlich sein, und die örtliche Polizeigewalt den Kommunalkörpern als Ganzen, nicht einzelnen ihrer Organe persönlich übergeben werden, damit sie nicht länger in ihrer Funktion als Polizeibeamte dem kommunalen Gemeinwesen übergeordnet seien. Nach dem Vorbild des englischen Staates als der „communa communarum" verlangte Hugo Preuß den Rückzug des Staates auf die Zentralverwaltung, wobei dann „die eigentlich lokale Verwaltung in der Hauptsache durch die Selbstverwaltungskörper von Gemeinde, Kreis und Provinz geführt werden soll, während der Staat die Aufsicht über die Kommunalverwaltungen führt, allenfalls noch mit der unmittelbaren Ver34
Siehe dazu besonders Preuß, Verwaltungsreform und Staatsreform in Österreich und Preußen, a. a. O. 35 Preuß, Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform, Festgabe für Gierke, Breslau, 1910. 36 Preuß, Zur preußischen Verwaltungsreform, S. 99.
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waltung einiger weniger Angelegenheiten, auf deren konzentriert einheitliche Leitung man gar nicht verzichten zu können glaubt" 37 . Ein solches System hätte den Vorzug, daß der Weg der Verantwortlichkeiten und Kontrollen verkürzt würde; der einzelne Beamte wäre nur dem eigenen Selbstverwaltungskörper verantwortlich, der Staat könnte ganz auf die unteren und mittleren Instanzen seiner Apparatur zur Kontrolle und polizeilichen Mitverwaltung neben den Selbstverwaltungskörpern verzichten. Die Kompetenzzweifel und Kompetenzstreitigkeiten würden erheblich vermindert. Die Verwaltung wäre dann wirklich dezentralisiert, das heißt, die staatliche durch die kommunale Zuständigkeit und Verantwortung vor einem Kommunalparlament weitgehend ersetzt, und nicht, wie in den siebziger Jahren, bloß von der staatlichen Zentralinstanz auf die mittleren und unteren Staatsbehörden „dekonzentriert", was sich wegen der Abwesenheit von Selbstverwaltungskörpern auf den entsprechenden Verwaltungsstufen sogleich durch die Notwendigkeit neuer zentraler Kontrollinstanzen für die subordinierten Behörden gerächt und die beklagte Schwerfälligkeit der staatlichen Verwaltung nur noch vergrößert hatte 38 . Es bedarf nach allem kaum noch weiterer Begründung, daß Hugo Preuß jene Stimmen unter den Reformern unterstützte, die vor allem die Beseitigung des Bezirkspräsidenten als zweiter Mittelinstanz und des Amtsvorstehers verlangte, denn hinter diesen Beamten vermißte er Kommunalverbände, als deren Exekutivorgane sie gelten könnten. Preuß mißfielen natürlich auch die selbständigen Gutsbezirke und ihr Korrelat, die für die Aufgaben echter kommunaler Selbstverwaltung viel zu schwachen Zwerggemeinden in den ostelbischen Provinzen samt dem noch halbständischen, den Großgrundbesitz begünstigenden Wahlsystem für den Kreistag, das die Städte um eine angemessene Vertretung brachte und so wieder den alten agrarisch-urbanen Gegensatz in Preußen bestätigte39. Selbst das am meisten, auch von den Liberalen anerkannte Ergebnis der Reformperiode, die neue Verwaltungsgerichtsbarkeit, traf Preuß' Kritik, mit der er freilich ziemlich allein blieb. Seinem rechtsstaatlichen Gefühl, das nur die strenge englische Form gelten lassen wollte, widersprach es, daß Verwaltungsstreitigkeiten nicht auf dem „ordentlichen Rechtsweg", sondern vor besonderen Verwaltungsgerichten verhandelt werden sollten, daß ferner nicht ausnahmslos jeder Verwaltungsakt gerichtlich nachgeprüft werden konnte und daß eine säuberliche Trennung der Verwaltungsjustiz von den Verwaltungsbehörden unterblieben war 40 . (Sie unterblieb auch in der Weimarer Republik.) In den Untersuchungen dieser Jahre verlor Hugo Preuß nie den politischen Zusammenhang jeder wirklichen Verwaltungsreform mit dem Gesamtcharakter der 37
Preuß, Zur preußischen Verwaltungsreform, S. 95. Preuß, Zur preußischen Verwaltungsreform, S. 6 f. 39 Vgl. Preuß u. a. Die Lehre Gierkes, a. a. O., S. 277 ff. 40 Preuß, Zur preußischen Verwaltungsreform, S. 64 ff. 38
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Staatsverfassung aus den Augen. Nur wenn dem „local selfgovernment" der Kommunen und kommunalen Verbände das „national selfgovernment" einer den Gesamtstaat umfassenden parlamentarischen Demokratie zugeordnet war, gab es nicht länger den inneren Gegensatz zwischen Staat und Gemeinde, der in Wahrheit nur in Preußen, nur zwischen Selbstregierung und bureaukratisch-absolutistischer Subordination, zwischen „Volksstaat und Obrigkeitsstaat" bestehen konnte 41 . Zum ersten Mal benutzte Preuß hier, im Jahre 1912, mitten in den Bemühungen um eine gründliche Verwaltungsreform das später geläufig gewordene Begriffspaar, mit dem er während des Weltkriegs erneut den Kampf gegen den auf dem Weg zur Demokratisierung stecken gebliebenen Obrigkeitsstaat aufnahm. Wie notwendig Parlamentarisierung und Demokratisierung, wie gefahrlich die Schwächen des alten, im wesentlichen bureaukratischen und „persönlichen" Regiments geworden waren, hatten einsichtige Köpfe mehr als je zuvor während der Regierungszeit Wilhelms II., besonders aber im Wetterleuchten der Daily-Telegraph-Affäre, erkennen können. (Im Oktober 1908 hatte der Kaiser hatte der Londoner Zeitung ein Interview gegeben, dessen Taktlosigkeiten in England und in Deutschland eine Welle der Empörung erregten). Aber noch waren das konservative Beamtentum, angeblich „über den Parteien" stehend, und das um seine politische und wirtschaftliche Sonderexistenz kämpfende Ostelbiertum stark genug, eine großzügige und freiheitliche Reform in Preußen zu verhindern. Eine Novelle zum Landesverwaltungsgesetz von 1883, die sich auf geringfügige Änderungen, und sogar noch zugunsten der bureaukratischen Bezirksregierungen, beschränkte, war das schwache Ergebnis der Bemühungen der Immediatkommission. Die Novelle wurde dem preußischen Landtag 1914 vorgelegt, aber wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr erledigt. Hugo Preuß erinnerte in den folgenden Jahren immer wieder an die überfällige preußische Verwaltungsreform. Es ging um mehr als bloß eine Reform von Verwaltungsbehörden. Es ging noch immer, wie einst in dem Werke des Freiherrn vom Stein, um die „Erziehung des Volkes zu Freiheit und Selbständigkeit, nachdem es Jahrhunderte hindurch mit allen Mitteln zur Knechtschaft und Unselbständigkeit gedrillt worden war" 4 2 .
41 Preuß, Zur Verwaltungsreform und Staatsreform in Österreich und Preußen, a. a. O., S. 234 f. 42 Preuß, Über die Steinsche Reform (1908) (in Staat, Recht und Freiheit, Tübingen, 1926, S. 35).
6 Gillessen
V. Im Kriege Beim Ausbruch des Weltkrieges war Hugo Preuß ein Mann in der Mitte der Fünfzig. Welche historische Schwelle die europäischen Völker in jenen Augusttagen überschritten und welche Erschütterungen und Umwälzungen dieser Krieg im einzelnen bringen würde, konnte niemand voraussehen. Aber wer auch immer die Sieger und die Unterlegenen sein würden, so war doch wohl zu erwarten, daß der Krieg mit der gewaltigen Anspannung aller Kräfte die inneren Gegensätze und ungelösten Spannungen offenbaren und einer zum Guten oder Schlimmen entscheidenden Krise zutreiben würde. Der wirtschaftliche Wohlstand und der Glanz der äußeren Machtentfaltung des kaiserlichen Deutschland hatten Hugo Preuß nie darüber hinweggetäuscht, daß es zu viele ungelöste Grundfragen, zu viele vertagte politische Entscheidungen gab, um nicht Schlimmes von der bevorstehenden Belastungsprobe auf Biegen und Brechen zu befürchten. Keinen Augenblick lang konnte er sich einer tiefen Besorgnis entschlagen und von der Woge vaterländischer Begeisterung - oder auch nur der frohen Zuversicht in vielen, sonst kritisch denkenden Köpfen - ergreifen lassen1. Er gehörte zu der kleinen Schar, die die Zeichen an der Wand zu lesen verstanden hatte. Es galt, die wenige, noch verbleibende Zeit auszunützen und sich für ein Eingreifen im Augenblick der unausweichlichen inneren Krise vorzubereiten. So wandte er sich nun im Kriege von den Problemen der Kommunalverwaltung und der preußischen Verwaltungsreform rasch den politischen Schicksalsfragen der ganzen Nation zu, die sich ihm nun in voller Wucht auf die Seele drängten. Jahrelang beschäftigte er sich mit ihnen, entwarf Programme und Pläne für die innere Reform und warb für sie als Redner und politischer Schriftsteller. Diese Anstrengungen erwiesen sich am Ende, wie so oft in seinem Leben, wiederum als vergeblich. Die Versäumnisse in der politischen Entwicklung des Volkes waren zu schwer, um rasch nachgeholt zu werden und die Katastrophe des ganzen Staatswesens abwenden zu können. Aber Preuß war auf solche Weise mit den nationalen Problemen vertraut geworden, als in der verzweiflungsvollen Not der Niederlage endlich der Ruf zur verantwortlichen Führung an ihn erging.
1
Mit Rücksicht auf die „falsche außenpolitische Wirkung" und die Einschätzung, die die deutsche Wissenschaft genoß und die er nicht mit dem deutschen Regime in Zusammenhang bringen wollte, hatte Preuß abgelehnt, den „Aufruf der Neunzig" deutschen Professoren zu unterschreiben (vgl. Preuß in der Preußischen verfassunggebenden Landesversammlung, Sitzungsbericht vom 9. Dezember 1919).
1. „Das deutsche Volk und die Politik"
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1. „Das deutsche Volk und die Politik64 Die erste, sogleich bedeutungsvolle Frucht dieser Studien war sein im Sommer 1915 erschienenes Buch über „Das deutsche Volk und die Politik" - kein wissenschaftliches Werk, aber das politische Buch eines Wissenschaftlers, der einen Beitrag zu diesem Kriege zu leisten gedachte; ein ungewöhnlicher Beitrag. Das Buch war eine politische Fibel, der Versuch einer nationalen Gewissenserforschung in einer zusammenhängenden Reihe politisch-historischer Essays, eine politischmoralische Zeitkritik, durchsichtig klar und eindringlich geschrieben, stellenweise auch schmerzhaft und bitter, wie es die Wahrheit zuweilen sein muß, wo sie Schäden und Fehler bloßlegen soll. Hugo Preuß hat viele ausgezeichnete Schriften hinterlassen, aber keine ist so ergreifend in ihrer sorgfältig verhüllten Liebe zu diesem hilflos unpolitischen Volk und so erregend in ihren Fragen und in ihren Antworten. Warum, fragte er, blieb dem deutschen Volk, das doch wirtschaftlich und militärisch so tüchtig war, jeglicher bleibende politische Erfolg versagt? Woher der lähmende Druck und die unfruchtbare Ziellosigkeit der Politik der Vorkriegsjahre, die im Rausch der „heroischen Episode" von 1914 plötzlich von allen genommen schien? Warum war das deutsche Volk so allein und isoliert in diesem Kriege? Und die allerquälendste Frage: warum sind wir überall so verhaßt? Die „französische Rachsucht" und der „englische Konkurrenzneid", die „russische Eroberungsgier" und die Furcht vor dem militärischen Wesen der Deutschen, selbst die irrationalen Abneigungen von Volk zu Volk reichten nicht zur völligen Klärung aus. Es mußte da noch mehr sein. Hugo Preuß suchte diese letzte Ursache darin, daß den anderen Völkern „das deutsche Volk als vernehmlichster Träger eines anders gearteten, dem ihrigen im wesentlichen gegensätzlichen Staatsprinzips gegenübersteht; ... dafür gibt es in der jüngsten Vergangenheit nur noch ein Beispiel: die frühere Abneigung aller Kulturvölker gegen Rußland"2. Den Grund sah er in beiden Fällen im politischen System, in dem Gegensatz zwischen Verfassungsstaat und Obrigkeitsstaat, zwischen Genossenschaft und Anstalt, urbanem und agrarischem Wesen, oder wie Preuß in diesem Buch mit der einprägsamen neuen Formel sagte, zwischen „Volksstaat" und „Obrigkeitsstaat". Kennzeichnend für das eine war die Identität, für das andere der Dualismus von Staat und Volk. Die allmähliche Ausbildung des Gegensatzes zwischen Staat und Volk meinte Preuß in der Geschichte der staatlichen Zersplitterung Deutschlands seit dem Ausgang des Mittelalters zu erkennen sowie, in enger Wechselwirkung damit, die Ausprägung eines besonderen deutschen Freiheitsbegriffes, der „teutschen Libertät", die im Unterschied zu der englischen, spezifisch politischen Freiheit im Staat als wesentlich unpolitische Freiheit vom Staat3 verstanden worden sei. Seitdem habe das deutsche Volk seine politische Zukunft, vor allem aber diese seine Freiheit als Gabe und Geschenk von den Fürsten erwartet. „Keine Macht hätte den Willen des Volkes niederzudrücken 2 Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, Jena, 1915, S. 58 f. 3 Preuß, a. a. O., S. 77. 6*
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V. Im Kriege
vermocht, wenn es politisch zu wollen verstanden hätte ... Da es an solcher Kraft einheitlichen politischen Wollens und damit an der Möglichkeit der Selbstorganisation durchaus fehlte, so mußte der „Staat" ... an der Obrigkeit haften bleiben". So erklärte Hugo Preuß die in Deutschland verbreitete Identifizierung des Staates mit den Behörden und der Regierung. Auch bei den Verfassungskämpfen des 19. Jahrhunderts habe es sich „wesentlich um konstitutionelle Garantien für die Freiheit von Person und Eigentum", d. h. wiederum nur Freiheit des Individuums vom Staate, nicht aber um die Identität des Staates mit dem organisierten Volke" 4 , nicht den „Volksstaat" gehandelt. Dieser auffälligen Unfähigkeit des deutschen Volkes, sich selbst zu organisieren und politisch etwas zu wollen, sich umgekehrt aber um so besser organisieren zu lassen, gab Preuß die Schuld an der Macht- und Erfolglosigkeit der Paulskirche und an der Un Vollständigkeit der Bismarck'sehen Reichsgründung, die als ein Werk der preußischen Obrigkeit auch die preußische Obrigkeitsregierung in das neue Reich hinüber genommen habe. Das jüngste Beispiel für das Fortbestehen des alten Dualismus und der argen Schwäche des politischen Gemeinwillens bot ihm die Rede Bethmann-Hollwegs am 2. Dezember 1914 im Reichstag, die dem Volke eine „neue Zeit" innerer Politik nach dem Kriege versprach, gewissermaßen als obrigkeitliche Belohnung für das Wohlverhalten der Untertanen. „Es ist das alte Lied; ein garstig Lied, pfui, ein unpolitisch Lied", parodierte Hugo Preuß. Preuß' Erkenntnis des von der Kritik teilweise bestrittenen Fortbestehens des alten Obrigkeitsstaates5, trotz Verfassungen und Parlamenten, machte auch die 4 Preuß, a. a. O., S. 112 f. Dasselbe zeigte er a. a. O., S. 89 an dem Wort des Marquis Posa „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit" - und später, so zeigt er, auch Gewerbefreiheit, Preßfreiheit und Versammlungsfreiheit als Forderungen des deutschen Bürgertums. Dies seien immer nur unpolitische Freiheiten des individuellen Lebens vom Staate gewesen - und immer habe das deutsche Volk nur gesagt: „Sire, geben Sie ... " statt sich die Freiheit zu nehmen. Ein Jahr später kam Preuß auf die entscheidende Bedeutung des besonderen deutschen Freiheitsbegriffs in einem Vortrag in Wien zurück, als er Ernst Troeltsch kritisierte, der das spezifische Wesen des deutschen Freiheitsbegriffs als „die freie, bewußte, pflichtmäßige Hingabe an das durch Geschichte, Staat und Nation schon bestehende Ganze" beschrieben hatte. Preuß sagte, dies sei gerade das Wesen alles politischen Gemeinsinns und damit jeder politischen Freiheit. Er wandte sich besonders gegen die Meinung Troeltschs, die deutsche politische Freiheit sei nicht auf die Hervorbringung des Regierungswillens aus dem Volkswillen gerichtet. Hierin sah Preuß wieder die Erinnerung „an jene teutsche Libertät, die jahrhundertelang innere Zerrissenheit und äußere Ohnmacht Deutschlands bedeutete. Mit jener teutschen Libertät Schloß sich Deutschland in der Epoche der Bildung der großen Einheitsstaaten von dieser Entwicklung aus ... Sollen wir uns abermals durch den Begriff einer besonderen Art politischer Freiheit gegenüber dem allgemeinen Entwicklungsgang isolieren?" (Preuß, Obrigkeitsstaat und großdeutscher Gedanke, Jena, 1916, S. 18 f.). 5 Im Unterschied zu Preuß wünschte der konservativer gestimmte Gierke nicht, „daß der angeblich bei uns bestehende ,Obrigkeitsstaat' durch den »genossenschaftlichen Volksstaat'" ersetzt werde. (Gierke, Recht und Sittlichkeit, 1917, S. 261). Gierke hatte nämlich schon die bestehende konstitutionelle Monarchie „Volksstaat" genannt (Gierke, Die Stein'sche Städteordnung, 1909, S. 33). Die beiden Begriffe „Volksstaat" und „Obrigkeitsstaat" waren also nicht, wie oft angenommen wird, von Preuß geprägt worden. Aber erst Preuß setzte die beiden Begriffe als poli-
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Ziellosigkeit und Unfruchtbarkeit des deutschen Parteiwesens, jene Lähmung der deutschen Politik überhaupt verständlich: wo die Bureaukratie beanspruchen konnte, den „Staat" schlechthin, und zwar „über den Parteien" zu vertreten 6, mußte ihre Selbstbehauptung „staatserhaltend" sein. Die Parteien, deren Interessen sich mit diesem System verbanden, galten ebenfalls als „staatserhaltend" und als „national", während die Opposition als „Reichsfeinde" gebrandmarkt und vom Staat ausgeschlossen wurde. Die Selbstbehauptung der Bureaukratie und der mit ihnen verbundenen Interessen verlangte geradezu nach jener für die innere Befriedung und Geschlossenheit des Volks verhängnisvollen obrigkeitlichen Devise des „divide et impera" im Verkehr mit den Parteien7, führte zugleich aber auch dazu, daß sich die Parteien immer mehr untereinander um so erbitterter befehdeten, je mehr ihnen die verbindende und damit mäßigende Wirkung unmittelbar praktischer und verantwortlicher politischer Arbeit fehlte, die die politischen, sozialen und wirtschaftlichen, auch die kirchlich-konfessionellen Gegenströmungen im politischen Gemeinwillen der ganzen Nation hätten ausgleichen können. Eine andere Schwäche der über die politische Brauchbarkeit der Parteien entscheidenden Obrigkeit lag in ihrer - ebenfalls konsequenten - Selbstergänzung, einer Art Inzucht, wie Hugo Preuß sich ausdrückte, die dazu geführt habe, daß gerade nicht politische Köpfe aus den Parteien in die Führung berufen würden, sondern Leute, die sich nicht „kompromittiert" hätten, also auch unerprobt seien8. In den Mängeln der inneren Verwaltung, besonders aber des Auswärtigen Dienstes, erblickte Hugo Preuß die Rechtfertigung seiner Ansicht. Die überzeugendste Probe aufs Exempel stand bei der Abfassung des Buches freilich noch aus: die Ernennung Georg Michaelis' (1857-1936), eines bis dahin unbekannten, für dieses Amt ungeeigneten Verwaltungsbeamten gegen seinen Wunsch zum Kanzler eines Reiches (Juli bis Oktober 1917), das in einem Krieg gegen alle Großmächte der Erde um Sein oder Nichtsein kämpfte. Aber es wäre „unpolitisch" gewesen, die Schuld für diese Umstände der Obrigkeit allein zu geben: „Wo der Obrigkeitsstaat sich behauptet und der Volksstaat sich nicht zu entfalten vermag, da liegt der letzte und entscheidende Grund dieses historischen Tatbestandes nicht in den Erscheinungen, an denen der oberflächliche Blick zu haften pflegt; nicht in einer obrigkeitlichen Unterdrückungspolitik mit ihren Demagogenverfolgungen und Ausnahmegesetzen; nicht in Einfluß und Bevorzugung bestimmter sozialer Gruppen und ihrer Interessen; nicht in der zähen Herrschsucht eines obrigkeitlichen Beamtentums. Diese und andere Erscheinungen tische Kampfformel in Umlauf. Für Gierke war nur der absolutistische Staat des 18. Jahrhunderts Obrigkeitsstaat, jegliche Art konstitutioneller Staaten, besonders aber der deutsche, galten ihm als Volksstaat. 6 Hier spricht Preuß die aus der Hegel'sehen Schule stammende, noch immer wirksame dualistische Auffassung Lorenz von Steins und Rudolf Gneists an: der Staat, der mit seinen höheren Staatsinteressen über den Niederungen der „Gesellschaft" mit ihren Parteien, Parlamenten, Interessenkämpfen als Richter fungieren soll. Vgl. a. a. O., S. 161. ι Preuß, a. a. O., S. 194. s Preuß, a. a. O., S. 181.
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verwandter Art seien lediglich begleitende Symptome oder natürliche Folgen der wesentlichen Ursache: des Fehlens einer anderen regierungsfähigen Potenz, die sich durch Selbstorganisation aus dem Volke heraushöbe"9, des Mangels eines starken, genügend einheitlichen politischen Willens des Volkes, dessen Vertretung im Parlament zur verantwortlichen politischen Führung entschlossen wäre 10 . In diese Richtung, über die Probleme der Parlamentarisierung und der Reform des preußischen Wahlrechts hinweg wiesen die Fingerzeige des Buches aus den grundsätzlichen Schwierigkeiten der politischen Misere hinaus: „Der deutsche Staat kann ... nur zum Volksstaat werden, wenn das deutsche Volk innerlich zum Staatsvolk wird" 1 1 . Das hieß Politisierung des unpolitischen Volkes, Erziehung zur politischen Selbstorganisation und zur Bildung eines Gemein willens. Von „staatsbürgerlichem Unterricht", wie gut er auch gemeint sei, hielt Hugo Preuß nicht viel. Nur die gemeinsame Arbeit am Staat selbst konnte Lehrmeisterin sein. Er unterschätzte nicht die Hemmungen auf diesem Wege. Dennoch sah er Gründe zur Hoffnung: vor allem den Umstand, daß die staatliche Zersplitterung überwunden worden war. Die äußere Einheit mochte helfen, auch ein innenpolitisches Einheitsbewußtsein der Nation zu bilden und damit zur Fähigkeit politischer Selbstorganisation zu führen. Das mußte aber im wesentlichen Autodidaktenarbeit des Volkes selbst sein, auch wenn eine einsichtige Obrigkeit eine solche Entwicklung namentlich in ihren Anfängen erleichtern konnte 12 . Schulen organisierter Gemeintätigkeit sah Preuß besonders in den gewerkschaftlichen oder ähnlichen Verbänden - namentlich aber in der kommunalen Selbstverwaltung, „in der Steins staatsmännischer Blick das vorzüglichste Mittel politischer Selbsterziehung erkannt hatte". Dann könnte, meinte er, am Ende auch das wesentliche „Anderssein" des deutschen Volkes, seine politische Isolierung und die tiefe Antipathie der ganzen Welt überwunden werden - durch die innere Identität des deutschen Volkes mit seinem Staat. 9 Preuß, a. a. O., S. 159 f. 10 Schon im Jahre 1904 hatte Hugo Preuß einmal darauf hingewiesen, daß die Frage der Parlamentarisierung kein wesentlich staatsrechtliches Problem sei, das unbedingt eine Verfassungsänderung erfordere. „Ohne auch nur einen Buchstaben unserer Verfassung zu ändern, hätten wir das sogenannte parlamentarische System in demselben Augenblick, da es im Parlament eine regierungsfähige Majorität und hinter ihr in der Wählerschaft eine feste regierungswillige Mehrheit gäbe" (Preuß, Vom ministeriellen Bekleidungsstück, Die Nation, 1904/05, S. 37ff.). Denn: „einer parlamentarischen Mehrheit bedarf die Regierung regelmäßig auch im „bloß" konstitutionellen System; aber sie findet sie hier von Fall zu Fall, indem sie sich für jede einzelne Maßregel eine Mehrheit komponiert. Dies ist möglich, und ein anderes System ist unmöglich, weil und solange es im Parlament an regierungsfähigen und regierungswilligen Parteien fehlt; d. h. an Parteien stark und einheitlich genug, nur eine Regierung ihres politischen Geistes zu unterstützen, dafür aber auch die volle politische Verantwortlichkeit zu tragen. Und an solchen politischen Parteien fehlt es, wo und weil es im Gemeinwillen des Volkes an politischen Energien fehlt, die auf unmittelbar praktische Staatstätigkeit gerichtet sind, nicht bloß auf das gesinnungstüchtige Bekenntnis zu abstrakten politischen oder sozialen Glaubenssätzen" (Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, S. 184).
n Preuß, a. a. O., S. 186. 12 Preuß, a. a. O., S. 193 ff.
1. „Das deutsche Volk und die Politik"
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Das Buch machte in der deutschen Öffentlichkeit beträchtlichen und sogar günstigeren Eindruck, als Hugo Preuß erwartet hatte 1 3 . Zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften lenkten durch Besprechungen die Aufmerksamkeit auf einen Mann, der bis dahin nur in der Berliner Kommunalpolitik und i m Umkreis seiner Wissenschaft bekannt gewesen war. In dieser Schrift waren mit Ernst und mit verhaltener politischer Leidenschaft dunkle, nur halb bewußte Hintergründe des Nationalcharakters erhellt worden. Der Leser spürte darin die Summe reicher politischer Erfahrung und des Nachdenkens eines Politikers von staatsmännischem Rang. Gerhard Anschütz, ein Anhänger der Idee des genossenschaftlichen Staates, trat Hugo Preuß ganz entschlossen und ohne Vorbehalte an die Seite, als er in den Preußischen Jahrbüchern 14 das Buch besprach. I m Jahre 1917 tauchten dann auch in Max Webers politischen Artikeln in der Frankfurter Zeitung die Preuß'sehen Begriffe „Volksstaat" und „Obrigkeitsstaat" als politische Kampfformeln auf 1 5 . Der „Volksstaat" wurde zum Kennwort einer liberalen Bundesgenossenschaft für die Parlamentarisierung und die preußische Wahlrechtsreform. Hugo Preuß' Buch hatte Fragen aufwerfen und lösen wollen, um deren Beantwortung sich auch Max Scheler 13 Im Jahre 1917 schrieb Preuß einmal, er sei überrascht über die lebhaften Zustimmungen in großen und weitverbreiteten Zeitungen und Zeitschriften zu seinem Buch auch aus Kreisen, auf deren Gesinnungsgemeinschaft er früher kaum zu hoffen gewagt habe. (Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 336) Trotzdem gab es Leute, die seinen Warnungen nicht glaubten: „Die Klagen über die politische Rückständigkeit Deutschlands sind grundlos. Preuß trägt uns eine Legende vor ... Wünscht er, den Engländern und Russen Stoff für neue Angriffe gegen uns zu liefern?" („Von einem Hochschullehrer" in den Konservativen Monatsheften, Januar 1916, S. 255 ff.). Im „Hochland" beschrieb Eduard Stadtler Hugo Preuß als einen Mann „mit der bekümmerten Miene eines auf Ruinen weinenden Propheten und aus dem Milieu jener Linksliberalen . . . , denen dieser Krieg wegen der Gefahren für die liberale Kultur so furchtbar unsympathisch i s t . . . Er steht - in diesem Streit der Ideen - im Lager unserer Feinde ..." („Hochland", August 1916, S. 618). Gustav Schmoller (Schmoller's Jahrbuch, 40. Bd. (1916), S. 423 ff.) benutzte seine Besprechung zu einem großen argumentum ad hominem, den Juden Preuß. Die Idee des „Volksstaates" hielt er im übrigen für „platten Unsinn", denn das „Volk" werde nie als solches regieren. Schmoller mißverstand Preuß dabei völlig. Preuß dachte nie daran, daß es einen Staat ohne Beamte geben könne. Preuß' Volksstaat wurde übrigens auch von dem national-liberalen Abgeordneten und späteren preußischen Staatsminister Dr. Friedberg mißverstanden. Obrigkeit bleibe Obrigkeit, schrieb Friedberg, einerlei ob sie durch den Willen des Herrschers oder durch Volkswahl geschaffen werde. (Deutsche Juristen-Zeitung, 1. März 1919, Spalte 193). 14 Gerhard Anschütz, Preußische Jahrbücher, Bd. 104 (1916), S. 339 ff. Hans Delbrück, der Herausgeber der Jahrbücher, distanzierte sich aber ausdrücklich von Preuß und von Anschütz' Besprechung.
ι 5 Max Weber nannte „Volksstaat" jeden Staat mit parlamentarischer Regierungsform, in dem die Führer der jeweils ausschlaggebenden Parteien des Parlaments notwendig positive Mitträger der Staatsgewalt seien. Ein „Parlament der Beherrschten", das zu negativer Politik verurteilt sei (d. h. Vorlagen allenfalls kritisieren und ablehnen könne) und einer herrschenden Bureaukratie gegenüberstehe, kennzeichne den „Obrigkeitsstaat". Weber kritisierte sehr scharf, daß an der Spitze der deutschen Politik keine Politiker, sondern Beamte standen, die ganz vom Monarchen und den unterirdischen Einflüssen des Hofes abhingen (Weber, Gesammelte Politische Schriften, S. 159).
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und Ernst Troeltsch bemühten. Ein Vergleich mit ihnen hilft den Standort Hugo Preuß' verdeutlichen. Max Scheler (1874-1928), der Philosoph und Soziologe, durchlief während des Weltkrieges auffällige Wandlungen. Im Winter 1914, noch ganz unter dem Eindruck der „heroischen" Augustwochen, begrüßte er den „Genius des Krieges" 16 , von dem er eine Befruchtung des gesamten Lebens erwartete; der Krieg erschien ihm geradezu als eine Äußerung staatlichen Lebens, an das er, ähnlich wie Troeltsch, nicht die Maßstäbe der „Privatmoral", sondern einer eigenen „Staatsmoral" anzulegen suchte. Ganz besonders aber erhoffte er von diesem europäischen Krieg die Erneuerung der europäischen Geisteseinheit durch den edlen, kriegerischen Idealismus der europäischen Jugend in allen Nationen, der einmal alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens durchsäuern und so das alte, materialistisch und merkantil gewordene Europa bestatten werde 17. Die kriegerische Romantik Schelers schwärmte von einem neuen, wesentlich kontinentalen Europa unter der militärischen und geistigen Führung Deutschlands, seiner „Mission gegen den Osten", und stand im Zeichen eines überaus starken anti-englischen Ressentiments. Es ist klar, daß sich hierin noch keine Berührungspunkte mit Hugo Preuß fanden. Anders dagegen, ernüchterter und kritischer war eine wesentlich psychologische Studie Schelers aus dem Jahre 1917 über „Die Ursachen des Deutschenhasses"18. Scheler glaubte allerdings nicht, daß der Haß, dem das deutsche Volk sich in diesem Kriege gegenübersah, der Haß der europäischen Demokratie gegen die feudalen Reste Europas sei - dazu seien die westlichen Demokratien zu verschieden. Vielmehr führte er den Haß auf das zurück, was er die „Vertreibung aus dem Paradies" nannte. Der neue deutsche Staat in der Mitte Europas hindere durch seine beunruhigende Arbeitsamkeit seine Nachbarn daran, das beschaulichere Leben der Vergangenheit fortzuführen und ungestört ihren verschiedenen nationalen Neigungen nachzugehen. Scheler hob besonders hervor, daß das eigentümliche Verhältnis der Deutschen zur Arbeit, die seltsame Genugtuung, die sie aus ihr schöpften, den anderen unverständlich bleiben müsse, weil sie Arbeit nur für einen Zweck verrichteten und sich dabei stets nach Muße sehnten. So müßten die Deutschen den Eindruck erwecken, als ob sie, die so unermüdlich arbeiteten, einen bestimmten heimlichen, wohl gefährlichen Zweck verfolgten, offenbar die Welteroberung. So werde auch der deutsche „Militarismus" verstanden, nicht als spontane Lebensform eines Volkes, sondern als zweckbestimmte Vorbereitung großer Eroberungspläne. Wie Hugo Preuß wies Scheler schließlich auch auf den unterschiedlichen Freiheitsbegriff in Deutschland und bei seinen westlichen Gegnern hin. Die deutsche Freiheit betreffe nicht das öffentliche Leben, sondern das individuelle Denken und Schauen, Gewissen und Religion des Einzelnen. Sie ziele auf die Verschiedenheit der Menschen, nicht ihre Gleichheit hin, wie die westliche Freiheitsidee, die 16
Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Leipzig, 1915. π Scheler, a. a. O., S. 330. 18
Scheler, Die Ursachen des Deutschenhasses, Leipzig, 1917.
1. „Das deutsche Volk und die Politik"
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deshalb die gemeinschaftliche staatsbürgerliche Qualität jedes einzelnen hervorhebe. Angesichts des Hasses der ganzen Welt riet Scheler den Deutschen, diesen Haß ohne Hochmut und ohne Erwiderung zu ertragen, vielmehr auf die versöhnenden Werke des Friedens zu hoffen, an das deutsche Wesen zu glauben, aber Selbstbesinnung zu halten, besonders über die innere Entwicklung Deutschlands seit der Reichsgründung, und danach zu streben, das „geistige" Deutschlands Goethes und Beethovens im Deutschland Krupps und Ballins aus seiner inneren Abgeschlossenheit herauszurufen. Scheler verlangte namentlich, daß die politischen Verhältnisse, auch die Schulen, so umgestaltet würden, daß sie Leute von Geist und Talent anzögen. Dazu sei es aber nötig, ihnen neue Verantwortungen und größere Mitwirkung zu sichern oder zu erkämpfen. In diesen praktischen Folgerungen stand Scheler Hugo Preuß nicht mehr so fern. Aber er übte doch harte Kritik an Preuß, in dessen Buch er einen durch das ausländische Urteil, über die deutschen politischen Institutionen und die deutsche Geschichte infizierten deutschen „Selbsthaß" zu entdecken vermeinte. Ernst Troeltsch (1865-1923), der protestantische Theologe und Religionsphilosoph, schien mit seinen politischen Aufsätzen während des Weltkriegs 19 zwischen Preuß und Scheler zu stehen; das zeigte zuerst die Thematik: Preuß hatte vor allem die deutsche politische Geschichte befragt, Scheler hatte als Philosoph und Psychologe geforscht. Troeltsch suchte das Wesen des deutsch-westeuropäischen Unterschiedes vor allem im Bereich der europäischen Geistesgeschichte. Die Ursache für die geistige Isolierung Deutschlands in der Welt sah er zunächst in dem Gegensatz der westeuropäischen, demokratischen Zivilisation gegen das autoritative, reaktionäre Deutschland, seine Militärmonarchie, seine Beamtenherrschaft und seinen „Unteroffizierston". Darin erblickte Troeltsch vor allem einen Anlaß zur Selbstbesinnung der Deutschen. Der hauptsächliche Unterschied erschien ihm aber im Freiheitsbegriff. Hier empfand er deutlich die „Zurückgebliebenheit" unserer politischen Entwicklung und Erziehung hinter der des „Westens" und verlangte darin eine größere Angleichung 20 . Mit Blick auf die naturrechtlichen Traditionen des Westens, im Gedanken der Gleichheit der Menschen und einer allgemeinen Menschheitsidee und Moral auf der einen Seite und dem deutschen romantischen Individualismus auf der anderen Seite definierte er den deutschen Freiheitsbegriff als nicht, wie im Westen, auf die Hervorbringung des Regierungswillens gerichtet, sondern als „freie, bewußte, pflichtmäßige Hingabe an das durch Geschichte, Staat und Nation schon bestehende Ganze" 21 . Diese vom Geiste Kants geprägte deutsche Freiheit bestehe mehr in Pflichten als in Rechten, schrieb Troeltsch. Sogar die allgemeine Wehrpflicht werde in diesen Geist hineingebogen. Die deutsche politische Freiheit bleibe wesentlich ihren Ursprüngen verhaftet, der Befreiung des Geistes, nicht der öffentlichen 19
Ernst Troeltsch, Deutscher Geist und Westeuropa, Tübingen, 1925. 20 Troeltsch, a. a. O., S. 83. 2ΐ Troeltsch, a. a. O., S. 94.
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Angelegenheiten, und richte sich vornehmlich auf das Innere der Seele, auf die „persönliche Freiheit". Aber daran knüpfte Troeltsch eine Warnung; diese Freiheit gelte es nicht nur gegen „realistische Umwälzungen" zu behaupten wie die Verachtung der naturrechtlichen Menschheitsidee, pantheistische Staatsvergötterung, die ideenlose Achtung des Erfolgs und der Gewalt, den absoluten Rechtspositivismus und die Moralskepsis, die er im wilhelminischen Deutschland beobachtete22, sondern auch mit der aufrechten Selbständigkeit eines politisch erzogenen Volkes zu verschmelzen. Doch die Grundrichtung dürfe nicht aufgegeben werden, sonst verlören die Deutschen ihren Charakter und ihren Bildungszusammenhang23. In dieser Form, so hoffte er, solle neben der französischen und der englischen Freiheitsidee auch die deutsche zu Einfluß in der Welt kommen. Solche Forderungen standen den Wünschen Hugo Preuß' ziemlich nahe, wenn sie auch um einige Nuancen abwägender und ausgleichender gestellt waren und den herkömmlichen deutschen Freiheitsbegriff nicht zur völligen Fehlentwicklung stempeln wollten. Andererseits trennte in diesen Kriegsaufsätzen auch mancher Gedanke Ernst Troeltsch von Hugo Preuß und verband ihn mit Max Scheler. Troeltsch verlangte wie Scheler einen neuen Idealismus und eine Vermenschlichung der Bildung. Und wie Scheler unterschied auch er zwischen Privatmoral und Staatsmoral 24). Die Notwendigkeit einer besonderen Moral für den Staat folgte für ihn aus dem Eigenrecht des staatlichen Entwicklungstriebes. Konflikte, die sich daraus ergäben, müßten ertragen und durchgekämpft werden. „Nur eine wehleidige, alles an der Sekurität des Privatlebens messende Denkweise kann daran Anstoß nehmen. Das hat unsere Philosophie und Historie stets mit Recht gelehrt", schrieb er. Dennoch wollte er keinen Imperialismus. Das wäre das Ende der Moral. In dieser Weise lief das Argument auf eine bedenklche subjektive Unterscheidung und zwischen einem nach „Staatsmoral" erlaubtem, wenn nötig offenbar auch mit Waffengewalt durchzusetzenden „Entwicklungstrieb" und einem unmoralischen Imperialismus hinaus. Hugo Preuß konnte ihm darin wohl kaum folgen. Für die echte, prinzipientreue Demokratie, so schrieb Troeltsch selbst, gab es nur den Standpunkt der Privatmoral, die die gegenseitigen Beziehungen der Staaten ganz auf Gerechtigkeit, Gleichheit, Ehrlichkeit stelle. Troeltsch knüpfte die Rechtfertigung der „Staatsmoral" an das Fehlen einer erzwingbaren internationalen Rechtsordnung; sie werde überhaupt immer, nicht nur in diesem Stadium der Entwicklung des Völkerrechts, fehlen, behauptete er 25 . Die Schwäche auch dieser Argumentation ist offenkundig. Die Moral würde hier abhängig von der Anwesenheit der (Welt-)Polizei. Hugo Preuß dagegen hielt die Existenz der Völkergemeinschaft für etwas tatsächlich Gegebenes, und der daraus folgte die Verpflichtung der Staaten, rechtlich und moralisch miteinander zu verkehren und auch Interessenkonflikte in rechtlichen Formen beizulegen. Er wünschte und erwartete die Vollendung 22 23 24 25
Troeltsch, Troeltsch, Troeltsch, Troeltsch,
a. a. O., S. 17 f. a. a. O., S. 99. a. a. O., S. 134 ff. a. a. O., S. 146 f.
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der internationalen Rechtsorganisation. Die eigene Nähe zum angelsächsischen Rechtsdenken und das Eintreten für demokratische Reform hinderte ihn nicht daran, sich gegen die alliierte Kriegspropaganda zu wenden, die Deutschland als den Störenfried der Welt darzustellen suche, als ob die deutsche Politik diesen Krieg habe herveiführen wollen und vorbereitet habe, als ob es ernstzunehmende deutsche Welteroberungspläne gegeben habe und als die Deutschen lauter Treitschkes, Alldeutsche, Pangermanisten und Expansionisten seien26. Ihn bedrückte die Intensität der Kriegswut, die bürgerkriegsähnliche Stimmung zwischen den europäischen Völkern, die düstere Verbissenheit des Kampfes und die Vereinseitigung der Meinungen im ideologischen Kriege, der selbst vernünftige Leute, auch mancher seiner Freunde draußen und drinnen zum Opfer fielen 27.
2. Die „Neuorientierung" und das preußisch-deutsche Rätsel Am wichtigsten blieben Hugo Preuß doch die inneren Reformen. Das war ja der Zweck des Buches von 1915 gewesen, und diesem Ziel gehörte auch die hauptsächliche Aufmerksamkeit seiner publizistischen Tätigkeit in den folgenden Kriegsjahren. Die innere Einheit des deutschen Volkes in den ersten Kriegswochen, so schrieb der Historiker Friedrich Meinecke später, war unter zwei stillschweigenden Voraussetzungen zustande gekommen, daß nämlich Deutschland einen reinen Verteidigungskrieg führe und daß die Wunsche der Arbeiterschaft nach voller politischer Gleichberechtigung und größerem politischen Einfluß befriedigt würden 28. Die Zweifel an der tatsächlichen Beachtung dieser Bedingungen, die schon in den beiden ersten Kriegsjahren sich zu regen begannen, wurden nicht durch Handlungen der Regierung zerstreut, sondern eher vermehrt. Hinzu kam der Eindruck der Schwäche, sogar des Versagens der politischen Führung, namentlich des Kaisers selbst, auf dessen Person das System so einseitig zugeschnitten war, unter den ungeheuren Lasten der modernen Kriegführung. Der innere Umbau der Führung war nicht länger, wie es vor dem Kriege vielleicht noch hatte scheinen können, ein Wunschtraum liberaler Theoretiker, sondern wurde geradezu eine Bedingung für die Sicherheit der Nation. Der Entschluß zur Wiederaufnahme des unbeschränkten U-Boot-Krieges hatte den Einsichtigen bestürzend deutlich gezeigt, daß der von Bismarck sorgfältig, wenn auch unter großen Anstrengungen gewahrte Primat der politischen vor der militärischen Kriegführung zusammengebrochen war. Die allerletzten Entscheidungen in politischen Fragen lagen jetzt bei Militärs, bei Leuten, die für solche Aufgaben überhaupt nicht vorbereitet waren. Unabsehbare Gefahren lagen in diesem Umstand. 26 Preuß, Die Legende vom Störenfried (1916), in Staat, Recht und Freiheit, S. 252 ff. 27
Vgl. Preuß' „Offenen Brief 4 an seinen englischen Freund William Harbut Dawson (Die Neue Rundschau, 1918, S. 397 ff.). 28 Friedrich Meinecke, Die Revolution, Ursachen und Tatsachen, in Anschütz-Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts I, (1930), S. 95 ff.
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Längst hatte Hugo Preuß die Ursachen der chronischen Schwäche der deutschen Regierung darin erkannt, daß die leitenden Männer ernannt und entfernt wurden „nach unerforschlichem Ratschluß", nach dem Willen des Monarchen, oder vielmehr, dem Willen seiner im Verborgenen wirkenden Ratgeber. Das Bedenkliche an dieser in Deutschland üblichen Beamtenregierung war ihre Abhängigkeit von unverantwortlichen, heimlich wirkenden Kräften am Hofe, gegenüber denen diese Regierung keinen Rückhalt in der parlamentarischen Öffentlichkeit, bei einer entschlossenen Mehrheit, suchen konnte. Die Art und Weise der Regierungsbildung unter dem Druck außerparlamentarischer Kräfte Schloß jede echte politische Persönlichkeit von vorn herein aus, der eine selbständige Politik mit einem festen Rückhalt am Parlament zugetraut werden konnte 29 . Max Weber hielt ähnlich wie Hugo Preuß, das parlamentarische System vor allem für eine weitgehende Garantie für die Ausschaltung unkontrollierbarer und unverantwortlicher Einflüsse auf die Regierung und für ein Instrument besserer Führerauslese 30. Beide waren stark beeindruckt von der unvergleichlich viel festeren Stellung der englischen parlamentarischen Regierung im Vergleich mit der deutschen „konstitutionellen" Beamtenregierung. Allgemein, übrigens auch in England, war bei Kriegsbeginn das Umgekehrte erwartet worden. Noch mehr aber als die Parlementarisierung der Reichsverfassung, deren Bedeutung doch nur ein Teil der politischen Fachleute zu würdigen wußte, verlangte die öffentliche Meinung die Demokratisierung des preußischen Wahlrechts. Seine Ungerechtigkeit war leichter zu erkennen als die Vorzüge des parlamentarischen Systems im Vergleich mit dem fortdauernden Halb-Konstitutionalismus. Die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen war eine jahrzehntelange Forderung der Linksparteien. Jeder, der nicht zur ersten Klasse gehörte, war deklassiert. Vor allem die Beseitigung dieses ungleichen Wahlrechts erwartete man von der von der Regierung schon zu Anfang des Krieges angekündigten „Neuorientierung" der inneren Politik. Für Max Weber war es Gebot der Gerechtigkeit und der inneren Befriedung 31. Hugo Preuß hatte als Stadtverordneter dieses Wahlrecht bekämpft 32 und im Krieg seine Beseitigung noch energischer gefordert 33. Gerhard Anschütz, der Heidelberger Staatsrechtslehrer, veröffentlichte 1917 eine Schrift für die preußische Wahlreform, und ebenso trat Friedrich Meinecke, nicht, wie er sagte, vom Boden demokratischer Ideale aus, sondern auf Grund der eigentlichen 29
Diese Ansicht hat Hugo Preuß in zahlreichen Aufsätzen und Schriften während des Krieges vertreten. Vgl. u. a. „Parlamentarisierung", Frankfurter Zeitung, 4. August 1917, und „Die Kanzlerfalle", Berliner Tageblatt, 2. Oktober 1916. 30 Max Weber in seinen Aufsätzen zur Parlamentarisierung, siehe u. a. den Artikel „Beamtenschaft und politisches Führertum" (Ges. Pol. Schriften, S. 139 ff.). 31 Max Weber, Ges. Pol. Schriften, S. 224. 32 Vgl. Berliner Stadtverordneten-Versammlung, Sitzungen vom 19. April und 13. Dezember 1900. 33 Preuß, im Berliner Tageblatt am 2. Oktober 1916 und besonders in verschiedenen Artikeln im Jahre 1917.
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Staatsinteressen selbst für die Einführung des auf Gleichheit der Wähler beruhenden Reichstagswahlrechts in Preußen ein 34 . Unter dem Druck der sich im Frühjahr 1917 abermals verschlechternden Kriegslage, des Streiks der Munitionsarbeiter, der Radikalisierung der Industriearbeiterschaft und der daraus erwachsenden Spannungen innerhalb der Mehrheits-SPD, auch unter dem Eindruck der russischen Frühjahrsrevolution rang Reichskanzler von Bethmann-Hollweg dem Kaiser die „Osterbotschaft" von 1917 ab 35 , die die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen und die Einführung direkter und geheimer Wahlen samt einer Reform des preußischen Herrenhauses für die Zeit nach dem Kriege versprach. Mehr war nicht zu schaffen gegen die Abneigung des Kaisers, den Widerstand der Obersten Heeresleitung und die starre Opposition der Konservativen. Weder sollte also das Wahlrecht sofort reformiert werden noch war die Einführung des gleichen Stimmrechts zugesichert worden. Die kaiserliche Osterbotschaft brachte deshalb nicht die erhoffte Beruhigung. Erst während der Juli-Krise, kurz vor seinem Sturz, gelang es Bethmann-Hollweg, den Kaiser zu einer zweiten Botschaft zu veranlassen, die die Einführung des gleichen Wahlrechts, noch vor der nächsten Landtagswahl, in Aussicht stellte. Das zähe Ringen durch all die vielen Jahre, das bloß halbe Zugeständnis der Osterbotschaft selbst wie auch das weitere Schicksal der Reform nach der JuliKrise offenbarte, daß es sich hier um eine Kernfrage der inneren Politik handelte36. Eigentlich ging es um zwei Kernfragen, die endliche Aussöhnung der Arbeiterschaft mit dem preußischen Staat und die Einfügung Preußens in das Reich. Das alte Wahlrecht erlaubte weniger als sechzehn Prozent der preußischen Steuerzahler, zwei Drittel der Mitglieder des Abgeordnetenhauses zu bestimmen. Die anderen 84 Prozent der Wählerschaft blieben praktisch ohne politische Vertretung, da die in der dritten Klasse gewählten Abgeordneten mühelos von den reichen und wohlhabenden Schichten niedergestimmt werden konnten37. Das Dreiklassenwahlrecht war so, ganz abgesehen von dem mächtigen Druck, der sich mit der öffentlichen Stimmabgabe auf die Wähler des flachen Landes, besonders der Gutsbezirke, ausüben ließ, das Bollwerk des Junkertums und die Stütze der Klasseninteressen des besitzenden Bürgertums. Die Verschleppung der 1909 angeregten preußischen Verwaltungsreform - an die Preuß auch während des Krieges in mehreren Artikeln erinnerte 38 - ebenso wie die lange, erfolgreiche Verhinde34
Gerhard Anschütz über Meinecke (Die preußische Wahlreform, 1917, S. 5 f.). Zur Vorgeschichte der Osterbotschaft siehe Ludwig Bergsträßer, Die preußische Wahlrechtsfrage im Kriege, 1929, namentlich den dritten Abschnitt des Buches. 36 „Der Schwerpunkt der inneren Politik des Deutschen Reiches lag während des Krieges mehr und mehr im preußischen Wahlrecht" (Friedrich Payer, Von Bethmann-Hollweg bis Ebert, 1923, S. 280). 37 Anschütz, Die preußische Wahlreform, S. 3 f. 38 Preuß, in der Frankfurter Zeitung am 25. Dezember 1915 und im Berliner Tageblatt am 12. Juni 1917. 35
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rung der Wahlreform selbst zeigten, in welch überaus starker Position sich die Nutznießer dieses Wahlrechtes befanden. Jede fortschrittliche Gesetzgebung in Preußen konnte so verhindert werden, selbst wenn man die Macht des hochkonservativen Herrenhauses, den sehr wirksamen Einfluß des konservativen Beamtentums und die unterirdischen Verbindungen des Adels zum Hofe gar nicht in Betracht zog. Schwieriger war die Einsicht in die zweite, vielleicht noch wichtigere Seite der Wahlrechtsfrage, die das Verhältnis zwischen Preußen und dem Reich betraf. Friedrich Meinecke hatte wenige Jahre vor dem Krieg dieses Ur-Problem des deutschen Nationalstaates wieder entdeckt und dargestellt 39. Hugo Preuß hatte es in seinem Kriegsbuch sogleich aufgegriffen 40 und später, im Jahre 1917, stand auch Anschütz unter dem Eindruck von Meineckes Darstellung. Die drei Professoren leisteten die maßgeblichen Beiträge zur Erörterung der Frage, Meinecke in der Erforschung der historischen Vorbilder, Preuß und Anschütz in der Planung für den Umbau des geltenden Staatsrechts. Der tatsächliche Charakter des Verhältnisses zwischen deutscher und preußischer Politik spiegelte sich keineswegs darin wider, daß Preußen im Bundesrat, dem Herzstück der Bismarckschen Verfassung, direkt nur über 17 von insgesamt 58 Stimmen verfügte, obwohl es doch nach Bevölkerungszahl und Gebietsumfang alle anderen Mitglieder des Bundes zusammen noch weit überragte. Doch die preußische Regierung kontrollierte praktisch auch die Bundesratsstimmen der Zwergstaaten innerhalb und am Rand des preußischen Gebietes und die später geschaffenen Stimmen des „Reichslandes" Elsaß-Lothringen. Außerdem konnte sie durch die Präsidialrechte des preußischen Königs Einfluß auf die Reichsregierung ausüben. Gegen eine solche Kombination konnten die drei anderen Königreiche, die sechs Großherzogtümer, das größte Herzogtum (Braunschweig) und die drei Hansestädte zusammen keine Mehrheit erlangen. Gegen das preußische Veto konnte auch keine Reichsgesetzgebung über Militär- und Marinewesen, Zölle und Verbrauchssteuern, das heißt die Handelspolitik, Zustandekommen. Die Verbindung der Amtes des Reichskanzlers und des preußischen Außenministers war für das Reich insofern wertvoll, weil damit das Recht verbunden war, über die preußischen Bundesratsstimmen zu verfügen, aber das preußische Eigengewicht zwang die Reichsregierung ständig zur Rücksichtnahme auf das preußische Kabinett und die dominierenden konservativen Kräfte innerhalb des Landtags und der preußischen Verwaltung ohne daß eine zweite Personalunion, die zwischen dem Reichskanzleramt und dem Amt des preußischen Außenministers/Ministerpräsidenten, eine ausreichende Beeinflussung der preußischen Regierung vom Reich her erlaubt hätte; denn rechtlich war der preußische Ministerpräsident als primus inter pares nicht 39 Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1903), vgl. bes. Kap. 7, Buch II, ferner seinen Aufsatz über die Reform des preußischen Wahlrechts in den „Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung", Bd. 5 (1917), S. 1 ff. 40 Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, S. 179.
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wie der Reichskanzler in der Reichsregierung befugt, seinen Kabinettskollegen die allgemeinen Richtlinien der Politik vorzuschreiben 41. War so zwar durch die Identität des Trägers der beiden Kronen und die Personalunion an der Spitze der beiden Regierungen das preußische Verhalten in beschränktem Maße, wenn auch häufig nur durch einen Kompromiß der beiden Regierungen, zu beeinflussen, so blieb doch der latente Gegensatz42 zwischen den beiden Berliner Regierungen eine ständige Drohung für das Reich. Die Reichsregierung war „eine politische Gewalt mit zwei Seelen", sagte Hugo Preuß mit den Worten Meineckes43. Die Schwäche der Reichsregierung gegenüber dem preußischen Machtblock legte natürlich nahe, daß sie am Reichstag Rückhalt zu gewinnen suchte und dadurch die Bestrebungen zur Parlamentarisierung erleichterte. Zugleich zeichnete sich aber auch immer dringender die Notwendigkeit ab, die Machtstellung der Konservativen in Preußen durch die Reform des Wahlrechts zu brechen. Bei der Stärke Preußens im Reich war die preußische Wahlreform eine deutsche Angelegenheit. Der Homogenität der beiden Regierungen müßten politisch homogene Parlamente entsprechen, sagte Anschütz 44 und forderte auch aus diesem Grunde nun, wiederum zusammen mit Preuß und Meinecke 45 , die Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen. Man dürfe damit keinesfalls bis nach dem Kriege warten. Aber war mit dem Wahlrecht das preußisch-deutsche Verhältnis bereinigt und das entscheidende Hindernis für eine entwicklungsfähige Innenpolitik aus dem Wege geräumt? Blieb da nicht noch immer das gewaltige Eigengewicht des preußischen Staates und seiner Regierung, selbst bei gleicher politischer Ausrichtung? Friedrich Meinecke hatte die Aktualität dieser Frage zuerst begriffen und begonnen, die historischen Antworten zu überprüfen 46. Wie war das richtige Verhältnis zwischen dem Bundesstaat und seinem stärksten Gliedstaat zu konstruieren? 41
Vgl. dazu Max Weber, Ges. pol. Schriften, S. 255 ff., auch G. Anschütz in seinem Aufsatz zur preußischen Wahlreform. 42 Vgl. dazu Hans Goldschmidt, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung (1931). Goldschmidt stellt hier in einer reich dokumentierten Arbeit den Kampf um die Macht in den wechselnden Beziehungen der preußischen und deutschen Zentralbehörden zueinander dar. Unter den Nachfolgern Bismarcks hatte sich das natürliche Schwergewicht der einen Zentralregierung mit ihrem Machtapparat über den größten Teil des Reichsgebietes gegenüber der anderen Zentralregierung über das gesamte Reichsgebiet, aber ohne eigenen Behördenunterbau, immer mehr durchgesetzt. Die „Entartung" (Goldschmidt) des preußischdeutschen Verhältnisses, die eine Denkschrift des Staatssekretärs des Innern, Clemens von Delbrück, aus dem Jahre 1912 schilderte, ging in einzelnen Fragen der Reichsgesetzgebung bis zum Boykott der Reichsregierung durdi die zur Teilnahme an den Arbeiten der Reichsregierung aufgeforderten preußischen Kommissare (S. 399 ff.). 43 Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, S. 179. 44 Anschütz, a. a. O., S. 16 f. 45 Preuß, Frankfurter Zeitung, 21. Dezember 1917; Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (6. Auflage, 1922) S. 525 ff. 46
Vgl. den zweiten Teil von Meineckes Weltbürgertum und Nationalstaat.
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„Großdeutsch" und „Kleindeutsch", die Versuche der Paulskirche im Wettlauf mit der preußischen Nationalversammlung von 1848, das Programm des schwäbischen Publizisten Paul Pfizer und die Pläne Heinrich von Gagerns - dies alles war durch Meineckes Buch wieder in Erinnerung gebracht und gewann Einfluß auf die Überlegungen Hugo Preuß' und Gerhard Anschütz'. Für das überaus komplexe Problem gab es im Grunde nur zwei, vielleicht sogar drei grundsätzlich mögliche Wege. Den einen hatte Paul Pfizer 1831 gewiesen: Preußen sollte Deutschland zwar einigen, aber sich sogleich nach der Einigung selbst auflösen, damit nicht durch einen übermächtigen, zentralisierten preußischen Staat die Freiheit der anderen Glieder des Bundes gefährdet werde. Pfizer fürchtete die preußische Hegemonie47. Die Pfizer'sehen Gedanken lebten 1848 besonders im „Siebzehner-Ausschuß" wieder auf. In der Paulskirche sammelte sich eine andere, unitarische Richtung um den Plan des Freiherrn von Stockmar; sie wollte einen Fürsten mit starker „Hausmacht" zum Kaiser erheben und ihm die Verwandlung seines Landes in unmittelbares Reichsland auftragen. Dies bedeutete die Mediatisierung eines einheitlichen, zentralisierten Preußens unmittelbar durch das Reich, oder wie man damals sagte, das „Aufgehen Preußens im Reich". Wenn aber dieser mächtige preußische Staat, der als Einheit beieinander blieb, sich dem Reichsinteresse nicht wirklich unterwarf und die Politik des Reiches zu bestimmen trachtete, zeichnete sich die dritte Möglichkeit ab: die Gefahr, daß diese Konstruktion in eine Hegemonie des Gliedstaates über das Ganze umschlug. Dies war das tatsächliche Ergebnis der Bismarck'schen Lösung 48 , die unter Hinweis auf das Institut des Bundesrats auch noch als „föderalistisch" ausgegeben wurde 49 . 47
Paul Pfizer schrieb 1831: „Würde die preußische Monarchie im jetzigen Zeitpunkt durch die Einführung von Reichsständen völlig zentralisiert" (gemeint ist ein preußischer Landtag), „so könnte Deutschland leicht statt einer seine Einheit in der Vielheit verbürgenden, präponderierenden Dynastie einen Oberherrn an dem alsdann in Deutschland übermächtigen preußischen Volk bekommen, wovor uns Gott in Gnaden behüte ... Bleibt hingegen der preußische Staat mehr in gesonderte Provinzen abgeteilt, so vermögen auch die anderen Staaten immer noch das zur Erhaltung ihrer Freiheit nötige Gegengewicht zu bilden." (Meinecke, a. a. O., 6. Auflage 1922, S. 343 f.). Im folgenden Jahr trieb Pfizer diesen Gedanken noch weiter voran: „Um auf der Grundlage völliger Rechtsgleichheit den Wiederaufbau Deutschlands zu vollenden, scheint beinahe nichts Geringeres erforderlich, als eine ganz veränderte Länderabgrenzung und Staateneinteilung in Deutschland. Die preußische Monarchie müßte in einige Staaten von dem Umfang Bayerns oder Sachsens aufgelöst... werden" (Meinecke, a. a. O., S. 345 f.). Anschütz, Das preußisch-deutsche Problem (Recht und Staat, Nr. 22), 1922, S. 3. Preuß wandte sich häufig, u. a. in einem Brief an die Frankfurter Zeitung zur „Parlamentarisierung" (Frankfurter Zeitung, 4. August 1917), später auch in der Schrift „Deutschlands republikanische Reichs Verfassung, 1923 (S. 45 f.) gegen die Ansicht, daß das alte Reich „föderalistisch" gewesen sei. Er sah darin nur die Hegemonie des preußischen Staates und berief sich gern auf Constantin Frantz, der das Bismarck'sehe Reich aus demselben Grund als einen „gelungenen Betrug" verworfen hatte. 49
2. Die „Neuorientierung" und das preußisch-deutsche Rätsel
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Die stärkste Sicherung der preußischen Einheit und des preußischen Staatsbewußtseins lag in der Existenz eines einheitlichen, preußischen Landtags. Das hatten die Männer der Paulskirche schmerzlich erfahren müssen. Würde dann aber nicht die Parlamentarisierung und Demokratisierung durch die zu erwartende moralische Stärkung der beiden Parlamente im Reich und in Preußen den Zwiespalt, wenn er schließlich einmal aufbräche, verhärten? Gerhard Anschütz und zunächst auch Hugo Preuß sahen darin keine Frage. Anschütz' Vorschlag richtete sich im wesentlichen auf zwei Punkte, die politische Homogenität der beiden Parlamente durch die Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen und die Verstärkung der Verbindungen zwischen der Reichsregierung und der preußischen Staatsregierung, vor allem durch die Erhebung des preußischen Ministerpräsidenten zum „Staatskanzler", also zum Chef, nicht zum bloßen Vorsitzenden des Kabinetts. Wie bisher, sollte der Reichskanzler dieses Amt auch in Zukunft in Personalunion führen und dadurch befähigt werden, die innere preußische Politik in Einklang mit der Reichsregierung zu bringen 50 . Dieser Vorschlag lag also im wesentlichen auf der Linie des zweiten Modells, der Mediatisierung Preußens. Mit einem ähnlichen Plan für eine engeren Verklammerung der beiden Regierungen hatte sich Hugo Preuß als junger Dozent im Jahre 1890 getragen. Am 15. April 1890 hatte der neu ernannte Nachfolger Bismarcks, Graf Capri vi in seiner ersten Rede vor dem preußischen Landtag angekündigt, daß innerhalb des preußischen Staatsministeriums (gemeint ist die preußische Regierung) die alte kollegiale Verfassung wieder mehr betont werden solle als unter seinem Vorgänger. Hugo Preuß war dieser Ansicht damals sofort mit einer Aufsatzreihe in der „Nation" entgegen getreten 51: das im absolutistischen Staat entstandene Kollegialsystem sei ein Hemmnis für den konstitutionellen Staat. In den wahrhaft konstitutionellen Staaten trügen die Ministerien (gemeint ist wieder die gesamte Regierung) den Namen eines Mannes, der durch seine allgemeine politische Verantwortlichkeit die politische Richtung bestimme und demnach nicht primus inter pares, sondern Chef der Regierung sei. Daneben bleibe Raum für die Verantwortlichkeit der Fachminister für die Führung ihrer Ressorts. Preuß hatte damals den Zeitpunkt für gekommen gehalten, die von Bismarck unterlassene Angleichung der Verfassungen des Reiches und Preußens vorzunehmen. Die Staatssekretäre an der Spitze der „Reichsämter" (die späteren Reichsministerien) sollten die Verantwortlichkeit für ihre Ressorts erhalten, die preußischen Fachminister auf diese beschränkt werden und der Reichskanzler als „Staatskanzler" in Preußen gegenüber den Ministern die gleiche Stellung einnehmen wie der Kanzler im Reich gegenüber den Staatssekretären.
50
Anschütz, Die preußische Wahlreform, S. 16 f. Preuß, Die Organisation der Reichsregierung und die Parteien (Die Nation, 1889/1890, S. 412 ff., S. 424 ff. und S. 440 ff.). 51
7 Gillessen
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V. Im Kriege 3. Vorschläge zur Reform der Reichsverfassung
Hugo Preuß' Gedanken liefen während des Sommers 1917 noch immer in ganz ähnlicher Richtung. Allerdings bot sich ihm eine Gelegenheit, seine Pläne nun viel ausführlicher als Anschütz in einem Gutachten zu formulieren. Die innenpolitischen Spannungen des Frühjahrs 1917, in denen sich die Elemente der „Juli-Krise" zusammenbrauten (Entlassung des Reichskanzlers von Bethmann-Hollweg am 12. Juli, Kampf um die Friedensresolution des Reichstages vom 19. Juli) hatten auch die Aufmerksamkeit des Großen Hauptquartiers auf die Frage gelenkt, ob die Widerstandskraft und Leistungsfähigkeit des Volkes durch Verfassungsreformen erhöht werden könnten. Aus der Umgebung Hindenburgs und Ludendorffs kam eine entsprechende Anfrage an den Direktor der Nationalbank, Witting, den früheren Oberbürgermeister von Posen, der sie an seinen Freund Hugo Preuß weitergab. Preuß ließ sich aber erst durch einen Offizier Ludendorffs offiziell auffordern, bevor er an die Ausarbeitung seiner Vorschläge ging 52 . Das Manuskript wurde Anfang Juli, also noch vor dem Sturz Bethmann-Hollwegs, fertiggestellt 53. Preuß Vorschläge blieben ohne praktische Wirkung. Sie mußten ja auch der Vorstellungswelt Ludendorffs gänzlich widersprechen; aber für eine Biographie Preuß' sind sie von großem Wert. Er behandelte darin die Parlamentarisierung im Reich und in Preußen, die preußische Wahlreform und die Neuregelung des preußischdeutschen Verhältnisses als einen einzigen, zusammenhängenden großen Komplex. Er schlug einzelne Änderungen beider Verfassungen vor und erläuterte die Gründe in einer Denkschrift. Die leitenden Einsichten sind uns im wesentlichen schon vertraut. Hier nun faßte er sie bündig zusammen. Unter der Verschlechterung der Kriegslage, namentlich seit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg, hatten sie an Überzeugungskraft gewonnen. Hugo Preuß hob wieder die völlige politisch-psychologische Isolierung Deutschlands in der Weltöffentlichkeit hervor, solange Deutschland als die Verkörperung des aller Welt entgegengesetzten Staatsprinzips erscheine. Einerseits diene die scharfe Betonung der obrigkeitlichen Staatsstruktur in Deutschland den feindlichen Regierungen als wirksamstes Propagandamittel, andererseits hindere aber auch dieselbe obrigkeitliche Struktur die offizielle deutsche Politik daran, mit Stärke gegen die „Intransigenten" im eigenen Lande aufzutreten. Aus Schwäche bringe sie immer nur halbe Konzessionen nach der Seite der Verständigung hin zustande und errege dadurch im Ausland den Eindruck skrupelloser Unaufrichtigkeit. So lange die politische Führung so schwach bleibe, müsse alle Last der Kriegführung der militärischen Führung aufgebürdet werden. Um Deutschland aus dieser Lage zu befreien, müsse die militärische Führung entweder nichts weniger als einen vollkommenen militärischen Sieg über die ganze übrige Welt erringen oder bis zur 52
Nach einer mündlichen Mitteilung von Dr. E. G. Preuß. Die Vorschläge samt der Begründung wurden zum ersten Mal von Theodor Heuß in dem Sammelband, Staat, Recht und Freiheit, S. 290 ff. veröffentlicht. 53
3. Vorschläge zur Reform der Reichs Verfassung
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völligen Niederlage kämpfen. Ein so verzweifeltes „Vabanquespiel" sei unvermeidlich und jede Verständigung mit den Gegnern auf halbem Wege ausgeschlossen, wenn in Deutschland das obrigkeitliche System erhalten bleibe, dem nun einmal die ganze Welt mit unüberwindlichem Mißtrauen gegenüberstehe. Ein ehrenvoller Verständigungsfriede - und wenn nicht so viel, dann doch wenigstens eine fühlbare Entlastung der internationalen Lage des Reiches - sei nur durch eine „volksstaatliche Umgestaltung Deutschlands" zu erwarten. „Nicht Einzelreformen sind heute das, was not tut; sie mögen so wichtig sein wie das preußische Wahlrecht und die Reichstagswahlkreise ... Jetzt kann es sich nur noch um einen fundamentalen Systemwechsel handeln, der sich in völlig unzweideutigen und unzweifelhaften, aller Welt drinnen und draußen in die Augen springenden Staatshandlungen bekundet". Preuß meinte zwar wiederum, daß es unmöglich sei, durch formale Verfassungsänderungen eine volksstaatliche Struktur oder auch nur das parlamentarische System einzuführen - denn dazu bedürfe es der Bildung eines regierungswilligen und regierungsfähigen Gemeinwillens in Volk und Parlament - aber er erwartete doch, daß das Verfassungsrecht gewisse Bedingungen schaffen könne, die die Bildung eines Gemeinwillens fördere, zunächst dadurch, daß jede Regierung zurücktreten müsse, die nicht das Vertrauen der Mehrheit besitze, selbst wenn diese Mehrheit jetzt noch keine Regierung aus sich selbst zu bilden vermöge. Nach diesen Vorbemerkungen legte er den Inhalt seiner Änderungsvorschläge dar: die Einführung der Verantwortlichkeit jedes einzelnen Ministers für die Führung seines Ressorts und des Hauptes der Regierung für die allgemeine Politik anstelle des alten Kollegialsystems in Preußen und der formell unselbständigen Chefs der Reichsämter. Die führende Stellung des Reichskanzlers solle beibehalten und auf sein Amt als Ministerpräsident in Preußen ausgedehnt werden. „Die Einheitlichkeit einer wirklich verantwortlichen politischen Leitung im Reich und in Preußen, die Parallelität beider Regierungen sowie der Bildung des deutschen und preußischen Parlaments sind die unumgänglichen Voraussetzungen für die Überwindung des Obrigkeitssystems, das letzten Endes in der kunstreich von der Verfassung konstruierten und zugleich verdeckten Herrschaft der preußischen Obrigkeitsregierung über das Reich verankert ist." Hier solle gründlich durchgegriffen werden - was auch eine Änderung der Natur des Bundesrats erfordere. Der Reformvorschlag knüpfte eng an das bestehende Staatsrecht an, beseitigte nur das Notwendigste mit einigen raschen, geschickten Schnitten und richtete das Ganze dann in neuen Stärkeverhältnissen zu einander wieder ein. Er wollte die Stellung der Reichsregierung dadurch verstärken, daß nach der Neufassung von Artikel 5 auch der Kaiser, das heißt die Reichsregierung, mit Gesetzesinitiative ausgestattet und damit an der Gesetzgebung unmittelbar beteiligt werde. Bisher war der Kaiser nur mittelbar und verdeckt an der Gesetzgebung des Reiches beteiligt, als König von Preußen, durch die preußischen Bundesratsstimmen und das absolute Veto auf den wichtigsten Gebieten der Reichsgesetze. 7*
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Der neue „Reichsrat" anstelle des Bundesrats (Artikel 17) sollte auf die Gesetzgebung beschränkt werden und durch ein suspensives Veto die Reichsgesetzgebung nur noch hemmen, nicht endlich aufhalten können. Durch diesen Umbau sollte, wie Preuß sagte, Raum geschaffen werden für eine wirkliche Reichsregierung, der nicht nur die formale Verantwortlichkeit, sondern auch die wirklich entscheidende Macht übertragen werden sollte, die bisher das preußische Staatsministerium ausübte54. Das Stimmenverhältnis im Reichsrat (Artikel 6) sollte unverändert bleiben, jedoch sollten die Mitglieder von den einzelstaatlichen Parlamenten bestimmt werden, nicht länger den Regierungen, und auch nicht länger an Instruktionen gebunden sein. Denn die bisherige Konstruktion mit der Entsendung von Beauftragten der Regierungen - verstärkt auch noch durch das Zahlenverhältnis - habe „kunstvoll die verfassungsstaatliche Entwicklung dem Reiche unmöglich gemacht". In anderen Bestimmungen des Reformvorschlags wurde formell die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und der Reichsminister, ihre Rücktrittspflicht nach einem Mißtrauensvotum und die Gegenzeichnung des Kanzlers oder der Minister für alle politischen Handlungen oder Äußerungen des Kaisers festgelegt (Artikel 11). Der Kanzler sollte nicht länger Vorsitzender des Bundesrats sein (Artikel 15) und ebenso wie die Minister beim Antritt ihres Amtes nicht ein bisher ausgeübtes Mandat verlieren müssen; denn es war ja gerade die Absicht der Parlamentarisierung, daß Abgeordnete, nicht Beamte, die Regierung führen sollten (Artikel 21). Preuß' Vorschläge für die Reform der preußischen Verfassung standen in innerem Zusammenhang mit den Veränderungsvorschlägen für die Reichverfassung. Für Preußen sah er einen „Staatskanzler" anstelle des Ministerpräsidenten vor, individuelle Ministerverantwortlichkeit statt des Kollegialsystems und den Grundsatz der ministeriellen Gegenzeichnung (Artikel 44). Staatskanzler sollte der vom Kaiser ernannte und nur dem Reichstag verantwortliche Reichskanzler, Staatsminister dagegen Abgeordnete der preußischen „Zweiten Kammer" sein (Artikel 45). Diese Lösung war keineswegs ganz glatt, denn es entsprach nicht dem strengen Begriff der parlamentarischen Verantwortlichkeit, wenn der preußische Staatskanzler nicht als solcher vom preußischen Landtag, sondern nur als Reichskanzler vom Reichstag gestürzt werden konnte. An der Verknüpfung der beiden Ämter wurde die Eigenart des preußisch-deutschen Verhältnisses wieder sichtbar, und lediglich die praktische Erwägung, daß der preußische Staatskanzler in jedem Fall der Mitarbeit seiner vor einem preußischen Parlament verantwortlichen Minister bedurfte, konnte über solche grundsätzlichen Bedenken hinweghelfen. Es war aber unbe54 Diese Darstellung trifft nicht genau zu. Hugo Preuß meinte, wie die Begründung zu Artikel 7 der Reformvorschläge zeigt, das preußische Staatsministerium instruiere gemeinsam die preußischen Stimmen im Bundesrat. In der Regel instruierte aber der preußische Außenminister, der zugleich preußischer Ministerpräsident und Kanzler im Reich war, die preußischen Stimmen im Bundesrat. Dieses Recht galt freilich nicht immer unbestritten und wurde vor allem unter Caprivi öfter durchbrochen. (Siehe dazu Goldschmidt, a. a. O., S. 69 ff. und den dritten Abschnitt über „Partikularismus 1890- 1918").
3.
Vorschläge zur Reform der Reichs V e r f a s s u n g
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dingt notwendig, wie Hugo Preuß zu dieser Konstruktion bemerkte, „daß die politische Leitung in ihrer allgemeinen Richtung für das Reich und für Preußen eine einheitliche sein muß; und daß diese Einheitlichkeit ihre Direktive nur vom Reich empfangen kann. Preußen ist eben notwendig in anderer Lage gegenüber dem Reich als die kleineren Einzelstaaten." Um politische Homogenität der Parlamente in Preußen und im Reich zu begünstigen, sollte für die preußische Zweite Kammer das Reichstagswahlrecht eingeführt, die Artikel 69-75 (das Dreiklassenwahlrecht) gestrichen und das „Herrenhaus" in eine Erste Kammer umgewandelt werden, deren Mitglieder frühere Minister, sofern sie nicht Mitglieder der Zweiten Kammer waren, Vertreter der Provinzen, Berlins, der Hochschulen, beruflichen Kammern und der Arbeiterorganisationen sein sollten. Schließlich regelte Hugo Preuß noch einige Fragen von geringerer Bedeutung für den Charakter der Reichsverfassung, die aber im Hinblick auf seinen Verfassungsentwurf im Winter 1918/19 einige Beachtung verdienen. In die Reichsverfassung sollte kein Katalog von Grundrechten aufgenommen werden - da es „nicht ratsam" (ohne weitere Begründung) sei - aber doch „einige wenige Bestimmungen von unmittelbar praktischer Bedeutung", die .Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Unabhängigkeit der Religionsgesellschaften und der Schutz der fremdsprachlichen Minderheiten (Artikel 3). Zur Gesetzgebung des Reiches sollten künftig auch allgemeine (Normativ-)Bestimmungen über das Volksschulwesen gehören (Artikel 4). Das Reich sollte ferner den Einzelstaaten Verfassungen mit einer an der Gesetzgebung entscheidend beteiligten Volksvertretung und mit dem Prinzip der Ministerverantwortlichkeit garantieren. Die einzelstaatlichen Verfassungen selbst sollten auch Bestimmungen darüber enthalten, „daß die Gemeinden die Wahl ihrer Vorsteher und Vertreter, sowie die selbständige Verwaltung ihrer Gemeindeangelegenheiten mit Einschluß der Ortspolizei haben unter gesetzlicher Oberaufsicht des Staates". Selbständige Gutsbezirke sollten aufgehoben werden (Artikel 74 und 75). An diesen Einzelheiten erkannte man den Verfasser wieder als eifrigen Anhänger der Gemeindefreiheit und der kommunalen Selbstverwaltung. Die einzelstaatlichen Behörden sollten zur Folgeleistung gegenüber den Reichszentralbehörden innerhalb der Zuständigkeit des Reiches verpflichtet sein (Artikel 4), damit die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit ihren Zweck erfüllen könne. Schließlich sollte ein Element der englischen Verfassung, das Recht des Parlamentes zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen („Enquete-Kommissionen") in die Reichsverfassung übernommen werden (Artikel 27a). Große Teile der Bismarck'sehen Reichs Verfassung hatte Preuß unangetastet gelassen. Aber die Eingriffe an den wichtigsten Gelenken der gesamten Konstruktion hätten, wenn sie ausgeführt worden wären, den Charakter der alten Verfassung entscheidend geändert. Vor allem wäre der Reichstag an Stelle des Bundesrates das Mittelstück des Verfassungsbaues geworden. Der Bundesrat wäre nicht nur auf gesetzgeberische Befugnisse beschränkt, sondern sein bisheriger Charakter als Gesandtenkongreß der „verbündeten Regierungen" durch die Unabhängigkeit von
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Instruktionen der einzelstaatlichen Regierungen grundsätzlich in den einer ersten Kammer des Parlaments, ein wenig nach dem Vorbild des amerikanischen Senats, umgewandelt worden. Auch sollte die Präambel von 1871 ersatzlos gestrichen werden, um künftige Spekulationen über den „vertraglichen" Charakter des Reiches und die Möglichkeit der Wiederauflösung zu verhindern. In allen diesen Veränderungen am Bundesrat, ganz besonders aber an der Beschränkung seiner Gesetzgebungsbefugnis auf das suspensive Vetorecht (wie im britischen Oberhaus nach der Reform von 1911) fällt die unitarische Tendenz in Preuß' Vorstellungen des deutschen Bundesstaates auf. Nach einer solchen Umwandlung des Bundesrats hätte das lang geforderte parlamentarische System eingeführt werden können: die Verantwortlichkeit der Reichsregierung ausschließlich gegenüber dem Reichstag. Schwierig blieb nach wie vor die preußische Frage. Die Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen hätte die Verkettung der beiden Regierungen erträglicher gemacht. Hugo Preuß folgte mit diesem Vorschlag dem Weg der „Mediatisierung" Preußens, wie sie auch Gerhard Anschütz gefordert hatte. Preuß' Vorschläge zur Verfassungsreform blieben nur Vorschläge. Nach dem Sommer 1917 fuhr er fort, in Artikeln für das „Berliner Tageblatt" und die „Frankfurter Zeitung" auf eine rasche Parlamentarisierung und die Wahlrechtsreform zu drängen, damit beides noch als echte Zugeständnisse hätte gelten und damit inen- und außenpolitisch noch etwas wert sein könnten. Allerdings ist in hohem Grade zweifelhaft, ob die allgemeine Erbitterung der Gegner Deutschlands nicht schon so angestiegen war, daß innere Reformen die internationale Vertrauenswürdigkeit des Reiches wesentlich hätte verbessern können. War es nicht doch, wie die Geschichte von Präsident Wilsons 14 Punkten noch zeigen sollte, für einen „Verständigungsfrieden" sehr spät, zu spät geworden? Jedenfalls erkannten die Anhänger des alten Systems noch immer nicht, daß dies die letzte Chance für Reform ohne Revolution war. „Leider wird in einiger Zeit sehr deutlich zu verstehen sein", schrieb Hugo Preuß im Dezember 1917 an seinen Sohn im Felde zu einem Artikel über die Wahlrechtsvorlage, „was ich meinte; aber dann ist's wieder zu spät und der Nutzen, der für die Stimmung drinnen und draußen aus solcher Vorlage zu holen war, wieder verpufft." Mit etwas verzweifelter Selbstironie fügte der Berliner in ihm hinzu: „Ich kann's nicht ändern; und der Kassandra-Beruf ist ärger als Hundeflöhe ..." Die militärische Niederlage und der folgende Zusammenbruch der Monarchie waren die allerungünstigsten und bedenklichsten Begleitumstände für die Erfüllung des einen großen politischen Zieles, dem Hugo Preuß ein Menschenalter nachgestrebt war, der Umwandlung des Obrigkeitsstaates in den deutschen Volksstaat. Die Oberste Heeresleitung, die Krone selbst und die institutionell begünstigten Konservativen hatten mit ihrem Widerstand gegen alle Vernunft das „Vabanquespiel", das Hugo Preuß so gefürchtet hatte, für das ganze Volk verloren. Die Chancen für eine freiwillige innere Reform waren verspielt.
VI. Verfassungspläne des Winters 1918/1919 Für zwei oder drei Wochen in jenen Herbsttagen des Jahres 1918 hatte es so ausgesehen, als könnten Parlamentarismus und Monarchie endlich doch noch die von den Liberalen seit 1848 erträumte Verbindung eingehen. Es ist müßig, den politischen Schaden zu betrachten, den der letzte Monarch noch mit seiner verspäteten Abdankung dem Institut der Monarchie selbst und einer ruhigen inneren Entwicklung Deutschlands im Schutz einer kontinuierlichen Tradition für das kommende Jahrzehnt zugefügt hat. Zur Niederlage der Armee mußte auch noch der Zusammenbruch der Monarchie kommen. Einige bange Tage und Wochen lang drohte zugleich die ganze staatliche Ordnung im Brodeln der Revolution zu versinken. Würde Deutschland jetzt den Weg der Russischen Revolution gehen? Würde es dem radikalen Flügel der Arbeiterschaft gelingen, die „Diktatur des Proletariats" aufzurichten? In diesen kritischen Augenblicken des Übergangs, in denen sich alles entscheiden mußte, meldete sich Hugo Preuß zu Wort. Der „Volksstaat" durfte nicht jetzt, unmittelbar vor seiner Verwirklichung, in die Diktatur einer Klasse umschlagen. Am 14. November, fünf Tage nach dem Beginn der Revolution, veröffentlichte er im Berliner Tageblatt einen Aufsehen erregenden Artikel mit der programmatischen Überschrift „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?". „Im alten Obrigkeitsstaat", schrieb er,,piatte der Bürger sehr wenig, im gegenwärtigen hat er absolut gar nichts zu sagen. Mehr als je vorher ist im Augenblick das Volk in seiner Gesamtheit lediglich Objekt einer Regierung ..." Von den neuen Machthabern forderte Hugo Preuß eine „auf der Gleichberechtigung aller Volksgenossen ruhende politisch-demokratische Organisation". Das Bürgertum rief er zur Mitarbeit an der „Bildung eines neuen Staates auf dem Boden der vollzogenen Tatsachen" und die sozialdemokratischen Arbeiter zur Entscheidung für die Nationalversammlung, die Demokratie, den deutschen Volksstaat auf. „Gewiß muß eine moderne Demokratie vom Geiste eines kräftigen sozialen Fortschritts erfüllt sein; aber ihre politische Grundlage kann niemals der soziale Klassenkampf... bilden, sondern nur die Einheit und Gleichheit aller Volksgenossen".
1. Berufung in die Regierung Am folgenden Tage bot der Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten, Friedrich Ebert, Hugo Preuß, der zu den Gründern der neuen Demokratischen Partei gehörte, das Amt des Staatssekretärs im Reichsamt des Innern, also das Amt eines
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VI.Verfassungspläne des Winters 1918/1919
Innenministers in der provisorischen Reichsregierung, an1. Hugo Preuß galt damals als der am weitesten links gerichtete deutsche Staatsrechtslehrer 2. Ebert mochte daran gedacht haben, mit der Wahl Preuß' eine Brücke zum Bürgertum zu schlagen. Daß er aber einem Bürgerlichen gerade das wichtigste, das eigentlich politische Ministerium anvertraute, war ein persönlicher Vertrauensbeweis für Hugo Preuß3 und ein stillschweigendes Votum Eberts für die Demokratie. Hugo Preuß hatte nämlich seine Mitarbeit an drei Bedingungen geknüpft: die Aufnahme von noch mehr bürgerlichen Politikern ins Kabinett, die rasche Einberufung einer deutschen Nationalversammlung und die fachliche Qualifikation der Ressortminister 4. Die Nationalversammlung blieb dabei die wichtigste Voraussetzung. In den folgenden Wochen, in denen zwischen den Unabhängigen und den Mehrheitssozialisten zäh um den Wahltermin und damit die deutsche Demokratie überhaupt gerungen wurde, ließ Preuß keinen Zweifel daran, daß die Sozialdemokratie, wenn sie eine Diktatur errichten wollte, wozu sie die Macht habe, dies ganz offen tun müsse, ohne Tarnung durch die Mitarbeit demokratischer bürgerlicher Politiker. Preuß drohte zu demissionieren, wenn nicht der früheste Wahltermin, den er für möglich hielt, der 19. Januar 1919, angenommen würde 5. Daß sich die sozialdemokratische Arbeiterschaft schließlich mit überwältigender Mehrheit für die Nationalversammlung, für den demokratischen Rechtsstaat und gegen die Diktatur ihrer eigenen „Klasse" entschied, hat ihr Hugo Preuß als historisches Verdienst angerechnet6. 1 Ebert wurde am 15. November 1918 vom Rat der Volksbeauftragten ermächtigt, „mit Preuß wegen Übernahme des Staatssekretariats des Innern zu verhandeln. Max Weber kommt auch in Betracht." Ebert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Band 2, (1926), S. 102. Max Weber war in den letzten Wochen des Kaiserreichs stark an die Öffentlichkeit getreten. Süddeutsche Sozialdemokraten hatten im September 1918 daran gedacht, ihn an Stelle des zu mild erscheinenden Prinzen Max zum Reichskanzler zu machen. Weber hatte vergeblich auf eine rasche Abdankung des Kaisers gedrängt. Er bekannte, zahlreichen ökonomisch geschulten Mitgliedern der Sozialdemokratie bis zur UnUnterscheidbarkeit nahe zu stehen (Weber, Ges. Pol. Schriften, S. 377). Was Ebert bewog, Preuß den Vorzug zu geben, läßt sich nicht genügend sicher bestimmen. 2
Walter Jellinek, in Anschütz-Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts 1 (1930), S. 127. 3 In einer Rede vor der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte am 25. November 1918 sagte Ebert: „Das Reichsamt des Innern haben wir neu besetzt mit einem Manne, der als einer der hervorragendsten Staatsrechtslehrer anerkannt wird, der durch die Kriegspolitik nicht belastet ist, mit einem Manne, von dem wir hoffen, daß er mit uns unser neues Staatswesen aufbauen kann." Ebert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Band 2, S. 118. 4 Nach einer mündlichen Mitteilung von Dr. E. G. Preuß. Eine Folge dieser über drei Tage sich hinziehenden Verhandlungen, teilweise in Preuß' Wohnung, teilweise in Eberts Bureau, war der Eintritt Eugen Schiffers und des Grafen von Brockdorff-Rantzau in die Reichsregierung. Wie Hugo Preuß stets gewünscht hatte, daß Politiker, nicht Beamte die Regierung führen sollten, so wünschte er doch nicht, daß der fachlich nicht qualifizierte, bloße Parteifunktionär an der Spitze der Ministerien erscheine. 5 Ernst Feder, Hugo Preuß, S. 21 f. 6 Vgl. u. a. Preuß' Rede zu Beginn der dritten Lesung des Verfassungsentwurfes in der Nationalversammlung, Sten. Ber. 69. Sitzung, 29. Juli 1919, S. 2071. Die Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. bis zum 20. Dezember 1918 in Berlin beschloß am
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Die Demokratie war das eine, was Preuß zu sichern suchte. Das andere war die Erhaltung der staatlichen Einheit des Reiches. Das geht aus fast allen seinen Schriften zur Verfassung 7 hervor. Er fürchtete sehr, daß mit der Beseitigung der Dynastien und des Bismarck'sehen „Fürstenbundes" das Reich zerfallen könnte, zumal unter dem akuten Druck der auswärtigen Lage, die Separatismus ermunterte. Ein Reich, das mit militärischen Mitteln und auf der Höhe eines Sieges über einen Nachbarn gegründet worden war, mußte nach dem Verlust dieser militärischen Mittel und dem Eindruck einer vollständigen Niederlage als höchst gefährdet erscheinen, selbst wenn man annehmen durfte, daß das innere Zusammenwachsen inzwischen fortgeschritten sei. Die Einberufung einer Nationalversammlung bedeutete nicht nur die Entscheidung für die Demokratie, sondern auch die Einheit des Reiches und die politische Zukunft des deutschen Volkes überhaupt. Je später die Nationalversammlung zusammentrat, desto mehr war zu befürchten, daß eine selbständige staatliche Neu-Organisation der Länder an Stelle der erledigten Dynastien die Reichseinheit gefährde. In dem entschlossenen Beitrag zur Sicherung sowohl der Demokratie im Wogen der Revolution und zur Erhaltung der Reichseinheit unter den Trümmern der Monarchie lagen deshalb Hugo Preuß' erste politische Verdienste beschlossen - zunächst unabhängig davon, was er dann weiter mit seinem Verfassungsentwurf dazu beitragen sollte.
2. Die Konferenz der Sachverständigen Unmittelbar nach den Vorbereitungen für die Wahlen zur Nationalversammlung, vor allem den Arbeiten am Reichs-Wahlgesetz, schlug Hugo Preuß am 3. Dezember Ebert vor, „einen kleinen Beirat mit den Vorarbeiten für den Entwurf einer deutschen Verfassung zu betrauen" 8. Dieser Beirat wurde zu vertraulichen Besprechungen über die Grundzüge der Verfassung in das Reichsamt des Innern nach Berlin eingeladen und beriet vom 9. bis zum 12. Dezember9. Teilnehmer waren Preuß' engste Mitarbeiter im Reichsamt, Unterstaatssekretär Dr. Lewald, Oberregierungsrat Dr. Alfred Schulze, Regierungsrat Dr. von Zahn und die sozialdemoEnde heftiger Debatten mit 400 gegen 50 Stimmen, die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 stattfinden zu lassen. 7 Vgl. u. a. Preuß' Denkschrift zum ersten Verfassungsentwurf. Staat, Recht und Freiheit, S. 370. s Ebert, a. a. O., S. 110 f. 9 Die folgende Darstellung beruht hauptsächlich auf der „Aufzeichnung über die Verhandlungen im Reichsamt des Innern über die Grundzüge des der verfassunggebenden Nationalversammlung vorzulegenden Verfassungsentwurfs vom 9. bis 12. Dezember 1918" bei den Akten des Reichsamtes des Innern; Band 16807 („Die Verfassung des Deutschen Reiches, Dezember-Januar 1918/19") im ehemaligen Reichsarchiv, jetzt Deutsches Zentralarchiv I, Potsdam-Sanssouci. Knappe Inhaltsangaben dieses noch unveröffentlichten Protokolls finden sich bei Walter Jellinek (in Anschütz-Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts 1 (1930), S. 128 f.) und Wilhelm Ziegler (Die deutsche Nationalversammlung 1919/1920 und ihr Verfassungswerk, 1932, S. 92 f.).
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VVerfassungspläne des Winters 1918/1919
kratischen Beigeordneten Dr. Quark und Dr. Herzfeld, ferner Staatssekretär Dr. von Krause vom Reichsjustizamt, Ministerialdirektor Dr. Walter Simons10 und Legationsrat Dr. Riezler vom Auswärtigen Amt, ferner der liberale Hamburger Senator Dr. Carl Petersen, Professor Max Weber, der deutsch-österreichische Gesandte in Berlin, Professor Ludo Moritz Hartmann, und sein Legationssekretär, der spätere Professor für Völkerrecht an der Universität Wien, Dr. Alfred Verdross 11. Diesem Kreis lag keinerlei Entwurf oder Skizze der künftigen Verfassung vor. Er sollte, wie Hugo Preuß zu Beginn sagte, lediglich Material für die spätere Ausarbeitung der Verfassung liefern. Hier sollten nur die Leitgedanken, nicht die Details der Verfassungsbestimmungen erörtert werden. So berieten die Teilnehmer zunächst über einige grundsätzliche Fragen des Charakters der Verfassung und dann abschnittsweise über die Kompetenzverteilung zwischen Reich und Einzelstaaten, die Grundrechte, die Vertretung der Einzelstaaten, die künftige Stellung Preußens im Reich, die Volksvertretung, das Reichsoberhaupt und die Regierung. Am Ende der Tagung war die Verfassung in wesentlichen Umrissen bereits zu erkennen. Hugo Preuß arbeitete die Ergebnisse der Beratungen weitgehend in seinem Entwurf ein. Dies war um so leichter, als in dieser Runde in vielen Fragen Übereinstimmung geherrscht hatte. Eine wesentliche Frage der Verfassung, ob das Reich Monarchie oder Republik sein solle, war schon durch die neuen Verhältnisse entschieden. Die andere Hauptfrage - dezentralisierter Einheitsstaat oder Bundesstaat - war offen. Hugo Preuß wünschte den Einheitsstaat, aber dann sei „eine starke Dezentralisierung notwendig". An diese Frage knüpfte er sogleich eine zweite, die Stellung Preußens im Reich. Im Vergleich dazu erschien ihm die Regelung der Zuständigkeiten von Reich und Einzelstaaten weniger bedeutend. Max Weber meinte, die Tatsachen erforderten einen weitgehenden Föderalismus - obwohl er selbst ein Anhänger des Unitarismus sei. Aber der künftige Föderalismus solle dem von 1849, nicht dem von 1867 ähnlich sein. In einem sehr knappen Satz faßte er seine Auffassung zusammen: „Es muß soviel Unitarismus als möglich in eine föderalistische Verfassung." Ganz ähnlich empfahl auch Senator Petersen ein föderalistisches System mit stark unitarischem Einschlag. Preuß' Auffassung entsprach einer Umkehrung dieser Formeln. Die beiden Sozialisten in der Runde bekannten sich als Anhänger des Einheitsstaates - offenbar auch einer starken Zentralisation, die Hugo Preuß gerade nicht wollte. Er wünschte eine gemäßigt unitarische Lösung. Sein eigener Unterstaatssekretär, Lewald, hielt Föderalismus schlechthin für das Gegebene. 10 Dr. Walter Simons, der spätere Reichsgerichtspräsident, ist auch der Herausgeber einer kleinen Schrift mit einer Auswahl aus Preuß' Werken („Hugo Preuß", in der Reihe „Meister des Rechts", Nr. 6, 1930). 11 Eingeladen waren ferner Professor Gerhard Anschütz, der Berliner Oberverwaltungsgerichtsrat Lindenau, der ehemalige Vizekanzler Friedrich von Payer, Staatsminister a. D. Clemens von Delbrück und Staatsminister a. D. Bill Arnold Drews. Delbrück hatte sich als Anhänger der Monarchie versagt, Anschütz hatte wegen schlechter Verkehrsverbindungen abgesagt und Drews konnte wegen Krankheit nicht kommen.
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Petersen und Max Weber mochten Preuß' Wunschvorstellungen teilen, schätzten aber die zu erwartenden Widerstände gegen einen deutschen Einheitsstaat von drinnen und draußen als schwer überwindbar ein, was sich später auch zeigen sollte. Die Beratungen wandten sich dann bald den Kompetenzfragen zu. Übereinstimmend glaubten die Teilnehmer, daß die Zollgesetzgebung beim Reich bleiben müsse, künftig aber auch die Zollverwaltung dem Reich übergehen werden müsse; ebenso solle das Reich die Steuerverwaltung übernehmen. Die indirekten Steuern sollten zwar durch das Reich einheitlich geregelt, doch solle den Einzelstaaten und den Kommunen getattet werden, Zuschläge zu einzelnen Steuern erheben. Der bisherige Grundsatz, daß indirekte Steuern ausschließlich Reichssteuern seien, war damit aufgegeben. Man war sich auch einig, daß das Reich die ausschließliche Gesetzgebung für Handel, Banken und Börsen, Bergbau, Gewerbe und das Versicherungswesen haben sollte. In Sachen der „Landeskultur" hingegen sollten die Einzelstaaten autonom bleiben unter der Voraussetzung, daß dem Reich, den Einzelstaaten selbst und den Kommunen ein großzügiges Enteignungsrecht eingeräumt und die Frage der Fideikommisse durch die Reichsverfassung geregelt werde. Zurückhaltender behandelten die Sachverständigen die Verkehrsfragen. Einmütig wünschten sie eine Reichseisenbahn anstelle der bisherigen Staatsbahnen, ebenso die Reichsverwaltung der großen Wasserstraßen und der wichtigen Straßen für den Automobilverkehr sowie die Zuständigkeit des Reichs für das gesamte Luftverkehrswesen. Bayern und Württemberg sollten zum Verzicht auf ihre Postreservate bewogen werden; das Reich sollte sich dabei jedoch verpflichten, bei der Ernennung der Post- und Telegraphenbeamten möglichst die in den betreffenden Gebieten ansässigen Bewerber zu bevorzugen. Das Gesandtschaftsrecht der Einzelstaaten solle beseitigt werden. Über eine einheitliche Wehrverfassung, die Wehrpflicht oder das Milizsystem, solle die Verfassung mit Rücksicht auf die Friedensverhandlungen noch keine Bestimmungen enthalten, sondern lediglich auf ein später zu erlassendes Reichsgesetz verweisen. Weniger einig waren sich die Konferenzteilnehmer in Fragen der inneren Verwaltung. Zwar wurden in der Diskussion öfter Klagen über einzelstaatliche Eingriffe in die Gemeindefreiheit laut. Überwiegende Meinung war dennoch, daß die Behörden der inneren Verwaltung Landesbehörden bleiben sollten. Preuß war der Ansicht, daß die Reichsverfassung einige Normativbestimmungen über die innere Verwaltung der Einzelstaaten enthalten solle. Obwohl der einzelstaatlichen Autonomie Spielraum gegeben werden solle, verlange das Reichsinteresse nach einigen solcher Normativbestimmungen. In der Forderung nach einer verfassungsmäßigen Sicherung der Gemeindefreiheit wurde Preuß von der überwiegenden Mehrheit, namentlich von Max Weber, Dr. Simons und Staatssekretär von Krause, dem Minister für das Justizwesen des Reiches, unterstützt. Das Reich sollte auch befugt sein, unter Teilnahme der Einzelstaaten und der Gemeinden Normativbestimmungen über das Schulwesen aufzustellen. Bei allgemeinem Schulzwang müsse der Elementarunterricht einheitlich und unentgeltlich erteilt werden. Die Frage der
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Konfessionalität der Volksschule solle nicht in der Reichsverfassung entschieden werden. Beabsichtigte Hugo Preuß die Einzelstaaten einerseits durch Normativbestimmungen in ihrer Bewegungsfreiheit gegenüber den Gemeinden zu beschränken, so suchte er andererseits die Landesbeamten bei der Ausführung der Reichsgesetze der unmittelbaren Dienstaufsicht und Disziplinargewalt des Reiches, nicht bloß einer mittelbaren Oberaufsicht, zu unterstellen. Dr. Simons unterstützte ihn in dieser Absicht, die anderen Teilnehmer verhielten sich zurückhaltender. Auf dem Gebiet der Rechtspflege hingegen sollte nichts wesentliches geändert werden. Zögernd warf Hugo Preuß die Frage der Grundrechte auf. Er erinnerte daran, daß das Werk der Paulskirche teilweise wegen der endlosen Beratungen über die Grundrechte gescheitert sei 12 . Darin liege eine Warnung. Dennoch, meinte er unter allgemeiner Zustimmung, „werde die Aufnahme einzelner grundrechtlicher Bestimmungen kaum zu vermeiden sein." Er empfahl namentlich eine Bestimmung zum Schutz der fremdsprachlichen Volksteile im Gebrauch ihrer Muttersprache in Unterricht, innerer Verwaltung und Rechtspflege. Die preußische Frage hatte Max Weber schon zu Beginn der Konferenz gestreift. Nun kehrte man im Zusammenhang mit Plänen für die Aufnahme Deutsch-Österreichs in das Reich, die alle Teilnehmer so einhellig wünschten, daß darüber kaum gesprochen wurde 13 , zu dieser Frage wieder zurück. Allen erschien eine territoriale Umbildung Deutschlands, namentlich der Zusammenschluß der thüringischen Kleinstaaten und eine Aufgliederung Preußens als eine selbstverständliche Notwendigkeit. Verschieden waren die Auffassungen lediglich über die Rolle des 12
Bei den Verfassungsakten des Reichsamtes des Innern (a. a. O., Bd. 16807) findet sich übrigens eine Denkschrift eines der engeren Mitarbeiter Preuß', Dr. von Zahn, über die Verfassungsverhandlungen der Paulskirche. Der Verfasser der Denkschrift suchte aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung von 1849 Lehren für die Arbeiten an der neuen Verfassung zu ziehen. Die Hauptfehler der Paulskirche sah er darin, daß der Entwurf zu unitarisch gewesen sei, damit den Widerstand der Einzelstaaten herausgefordert, und daß die Beratung der Grundrechte viel kostbare Zeit beansprucht habe; die Verfassung sei deshalb erst fertiggestellt worden, als die wankenden Throne sich schon wieder gefestigt hatten. Es läßt sich nicht feststellen, ob diese Denkschrift vor oder erst nach der Konferenz der Sachverständigen angefertigt wurde. 13 In den ersten Monaten nach Beendigung des Krieges hatte es geschienen, als ob die alten großdeutschen Pläne von 1848 nach dem Zerbrechen der Donaumonarchie über Nacht gereift seien. Hugo Preuß erstrebte energisch den Anschluß der österreichischen Deutschen (vgl. dazu auch seinen Artikel vom 17. November 1923 in der Vossischen Zeitung). Die Einladung an Ludo Moritz Hartmann, einen Großdeutschen im österreichischen Sinne, der auch die nichtdeutschen Teile Österreichs mit dem Reich vereinigen wollte, zu dieser wie auch späteren Verfassungsberatungen entsprach dieser Absicht. Diese neue großdeutsche Grundströmung in der Öffentlichkeit hatte auch Max Weber und Friedrich Meinecke erfaßt und wurde dadurch besonders ermutigt, daß die vorläufige Nationalversammlung in Wien am 12. November 1918 die Republik Deutschösterreich zu einem Teil der deutschen Republik erklärt hatte. Hugo Preuß hatte schon während des Krieges gewünscht, daß die praktische Zusammenarbeit mit Österreich gesichert und fortentwickelt und daß der für rechtskräftig beendet gehaltende Prozeß zwischen Kleindeutsch und Großdeutsch nun in die Revision gehe (Preuß, Obrigkeitsstaat und großdeutscher Gedanke, 1916, S. 52).
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Reiches dabei. Alfred Schulze, Preuß' engster Mitarbeiter, empfahl, mittelbaren Druck auf die Einzelstaaten auszuüben durch eine entsprechende Regelung der Individualvertretung der Einzelstaaten beim Reich. Die ganz kleinen Staaten sollten überhaupt nicht vertreten sein und dadurch zum Zusammenschluß bewogen werden. Kein einzelner Staat sollte aber mehr als ein Fünftel der Gesamtstimmenzahl führen dürfen. Die preußischen Landesteile sollten dadurch zur Auflösung des preußischen Gebietes ermuntert werden. Hugo Preuß fand diesen Vorschlag für annehmbar und schlug zur Verdeutlichung vor, „daß eine Übersicht der Einteilung Deutschlands in die Verfassung aufgenommen werde, worin die für nötig befundenen Vereinigungen (zum Beispiel Thüringen) mit ihren Stimmen aufzuführen wären. Die süddeutschen Staaten würden unverändert bleiben, von Preußen würden dagegen die Provinzen aufgenommen werden. Daneben sei auszusprechen, daß Änderungen durch die beteiligten Staaten unter Zustimmung des Reiches zulässig seien." Dies war die erste Andeutung, daß Preuß jetzt die Lösung der preußisch-deutschen Frage, anders als in seinen Vorschlägen von 1917, auf dem Wege Paul Pfizers suchte. Die übrigen Konferenzteilnehmer äußerten sich nicht dagegen und empfahlen, die Angelegenheit weiter zu prüfen. Weber wünschte zwar sehr, erwartete aber nicht die Bereitschaft Preußens, sich in seine Provinzen aufzulösen. Daß die Hegemonie Preußens beseitigt werden müsse, war einer seiner hauptsächlichsten Wünsche für die neue Verfassung 14. Niemand wollte aber jetzt mehr an ein System von Personalunionen zwischen den Regierungen Preußens und dem Reich und an die „Mediatisierung" denken. Weber hoffte anscheinend, die preußische Hegemonie schon als erledigt betrachten zu können, wenn dem Organ der Einzelstaaten in der Reichsverfassung keine führende Stellung mehr eingeräumt werde. Die Beratung darüber wurde, wie man hatte erwarten können, recht lebhaft. Grundsätzlich standen drei Möglichkeiten offen: ein Reichsrat im Sinne eines beratenden Staatsrates, dessen Mitglieder die Einzelstaaten vertreten sollten, oder eine parlamentarische Kammer („Staatenhaus") im Sinne des amerikanischen Senats oder eine Einrichtung nach der Art des bisherigen Bundesrates. Die Sozialdemokraten in der Runde waren überhaupt gegen eine Vertretung der Einzelstaaten, allenfalls für einen Reichsrat mit beratender Funktion. Sie betrachteten die Einzelstaaten als bloße Verwaltungskörperschaften. Max Weber dagegen hielt das Staatenhaus für das Mindeste, was den Einzelstaaten geboten werden müsse. Er hatte schon in seinen Artikeln in der Frankfurter Zeitung für das Staatenhaus plädiert, aber seine Vermutung durchblicken lassen, daß der Bundesrat doch wieder kommen werde 15. Hugo Preuß selbst wünschte ein Staatenhaus, dessen Mitglieder 14 Vgl. dazu Max Webers Aufsätze in der Frankfurter Zeitung, Ende November 1918 (Ges. Pol. Schriften, S. 349 und S. 355). Ausschnitte mit diesen Artikeln befinden sich bei den Verfassungsakten des Reichsamtes des Innern, a. a. O., Bd. 16816 (Beiheft „Presseäußerungen"). 15 Max Weber, Ges. Pol. Schriften, S. 359. In einem Brief an Hugo Preuß vom 25. Dezember 1918 (bei den Verfassungsakten des Reichsamtes des Innern, a. a. O., Bd. 16807) legte
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von den Landtagen der Einzelstaaten, nicht den Regierungen bestellt würden. Die Reichsverwaltung stehe dann grundsätzlich der Reichsregierung allein zu, was jedoch nicht ausschließnen solle, einzelne Verwaltungsbefugnisse dem Staatenhaus zur Mitberatung zu überweisen. Darin glich dieser Vorschlag Preuß' Reformvorschlägen für den Bundesrat von 1917. Im Vergleich zu dem Unitarismus der beiden Sozialdemokraten und dem zu erwartenden Widerspruch des Partikularismus konnte das Staatenhaus als ein Kompromiß erscheinen, das Max Weber und Senator Petersen als die beste Lösung ansahen, Hugo Preuß auch für erreichbar hielt. Doch die Mehrheit der Teilnahmer wollte sich nicht für das Staatenhaus entscheiden. Einig war man sich über den Charakter des „Volkshauses". Es sollte, wie Hugo Preuß sagte, auf Grund des allgemeinen, geheimen und gleichen Verhältniswahlrechts für Männer und Frauen gebildet werden und gegenüber dem Staatenhaus grundsätzlich die politische Führung übernehmen. Das Vorbild sei wiederum England; wer ein Anhänger des Parlamentarismus sei, müsse sich für ein Übergewicht des Volkshauses entscheiden. Max Weber wünschte ausdrücklich ein EnqueteRecht des Parlaments, und dies selbst für eine parlamentarische Minderheit, um Volksvertretung und Regierung vor Korruption zu sichern 16. Hugo Preuß pflichtete ihm mit einem Hinweis auf eine entsprechende Bestimmung seiner Vorschläge von 1917 bei und verlangte außerdem, daß die Wahlprüfung nicht länger dem Parlament, sondern einem unparteiischen Gericht übertragen werde, eine Forderung, der die Mehrheit der Sachverständigen zustimmte. Ihren Höhepunkt erreichte die Konferenz in der Aussprache über das Reichsoberhaupt, die wieder hauptsächlich von den Professoren bestritten wurde. Das Mißtrauen der Sozialisten wollte wegen der „monarchischen" Natur des Präsidenten zuerst nur eine kollegiale Reichsspitze erlauben. Die meisten anderen sprachen sich für einen Präsidenten aus. Weber und Preuß befürworteten seine direkte Wahl durch das Volk, um ihn dem Parlament ebenbürtig zu machen. Preuß, deutlich unter dem Einfluß von Robert Redslob17, lehnte eine Wahl durch das Parlament als Max Weber dies noch einmal dar. Rücksprachen mit maßgeblichen Süddeutschen habe er entnommen, daß der Bundesrat - so oder so - wiederkomme. „Sie sollten sich zu belehren versuchen", schrieb er Preuß, „nie werden die Einzelstaaten und Regierungen sich aus der mitbeschließenden Stellung auch in der Verwaltung herausdrängen lassen ...". 16 Das war ein Lieblingsgedanke Max Webers. Für das Enquete-Recht der Minderheit nach englischem Vorbild war er schon 1917 eingetreten. (Ges. Pol. Schriften, S. 177). 17 Robert Redslob hat mit seinem Buch aus dem Jahre 1918 über „Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und unechten Form" sichtbar auf Hugo Preuß und - wie Hans Beyersdorff (Die Staatstheorien in der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung, Kiel, jur. Diss. 1928, S. 109) gezeigt hat - den Verfassungsausschuß der Nationalversammlung gewirkt. Das Kennzeichen des echten Parlamentarismus (in England, S. 49 ff. oder Belgien, S. 81 ff.) sah Redslob im Gleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative, im Unterschied zum „unechten" Parlamentarismus Frankreichs. Im Falle eines Konflikts sei keine der beiden Gewalten stark genug, sich gegen die andere durchzusetzen. Die Entscheidung liege dann bei der Wählerschaft, die durch Parlamentsauflösung und Neuwahlen zum
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„unechten" Parlamentarismus ab. Das Volk müsse sich zwei Organe schaffen, das Volkshaus und den Präsidenten. Sie sollten aber nicht getrennt bleiben wie in Amerika, sondern durch die parlamentarische Regierung mit einander verbunden werden. Max Weber wollte den Präsidenten „stark" machen, damit er den Auswüchsen der Parteiherrschaft 18 , vor allem der Ämterpatronage, steuern und bei der Sozialisierung nachhelfen könne, wie dies gelegentlich wohl nötig werden wurde. Webers Mißtrauen gegen die Parlamentarier erschien hier in eigentümlichem Kontrast zu seinem Eifer für die Parlamentarisierung während des Krieges. Aber schon damals hatte er den Parlamentarismus ja nicht von einer Doktrin aus, sondern vor allem als praktisches Instrument politischer Führerauslese verlangt. Max Weber wollte gerade der einzelnen politischen Persönlichkeit den Weg in die Führung öffnen. Hugo Preuß war ebenfalls, aber nicht in gleicher Weise ein Gegner der Alleinherrschaft des Parlaments. Er war für die Unabhängigkeit des Präsidenten vom Parlament, aber zugleich auch gegen „eine große Machtfülle des Präsidenten." Der Reichspräsident sollte einem Monarchen in der parlamentarischen Demokratie ähnlich sein. Preuß dachte nicht an den amerikanischen Präsidenten wie Weber, sondern an ein Pendant zum englischen König. Das Recht des Staatsoberhauptes, in einem anders nicht zu lösenden Konfliktfalle das Parlament auflösen und Neuwahlen ausschreiben zu können, setzte voraus, daß der Präsident nicht das Geschöpf des Parlaments war. Darin stimmte die Mehrheit der Konferenz-Teilnehmer Preuß z u 1 9 . Schiedsrichter angerufen werde. Die Auflösung und den Appell an die Wähler zur Beendigung der Krise hielt Redslob für den „Angelpunkt parlamentarischer Verantwortlichkeit" (S. 3). Wolle der Regierungschef diese Waffe gebrauchen, fordere er vom Monarchen die Auflösung. Das Parlament erreiche denselben Zweck indirekt durch Budget Verweigerung oder Androhung eines Mißtrauensvotums, dem der Staatschef durch Auflösung zuvorkomme. Um den Gleichgewichtsmechanismus in Bewegung setzen zu können, müsse er vom Parlament unabhängig, d. h. dürfe er kein Geschöpf des Parlaments sein. Das englische Staatsoberhaupt sei durch Geburt so unabhängig. In Frankreich dagegen seien Regierung und Präsident vom Parlament abhängig. Deshalb komme es praktisch nie zur Auflösung. Außer zu Beginn der neuen Wahlperiode könne das Volk deshalb nie als Schiedsrichter eingreifen. is Siehe auch Max Weber, Ges. Pol. Schriften, S. 362. 19 Willibalt Apelt (Geschichte der Weimarer Verfassung 1946, S. 57) scheint zu meinen, Max Weber habe Hugo Preuß erst während der Konferenz von der Notwendigkeit eines starken Präsidenten durch Volkswahl überzeugt. Hugo Preuß habe ursprünglich den Präsidenten aus Wahlen des Parlaments hervorgehen lassen wollen. Diese Auffassung wird durch das Protokoll nicht bestätigt. Es ist vielmehr offenbar, daß Preuß in Republiken sich das Staatsoberhaupt als Analogie zur englischen Krone dachte, spätestens seit der Lektüre des Buches von Robert Redslob. Es mag aber sein, daß Hugo Preuß sich in seinem Wunsch nach einem plebiszitären Präsidenten mit möglichst langer Amtszeit, wiederum eine Anlehnung an das Vorbild der Monarchie, durch Webers Artikel in der Frankfurter Zeitung acht Tage vor dem Beginn der Dezember-Konferenz bestärkt fühlte. Etwas anderes war die Frage, in welchem Umfang der plebiszitäre Präsident mit welchen selbständigen Amtsbefugnissen ausgestattet werden sollte. Max Weber wollte da viel weiter gehen. Preuß wollte die Befugnisse des Präsidenten in engen Grenzen halten, als Anhänger des britischen parlamentarischen Systems, und akut auch in der Wahrnehmung der deutlichen Sorge der Sozialdemokraten vor einem neuen „persönlichen Regiment".
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Sie folgte ihm aber nicht bei dem Vorschlag, daß für die Volkswahl des Präsidenten die relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen genügen sollte. Die meisten hielten eine absolute Mehrheit für erforderlich. Man einigte sich auf eine Amtsdauer von zehn Jahren. Auf Anregung Max Webers sollte der Präsident neben der Befugnis zur Parlamentsauflösung auch mit der Initiative zum Referendum ausgestattet werden. Hugo Preuß hatte zwar ursprünglich Bedenken gegen das Referendum, das, so meinte er, nach den Schweizer Erfahrungen mindestens in sozialer Hinsicht eher reaktionär als fortschrittlich wirke. Während der weiteren Diskussion fügte er sich aber anscheinend der Mehrheit. Sein Vorschlag, für Verfassungsänderungen ein erschwertes Verfahren vorzuschreiben, fand allgemeine Zustimmung. Hier schien er sogar ein Referendum zu erwägen. Max Weber wünschte, daß der Reichspräsident durch Volksinitiative - etwa ein Zehntel der Wähler sollten genügen - und Referendum ohne Angabe von Gründen abgesetzt werden könne. Dr. Schulze erhob Bedenken gegen die Volksinitiative und schlug statt dessen vor, die Initiative zur Absetzung des Präsidenten von übereinstimmenden Zwei-Drittel-Mehrheiten in beiden Häusern des Reichstags abhängig zu machen. Rasch war man sich schließlich über die Reichsregierung (das „Reichsministerium") und den Grundsatz der Ministerverantwortlichkeit einig. Preuß schlug vor, daß der Reichspräsident den Ministerpräsidenten und auf dessen Vorschlag die Reichsminister ernenne. Der Ministerpräsident solle den Titel „Reichskanzler" führen und die Stellung des englischen Premierministers erhalten. Die Minister sollten politisch dem Volkshaus, juristisch aber ebenso wie der Reichspräsident auf Anklage der beiden Häuser des Parlaments einem Staatsgerichtshof verantwortlich sein. Max Weber war mit dem Ergebnis sehr zufrieden 20, und Hugo Preuß war es wohl auch. Er hatte seine Auffassungen zur Diskussion gestellt, einige Anregungen empfangen und in den meisten der wichtigen Fragen die Zustimmung der anderen Teilnehmer erhalten. Infolgedessen entsprach der Verfassungsentwurf, den Hugo Preuß und seine Mitarbeiter im Reichsamt des Innern nun auszuarbeiten begannen, in seinen wesentlichen Elementen dem Ergebnis der Dezember-Konferenz.
3. Die Gutachten Anschütz, Drews, von Payer, Meinecke Das Ergebnis der Konferenz wäre im übrigen kaum anders ausgefallen, wenn verhinderte Teilnehmer wie Anschütz, Drews und von Payer ihre Meinung hätten vortragen können. Gerhard Anschütz teilte Hugo Preuß seine Leitgedanken in 20 In einem Brief Max Webers an seine Frau während der Konferenz heißt es „ . . . gestern also Sitzung. Preuß macht seine Sache sehr gut, er ist eben doch sehr gescheit . . u n d in einem zweiten nach der Konferenz: „ . . . So, die Reichsverfassung ist - im Prinzip - fertig, sehr ähnlich meinen Vorschlägen. Aber es ging den ganzen Tag mit sehr gescheiten Leuten heiß her, es war ein Vergnügen . . . " (Marianne Weber, Max Weber, S. 651).
3. Die Gutachten Anschütz, Drews, von Payer, Meinecke
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einer Denkschrift vom 20. Dezember mit; Drews und von Payer äußerten sich Ende Dezember in umfangreicheren Briefen zu dem Protokoll der Tagung, das Preuß ihnen hatte zusenden lassen. Diese Äußerungen samt einem Aufsatz Friedrich Meineckes kamen zu spät, um die Ausarbeitung des Entwurfs der Verfassung im Reichsamt des Innern noch sehr beeinflussen zu können21. Preuß mußte sie dennoch als willkommene Unterstützung seiner eigenen Anschauungen betrachtet haben22. Gerhard Anschütz bezeichnete sich als überzeugten Unitarier, versuchte aber, wie er sagte, die Situation des Winters 1918 zu berücksichtigen. Die Einzelstaaten seien nicht hinweggefegt worden, sondern im Gegenteil recht stark. Sie würden sich wohl kaum mit einem Staatenhaus zufrieden geben; deshalb, nicht aus Vorliebe, empfahl er eine Einrichtung nach der Art des Bundesrats, durch die Bevollmächtigte der einzelstaatlichen Regierungen an der Regierung und der Verwaltung des Reiches in beschränktem Maße beteiligt würden. Der Reichstag solle dann nur aus einer Kammer bestehen, aber dafür sei die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung vor der Volksvertretung um so eindeutiger; denn der neue Bundesrat werde natürlich nicht mehr als oberste Regierungsbehörde gelten dürfen. Wer eine parlamentarische Regierung wolle, könne aber nicht einen plebiszitären Präsidenten wollen. Seine Bestellung durch den Reichstag brauche seine vermittelnde Rolle zwischen Parlament und Regierung keineswegs auszuschließen. (Anschütz ließ sich später allerdings durch Preuß vom Gegenteil überzeugen23.) Anschütz ver21
Nach einer Mitteilung von Professor Willibalt Apelt vom 11. Oktober 1954. Professor Apelt gehörte seit Dezember 1918 zu dem engeren Kreis von Preuß' Mitarbeitern in der Vefassungsabteilung des Reichsamtes des Innern. 22 Zusammen mit dem ersten Verfassungsentwurf sandte Oberregierungsrat Schulze am 3. Januar 1919 Ebert das Protokoll der Sachverständigen-Konferenz, die Bemerkungen Drews und von Payers dazu, das Gutachten Anschütz' und den Korrekturabzug eines Artikels von Friedrich Meinecke über die „Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik", den Meinecke Preuß noch vor der Veröffentlichung des Artikels geschickt hatte. Schulze legte außerdem eine Denkschrift von Professor Walther Vogel über den bundesstaatlich-territorialen Umbau des Reiches bei, auf die wir weiter unten eingehen werden. Die Äußerungen Drews' und Anschütz' befinden sich in Band 16807, die Arbeiten von Payers, Meineckes und Vogels in Band 16810 der Verfassungsakten des Reichsamtes des Innern a. a. O. Einzelne Partien der Ebert übersandten Schriftstücke hatte Hugo Preuß mit seinem Farbstift als besonders wichtig angestrichen. Die hier wiedergegebenen Auszüge beziehen sich vor allem auf diese angestrichenen Stellen. Meinecke veröffentlichte seinen Artikel im Januarheft der „Neuen Rundschau". Anschütz verfaßte einen Beitrag für die Deutsche Juristen-Zeitung, 24. Jahrg., 1. Februar 1919, Sp. 114 ff., dessen Inhalt sich weitgehend mit der Denkschrift für Preuß deckte. Walther Vogel publizierte die Gedanken seiner Denkschrift ebenfalls Anfang des Jahres 1919 in einer kleinen Broschüre mit dem Titel „Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung". 23 In der Besprechung von Preuß' Verfassungsentwurf vom 20. Januar 1919 sagte Anschütz (Deutsche Juristen-Zeitung, 24. Jahrg. 1. März 1919, Sp. 204), er habe sich von Preuß' Argumentation für den plebiszitären Präsidenten in der dem Entwurf beigefügten Denkschrift überzeugen lassen. In dem anderen, schon erwähnten Artikel (DJZ, 1. Februar 1919, Sp. 114 ff.) hatte Anschütz unter dem Eindruck von Meineckes Artikel im Januar-Heft der Neuen Rundschau 8 Gillessen
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langte in seiner Denkschrift die Übernahme der großen Monopole durch das Reich, besonders der Eisenbahn, und die ausschließliche Zuständigkeit des Reichs für die auswärtige Politik. Der preußische Innenminister Drews 24 sprach sich ebenfalls für eine unitarische Verfassung aus, freilich unter möglichster Schonung der partikularen Interessen. Statt des alten Bundesrats wünschte er eine zweite Kammer mit suspensivem Veto. Ohne Bundesrat und nach dem Wegfall der Personalunionen, glaubte er, falle die preußische Frage nicht mehr ins Gewicht. Eine Auflösung Preußens hielt er für zu gefährlich, um sie befürworten zu können. Der Apparat der Einzelstaaten solle möglichst erhalten bleiben. Deshalb empfahl der erfahrene Verwaltungsbeamte auch Vorsicht bei den Normativbestimmungen für die innere Verwaltung der Einzelstaaten. Preußen werde in Zukunft sowieso demokratisch sein. Preuß' Warnung vor einer ausführlichen Behandlung der Grundrechte Schloß er sich an. Er wünschte wie Preuß die Volkswahl des Präsidenten, verlangte aber strenge Begrenzung seiner Funktionen auf die eines Monarchen im parlamentarischen System, der nichts ohne die Zustimmung des Reichsministeriums tun dürfe außer dem Recht zum Appell an das Volk, der Initiative zum Referendum oder der Parlamentsauflösung. Keinesfalls sollte er an der Gesetzgebung mitwirken können. Statt der zehnjährigen Amtsdauer wünschte er vorsichtiger bloß eine fünfjährige. Friedrich von Payer 25 sprach aus der Erfahrung seiner Vizekanzlerschaft gegen die Beibehaltung des zu schwerfällig und zu langsam arbeitenden Bundesrats, der seit der Parlamentarisierung im Oktober 1918 überhaupt in Widerspruch zum Regierungssystem geraten sei. Das Schwergewicht müsse künftig in das Reichsministerium gelegt werden. Anstelle des Bundesrats solle das „Staatenhaus" treten, vor allem als Korrekturorgan gegenüber der Volksvertretung, damit der Präsident nicht gleich die Auflösung oder einen Volksentscheid verlangen müsse. Payer auch das Bedürfnis nach einer Neugliederung Deutschlands und der Auflösung Preußens anerkannt Anschütz hatte sich damit ebenfalls von der „Mediatisierung" ab- und den Pfizerschen Gedankengängen zugewandt. 24 Drews hatte sich in der preußischen Verwaltung vor allem als Anhänger der Selbstverwaltung einen Namen gemacht. Während des Krieges wurde er mit der Leitung der Arbeiten an der preußischen Verwaltungsreform betraut. Sein Reformplan, der dem von Preuß sehr nahe stand, konnte jedoch im Kriege nicht mehr ausgeführt werden. Beim Amtsantritt des Grafen Hertling als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident war Drews zum preußischen Innenminister ernannt worden und wirkte nach Kräften für die preußische Wahlrechtsreform. 25 Friedrich von Payer, Vorsitzender der Reichstagsfraktion der Fortschrittlichen Volkspartei und einer der bedeutendsten Vorkämpfer der Parlamentarisierung und der preußischen Wahlrechtsreform, war als Vertrauensmann der demokratischen Reichstagsmehrheit von 1917 während der Kanzlerschaft Heulings und Max von Badens Vizekanzler gewesen. Payer war politisch bei den linksliberalen, süddeutschen Demokraten („Deutsche Volkspartei") groß geworden und erwarb sich um den Zusammenschluß der Linksliberalen in der Fortschrittlichen Volkspartei große Verdienste. Im Reichstag genoß er seit dem Kulturkampf das Vertrauen des Zentrums und seit dem Sozialistengesetz das der Sozialdemokratie (vgl. Payer, Von Bethmann-Hollweg bis Ebert, 1923).
3. Die Gutachten Anschütz, Drews, von Payer, Meinecke
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glaubte, die Reichsgewalt werde sich nun auf das Post- und Eisenbahnwesen, die Wasserstraßen und die Zoll- und Steuerverwaltung ausdehnen und das Gesandtschaftsrecht der Einzelstaaten werde sich beseitigen lassen. „Dann ist aber der Bundesstaat so ziemlich in den Einheitsstaat verwandelt, man mag diese oder jene Form wählen. Dann noch weiter zu gehen und zu versuchen, auch noch durch direkte Anweisungen oder auch nur Normativbestimmuhgen für die Beamten der Einzelstaaten diese noch mehr zu entrechten, scheint mir gefährlich und unnötig." Er hielt die Zusammenlegung der kleinsten Staaten für notwendig. Ob Preußen aufgelöst werden solle oder nicht, solle Preußen selbst überlassen bleiben. Die zehnjährige Amtsdauer des Präsidenten hielt er für zu lang. Friedrich Meineckes Vorschläge standen den Überlegungen Max Webers und Hugo Preuß' besonders nahe. Das Reich werde auch künftig ein Bundesstaat sein müssen, schrieb er, wenn Deutsch-Österreich aufgenommen werden solle. Aber man solle nicht zu den Gedanken der Fürstenkorporation von 1871, sondern zu den Bundesstaatsideen von 1848 zurückkehren. „Ihr Kern war: die Zentralgewalt des Ganzen muß sich ganz frei nach eigenem Willen und Bedürfnis bewegen können." Meinecke wünschte genaue und scharfe Kompetenzabgrenzungen, damit der Bundesstaat sich als ein wohlgeordnetes, übersichtliches Ineinander von geschlossenem Einheitsstaat und ebenso in sich geschlossenen Einheitsstaaten darstelle. Gewisse Normativbestimmungen schienen ihm nötig, ebenso die Beseitigung der Kleinstaaterei in Thüringen und Niedersachsen. Entschlossen griff er die preußische Frage auf: „In einer großen, Deutsch-Österreich mitumfassenden deutschen Volksrepublik hat das alte Preußen, das Werk heroischer, aber geschichtlich nun überwundener Kräfte, keine Existenzberechtigung mehr. Die alte Forderung Paul Pfizers und der Achtundvierziger, die preußische Staatseinheit aufzulösen, damit die deutsche Staats- und Nationaleinheit sich entfalten könne - sie gewinnt jetzt einen ganz neuen, ungeahnten Sinn und Wert." In der Auflösung der preußischen Staatseinheit - etwa in vier Teile, 1.) Brandenburg, Pommern, West- und Ostpreußen, Posen; 2.) Schlesien; 3.) Niedersachsen und Schleswig-Holstein und 4.) Rheinland, Westfalen, Hessen-Nassau - sah er „eine erste und nötigste Voraussetzung für die Lebensfähigkeit einer bundesstaatlichen deutschen Republik." Im übrigen dachte Meinecke an eine Erweiterung der Reichskompetenz; namentlich solle das Reich die Vorhand auf alle Steuerquellen der Nation legen und die Sozialisierung des wirtschaftlichen Lebens einheitlich bestimmen können. Er befürwortete ein Staatenhaus mit unabhängig von Instruktionen ihrer Regierungen abstimmenden Mitgliedern und eine durch einen plebiszitären Präsidenten gestärkte Exekutive. Meineckes Auffassung vom Amt des Präsidenten erinnerte an gewisse cäsaristische Tendenzen bei Max Weber: „Der Präsident ist der Vertrauensmann, der Volkstribun der Gesamtheit, der Wächter ihrer Gesamtinteressen gegenüber den Ausartungen, zu denen eine vielköpfige und vielfach gespaltene Versammlung, wenn sie allein das Heft in die Hand bekommt, immer neigen wird ..." Das letzte Wort solle zwar die Legislative haben, aber vielleicht sei es doch ratsam, gab er zu bedenken, daß der Präsident bei Meinungsverschiedenheiten mit dem Volkshause 8*
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über Verfassungsänderungen und wichtige Gesetzesfragen mit dem Referendum an das Volk appellieren könne.
4. Der Neugliederungsplan Unmittelbar nach der Beendigung der Konferenz hatten Hugo Preuß und seine Mitarbeiter mit der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs begonnen. Täglich fanden Besprechungen zwischen ihnen statt, aus denen noch vor Weihnachten ein Urentwurf des Hauptreferenten für Verfassungsfragen, Alfred Schulze, hervorging 26 . Preuß arbeitete inzwischen an der Denkschrift, die den Entwurf begleiten sollte. In der letzten Dezemberwoche überarbeitete Hugo Preuß den Ur-Entwurf nochmals ein wenig und sandte ihn dann am 3. Januar 1919 als „Entwurf der künftigen Reichs Verfassung (allgemeiner Teil)" dem Rat der Volksbeauftragten zu 27 . Mit einigen wichtigen Änderungen auf Wunsch des Kabinetts wurde dieser Entwurf am 20. Januar, am Tage nach den Wahlen zur Nationalversammlung, veröffentlicht. Dieser zweite Entwurf galt in der Öffentlichkeit als der „Preuß'sche Entwurf 4 schlechthin, obwohl das Reichskabinett schon etwas Wasser in den Wein gegossen hatte. An den Unterschieden zwischen Entwurf I und II kann man ablesen, was hauptsächlich Anstoß erregt hatte: vor allem die Vernachlässigung der Grundrechte, für die Hugo Preuß nicht einmal einen eigenen Abschnitt vorgesehen und die er auf Bestimmungen über die allgemeine Gleichberechtigung aller Staatsbürger, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Religionsgesellschaften und den Schutz der fremdsprachlichen Minderheiten beschränkt hatte. Die 26
Dieser Urentwurf befinden sich bei den Verfassungsakten des Reichsamtes des Innern, a. a. O., Bd. 16807. Er enthält kein Datum der Abfassung, wurde jedoch von Hugo Preuß am 24. Dezember 1918 gelesen und abgezeichnet. Wie Professor Apelt am 11. Oktober 1954 mitteilte, handelte es sich nicht um eine selbständige Arbeit Schulzes, sondern lediglich um eine Formulierung der Ergebnisse der täglichen Besprechungen. Preuß' Führung ist dabei nicht zu übersehen. Staatssekretär Clemens von Delbrück hatte Schulze schon vor dem Weltkrieg in das Verfassungsreferat des Reichsamtes des Innern berufen. Professor Apelt schildert ihn als einen ungewöhnlich klugen und sehr fleißigen Beamten, der - politisch zunächst ziemlich indifferent - sich später der Deutschen Volkspartei anschloß. Hugo Preuß hatte ihn nicht gekannt, bevor er in das Reichsamt kam. Ihre Ansichten deckten sich zunächst keineswegs, doch scheinen sie bald sehr gut zusammengearbeitet zu haben. Schulze war übrigens, wie Goldschmidt (a. a. O., S. 111 ff.) mitteilt, der Verfasser einer Denkschrift vom Dezember 1911 über die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den Zentralbehörden des Reichs und Preußens gewesen, die die wesentlichen Unterlagen für die im vorigen Kapitel erwähnte Denkschrift Delbrücks vom Jahr 1912 über die spannungsreichen Beziehungen zwischen der preußischen Regierung und der Reichsregierung lieferte. 27
Dieser Entwurf wurde meines Wissens zum ersten Mal 1922 in der von Heinrich Triepel herausgegebenen „Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht" veröffentlicht. Ich halte mich im folgenden an die Triepel'sche Zählung. Der Entwurf vom 3. Januar 1919 gilt dann als Entwurf I, der vom 20. Januar als Entwurf II, der vom 17. Februar als Entwurf III, der vom 21. Februar als Entwurf IV und der Entwurf des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung vom 18. Juni als Entwurf V.
4. Der Neugliederungsplan
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andere wesentliche Änderung betraf den Paragraphen 29, der Vorschläge für eine territoriale Neugliederung des Reichsgebietes enthalten hatte 28 . Der Gedanke der Neugliederung selbst (§11) blieb aber als Grundsatz in dem Entwurf 29 . Hugo Preuß hatte in der Konferenz der Sachverständigen den Weg gezeigt, auf dem er das preußisch-deutsche Problem bei der Wurzel zu fassen hoffte: durch Auflösung Preußens in seine historischen Bestandteile. Im Vergleich mit dem System der Personalunionen war dies die umfassende, glatte und elegante Lösung des preußisch-deutschen Konstruktionsproblems. Vor allem widersprach sie nicht dem Prinzip der parlamentarischen Verantwortlichkeit aller Regierungen vor ihren eigenen Parlamenten und Schloß die preußische Hegemonie über das Reich aus. Die entgegengesetzte Ansicht, nach der Demokratisierung des preußischen Wahlrechts wurden „homogene" Parlamente im Reich und in Preußen ein Wiederaufleben des Dualismus verhindern und eine so radikale Lösung wie die Aufteilung Preußens überflüssig machen, erwies die spätere Entwicklung auch tatsächlich als Irrtum. In den Pfizer'schen Gedanken lag ohne Zweifel die bessere Chance für einen wahren Föderalismus nach amerikanischem und Schweizer Vorbild, oder wie Hugo Preuß viel lieber sagte, für eine wahre Dezentralisation. Der preußische Großstaat war eben ein Fels im Weg des Reiches. Seine glatte Beseitigung befriedigte in jedem Falle mehr als alle noch so kunstvoll konstruierten und doch stets gefährdeten Serpentinen über ihn hinweg. Das Verschwinden der preußischen Dynastie und mit ihr der Personalunionen zwischen Preußen und dem Reich verlangte auf jeden Fall eine Neuregelung ihres gegenseitigen Verhältnisses. Die Umstände für eine gründliche territoriale Neugliederung des Reichsgebietes erschienen nun um so günstiger, je mehr man wie Hugo Preuß geneigt war, das dynastische Element für den Zusammenhalt der Einzelstaaten zu über- und die daraus gewachsenen inneren Bande zu unterschätzen30. Preuß hielt auch wegen des erwarteten Anschlusses 28 Leider sind die Protokolle des Reichskabinetts vermißt. Ein Gespräch mit Finanzminister a. D. Eugen Schiffer am 18. August 1954 in Berlin schien - obwohl Eugen Schiffer sich nicht mehr an Einzelheiten erinnern konnte - zu bestätigen, was man aus dem Bericht Wilhelm Zieglers (a. a. O., S. 104) über eine spätere Kabinettssitzung vom 28. Januar 1919 sowie aus dem Protokoll der Konferenz der Staaten Vertreter am 25. Januar 1919 in Berlin schließen kann: daß vor allem der Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten, Friedrich Ebert, versuchte, die Reichseinheit zu stärken ohne die Einzelstaaten zu sehr zu vergrämen. Er verfolgte eine Linie des Ausgleichs, auch in der äußeren Form. Ebert hatte offenbar den Aufmarsch der föderalistisch-partikularistischen Gegenkräfte auf der Reichskonferenz der Einzelstaaten am 25. November 1918 und auf der Stuttgarter Konferenz der süddeutschen Regierungen am 27. und 28. Dezember 1918 zutreffender beurteilt. 29 Friedrich Ebert war trotz seiner Zurückhaltung und seinem Wunsch, die Einzelstaaten zu schonen, keineswegs ein Gegner der Neugliederung. Am 12. Dezember 1918 hatte der Rat der Volksbeauftragten einen Aufruf gegen die separatistischen Bewegungen im Rheinland erlassen und betont, daß die Nationalversammlung endgültig über das künftige Schicksal des preußischen Staates zu entscheiden habe. „Eine Neuregelung seines Staatsgebietes dürfte durchaus im Gange der wahrscheinlichen Entwicklung liegen." (Ebert, a. a. O., S. 130 f.). 30 Die deutschen Einzelstaaten pflegte Preuß lediglich als „Zufallsbildungen rein dynastischer Hauspolitik" zu betrachten (vgl. u. a. Staat, Recht und Freiheit, S. 372).
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V.Verfassungspläne des Winters 1918/1919
Deutsch-Österreichs den günstigsten Zeitpunkt für eine umfassende territoriale Reichsreform gekommen, die außer der Lösung der preußischen Frage auch noch Gelegenheit geboten hätte, mit den zu selbständiger Verwaltung ihrer Angelegenheiten unfähigen Zwergstaaten aufzuräumen und größere Gemeinwesen aus ihnen zu bilden. Auf diesem Weg erschien erreichbar, was Hugo Preuß und Friedrich Meinecke, in den Worten Treitschkes, wollten: den „Einheitsstaat und die Selbstverwaltung starker Provinzen als die Staatsform der Zukunft" 31 . In der Sachverständigenkonferenz hatte Hugo Preuß vorgeschlagen, in den Entwurf der Verfassung eine Übersicht der neuen Einteilung Deutschlands aufzunehmen, in der die für notwendig befundenen territorialen Veränderungen und die Aufschlüsselung der Stimmen für das Staatenhaus niedergelegt werden sollten. Schon am 11. Dezember, noch während der Konferenz, sandte der Berliner Professor für historische Geographie und Staatenkunde Walther Vogel dem Kollegen Preuß eine Denkschrift mit einem Neugliederungsplan; möglicherweise hatte Preuß ihn darum gebeten32. Walther Vogel hielt die Regelung des Verhältnisses Preußen-Reich für die Grundfrage des deutschen staatlichen Umbaus. Mit den Dynastien seien die Zwergstaaten überholt und mit diesen das ganze sorgfältig ausgewogene Stimmenverhältnis im Bundesrat. Preußen könne aber künftig nicht als Ganzes entsprechend seiner Volkszahl im Bundesrat vertreten sein; es verfüge sonst über eine nicht zu stürzende Mehrheit. Daran ändere auch das gleiche Wahlrecht nichts. „Überhaupt ist es klar, daß zwei durchaus nach den gleichen Grundsätzen gewählte Körperschaften wie der deutsche Reichstag und das preußische Abgeordnetenhaus, von denen das letztere noch einmal über die Hälfte des deutschen Volkes repräsentiert, nicht nebeneinander bestehen können, ohne in die heftigsten Konflikte zu geraten". Vogel schlug deshalb zweierlei vor: eine größere Selbständigkeit der preußischen Provinzen, die bis zur selbständigen Instruktion der Bundesratsdelegierten und zu weitgehend selbständigen Verwaltungsbefugnissen gehen sollte. Andererseits wäre es schade, schrieb er, bestehende Gesamteinrichtungen des preußischen Staates, zum Beispiel die Preußisch-Hessische Staatseisenbahn, die Wehrmacht, das staatlich geregelte Siedlungs-, das Hochschul- und vielleicht auch Teile des Volksschulwesens aufzulösen. Diese „Großbetriebe" sollten fortgebildet, vom Reich übernommen und auf das ganze Reichsgebiet ausgedehnt werden. Seiner Denkschrift fügte Vogel den Plan einer Neugliederung bei, der möglichst die historischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die Eigenart der Bewohner und das Prinzip der Freiwilligkeit zu wahren suchte, damit die neuen Staaten oder „Reichsprovinzen" auch lebensfähig seien. Der Plan sah 14 solcher Gebietseinheiten mit Durchschnittsgrößen von vier bis zu sieben Millionen Einwohnern vor: 31 Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, S. 199. 32
Professor Apelt erinnert sich daran nicht mehr. Er teilte mir aber am 11. Oktober 1954 mit, daß die Idee der Neugliederung jedenfalls von Hugo Preuß selbst in die Beratungen gebracht worden sei, offenbar also nicht erst auf eine Anregung Vogels.
4. Der Neugliederungsplan
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(1) Preußen (Ost- und Westpreußen mit dem Regierungsbezirk Bromberg); (2) Schlesien (samt dem Regierungsbezirk Posen); (3) Brandenburg (mit Pommern, Mecklenburg und der Altmark); (4) Niedersachsen (mit den Hansestädten und Schleswig-Holstein); (5) Ostfalen-Thüringen (mit Hauptteilen der Provinz Sachsen und den thüringischen Zwergstaaten); (6) Obersachsen (hauptsächlich das bisherige Köngreich Sachsen); (7) Westfalen; (8) Rheinland (vom Saargebiet bis an den Niederrhein); (9) Pfalz-Hessen (samt Mannheim und Heidelberg); (10) Schwaben (Württemberg, Hohenzollern und den größten Teil Badens); (11) Elsaß-Lothringen; (12) Franken (die fränkischen Gebietsteile Bayerns, Württembergs und Badens, die Oberpfalz und die thüringischen Gebiete südlich des Thüringer Waldes); (13) Bayern (der Rest des Königreiches samt Tirol und Vorarlberg); (14) Österreich (die verbleibenden Teile Deutsch-Österreichs) 33. In welchem Umfang dieser Plan auf Hugo Preuß eigene Überlegungen zur Neugliederung des Reiches einwirkte, ist ungewiß. Sein eigener Vorschlag in § 29 des Verfassungsentwurfs I enthielt sechzehn „Gebiete" (Preußen, Schlesien, Brandenburg, Berlin, Niedersachsen, die drei Hansestädte, Obersachsen, Thüringen, Westfalen, Hessen, Rheinland, Bayern, Württemberg, Baden, Deutsch-Österreich und Wien). Die auffallendsten Unterschiede zu dem Vorschlag Vogels bestanden darin, daß er realistisch Elsaß-Lothringen nicht erwähnte, die süddeutschen Staaten und Deutsch-Österreich unverändert lassen, Wien, Berlin und, auf Petersens Wunsch, die Hansestädte zu selbständigen Gebieten erheben, die Pfalz nicht mit Hessen sondern dem Rheinland und den Regierungsbezirk Magdeburg mit „Obersachsen" statt „Thüringen" vereinigen wollte. Von den Vorschlägen Meineckes unterschieden sich beide Pläne durch eine weiter gehende Aufgliederung des preußischen Gebietes. Freilich darf man diesen Paragraphen 29 nur mit einem ständigen Vorbehalt einen Neugliederungsplan nennen. Hugo Preuß wünschte ausdrücklich, daß das 33 Später hat Walther Vogel sich von seinem damaligen Plan distanziert, nicht nur, weil er von der Unversehrtheit der Reichsgrenzen von 1914 und dem Anschluß Österreichs ausgegangen war - sondern auch weil er nicht mehr annahm, daß die einzelne preußische Provinz für ein gewisses kulturelles und wirtschaftliches Eigenleben zu klein sei. An einigen Stellen habe er auch Wirtschafts- und Verkehrszusammenhänge nicht genügend berücksichtigt, zum Beispiel im Ruhrgebiet (W. Vogel, Deutsche Reichsgliederung und Reichsreform, 1932, S. 156). Vogel stand später dem „Bund zur Erneuerung des Reiches" um den ehemaligen Reichskanzler Luther nahe. Das erwähnte Buch gehört zu der reichen Literatur, die am Ende der zwanziger Jahre zu den Fragen der Reichsreform entstand.
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VVerfassungspläne des Winters 1918/1919
Reichsgebiet nach dem Willen der Bevölkerung der in Frage kommenden Landesteile neugegliedert werde (§ 11). Außerdem bestimmte § 29 (Entwurf I) formell lediglich Wahlbezirke für das künftige Staatenhaus, „bis sich die neuen Freistaaten gebildet haben". Er schlüsselte nach der Bevölkerungszahl die Anzahl der Abgeordneten auf, die von den einzelnen Gebieten in das 75 Mitglieder zählende Staatenhaus entsandt werden sollten. Hugo Preuß legte Wert darauf, daß dies als hauptsächlicher Sinn der Bestimmungen des § 29 angesehen werde - wenn er auch nicht bestritt, daß er von dieser Einteilung noch mehr erhoffte 34. Preuß nahm für seinen Plan in Anspruch, daß die Wahlbezirke für das Staatenhaus sich im wesentlichen nach den deutschen Stämmen, nicht nach den „Zufällen dynastischer Hauspolitik" richteten, mit dem Ziel eines einigermaßen gleichmäßig und im Gleichgewicht gegliederten Reichsgebietes, geeignet auch für eine Dezentralisierung der Verwaltung. Auf der Landkarte unterschied sich dieser Plan einer Neugliederung des Reichsgebietes im Sinne eines dezentralisierten Unitarismus nicht sehr von dem Ergebnis, zu dem man gekommen wäre, wenn der Auftrag gelautet hätte, den Bundesstaat nach föderalistischen Maßstäben neu zu gliedern. Hier wie dort mußte es darauf ankommen, den vermeintlichen Föderalismus von 1871 zu überwinden, der wegen der großen Übermacht Preußens doch immer an die societas leonina der Fabel gemahnte. Preuß, Vogel, Meinecke und später auch Anschütz standen mit dem Wunsch nach einer Auflösung Preußens und der Vereinigung der Zwergstaaten zu gleichmäßig großen Gemeinwesen nicht allein. In den Akten zur Entstehung der Verfassung finden sich dazu einige Zeitungsausschnitte. Adolf von Batocki-Friebe (1868-1944), der ehemalige Oberpräsident von Ostpreußen, schlug in der Deutschen Allgemeinen Zeitung am 10. Dezember 1918, also während der Tagung der Sachverständigenkonferenz, vor, zehn bis fünfzehn „durch das feste Band des Reiches eng verbundene, aber trotzdem von eigenem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben erfüllte deutsche Gaue „zu bilden 35 . Schon am 8. Dezember hatte die Deutsche Allgemeine Zeitung selbst geschrieben, es gebe nur zwei 34 Preuß: „Ich betone, das waren nicht Vorschläge für neue Staatsbildungen, sondern Vorschläge für Wahlbezirke zum Staatenhaus. Auf einem mir dunkel gebliebenen Wege ist dieser, ich will einmal sagen, Laboratoriumsversuch in die Presse gekommen, und zwar unter dem Stichwort, das sei die neue Landkarte von Deutschland, wie sie im Reichsamt des Innern vorgesehen sei. Daß dabei vielleicht auch die Aussicht unterlaufen sei, vielleicht geht es auch so, will ich ja nicht bestreiten. Irgendein Zwang sollte darin nicht liegen" (Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, 20. März 1919, S. 149). 35 Der Artikel von Batockis erschien am 10. Dezember 1918, während der Sachverständigenkonferenz, in der Deutschen Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Hat der preußische Staat noch Daseinsberechtigung?". Von Batocki bestritt dies. Er bezeichnete sich als einen ehemals begeisterten „Anhänger eines starken, einheitlich regierten Preußens". Während des Krieges hatte er als Präsident des Reichsernährungsamtes unter den Folgen der Schwäche der Reichsregierung gegenüber dem drei Fünftel des Reiches umfassenden Preußen zu leiden und änderte seine Auffassung dann sehr schnell (Goldschmidt, a. a. O., S. 118).
5. Die Denkschrift vom 3. Januar 1919
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Lösungen der „deutschen Frage", entweder ganz Deutschland zu zentralisieren „oder aber Preußen zu dezentralisieren und in seine geschichtlichen Bestandteile aufzulösen" 36. Der sozialdemokratische „Vorwärts" erklärte sich mit einer Auflösung Preußens grundsätzlich einverstanden37. Alle diese Äußerungen standen offenbar auch unter dem Eindruck der Bestrebungen im Rheinland, eine rheinischwestfälische Republik zu gründen. Hugo Preuß' Plan war das Ergebnis vernünftiger Überlegung. Viele bedeutende Köpfe, die nüchtern über das preußische Problem nachgedacht hatten, kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Aber es zeigte sich dann bald, daß dieser Plan nur nach Vernunft und sachlichen Erfordernissen, gleichsam auf dem Zeichentisch entworfen worden war, ohne daß der Architekt die Schwierigkeiten des Baugrundes und den Willen des Bauherrn im einzelnen untersucht hatte. An ihnen würde die Ausführung scheitern. Das schätzte der Praktiker Ebert besser ein als der vernünftig, aber theoretisch denkende Staatsrechtslehrer an der Spitze des Reichsamtes des Innern. So kam es, daß der § 35 des Entwurfs II, den Ebert an die Stelle des § 29 des ersten Entwurfs setzen ließ, vorsichtig und dehnbar nur noch von Vorschriften für die provisorische Zusammensetzung des Staatenhauses sprach, deren Fassung vorbehalten bleibe.
5. Die Denkschrift vom 3. Januar 1919 Der umgearbeitete Verfassungsentwurf (Entwurf II) wurde am 20. Januar 1919 zusammen mit einer Denkschrift Preuß' veröffentlicht, die unter dem Datum des 3. Januar den ersten Entwurf (Entwurf I) hatte einführen sollen. Er enthält an einigen Stellen Bemerkungen, die sich noch auf den ersten Entwurf beziehen, im zweiten aber ihre Grundlage verloren hatten38. In Stil und Gedanken, vor allem in den Urteilen über den alten „Obrigkeitsstaat", den Charakter, die Leistungen und den geschichtlichen Untergrund von Bismarcks Reichsverfassung verriet sie ihren eigenwilligen Verfasser. Der staatsrechtliche Neuaufbau Deutschlands bedürfe nicht der Abänderung einzelner Institutionen, sondern einer völlig anderen politischen Organisation, begann er. Das neue Werk müsse „ganz bewußt auf den Boden gestellt werden, den Bismarck bei seiner Reichsgründung ganz bewußt nicht betre36
„Die deutsche Frage", in der Deutschen Allgemeinen Zeitung am 8. Dezember 1918. Der „Vorwärts" schrieb am 5. Dezember 1918: „Wir haben nichts dagegen, wenn das alte Preußen sich in seine natürlichen Bestandteile auflöst." 38 Die Denkschrift bezieht sich mehrmals auf den inzwischen beseitigten § 29 mit den Vorschlägen zur territorialen Neugliederung und erwähnt ein suspensives Veto der Reichsregierung gegenüber dem Reichstag, das in § 55, Abs. 2 des ersten Entwurfs vorgesehen, im zweiten Entwurf aber nicht mehr enthalten war. Die Denkschrift ist bei Preuß, Staat, Recht und Freiheit, Seite 368 ff. abgedruckt, Entwurf II, wie bereits erwähnt, in Triepel's Quellensammlung zum Deutschen Reichstaatsrecht, und beide zusammen in Wippermanns „Deutschem Geschichtskalender", Ergänzungsband „Die Deutsche Reichsverfassung vom 11. August 1919", ohne Jahresangabe. 37
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VVerfassungspläne des Winters 1918/1919
ten" habe. Damit wandte Hugo Preuß sich besonders gegen den alten Bundesrat, den die virtuose Kunst seines Schöpfers benutzt habe, die preußische Hegemonie fest zu verankern und zugleich zu verhindern, daß das deutsche Reich als „Volksstaat" auf die freie Selbstbestimmung der ganzen Nation gegründet wurde. Hugo Preuß deutete in diesen Urteilen schon an, was die neue Verfassung in erster Linie zu verwirklichen helfen solle: das auf die selbstbestimmende Volksgesamtheit an Stelle eines „ewigen Bundes" der deutschen Fürsten gegründete demokratische deutsche Reich, das als Bundesstaat auch von der bestimmenden Vorherrschaft eines seiner Teile frei sein solle. Für das eine wie das andere war das Selbstbewußtsein eines sich selbstorganisierenden Staatsvolkes an Stelle der Untertänigkeit unter eine Dynastie die maßgebliche Grundlage. Deshalb könne, fuhr Hugo Preuß fort, auch nicht das Dasein der Einzelstaaten in ihrer monarchischen oder republikanischen Form das Erste und Entscheidende für die politische Lebensform des deutschen Volkes sein, sondern das Dasein dieses deutschen Volkes selbst als einer geschichtlich gegebenen politischen Einheit. „Es gibt so wenig eine preußische oder bayerische, wie eine lippische oder preußische Nation; es gibt nur eine deutsche Nation, die sich in der deutschen demokratischen Republik ihre politische Lebensform gestalten soll." Schwerste Gefahren für die politische Zukunft des deutschen Volkes sah er voraus, wenn die bisherigen 25 Einzelstaaten sich ohne Rücksicht auf das Ganze konsolidierten und die seit der Revolution freie Bahn für die politische Selbstorganisation des deutschen Volkes nach den inneren Lebensnotwendigkeiten des modernen Nationalstaates wieder versperrten. Der deutsche Volkscharakter sei unzweifelhaft einer unbeschränkten Zentralisierung des öffentlichen Lebens stark abgeneigt; und wenn auch das Eigenleben der Landschaften und Stämme, vornehmlich auf kulturellem Gebiet und in den Formen einer frei entwickelten Selbstverwaltung keineswegs der unentbehrlichen Staatseinheit in allen für das Gemeinleben des gesamten deutschen Volkes entscheidenden politischen und wirtschaftlichen Dingen zu widersprechen brauche, so hielt Hugo Preuß doch die tatsächliche Gestalt der Einzelstaaten für unbrauchbar. Sie waren „samt und sonders lediglich Zufallsbildungen rein dynastischer Hauspolitik, die fast überall die natürlichen Zusammenhänge der Landschaften und Stämme willkürlich durchschneiden, Zusammengehöriges trennen und Unzusammenhängendes verbinden." So stellte er von neuem die Notwendigkeit dar, der Beseitigung der 22 Dynastien durch die Beseitigung so unnatürlicher Einzelstaaten einen vollen Sinn zu geben. Von dem offenkundigen Bedürfnis nach einer Vereinigung der in kaum verhüllter Abhängigkeit von Preußen lebenden kleinsten Einzelstaaten aus entrollte er den Plan einer deutschen Neugliederung, als dessen Kern er die Frage nach dem Fortbestand oder der Auflösung des preußischen Staatsverbandes in selbständige Gebiete herausschälte. „Es wäre gewiß eine ungemeine Erleichterung für das Verfassungswerk," schrieb er angesichts der zu erwartenden Schwierigkeiten, „wenn es darauf verzichten könnte, diese heikle und gefährliche Frage anzupacken; jedoch würde dieser Verzicht zugleich die Verpfuschung des neuen Verfassungswerkes selbst bedeuten. Denn der Fortbestand einer einheitlichen Republik
6. Grundzüge des Verfassungsentwurfs
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von 40.000.000 Einwohnern innerhalb einer von ihr organisatorisch getrennten Republik von zusammen 70.000.000 Einwohnern ist schlechthin eine staatsrechtliche, politische und wirtschaftliche Unmöglichkeit." Der Versuch, einen so übermächtigen Einzelstaat durch abstrakte Verfassungsbestimmungen mit allen übrigen lediglich gleichberechtigt behandeln zu wollen, müßte sofort an der harten Logik der Tatsachen zerschellen 39. „Preußen war und blieb doch eben ein Notbau, der in jeder Hinsicht unvollkommene deutsche Staat ... Soll er sich vollenden, so muß ihm der preußische Notbau weichen. Er hat seinen Beruf erfüllt; ja, daß er die Erfüllung seines Berufes jahrzehntelang überlebt hat, war eine Grundursache der politischen Leiden unserer jüngsten Vergangenheit." Sätze, wie diese, so unverständlich oder ärgerlich sie damals vielen blieben, kamen aus einem tiefen Verständnis der deutschen Verfassungsgeschichte und aus staatsmännischer Erkenntnis einer so einzigartigen Gelegenheit, jetzt, vor der Erneuerung der innenpolitischen Einrichtung, auch das verquere Fundament des Staatsbaues zu korrigieren. Zugleich hoffte Preuß auf die Vollendung der Einigung durch den Beitritt DeutschÖsterreichs: „Es ist die einzige Morgengabe, die die junge Republik dem so furchtbar geschlagenen und tief herabgedrückten deutschen Volke bringen kann." Aber er verstand auch, daß die territoriale Neugliederung nicht einfach von oben her dekretiert werden könne, sondern daß der freien Selbstbestimmung der Bevölkerung die Initiative zukomme und das Reich nur leiten, vermitteln und schließlich sanktionieren könne.
6. Grundzüge des Verfassungsentwurfs Der Entwurf enthielt in 73 knapp formulierten Paragraphen - gegenüber 68 des ersten Entwurfs - und in vier Abschnitten, „Das Reich und die deutschen Freistaaten", „Die Grundrechte", „Der Reichstag" und „Der Reichspräsident und die Reichsregierung" nur die Bestimmungen des „allgemeinen Teils" einer Reichsverfassung. Die Regelung besonderer Gegenstände wie des Verkehrswesens, des Zoll- und Handelswesens, der Reichsfinanzen und der Rechtspflege sowie die Übergangsbestimmungen blieben noch vorbehalten. Einnehmend einfach, klar und rasch überschaubar war der Entwurf angelegt. Der Reichstag sollte aus zwei 39
Noch deutlicher sprach sich Hugo Preuß am 25. Januar 1919 auf der Berliner Konferenz der Vertreter der Einzelstaaten aus: „Eine preußische Hegemonie im alten Sinne, die verfassungsmäßig verankert wäre, ist nach Lage der Dinge unmöglich. Preußen würde also, auch wenn es in seinem jetzigen Bestand bestehen bleibt, verfassungsmäßig wie jeder andere Einzelstaat zu behandeln sein. So etwas kann man wohl in die Verfassung schreiben; aber es bleibt unwahr, es bleibt eine Unmöglichkeit. Wenn die Reichsregierung in irgend einer Sache vorgehen will, so müßte sie sich vorher des Einverständnisses der preußischen Regierung versichern ... Das wäre nichts anderes als eine nicht in der Verfassung stehende Hegemonie" („Aufzeichnung über die Besprechungen im Reichsamt des Innern vom 25. Januar 1919 über den der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vorzulegenden Verfassungsentwurf", in den Beständen des Badischen Generallandesarchivs Karlsruhe, Abt. 233 (Staatsministerium), Band 12 888 („Reichsverfassung 1919").
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VI.Verfassungspläne des Winters 1918/1919
Kammern bestehen, von denen die eine aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgehen und die andere als das Mitwirkungsorgan der Einzelstaaten von den Landtagen bestellt werden sollte. Ebenbürtig sollte das Staatsoberhaupt dem Reichstag gegenüberstehen und als Repräsentant des einheitlichen deutschen Volkes direkt gewählt werden. Staatsoberhaupt und Reichstag sollten durch die dem Parlament verantwortliche Regierung verbunden werden. An die Paulskirche erinnerte mancher Wortlaut des Textes, vor allem der Grundrechte, besonders der Reichstag mit dem „Volkshaus" und dem „Staatenhaus", und selbst noch eine Äußerlichkeit wie die Einteilung in Paragraphen statt Artikel. An die englische Verfassung erinnerte die Möglichkeit des Staatsoberhauptes und der Regierung, durch Auflösung des Parlaments an das Volk appellieren zu können, an Amerika der vom Volk gewählte Präsident und an die Schweizer Bundesverfassung das obligatorische Verfassungsreferendum. Im übrigen erkennt man in dem Entwurf die Ergebnisse der Dezember-Besprechung und zahlreiche Bestimmungen, die Hugo Preuß schon 1917 für die Reform der alten Reichs Verfassung vorgeschlagen hatte. Die Aufgabe jeder demokratischen Verfassung besteht darin, die Gewichte des staatlichen Lebens so zu verteilen und in einem solchen Verhältnis zu einander zu kombinieren, daß der entschlossene und andauernde Wille des Volkes die Richtung des Gemeinwesens bestimmt, daß der Staat aber auch davor geschützt ist, unter augenblicklichen Launen oder Leidenschaften der Volksmeinung zu schwanken und damit politische Führung unmöglich zu machen. Eine deutsche Verfassung muß außerdem ein zweites Gewichtsverhältnis auswiegen, die Aufgaben- und Machtverteilung zwischen dem Bundesstaat und den Teilstaaten, zwischen dem Reich und den Ländern. (1) Das Verhältnis der obersten Reichsorgane hatte Hugo Preuß im dritten und vierten Abschnitt des Entwurfs im Sinne der Dezember-Besprechung konstruiert. Das Reich sollte grundsätzlich eine repräsentative, in einigen Teilen aber auch unmittelbare Demokratie mit einer parlamentarischen Regierung sein. Die Wählerschaft, als das ursprüngliche Staatsorgan, sollte den Reichstag und das höchste Regierungsamt, den Reichspräsidenten, bestellen, und zwar das mächtigere der beiden Häuser, das Volkshaus, in direkten Wahlen (§31), das Staatenhaus dagegen nur mittelbar durch die Landtage der Einzelstaaten (§ 32). Außer bei Wahlen zum Volkshaus und für das Amt des Reichspräsidenten sollte das Volk nur noch bei der Bestätigung von Verfassungsänderungen nach einer Übergangszeit von fünf Jahren, für die erleichterte Vorschriften galten (§51) und zur Entscheidung von Konflikten zwischen den beiden Häusern des Reichstags durch Volksabstimmung (§ 60) unmittelbar in die Gesetzgebung eingreifen. Keinesfalls wünschte Hugo Preuß eine Ausdehnung des Referendums auf die gesetzgeberische Initiative, wie sie dann in der endgültigen Verfassung vorgesehen war. Von einer solchen Einrichtung befürchtete er nur ständige Beunruhigung des politischen Lebens40. 40 Preuß, in der Denkschrift vom 3. Januar 1919, Staat, Recht und Freiheit, S. 390.
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des Verfassungsentwurfs
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Für die Wahlen schrieb der Entwurf das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Proportionalwahlrecht für alle über zwanzig Jahre alten Männer und Frauen vor. Hugo Preuß wünschte eine so großzügige Erweiterung des Wahlrechts, namentlich das Frauenwahlrecht, weil er glaubte, daß die praktische Beteiligung des Volkes am Staate zur politischen Reife erziehen helfe, aber auch, um ein für allemal die sonst nie ruhenden, verbitternden und unfruchtbaren Wahlrechtskämpfe zu beseitigen41. Das Verhältniswahlrecht an Stelle des bisherigen Mehrheitswahlrechts war eine alte Forderung, die Preuß schon während des Krieges erhoben hatte 42 ; das Verhältniswahlrecht hielt er für gerechter und „veredelnder", weil es ausschloß, was das „grobschlächtige" Mehrheitswahlrecht, besonders in einem Mehrparteiensystem zuweilen zuläßt: daß eine tatsächliche Minderheit der Wahlbürger die Mehrheit der Parlamentssitze erobern kann, sofern ihr - namentlich bei schwacher Wahlbeteiligung - gelingt, in einer knappen Mehrheit der Wahlkreise jeweils eine knappe Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu erringen. Offenbar auf Wunsch des Kabinetts verkürzte Preuß die Wahlperiode des Reichstags von fünf Jahren im ersten Entwurf auf drei Jahre im zweiten (§ 37), obwohl er wußte, daß Parlamente um so schwächer sind, je kürzer die Wahlperioden 43. Vielleicht vertraute er darauf, daß die Nationalversammlung dies wieder korrigierte. Neben das Volkshaus als Vertretung der Gesamtheit der Wählerschaft stellte Hugo Preuß das Staatenhaus, das als Organ der Einzelstaaten an der Bildung des Reichswillens teilnehmen sollte. Im Vorhandensein eines Staatenhauses nach Art der Paulskirche, des amerikanischen Senats oder des schweizerischen Ständerats sah er das Charakteristikum des Bundesstaates. Ein Gebilde wie den Bundesrat, argumentierte er später etwas forciert vor dem Verfassungsausschuß, habe es nur im Deutschen Reiche gegeben, und nur deshalb, weil es kein richtiger Bundesstaat gewesen sei und weil diese Konstruktion des Bundesrats die Drapierung der Hegemonie Preußens mit föderalistischen Umkleidungsstücken ermöglicht habe44. Das Staatenhaus sollte als ein Teil des Reichstags, als ein grundsätzlich legislatives Organ, keine Verwaltungsbefugnisse erhalten. Seine Mitglieder sollten indessen nicht mehr wie 1849 zur Hälfte von den Landtagen und zur anderen Hälfte von den Regierungen bestellt werden, sondern allein von den Landtagen, und zwar so, daß auf eine Million Landeseinwohner ein Abgeordneter entfallen sollte (§ 33). Da aber kein Einzelstaat durch mehr als ein Drittel aller Abgeordneten vertreten sein sollte und nichts Näheres dazu gesagt wurde - § 35 des Entwurfs I I behielt sich für eine „vorläufige" Zusammensetzung des Staatenhauses ja noch alles vor - klaffte hier seit dem Eingreifen des Kabinetts in Entwurf I, § 29, eine logische Preuß in der Denkschrift; a. a. O., S. 391. Vgl. Preuß' Reformvorschlag für die alte Reichsverfassung, Staat, Recht und Freiheit, S. 317 und seinen Artikel in der Frankfurter Zeitung am 19. August 1917. 43 Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses der Nationalversammlung, 5. April 1919, S. 246. Siehe auch Preuß' Rede vor der Nationalversammlung am 24. Februar 1919, Staat, Recht und Freiheit, S. 416. 44 Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses, 21. März 1919, S. 119. 42
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VI.Verfassungspläne des Winters 1918/1919
Lücke. Die Mitglieder des Staatenhauses sollten unabhängig von Instruktionen ihrer Regierungen abstimmen. Der Hauptzweck dieser Bestimmungen war, Platz zu schaffen für eine Reichsregierung, die die Exekutive nicht länger mit den Bundesratsbevollmächtigten der Einzelregierungen teilen mußte und dann endlich auch dem Reichstag für alle Verwaltungsakte des Reiches voll verantwortlich sein konnte. Nach der Beseitigung der Verwaltungsbefugnisse des Bundesrats und des Instruktionsrechts der Einzelregierungen war es nicht nötig, das Staatenhaus dem Volkshaus ausdrücklich nachzuordnen. Das Übergewicht der Volksvertretung gegenüber der Regierung war grundsätzlich gesichert. Preuß stattete das Staatenhaus aber mit einem starken Vetorecht (§ 50) aus, das nur durch Volksabstimmung aufgehoben werden konnte (§ 60). Damit sollte die Mehrheit im Volkshaus bewogen werden rechtzeitig auf eine abweichende Mehrheit in der Länderkammer Rücksicht zu nehmen und es dort möglichst nicht auf die Ausübung des Vetorechts ankommen zu lassen. Der Vorrang des Volkshauses beruhte im wesentlichen nicht auf gesetzgeberischen Befugnissen, sondern darauf, daß die Reichsregierung allein dieser Körperschaft verantwortlich war (§ 70). Das im vierten Abschnitt geregelte Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive hatte Preuß so weit wie möglich dem Muster des englischen parlamentarischen Systems angeglichen. Seine Erläuterungen entsprachen der Dezember-Konferenz und dem Schema des Parlamentarismus, wie Robert Redslob es dargestellt hatte. Das Staatsoberhaupt - vom ganzen Volke gewählt, jedoch nur noch auf sieben Jahre statt zehn wie im ersten Entwurf - war so wenig ein Geschöpf des Parlaments wie die englische Krone. Ähnlich wie dem englischen Monarchen und unähnlich dem amerikanischen Präsidenten sollte der Reichspräsident zur Ausübung aller politischen Funktionen seines Amtes, der Ernennung und Entlassung der Beamten und Offiziere (§ 61), der Ausfertigung der Gesetze und völkerrechtlichen Verträge, der Anordnung des Referendums (§ 60), der Auflösung des Reichstages (§ 42) und beim Gebrauch der außerordentlichen Befugnisse zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (§ 63) stets der Gegenzeichnung des Reichskanzlers oder eines Reichsministers bedürfen. Lediglich bei der Ernennung des Reichskanzlers war er insofern unabhängig, als er nach eigener Wahl einen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen konnte, dem er zutraute, im Volkshaus einen Mehrheitswillen organisieren zu können. Das Parlament konnte also - wie das englische Unterhaus - den Regierungschef nicht wählen. Die einzelnen Reichsminister indessen sollte der Reichspräsident nur auf Vorschlag des Reichskanzlers ernennen können. Die führende Stellung des Kanzlers innerhalb des Kabinetts wurde - wiederum nach englischem Vorbild - in Preuß' Entwurf ausdrücklich (§71) gesichert 45. 45 Aus einem Artikel des Jahres 1921 geht hervor, daß Hugo Preuß bei diesen Bestimmungen die überkommene Parteienzersplitterung und die Schwierigkeiten einer Mehrheitsbildung durch Koalition im Auge hatte. Er wünschte nicht, daß die Regierungen durch einen Ausgleich der Fraktionen nach Art eines Clearing-Systems oder Koalitionsvertrages mit manchen Nebenrücksichten zustande kommen sollte. Auch bei der Regierungsbildung wünschte er
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Vom Präsidenten ernannt und entlassen, dem Parlament dagegen verantwortlich und von seinem Vertrauen abhängig, bildete die Regierung nach einem häufigen Ausdruck Preuß' das bewegliche „Bindeglied" zwischen Legislative und Exekutive. Beide Funktionen der Staatsgewalt waren beschränkt und genau ausbalanciert. Die Volksvertretung konnte der Regierung zwar das Mißtrauen aussprechen und sie so zum Rücktritt zwingen, sie lief dabei aber stets das Risiko, daß die Regierung mit Unterstützung des Präsidenten dem Mißtrauensvotum im Parlament durch Auflösung zuvorkam und an die Wähler appellierte. Ebenso konnte der Präsident, wenn er glaubte, die Parlamentsmehrheit und die Regierung besäßen nicht mehr das Vertrauen der Mehrheit der Wähler, die Regierung entlassen, eine Minderheitsregierung ernennen und mit ihrer Gegenzeichnung noch vor ihrer Vorstellung vor dem Volkshaus das Parlament auflösen. Vor dem leichtfertigen Gebrauch so weitreichender Befugnisse sollte die Bestimmung schützen, daß der Reichspräsident auf Antrag von übereinstimmenden Zwei-Drittel-Mehrheiten in beiden Häusern durch Volksabstimmung abgesetzt werden konnte. Lehnte das Volk die Absetzung ab, sollte die Abstimmung als Wiederwahl gelten (§ 67). In der Stärke des Präsidentenamtes sah Preuß ein Element ruhiger Dauer und Festigkeit, das zwar nicht den nachhaltigen Willen des Volkes aufheben, wohl aber das Parlament vor übereilten Entschlüssen schützen, die Verwaltung vor Ämterpatronage und Korruption durch die Parteien bewahren und im Konfliktfalle das Volk zum Schiedsrichter anrufen sollte. Unter der Verantwortlichkeit der Reichsregierung konnte der Präsident schließlich, wenn „die öffentliche Sicherheit und Ordnung in einem erheblichen Umfang gestört oder gefährdet wird, mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten und die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Anordnungen treffen. Er ist verpflichtet, hierzu unverzüglich die Genehmigung des Reichstags einzuholen und seine Anordnungen aufzuheben, wenn der Reichstag die Genehmigung versagt". Dieser Paragraph 63 war der Vorläufer des später so berühmt gewordenen Artikels 48 der Weimarer Verfassung. Ebenso wie dieser enthält sein strenger Wortlaut alle notwendigen Einschränkungen: die außerordentlichen Maßnahmen waren nur zulässig bei einer erheblichen Störung oder Gefährdung der Sicherheit, die bewaffnete Macht mußte, wie aus der Pflicht zur Gegenzeichnung hervorging, stets der politischen untergeordnet und die letzte Entscheidung dem unverzüglich anzurufenden Reichstag reserviert bleiben. klare, persönliche Verantwortlichkeit, nicht Absprachen der Fraktionen. Deshalb sollte der Präsident den Kanzler bestimmen. „Dem Reichspräsidenten gebührt die Initiative zur Bezeichnung des Mannes, der ihm nach der politischen Lage als der berufene Führer der im Reichstage organisierten öffentlichen Meinung erscheint." Der Kanzler solle sich dann seine Mitarbeiter auswählen und mit ihnen, nicht den Fraktionen, das Regierungsprogramm ausarbeiten. Danach bedürfe er des Vertrauens einer Mehrheit, die durch Koalition hergestellt werden müsse. „Aber die Initiative zur Bildung der Koalition sowohl nach der sachlichen wie nach der persönlichen Seite ist Recht und Pflicht des leitenden Staatsmannes, dessen verantwortliche Führung nicht durch vorherige Abmachungen der Fraktionen zu binden ist." („Parlamentarische Regierungsbildung", Staat, Recht und Freiheit, S. 445).
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VI.Verfassungspläne des Winters 1918/1919
Die Umstände des Untergangs der Republik haben das Interesse gerade auf die Diktaturgewalt des Präsidenten wie die allgemeine Stärke seines Amtes überhaupt und auf die Rolle des Verhältniswahlrechts gelenkt. Nicht selten wird gerade ihnen die Hauptschuld für das Versagen des Verfassungslebens gegeben. Unbestreitbar hatte Hugo Preuß mit voller Absicht den Präsidenten „stark" gemacht, ebenso entschieden trat er für den späteren Artikel 48 ein 4 6 und unzweifelhaft hielt er das Mehrheitswahlrecht dem Verhältniswahlrecht für weit unterlegen; noch im Jahre 1924 verkannte er seltsamerweise den Zusammenhang zwischen dem Mehrheitswahlrecht, dem Zweiparteiensystem und der Bildung regierungsfähiger Mehrheiten im Parlament, den Friedrich Naumann ihm im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung vergeblich zu erklären versucht hatte 47 . Die Erfahrungen der Weimarer Republik haben Naumann recht gegeben. Eine systematische Analyse des Mehrheitswahlrechts und des Verhältniswahlrechts 48 erweist die Überlegenheit des reinen Mehrheitswahlrechts über alle anderen Wahlsysteme, wenn die Bildung einer handlungsfähigen Regierung der erste Zweck von Wahlen zum Parlament sein soll. Das Verhältniswahlrecht birgt unter dem Schein höherer Gerechtigkeit so viele Gefahren, daß es schon das „Trojanische Pferd der Demokratie" genannt wurde 49 . Das parlamentarische System lebt vor allem vom richtigen Zusammenspiel von Regierung und einer jederzeit regierungsfähigen Opposition; gerade dies wird durch das Mehrheitswahlrecht befördert, indem es in jedem Wahlkreis nur einen Kandidaten gewinnen läßt, der sich bemühen muß, wenigstens die relative Mehrheit zu erringen. Das gibt Persönlichkeiten des Ausgleichs und gemäßigter Anschauungen die größten Aussichten und veranlaßt Rügelgruppen und Splitterparteien dazu, vermeidbare Differenzen mit politischen Nachbargruppen zu unterdrücken, um wenigstens eine Sammelkandidatur, wenn nicht gar eine Parteienfusion zustande zu bringen. Jede andere Parteipolitik würde mit dauernder politischer Einflußlosigkeit bestraft werden. Die Tendenz zu politischer Integration und zum Ausgleich in diesem Wahlrecht läuft schließlich auf 46 Ähnliche Bestimmungen enthielt schon der Artikel 68 des Reformvorschlages von 1917. Vor der Nationalversammlung trat Hugo Preuß mit Entschiedenheit für den Artikel 48 ein, der ihm alle nötigen Sicherungen zu enthalten schien (Sten. Berichte, 47. Sitzung, 5. Juli 1919, S. 1324 f. und S. 1331). 47
Im Jahr 1924 hielt Hugo Preuß das englische Wahlrecht noch für „das primitivste und grobschlächtigste System". Der englische Parlamentarismus verdanke nicht diesem System seine Stärke, sondern er sei so stark, daß er trotz diesem Wahlrecht gedeihe. (Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, 1924, S. 76). Friedrich Naumann war (Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses, 4. April, S. 242/243) gegen Preuß für das Mehrheitswahlrecht eingetreten, das in den angelsächsischen Ländern die Parteienzersplitterung verhindere und die Führerauslese erleichtere. Hugo Preuß unterschätzte in dieser Diskussion die Vorzüge des Zweiparteien-Systems. Er meinte, zwei parlamentarische Koalitionen erfüllten denselben Zweck. 48 Ferdinand Aloys Hermens, Demokratie und Wahlrecht, Paderborn, 1933, siehe besonders S. 48-70, und vom selben Verfasser Demokratie oder Anarchie, Frankfurt, 1951, besond. Abschnitt 1 und Kapitel 10 und 11. 49 Hermens, Demokratie oder Anarchie, S. 23.
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ein Zweiparteiensystem oder eine Parteigruppierung, die diesem gleichkommt, hinaus. Die Regierungsbildung wird denkbar einfach. Gerade umgekehrt wirkt das Proportionalwahlrecht, das jeder politischen Sondertümelei die Chance eröffnet, auf Kosten großer, regierungsfähiger Mehrheiten ein paar eigene Abgeordnete ins Parlament zu entsenden. Ihre Teilnahme an den in der Regel unvermeidlichen Koalitionen lassen sie sich häufig mit der Erfüllung von allerlei Sonderwünschen, oft gar für bestimmte Interessentengruppen, teuer bezahlen. Das Proportionalwahlrecht führt neben seiner in hohem Grade auflösenden Wirkung, der Radikalisierung der Meinungen, die zur Rechtfertigung der einzelnen Splittergruppe vor den Wählern notwendig wird, und der Förderung der Sonderinteressen auch zu einer personellen Versteifung der Parteien selbst, in dem derjenige die besten Gewinnchancen erhält, den das Parteibüro an die Spitze der Liste setzt - oder setzen muß, wenn die Unterstützung wirtschaftlicher Interessentenverbände erkauft werden muß - einerlei, ob der betreffende Kandidat sein politisches Talent und seine Führungsqualitäten im Wahlkampf von Mann gegen Mann erwiesen hat oder nicht. Jüngere Politiker können sich so einen Parlamentssitz nur schwer im selbständigen Wahlkampf erringen; sie werden gezwungen, sich erst als Funktionäre innerhalb der Parteiorganisation emporzudienen gegen die Führungsgruppe der Älteren, die sich nicht mehr dem politischen Konkurrenzkampf zu stellen braucht. Von daher rührt auch der geringere Kontakt des einzelnen Abgeordneten zu seinen Wählern. Das Mehrheitswahlrecht dagegen legt dem Abgeordneten die Pflege der direkten Beziehungen zur Wählerschaft viel näher. Vor ihnen vor allem, nicht vor der Parteiorganisation, muß er sich rechtfertigen, um wiedergewählt zu werden. Hugo Preuß hatte das parlamentarische System, die Integration der Parteien und eine politische Elite statt des „Bonzentums" im Parlament gewollt. Aber er erkannte nicht, wie sehr das Mehrheitswahlrecht und wie wenig das Verhältniswahlrecht als Mittel für diesen Zweck geeignet waren. Hugo Preuß war das Opfer einer argen Täuschung, als er die schädlichen Wirkungen des Verhältniswahlrechts nur für die vorübergehenden Störungen einer Übergangszeit hielt. Aber gerechterweise darf man diesen Irrtum auch nicht zu hoch einschätzen. Das absolute Mehrheitswahlrecht hatte ja während des Kaiserreiches die Parteienzersplitterung nicht beseitigt. Das Verhältniswahlrecht der Weimarer Republik begünstigte die Parteienzersplitterung, war aber nicht ihre Ursache. Die Ursachen - und ebenso die Mittel zu ihrer Überwindung - waren tiefer zu suchen, nicht in den juristischen Formen, sondern im politischen Wollen des Volkes. Ahnliches gilt auch für den Gebrauch der verfassungsmäßigen Befugnisse des Präsidenten. Nicht diese Institutionen haben die Republik ruiniert, sondern der Mißbrauch, der mit ihnen getrieben wurde. Für das zerklüftete Parlament - und hinter ihm den zerrütteten Gemeinwillen des Volkes, der keinen arbeitsfähigeren Reichstag zustande brachte - erwiesen sich der Präsident und der Artikel 48 relativ stark. Aber das hätte nicht so sein müssen, wenn das Parlament hätte stark sein wollen und hinter ihm eine demokratisch gesinnte Mehrheit der Wähler es dazu befähigt hätte, um dem Mißbrauch zu wehren. 9 Gillessen
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Ohne Zweifel stehen die rechtlichen Formen einer Verfassung und die Dynamik politischer Kräfte, die ihr erst Inhalt und Leben geben, in einer gewissen Wechselwirkung. Aber sie reicht nicht so weit, daß die Republik an den Mängeln ihrer Verfassung hätte untergehen müssen, wenn es nicht vor allem am Willen des Volkes und des Parlaments zum Rechtsstaat und zu verfassungsmäßiger Regierung gemangelt hätte. Keine juristische Kunst kann einer Verfassung oder einem Gesetz Geltung und Dauerhaftigkeit verleihen, wo die innerliche Zustimmung und der Wille der Mehrheit fehlen oder zu schwach bleiben. Willibalt Apelt urteilte so: „Überblickt man alle ... Einwände ... so gebietet die Gerechtigkeit festzustellen, daß sie sich zu einem großen Teil nicht gegen die Vorschriften und Absichten der Verfassung selbst richten, sondern gegen das, was Theorie und Praxis aus ihnen gemacht haben. Ein guter Teil der berechtigten Vorwürfe trifft den Reichstag und die in ihm maßgebenden Parteien, wenn die der Legislative von der Verfassung gestellten Aufgaben nicht bewältigt worden sind" 50 Unter solchen Gesichtspunkten wird man auch Hugo Preuß' Rolle bei der Organisation der obersten Reichsorgane beurteilen dürfen. Die Balance zwischen Gesetzgebung und Verwaltung setzte voraus, daß die Wähler in Augenblicken der Krise ihr Schiedsrichteramt klug wahrzunehmen verstehen. Er gab der Nationalversammlung und den Wählern ein empfindliches Instrument in die Hand. Seine Benutzung verlangte politische Reife. Aber, so durfte er hoffen, der Umgang damit konnte auch zur Reife erziehen. Möglicherweise hätte sich unter dem Schutz anderer Normen, zum Beispiel dem Mehrheitswahlrecht, ein labiler Gemeinwille etwas schneller und leichter festigen können. Wenn damit aber überhaupt die Katastrophe der Republik hätte verhindert werden können, dann konnte Hugo Preuß' Irrtum allenfalls darin bestanden haben, das Vorhandensein einer gewiß geringen und im Jahre 1919 auch sehr schwer abzuschätzenden besseren Gelegenheit politischer Erziehung des deutschen Volkes verkannt zu haben. Wer wagt dies zu entscheiden? Am Ende, nimmt man alles nur in allem, war es doch hauptsächlich der Mangel an politischer Vernunft und Moral, das die deutsche Republik ihren entschlossenen Todfeinden überantwortete. Die Verfassungsbestimmungen entschieden nicht über viel mehr als die Umstände und die besondere Art und Weise dieses Unterganges. (2) Das Staatenhaus reflektierte am meisten die unitarische - Tendenz (oder besser: den reformierten Föderalismus im Sinne der amerikanischen und der schweizerischen Verfassungen) des Entwurfs. Nicht die Wähler der Einzelstaaten, aber die Einzelregierungen sollten von direktem Einfluß auf die Reichsregierung ausgeschlossen sein. Die Art und Weise der Teilnahme der Einzelstaaten an der Bildung des Reichswillens ist indessen nur die eine von zwei Größen, die das Verhältnis zwischen Reich und Ländern bestimmen. Die andere besteht in der Abgrenzung der dem Reich und den Ländern zu selbständiger Gesetzgebung oder Verwaltung zugewiesenen Sphären sowie in der gegenseitigen Verzahnung dieser Befugnisse, die dem Bundesstaat zu einer gewissen Einheitlichkeit verhelfen soll. so Willibalt Apelt, a. a. O., S. 383.
6. Grundzüge des Verfassungsentwurfs
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Der ausschließlichen Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches (§ 3) sollten - im Einklang mit den Besprechungen im Dezember 1918 - die Beziehungen zum Ausland unterliegen. In allen Bundesstaaten ist die Außenpolitik Sache der Bundesregierung. Der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches sollten jetzt auch das gesamte Verteidigungswesen, die Zölle, der Handel samt dem Bank-, Börsen-, Münz-, Maß- und Gewichtswesen und schließlich fast das gesamte Verkehrswesen, das heißt die bisherigen Staatsbahnen, die Binnenschiffahrt auf den wichtigsten Wasserstraßen, Post und Télégraphié und der gesamte Verkehr mit Automobilen und Flugzeugen unterstellt werden 51. Die weitreichende praktische Bedeutung des Verkehrswesens für die gesamte Innenpolitik hatte Hugo Preuß in den Verhältnissen Berlins kennen gelernt. Da die preußische Hegemonie im Reiche beseitigt werden sollte, fand Hugo Preuß auch keinen Sinn mehr in ihrer Reflexwirkung, den süddeutschen Reservaten in der alten Reichs Verfassung. Sie sollten nunmehr in die Hände des Reiches übergehen52. Neben diesen kräftig ausgedehnten Gebieten eigener und unmittelbarer Reichsverwaltung sollte das Reich auf anderen Gebieten rahmengesetzgeberisch eingreifen können, ohne eine sekundäre Gesetzgebung der Einzelstaaten auszuschließen und ohne die Verwaltung zu übernehmen. Zu den bisherigen Befugnissen sollte das Reich sehr bedeutende neue Zuständigkeiten (§ 4), vor allem den Vortritt im gesamten Steuerwesen53, ein Enteignungsrecht zur Sozialisierung der großen Monopole und die Gesetzgebung für die Bodenpolitik erhalten. Preuß dachte dabei, wie ein Hinweis auf § 28 zeigt, in erster Linie an eine soziale Siedlungspolitik in den ostelbischen Gebieten. Auch für das Kirchen- und Schulwesen wollte er dem Reich die Befugnisse zu einer Rahmengesetzgebung sichern, damit überall die Glaubens- und Gewissensfreiheit des einzelnen garantiert, den Religionsgemeinschaften die selbständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten gesichert sei (§ 19) und jedermann gleichmäßig und nach seiner Befähigung Zugang zu den öffentlichen Schulen (§ 20) erhalte 54. Für die Abschaffung des Bundesrates, dessen Platz das Staatenhaus als zweite Kammer des Reichstages einnehmen sollte, wollte Hugo Preuß die einzelstaatlichen Regierungen wenigstens teilweise entschädigen. Nach einer Empfehlung 51 Heinrich Triepel hielt diese Kompetenzverteilung für zu weitgehend. Nicht ganz zu Unrecht wandte er ein, wenn das Reich so weitgehende Verwaltungsbefugnisse erhalte, müßten Reichsbeamte alle Börsen, den Marktverkehr, sogar den Verkehr mit Automobildroschken überwachen (Schmollers Jahrbuch, 43. Jahrg., 1919, S. 477). 52 Preuß in der Denkschrift vom 3. Januar 1919, a. a. O., S. 380. 53 Auf der Dezember Konferenz war angeregt worden, dem Reich auch die Steuerverwaltung zu geben. So weit wollte Hugo Preuß offenbar jetzt nicht mehr gehen. 54 Erich Kaufmann, zusammen mit Heinrich Triepel einer der Verfasser des Verfassungsentwurfs des Vereins „Recht und Wirtschaft", hielt Preuß' Kompetenzregelung für unvollständig, starr und schematisch. Er vermißte vor allem Bestimmungen über das Beamtenwesen, Personenstandswesen, Pflanzenkrankheiten, Wohnungswesen, Auslieferungswesen, Patentwesen, berufsständische Vertretungen und so weiter. (Kaufmann, Grundfragen der künftigen Reichsverfassung, „Im neuen Deutschland", Nr. 6, 1919, S. 34 f.
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der Dezember-Konferenz räumte er Bevollmächtigten der einzelstaatlichen Regierungen („Reichsräten") eine beratende Funktion bei der Vorbereitung der Gesetzgebung in den Reichsministerien und bei den Beratungen des Reichstags ein (§ 15). Der Name stammte zwar aus dem Entwurf des Siebzehner-Ausschusses von 1848, aber die Reichsräte sollten nicht wie dort eine eigene beschließende Körperschaft bilden. Von großer Bedeutung für den künftigen Charakter des Verhältnisses zwischen dem Reich und den „Freistaaten" - oder wie Hugo Preuß mit einem „organischen" Ausdruck zuweilen sagte, den „Gliedstaaten" - waren die Bestimmungen zur Verschärfung der Reichsaufsicht und einzelne Normativbestimmungen für die innere Verwaltung der Einzelstaaten. Schon in der Sachverständigen-Konferenz hatten Hugo Preuß und Walter Simons eine unmittelbare Dienstaufsicht der Reichsbehörden beansprucht. Nun bestimmte § 8, daß die Landesbehörden bei der Ausführung der Reichsgesetze verpflichtet seien, den Anweisungen der Reichsregierung zu folgen. Die Reichsregierung sollte berechtigt sein, die Ausführung der Reichsgesetze zu überwachen und dazu Beauftragte zu den Landesbehörden zu entsenden, denen jede erwünschte Auskunft gegeben werden müsse. Bei Zuwiderhandlungen sollten die schuldigen Landesbeamten wie Reichsbeamte disziplinarrechtlich bestraft werden. „Man merkt diesen Bestimmungen an, daß der Verfasser des Entwurfs die Ohnmacht beseitigen will, mit der bisher die Reichsbehörden dem preußischen Minister des Innern und jedem preußischen Landrat gegenüberstanden, wenn diese die Reichsgesetze nicht oder doch nur in ihrem Sinne anwenden wollten" 55 . Diese Bestimmungen gingen weit über das bisherige Aufsichtsrecht des Reiches hinaus, das - mit Ausnahmen des Militär-, Eisenbahn- und teilweise auch des Zollwesens - nur eine Oberaufsicht über die einzelstaatlichen Regierungen, nicht aber eine unmittelbare Aufsicht auch über die nachgeordneten Landesbehörden erlaubt hatte. Bisher hatte die Überwachung durch Beauftragte des Reiches bei den Landeszentralbehörden aufhören müssen, und bei der Aufdeckung von Mängeln hatte das Reich nur um ihre Beseitigung ersuchen oder am Ende mit der Reichsexekution drohen können. Das sollte nun mit § 8 geändert werden. Aber man konnte darin auch eine einen Selbstwiderspruch seines Verfassers entdecken56. Preuß hatte jahrelang für die Freiheit der Selbstverwaltung argumentiert und immer wieder verlangt, daß die Selbstverwaltungskörper die ausschließliche Gewalt über ihre Organe erhielten und daß alle staatlichen Aufträge an den Selbstverwaltungskörper als solchen, nicht direkt an seine Organe gegeben werden dürften, damit die Kommunalbeamten bei der Ausführung staatlicher Aufträge nicht auch als „Staatsbeamte" zu betrachten seien, als Diener zweier Herren wären. Auch die Aufsicht hatte Preuß bisher nur im Sinne streng rechtlicher Oberaufsicht gelten lassen wollen. Nach einem Ausdruck der Denkschrift zum Verfassungsentwurf sollten die Einzelstaaten „höchstpotenzierte Selbstverwaltungskörper" sein. Damit waren die Bestimmun55 Karl Rothenbücher, der den Gedankengängen Preuß' nicht allzu fern stand, in der „Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern", 15. Jahrg., 15. Februar 1919, S. 67. 56 Das war Heinrich Triepel, a. a. O., als erstem aufgefallen.
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gen des § 8 nicht zu vereinbaren. Sie hoben die Selbstverwaltung geradezu aus den Angeln. Doch aus Preuß' Reformvorschlägen zur alten Reichsverfassung weiß man, was ihn zur Androhung disziplinarischer Verfolgung gegen zuwiderhandelnde Landesbeamte bewogen hat: die Reichsexekution sei ein so schweres und so scharfes Mittel, um den Reichsgesetzen Geltung zu verschaffen, daß es für die normalen Bedürfnisse der Praxis regelmäßig unbrauchbar sei 57 . Den Zentralbehörden des Reiches sollte eine leichtere, handlichere Waffe gegeben werden. Der Kern des Problems lag aber in der herkömmlichen deutschen Weise, die Kompetenzen zwischen Reich und Ländern nicht nur „vertikal", nach Sachgebieten, sondern auch „horizontal", zwischen Gesetzgebung und Verwaltung, zu teilen. Das amerikanische System, in dem Gesetzgebung und Verwaltung eines Gegenstandes entweder zu den Befugnissen des Bundesstaates oder der Gliedstaaten zählen, vermied eine Schwierigkeit, die in Deutschland mit der Einführung des parlamentarischen Systems besonders deutlich auftrat: daß die Reichsminister dem Reichstag für die Ausführung der Gesetze verantwortlich sein sollten, ohne daß sie - außer auf den Gebieten der unmittelbaren Reichsverwaltung - die Ausführung von Dienstanweisungen garantieren könnten, die sie den Landesbehörden erteilten. Die Verschärfung des Aufsichtsrechts des Reiches sollte die Reichsregierung also mit der Macht ausstatten, die der Grundsatz ihrer Verantwortlichkeit vor dem Parlament voraussetzte58. In dem hier entstehenden Konflikt zwischen den Prinzipien der Selbstverwaltung und der parlamentarischen Verantwortlichkeit entschied sich Preuß für das zweite. Der Widerspruch war unvermeidlich, solange die Gesetzgebung und die Verwaltung desselben Sachgebietes zwischen Reich und Ländern geteilt bleiben sollte. Der Konflikt zwischen Preuß' Verfassungstheorie und der historischen Wirklichkeit, auf die sie angewendet werden mußte, bestimmte den gesamten Charakter der Denkschrift. Im Begriff der „Dezentralisation" kam er besonders zum Ausdruck. Preuß' Wunschbild, der genossenschaftliche Staat, die „communa communarum", war von unten nach oben, aus den kleineren Einheiten zur größeren konstruiert. „Dezentralisation" implizierte die umgekehrte Richtung, vom Zentrum des Ganzen in die Teile. Wollte man Preuß' Formel für die tatsächliche Situation treffender umprägen, müßte man eher von den „communae communae" sprechen, einer Gemeinde, die sich in Teilgemeinden aufgliedert und ihre Kompetenzen dezentralisiert. Man könnte allerdings einwenden, für die strenge juristische Erfassung eines bestimmten Verhältnisses zwischen der Zentralgewalt und den Teilgewalten eines gegliederten Gemeinwesens sei es gleichgültig, wie dieses Verhältnis historisch zustande gekommen ist, ob von unten nach oben oder umgekehrt. Aber für einen Rechtslehrer wie Preuß, der wußte, daß historische Bewegungen Manifestationen des Ringens realer Mächte sind, in denen der Stärkere unfehlbar Sieger 57 Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 316 (Artikel 19); siehe auch S. 302 (Artikel 4). 58 Preuß in der Denkschrift vom 3. Januar 1919, a. a. O., S. 384.
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wird, konnte es nicht gleichgültig sein, wohin der Zug der deutschen Entwicklung ging. Daß die Verhältnisse ihn zwangen, hier im Widerspruch zu seiner Theorie vorzugehen, war ein unvermeidliches Kompromiß mit der Wirklichkeit. Nach Lage der Dinge konnte er nicht erwarten, daß der Eigenwille der Ländern eine einigermaßen befriedigende Reichsverfassung zustande brächte. Preuß brauchte sich bei der Konstruktion der deutschen Verfassung nicht von dem Bild der „communa communarum" trennen - aber für die Rang- und Reihenfolge bei der tatsächlichen Verfassungsarbeit taugte es nicht. In der aktuellem Lage gebührte der Verfassungsordnung des Reiches der Vorrang. Die Normativbestimmungen des § 12 für die innere Verwaltung der Gliedstaaten, die grundsätzlich ihre eigene Sache bleiben sollte, standen nicht im Widerspruch zum Geist der Selbstverwaltung oder, wie später häufig gegen Hugo Preuß argumentiert wurde, des bundesstaatlichen Aufbaus des Reiches. Tatsächlich enthielten die Verfassungen aller maßgebenden Bundesstaaten Rahmengrundsätze für die politsche Ordnung in den Gliedstaaten, verteidigte sich Hugo Preuß vor der Nationalversammlung 59. Paragraph 12 des Entwurfs schrieb den Gliedstaaten demokratische Verfassungen mit einer aus einer Kammer bestehenden Volksvertretung 60 , das Reichstagswahlrecht und die Verantwortlichkeit der Landesregierung vor der Volksvertretung vor, jedoch nicht das parlamentarische System insgesamt. Außerdem wurde den Einzelstaaten die verfassungsmäßige Sicherung des Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden und der Gemeindeverbände sowie eine rechtsstaatliche Beschränkung der staatlichen Aufsicht auf die Gesetzmäßigkeit und Lauterkeit der lokalen Selbstverwaltung und der Finanzgebarung auferlegt. Die Vorschrift, daß jedes bewohnte Grundstuck einer Gemeinde angehören müsse, bezog sich auf die selbständigen Gutsbezirke und die preußische Verwaltungsreform. Außerdem wollte Hugo Preuß - übrigens nach dem Vorbild der Paulskirche (§ 184) - den Gemeinden die Ortspolizeigewalt übergeben und die unmittelbare Anweisungsbefugnis des Staates in kommunalen Polizeisachen beseitigen, die in der Vergangenheit Anlaß zu vielen Konflikten gegeben hatte 61 . 59 Preuß, am 24. Februar 1919, Staat, Recht und Freiheit, S. 400. Die Verfassung der Vereinigten Staaten (Art. 4, Abs. 4), der Paulskirche (§§ 186, 187, 194 und 195), die Schweizer Bundesverfassung (Art. 6), sogar die Wiener Bundesakte (Art. 13) enthalten Normen für die Verfassungen der Gliedstaaten des Bundes. 60
Im Entwurf I vom 3. Januar 1919 gab es die Vorschrift des Einkammersystems noch nicht. Sie wurde erst auf Wunsch der Volksbeauftragten eingearbeitet. „Vielleicht ging diese Bestimmung aus doktrinärer Abneigung gegen das allerdings besonders in Preußen so arg mißbrauchte Zweikammersystem einen Schritt über die unbedingt notwendige Normierung hinaus" (Preuß, Reich und Länder, S. 137). 61 Gierke hatte schon seit langem Polizeibefugnisse für die Kommunen gefordert: „Das Recht und die Pflicht, für das materielle und geistige Wohl ihrer Glieder zu sorgen, findet seinen allgemeinsten Ausdruck in der Polizei. Wie daher dem Staate eine Staatspolizei, so muß der Ortsgemeinde eine Ortspolizei entsprechen, wenn anders ihr die Bedeutung eines Gemeinwesens zukommen soll." Gierke wies dabei auf das gute Beispiel des § 48 der revidierten badischen Gemeindeordnung von 1851 hin (Das deutsche Genossenschaftsrecht I, 1868, 753 f.).
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Aus den Normativbestimmungen schimmerte Hugo Preuß' ganze Hochschätzung der Gemeindefreiheit und Selbstverwaltung hervor. Bestimmungen dieser Art waren aber auch eine notwendige Folgerung aus dem rechtsstaatlich-demokratischen Charakter des Reiches. Es wäre unerträglich gewesen, wenn die Gliedstaaten nach anderen politischen Grundsätzen als das Reich verwaltet würden. Die preußische Wahlrechtsfrage war ein abschreckendes Beispiel gewesen. Daß die Bismarck'sche Verfassung auf solche Normen für die innerpolitische Gewalt der Einzelstaaten verzichtet hatte, hatte Hugo Preuß schon lange bemängelt62. Wie vernünftig solche Bestimmungen sein mochten - sie bezeichneten auch eine neue Sichtweise, die wohl mehr als der Inhalt dieser Bestimmungen selbst die Ursache für den späteren heftigen Widerspruch der Staaten gegen § 12 war. 1871 war das Reich als ein Bund der Fürsten aus den Einzelstaaten heraus gegründet worden. Die „verbündeten Regierungen" im Bundesrat waren der Sitz der Macht in der alten Verfassung gewesen. Nun kehrte Hugo Preuß das Verhältnis um: das Reich stellte den Einzelstaaten Bedingungen für die Mitgliedschaft im Bunde. Dies wurde als Eingriff in die „Verfassungsautonomie" angesehen, sogar als Angriff auf den „staatlichen" Charakter der Einzelstaaten. Dies war für Hugo Preuß keine Frage von Gewicht, wie die Untersuchung seines Staatsgedankens im nächsten Abschnitt zeigen wird. Solche Vorwürfe konnten noch viel heftiger und auch mit mehr Grund gegen § 11 erhoben werden, die Skizze der territorialen Neugliederung des Reiches. Dem deutschen Volke stehe es frei, sagte er in der Denkschrift dazu, neue Freistaaten innerhalb des Reiches zu errichten, und zwar möglichst entsprechend der Stammesart der Bevölkerung und den wirtschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhängen. Jeder neue Staat solle mindestens zwei Millionen Einwohner umfassen. Die Vereinigung mehrerer Gliedstaaten zu einem neuen Freistaat solle zwischen ihnen durch Staatsvertrag geregelt werden, der der Zustimmung der Volksvertretungen und der Reichsregierung bedürfe. Im Falle der Loslösung eines Landesteils aus dem bisherigen Staatsverbande - das bezog sich vor allem auf Preußen - sollte ihr eine Volksabstimmung vorausgehen, die notfalls auch gegen den Willen der Landesregierung von der Reichsregierung angeordnet werden konnte. Damit hatte Hugo Preuß den Einzelstaaten gerade jenes einzige Merkmal ihrer Staatlichkeit aberkannt, das er 1889 übrig gelassen hatte, die Gebietshoheit. Etwas verirrt und ohne inneren Zusammenhang mit den Abschnitten über „Das Reich und die Freistaaten" und den „Reichstag" standen die Grundrechte. Im ersten Entwurf hatte Preuß den drei Bestimmungen, die nun in den Paragraphen 18, 19 und 29 wiederkehrten, überhaupt keinen eigenen Abschnitt zugebilligt; auch im zweiten Entwurf merkte man ihrer vermehrten Zahl immer noch eine gewisse Nachlässigkeit, wenn nicht gar Lieblosigkeit des Verfassers an. Eine deutlichere Darstellung der Grundrechte war erst auf Wunsch der Volksbeauftrag62
Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, 1906, S. 354.
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ten aufgenommen worden, um „die allgemeine geistige Bedeutung der Umwälzung in dieser populären Form dem Volksempfinden näherzubringen" 63. Aber diese Bestimmungen enthielten - abgesehen von § 28 mit den Grundsätzen für eine soziale Bodenpolitik - nur klassisches Gedankengut des Liberalismus. Von sozialistischen Ideen fand sich keine Spur, wie Hugo Preuß auch nirgends in der Verfassung Konzessionen an den Rätegedanken machte, sondern vielmehr, wie in den Normativbestimmungen für demokratische Verfassungen der Einzelstaaten, die Errichtung von Räterepubliken auszuschließen suchte. Der soziale Fortschritt sollte nur innerhalb streng demokratischer Formen möglich sein. Insofern war der Verfassungsentwurf im Unterschied zu seinem Verfasser innenpolitisch „neutral". Schon in der Dezember-Besprechung hatte Hugo Preuß am Beispiel der Paulskirche vor der Gefahr einer verzögerten Fertigstellung des Verfassungswerkes durch eine zu ausführliche Behandlung der Grundrechte gewarnt. Diese Furcht bewegte ihn noch immer, zumal da er wußte, daß solche Bestimmungen nie vollständig sein können und deshalb stets das Bedürfnis nach weiteren Bestimmungen schaffen, die er viel lieber der Spezialgesetzgebung überlassen wollte. Er fürchtete nicht zu Unrecht, wie die Debatten im Verfassungsausschuß später zeigten, daß sich die politischen Gesinnungen über Prinzipien der Schul-, Kirchen- und Wirtschaftspolitik erhitzen und das Parlament aufspalten würden, obwohl oder gerade weil die praktische Ausführung noch gar nicht erörtert werden konnte 64 . Hugo Preuß war gewiß kein gesinnungsloser Politiker, aber er wünschte vor allem, daß sich die Parteien im Parlament über die jeweils vier oder fünf nächsten Schritte der praktischen Politik verständigten statt nutzlose und gefährliche Gesinnungs- und Grundsatzdebatten über ihre allerletzten Weltanschauungen zu führen. Anders als Friedrich Naumann, der jn den Grundrechten eine Art Staatsprogramm proklamieren wollte 65 , zweifelte der nüchterne Preuß am Wert solcher Bestimmungen und fragte sich, ob nicht „die verfassungsgeschichtliche und politische Bedeutung von Grundrechten überhaupt gegen die Zeit ihrer ursprünglichen Entstehung stark abgenommen hat" 66 . Lediglich im Hinblick auf die Polenpolitik Preußens hat er sich für den Schutz der fremdsprachlichen Minderheiten wirklich ereifern können67. Minderheitenschutz war ihm ein dringendes Bedürfnis praktischer Humanität und Billigkeit, von der er sich nichts abhandeln lassen wollte, auch dann nicht, wenn die polnische Regierung sich nicht zu einer ähnlich großzügigen Handlungsweise 63
Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung. 2. Aufl. 1923, S. 91. Vgl. die Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses, u. a. am 31. März, S. 184 f., ferner Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung, 2. Auflage 1923, S. 90 und Preuß, in der Zeitschrift für Politik, Band XIII, 1923, S. 99. 65 Theodor Heuß, Naumann, S. 612 ff. 66 Preuß im Verfassungsausschuß, Berichte und Protokolle, 31. März 1919, S. 184. 67 Entsprechende Bestimmungen hatte er schon in seinem Reformplan zur alten Reichsverfassung (Art. 3, a. a. O., S. 301), auf der Dezember-Konferenz 1918 und in seinem ersten Verfassungsentwurf vom 3. Januar 1919 vorgeschlagen. 64
7. Der Staatsbegriff des Verfassungsentwurfs
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gegenüber der deutschen Minderheit in Polen entschließen würde 68 . Im übrigen aber offenbarte dies recht deutlich, worin sich Hugo Preuß' ausgeprägtes rechtsstaatliches Bewußtsein am liebsten niederschlug: in Bestimmungen von unmittelbar praktischer Bedeutung, nicht in programmatischen Grundrechtserklärungen. Besondere Aufmerksamkeit verwandte er darum auf Bestimmungen über die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit (§§ 9, 10 und 13), die Staatsanklage des Reichspräsidenten und der Minister (§ 73), die Immunitätsrechte des Reichstags (§§ 53-56), das Enquete-Recht des Parlaments (§ 52), das er als Mittel zum Schutz der politischen Minderheit auch den Landtagen und Vertretungskörperschaften der Kommunalverbände zukommen lassen wollte (§ 12, Abs. 4), die Übertragung der Wahlprüfung vom Parlament auf ein unparteiisches Wahlprüfungsgericht 69 und ganz besonders auf die Erschwerung der Verfassungsänderung durch die Vorschrift übereinstimmender Zwei-Drittel-Mehrheiten in beiden Häusern des Reichstags und nach einer Übergangszeit von fünf Jahren durch das weitere Hindernis einer Volksabstimmung (§ 51). „Je höher ein Volk das Grundgesetz seines politischen Gemeinlebens, auf dem die regelmäßige Ordnung aller politischen Gewalten ruht, schätzt und achtet, desto mehr wird es geneigt sein, die Verfassungsgesetzgebung organisatorisch von der gewöhnlichen Gesetzgebung abzuheben," bemerkte er dazu in der Denkschrift.
7. Der Staatsbegriff des Verfassungsentwurfs Der Staatsrechtslehrer Hugo Preuß überließ es nicht, wie seinerzeit Bismarck, der Wissenschaft, aus dem Inhalt der Rechtssätze die leitenden Rechtsgedanken der Verfassung herauszuschälen. Nach dem Vorbild der meisten demokratischen Verfassungen verkündete er am Anfang des Entwurfs - wenn auch nicht in einer förmlichen Präambel - ihren Grundsatz: „Alle Staatsgewalt liegt beim deutschen Volke. Sie wird in Reichsangelegenheiten durch die auf Grund der Reichsverfassung bestehenden Organe ausgeübt, in den Landesangelegenheiten durch die deutschen Freistaaten nach Maßgabe ihrer Landesverfassungen. Das Reich erkennt das geltende Völkerrecht als bindenden Bestandteil seines eigenen Rechtes an." (§ 2). Betrachten wir diese drei Aussagen nacheinander. 68 Hugo Preuß plädierte vor der Nationalversammlung (am 24. Februar 1919, Staat, Recht und Freiheit, S. 419) und besonders im Verfassungsausschuß (Berichte und Protokolle, 28. März 1919, S. 375 f.) mit Eifer für den Schutz der fremdsprachlichen Minderheiten, mit dem man, ohne auf Reziprozität der polnischen Politik zu bestehen, moralische Eroberungen machen solle. 69 Hugo Preuß dachte hier wie schon 1917 in den Reform Vorschlägen zur Reichs Verfassung (Artikel 27) an das Vorbild des englischen Parlaments, das auf das Recht der Wahlprüfüng verzichtet, „ . . . denn die Wahlprüfung ist zweifellos ein Akt der Rechtsprechung, und eine politische Körperschaft ist an sich zu einem solchen A k t . . . wenig geeignet" (Preuß, in der 2. Lesung der Verfassung, Sten. Ber., 46. Sitzung, 4. Juli 1919, S. 1285 f.), ähnlich auch im Verfassungsausschuß (Berichte und Protokolle, 7. April 1919, S. 258).
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(1) Die deutsche Republik war also keine Vereinigung, kein auf vertraglichen Abmachungen ruhender Bund deutscher Staaten mehr, sondern der eine deutsche Staat, die politische Organisation des einheitlichen deutschen Staats Volkes. Mit dem inhaltsreichen ersten Satz dieser Erklärung meinte Hugo Preuß nicht, wie ein naheliegender Gedanke zu erlauben schien, die Volkssouveränität 70; das Prinzip der Souveränität hatte Hugo Preuß von Anfang an verneint, ohne Unterschied, ob die Fürsten oder das Volk souverän sein sollten 71 . In dem postum herausgegebenen Fragment „Reich und Länder", einem Kommentar zur Weimarer Verfassung, erläuterte Hugo Preuß selbst den ersten Satz des Paragraphen 2, der in ähnlicher Form in die endgültige Verfassung überging. Es waren Gedanken von ganz eigentümlichem Reiz. Wenn die Staatslehre den Gedanken der Souveränität anerkenne, argumentierte er, müsse sie immer wieder nach ihrem höchsten und eigentlichen Träger suchen und durch eine solche Aufhebung der Rechtsschranken das Prinzip des Verfassungsstaates zersetzen. Der Satz, die Staatsgewalt geht vom Volke aus, hieß für Preuß nicht, daß das Volk Inhaber des Staates, sondern lediglich, daß es das „einzig primäre Staatsorgan" sei 72 , das die anderen, sekundären Staatsorgane, den Reichstag und den Reichspräsidenten, zu seinen Repräsentanten bestelle73. Preuß wollte hier hier eine scharfe Unterscheidung beachtet wissen zwischen einem Inhaber der Staatsgewalt, oder wie die Staatslehre zu sagen pflegte, dem Träger der Souveränität, und dem „primären Staatsorgan". Weder das Volk noch den Reichstag hielt Preuß für den Repräsentanten des „Trägers der Reichsgewalt", den es nach dieser Lehre überhaupt nicht gibt. Das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgeht, erschien ihm nicht ein unbestimmter ethnischer oder sozialer Begriff, sondern die erst von der Verfassungsgesetzgebung rechtlich bestimmte Gesamtheit der stimm- und wahlberechtigten Bürger, dessen Zuständigkeiten auf Wahlen und Volksabstimmungen beschränkt sind. Wenn das Volk aber nicht Inhaber der Staatsgewalt ist, kann es die Staatsgewalt auch nicht anderen Organen zur Ausübung übertragen 74. Die Zuständigkeiten der anderen höchsten Organe sind also nicht vom Volke, „sondern sämtlich unmittelbar aus der 70
Dies lasen Karl Rothenbücher (Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern, 15. Jahrg., 15. Februar 1919, S. 65) und Wilhelm Ziegler (a. a. O., S. 163) heraus. Später interpretierten auch Anschütz, Poetzsch und Giese einen entsprechenden Satz der Weimarer Verfassung als Volkssouveränität. Preuß wandte sich (Reich und Länder, S. 237) gegen eine solche Auffassung. 71 Das schon in der Habilitationsschrift erkennbare Mißtrauen Preuß' gegen die Volkssouveränität klang auch aus dem Artikel „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?" unmittelbar nach der Revolution heraus: „ . . . mehr als je vorher, ist im Augenblick das Volk in seiner Gesamtheit lediglich Objekt einer Regierung, die ihm durch unerforschliche Ratschläge gesetzt wird, nur daß sich diese nicht auf ein Gottesgnadentum berufen, sondern auf eine ebenso unfaßliche Volksgnade." (Staat, Recht und Freiheit, S. 365). 72 Preuß, Reich und Länder, S. 51. Ähnlich hatte auch Georg Jellinek, auf Gierkes Verbandstheorie aufbauend, gesagt, das Volk sei nur primäres Organ des Rechtssubjektes Staat (Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Neudruck 1922, S. 546, 555 ff. und 593 f.). 73 Preuß, Reich und Länder, S. 238. 74 Preuß, a. a. O., S. 51.
7. Der Staatsbegriff des Verfassungsentwurfs
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Verfassung" abgeleitet75. Preuß zeigte hier, daß die Staatsgewalt nicht in einem einzigen Träger nach Vorbildern der absolutistischen Gedankenwelt gesucht werden dürfe, sondern daß Rechte und rechtliche Gewalten erst durch die Abgrenzung verschiedener Rechtssubjekte selbst, also aus der Verfassung entstehen. „Die Tatsache, daß der Begriff des Volkes rechtlich erst durch eine Verfassung bestimmt wird, die sich das Volk selbst gegeben hat, läuft nicht auf die Mystik einer generatio aequivoca hinaus, erklärt sich vielmehr aus der für das Verhältnis von Recht und Staat überhaupt grundlegenden Korrelation von Rechtserzeugung und Organisation" 76 , jener Wechselbeziehung, die er schon am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn dargestellt hatte 77 und die ohne die Vorstellung des genossenschaftlichen Aufbaus des Staates undenkbar ist. Dieser Gedankengang führt nicht zur Annahme einer Souveränität des Volkes, sondern eher der Souveränität der Verfassung, wenn Hugo Preuß den Begriff der Souveränität überhaupt gelten lassen wollte. Obwohl dem Reichstag nicht die absolute Stellung des Repräsentanten eines „Trägers der Souveränität" oder Inhabers der gesamten Staatsgewalt zukam, so doch die relativ stärkste Stellung unter den höchsten sekundären Organen des Reiches. Er sollte das hauptsächliche Organ der Reichsgesetzgebung und der Regierungsbildung sein. Aber den Gedanken der „Volksvertretung", der mit diesem Organ verknüpft war, wollte Hugo Preuß nur in einem besonderen Sinn verstanden wissen. Der Reichstag war nicht als eine Versammlung der Delegierten der Wahlkreise oder Wählergruppen organisiert, und mit „Volksvertretung" konnte keine individualrechtliche „Stellvertretung" gemeint sein. Hugo Preuß wußte zwar, daß der Gedanke ständisch-parlamentarischer Vertretung historisch von der durch Wahlauftrag oder Instruktion der Wähler gebundenen Stellvertretung ausgegangen war, aber auch, daß er in England schon im 16. Jahrhundert vor allem aus praktischen Notwendigkeiten durch den Gedanken der freien parlamentarischen Repräsentation allmählich überwunden worden war 78 . (Am bündigsten formulierte Edmund Burke (1729-1797) das Prinzip des freien Mandates in seinem berühmten Brief an die Wähler von Bristol.) Die Aufgabe des Reichstages wie aller demokratischen Parlamente im Unterschied zum Ständewesen, sah Preuß in der Repräsentation der Gesamtheit der Volksgenossen: „Die öffentliche Meinung oder den , Volks willen 4 rechtlich zu organisieren, das ist das Ziel, das die staatsrechtlichen Institutionen der modernen Demokratie in mannigfachen Formen anstreben" 79. So verstand Hugo Preuß den Reichstag als Organisation der „öffentlichen Meinung". Er wußte wohl, daß dies nur unvollkommen gelingen konnte; Nichtstimmberechtigte, Lebende und Tote, konnten von größerem Einfluß auf die Bildung der öffent75 76 77 78 79
Preuß, a. a. O., S. 246. Preuß, a.a.O., S. 51. Siehe dazu oben I., S. 28 f. Preuß, Reich und Länder, S. 261 f. Preuß, a. a. O., S. 244.
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liehen Meinung sein als viele lebende Stimmberechtigte. Und niemals waren alle Stimmberechtigten von gleichen Einfluß auf die öffentliche Meinung. „Die Rechtsordnung besitzt aber im heutigen Entwicklungsstadium kein Mittel, diese tatsächlichen Einflüsse ... nach einem objektiven Maßstabe zu werten und demgemäß in der rechtlichen Organisation zur Geltung zu bringen" 80 . Die dadurch bedingten Fehlergrenzen konnten sich durch Repräsentation in einer Volksvertretung potenzieren. Um sie wieder einzuengen, sah die Verfassung besondere Einrichtungen vor, die Volksabstimmung und die Funktionen des Reichspräsidenten, der einem Konflikt zwischen Volksmeinung und Volksvertretung entgegenwirken sollte 81 . Den Reichstag selbst betrachtete Preuß vor allem als „öffentliche Meinung" und als Exponenten des Volkswillens, als eine Institution, die selbständig, ohne Wahlaufträge oder Instruktionen, reagieren sollte, im besten Falle wie die Volksmeinung selbst. Der Reichstag sollte deshalb den Kräften der öffentlichen Meinung möglichst genau nachgebildet sein, um auch feinere Bewegungen und Unterschiede noch repräsentieren zu können. Diesem Zwecke schien das Verhältniswahlrecht am besten dienen zu können. Dagegegen nahm sich das Mehrheitswahlrecht, meinte er, als „grobschlächtig" und „primitiv" aus. Übersehen wurde dabei, daß das Parlament neben seiner Aufgabe, der Volksmeinung Gehör zu verschaffen und Gesetze zu beschließen, auch eine Regierung hervorbringen und in der Regel im Amt zu halten hat. Dafür bedarf es eines Wahlsystems, das das Zustandekommen regiernungsfähiger Mehrheiten begünstigt, in dem es die Bündelung von Meinungen prämiert und Zersplitterung bestraft. Das Funktionieren der Verfassung hing in jedem Fall von der Reife der öffentlichen Meinung, der politischen Reife der Wählerschaft insgesamt, namentlich der Verarbeitung des verlorenen Krieges und seiner Ursachen, auch der konstitutionellen Mängel des alten Regimes ab. Die Vermutung ist nicht unbegründet, daß es die Parteien der demokratischen Mitte mit dem Mehrheitswahlrecht leichter gehabt hätten, stabile Regierungen zu bilden und gegen die Angriffe der äußersten Rechten und Linken im Amt zu halten. Unter den Bedingungen des Proporzwahlrechts war es jedenfalls schwieriger. Preuß hat diese Bedeu80 Preuß, a. a. O., S. 245. Hier verdient ein anderer interessanter Gedanke Preuß' angemerkt zu worden. Trotz oder gerade wegen der tatsächlichen Ungleichheiten unter den Bürgern hatte er die politische Gleichberechtigung verlangt und als Grundrecht seiner Verfassung eingefügt (§ 18). Die Grundlage der Demokratie sah er im Gegensatz zu Jellinek und Kelsen nicht in der Fiktion der Gleichheit oder Gleichartigkeit der Individuen, sondern in der politischen Gleichberechtigung. Bei der fortschreitenden Differenzierung der einzelnen durch fortschreitende Integrierung der Stände, Klassen, Geschlechtsunterschiede (Frauenstimmrecht) würde das Recht immer mehr jeden einzelnen bis ins Innerste prüfen müssen, um wirklich Gleichen Gleiches und Ungleichen Ungleiches zuzuteilen - eine Aufgabe, die das Recht nicht erfüllen könne. Gerade also die Vielfalt der Ungleichkeit erfordere die politische Gleichberechtigung, damit die politisch Höherwertigen über alle hinderlichen Vorrechte der Geburt, des Besitzes, der Klassenzugehörigkeit etc. hinweg für die staatlichen Organstellungen ausgelesen werden können (Reich und Länder, S. 39 ff.). 81 „Die Gesamtheit der einschlägigen Verfassungsbestimmungen ist darauf angelegt, die immer mögliche Differenz zwischen der tatsächlichen Volksmeinung und ihrer rechtlichen Organisation in der Volksvertretung in möglichst engen Grenzen zu halten und immer wieder abzugleichen". (Preuß, Reich und Länder, S. 266).
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tung des Wahlrechts offensichtlich verkannt. Er wußte, daß die politische Urteilskraft im Volke erst schwach entwickelt war. Er wußte aber auch, daß politisches Denken nicht gelehrt werden kann, sondern daß das Volk die Fähigkeit dazu nur in der Erfahrung des politischen Handelns selbst entwickeln kann. Ob das „politisch unmündige Volk" diesen Entwicklungsprozeß rasch genug durchlaufen werde, war das große Wagnis, dem man nicht entrinnen konnte. (2) Derselbe Verfassungsparagraph 2, vor allem sein zweiter Satz, enthält einen Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Reich und den Einzelstaaten: Die Staatsgewalt des deutschen Volkes, so hieß es in Preuß' Entwurf, „wird in den Reichsangelegenheiten durch die auf Grund der Reichsverfassung bestehenden Organe ausgeübt, in den Landesangelegenheiten durch die deutschen Freistaaten nach Maßgabe ihrer Landesverfassungen." Es gibt demnach nur die eine Staatsgewalt des deutschen Volkes, zu deren Ausübung sich das deutsche Volk eine zweifache Organisation schafft, die der Reichsorgane und die der Organe der Einzelstaaten. Die Staatsgewalt der Einzelstaaten liegt nicht bei einem besonderen Staatsvolke des betreffenden Einzelstaates, sondern einfach der Gesamtheit der darin lebenden Bürger. Ebenso leitet sich die Reichsgewalt nicht länger von den Einzelstaaten, auch nicht ihrer Gesamtheit, mehr her, wie eine verbreitete Anschauung dies für das bisherige Staatsrecht behauptet hatte. Vielmehr beruht das Dasein des Reiches ebenso wie das Dasein der Einzelstaaten auf dem Willen des gesamten deutschen Volkes 82 . In einem Zeitungsartikel zur Verabschiedung der Weimarer Verfassung schilderte Hugo Preuß den staatsrechtlichen Wandel zwischen der alten und der neuen Verfassung und beschrieb das neue Verhältnis zwischen Reich und Ländern dabei mit folgenden Worten: „An der Spitze steht die Einheit des deutschen Volkes. Aus dem Willen des einheitlichen deutschen Volkes geht diese Verfassung hervor. Und die Länder, die Staaten, die Einzelstaaten heißen, sind nur die Gliederungen, die mit weitgehender Selbstverwaltung ausgestatteten Gliederungen des einheitlichen deutschen Staatsvolkes"83. Die Länder existierten also weiterhin nur, weil die Verfassung es so wollte, nicht aus eigener Machtvollkommenheit. Vom Boden einer solchen Auffassung aus war es keine Frage, daß das deutsche Volk als Gesamtheit berechtigt war, in die Reichsverfassung Rahmenbestimmungen für die territoriale und die innere Gestalt seiner Gliedstaaten und Kommunen aufzustellen. Waren die Einzelstaaten dann noch wesentlich Staaten oder hießen sie nur so, wie Preuß hier angedeutet hatte? Jedenfalls waren sie keine Staaten mehr in dem Sinne, daß sie ihre Bürger nach außen hätten mediatisieren können. Der einzelne Deutsche war als solcher in derselben Weise Angehöriger eines Einzelstaates wie er Bürger einer Gemeinde war. Es gab deshalb in Preuß' Entwurf 82 Karl Rothenbücher (a. a. O.) zog diesen Schluß aus einer Analyse des § 2. Dem stimmte im wesentlichen auch Heinrich Triepel mit der Bemerkung zu, daß die einzelstaatlichen Organe im letzten Grunde vom deutschen Volke allein die Staatsgewalt ableiten (Schmollers Jahrbuch, 43. Jahrgang, 1919, S. 476). 83 Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 424.
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auch kein einzelstaatliches Staatsangehörigkeitsrecht mehr, das politisch etwas bedeutet hätte (§ 17). Auch ein anderes Element, das nach Preuß' ursprünglicher Auffassung den spezifisch staatlichen Charakter der Einzelstaaten im Unterschied zu bloßen Selbstverwaltungskörpern hätte konstituieren können, die Gebietshoheit, war durch § 11 entfallen. Seine ältere Ansicht über die Gebietshoheit hatte Hugo Preuß längst aufgegeben 84. Wie Poetzsch verwarf er auch alle Versuche, den Ländern eine besondere staatliche Gewalt über ihre Angehörigen und über die Gemeinden zuzuerkennen, die den kommunalen Gemeinwesen abgehe. Der Ursprung aller Staatsgewalt liege immer im Gemeinwillen der Gemeindegenossen, in Reich, im „Staat" und in der Gemeinde. Es handele sich grundsätzlich immer um die gleiche Gewalt 85 . Glichen einerseits die Gemeinden und Gemeinde verbände darin den „Staaten", so wollte Hugo Preuß andererseits den deutschen Freistaaten auch nur die Funktionen „höchstpotenzierter Selbstverwaltung" geben. Sie sollten Staaten heißen, aber der Name, so konnte man erkennen, schaffte keinen begrifflichen Unterschied zu den Kommunalverbänden 86. Damit wurde für Hugo Preuß die alte Streitfrage Unitarismus-Föderalismus irrelevant. Sie vereinfachte sich durch diesen Kunstgriff zu dem Problem der Zentralisation oder der Dezentralisation der Kompetenzen87. Wenn die Einzelstaaten nicht Staaten im Vollsinne waren, gab es in Wirklichkeit auch nicht einen aus Staaten zusammengefügten deutschen Bundesstaat. Alle Bemühungen, die „Staatlichkeit" der Einzelstaaten als entscheidenden Unterschied zu den kommunalen Verbänden herauszustellen, erschien in diesem Licht bloß noch als Prestigebedürfnis im Lager der „Föderalisten". Die entscheidende Aussage des Fragments „Reich und Länder" in der Weimarer Reichsverfassung und implizit auch des ersten Abschnitts seines eigenen Verfassungsentwurfs erblickte Hugo Preuß allein in der Fixierung eines 84 In dem nach Preuß' Tod veröffentlichten, aber schon 1921 und 1922 abgefaßten Fragment „Reich und Länder" erwähnte er sein früheres Bemühen, einen staatsrechtlichen Unterschied zwischen den Staaten eines Bundesstaates und den sich selbst verwaltenden Provinzen eines Einheitsstaates zu finden: er habe sich „aber schon seit langer Zeit von der Unhaltbarkeit auch dieses Rettungsversuches überzeugen müssen" (S. 64). Preuß griff nun sogar den Gedanken der Gebietshoheit ganz an. Die politischen Gemeinwesen seien alle Gebietskörperschaften, sie haben nicht Gebiet, sondern sie sind Gebiet. Als solche können sie nicht zu ihrem Gebiet ein Subjekt-Objekt-Verhältnis einnehmen und eine besondere Herrschaft an ihrem Gebiet haben, die Gebietshoheit. Das gelte für alle Gebietskörperschaften, es gebe darin keinen Unterschied zwischen Reich, Ländern und Gemeinden (S. 61). ss Preuß, a. a. O., S. 54 f., ähnlich auch S. 100. 86
Für Preuß' Einstellung ist eine Einzelheit aus der Entstehungsgeschichte des Verfassungsentwurfs bezeichnend. In Alfred Schulzes Ur-Entwurf vom Dezember 1918 hatte es zwischen den späteren §§ 10 und 11 die folgende Bestimmung gegeben: „Die Gliedstaaten des Reiches sind als deutsche Freistaaten selbständige Staaten, soweit sie nicht durch die Reichsverfassung oder spätere Verfassungsgesetze des Reiches beschränkt sind. Sie haben alle staatlichen Hoheitsrechte, die nicht der Reichsgewalt übertragen sind." Diese Bestimmung strich Hugo Preuß ersatzlos. (Verfassungsakten des Reichsamtes des Innern, a. a. O., Band 16807). 87 Ähnlich auch Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität, 1920, S. 287.
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bestimmten Grades an Dezentralisation zwischen den zentralen Organen des Reiches und denen seiner Gliederung, den größeren und kleineren Selbstverwaltungskörpern 88. Wie weit diese Kompetenzen im Einzelnen dezentralisiert würden, war für ihn allein eine praktische Frage. „Lebensnotwendig ist uns das Reich als nationale Einheit und die Gemeinde als die Grundlage des Gemeinlebens; die Organisation der Zwischenstufen ist eine Frage der Zweckmäßigkeit für das Wohl der nationalen Gesamtheit", Schloß Hugo Preuß seinen Kommentar zum Artikel 18, dem Neugliederungsartikel der Weimarer Verfassung 89. Mochte man die äußeren Formen und Namen des Bundesstaates beibehalten, die auch Preuß in seinem Entwurf gebrauchte - das Wesen dieses Bundesstaates fiel am Ende mit dem alten von Treitschke übernommenen Ideal eines dezentralisierten Unitarismus zusammen, dem nationalen Einheitsstaat und der Selbstverwaltung starker Provinzen. „Föderalismus" und „Unitarismus" bezeichneten dann nicht mehr zweierlei, sondern nur noch Variabein des Gewichtsverhältnisses und Tendenzen der Machtverteilung auf den drei Ebenen desselben Staatsverbandes. (3) Der dritte Satz des Paragraph 2 vollendete den Umriß einer Theorie des neuen Staates. Auf den ersten Blick schien es an dieser Stelle etwas zufällig zu heißen: „Das Reich erkennt das geltende Völkerrecht als bindenden Bestandteil seines eigenen Rechts an." Vor dem Verfassungsausschuß der Nationalversammlung erläuterte Hugo Preuß, was mit einer ähnlichen Bestimmung des umgearbeiteten Entwurfs gemeint war: „daß die neue Politik des Deutschen Reiches sich zum Völkerrecht nicht so verhalten will, wie sich Deutschland auf den Haager Konferenzen, insbesondere auf der ersten, verhalten hat" 90 . Nach der herrschenden Auffassung band das Völkerrecht nur die Staaten, nicht unmittelbar ihre Organe und Bürger. Hugo Preuß bezweifelte, ob dies wirklich haltbar sei, da in jedem Falle mit dem Staat mindestens eines seiner Organe unmittelbar verpflichtet sei 91 . Jener Satz der Verfassung sollte die alte Streitfrage unzweideutig im Sinne eines Fortschritts des Völkerrechts entscheiden. Die Bestimmung erhob das bislang nur als zwischenstaatliches Recht anerkannte Völkerrecht zum innerstaatlichen Recht. Die amerikanische Verfassung war auf diesem Weg schon lange vorausgegangen (Art. 6, Abs. 2). Dies hieß aber am Ende, daß das Reich seine Angehörigen gegenüber der umfassenderen Gemeinschaft der Völker nicht mehr rechtlich mediatisieren konnte. Auch das Reich war also nicht „souverän" in dem absoluten Sinn, den der Begriff der Souveränität impliziert. Damit erscheint nun der ganze Paragraph 2 als ein einziges große Argument gegen die Souveränitätslehre, im ersten Satz gegen die Fürsten- wie die Volkssouveränität, im zweiten gegen die Ansprüche der Gliedstaaten auf staatliche Hoheit gegenüber dem Reich und den Gemeinden und im letzten Satz gegen die Verabsolutierung des deutschen Staates gegenüber der Volse Preuß, a. a. O., S. 28 f. 89 Preuß, a. a. O., S. 235. 90 Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses, 6. März 1919, S. 32. 91 Preuß, Reich und Länder, S. 92 f.
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kergemeinschaft. Preuß widersprach damit dem von Hegels Staatsdenken beeinflußten Teil der deutschen Geschichtsschreibung und zugleich auch dem Positivismus innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft, die den Staat zur einzigen Quelle des Rechts erhoben hatte. In diesen Gedanken Preuß' steckte der Keim zu einer weiteren Frage, die er selbst nicht mehr aussprach: War das Reich noch ein „Staat"? Da es der Volkerrechtsgemeinschaft in einer ähnlichen, wenn auch nicht ganz so intensiven Beziehung gegenüberstand wie die Einzelstaaten gegenüber dem Reich und die Gemeinden und Gemeindeverbände gegenüber den Einzelstaaten, darf man die Annahme wagen, daß Hugo Preuß auch den Staat nur als etwas Relatives ansah. „Staat" war bei Preuß vor allem ein Name geworden, vornehmlich für das nationale Gemeinwesen als einen Verband unter vielen anderen in aufsteigender Pyramide gegliederten und einander wesensgleichen genossenschaftlichen Verbänden. Der Unterschied zwischen ihnen war nicht qualitativ, sondern bestand allein in der Quantität der Teilhabe an der dem Gemeinwillen entspringenden Staatsgewalt, oder allgemein, der öffentlich-rechtlichen Gewalt. Hugo Preuß' Staatsbegriff, wie er sich im § 2, der eigentlichen Präambel seiner Verfassung, abzeichnete, anerkannte den „Staat" als Bezeichnung einer bestimmte Stufe in der Pyramide der Verbände öffentlich-rechtlicher Satzungsbefugnis. Seine rechtsstaatlich-genossenschaftliche Anschauung tendierte dazu, den Begriff „Staat" zu öffnen und sein Wesen auf eine rechtsetzende Genossenschaft unter anderen Genossenschaften zu reduzieren. Der alte, hermetisch geschlossene „Staat" mit dem Anspruch der Einzigartigkeit erschien allmählich als rechtlich so illegal wie die Souveränität selbst. Auf solchen Wegen näherte sich Hugo Preuß dem Wendepunkt einer historischen Epoche. Die moderne Idee des Staates, die sich seit dem späten Mittelalter ausgebildet und den Aufstieg, die Entwicklung und die Wandlungen der europäischen Staatenwelt durch die ganze Neuzeit hindurch begleitet hatte und dabei wie diese Staaten selbst Geschichte erfahren und sich fortwährend gewandelt hatte, ging hier zu Ende, und zwar in demselben Augenblick, in dem die kontinentaleuropäische Staatenwelt scheiterte und die Neuzeit als historische Epoche erlosch. Hugo Preuß stand an diesem Übergang und erlebte dieses Zu-Ende-Gehen mit. Sein Staatsdenken wies schon in seinen Anfängen unmittelbar in ein Zeitalter, dessen politische Gestalt mehr und mehr von Ideen überstaatlicher Rechtsorganisation und fortschreitender kontinentaler, sogar universaler Integration bezeichnet zu werden scheint. Hugo Preuß hoffte am Ende des Weltkrieges, daß die Völkergenossenschaft, die Völkerrechtsgemeinschaft, sich in einem auf der Freiheit und Gleichberechtigung aller ihrer Glieder ruhenden Volkerbund vollenden werde 92. Der Ge92
Preuß vor der Nationalversammlung am 24. Februar 1919 (Staat, Recht und Freiheit, S. 400). Auch in seiner Rektoratsrede über „Nationalen Gegensatz und internationale Gemeinschaft", wenige Wochen vor dem Ende des Krieges, hatte Hugo Preuß gegen den trennenden Nationalismus und für einen Bund der Völker gesprochen, der aber nur auf der Grundlage der Freiheit und Gleichberechtigung aller Glieder errichtet werden könne (Staat, Recht und Freiheit, S. 360).
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danke dieser weltweiten Friedensgemeinschaft wurzelte tief in der Geschichte des humanitären Liberalismus, dem Hugo Preuß anhing, und zeigte zugleich weit in die Zukunft.
8. Wirkungen auf die spätere Rechtslehre Eine Generation später, im Jahre 1948, trat nach dem neuerlichen, bis an den Rand des Untergangs führenden Zusammenbruch eine neue verfassunggebende Versammlung, wenn auch nur für einen Teil Deutschlands, zusammen. Ihr Werk, das Bonner Grundgesetz, enthielt namentlich in den Bestimmungen, die sich auf die Souveränität bezogen, Gedanken, die manches mit den Auffassungen Hugo Preuß' gemeinsam hatten. Es ginge zu weit, von einer nachweislich unmittelbaren Verbindung zwischen Hugo Preuß und dem Artikel 25 des Bonner Grundgesetzes oder ähnlichen Bestimmungen der vor dem Grundgesetz entstandenen Länderverfassungen zu sprechen. Dennoch vernimmt man in der Entstehungsgeschichte des Artikels 25 Argumente, die die Nähe zu Hugo Preuß verraten. Das gilt besonders, wenn auch nicht allein, für den sozialdemokratischen Abgeordneten Carlo Schmid, der sich eifrig darum bemühte, den Primat des Völkerrechts vor dem inneren deutschen Recht zu sichern, und zwar eindeutiger, als dies der Artikel 4 der Weimarer Verfassung als Nachfolger des Paragraphen 2 des Preuß'sehen Entwurfs getan hatte. In der Bonner Verfassung ist nicht mehr bloß von den „allgemein anerkannten" Regeln des Völkerrechts die Rede, sondern vom Völkerrecht schlechthin, das dem Bundesrecht, nicht etwa bloß den Bundesgesetzen, vorgehe; das bedeutet, daß das Völkerrecht selbst über dem Verfassungsrecht steht, daß also das unmittelbar in Bundesrecht transformierte Völkerrecht nicht einmal mehr durch eine formelle Verfassungsänderung wieder von seinem bevorrechtigten Platz verstoßen werden kann 93 . „Unser Grundgesetz," sagte Carlo Schmid am 6. Mai 1949 in einer Rede vor dem Parlamentarischen Rat, „verzichtet darauf, die Souveränität des Staates wie einen ,Rocher de bronze' zu stabilisieren, es macht im Gegenteil" - und damit wies er auch auf Artikel 24 hin - „die Abtretung von Hoheitsbefugnissen an internationale Organe leichter als irgendeine andere Verfassung in der Welt; es macht die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu Bestandteilen des Bundesrechts und sieht darüber hinaus in der umfassendsten Weise den Anschluß Deutschlands an ein System internationaler Schiedsgerichtsbarkeit und kollektiver Sicherheit vor. Mit der Annahme dieser Bestimmungen wird unser Volk zeigen, daß es entschlossen ist, mit einer europäischen Tradition zu brechen, die in der ungehemmten Entfaltung der Macht des Nationalstaates den eigentlichen Beweger der Geschichte und ihren letzten Sinn sah." Freilich, die Souveränität dauert als Begriff der Staatslehre fort, trotz den Versuchen Preuß' oder eines aus dem streng positivistisch-rechtsstaatlichen Lager 93
Eberhard Menzel im „Bonner Kommentar, Hamburg, 1950.
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kommenden Mannes wie Hans Kelsen 94 , die Souveränität völlig zu beseitigen, oder, wie bei Hugo Krabbe 95 , die Souveränität des Staates in die Souveränität des Rechtes umzuformen (S. 10) und so den Rechtsstaat und die unbedingte Herrschaft des Volkerrechts über dem nationalen Recht zu verwirklichen (S. 272 f.). Doch diese Stimmen blieben in der Minderheit. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Staatsrechtslehrer zwischen den beiden Kriegen setzte den von Laband und Georg Jellinek vorgezeichneten Weg fort. Der maßgebende Staatstheoretiker des Dritten Reiches, Carl Schmitt, identifizierte den Souveränitätsbegriff mit der Dezisionsgewalt über den Ausnahmezustand96 und wollte mit seiner Lehre der Diktatur den liberalen Rechtsstaat überhaupt beseitigen. Hermann Heller suchte auf neuen, zwischen dem Positivismus Kelsens und dem Dezisionismus Carl Schmitts hindurchführenden Wegen den positivistisch „entleerten" Rechtsstaatsgedanken und den bei Krabbe entpersönlichten Souveränitätsbegriff durch die angestrebte Öffnung der Rechtslehre nach unten zur Soziologie und nach oben zur Sphäre der Ethik und Politik zu erneuern. Die Souveränität nannte er die Quelle rechtsetzender Gewalt und stellte als ihren Träger den als Realität erkannten Gemein willen fest 97 . Die Souveränität als Quelle der rechtsetzenden Gewalt des Gemeinwillens, in der Demokratie meist als Volkssouveränität begriffen - das war ja die schwierige Stelle in Hugo Preuß' Erläuterung des Satzes „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus" gewesen, als er sich bemühte, das Volk nicht als den Inhaber und Träger der Staatsgewalt, sondern lediglich als primäres Staatsorgan zu definieren. Diese Schwierigkeit offenbart sich besonders bei der theoretischen Begründung einer verfassunggebenden Versammlung. „Volk" kann eben zweierlei bedeuten, die innerhalb und gemäß der Verfassung begrenzte und also auch veränderliche stimmberechtigte Wählerschaft, also das „primäre Staatsorgan", das seine Zuständigkeiten im Rahmen der gegebenen Verfassung bei Wahlen und Volksabstimmungen ausübt, und auch die schon vor der Verfassung bestehende politische Gesamtheit, die Nation, als Subjekt und Inhaber der Fülle der Staatsgewalt, namentlich der verfassunggebenden Gewalt. Als Beauftragter dieses Subjekts der Staatsgewalt ist die verfassunggebende Versammlung dann bis zum Erlaß des Verfassungsgesetzes an keine rechtlichen Schranken gebunden außer denjenigen, die sich aus der politischen Gesamtentscheidung des Volkes als Nation, etwa nach einer Revolution, ergeben. Carl Schmitt hat diesen Unterschied in seiner Verfassungslehre 98 hervorgehoben. Hugo Preuß wollte aber gerade in der Absicht, den Rechtsstaat vor jeder an einer einzigen Stelle konzentrierten „Fülle der Staatsgewalt" zu schützen, deshalb das Volk nur im Rahmen der Verfassung als Staatsorgan definieren. Abso94 9
5 9 6 97 98
Das Problem der Souveränität, Tübingen, 1920. Hugo Krabbe, Die moderne Staatsidee, Haag 1919, S. 10 sowie S 272 f. Carl Schmitt, Politische Theologie, 2. Aufl. 1934, S. 11. Hermann Heller, Die Souveränität, Berlin, 1927, S. 35, S. 56 und S. 82 ff. Neudruck München 1954, S. 238 ff.
8. Wirkungen auf die spätere Rechtslehre
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lutismus von unten erschien ihm so inakzeptabel wie Absolutismus von oben - das war die Pointe seines Artikels vom 14. November 1918 im Berliner Tageblatt gewesen. Außerhalb der deutschen Grenzen gab es vor allem in England, unter den von Gierke beeinflußten „Pluralisten" der radikalen politischen Linken, im Umkreis von Sidney und Beatrice Webb, F. W. Maitland und G. D. H. Cole, einen Theoretiker, Harold J. Laski, dessen Auffassungen über die Souveränität denen Hugo Preuß' sehr ähnlich waren. Nicht nur hielt er wie die ganze Schule Gierkes dafür, daß der Staat den anderen Verbänden wesensgleich sei"; er glaubte auch, daß die Souveränität des Staates zum mindesten „dangerous moral consequences" habe. Die Souveränität sei für den Staat, historisch betrachtet, lediglich ein „incedent in its evolution" 100 . In der internationalen Gemeinschaft bedeute heutzutage die Staatssouveränität dasselbe wie Anarchie 101 . Der Gedanke eines unabhängigen, souveränen Staates sei, jedenfalls „on the international side, fatal to the well-being of humanity." Ohne Zögern postulierte er die Beseitigung der Souveränität des Staates und fuhr fort: „The way in which a state should live its life in relation to other states is clearly not a matter in which that state is entitled to be the sole judge" 1 0 2 . Nichts anderes wollte Hugo Preuß mit seinem Paragraph 2. Bei Laski ist indessen auch zu sehen, worin Hugo Preuß den anderen Schülern Gierkes nicht folgte, nämlich in dem Funktionalismus, der in ihren Reihen gelehrt wurde. Preuß blieb auf dem Boden der naturechtlich-liberalem Denkens: innerhalb der als Pyramide gegliederten autonomen Gebietskörperschaften sollte es nur das eine, gleiche, ununterschiedene Staatsbürgertum geben, keine vertikale Gliederung der Gesellschaft nach Funktionen, Ständen und Berufen. So weit wollte Hugo Preuß nicht mitgehen - obwohl es durchaus in den möglichen Konsequenzen von Gierkes Lehre lag, den Selbstverwaltungsgedanken auch „funktional", nicht nur in Bezug auf regionale Verbände, zu verstehen. Laski vergleicht den Staat höchst bezeichnend mit anderen Verbänden wie der Kirche oder den Gewerkschaften 103, und so kommt er in seiner Lehre eines „föderalistischen" Aufbaus der Gesellschaft zu dem Schluß: „Interesseneinheiten, die Baumwollindustrie zum Beispiel, brauchen ihre eigenen Verwaltungseinrichtungen nicht weniger als Lancashire, Kansas oder Baden" 104 . In Deutschland vollzog Kurt Wolzendorff 105 einen entsprechenden Schritt. Das Problem der Beziehungen des modernen Staates und der großen Interessenverbände suchte er dadurch zu lösen, daß er den Rückzug des Staates auf seine engste 99 Harold J. Laski, Grammar of Politics, London, Neudruck 1926, S. 37. 100 Laski, a. a. O. S. 44. ιοί 102 103 104
Introduction to Politics, dt. Ausgabe Berlin 1949, S. 102. Laski, Grammar, S. 65. Laski, Grammar, S. 37. Introduction, S. 51.
i° 5 Der reine Staat, Zeitschr. f. d. ges. Staatswissensch., 75. Jahrg., 1920. io*
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VVerfassungspläne des Winters 1918/1919
politische Sphäre verlangte und für das der staatlichen Befehlsgewalt im Grunde doch unzugängliche, weil auf der geistigen und wirtschaftlichen Initiative des Individuums begründete Sozialleben die Selbstverwaltung forderte. Der Staat sollte hier lediglich die Aufsicht führen und für die Ordnung des Ganzen sorgen. Das Problem des modernen Rechtsstaates sah er nicht mehr in der Aufgabe, eine Grenze zwischen der Staatsmacht und der individuellen Freiheitssphäre seiner Bürger, sondern zwischen den sozialen Funktionsgebieten des Staates und der nichtstaatlichen Organisationen zu ziehen, also in der Bestimmung des wesenseigenen Funktionsgebietes des „reinen Staates". In ähnlicher Weise verlangte Krabbe 106 eine Dezentralisation der Rechtsbildung innerhalb des Staates durch weitgehende Autonomie der regionalen Gebietsverbände und der „Interessen", zu denen er neben Deichverbänden und Versicherungen auch die Universitäten und Einrichtungen wie Post und Bahnen zählte. Von solchen Ansätzen aus führt eine Linie weiter zu Gedanken über eine berufständische Ordnung, wie sie sich bei Walther Rathenau107, Heinrich Herrfahrdt 108 und Edgar Tatarin-Tarnheyden 109 finden. Allen dreien ist die Auffassung gemeinsam, daß das Parlament eigentlich nicht mehr fähig sei, die komplizierten Verhältnisse des modernen gesellschaftlichen Lebens ausreichend zu beurteilen und gesetzgeberisch zu ordnen. Vielmehr sollten nun zum mindesten an der sachkundigen Vorbereitung der Gesetzgebung Fachleute der Wirtschaftszweige, des Erziehungswesens, Militärwesens und so weiter mitwirken. Es waren diese und ähnliche Gedanken, die sich in Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung über den Reichswirtschaftsrat und seinen gegliedertem Unterbau in den Ländern niederschlugen. Bei Tatarin-Tarnheyden sind freilich gewisse anti-demokratische und anti-parlamentarische Tendenzen nicht zu übersehen. Er selbst zitiert Stellen, an denen Hugo Preuß und Max Weber Ansichten wie den seinen mit dem Hinweis entgegentreten, es handle sich bei den Wirtschaftsräten um bloße „Interessenvertretung", keine wahre Selbstverwaltung 110. Hugo Preuß lehnte alle Pläne für berufsständische Parlamente ab. Erst recht hatte er nichts mit dem faschistischen „korporativen" Staat und seiner Vorliebe für solche ständischen Vertretungen, um das demokratische Repräsentativ-System zu vermeiden, im Sinn.
106 Krabbe, Die moderne Staatsidee, Haag 1919, S. 187 ff. 107 Walther Rathenau, Der neue Staat, Berlin 1919. i° 8 Heinrich Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung, Stuttgart 1921. 109 Edgar Tatarin-Tarnheyden, Die Berufsstände, Berlin 1922. no Tatarin-Tarnheyden, a. a. O. S. 190.
VII. Das Werk von Weimar Das Echo der Öffentlichkeit auf die Publizierung des Verfassungsentwurfs und der Denkschrift war lebhaft und sehr geteilt. Blätter der Rechten, wie die Kreuzzeitung und die Deutsche Tageszeitung, sahen überhaupt keine Ursache, die Leitgedanken von Bismarcks Verfassung, namentlich die Einheit Preußens, aufzugeben. Freundlich-zurückhaltende oder warme Unterstützung fand der Entwurf bei den großen Zeitungen des demokratischen Liberalismus, der Vossischen Zeitung (Erich Eyck), dem Berliner Tageblatt, der Frankfurter Zeitung und dem Leipziger Tageblatt. Der sozialistische „Vorwärts" begrüßte den Entwurf als „wirklich revolutionär". Aus Bayern klang es gedämpfter; der Mehrheitssozialist Erhart Auer in der Münchner Post und die damals noch liberalen Münchner Neuesten Nachrichten meldeten die Bedenken des bayerischen Föderalismus an 1 . Wie man hatte erwarten können, überwog demgegenüber in der Wissenschaft eine reservierte, wenn nicht ablehnende Betrachtungsweise, die sich vor allem in der preußischen Frage eher nach rechts als nach links orientieren mochte 2 .
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Eine Auswahl von Pressestimmen, jedoch ohne Angabe des Datums, findet sich in Wippermanns Deutschem Geschichtskalender, Ergänzungsband „Die deutsche Reichsverfassung vom 11. August 1919." 2 Kritisch haben sich mit Preuß' Entwurf auseinandergesetzt: Gerhard Anschütz, Deutsche Juristen-Zeitung, 1919, S. 199; Robert Friedberg, Deutsche Juristen-Zeitung, 1919, S. 193; Fritz Stier-Somlo, Kölnische Zeitung, 8., 9. und 10. Februar 1919; Felix Rachfahl, Preußen und Deutschland, 1919, besonders S. 25 ff.; Erich Kaufmann, Grundfragen der künftigen Reichsverfassung, 1919, sowie im „Tag" am 27. Februar, 9. und 11. März 1919; Hans Gmelin, Warum ist der Reichsverfassungsentwurf für uns Süddeutsche unannehmbar? Gießen, 1919; Philipp Zorn, im „Tag", 11. Februar 1919; Heinrich Göppert, im „Tag", 18. und 19. März 1919; Johann Viktor Bredt, Florens Christian Rang, Wilhelm von Flügge und Otto Hoetzsch, Das Werk des Herrn Preuß oder Wie soll eine Reichsverfassung nicht aussehen, Berlin, 1919; Ferner kritische Bemerkungen in der „Deutschen Nation", Februar 1919, S. 15 ff.; vgl. im Märzheft und Juniheft derselben Zeitschrift die Aufsätze von Fritz StierSomlo und Fritz Poetzsch-Heffter; Karl Rothenbücher, Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern, Band 15, 1919, S. 65 ff.; Friedrich Giese, Frankfurter Nachrichten, 28. und 29. Januar 1919; Friedrich Meinecke, Deutsche Politik, Februar 1919, Friedrich Thimme, ebenda; Richard Thoma, Annalen f. soz. Politik und Gesetzgebung, 1919, S. 409 ff.; Karl Binding, Die staatsrechtliche Verwandlung des Deutschen Reiches, Leipzig, S. 35 ff.; Heinrich Triepel, Schmollers Jahrbuch, 43. Jahrg. 1919, S. 459 ff. und später auch Fritz Härtung, Neue Jahrbücher f. Wissenschaft und Jugendbildung, 1925, S. 502 ff. und S. 620 ff.
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VII. Das Werk von Weimar
1. Kampf mit den Einzelstaaten Unterdessen hatten sich die Regierungen der süddeutschen Einzelstaaten schon zum Widerstand gerüstet. Denn das Ergebnis der Dezember-Konferenz war noch während des Dezembers in die Öffentlichkeit durchgesickert 3. Die badische Regierung wußte schon früher von Preuß' Neugliederungsplänen4. Auf einer Konferenz in Stuttgart am 27. und 28. Dezember 1918 beschlossen die süddeutschen Staaten, gemeinsam auf die Neueinrichtung des Reiches auf bundesstaatlicher Grundlage hinzuwirken 5. Die preußische Regierung hatte zum ersten Mal am 16. Dezember und später erneut das Reichsamt des Innern um Beteiligung an den Arbeiten am Verfassungsentwurf gebeten6. In einer Erklärung vom 10. Dezember zu den separatistischen Bewegungen im Rheinland hatte sie den festen Willen geäußert, Lostrennungsversuche mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen. Am 24. Januar beschloß das preußische Staatsministerium sogar, bei der Reichsregierung förmlich gegen § 11 des Verfassungsentwurfs zu protestieren 7. Die sozialistischen Revolutionäre auf den Thronen der Dynastien übernahmen mit den staatlichen Institutionen auch deren Willen zur Selbstbehauptung, sogar mit einem eigentümlich partikularistischen Akzent in Braunschweig und in Bayern. Während der Widerstandswille der Einzelstaaten, von der öffentliche Meinung weithin unterstützt, rasch anwuchs und sich formierte, begannen am 25. Januar 1919 im Reichsamt des Innern Besprechungen, zu denen die Reichsregierung die Regierungen der Einzelstaaten, Vertreter aller Reichsämter, des Zentralrats der Arbeiter- und Soldatenräte und den österreichischen Gesandten Ludo Moritz Hartmann eingeladen hatte8. Hugo Preuß erläuterte knapp die Leitgedanken und, so hob er besonders hervor, den Kompromiß-Charakter des Entwurfs, der den Partiku3 Die „Tägliche Rundschau" teilte ihren Lesern am 21. Dezember 1918 mit, daß die Sachverständigen-Konferenz sich auf einen Präsidenten, eine weitgehend unitarische Kompetenzverteilung und eine territoriale Neugliederung „ungefähr nach dem Muster der Batockischen Vorschläge" geeinigt habe. 4 Vgl. Protokoll der Sitzung des badischen Staatsministeriums vom 27. November 1918, in der Registratur der Abt. I, Regierungspräsidium Nordbaden, Karlsruhe. 5 Vgl. Protokolle des badischen Staatsministeriums, a. a. 0., und des Württemberg. Staatsministeriums (Bestand E 131, Band Β 1 16, im Württemberg. Staatsarchiv Ludwigsburg) beide vom 30. Dezember 1918. 6 Verfassungsakten des Reichsamtes des Innern, Potsdam, a. a. O., Bd. 16807. Siehe auch den Beschluß des preußischen Staatsministeriums vom 17. Januar 1919 (Protokolle des Staatsministeriums, Rep. 90a, Abt. B, tit. III, 2b, Nr. 6, Bd. 168 im Deutschen Zentralarchiv II (Ehemal. Preuß. Geheimes Staatsarchiv) Merseburg. 7
Protokolle des preuß. Staatsministeriums, Merseburg a. a. Ο., 24. Januar 1919. Die folgende knappe Darstellung der Verhandlungen beruht auf den Protokollen der Konferenz der Staatenvertreter und des späteren Staatenausschusses in Berlin und in Weimar. Abzüge befinden sich in den erwähnten Archiven in Potsdam, Merseburg und Ludwigsburg, im Generallandesarchiv in Karlsruhe und im Berliner Hauptarchiv (Ehemal. Preuß. Geh. Staatsarchiv) in Berlin-Dahlem. Breitere Darstellungen finden sich bei Apelt, Walter Jellinek (im Handb. des Deutschen Staatsrechts 1) und Wilhelm Ziegler. 8
1. Kampf mit den Einzelstaaten
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laristen zu weit und den Unitariern nicht weit genug gehe9. Der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner forderte sogleich im Namen der süddeutschen Staaten und Sachsens, daß die künftige Verfassung nur mit Zustimmung eines einzusetzenden Staatenausschusses verabschiedet werden könne. Diesem offenen Versuch, die Bewegungsfreiheit der Nationalversammlung einzuengen, widersprach sofort Ebert und setzte sich damit auch durch. Indessen war er nicht abgeneigt, einen „Ausschuß der Staatenvertreter" an den Vorbereitungen für einen Regierungsentwurf eines vorläufigen Reichsgrundgesetzes teilnehmen zu lassen. Die Aussprache wandte sich dann bald von der Frage der künftigen Stellung der Staaten im Reich der preußischen Frage zu. Ministerialdirektor Freund und der sozialdemokratische Justizminister Wolfgang Heine vertraten den preußischen Einheitswillen ohne Einschränkungen. Der preußische Ministerpräsident Hirsch schien zu gewissen Gebietsveränderungen bereit zu sein. Grundsätzlich sollten sie der Zustimmung der Einzelstaaten bedürfen. Die süddeutschen Vertreter, besonders ihr Hauptsprecher Eisner, verteidigten durch die Unterstützung der preußischen Position einen möglichst selbständigen Status der Einzelstaaten überhaupt. Die kleineren norddeutschen Staaten und der sächsische Ministerpräsident Gradnauer waren dagegen den Gedanken Hugo Preuß' nicht so abgeneigt. Trotz der heftigen Opposition gab Hugo Preuß sich mit der Debatte nicht unzufrieden 10; er meinte, Möglichkeiten einer Verständigung zu erkennen. Zum Schluß der Aussprache lud Friedrich Ebert zur Bildung eines besonderen Ausschusses der Einzelstaaten für die Einzelberatung des Entwurfs ein. Dieser „Staatenausschuß" war das erste wesentliche Zugeständnis an die Einzelstaaten. Es war klar, daß dieser Ausschuß bleiben würde. Damit war das Staatenhaus in Preuß' Entwurf praktisch schon gefallen. Nachdem am folgenden Tage der Entwurf der Reichsregierung für ein Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt ziemlich nach den Wünschen des Staatenausschusses umgeformt worden war, wandten sich die Beratungen der Staatenvertreter zwischen dem 27. und 30. Januar erneut dem Verfassungsentwurf zu. Die bayerischen Sprecher standen offenkundig unter dem Einfluß der Seydel'schen Staatenbundstheorie, als sie die Versailler Verträge von 1871 zwischen den Fürsten, auf denen das Reich beruht habe, durch die Revolution für vernichtet betrachteten und daraus ableiteten, daß es nun eines neuen Vertrages zwischen den inzwischen wieder souverän gewordenen deutschen Staaten bedürfe, der ihre Staatlichkeit, ihre Teilnahme an der Bildung des Reichswillens und die alten Reservatrechte anerkennen müsse. Mit solchen Forderungen blieben sie aber allein. Wirkungsvoller er9
Es warf ein bezeichnendes Licht auf die Stellung des Reichskabinetts zu Preuß' Entwurf, daß die Deutsche Allgemeine Zeitung am 21. und 24. Januar 1919 zwei Meldungen veröffentlichte, aus denen hervorging, daß die Reichsregierung den Entwurf nicht als Regierungsentwurf betrachtete. Die beiden Meldungen wurden anscheinend nicht dementiert. 10 Preuß: „Wenn man sich dreißig Jahre lang mit deutscher Verfassungsgeschichte beschäftigt hat, wird man sich über die Aufnahme des ersten Entwurfs einer deutschen Gesamtverfassung niemals Illusionen hingeben können. Wenn ich zum Beispiel an die Entwürfe meiner bedeutenden Vorgänger, des Freiherrn vom Stein, Bismarcks und Dahlmanns und ihre erste Aufnahme denke, so habe ich das Gefühl, fast zu gut behandelt worden zu sein."
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VII. Das Werk von Weimar
wies sich ein Antrag des preußischen Ministerialdirektors Freund und des württembergischen Ministers Liesching, die zwischen dem Staatenhaus des Entwurfs und dem bayerischen Wunsch nach einer Erneuerung des alten Bundesrats zu vermitteln suchten und einen „Reichsrat" mit suspensivem Veto bei der Gesetzgebung des Reiches unter Beibehaltung von Verwaltungsbefugnissen der Länder bei der Ausführung der Reichsgesetze vorschlugen. Die Reichsregierung prüfte den Antrag und erklärte sich schließlich damit einverstanden, sofern es grundsätzlich bei der Kompetenzabgrenzung des Entwurfs bleibe. Ein engerer Ausschuß der größeren Gliedstaaten arbeitete diese Vorschläge weiter aus, denen die Mehrheit des Staatenausschusses am 1. Februar zustimmte. Die wesentlichen Bestimmungen sahen vor, daß an Stelle des Staatenhauses ein Reichsrat trete, in dem die Einzelstaaten nach ihrer Bevölkerungszahl vertreten sein sollten, jedoch so, daß kein einzelner Staat über mehr als ein Drittel aller Stimmen verfügen und nach drei Jahren kein Staat mit weniger als einer Million Einwohner Stimmrecht haben sollte. Damit sollten die Kleinstaaten zum Zusammenschluß gedrängt werden. Die Mitglieder des Reichsrats sollten Angehörige ihrer Regierungen sein, jedoch ohne Instruktionen abstimmen. Der Reichsrat sollte an der Vorbereitung der Reichsgesetzgebung beteiligt werden und gegen Beschlüsse des Reichstags ein Veto einlegen können, das nur durch Volksabstimmung gebrochen werden konnte. Nach diesem entscheidenden Erfolg der Einzelstaaten vertagte sich der Staatenausschuß bis zum 5. Februar. Nun wandte er sich den Kompetenzfragen zu. In zähen Kämpfen, teilweise in Sonderverhandlungen der beteiligten Staaten über Fragen des Militärwesens, der Post, Télégraphié und Eisenbahnen wurde um jeden einzelnen Gegenstand und besonders heftig um die alten Reservatrechte gerungen. Die Reichsregierung räumte den Gliedstaaten dabei beträchtliche Verwaltungsbefugnisse wieder ein, die der Entwurf dem Reich zugesprochen hatte. Die Normativbestimmungen für die Gemeindeverwaltung wurden gestrichen. Die Vertreter der preußischen Regierung waren noch am ehesten bereit, die Befugnisse des Reiches im Vergleich zur alten Verfassung zu erweitern, vor allem auf den Gebieten des Steuerwesens, des Eisenbahn- und Heerwesens und gewissen Gebieten der Polizeiverwaltung. Die preußische Politik konnte dabei im Vergleich zu der der süddeutschen Staaten sogar als recht unitarisch erscheinen. Aber solange der preußische Gebietsumfang und damit die Ursache des maßgeblichen Einflusses der preußischen Regierung auf das Reich ungeschmälert blieben, waren Kompetenzverzichte für Preußen viel erträglicher als für die Mittelstaaten. Infolgedessen leisteten die preußischen Vertreter, mit Unterstützung der Mittelstaaten, nur an einer Stelle ernsthaft und unnachgiebig Widerstand: in der Frage der Zwangsgewalt des Reiches bei Gebietsveränderungen. Die Debatten über diesen Punkt zwischen Hugo Preuß und den preußischen Sprechern Hirsch, Südekum und Freund bedeuteten einen Höhepunkt des Ringens zwischen dem Reich und den Einzelstaaten11. 11
Es sei hier auf die demnächst fertiggestellte Kieler historische Dissertation von Ulrich Poetzsch-Heffter, Die Neugestaltung des preußisch-deutschen Verhältnisses im Jahre 1919, verwiesen.
1. Kampf mit den Einzelstaaten
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Die Ergebnisse dieser Verhandlungen wurden von den Referenten der Reichsregierung in einen neuen Entwurf vom 17. Februar (Entwurf III) eingearbeitet und passierten dann, da die Grundlagen des föderativen Ausbaus des Reiches schon gesichelt waren, mit weiteren geringfügigen Geländegewinnen der Einzelstaaten in dreitägigen Beratungen den Staatenausschuß. An drei Stellen indessen behielt Hugo Preuß der Reichsregierung vor, von dieser Fassung bei der Vorlage für die Nationalversammlung abzuweichen: Preuß beharrte auf einem Recht des Reiches zur Ausübung von Zwang als ultima ratio der Neugliederung, auf einer Mindestgröße der Einzelstaaten von einer statt einer halben Million Einwohner - wie der Staatenausschuß inzwischen für das Stimmrecht im Reichsrat beschlossen hatte - und schließlich darauf, daß der Schutz der fremdsprachlichen Minderheiten im Reich nicht davon abhängig gemacht werde, daß den deutschsprachigen Minderheiten in den Nachbarländern gleicher Minderheitenschutz gewährt werde. Der neue Entwurf (IV) der Reichsregierung vom 21. Februar unterschied sich von Hugo Preuß' Entwurf vom 20. Januar durch eine entschiedene Stärkung des föderativen Elements, besonders in der Gestalt des Reichsrats, und der grundsätzlichen Anerkennung der Reservatrechte, der Einschränkung der Normativbestimmungen und der Reichsaufsicht. Der Reichstag bestand nur noch aus einer Kammer. Das Verhältnis von Parlament und Regierung zueinander, die Funktionen des Reichspräsidenten und der Wählerschaft und die Grundrechte waren dagegen ziemlich unangetastet geblieben. Offengeblieben war - zwischen den Fassungen vom 17. und vom 21. Februar - die Zwangsgewalt des Reiches bei der territorialen Umgliederung. Erstaunlich war, wie weit Hugo Preuß den Einzelstaaten nachgegeben hatte. Von seinem kämpferischen Temperament hätte man hartnäckigeren Widerstand und weiter gehende Vorbehalte für die Reichsregierung als nur in jenen drei Punkten erwarten können, von denen doch nur die Zwangsgewalt des Reiches bei der Neugliederung wirklich wichtig war. Hugo Preuß zog statt dessen, wie er das später einmal nannte, eine „elastische Defensive" vor 12 . Fehlte es ihm an Unterstützung innerhalb der Reichsregierung und des Rates der Volksbeauftragten? Oder hoffte er auf Korrekturen durch den Unitarismus der Nationalversammlung, deren absolute Entscheidungsfreiheit die Sprecher der Reichsregierung mit Bedacht von Anfang an gegen die Ansprüche des Länderpartikularismus verteidigt hatten?
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Hugo Preuß erklärte in seiner Rede zur dritten Lesung der Verfassung in der Nationalversammlung: „Damals war noch nicht klar, welchen Weg die Nationalversammlung gehen würde ... Sollte man damals gleich in einem schweren Konflikt mit den Einzelstaaten vor die Nationalversammlung hintreten, wo man nicht wissen konnte, wie es gelingen würde, das Werk in der gewünschten Richtung weiterzufördern, ob man nicht unter Umständen zufrieden sein mußte, in weniger erwünschten Formen doch die Hauptsache der nationalen Einheit zu retten? Es war eben die Notwendigkeit, sich zunächst einmal geduldig zu schmiegen." (Sten. Ber., 69. Sitzg., 29. Juli, S. 2073).
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VII. Das Werk von Weimar
2. Revision vor der Nationalversammlung Zunächst versuchte Preuß in der Begründung des neuen Entwurfs vor der Nationalversammlung am 24. Februar, den Partikularismus der Gliedstaaten, der ja auch von vielen Parteifreunden Eberts vertreten worden war, nicht allzusehr bloßzustellen, sondern den Entwurf, so gut es eben ging, der Nationalversammlung durch eine Erläuterung der einzelnen Abschnitte zu empfehlen. Aber man merkte der Rede doch an, daß er mehr aus Pflichtgefühl als aus Liebe zur Sache für diesen Entwurf sprach. Besonders machte er auf die Reservatrechte der Einzelstaaten und die Notwendigkeit einer Zwangsgewalt des Reiches in der Neugliederungsfrage aufmerksam und ermunterte die Nationalversammlung, hier eine bessernde Hand anzulegen. Den Reichsrat an Stelle des Staatenhauses wollte er aber anerkennen, wenn seine Befugnisse in der Gesetzgebung denen des Reichstages nachgeordnet würden. Er appellierte an den Gemeingeist der Versammlung, als er seine Rede mit dem Wort des Freiherrn vom Stein Schloß: „Ich kenne nur ein Vaterland, und das heißt Deutschland; deshalb kann ich auch nur dem gesamten Deutschland und nicht einem Teile davon mit ganzer Seele ergeben sein." Nach der Generaldebatte ging der Entwurf zur Einzelberatung in den Verfassungsausschuß, der die in der Nationalversammlung vorherrschende unitarsche Stimmung getreulich repräsentierte. Ohne auf die Darstellung einzelner, selbst wichtiger Verhandlungen eingehen zu können, seien wenigstens die hauptsächlichsten Ergebnisse der Beratungen erwähnt 13. Der Ausschuß erweiterte die Befugnisse des Reiches in der Gesetzgebung und Verwaltung ganz beträchtlich. Am bedeutendsten waren dabei die mit Hilfe der preußischen Regierung erreichten Fortschritte in der Vereinheitlichung des Verkehrs- und Militärwesens und die grundsätzliche Beseitigung der süddeutschen Reservate. In kluger Mäßigung, zu der Hugo Preuß geraten hatte, räumte der Ausschuß die Ablösung der Reservatrechte im Wege vertraglicher Vereinbarung zwischen dem Reich und den Ländern ein, ohne freilich den behaupteten Vertragscharakter des Reiches anzuerkennen. Nur wenn gütliche Verhandlungen scheiterten, so wurde in der zweiten Lesung des Ausschusses beschlossen, sollte das Reich am 1. April 1921 selbständig vorgehen dürfen. Das Entgegenkommen des Verfassungsausschusses war eine Folge eines gemeinsamen Vorstoßes der süddeutschen Länder, die sich auf einer Konferenz in Stuttgart am 29. März zu einem gemeinsamen Protest gegen die weitgehenden Abänderungen des Verfassungsentwurfs im Verfassungsausschuß verbunden und denen sich Sachsen und mit einigen Vorbehalten auch die preußische Regierung angeschlossen hatten14. Preuß bemühte sich, die Einzelstaaten nicht über das Maß 13 Ausführliche Darstellungen bringen Apelt und Ziegler. Neuerdings, wenn auch knapper, auch der erste Band von Erich Eycks Geschichte der Weimarer Republik, Zürich, 1954. 14 Der Vorstoß richtete sich besonders gegen die Kompetenz-Kompetenz und die Befugnis des Reiches, im Wege der einfachen Gesetzgebung das Reichsgebiet neu gliedern zu können, ferner gegen die abermalige Erweiterung der Reichsaufsicht. Die Länder verlangten außerdem die Zollverwaltung und die Verfügung über die Einkommensteuer; nach den Akten des
2. Revision vor der Nationalversammlung
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des unbedingt Notwendigen zu vergrämen, denn er wußte, wie sehr die Beobachtung der Verfassung vom guten Willen aller abhängig sein würde. Deshalb nahm er auch endgültig den Reichsrat an Stelle des Staatenhauses hin. Am Ende der Verfassungsverhandlungen war Hugo Preuß trotz einigen Vorbehalten mit den Bestimmungen über das Verhältnis zwischen Reich und Ländern zufrieden; sie gäben „im großen und ganzen dem Reich und der Reichseinheit das, was ihm zur Zeit unbedingt notwendig ist. Sie stärken das Reich in dem, was es jetzt unter dem Druck der Lage braucht, und sie lassen den Ländern die Selbständigkeit, die ohne die Gefährdung dieser unbedingt vorangehenden Reichsinteressen möglich ist" 1 5 . Hugo Preuß' Politik im Verfassungsausschuß entsprach im übrigen den leitenden Gedanken seines eigenen Entwurfs. Er hielt an der Instruktionsfreiheit der Mitglieder des Reichsrats fest. Der Verfassungsausschuß gestand Preußen statt dem vorgesehenen Drittel zwei Fünftel aller Stimmen im Reichstrat zu. Allerdings sollte die Hälfte davon von den einzelnen preußischen Provinzen gestellt werden. Man hoffte, so einen geschlossenen Block der preußischen Stimmen zu vermeiden. Im Verfassungsausschuß kam es auch zu der schon erwähnten Debatte mit Friedrich Naumann über das Wahlrecht. In der Aussprache über das Wahlprüfungswesen gelang es Hugo Preuß, die Mehrheit von seiner Meinung zu überzeugen, ebenso in der Frage der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse. Seine von 1848 überkommene, strenge Auffassung von der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für die gesamte Rechtsprechung, auch in Verwaltungsstreitigkeiten, die er hier vertrat, machte Eindruck und war noch bei der Errichtung des Staatsgerichtshofes am 9. Juni 1921 zu erkennen 16. Nicht zu Unrecht, wie sich erst später herausstellte, hatte ein Abgeordneter im Ausschuß darauf hingewiesen, daß es sich vor dem Staatsgerichtshof nicht bloß um Rechtsfragen im üblichen Sinne, sondern auch um in hohem Maße politische Fragen handeln werde. Die Abschnitte über den Reichspräsidenten und die Reichsregierung wurden zwar sehr erweitert und verfeinert, aber die Exekutive erhielt trotz mancher Bedenken, vor allem bei den Sozialdemokraten, die freie Beweglichkeit, die Hugo Preuß ihr von Anfang an zugedacht hatte. Er wandte sich leidenschaftlich gegen die Absicht, die Regierung allzu vielen Kontrollen zu unterwerfen; denn sie werde nicht mehr die alte Obrigkeitsregierung sein, sondern aus den Vertrauensleuten der Parlamentsmehrheit gebildet werden 17. In der Frage der Grundrechte mahnte er stets zur Eile und zur Beschränpreußischen Staatsministeriums im Berliner Hauptarchiv, Berlin-Dahlem, Rep. 90, Bd. 302 („Die Verfassung des Deutschen Reiches, April-Juli 1919"). 15 Preuß in der zweiten Lesung der Verfassung in der Nationalversammlung, Sten. Ber., 44. Sitzg., 2. Juli 1919, S. 1212. 16 Apelt, a. a. O., S. 106. 17 Preuß: „Man beobachtet nämlich, wie wesensfremd den Anschauungen unseres Volkes auch in seinen fortschrittlichsten politischen Richtungen eigentlich das parlamentarische System erscheint. Oft habe ich mit einer gewissen Beängstigung den Ausführungen zugehört und manchmal etwas scheu zu den Herren der Rechten hinübergeblickt, weil ich erwartete, daß sie mir sagen würden: einem Volke mit solchen Anschauungen, das sich mit allen Fasern seines Wesens dagegen sträubt, glaubst du das parlamentarische System bringen zu
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VII. Das Werk von Weimar
kung, allerdings ohne Erfolg; sie schwollen zu einem eigenen zweiten Teil der Verfassung an. Ebenso wenig nützte seine Warnung vor der Beunruhigung der inneren Politik durch die Gesetzesinitiative des Volkes; die Mehrheit entschied sich für die Ausdehnung des Referendums. Abgesehen von den Grundrechten und den verschiedenen, teilweise einander auch wieder aufhebenden Änderungen im Verhältnis zwischen Reich und Ländern gingen große Teile des Preuß'schen Entwurfs ziemlich unversehrt in das inzwischen freilich gewaltig angewachsene Verfassungsdokument vom 11. August 1919 über. In den Bestimmungen über den Reichstag, die Reichsregierung, über die Stellung des Reichspräsidenten, in der Verankerung des demokratisch-parlamentarischen Systems, im Rechtsstaatsgedanken und der Sicherung der Einheit des Reiches ließ die Weimarer Verfassung noch deutlich den Grundriß erkennen, den Hugo Preuß und die Sachverständigen-Konferenz entworfen hatten. Nur an einer entscheidenden Stelle blieb das Werk unvollendet: der Neugliederung. Die Verfassungsgeber versäumten die Bereinigung des preußisch-deutschen Mißverhältnisses. Artikel 15 - der Nachfolger von § 11 - sah in der Fassung, die ihm der Staatenausschuß gegeben hatte, eine Vermittlung des Reiches, aber keinen Zwang vor. In dieser Form konnte der Neugliederungsartikel praktisch nur noch das Verfahren für den Zusammenschluß der Zwergstaaten regeln. Da die Staatenvertreter schließlich auch Zwergstaaten mit lediglich einer halben Million Einwohner Stimmrecht im Reichsrat geben wollten, entfiel auch ein indirektes Druckmittel zur Neugliederung. Im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung suchte Preuß - in einer heftigen Debatte mit Vertretern Preußens, vor allem wiederum mit Justizminister Heine - die Zwangsgewalt des Reiches wieder einzuführen, damit die Möglichkeit einer Neugliederung wenigstens für die spätere Zukunft offen gehalten werden könne. Eine nahe Ausführung erwartete er seit den Beratungen im Staatenausschuß nicht mehr 18 . Die Mehrheit des Verfassungsausschusses formulierte am 20. März den Artikel 15 so um, daß territoriale Neugliederungen sogar durch einfaches Reichsgesetz geregelt werden konnten, sofern der durch Abstimmung ermittelte Wille der Bevölkerung oder ein überwiegendes Allgemeininteresse es verlangten. Aber dies war noch nicht das Ende der wechselvollen Entstehungsgeschichte des Neugliederungsartikels. Nach dem erwähnten Vorstoß der Länder und angesichts des heftigen Widerstandes der preußischen Regierung empfahl die Reichsregierung dem Ausschuß die Annahme einer Reihe von Kompromißvorschlägen, um in der ohnehin schwierigen auswärtigen Lage des Reiches nicht auch noch im Innern können? Es begreift ja gar nicht, was dieses System besagen will. Überall begegnet man dem Mißtrauen, und die Herren kommen vielfach nicht von der Scheu vor der Obrigkeitsregierung los. Sie begreifen nicht, daß die Regierung Blut von ihrem Blute und Fleisch von ihrem Fleische sein muß, daß ihre Vertrauensleute darin sitzen müssen. Immer wieder überlegen sie nur: wie können wir diese unsere Vertrauensleute möglichst in Fesseln schlagen und hindern, etwas zu tun?" (Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses, 8. April 1919, S. 275 f.). 18 Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses, 19. März, S. 90 f.
2. Revision vor der Nationalversammlung
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einen offenen Konflikt mit den. Ländern heraufzubeschwören. Nach schwierigen Debatten beschloß eine knappe Mehrheit des Verfassungsausschusses, daß Gebietsveränderungen grundsätzlich der Zustimmung der beteiligten Länder bedurften und bei ihrer Verweigerung nur in den erschwerten Formen der Verfassungsänderung vorgenommen werden dürften. Eine Neugliederung größerem Stils war praktisch unmöglich geworden. Wie sollte im Reichsrat eine Zwei-Drittel-Mehrheit gegen die preußischen Stimmen zustande gebracht oder durch die Beseitigung der EineMillion-Klausel für das Stimmrecht im Reichstag noch ein Druck auf die Zwergstaaten zum Zusammenschluß ausgeübt werden können? Wie unbefriedigend der Artikel 15 (in letzter Fassung Artikel 18) empfunden wurde, zeigten die noch bis in die dritte Lesung hinein unternommenen Versuche zu seiner Änderung. Preuß schilderte drei Jahre später in einer besonderen Schrift die für die innere Problematik des Reichsaufbaus bezeichnende Entstehungsgeschichte des Artikels 18 19 . Der Neugliederungsplan war gescheitert. Die Hoffnung auf eine Regelung in der Zukunft blieb zwar nicht ausgeschlossen, aber es war doch klar, daß die Zeit dazu noch nicht gekommen war. Ohne Zweifel hatte Hugo Preuß im Winter 1918/1919 die Stärke des Unitarismus in der deutschen Öffentlichkeit überschätzt. Vor allem war die Revolution selbst, die Grundlage der neuen Staatsform, nicht unitarisch, sondern in streng partikularen Grenzen verlaufen und hatte überall wieder einzelstaatliche, nun zwar sozialistische, aber nicht weniger auf das Reich eifersüchtige Regierungen in den Sattel gehoben und darin erhalten. Die zähe Kraft dieser Regierungen, gegründet auf die Zustimmung der Bevölkerung, namentlich der neuen Landes Versammlungen, widerlegte Preuß' Wort von den bloßen „Zufallsgebilden dynastischer Hauspolitik". Er hatte sich von der äußeren Entstehungsgeschichte der deutschen Territorialstaaten über die inzwischen im Stillen gewachsenen inneren und in hohem Grade von Gefühlswerten bestimmten Bande dieser „Staaten" täuschen lassen. Sie erwiesen sich nun als haltbarer als ihre ehemaligen Kristallisationskerne, die Dynastien. An diesen Kräften war Hugo Preuß gescheitert, als er das Reich nach zweckmäßigen und vernünftigen Maßstäben neu gliedern wollte. Die rasche Ausführung erwies sich als unmöglich, obwohl sie notwendig gewesen wäre. Die politische Unmöglichkeit des politisch Notwendigen in Deutschland war das bedrückende Paradox dieser Lage. Hugo Preuß hatte zeitig, schon vor dem Ende des Krieges, erkannt, daß das gleiche Wahlrecht und auf gleiche Parlamentsmehrheiten im Reichstag und im preußischen Landtag gegründete, „homogene" Regierungen nicht den Dualismus zwei so mächtiger Institutionen wie der Regierungen des Reiches und Preußens überwinden könnten. Wie recht er hatte, als er das Versäumnis einer Reform des Verhältnisses zwischen dem Reich und Preußen die Verpfuschung des gesamten Verfassungswerkes genannt hatte, wurde schon nach einigen Jahren abermals deutlich. 19 Hugo Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung, Berlin, 1922. Diese Schrift war für den beabsichtigten Kommentar zur Reichsverfassung geschrieben, aber schon vorweg veröffentlicht worden. Gerhard Anschütz veröffentlichte sie später zusammen mit dem übrigen Fragment unter dem Titel „Reich und Länder", Berlin, 1928.
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VII. Das Werk von Weimar
3. Demission wegen Versailles „ . . . Ob der Bruch mit dem alten System ein dauernder sein wird und die junge deutsche Demokratie sich in Ordnung und Freiheit erhalten und damit Deutschland wieder aufrichten kann, das hängt in erster Linie von dem Verhalten der alliierten und assoziierten Mächte ab. Die einzige Hoffnung in dieser Hinsicht bleibt common sense und fairness", schrieb Hugo Preuß in jenen Wochen an einen englischen Kollegen 20 . Acht Tage später, am 20. Juni 1919, trat er als Gegner der Unterzeichnung des Versailler Vertrags mit dem Kabinett Scheidemann vom Amt des Innenministers zurück. Auf Bitten Eberts leitete er vom 25. Juni an die Arbeiten an der Verfassung bis zur dritten Lesung als Reichskommissar weiter. Im Kabinett hatte Hugo Preuß zu den leidenschaftlichsten Gegnern der Unterzeichnung gehört 21. Der Riß dieser erschütterndsten Frage deutscher Politik im Jahre 1919 lief quer durch die Koalition. Hugo Preuß wählte das Nein nicht, weil er, wie manche Stimme der Opposition in der Nationalversammlung, heimlich hoffte, daß trotzdem noch eine Mehrheit übrig bleibe, um das bittere, doch unvermeidliche Opfer der Unterzeichnung auf sich zu nehmen; auch nicht aus einer schnellen Reaktion des verletzten nationalen Gefühls oder gar, wie es unaufrichtigen Politikern auf der Rechten nahe lag, um den demokratischen Parteien das Odium der Unterzeichnung allein aufzuladen22. Hugo Preuß war gegen jede Zustimmung zu dem Werk von Versailles, weil er darin den verhängnisvollsten Fluch für die junge deutsche Demokratie erkannte, der das Werk von Weimar mit der Stunde der tiefsten Erniedrigung der Nation identifizieren mußte. In der ohnmächtigen Lage, in der das Reich nun einmal war, zog er den persönlichen, aber völlig wirkungslosen Protest durch die Demission der Unterzeichnung des Vertrages vor, deren Befürworter das Land wenigstens vor der drohenden militärischen Besetzung freihalten wollten, wie unerträglich auch in beiden Lagern die Bedingungen empfunden wurden. Mit Hugo Preuß protestierten auch Max Weber, der zur deutschen Friedensdelegation gehört hatte, und Friedrich Naumann. Ehrgefühl und Freiheitsliebe, beide unterstützt durch Überlegungen politischer Vernunft, standen in einem aufwühlenden Konflikt gegeneinander. In seinen späteren Schriften wies Hugo Preuß dann auch häufig auf die innenpolitische Belastung des neuen deutschen Staatswesens durch die Politik der Alliierten des Weltkrieges hin, die auch gegen das alte Regime nicht viel härter hätte sein können, so aber in Deutschland selbst Zweifel an der Dauerhaftigkeit der 20 Das Zitat ist einem Brief an den englischen Professor Sonnenschein von der Universität Birmingham entnommen. Sonnenschein hatte Preuß um eine Äußerung über die Haltung der deutschen Professoren im Kriege und um ein Urteil über die gegenwärtige Lage Deutschlands gebeten. Die erste Frage zu beantworten, lehnte Hugo Preuß ab, die zweite behandelte er ausführlicher. Ein Durchschlag befindet sich bei den Akten des Reichsministeriums des Innern, Potsdam, a. a. O., Band 14402. 21 Nach einem Bericht der Nachrichtenstelle des Reichsinnenministeriums vom 20. Juni 1919-von Weimar nach Berlin, Potsdam, a. a. O., Band 14402. 22 Eyck, a. a. O., S. 145 f.
3. Demission wegen Versailles
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neuen Ordnung zu erregen geeignet war, Hoffnung und Zuversicht, diese Voraussetzungen jeder Wiederaufrichtung, verminderte und dem alten Regime wieder Anhänger zutrieb 23 . Aber er forderte die deutsche Öffentlichkeit gleichzeitig auch immer auf, trotz dem auswärtigen Druck und den demagogischen Verführungskünsten im Innern an der Erkenntnis festzuhalten, daß nur die Erhaltung der neuen Staatsordnung, die zunächst das Chaos der Revolution abgewendet habe, auch in Zukunft den völligen Ruin Deutschlands abwehren könne 24 .
23
Vgl. u. a. Preuß, Deutschlands Staatsumwälzung, Berlin 1919, S. 2. 24 Preuß, a. a. O., S. 16.
V i l i . Die letzten Jahre 1. Wiederaufleben der preußischen Frage Die Entstehungsgeschichte des Artikels 18 hatte gezeigt, wie es den großen Ländern gelungen war, den Neugliederungsbestimmungen des Preuß'sehen Entwurfs alle scharfen Zähne zu ziehen. Im Vergleich zu dem, was Hugo Preuß beabsichtigt hatte, nahmen sich dann auch die tatsächlichen Ergebnisse ihrer Anwendung ziemlich bescheiden aus: Die acht thüringischen Zwergstaaten schlossen sich 1920 zum Land Thüringen zusammen, Koburg vereinigte sich im selben Jahre mit Bayern, und Pyrmont ging 1922 in Preußen auf. 1928 folgte Waldeck auf dem gleichen Wege. Die preußische Regierung wehrte sich schon bald nach der Verabschiedung der Reichsverfassung heftig gegen eine Bereinigung der territorialen Verhältnisse in Mitteldeutschland. Sie war nicht zu den geringsten Opfern bereit. 1 Der jahrzehntelange Kampf Hamburgs um die politische Einheit des Wirtschaftsgebietes GroßHamburg und der hinhaltende und verdeckte Widerstand der preußischen Regierung in der 1920 zur Ausführung des Artikels 18 unter der Leitung des Grafen von Roedern eingerichteten „Zentralstelle für Gliederung des Reiches", in die Verwaltungsfachleute wie Staatsminister a. D. Drews, der frühere Oberpräsident von Ostpreußen, von Batocki, der Kölner Oberbürgermeister Dr. Adenauer und die Professoren Preuß, Meinecke und Anschütz berufen worden waren, bewiesen erneut die Resistenz der bestehenden Länder gegenüber der dem Artikel 18 zu Grunde liegenden Idee landsmannschaftlicher Gliederung des Reiches2. Die Sozialdemokraten in der preußischen Regierung wachten über die Erhaltung des preußischen Gebietsbestandes so aufmerksam, wie es sich die glühendsten Anhänger des alten Preußens auf der Rechten wünschen konnten. Schon bald aber lebte die preußische Frage, ungelöst wie sie die Verfassung gelassen hatte, als innenpolitisches Problem des Reiches wieder auf. Die neue Verfassung hatte zwar formal die bisherige Hegemonie Preußens beseitigt, zugleich aber 1 In einer vertraulichen Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 25. November 1919 fand sich keine Stimme mehr dafür, „daß preußische Gebietsteile an Thüringen abgetreten werden. Höchstens könne es sich um Abtretung kleiner Enklaven wie Schleusingen und Ziegenrück handeln unter der Voraussetzung, daß gleichwertige thüringische Enklaven an Preußen fallen". (Protokolle des Staatsministeriums, Merseburg, a. a. O., Bd. 168). Ursprünglich hatte die preußische Regierung einmal an eine entschädigungslose Abtretung Schmalkaldens gedacht. 2 Vgl. dazu die Akten des Reichsministeriums des Innern, Potsdam, a. a. O., Bde. 16990 und 16991 („Zentralstelle für Gliederung des Deutschen Reiches").
1. Wiederaufleben der preußischen Frage
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auch die seit der Revolution zerrissenen Verbindungen der beiderseitigen Organe nicht wieder neu geknüpft. Bald erwies sich auch, daß die Demokratisierung des preußischen Wahlrechts nicht das erhoffte Maß an Homogenität der beiden Regierungen gebracht hatte. Es wurde immer klarer, daß der fortwährende Dualismus eher dem Eigengewicht der Institutionen als dem Willen der Parteien und Personen entsprang. In der Frage der Entwaffnung Deutschlands, namentlich der Auflösung der sogenannten „Einwohnerwehren" in Bayern, zeigte sich überdies schon, was in den Jahren 1922 und 1923 in den Konflikten der Reichsregierung mit Bayern dann noch viel offenkundiger wurde, daß nämlich der in der Verfassung niedergelegte Primat der Reichsgewalt auch von Ländern mittlerer Größe bestritten werden konnte. Würde unter diesen Umständen dann eine Aufgliederung Preußens, statt zur Stärkung der Reichsgewalt zu führen, nicht dem schon vorhandenen LänderPartikularismus neuen Zuwachs bringen, wenn nicht gar, besonders im Rheinland und in Schlesien, die Integrität der Reichsgrenzen gefährden? Die Einheit des Reiches mußte in erster Linie und unter allen Umständen gesichert werden. Hugo Preuß entschloß sich allmählich zu einer Abkehr von den Neugliederungsplänen des Winters 1918/1919, als er aus den Erfahrungen der ersten Nachkriegszeit schließen mußte, durch die Auflösung Preußens die Reichseinheit eher zu gefährden als zu stärken. Der Wandel der Anschauung äußerte sich zum ersten Mal am 30. Oktober 1920 in einer Rede im Landtag, dem Hugo Preuß seit dem Beginn des Jahres 1919 als demokratischer Abgeordneter, die ersten Monate allerdings beurlaubt, angehörte. Da das Eisen der preußischen Frage, erklärte er, nicht geschmiedet worden sei, solange es heiß gewesen sei, sei er nun von der Notwendigkeit überzeugt, „Preußen so lange zu erhalten ... bis wir einmal... bezüglich unserer Außengrenzen in gesicherter Position sind, vor allem bis das Reich, die Reichsverwaltung genügend konsolidiert ist." 3 . Der außenpolitische Gesichtspunkt rückte nun mehr in den Vordergrund des preußischen Problems4. Die namhaftesten Anhänger des Aufgliederungsplanes von 1918, Meinecke, von Batocki, Hans Delbrück, Gerhard Anschütz, auch Felix Rachfahl und Richard Thoma - bis auf eine Ausnahme, Wilhelm Heile, den neuen Herausgeber von Naumanns „Hilfe" - rückten ebenfalls allmählich von dem Gedanken wieder ab, vor allem aus Furcht vor dem Partikularismus der Mittelstaaten5. Auch Walther 3 Sitzungsberichte der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, 30. Oktober 1920. 4 In einem Aufsatz des Jahres 1923 mit dem Titel „Rheinland, Reich und Preußen" erklärte Hugo Preuß dies noch ausführlicher, als er zu seinem früheren Neugliederungsplan schrieb: „Ich bekenne mich auch heute noch zur Richtigkeit dieses Gedankens ... Eine so tiefgreifende Umgestaltung der Organisation und Verwaltung ist selbstverständlich nur möglich, wenn die Außengrenzen des Reiches gegen die Fremden unbedingt gesichert sind; sie wird für jeden Deutschen unmöglich angesichts der Gefahr, daß auch nur ein Zoll breit deutschen Bodens dadurch dem Reiche verloren gehen könnte . . . " (Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, Berlin, 1924, S. 25).
11 Gillessen
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VIII. Die letzten Jahre
Vogel distanzierte sich später von seinem Gutachten für Preuß6. Da es nur zwei Wege aus dem Dilemma zu geben schien, lag es nahe, nun die Lösung wieder in der anderen Richtung zu suchen, nicht bei Pfizer, sondern Gagern und Stockmar. Das System der Personalunionen, die Mediatisierung Preußens, oder wie es nun hieß, die Umwandlung Preußens in unmittelbares „Reichsland", rückte wieder in das Licht des Interesses. Preuß' alter Vorschlag von 1890 und seine, Anschütz' und Meineckes Pläne während des Krieges wurden wieder aktuell. Ein paar Monate nach der Rede im Landtag entwickelte Hugo Preuß zu Beginn des Jahres 1921, noch ein wenig tastend und vorsichtig, ein neues Projekt. Die Autonomie der preußischen Provinzen, schlug er vor, solle kräftig gestärkt werden und die nicht auf die Provinzen zu verteilenden großen Gesamtaufgaben des preußischen Staates sollten einem Reichsminister für Preußen übertragen werden, unter dessen Verantwortung Staatssekretäre die preußischen Ministerien leiten sollten. Als Parlament könnten ihm die preußischen Abgeordneten des Reichstags gegenübergestellt werden, und da Preußen dann im Reichsministerium vertreten sei, könnten die preußischen Reichsratsstimmen ganz auf die Provinzen übergehen7. Friedrich Meinecke griff diesen Gedanken in einer späteren Auflage seines Buches auf®. Im selben Jahr 1921 schlugen Reichsjustizminister Gustav Radbruch und der preußische Ministerpräsident Adam Stegerwald ähnliche Lösungen vor 9 . Der Plan folgte in dieser Form Spuren, so hatte Meineckes Buch gezeigt, die Bunsen 1848, Treitschke 1866 und die preußischen Nationalliberalen und Freikonservativen 1869 gegangen waren. Gegen den „Reichsland"-Gedanken gab es zwei wichtige Einwände. Er bedeutete das Ende des Parlamentarismus in Preußen, da die preußische Regierung dann nur dem gesamten Reichstag verantwortlich sein konnte. Außerdem hätte das Reich einen Machtzuwachs erfahren, der sein ganzes Schwergewicht nach Preußen verlagert und den süddeutschen Widerstand erst recht herausgefordert hätte. Hugo Preuß fürchtete mit Recht, daß die politischen Umstände der ersten Nachkriegsjahre, vor allem der Druck von außen und die innere Zerklüftung des Reiches, noch keine grundlegende Änderung der Verfassung erlaubten. Es konnten dabei Stürme entfesselt werden, die leicht den ganzen Bau gefährdeten. Mit gutem Grund erwartete er den heftigsten Widerstand des preußischen Landtags gegen den vorgetragenen Plan. Und eine Regelung gegen den Willen des Landtages würde das Rechtsgefühl schwer erschüttern. So dachte er in demselben Aufsatz an eine vorläufige Regelung, die lediglich auf gewisse personelle Verbindungen zwischen 5
Anschütz, Das preußisch-deutsche Problem (in „Recht und Staat", Nr. 22), Tübingen, 1922, S. 13. 6 Waither Vogel, Deutsche Reichsgliederung in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig, 1932, S. 125. 7 Preuß, Republik und Monarchie - Reich und Preußen, in: Deutsche Politik, 6. Jahrg. (1921), Heft 6, S. 129. s Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 6. Aufl. (1922), S. 545 ff. 9 Anschütz, a. a. O., S. 15 f.
2. Die verschleppte Verwaltungsreform in Preußen
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der Reichsregierung und der preußischen Regierung abzielte, sofern die Mehrheitsverhältnisse in den beiden Parlamenten dies erlaubten und eine Änderung der Verfassung vermieden werden könne 10 . Gerhard Anschütz kam im Jahre 1922 bei einer Überprüfung der beiden alternativen Wege zur Lösung preußischen Frage, die ihm beide als ungangbar erschienen, zu einem anderen KompromißVorschlag; er wünschte weitgehende Autonomie für die preußischen Provinzen und die Ernennung von einigen Reichsministern zu stimmberechtigten Mitgliedern des preußischen Staatsministeriums. Dann könne wenigstens in zwei Dritteln des Reiches der Unitarismus erhalten bleiben, bis er einmal im ganzen Reiche möglich werde 11.
2. Die verschleppte Verwaltungsreform in Preußen Die preußische Verwaltungsreform bekam in diesem Zusammenhang einen zusätzlichen Sinn: Sie war nicht nur eine Reform der Verwaltung, sondern auch ein Beitrag zur Entspannung des preußisch-deutschen Verhältnisses. Die chronischen Reibungen zwischen den beiden Berliner Zentralregierungen ließen sich verringern, wenn die in der Reichsverfassung angestrebte Dezentralisierung und Gliederung durch große Selbstverwaltungskörper nicht länger durch die straff zentralisierte preußische Verwaltung für drei Fünftel des Reiches wieder aufgehoben wurde. Solange Preußen nicht aufgelöst werden konnte, bot eine Ausdehnung der Autonomie der Provinzen einen Ersatz an, der auch den zentrifugalen Kräften in den Provinzen an der Peripherie des Reiches den Wind aus den Segeln nehmen konnte. So kam Hugo Preuß nach dem Kriege als Publizist und preußischer Landtagsabgeordneter wieder auf seine Forderungen zu neuen Anläufen in der Sache der verschleppten preußischen Verwaltungsreform zurück 12 . Dabei kam ihm in dem früheren preußischen Innenminister Drews ein eifriger Bundesgenosse zu Hilfe. Die neue preußische Regierung hatte den ehemaligen „Königlichen Kommissar für die Verwaltungsreform" in ihre Dienste berufen und ihn mit der Ausarbeitung eines Reformplanes beauftragt. Drews Schloß sich nun der Idee einer großzügigem Selbstverwaltung an. In zwei Denkschriften zur Dezentralisation der preußischen Verwaltung verlangte er eine weitgehende Kommunalisierung der gesamten Landesverwaltung 13. Die Kreise und Provinzialverbände sollten mit 10 Preuß, a. a. O., S. 130. Ähnlich auch einen Monat später in dem Aufsatz „Ist Preußen ein »Land4?", Staat, Recht und Freiheit, S. 433 f. 11 Anschütz, Das preußisch-deutsche Problem, Tübingen 1922. 12 Vgl. u. a. die „Sitzungsberichte der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung" vom 30. Oktober 1920 und des preußischen Landtags vom 19. Januar 1923, 2. Juli 1924 und 14. Mai 1925. 13 Drews, „Deutscher Einheitsstaat und preußische Verwaltungsreform" (27. Januar 1920) und „Zum Ausbau der Provinzialautonomie" (6. September 1920), bei den Akten des Preuß. Ministeriums des Innern, Merseburg, a. a. O., Rep. 77, Abt. I, Sekt. 4, tit. 253a, No. 45, Beiakten 2 („Dezentralisierung-Preußens").
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V . Die letzten Jahre
zahlreichen staatlichen Auftragsangelegenheiten betraut, die Landräte und Oberpräsidenten wie die Bürgermeister der Städte gewählt und die preußischen Provinzen insgesamt den größeren Ländern möglichst nachgebildet werden. Aus Drews' Eifer für „eine konsequente Durchführung der großen Idee der Selbstverwaltung ... deren teilweise Verwirklichung schon einmal in schweren Zeiten dem todwunden Staate neue Kräfte und neues Leben zugeführt hat", sprach ein verwandter Geist. Hugo Preuß' letzter, erst ein paar Tage nach seinem Tod in der Frankfurter Zeitung veröffentlichter Aufsatz galt noch der Reform der preußischen Verwaltung. Aber da er einsah, daß die Umstände einem großen Reformwerk nicht günstig waren, empfahl er resignierend, lieber noch etwas abzuwarten, als mit Teilreformen der endgültigen Reform nur neue Hindernisse in den Weg zu legen 14 . Die Ursache für die Verschleppung lag nicht, wie vor der Revolution, in der Absicht der preußischen Regierung oder an dem Interesse des ostelbischen Großgrundbesitzes, den Obrigkeitsstaat gegen die Idee der korporativen Selbstverwaltung zu verteidigen, sondern in den parteipolitischen Verhältnissen der zwanziger Jahre. Je mehr die Sozialdemokratie im Parteikampf geschwächt und zurückgedrängt und je größer die Gefahr von den radikalen Parteien rechts und links wurde, um so mehr wünschte sie, namentlich in ihren tüchtigsten Verwaltungsmännern wie Otto Braun und Carl Severing, ihre Machtstellung in der preußischen Zentralregierung, zumal im Innenministerium, zu verteidigen. Ohne die Bezirksregierungen garantiere er nicht für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, erwiderte Severing einmal im Landtag auf Preuß' Drängen nach einer fundamentalen Verwaltungsreform 15. Obwohl alle Parteien, die sich zur Republik bekannten, Anhänger der kommunalen Selbstverwaltung waren, blieb so Hugo Preuß' Programm einer Kommunalisierung der gesamten inneren Verwaltung unerfüllt. Lediglich gewisse konservative Sonderformen des alten kommunalen Wahlrechts in Preußen und in Sachsen und das halbständische Wahlsystem der preußischen Kreistage wurden von der Republik beseitigt.
3. Das Ende des preußischen Problems Auf dem Gebiet der Reichsreform dagegen wurden bald ernstere Anläufe unternommen. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre warben nun bürgerliche Reformer und erfahrene Kommunalpolitiker aus dem Umkreis des Deutschen Städtetages für den dezentralisierten Einheitsstaat. Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem reibungsvollen Verhältnis zwischen dem Reich und den Ländern, überwiegend Folgen der „Verpfuschung" der Verfassung, kam ihnen bei der Erweckung 14 Preuß, Deutschland und die preußische Verwaltungsreform Frankfurter Zeitung, 11. und 13. Oktober 1925, auch in Staat, Recht und Freiheit, S. 129 ff. 15 Sitzungsbericht des Preußischen Landtags, 2. Juli 1924.
4. Streiter und Lehrer für die Demokratie
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einer Reformbewegung zu Hilfe. Erich Koch-Weser, der Oberbürgermeister von Kassel und Führer der demokratischen Reichstagsfraktion, sein Parteifreund Höpker-Aschoff als preußischer Finanzminister, der Königsberger Oberbürgermeister Lohmeyer, der Hamburger Senator Carl Petersen und wissenschaftliche Autoren wie Anschütz, ferner der Leiter der Verfassungsabteilung im Reichsinnenministerium, Arnold Brecht (1884-1977), sowie Walther Vogel und Hans Goldschmidt arbeiteten in diesem Bestreben zusammen. Am Ende ihrer und ähnlicher Bemühungen, besonders in der Umgebung des früheren Reichskanzlers Hans Luther, kamen schließlich die Länderkonferenz von 1928 und ihr Verfassungsauschuß zustande, der 1930 einen bemerkenswerten Plan zur Revision der Reichs Verfassung vorlegte. Die Vorschläge enthielten nicht nur eine Neuordnung der Kompetenzen von Reich und Ländern, sondern griffen auch mutig und einsichtig das preußische Problem an. Die preußischen Provinzen sollten zu weitgehend selbständigen Ländern „neuer Art", jedoch ohne gesetzgebende Körperschaften, erhoben, der preußische Staatsverband aufgelöst und die Reste der Zentralverwaltung und die Gesetzgebung für die ehemals preußischen Gebiete der Reichsregierung und den preußischen Mitgliedern des Reichstages übergeben werden 16. Der großzügige und vernünftige Plan bewegte sich zwischen den beiden alten Programmen; er vereinigte Gedanken der Aufteilung mit denen der Mediatisierung Preußens, ohne das partikulare Gefühl der Länder „älterer Art" allzu sehr zu reizen. Der Plan erschien ausführbar, wurde aber in den Nöten der Wirtschaftskrise bald wieder beiseite gelegt und fiel schließlich in die Konkursmasse der Republik. Der Widerstand der preußischen Regierung gegen das Kabinett von Papen war der letzte Streitfall zwischen Preußen und dem Reich, und er wurde nun - ganz anders als früher - von einer demokratisch legitimierten preußischen Regierung für die Demokratie im Reich geführt. Hitler beendete den preußisch-deutschen Dauerkonflikt, als er mit dem Länderföderalismus insgesamt auch den Gegensatz zwischen Preußen und dem Reich beseitigte. Die Länder waren nun nur noch unselbständige Verwaltungsbezirke, über die bald ein Netz von Reichsgauen gezogen wurde. Als der Alliierte Kontrollrat am 25. Februar 1947 förmlich die Auflösung des preußischen Staates verordnete, war der alte Knoten in Wirklichkeit längst mit dem Schwert des Diktators zerhauen. Das preußische Problem war hundert Jahre nach Paul Pfizer mit Gewalt erledigt.
4. Streiter und Lehrer für die Demokratie Die Einsicht in das Wesen der preußisch-deutschen Beziehungen Schloß von vorn herein aus, daß die Politik, die Hugo Preuß als Landtagsabgeordneter verfolgte, von den preußischen Interessen allein bestimmt wurde. So suchte er, als er 16 Die Vorschläge des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz sind im Anhang von Arnold Brechts Buch Federalism, Regionalism and the Division of Prussia, New York, 1945, in deutscher Ausgabe Bonn, 1949, abgedruckt.
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V . Die letzten Jahre
vom Spätsommer des Jahres 1919 an sein Mandat ausüben konnte, die künftige preußische Verfassung dem Geist der Reichsverfassung anzupassen. Die Frage der Autonomie der preußischen Provinzen, der Vorschlag eines preußischen „Staatsrates" aus Vertretern der Provinzen und der Verzicht auf einen preußischen Staatspräsidenten, der das Verhältnis zum Reich vermutlich stark belastet hätte, wurden in diesen Verhandlungen zu bedeutungsvollen Entscheidungen für die staatsrechtliche Neuorganisation Preußens17. Auch die politische, nicht bloß die staatsrechtliche Sicherung der Demokratie in Preußen auf der Grundlage einer breiten, verfassungstreuen Koalition gewann um so rascher an Bedeutung für die gesamte deutsche Innenpolitik, als es im Reich nicht mehr gelang, die über dem Versailler Vertrag zerbrochene Weimarer Koalition für längere Zeit wiederherzustellen. Je schwieriger im Reich die Koalitionsbildung wurde und je mehr der Sog von rechts an Kraft zunahm, desto mehr lernte Hugo Preuß die preußische Politik als eine Stütze der Demokratie im Reich zu betrachten. Das preußische Übergewicht ließ sich so noch für einen wertvollen Zweck nutzen. Deshalb griff Hugo Preuß auch die Landtagsabgeordneten der Deutschen Volkspartei heftig an, als sie zu Beginn des Jahres 1925 aus der Koalition mit den Weimarer Parteien austreten, die preußische Regierung stürzen und dann eine Rechtskoalition mit den Deutschnationalen, den offenen Gegnern der Republik, zustande bringen wollten 18 . In einer unzweideutig demokratischen und reichstreuen Politik Preußens sah Hugo Preuß auch eine Voraussetzung dafür, daß das Reich eine feste Haltung gegenüber dem bayerischen Partikularismus und dessen Versuchen zur Revision der Reichsverfassung einnehmen konnte 19 . Der Kapp-Putsch und die Ermordung Erzbergers, der frühe Sieg der Reaktion in Bayern und die antisemitische Hetze gegen Walther Rathenau bis zu dessen Ermordung kennzeichneten die innere Gefährdung der Republik, die sich schon seit den Reichstagswahlen von 1920 nicht einmal mehr auf eine absolute Mehrheit der Parteien der Weimarer Koalition in Volk und Parlament stützen konnte. Hugo Preuß gehörte im preußischen Landtag zu den entschlossensten, aber auch besonnensten Befürwortern eines Gesetzes zum Schutz der Republik, als der Mord an Walther Rathenau während einer Sitzung des Landtags bekannt wurde und die Empörung über das neue politische Banditentum sich in leidenschaftlich erregten Debatten und den heftigsten Vorwürfen gegen die Rechte Ausdruck gab 20 . 17
Preuß in der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung am 28. April, 24. Juni, 28. und 30. Oktober 1920; vgl. auch Preuß, Zur preußischen Verfassungsfrage (Deutsche Politik, 5. Jahrgang, 23. Juli 1920, S. 99 ff.) und seine ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte, der preußischen Verfassung vom 30. November 1920 im Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 10, 1921, S. 222-279. 18
Sitzungsberichte des Preußischen Landtages, 21. Januar 1925. Preußischer Landtag, 26. Januar 1924. Siehe auch Preuß' sehr scharfe Artikelserie „Bayerns Verfassungswünsche", (Berliner Tageblatt, 20., 22. und 24. Januar 1924). 20 Preußischer Landtag, 24. Juni und 6. Juli 1922. 19
4. Streiter und Lehrer für die Demokratie
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Beunruhigt war er auch, und zwar schon seit dem Herbst 1919, über die weniger gewalttätige, gleichwohl nicht weniger gefährliche Gegnerschaft gegen die neue staatliche Ordnung in weiten akademischen Kreisen, unter Professoren und Studenten, namentlich in den Korporationen. Von der Hochschulreform erwartete er vor allem den Versuch, die neue, von unten heraufdrängende Bewegung der Freiheit im weitesten demokratischen Sinne mit der alten Kultur zu durchdringen und zu verschmelzen 21. Später forderte er schärfer, daß der preußische Kultusminister „mit Güte, wo es geht, mit Kraft, wo es nötig ist" in die Selbstverwaltung der Universitäten eingreife, um Mißstände bei akademischen Berufungen zu beseitigen, und vor allem nicht in den Fächern des öffentlichen Rechts und der neueren Geschichte gestatte, daß reaktionäre Professoren qualifizierte demokratisch gesinnte junge Leute an der Habilitation hinderten 22. Noch deutlicher sprach seine Sorge um das Schicksal der Republik aus seinen politischen Schriften. In einem Lande mit einer Opposition, die sich nicht nur als Gegensatz zur Regierung, sondern zu Staat und Verfassung überhaupt verstand, konnte sich das parlamentarische System nicht lebendig und fruchtbar entfalten; es ist eben auf eine regierungsfähige Opposition aus dem Geist der Partnerschaft angewiesen. Gewissen- und verantwortungslos bemühten sich die radikalen Parteien und Gruppen, besonders auf der Rechten, zuerst den Parlamentarismus zu sabotieren und ihn dann bei den Wählern zu diskreditieren. Es gab keine verfassungstreue Oppositionspartei, die unzufriedene Wähler hätte auffangen und sammeln können, um eines Tages eine andere demokratische Regierung zu bilden. Jede Schwächung und Abnützung der Regierungsparteien, die bei den vielfältigen Schwierigkeiten der Reichsregierung in der inneren und auswärtigen Politik der ersten Nachkriegsjahre unvermeidlich waren, bedeuteten Gewinne für die kommunistische und noch mehr für die schwarz-weiß-rote Reaktion. Aus dem rapiden Zusammenschmelzen der Wähler der demokratischen Mitte, das auch durch die Aufnahme der Deutschen Volkspartei in die Koalition nicht aufgehalten wurde, erhob sich eine akute Gefahr für den Bestand der neuen Ordnung. Immer wieder suchte Hugo Preuß deshalb in den politischen Artikeln der ersten Jahre nach dem Kriege der deutschen Öffentlichkeit zu zeigen, daß es in Deutschland nach Lage der Dinge überhaupt keine andere Staatsform, weder die Restauration der Monarchie, des auf Militär und Beamtentum gestützten Obrigkeitsstaates, noch die Sonderexistenz der Einzelstaaten geben könne. Alle Chancen der deutschen Wiederaufrichtung ruhten allein auf dem deutschen Nationalstaat, der nur in der Form der demokratischen Republik und gegründet auf die Solidarität und das Staatsbewußtsein des einen deutschen Volkes möglich war. Den „Eisenfressern" und Predigern nationaler Machtpolitik warf er vor, durch die Betonung ihrer besonders „deutschen" und „nationalen" Gesinnung gegenüber den anderen Parteien innere Gegensätze aufzureißen und die Bildung eines gemeinsamen Staatsgefühls 21 22
Verfassunggebende Preußische Landesversammlung, 9. Dezember 1919. Preußischer Landtag, 13. Dezember 1921 und 12. Mai 1923.
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V . Die letzten Jahre
der politisch organisierten Gesamtheit, einer nationalen Solidarität über alle Parteien hinweg, zu verhindern 23. Immer wieder versuchte er auch die richtige Handhabung des parlamentarischen Systems zu erklären, die Notwendigkeit einer regierungsfähigen Opposition, der Kompromißbereitschaft in praktischen Fragen und der Mäßigung des Wahlkampfes, um später notwendigen Kompromissen den Weg zu ebnen24. Leidenschaftlich erregten ihn die Versuche der Deutschen Volkspartei, die Deutschnationalen in die preußische Regierung aufzunehmen 25 und sie die Verantwortung mittragen zu lassen, in der irrigen Hoffnung, so weitere Stimmverluste ihrer eigenen Partei an die radikale Rechte zu verhindern. Niemals in diesen Jahren schrieb Hugo Preuß für die Sache seiner Partei. Fortwährend, ganz besonders aber jetzt entsprang sein Bemühen einem persönlich uninteressierten, allgemeineren politischen Wollen. Sein mahnender Eifer und seine prophetische Sorge wurzelten in dem reinen Bewußtsein des politischen Erziehers und Reformers, der in dem latenten Krisenzustand der Republik das drohende Verhängnis erkannte und das verwirrte und in selbstzerstörerischer Verfehdung zerfallene Volk zu Einsicht und Einigung auf dem Boden der republikanischen Verfassung rief. Ganz besonders bedrückte ihn die von staatlicher Auflösung nicht mehr ferne Not des Jahres 1923, der Ruhrkampf der Regierung Cuno und der Währungsverfall, die rücksichtslose Agitation der Opposition gegen die „jüdische" und „marxistische" Republik, der Separatismus im Westen und der schwere Konflikt des Reiches mit dem reaktionären Partikularismus Bayerns, mit dessen Billigung der Nationalsozialismus Hitlers ungestört wachsen durfte und Abenteurer von seinem oder dem Schlage der Kapp-Putschisten mit stillschweigendem Asyl oder der Milde der Gerichte rechnen durften, sofern sie nur gegen die Sozialdemokraten und gegen „Berlin" waren. Entsetzt über die fortgeschrittene Desintegration des politischen Gemeinschaftsgefühls in Deutschland schrieb Hugo Preuß im Januar 1924: „Bereits kündigen die Wirkungen des konzentrierten Vorstoßes gegen die Weimarer Verfassung sich deutlich genug an: die Entfesselung des Krieges aller gegen alle. Den bayerischen Ansprüchen folgen naturgemäß die preußischen, und ihnen werden alle die anderen folgen. Auf den Alarmruf aus dem katholischen Süden antwortet die Mobilmachung des norddeutschen Protestantismus ... Partikularismus und Reaktion hetzen gemeinsam gegen den »Marxismus4, um jede Möglichkeit des sozialen Ausgleichs zu verhindern. Und in all diese Feuer bläst der größte aller Hetzer, der Antisemitismus, mit vollen Backen hinein ... Erkennen die Kräfte im deutschen Volke, die im Schrecken der Niederlage durch die Wei23 Vgl. dazu Preuß, Nationale Demokratie, 1920 (Staat, Recht und Freiheit, S. 429 ff.), Zum zweiten Jahrestage der republikanischen Reichsverfassung (Berliner Tageblatt, 11. August 1921), Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat (Handb. der Politik, 3. Band, 1921, S. 16 ff.). 24 Vgl. dazu Preuß, Die Unmöglichkeit des Notwendigen (Frankfurter Zeitung, 4. April 1920), Unser Parlamentarismus und unsere auswärtige Lage, (Berliner Tageblatt, 13. April 1921), Parlamentarische Regierungsbildung (Berliner Tageblatt, 9. Okt. 1921), Regierungsfähige Opposition (Berliner Tageblatt, 31. Juli 1923). 25 Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, Berlin, 1924, S. 86.
4. Streiter und Lehrer für die Demokratie
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marer Reichsverfassung die Reichseinheit gerettet und den Grund zum deutschen Nationalstaat gelegt haben, noch immer nicht, was ihre drängendste Pflicht ist? Wollen sie in stumpfer Müdigkeit die Dinge, noch weiter in Elend und Zerrüttung treiben lassen?"26. Tiefe Depressionen über diese Entwicklung verdüsterten Hugo Preuß' letzte Jahre. Es war alles so anders gekommen, als er sich den deutschen Volksstaat, die Überwindung der politischen Rückständigkeit des deutschen Volkes vorgestellt hatte. Die Reichstags wählen vom 4. Mai 1924 zeigten, wie weit das demokratische Fundament bereits unterspült war. Rechts standen 7,5 Millionen, links 3,7 Millionen Wähler gegen die Republik. Die Deutschnationalen allein waren fast so stark geworden wie die Sozialdemokraten. Zu dieser Republik hatte Hugo Preuß durch die Arbeit an der Verfassung ein noch viel persönlicheres Verhältnis als viele andere aufrichtige Demokraten. Sein lebenslanges Streben hatte dem deutschen Verfassungsstaat gegolten. Nach vielen, jahrzehntelangen Mühen erschien die Erfüllung in greifbarer Nähe - und nun wurde sein Wert von der Gesamtheit der Wähler nicht erkannt. Die Deutschnationalen und Nationalsozialisten erhielten sogar Zulauf, wenn sie die Weimarer Demokratie und ihre Führer schmähten. Nach den Schandtaten von Nationalisten an Erzberger und Rathenau gingen nun die Deutschnationalen in der abscheulichsten Weise gegen den Reichspräsidenten Ebert vor, der sich in der Abwehr der gemeinen Hetze aufrieb und in den Tod getrieben wurde 27 . Hugo Preuß' Niedergeschlagenheit über diese Entwicklung, sogar eine gewisse Müdigkeit vom vielen vergeblichen Kämpfen, lassen sich deutlich aus den letzten Reden im Landtag heraushören. Zuweilen jedoch schlug diese Stimmung für einige Augenblicke wieder in verzweifelte Entschlossenheit um, besonders, als er nach Eberts Tod für die Wahl des Katholiken Marx gegen Hindenburg agitierte und die protestantischen, sozialdemokratischen und demokratischen Wähler warnte, sich nicht von der gegnerischen Propaganda mit dem Gespenst der „klerikalen Gefahr" beirren zu lassen28. Denn jetzt galt es vor allem anderen, die republikanischen Einrichtungen gegen die Reaktion zu verteidigen. Die wissenschaftliche Tätigkeit in diesen Jahren galt einem groß angelegten Werk über die Weimarer Verfassung. Hugo Preuß durfte als einer ihrer berufensten Interpreten gelten. Wahrscheinlich faßte er den Plan zu seinem „Staatsrecht der deutschen Republik" schon während der Entstehungszeit der Verfassung. Das Werk sollte in drei Teilen die historisch-verfassungspolitischen Grundlagen, die rechtstheoretisch-dogmengeschichtliche Entwicklung und schließlich den Verfassungstext in Analyse und Kommentar behandeln. Der dritte, schon 1921 begonnene Teil wurde nicht nur als Notenkommentar angelegt, sondern stellte auch aus26 Preuß in der Artikelserie „Bayerns Verfassungswünsche", (Berliner Tageblatt, 20., 22. und 24. Januar 1924). 2 ? Erich Eyck, a. a. O., S. 439. 28 Preuß, Die Reichspräsidentenwahl und die „klerikale Gefahr", (Illustrierte Reichsbanner-Zeitung, 18. April 1925).
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V . Die letzten Jahre
führlich die Entstehungsgeschichte der einzelnen Bestimmungen dar. Er wurde von Gerhard Anschütz nach Hugo Preuß' Tode als Fragment mit dem Titel „Reich und Länder" herausgegeben. Der Torso des Werkes zeigte Hugo Preuß auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft. Den zweiten, dogmengeschichtlichen Teil hatte er noch nicht begonnen. Die historischen Grundlagen dagegen waren bei seinem Tode schon beträchtlich fortgeschritten und wurden von Hedwig Hintze als Fragment aus dem Nachlaß veröffentlicht. In weitgespannter, vergleichender Darstellung der deutschen und der westeuropäischen Verfassungsgeschichte beschrieb Hugo Preuß darin wiederum den Kampf zwischen dem genossenschaftlich-korporativen Prinzip der Städte und dem Prinzip lehnsrechtlich-agrarischer Organisation, den Aufstieg des Territorialfürstentums in Deutschland, den Absolutismus in Preußen und Österreich und die Anfänge nationalstaatlicher Entwicklung bei den westlichen Nachbarvölkern. Mitten in der Schilderung der „Glorious Revolution" in England brach das Werk unvermittelt ab. *
Am letzten Tage, dem 8. Oktober 1925, hatte Hugo Preuß noch an einer Sitzung des Verfassungsausschusses im preußischen Landtag teilgenommen. Ein wichtiger Paragraph der Städteordnung war nach heftiger Debatte in seiner Formulierung angenommen worden. Zufrieden über den Erfolg verbrachte er den Abend zusammen mit seiner Frau und den drei Söhnen. Kurz vor Mitternacht ging er in sein Arbeitszimmer, um noch an dem Werk über die Verfassung weiterzuschreiben. Zwei Stunden später, in der Frühe des 3. Oktober, war seinem Leben ein Ende gesetzt29, das bis in den letzten Tag im Gedanken an die Selbstverwaltung und die deutsche Demokratie gestanden hatte. Der Präsident des preußischen Landtages gab Hugo Preuß' Tod ein paar Tage später vor dem Plenum bekannt: „Mit Dr. Preuß", so sagte er nach dem stenographischen Bericht, „ist ein aufrechter Kämpfer für die republikanische Staatsform dahingegangen. Um ihn trauern große Teile des deutschen und des preußischen Volkes.. ..Seine Arbeiten um die Verfassungen des Reiches und Preußens werden ihm ein andauerndes Andenken sichern."
29 Ernst Feder, a. a. O., S. 27 f.
Anhang 1. Verzeichnis der Schriften von Hugo Preuß Diese Liste ist im wesentlichen dem im Anhang zu „Staat, Recht und Freiheit" von Theodor Heuß veröffentlichten Verzeichnis entnommen, wurde jedoch um eine Anzahl Titel vervollständigt und in einzelnen Angaben ergänzt oder berichtigt.
1885 - Deutschland und sein Reichskanzler gegenüber dem Geist unserer Zeit (Deutsche Zeitund Streitfragen, Jahrgang 14, Heft 209) - Kolonialpolitik und Reichsverfassung (Die Nation, 1884/85, S. 214ff.) - Aus den Denkwürdigkeiten eines Deutsch-Amerikaners (Die Nation, 1884/85, S. 409 ff.) - Eine Entwicklungsgeschichte der deutschen Einheit (Die Nation, 1884/85, S. 637 ff.) - Die russischen Auslieferungsverträge und die Reichskompetenz (Die Nation, 1885/86, S. 127 ff.)
1886 - Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten (Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, Heft 12) - Finis Britanniae (Die Nation, 1886/87, S. 55 ff.)
1887 - Die neue Militärvorlage (Die Nation, 1887/88, S. 161 ff.) - Friedenspräsenz und Reichsverfassung, eine staatsrechtliche Studie, Verlag Rosenbaum, Berlin
1888 - Was uns fehlt, politische Anregungen, Verlag Rosenbaum, Berlin (Sonderdruck aus dem Deutschen Montagsblatt)
1889 - Die Persönlichkeit des Staates, organisch und individualistisch betrachtet (Archiv für Öffentliches Recht, 1889, S. 62 ff.)
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Anhang
- Die organische Bedeutung der Artikel 15 und 17 der Reichs Verfassung (Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften, 1889, S. 420 ff.) - Gemeinde., Staat, Reich als Gebietskörperschaften Berlin, Springer.
1891 - Das Völkerrecht im Dienste des Wirtschaftslebens, Berlin (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 99/100)
1892 - Naturgesetze der Politik (Berliner Tageblatt, 4. und 11. Januar) - Die Bodenbesitzreform als soziales Heilmittel (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 109/ 111)
1894 - Reichs- und Landesfinanzen, Berlin (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 121/122)
1895 - Die Umsturzvorlage und die Städte (Soziale Praxis, 4. Jahrgang, Nr. 32)
1897 - Die Junkerfrage I-IX (Die Nation, 1896/97, Nr. 34-42, auch als Sonderdruck bei Rosenbaum, Berlin)
1898 - Die Maßregelung jüdischer Lehrerinnen in Berliner Gemeindeschulen; Rede, gehalten in der Berliner Stadtverordneten-Versammlung, Berlin, Siegfried Cronbach - Konfessionelle Kandidaturen (Die Nation, 1898/99, S. 17 ff.)
1899 - Das Bekenntnis des Kultusministers und die Konfessionalität der Berliner Schulen (Die Nation, 1898/99, Nr. 28)
1900 - Stellvertretung oder Organschaft? (Iherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts, 2. Folge, S. 429 ff.)
1. Verzeichnis der Schriften von Hugo Preuß
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Qu'est-ce que c'est le tiers état? (Die Nation, 1900/01, Nr. 29) Politik und Selbstverwaltung (Die Nation, 1900/01, S. 132ff.)
1902 Der konstitutionelle Gesetzesbegriff und seine praktischen Rechtsfolgen (Vortrag, gehalten in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin in der 357. Sitzung am 11. Oktober 1902) Geschichte des Bestätigungsrechts in Preußen (Preußische Jahrbücher, Band 107, Heft 2) Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin, Reimer Über Organpersönlichkeit, eine begriffskritische Studie (Schmollers Jahrbuch, 26. Jahrgang, S. 557 ff.)
1903 Ein Zukunftsstaatsrecht (Archiv für Öffentliches Recht, Bd. 18, S. 373 ff.)
1904 Kommunale Steuerfragen (Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform, Heft 15, S. 35 ff.) Das Recht der Stadtgemeinden an den Gemeindeschulen in Preußen (Die Nation, 1904/ 05, S. 3 ff.) Vom ministeriellen Bekleidungsstück (Die Nation, 1904/05, Nr. 3)
1905 Zur sozialen Entwicklungstendenz städtischer Selbstverwaltung (Europa, Wochenschrift für Kultur und Politik, 1. Jahrgang, Heft 18, 18. Mai 1905) Das Recht der städtischen Schulverwaltung in Preußen, Berlin, R. L. Prager
1906 Zum Recht der städtischen Schulverwaltung, eine Replik (Archiv für Öffentliches Recht, Band 20, S. 230 ff.) Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Leipzig, Teubner Die internationale Entwicklung des Selbstverwaltungsprinzips, I und II (Kommunale Praxis, Nr. 32 und 33, 9. und 16. August)
1908 Verwaltungsreform und Politik (Zeitschrift für Politik, Band I., Heft 1, S. 95 ff.) Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität (Festgabe für Paul Laband, Band 2, S. 199 ff., Tübingen)
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Anhang
- Zur Säkularfeier der Steinschen Städteordnung (Frankfurter Zeitung, 53. Jahrgang, Nr. 321, 18. November) - Die Entwicklung der deutschen Städte seit dem Erlaß der Steinschen Städteordnung von 1808 (Rede, gehalten auf dem Preußischen Städtetag zu Königsberg) - Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Stein-Hardenbergschen Reform, Berlin (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 232)
1909 - Ein sozialpolitischer Schwanengesang (Preußische Jahrbücher, Band 136, Heft 1, S. 103 ff.) - Rede bei der Trauerfeier fur Theodor Barth (Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, 10. Juni) - Politische Literaturglossen, I. und II. (Berliner Tageblatt, 38. Jahrgang, Nr. 64 und 66)
1910 - Der Tempelhofer Feldzug (Die Hilfe, 16. Jahrgang, Nr. 40, S. 634 ff.) - Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform (Festgabe für Otto Gierke, Breslau, 1. Band, S. 247 ff.) - Zur preußischen Verwaltungsreform, Denkschrift, verfaßt im Auftrage der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, Leipzig, Teubner
1911 - Sozialpolitik im Berliner Verkehr (Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform, Ortsgruppe Berlin)
1912 - Verwaltungsreform und Staatsreform in Österreich und in Preußen (Zeitschrift für Politik, Band 5, Heft 1, S. 219 ff.) - Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland (Handbuch der Politik, Berlin, Rothschild, S. 198 ff.) - Anschütz Kommentar zur preußischen Verfassung (Preußische Jahrbücher, Band 150, Heft 3, S. 473 ff.)
1913 - Wohnungsreform, Staatspolizei, Selbstverwaltung (Vossische Zeitung, Nr. 79 und 92, 13. und 20. Februar 1913) - Artikel „Verwaltung" („Das Jahr 1913", Leipzig, Teubner, S. 112 ff.)
1. Verzeichnis der Schriften von Hugo Preuß
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Zur Verwaltungsorganisation größter Städte (Die Hilfe, Jahrgang 19, Nr. 47 und 48) Öffentliches und Privatrecht im Städtebau (Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Band 6, Heft 2, S. 341 ff.)
1914 Die Novelle zum preußischen Kommunal-Abgabengesetz (Deutsche Juristen-Zeitung, 19. Jahrgang, Nr. 6, Sp. 402 ff.)
1915 Großberliner Neuorientierung? (Vossische Zeitung, Nr. 496, 28. September) Das deutsche Volk und die Politik, Jena, Eugen Diederichs (Politische Bibliothek, Nr. 14)
1916 Völkerrecht und Völkerkrieg (Neue Badische Landeszeitung, 61. Jahrgang, Nr. 446) Die Kanzlerfalle (Berliner Tageblatt, 45. Jahrgang, Nr. 505, 2. Oktober) Obrigkeitsstaat und großdeutscher Gedanke, zwei Vorträge, Jena, Eugen Diederichs (Politisches Leben)
1917 Selbstverwaltung und Staatsaufsicht (Vortrag, gehalten im Berliner Anwaltverein, 15. Februar 1917) Des Reiches bundesstaatlicher Charakter in Gefahr? („Der März", 2. Jahrgang, Heft 12) Wahlrechtsfragen und „konservativer Fortschritt" (Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung, 2. Jahrgang, Nr. 21) Zur Verwaltungsreform in Preußen (Berliner Tageblatt, 46. Jahrgang, Nr. 294, 12. Juni 1917) Parlamentarisierung - ein Brief (Frankfurter Zeitung, 62. Jahrgang Nr. 213, 4. August 1917) Wahlen ohne Wahlkreise (Frankfurter Zeitung, 62. Jahrgang, Nr. 228, 19. August 1917) Obrigkeitspolitik und Wahlrecht (Berliner Tageblatt, 46. Jahrgang, Nr. 605, 27. November 1917) Einfach das Reichstags Wahlrecht! (Frankfurter Zeitung, 62. Jahrgang, Nr. 352, 21. Dezember 1917) Groß-Berlins Zukunft (Berliner Tageblatt, 46. Jahrgang, Nr. 660, 28. Dezember 1917) Weltkrieg, Demokratie und Deutschlands Erneuerung (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 44, Heft 1, S. 242 ff.)
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Anhang
- Der Kernpunkt der preußischen Wahlrechtsfrage (Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung, 2. Jahrgang, Nr. 52)
1918 - Offener Brief an Herrn William Harbutt Dawson (Die Neue Rundschau, 29. Jahrgang, 3. Heft, S. 397 ff.) - Deutschland und die „Zentren des europäischen Gewissens" (Frankfurter Zeitung, 63. Jahrgang, Nr. 235, 25. August) - Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat? (Berliner Tageblatt, 14. November)
1919 - Die deutsche Reichs Verfassung vom 11. August 1919, Textausgabe, herausgegeben von Hugo Preuß - Deutschlands Staatsumwälzung, die verfassungsmäßige Grundlage der deutschen Republik, Berlin, Zentralverlag
1920 - Die „Unmöglichkeit" des Notwendigen (Frankfurter Zeitung, 64. Jahrgang, Nr. 253, 4. April) - Zur preußischen Verfassungsfrage (Deutsche Politik, 5. Jahrgang, Heft 30, 23. Juli, 5. 99 ff.)
1921 - „Republik und Monarchie" - „Reich und Preußen" (Deutsche Politik, 6. Jahrgang, Heft 6, 4. Februar 1921, S. 127 if.) - Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat (Handbuch der Politik, Band 3, 2. Auflage, Berlin, Rothschild, S. 16 ff.) - Die Verfassung des Freistaates Preußen (Jahrbuch des Öffentlichen Rechts, Band 10, 5. 222 ff.) - Unser Parlamentarismus und unsere auswärtige Lage (Berliner Tageblatt, 50. Jahrgang, 13. April 1921) - Deutschlands republikanische Reichsverfassung, Berlin, Stilke - Bergbriefe, Frankfurt, Societätsdruckerei - Zum 2. Jahrestage der republikanischen Reichsverfassung (Berliner Tageblatt, 50. Jahrgang, A-Nr. 189, 11. August 1921) - Parlamentarische Regierungsbildung (Berliner Tageblatt, 50. Jahrgang, A-Nr. 240, 9. Oktober 1921)
1. Verzeichnis der Schriften von Hugo Preuß
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1922 - Artikel 18 der Reichsverfassung, seine Entstehung und seine Bedeutung, Berlin, Heymann - Deutschlands innenpolitisches Elend und die Verfassungspartei (Berliner Tageblatt, 51. Jahrgang, Nr. 323, 23. Juli 1922)
1923 - Staatsverwaltungsreform und Selbstverwaltungsreform 62. Jahrgang, 3. Februar 1923)
(Deutsche Gemeindezeitung,
- Deutscher Frühling? (Berliner Börsen-Courier, 1. April 1923) - Am Todestage Walther Rathenaus (Berliner Börsen-Courier, 24. Juni 1923) - Regierungsfähige Opposition (Berliner Tageblatt, 31. Juli 1923) - Reichsverfassungsmäßige Diktatur (Zeitschrift für Politik, Band 13, Heft 2, S. 97 ff.) - Sachsen, Bayern und die Reichsverfassung (8-Uhr-Abendblatt, 30. Oktober 1923) - Länderstaatlichkeit - nationale Ohnmacht (Vossische Zeitung, 17. November 1923)
1924 - Wahlvorbereitung (8-Uhr-Abendblatt, 5. und 10. Januar 1924), Bayerns Verfassungswünsche (Berliner Tageblatt, 20., 22. und 24. Januar 1924) - Fünf Jahre Reichsverfassung (Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, 10. August 1924) - Um die Reichsverfassung von Weimar, Berlin, Rudolf Mosse - Der deutsche Nationalstaat, Frankfurt, Societätsdruckerei („Die Paulskirche") - Die Mär von der preußischen Verwaltungsreform (Berliner Tageblatt, 28. September 1924) - Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, Jena, 1914-1924 (Mitherausgeber Hugo Preuß), Artikel: Bestätigung, Dezentralisation und Zentralisation, Disziplinarverfahren, Gemeinde, Gemeindebeamte, Gemeindeverfassungen, Kommunalverbände, Selbstverwaltung, Staatsaufsicht, Stadt und Stadtverfassung, Verwaltungsorganisation (Allgemeines)
1925 - Auch noch Verfassungskonflikt in Preußen? (Berliner Tageblatt, 28. März 1925) - Die Reichspräsidentenwahl und die „klerikale Gefahr" (Illustrierte Reichsbanner-Zeitung, 18. April 1925) - Die Bedeutung des Artikels 48 der Reichs Verfassung (Die Hilfe, 15. Mai 1925) - Die heutige politische Lage des Reichs und das deutsche Judentum (Jüdisch-liberale Zeitung, 26. Juni 1925) 12 Gillessen
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Anhang
1926 - Staat, Recht und Freiheit, herausgegeben von Theodor Heuß, Tübingen, J.C.B. Mohr
1927 - Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa, aus dem Nachlaß herausgegeben von Hedwig Hintze, Berlin, Carl Heymann
1928 - Reich und Länder, aus dem Nachlaß herausgegeben von Gerhard Anschütz, Berlin, Carl Heymann
2. Quellen-Verzeichnis a) Unveröffentlichte
Quellen
Badisches Generallandesarchiv, Karlsruhe: Abt. 233 (Staatsministerium), Band 12888 („Reichsverfassung" 1919 bis Ende April 1919), darin enthalten die „Aufzeichnung über die Besprechungen im Reichsamt des Innern vom 25. Januar 1919 über den der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vorzulegenden Verfassungsentwurf' sowie die Beratungen des Ausschusses der Staatenvertreter vom 26. bis zum 30.Januar 1919, die Verhandlungen eines engeren Ausschusses vom 1. Februar, die Beratungen der Staaten Vertreter vom 5. bis zum 8. Februar, die Beratungen des Staatenausschusses vom 18. bis zum 20. Februar und am 21. Februar 1919 Berliner Hauptarchiv (Ehemaliges Preußisches Geheimes Staatsarchiv), Berlin-Dahlem, Repositur 90 (Preußisches Staatsministerium) - Band Nr.: 226 300 301 302 303 304
„Eingaben zur Verfassungs- und Verwältungsreform im Reich und in den Ländern" „Die Verfassung des Deutschen Reiches", 1918 bis März 1919 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", März bis April 1919 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", April bis Juli 1919 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", Juli 1919 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", Juli 1919 bis 1925
Deutsches Zentralarchiv I (Ehemaliges Reichsarchiv), Potsdam-Sanssouci - „Inneres", Band Nr.: 14 400 14 402 16 687 16 807
„Persönliche Eingänge der Staatssekretäre Wallraf und Preuß", September 1918 bis April 1919 „Verfassunggebende deutsche Nationalversammlung", Januar 1919 bis August 1919 „Reichsverfassung", 1. November 1918 bis 29. Juli 1922 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", Dezember 1918 bis Januar 1919
2. Quellen-Verzeichnis 16 808 16 809 16 810 16 811 16 812 16 813 16 816 16 990 16 991
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„Die Verfassung des Deutschen Reiches", Februar 1919 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", März 1919 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", April 1919 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", Mai-Juni 1919 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", 1. bis 23. Juli 1919 „Die Verfassung des Deutschen Reiches", 23. Juli 1919 bis Januar 1920 „Beiheft Presseäußerungen" „Zentralstelle für Gliederung des Deutschen Reiches", Mai 1919 bis Oktober 1920 November 1920 bis November 1925
Deutsches Zentralarchiv I I (Ehemaliges Preußisches Geheimes Staatsarchiv), Merseburg: Repositur 90a Repositur 77 Repositur 76
(Preußisches Staatsministerium), Abt.B, tit.HI, 2b, Nr. 6, Band 168 (Sitzungsprotokolle des Staatsministeriums 1919) (Preußisches Ministerium des Innern), Abt.I, Sekt. 4, tit.253a. No.45, Beiakten 2, („Dezentralisierung Preußens") (Preußisches Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Abt. Va, Sekt.2, tit. IV, Nr. 49) vol. II und III („Die Privatdozenten in der jur. Fakultät Berlin", 1863-1914)
Regierungspräsidium Nordbaden, Karlsruhe: Registratur der Abt. I. „Badisches Staatsministerium, Protokolle über Sitzungen des Gesamtministeriums vom 21. November 1918 bis zum 31. März 1919" Württembergisches Staatsarchiv, Ludwigsburg: E 131 (Staatsministerium), Band B.I.16 („Sitzungsprotokolle des Staatsministeriums", November 1918 bis Dezember 1919)
b) Gedruckte Quellen Berichte und Protokolle des 8.Ausschusses der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin, 1920 Sitzungsberichte der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, Tagung 1919/ 1921, Berlin, 1921 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 1. Wahlperiode 1921-1925, 2. Wahlperiode 1925-1928, Berlin Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordneten-Versammlung der Haupt-und Residenzstadt Berlin, 1895-1910 (Die Bände 1895-1902 sind heute in der Berliner Ratsbibliothek, Ost-Berlin; die Jahrgänge 1903-1910 im Rathaus Charlottenburg, Verwaltungsbücherei) Stenographische Berichte über die Verhandlungen der Nationalversammlung, Berlin, 1919
12*
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Anhang
3. Literatur-Verzeichnis Diese Liste enthält nur eine Auswahl der wichtigsten Literatur. Die in Anmerkung Nr. 2 des 7. Kapitels angegebenen Titel von kritischen Aufsätzen zu Hugo Preuß' Verfassungsentwurf sind in diesem Verzeichnis nicht angeführt. Altmann, Wilhelm (Hrsg): Ausgewählte Urkunden zur Brandenburgisch-Preußischen Verfassungs-und Verwaltungsgeschichte, 2. Teil, Berlin, 1897 Anschütz, Gerhard: Das preußisch-deutsche Problem („Recht und Staat", Nr. 22), Tübingen, 1922 - Die kommende Reichsverfassung, Deutsche Juristen-Zeitung 24. Jahrgang, 1. Februar 1919, Sp. 113 ff. - Die preußische Wahlreform, Berlin, 1917 Apelt, Willibalt: Geschichte der Weimarer Verfassung, München, 1946 Becker, Walter: Föderalistische Tendenzen im deutschen Staatsleben seit dem Umstürze der Bismarckschen Verfassung, Breslau, 1928 („Abhandlungen aus dem Staats- und Verwaltungsrecht", Nr. 40) Bergsträsser,
Ludwig: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, München, 1952
- Die preußische Wahlrechtsfrage im Kriege und die Entstehung der Osterbotschaft 1917, Tübingen, 1929 Beyersdorff, Hans: Die Staatstheorien in der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung von 1919, Kiel, jur. Diss. 1928 Braun, Otto: Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem? Berlin, 1927 - Von Weimar zu Hitler, Hamburg 1949 Brecht, Arnold: Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preußens, Bonn, 1949 Brentano, Lujo: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931 Ebert, Friedrich: Schriften, Aufzeichnungen, Reden, 2. Band, Dresden, 1926 Eyck, Erich: Geschichte der Weimarer Republik, Zürich, 1954 Feder, Ernst: Hugo Preuß, ein Lebensbild, Berlin, 1926 - Theodor Barth und der demokratische Gedanke, mit einem Vorwort von Hugo Preuß, Gotha, 1919 Friedensburg,
Ferdinand: Die Weimarer Republik, Berlin, 1946
Gierke, Otto: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Berlin, 1868-1913 - Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, Schmollers Jahrbuch, Band 7 (1883), S. 1097 ff. - Die Steinsche Städteordnung, Berlin, 1909 („Akademische Reden und Abhandlungen") - Das Wesen der menschlichen Verbände, Leipzig, 1902 Goldschmidt, Hans: Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung, Berlin 1931
3. Literatur-Verzeichnis
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Hackl, Walther: Der Versuch einer Parlamentarisierung im Jahre 1917, München, jur. Diss., 1949 Hausmann, Conrad: Der Linksliberalismus, Handbuch der Politik, 2. Band, Berlin, 1912 Heffter,
Heinrich: Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950
Heller, Hermann: Die Souveränität, Berlin, 1927 Hermens, Ferdinand Aloys: Demokratie und Wahlrecht, Paderborn, 1933 (Görres-Gesellschaft, Veröffentl. d. Sektion für Sozial- und Wirtschaftswissenschaft, 6. Heft) - Demokratie oder Anarchie, Untersuchung über die Verhältniswahl, Frankfurt, 1951, (Wissenschaftl. Schriften d. Instituts z. Förderung öffentl. Angelegenheiten, Frankfurt a. M.) Herrfahrdt, Herzfeld, hefte)
Heinrich: Das Problem der berufsständischen Vertretung, Stuttgart, 1921 Hans: Die moderne Welt 1789-1945, Braunschweig, 1950 (Westermanns Studien-
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Nachwort Von Manfred Friedrich
Es ist für einen Autor bestimmt ein Wagnis, wenn er seine vor einem halben Jahrhundert entstandene Dissertation erst heute veröffentlicht. Im Falle von Günther Gillessens bei Clemens Bauer entstandener Freiburger Diss. phil. von 1955 „Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik" kommt jedoch die Veröffentlichung nicht zu spät. Die bisher nur als leicht vergilbtes maschinenschriftliches Exemplar in den Universitätsbibliotheken benutzbare Dissertation war die erste umfassendere Arbeit über Leben und Werk des geistigen „Vaters" der Weimarer Reichs Verfassung. Eine vergleichbare Arbeit gibt es bis heute bemerkenswerterweise nicht. Bei Einordnung in eine literarische Gattung ist Gillessens Dissertation unzweifelhaft als Biographie zu bezeichnen, er nennt sie auch so, nämlich eine „ideengeschichtlich-politische Biographie". Daß sie ohne ein Seitenstück ist, zeigt augenfällig die ehrgeizige neueste Studie zum Thema „Hugo Preuß": Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutung bei Hugo Preuß - Beiträge zur demokratischen Institutionenlehre in Deutschland, Baden-Baden 1998; obwohl wesentlich umfänglicher, sieht jene vom politischen Wirken erklärtermaßen ab. Auch ein begabter historischer Erzähler wie Gillessen hat natürlich die Stoffgrenze für eine Hugo Preuß-Biographie nicht überschreiten können. Keineswegs kann man den Quellenbestand für den Autor einer solchen Biographie sonderlich groß nennen, zumal Zeugnisse persönlicher Art fehlen, wofür hauptsächlich der Verlust des Nachlasses bei der Emigration der Familie verantwortlich sein dürfte. Immerhin hat Gillessen noch einiges nicht in den Archiven Auffindbares seinen Quellen hinzufügen können. So verdankt er einem der Söhne von Hugo Preuß neben privaten Mitteilungen die Kenntnis einiger unbekannter persönlicher Briefe; auch das Gespräch mit zwei Männern, die Preuß aus seiner politischen Arbeit gekannt und noch in den 1950er Jahren gelebt haben, ist nicht ohne ausgewiesenen Niederschlag geblieben: mit Willibalt
Apelt und Eugen Schiffer.
Daß ein Hugo Preuß-Biograph nicht damit rechnen kann, noch unbekannte Quellen heranziehen zu können, auch unter den Quellen, die Gillessen nach seiner Mitteilung nicht ausfindig machen konnte, die wichtigen Protokolle der allerersten Sitzungen des Kabinetts Scheidemann in der Tat sich nicht auffinden lassen, da es sie nicht gibt, kann auf eine „große" Hugo Preuß-Biographie schwerlich hoffen
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lassen, d. h., die bald fünfzig Jahre alte wissenschaftliche Erstlingsarbeit Gillessens hat diese nach aller Voraussicht auch weiterhin zu ersetzen. Mehr als das Spärliche, das Gillessen über Kindheit und Jugend ermitteln konnte, wird sich nach aller Wahrscheinlichkeit auch zukünftig nicht ermitteln lassen. Eher könnten über den Politiker Hugo Preuß noch neue Forschungsergebnisse anfallen, einfach da er unter verschiedenen Aspekten das historische Interesse auf sich ziehen kann. Der „Kommunalpolitiker" Hugo Preuß ist allerdings durchaus erforscht. Lehnert hat ihn zwar nicht zum Mittelpunkt, widmet ihm aber ausführlichen Raum, und zwar schon in der Studie: Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888-1914, Baden-Baden 1994. Jedoch enthält auch schon Gillessens Arbeit zu diesem Wirkensfeld bemerkenswerte Details. Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung (Historische Studien, Heft 394, Lübeck 1965), bringt zur Tätigkeit von Preuß als Berliner Stadtverordneter und Berliner ehrenamtliches Magistratsmitglied nichts Neues, sondern hat in der Interpretation seiner Selbstverwaltungstheorie den beachtenswerten Schwerpunkt. Am besten geklärt in bezug auf Preuß ist zweifellos seine Rolle bei der Schaffung der Weimarer Verfassung und seine Autorschaft am Verfassungswerk der ersten deutschen Republik. Der Verdienst daran gebührt an erster Stelle einer neueren Kieler juristischen Dissertation, die sich ganz auf das Wirken von Preuß als Verfassungsgeber beschränkt: Jasper Mauersberg, Ideen und Konzeptionen Hugo Preuß' für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar, Frankfurt a.M. 1991. Dieser Autor stützt sich zwar kaum auf nicht auch schon von Gillessen herangezogene Quellen und berichtet im großen und ganzen auch sachlich nichts Neues, er rekonstruiert aber einige Vorgänge detaillierter. Am ehesten verdient Preuß' brillantes Wirken als politischer Publizist und Zeitkritiker des Wilhelminischen Deutschlands eine eingehende Untersuchung; Lehnert liefert hierzu bei seinen häufigen Seitenblicken auf das zeitgenössische politische Schrifttum wertvolle Hinweise und Anregungen. Für den Aufbau seiner Studie hat Gillessen eine einfache Lösung gefunden: Die beiden ersten Kapitel beinhalten sozusagen die intellektuelle Biographie, die folgenden handeln vom Politiker und politischen Publizisten Hugo Preuß. Abgesehen von der Einleitung mit dem kurzen, als Vorinformation gedachten Lebensabriß, wendet sich Gillessen sogleich, also ohne jeden umständlichen Einstieg dem wissenschaftlichen Lebenswerk zu, allerdings nicht dem gesamten, sondern dem bis zum Vorabend des Weltkrieges entstandenen, dem aber Preuß sein wissenschaftliches Profil und seinen Platz in der Dogmengeschichte seines Faches, des Staatsrechts, verdankt. Die Voranstellung der Untersuchung des wissenschaftlichen Werkes rechtfertigt sich damit, daß Preuß, nachdem er sich für die Habilitation entschieden hatte, zunächst eine längere, bis etwa 1895, dem Jahr seiner erstmaligen Wahl in die Berliner Stadtverordnetenversammlung, zu datierende Periode der vorwiegend wissenschaftlichen Betätigung durchlaufen hat, aus der es von ihm kaum
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einen tagespolitischen Artikel oder Aufsatz gibt und in die auch die wissenschaftliche Grundlegung des gesamten Werkes, die Habilitationsschrift „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften", fällt. Einen Bruch im Darstellungsstil nimmt Gillessen mit der Voranstellung der Betrachtung des Hauptteils der wissenschaftlichen Lebensleistung nicht in Kauf. Die beiden ersten Kapitel seiner Studie unterscheiden sich auch nicht äußerlich von den folgenden, und zwar vor allem deshalb nicht, weil er alle behandelten Schriften von Preuß neutral, unpolemisch bespricht. Worauf es ihm offensichtlich ankommt, ist, die Kontinuitätslinie in Preuß' Gesamtwerk klar aufzuzeigen, auch seinen Ausgangspunkt in der zeitgenössischen deutschen rechts- und politikwissenschaftlichen Grundlagendiskussion, nämlich den Dauerstreit in der Staatsrechslehre des Bismarckreichs über den Bundesstaatsbegriff; des weiteren will er die Preußsche Konzeption von 'ranggleichen zeitgenössischen Konzeptionen absetzen, nämlich der des Lehrers Otto von Gierke , dessen These von der „Wesensgleichheit" der menschlichen Verbände Preuß mit der Eliminierung des Souveränitätsbegriffs entschlossen ins Demokratische wendet, und der des vom Liberalen zum Konservativen sich gewandelten Rudolf von Gneist, des prominentesten historischen Forschers und Theoretikers auf dem Gebiet der Selbstverwaltung vor 1900. Daß Gneist einrichtungweisender Einfluß auf Preuß' Anschauungen und Ideen zu attestieren sei, ist überzeugend widerlegt, überhaupt kommt der Gegensatz zwischen Preuß als dem konsequenten Verfechter genuiner Gemeindeautonomie und Gneist als dem Befürworter „obrigkeitsstaatlich" gebundener und beschränkter Selbstverwaltung mit aller erwünschten Schärfe heraus. Wie in der Einleitung ruft Gillessen auch im neuen Vorwort die besondere Zeitund Stimmungslage in die Erinnerung, die der zeitgeschichtliche Hintergrund seiner Dissertation ist: die zukunftsverhangenen frühen Jahre nach 1945, die noch von der Sorge überschattet waren, daß auch die neue westdeutsche Demokratie, autoritär durch die Besatzungsmächte in Gang gesetzt, wieder den Weg „Weimars" gehen könnte. In dieser Situation, die so kategorisch nach den Gründen des Scheiterns der Weimarer Republik fragen ließ, lagen zwei Reaktionen auf „Weimar" nahe. Die eine war die für die Bonner Verfassungsväter typische, die argwöhnisch auf die Fehler und Schwächen der in Weimar geschaffenen Verfassung blickten und offenbar nichts mehr als den Rückfall in jene Fehler und Schwächen befürchteten. Die andere Reaktion ging dahin, für den kläglichen Untergang der Republik weniger ihre Verfassung als die Menschen, die nicht den rechten Gebrauch von ihr zu machen wußten, verantwortlich zu machen: die Parteien und einen Großteil der Wählerschaft. Gillessen neigt zweifellos dieser letzteren Sicht zu, sicher nicht primär aus Pietät für seine Zentralfigur, sondern weil ihm das Denken und Wollen von Preuß als ein Orientierungsparameter für die unmittelbare deutsche Gegenwart gilt. Wie Preuß in seiner bekanntesten Schrift aus den Tagen des Weltkrieges „Das deutsche Volk und die Politik" und abermals in der Nationalversammlung bei der Begründung seines schon in den Vorverhandlungen gründlich veränderten Verfassungsentwurfs die Fremdheit der Anschauungen des deutschen Volkes gegenüber
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dem parlamentarischen Regierungssystems lebhaft bedauert und er aus diesem Grunde die Bewährung des von ihm so maßgeblich mitgestalteten Verfassungswerkes bezweifelt hatte, so stand Gillessen der ab 1945 neu gegebenen Chance, der parlamentarischen Demokratie zur Verwurzelung in der gebeutelten deutschen Gesellschaft zu verhelfen, skeptisch gegenüber und wählte sich deshalb Leben und Werk des geistigen „Vaters" der Weimarer Reichsverfassung als Dissertationsthema. Wir haben das Ziel umrissen, das sich Gillessen bei der Darstellung des Ringens um die Schaffung der Verfassung von Weimar offenbar gesetzt hatte. Es kam ihm hierbei nicht darauf an, die Defekte der Weimarer Verfassung scharf zu beleuchten. Eher wollte er Licht darauf werfen, daß die neue republikanische Verfassung sich nicht primär wegen immanenter Mängel nicht bewährt hatte, sondern weil es „am Willen des Volkes und des Parlaments zum Rechtsstaat und zu verfassungsmäßiger Regierung gemangelt hätte". Der Akzent liegt also darauf, daß nicht Fehlentscheidungen der Verfassungsgeber, sondern die nicht vorhanden gewesene oder besser die nicht zugelangte politisch-soziale Ambiance zum Verfassungswerk für dessen Scheitern verantwortlich ist. Gerade in den ersten Nachkriegsjahren mit ihren offenen Perspektiven und ungesicherten Beurteilungsmaßstäben mußte sicher, zumal für einen Autor im Alter unter 30, diese Sehweise naheliegen. In ihrer Konsequenz lag es, daß Gillessen die Verfassungskonzeption, die Preuß' Vorschlägen für die neue Reichsverfassung zugrunde liegt, einer eher nur marginalen Kritik unterzieht. Und zwar gerade soweit diese diejenigen Vorschläge legitimiert, mit denen er sich in den Verfassungsberatungen weitgehend durchsetzen konnte: die Bestimmungen über Reichstag, Reichspräsident und Reichsregierung. Die in Weimar dem Reichspräsidenten eingeräumte starke Stellung mißbilligt Gillessen in letzter Linie keineswegs, sondern sieht sie durch die schwierige Situation des Reiches und die auch künftig für Deutschland zu erwartenden Schwierigkeiten als voll gerechtfertigt an. Nicht daß er bestreiten würde, daß die starke Position des Reichspräsidenten die Aushebelung der Verfassung in der Periode der Präsidialkabinette ermöglichte. Aber dieser unstreitige Sachverhalt kann es in seinen Augen nicht verwischen, daß die Macht des Reichspräsidenten dann der Republik nicht zum Verhängnis gereicht hätte, wenn sich die politischen Kräfte im Parlament zu klarer Mehrheits- und Oppositionsbildung fähig gezeigt hätten. Folgerecht schränkt er seine Kritik am Weimarer Verfassungswerk, soweit es sich um die so weitgehend auf Preuß' Vorstellungen beruhende Anlage des Regierungssystems handelt, auf die radikale, aber doch 1918/19 gewiß alternativlose Einführung der Verhältniswahl ein. Daß auch die von Preuß im Anschluß an Robert Redslob vertretene Idee eines von der Aura der Demokratie umschmeichelten Gleichgewichts zwischen Parlament und Regierung, das das effektive, unabhängig von einem anderen Verfassungsorgan gehandhabte Parlamentsauflösungsrecht des Staatsoberhaupts zur Voraussetzung hat, der Einbürgerung parlamentarischen Regierens abträglich gewesen ist, nimmt er hingegen ersichtlich nicht zur Kenntnis; dabei kann es keine Zweifel geben, daß die der neuen politischen Trennlinie im parlamentarischen System entgegengesetzte
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Rezeption dieser Gleichgewichtsidee, verkanntes Erbstück der monarchisch-konstitutionellen Epoche, der politischen Verantwortungsflucht der demokratischen Kräfte Vorschub geleistet hat, daß die häufigen Reichstagsauflösungen weite Teile der Wählerschaft der Demokratie entfremden mußten. Prägnant ist die für Preuß' Verfassungsentwurf kennzeichnende Schwächung der Parlamentsstellung aus demokratischen Motiven, d. h. der Absicht wegen, bei Konflikten zwischen Parlament und Regierung die Wählerschaft zur Entscheidung anrufen zu können, neuerdings in einer Studie von Christoph Schönberger herausgearbeitet: Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreiches (1871 -1918), Frankfurt a.M. 1997; dieser weist dort auch nach, daß Redslobs Insistieren auf dem selbständigen staatsoberhauptlichen Auflösungsrecht als dem Unterscheidungsmerkmal des so genannten „wahren" Parlamentarismus gegenüber dem „unechten", worin ihm Preuß kritiklos gefolgt ist, die verbreitete Kritik in der französischen Staatsrechtslehre der Dritten Republik an dem in Frankreich praktizierten System der unumschränkten Parlamentsherrschaft auf den Nenner bringt. Gillessens letztes Kapitel „Die letzten Jahre" bricht ab, ohne daß er den Ertrag seiner Studie noch resümieren würde. Die beiden großen Veröffentlichungen aus dem Nachlaß, die 1928 von Gerhard Anschütz herausgegebenen Bruchstücke eines Kommentars zur Reichsverfassung „Reich und Länder" und die 1927 von Hedwig Hintze unter dem Titel „Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa" herausgegebene unvollendete historische Grundlegung zu einem Staatsrecht der Deutschen Republik, sind allerdings noch gewürdigt, aber nur kurz. Zu bedauern ist dies nicht so sehr bezüglich des Teilkommentars zur Reichsverfassung - ihn zieht Gillessen bei der Darstellung des Ringens um Preuß' Verfassungsentwurf nicht nur beiläufig zur Erläuterung von Preuß' Position heran - als des umfänglichen Buches „Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa"; diesem wird nur noch eine sehr summarische Bemerkung zuteil. Daß diese Bemerkung dem bedeutenden Torso nicht gerecht werden kann, ist deshalb zu erwähnen, weil Preuß' wissenschaftlicher Schwerpunkt historische Arbeiten, und zwar vorwiegend zur Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte sind und er erst in dem aus dem Nachlaß herausgegebenen großen historischen Fragment auch die Stufe der vergleichenden Verfassungsgeschichte ersteigt. Daß in der Dissertation des Historikers Gillessen die Stärken und Schwächen von Preuß als Historiker nicht scharf genug bezeichnet wären, kann man jedoch nicht behaupten; bei dessen Gegenüberstellung mit Gierke sind dessen Schwächen als Historiker, wie Streitbarkeit und Vorliebe für überspitzte Antinomien, klar beim Namen genannt (zur Leistung als Historiker Gustav Schmidt in: Deutsche Historiker, Bd. VII, hrsg. v. H.U. Wehler, Göttingen 1980, Seite 55-68). Um noch kurz die Frage „Was bleibt von Preuß' Werk?" zu berühren, sollte wenigstens angemerkt werden, daß inzwischen dem Alterswerk „Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa" nicht mehr die Aktualität wie noch vor etwa zwanzig Jahren zukommen dürfte. Allerdings zeigt bislang das
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vehemente Interesse an der Diskussion der struktur- und geistesgeschichtlichen Gründe für den sogenannten deutschen „Sonderweg" noch keine Ermüdungserscheinungen; bei der heutigen Normalität der deutschen Gesellschaft und ihres politischen Gehäuses dürfte indessen das Abflauen dieser Diskussion auf die Dauer nicht ausbleiben. Vielleicht dürften sich daher in Zukunft andere Hugo Preuß-Paradigmen, man denke namentlich an Preuß' geharnischte Ablehnung des Staatssouveränitätsprinzips, als aktuell anmelden; das neue Vorwort des Autors nennt dafür als Beispiel auch nicht nur diese Ablehnung. Insofern entschädigt dasselbe etwas für den ausblicklosen Schluß des Textes von 1955, für den man außer in dem Umstand, daß es sich bei demselben um die Dissertation eines jungen Mannes handelt, in der Zeitlage eine Erklärung finden kann.