Honeckers Zuchthaus: Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949–1989 [1 ed.] 9783666351242, 9783525351246


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German Pages [1021] Year 2018

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Honeckers Zuchthaus: Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949–1989 [1 ed.]
 9783666351242, 9783525351246

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Analysen und Dokumente Band 51 Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)

Tobias Wunschik

Honeckers Zuchthaus Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949–1989 Mit 29 Abbildungen und 22 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Fassade der Strafanstalt Brandenburg-Görden, 1990 © Eastblockworld.com

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1064 ISBN 978-3-666-35124-2

Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Politischer Strafvollzug, politische Justiz und politische Gefangene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Konzeption und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Aktenüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Zeitzeugenberichte und Interviews . . . . . . . . . . . 1.3.3 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 26 34 34 39 44

2. Der Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.1 Das Gefängniswesen der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.1.1 Die oberste Gefängnisverwaltung und ihre Leiter . . . 53 2.1.2 Die Abteilungen Strafvollzug in den Bezirken . . . . . 70 2.1.3 Die Haftanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.2 Der Strafvollzug und die Staatspartei . . . . . . . . . . . . . 85 2.2.1 Die sowjetische Besatzungsmacht und der DDRStrafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.2.2 Der Einfluss der SED-Führung auf die Strafvollzugs91 politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Der Politapparat der Gefängnisverwaltung . . . . . . 101 2.2.4 Die Parteiorganisation der SED innerhalb der 105 Gefängnisverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Strafvollzug und die Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.3.1 Die unterschiedlichen Konzepte in der Strafvollzugs109 politik (1945–1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Rolle der Staatsanwaltschaft gegenüber dem 112 Gefängniswesen (1952–1989) . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Abschaffung parlamentarischer Kontrolle . . . . . . . . 127 2.5 Die Aufseher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2.5.1 Personalbestand und Rekrutierung . . . . . . . . . . 131 2.5.2 Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2.5.3 Politische Linientreue . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.5.4 Feindbilder und »Versöhnlertum« . . . . . . . . . . . 154 2.6 Die Haftanstalt Brandenburg-Görden . . . . . . . . . . . . 163 2.6.1 Die Wiederinbetriebnahme des Gefängnisses und der 163 Wechsel der Zuständigkeit 1948/49 . . . . . . . . . .

6

Inhalt

2.6.2 Die Auflösung der Speziallager und die Konflikte zwischen Justiz und Volkspolizei um BrandenburgGörden 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Die Umstrukturierung des gesamten Gefängniswesens (1950–1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.4 Der 17. Juni 1953 in Brandenburg-Görden . . . . . . 2.6.5 Die Gefängnisleiter Marquardt und Schroetter . . . . 2.6.6 Der Amtsantritt von Gefängnisleiter Ackermann (1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.7 Die Sechzigerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.8 Ackermanns Leitungsstil in den Siebzigerjahren . . . 2.6.9 Die Ablösung von Ackermann . . . . . . . . . . . . 2.6.10 Die Achtzigerjahre unter den Gefängnisleitern Papenfuß und Jahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gefangenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das politische Konzept des DDR-Strafvollzugs . . . . . . . 3.1.1 Die Konzeption des »sozialistischen Strafvollzugs« . . 3.1.2 Die politische Beeinflussung der Gefangenen . . . . 3.1.3 Tageszeitungen und Filmvorführungen . . . . . . . 3.1.4 Politisches Meinungsklima . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Strafvollzugspolitik des SED-Regimes und die Haftbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Einflussfaktoren und Variabilität der Haftbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die stalinistische Phase (1948–1953) . . . . . . . . . 3.2.3 Die Veränderungen nach dem Juni-Aufstand (1953–1956) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Die Verschärfung der Haftbedingungen (1957–1961) 3.2.5 Liberalisierung und Modernisierung (1962–1964) . . 3.2.6 Differenzierung und Verschärfung (1965–1967) . . . 3.2.7 Das Strafvollzugsgesetz von 1968 und seine Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.8 Erneute Verschärfungen (1971–1973) . . . . . . . . . 3.2.9 Die Strafvollzugsordnung von 1974 und das Strafvollzugsgesetz von 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.10 Der Wandel der Haftbedingungen in den Achtzigerjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Haftbedingungen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Besuchsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Briefverkehr und Paketempfang . . . . . . . . . . . 3.3.3 Gefangenenseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . .

173 181 187 193 197 206 209 216 223 231 231 231 238 243 248 252 252 256 262 269 277 282 286 289 292 302 312 312 317 326

Inhalt

3.3.4 Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Hygiene und Bekleidung . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.6 Gesundheitszustand und medizinische Versorgung . 3.3.7 Disziplinarstrafen, Arrest und Isolierung . . . . . . . 3.3.7.1 Disziplinarpraxis und Häufigkeit von Arreststrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7.2 Haftbedingungen im Arrest . . . . . . . . . 3.3.7.3 Isolationshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.8 Drangsalierung, Misshandlung und Beschwerden . . 3.3.8.1 Häufigkeit und Hintergründe der Übergriffe 3.3.8.2 Die Konsequenzen der Misshandlungen . . . 3.3.8.3 Die aktive Vertuschung der Übergriffe durch Staatsanwaltschaft und Staatssicherheit . . . 3.3.8.4 Das Unterdrücken von Beschwerden . . . . 3.4 Das Verhalten der Gefangenen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Dimensionen widerständigen Verhaltens . . . . . . . 3.4.2 Ausreisewillige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Politische Meinungsäußerung . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Arbeitsverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Hungerstreik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.6 Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.7 Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.8 Kassiber und illegaler Radioempfang . . . . . . . . 3.4.9 Materielle und andere Bedürfnisse . . . . . . . . . . 3.4.10 Übergriffe unter den Insassen . . . . . . . . . . . . . 3.4.11 Die Proteste der Gefangenen im Zeichen der friedlichen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Der Arbeitseinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Wirtschaftliche Bedeutung und Rentabilität . . . . . 3.5.2 Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes . . . . . . . . 3.5.3 Die Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Die Vergütung der Gefangenenarbeit . . . . . . . . . 4. Die Häftlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Zahl der Häftlinge, die Gründe ihrer Verurteilung, die Dauer der Haftstrafen und die Amnestien . . . . . . . . 4.1.1 Die Speziallagerinsassen und SMT-Verurteilten . . . 4.1.2 Die Workuta-Häftlinge . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die Waldheim-Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Die nach Befehl 201 Verurteilten . . . . . . . . . . . 4.1.5 Delikte und soziale Struktur der Häftlinge zu Beginn der Fünfzigerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 350 358 361 372 372 376 380 385 385 394 399 407 412 412 418 422 425 428 430 441 446 452 456 460 469 469 478 488 494 505 507 507 513 518 521 527

8

Inhalt

4.1.6 Die Entlassungen in der Mitte der Fünfzigerjahre . . 4.1.7 Die nach Artikel 6 der DDR-Verfassung verurteilten Häftlinge und die Zeugen Jehovas . . . . . . . . . . 4.1.8 Delikte und soziale Struktur der Gefangenen 1957 . 4.1.9 Der »Gnadenerweis« von 1960 . . . . . . . . . . . . 4.1.10 Die politischen Häftlinge zu Beginn der Sechzigerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.11 Wege zur vorzeitigen Haftentlassung . . . . . . . . . 4.1.12 Die politischen Häftlinge (1963–1964) . . . . . . . . 4.1.13 Delikte und Strafmaße der Häftlinge (1965–1971) . 4.1.14 Inhaftierte Bundesbürger . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.15 Die Amnestie von 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.16 Die politischen Häftlinge Mitte der Siebzigerjahre . . 4.1.17 Die Amnestie von 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.18 Die Amnestie von 1987 . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.19 Die Delikte der Häftlinge 1989 . . . . . . . . . . . . 4.1.20 Die Entlassungen (1989–1990) . . . . . . . . . . . . 4.2 Einzelschicksale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Der SMT-Verurteilte Karl Heinz Reuter . . . . . . . 4.2.2 Der Gewohnheitsspitzel Otto Ball . . . . . . . . . . 4.2.3 Der politische Häftling Willi Brundert . . . . . . . . 4.2.4 Das Agentenpärchen Hans-Joachim und Helga S. . . 4.2.5 Der Westspion Gustav E. . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Der Grenzverletzer Michael Gartenschläger . . . . . 4.2.7 Der Panzersprenger Josef Kneifel . . . . . . . . . . . 4.2.8 Der Linksextremist Manfred Wilhelm . . . . . . . . 4.2.9 Der Autor Rolf Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.10 Der U-Boot-Konstrukteur Manfred Augustin . . . . 4.2.11 Der Spotter Frank Tornow . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Staatssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Einflussnahme auf den Strafvollzug . . . . . . . . . . . 5.1.1 Die Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Mittel, Methoden und Ebenen der Einflussnahme . . 5.1.3 Die geheimen Mitarbeiter der Staatssicherheit . . . . 5.1.4 Die Operativgruppe in Brandenburg-Görden . . . . 5.2 Die Kriminalpolizei im Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die Abteilung 4 der Verwaltung Strafvollzug und ihre Vorläufer (1950–1973) . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Arbeitsrichtung I/4 der Kriminalpolizei in Brandenburg-Görden (1974–1989) . . . . . . . . . .

538 544 548 553 556 561 567 571 574 581 584 590 595 600 604 607 608 611 613 617 626 629 634 638 642 649 651 657 657 657 662 667 670 679 679 684

Inhalt

5.3 Das Verhältnis zwischen Gefängnisleitung und Staatssicherheit in Brandenburg-Görden . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Die Zusammenarbeit mit Marquardt und Schroetter (1950–1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Ackermanns Fehde mit der Staatssicherheit (1958–1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Die Konfrontation nach Ackermanns Amtsantritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Weitere Differenzen . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.3 Operative Maßnahmen gegen den Gefängnisleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Das Zusammenwirken unter Papenfuß und Jahn (1982–1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Aufsicht über die Aufseher . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Kaderpolitische Einflussnahme . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Geheimpolizeiliche Bearbeitung . . . . . . . . . . . 5.4.3 Das IM-Netz unter den Aufsehern . . . . . . . . . . 5.4.3.1 Einsatzrichtung und Zusammenarbeit . . . . 5.4.3.2 Beispiele inoffizieller Mitarbeiter unter den Aufsehern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Häftlinge im Visier der Staatssicherheit . . . . . . . . . 5.5.1 Die Einflussnahme auf die Amnestien . . . . . . . . 5.5.2 Die operative »Bearbeitung« von Häftlingen . . . . . 5.5.2.1 Die »Bearbeitung« der Ausreisewilligen . . . 5.5.2.2 Skinheads und kriminelle Häftlinge im Visier der Staatssicherheit . . . . . . . . . . 5.5.2.3 Die Zerschlagung der Widerstandsgruppe . 5.5.3 Die Häftlings-IM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3.1 Die Dichte der IM-Netze . . . . . . . . . . 5.5.3.2 Die Auswahl der Spitzel . . . . . . . . . . . 5.5.3.3 Die Umstände der Spitzeltätigkeit . . . . . . 5.5.3.4 Das Aufrechterhalten der Konspiration . . . 5.5.3.5 Der Einsatz von IM gegen den Westen . . . 5.5.3.6 Inoffizielle Kriminalpolizeiliche Mitarbeiter 5.6 Der Westen und der Strafvollzug der DDR . . . . . . . . . . 5.6.1 Das ostdeutsche Gefängniswesen im »Kalten Krieg« (1950–1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.1 Abschottung und Aufklärung (1950–1956) 5.6.1.2 Offensive Aktionen gegen den Strafvollzug der DDR (1951–1954) . . . . . . . . . . . . 5.6.1.3 Die Tätigkeit des Deutschen Roten Kreuzes (1950–1957) . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 690 690 692 692 697 702 706 712 712 719 724 724 733 741 741 750 756 760 762 777 777 784 789 797 801 808 812 812 812 817 822

10

Inhalt

5.6.2 5.6.3 5.6.4

5.6.5

5.6.1.4 Das Westpaket (1950–1954) . . . . . . . . 5.6.1.5 Die innerdeutsche Amnestiedebatte (1955–1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.6 Die Besuche des Internationalen Roten Kreuzes (1957–1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.7 Die Labour Party in Brandenburg-Görden (1956–1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.8 Der Abbruch der Besuche (1960) . . . . . . Strafverfolgung und Rücksichtnahmen (1961–1969) Die »Neue Ostpolitik« und der Strafvollzug (1970–1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrollierte Besuche und Desinformation (1980–1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.4.1 Die Besuche westlicher Delegationen . . . . 5.6.4.2 Die geheimpolizeiliche Abschottung der Gefängnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.4.3 Die Bekämpfung westlicher Gefangenenhilfsorganisationen . . . . . . . . . . . . . . Der Häftlingsfreikauf (1963–1989) . . . . . . . . . . 5.6.5.1 Der Beginn der Freikäufe . . . . . . . . . . 5.6.5.2 Praxis und Bilanz der Freikäufe . . . . . . .

827 830 841 848 861 865 870 875 875 886 889 898 898 911

6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Der Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Gefangenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Häftlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Die Staatssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Der politische Strafvollzug der DDR . . . . . . . . . . . . .

921 921 924 930 933 940

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Decknamenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angaben zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

945 946 950 1003 1004 1006 1009 1011 1017

»Um einen Staat zu beurteilen, muss man sich seine Gefängnisse von innen ansehen.« zugeschrieben Leo Tolstoi (1828–1910)

1. Einleitung 1.1 Politischer Strafvollzug, politische Justiz und politische Gefangene Tolstois Worten zufolge sagen die Zustände im Strafvollzug viel über die politische Verfassung des gesamten Landes. Werden im Umgang mit einigen der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, den Gefangenen, Missstände geduldet oder die ohnehin vorhandenen Asymmetrien der Macht ausgenutzt (statt sie zu mildern), steht es meist schlecht um den Rechtsstaat. Diese Schlussfolgerung erscheint weithin zulässig, weil ein Gefängnis auch das Spiegelbild des politischen Systems eines Landes ist, der Mikrokosmos einer Haftanstalt für die Gesellschaft pars pro toto steht. Gerade hinsichtlich der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) drängen sich solche Parallelen auf – was die Entmündigung der Bürger, die Überwachung durch eine Geheimpolizei, die gegenseitige Bespitzelung, die kontrollierten Medien, die Fremdbestimmung des Tagesablaufs und das lückenhafte Warenangebot betrifft. All diese Faktoren prägten schon das Leben außerhalb der Gefängnismauern, wurden durch eine Inhaftierung jedoch verschärft und verliehen dem Leben hinter Gittern eine spezifische »Qualität«. Abgesehen vielleicht von Armeekasernen oder Kinderheimen war die Ohnmacht der Individuen nirgendwo sonst im SED-Staat so groß und der Anpassungsdruck vonseiten der Herrschenden so ausgeprägt wie in den Haftanstalten und Arbeitslagern. In der Gefangenschaft wird daher das Strukturelement politischer Repression fokussiert1 – und weniger das politische System maßstabsgerecht widergespiegelt. Für jedes Gefängnis ist charakteristisch, dass der Handlungsspielraum der Individuen drastisch minimiert wird. Bleibt es außerhalb der Gefängnismauern bis zu einem gewissen Grad jedem selbst überlassen, wie weit er sich anpasst, wird sein Verhalten hier – bei ungleich strikteren und detaillierteren Regeln – besonders streng kontrolliert und auch kleinere Abweichungen von den ge­setzt­en Normen werden unverzüglich bestraft. Es existieren präzise Anweisungen für jeden Bereich 1  Vgl. Linz, Juan José: Totalitäre und autoritäre Regime (Potsdamer Textbücher. PTB, 4). Berlin 2000, S. XXXII.

12

Einleitung

des menschlichen Lebens, es herrscht ständige Überwachung, die Macht liegt in den Händen einiger weniger und die Kluft zwischen den Herrschenden und den Beherrschten ist enorm.2 Nach Ansicht seiner Kritiker stellt das Gefängnis daher auch in demokratischen Gesellschaften »zu weiten Teilen eine ›totalitäre Lösung ohne totalitären Staat‹« dar.3 Diese Einschätzung verwischt jedoch die grundlegenden Systemunterschiede zwischen den Gefängnissen in demokratischen Rechtsstaaten und den Haftanstalten sowie Lagern in Diktaturen. Dies betrifft die Verurteilungsgründe der Insassen, das Auftreten des Wachpersonals, die Strenge der Haftbedingungen und die unterschiedliche Struktur der umgebenden Gesellschaft. Vor allem dient die Gefangennahme von Menschen unterschiedlichen Zwecken: So wird allein in Diktaturen die Arbeitskraft der Gefangenen brutal ausgebeutet und die Umerziehung der Insassen rigoros betrieben. Die beiden großen totalitären Staaten des vergangenen Jahrhunderts4 vernichteten außerdem massenhaft vermeintliche Feinde des Volkes, seien sie »rassisch minderwertig«, wie im Nationalsozialismus,5 oder »Klassengegner«, wie im Stalinismus, wobei die Vernichtung vorsätzlich und systematisch geschah oder, im letztgenannten Fall, billigend in Kauf genommen wurde.6 Der Wesenszug der massenhaften physischen Vernichtung menschlichen Lebens war dem Strafvollzug (SV) der DDR fremd. Doch dafür wurden die Insassen hier in besonderem Maße gefügig gemacht und auch ihre weltanschauliche Umerziehung war beabsichtigt. Das Gefängniswesen des SED-Staates war daher eher eine perfide »Fortentwicklung« des klassischen Zuchthauses. Denn der ursprüngliche Zweck der Gefangennahme von Menschen lag in deren Erziehung: »Dressurmethoden« sollten Spuren in den »Gewohnheiten des Verhaltens« der kriminellen und sozial auffälligen Insassen hinterlassen.7 Der DDR-Strafvollzug beabsichtigte ebenfalls, durch Zwangsmaßnahmen das Verhalten aller Insassen zu 2  Sykes, Gresham M.: The society of captives. A study of a maximum security prison. Princeton 1958, S. XIV. 3  Baumann, Zygmunt: Das Jahrhundert der Lager? In: Dabag, Mihran; Platt, Kristin (Hg.): Strukturen kollektiver Gewalt im 20. Jahrhundert (Genozid und Moderne, 1). Opladen 1998, S. 81–99, hier 98. Die Gefängnisse westlicher Staaten wie der USA hätten sich sogar durch die repressive Strafverfolgung der letzten Jahrzehnte den sowjetischen Lagern angeglichen. Vgl. Garland, David: The culture of control. Crime and social order in contemporary society. Chicago 2001, S. 178. 4  Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Frankfurt/M. 1955, S. 714. 5  Vgl. Gutmann, Israel: Vorwort des Hauptherausgebers. In: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Hg. von Gutmann, Israel, Bd. 1–3. Berlin 1993, S. IX–XV, hier XIII f. 6  Vgl. Plaggenborg, Stefan: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Frankfurt/M. 2006, S. 153. 7  Foucault, Michel: Überwachen und Strafe. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1979, S. 170.

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prägen, darüber hinaus jedoch auch die weltanschauliche Haltung der politischen Gefangenen zu verändern. Geheimpolizeiliche Methoden sollten sich auch psychisch auswirken,8 wie darzustellen sein wird. Vor einer Analyse des DDR-Strafvollzugs gilt es die Begriffe zu klären – so etwa den der politischen Strafjustiz, gewissermaßen dem Verfahren zur »Produktion« der politischen Gefangenen (und zur Einschüchterung der Gegner).9 Otto Kirchheimer hat darauf hingewiesen, dass jedes politische Regime »seine Feinde [hat] oder produziert« und dass die »Anrufung der Gerichte« eine weniger markante »Form der Auseinandersetzung politischer Machtkämpfe« darstellt. Richter würden mit einem Urteilsspruch häufig die »Ergebnisse besiegeln, die ganz woanders zustande gebracht worden sind«.10 Deswegen ergeht in Verfahren der politischen Strafjustiz auch selten ein Freispruch.11 Charakteristisch für die politische Justiz sind ferner das Fehlen einer Unschuldsvermutung, die schwache rechtliche Stellung des Angeklagten im Strafprozess, die Eingriffe der Exekutive in laufende Gerichtsverfahren, die gezielte Personalauswahl in den Strafverfolgungsbehörden, das Tätigwerden einer Geheimpolizei, physischer oder psychischer Druck zum Erpressen von Geständnissen, eine wechselhafte Justizpolitik (die manchmal auch kriminelle Delikte betrifft), starke Schwankungen bei den Häftlingszahlen sowie Amnestien, die angesichts allzu vieler Insassen häufig notwendig werden. Zweifellos trafen diese Kriterien auf das Justizwesen im SED-Staat zu, insbesondere weil es sich für politische Zwecke weitgehend instrumentalisieren ließ.12 Die Rechtsprechung erfolgte hier so, wie es den Machthabern nützlich erschien.13 Charakteristisch war die besonders strenge Ahndung politischer 8 »Das ist das Widerwärtige an solchen Regimes: dass ihre Haftanstalten zugleich Erziehungsanstalten sind. Es reicht nicht, von der Gesellschaft abgesondert zu werden, das Ziel ist, einen auch noch von den eigenen Ideen abzusondern.« Klier, Freya: Tagebuch einer Haft. In: Knabe, Hubertus (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen. Stasi-Häftlinge berichten. Berlin 2007, S. 334–347, hier 336. 9  Vgl. Görlitz, Axel: Modelle Politischer Justiz. In: ders. (Hg.): Politische Justiz (Jahresschrift für Rechtspolitologie, 3). Baden-Baden 1996, S. 9–23. 10  Kirchheimer, Otto: Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken. Neuwied 1965, S. 21 f.; Brünneck, Alexander von: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968. Frankfurt/M. 1978, S. 11 f. 11  Vgl. Laughland, John: A history of political trials. From Charles I to Saddam Hussein. Oxford 2008, S. 251. 12  Vgl. u. a. Weber, Jürgen; Piazolo, Michael: Parteisoldaten in Richterrobe. In: dies. (Hg.): Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort des Rechtsstaates. München 1998, S. 11–22, hier 17. 13  So etwa bei der Ahndung von NS-Verbrechen. Vgl. Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 28). Göttingen 2005, S. 414; Manjukjan, Nora: Der Dresdner »Euthanasie«-Prozess im Kontext der strafrechtlichen Verfolgung von »Euthanasie«-Verbrechen in der SBZ-DDR. In: Böhm, Boris; Hacke, Peter (Hg.): Fundamentale Gebote der Sittlichkeit. Der »Euthanasie«-Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947. Dresden 2008, S. 190–206, hier 201.

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Delikte,14 zu deren Aufklärung überdurchschnittlich häufig Untersuchungshaft angeordnet wurde.15 Nach dem Urteilsspruch setzte sich die systematische Diskriminierung der politischen Häftlinge im Strafvollzug fort, der hier im Mittelpunkt stehen soll – zusammen mit den Betroffenen selbst. Doch auch der Begriff des politischen Gefangenen lässt sich schwer operationa­ lisieren. Eine allgemeingültige, schlüssige und wirklichkeitsnahe Definition liegt nicht vor, da der historische Kontext, die gesellschaftlichen Wertmaßstäbe und die Betrachtungsperspektive dem Begriff eine unterschiedliche Bedeutung verleihen. Dies gilt etwa hinsichtlich der beiden deutschen Diktaturen, deren Opfer der bundesdeutsche Rechtsstaat im Laufe der Jahre ganz unterschiedlich anerkannte und entschädigte.16 Auch wären viele ehemalige politische Häftlinge aus der DDR in der Bundesrepublik nicht als politisch verfolgt anerkannt worden, wenn das restriktivere Asylrecht für sie gegolten hätte.17 Eine über die Grenzen der Systeme und Epochen hinweg gültige Definition des politischen Gefangenen steht daher noch aus. Im Kontext des SED-Staates sprechen Argumente dafür, diesen Begriff für alle Gefangenen anzuwenden, die entweder aus politischen Motiven eine »Straftat« begingen oder aber durch den Staat aus politischen Gründen verfolgt wurden. Entsprechend der erstgenannten Dimension spricht beispielsweise Karl Wilhelm Fricke von solchen Personen, die »wegen ihrer Gesinnung und ihrem daraus sich ergebenden Verhalten, wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht oder Klasse oder wegen ihrer politisch oder religiös begründeten Gegnerschaft zum Kommunismus in Haft genommen oder verurteilt wurden«.18 Dieses Verständnis zielt vor allem auf die bewussten Gegner des SED-Regimes, besonders in der frühen Phase der DDR-Diktatur (wie etwa die Anhänger bürgerlicher Parteien und ihrer Ostbüros oder die Zeugen Jehovas). Weltanschaulich kaum reflektierte »Aufsässigkeit« von Jugendlichen fiele hingegen durch das Raster, wohingegen 14  So wurde etwa ungesetzlicher Grenzübertritt oder Asozialität häufiger mit Freiheits- statt mit Bewährungs- oder Geldstrafen geahndet als viele kriminelle Delikte (wie etwa Vergewaltigung). Vgl. Dölling, Birger: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung. Kriminalpolitik und Gefangenenprotest im letzten Jahr der DDR. Berlin 2009, S. 58 f. Siehe auch Fricke, Karl Wilhelm: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968. Bericht und Dokumentation. Köln 1979, S. 526. 15  Vgl. Schröder, Wilhelm Heinz; Wilke, Jürgen: Politische Strafgefangene in der DDR. Versuch einer statistischen Beschreibung. In: Historical Social Research (1998) 4, S. 3–78, hier 23. 16 Vgl. Guckes, Ulrike: Opferentschädigung mit zweierlei Maß? Eine vergleichende Untersuchung der gesetzlichen Grundlagen der Entschädigung für das Unrecht der NS-Diktatur und der SED-Diktatur. Berlin 2008. 17  Vgl. Weinke, Annette: Politische Verfolgung – das Beispiel SED-Unrecht. In: Baumann, Ulrich; Kury, Helmut (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung. Opfer von SED-Unrecht. Berlin 1998, S. 17–34, hier 34. Als Deutsche mussten ehemalige DDR-Bürger diesen Kriterien nicht genügen. Siehe auch Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylverfahrensgesetz. Neuwied 2005, S. 6–14 u. 629. 18  Fricke: Politik und Justiz in der DDR, S. 8.

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antikommunistisch gesinnte NS-Täter eventuell mit eingeschlossen wären. Andere Autoren vernachlässigen noch stärker die Motivation der Betreffenden19 und heben allein auf die Verfolgungsmotivation des Staates ab; auf diese (zweite) Dimension des Begriffs des politischen Gefangenen gilt es weiter unten noch einzugehen. Oft wird der politische Gefangene dem kriminellen Häftling schablonenhaft gegenübergestellt und weckt konträre Assoziationen: willkürliche Verurteilung trotz erwiesener Unschuld oder aber notwendige Bestrafung, selbstloses Eintreten für eine »gerechte Sache« oder aber gewöhnliche Motive (wie Bereicherung) bis hin zu niederen Instinkten als Triebfedern seines Handelns, Friedfertigkeit und passiver Widerstand oder aber Einsatz körperlicher Gewalt. Und was die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Verfolgungsmotivation des Staates betrifft, werden politische Gefangene primär Diktaturen zugeordnet, kriminelle Häftlinge hingegen Demokratien. In dieser Dichotomie ist der Terminus des politischen Gefangenen ausschließlich positiv besetzt – doch hängt die Messlatte dabei hoch, sodass streng genommen nur wenige Personen allen Kriterien genügen. Eine großzügigere Interpretation könnte den Begriff hingegen entwerten und Unterschiede einebnen. Der kleinste gemeinsame Nenner in der zeitgeschichtlichen Forschung ist die Unterscheidung zwischen politischen und kriminellen Gefangenen, doch ist diese meist »stillschweigend vorausgesetzte Zweiteilung [...] ein Trugbild«.20 Eine stärkere Differenzierung ist notwendig und möglich. So kannte schon die laufende Rechtsprechung der Bundesrepublik bis in die Sechzigerjahre drei Häftlingsgruppen: die »politischen Widerstandskämpfer« (mit höheren Versorgungsansprüchen), jene, »dessen Haft nach Grund und Dauer durch die politischen Verhältnisse« bedingt war (mit niedrigeren Ansprüchen), sowie die übrigen Gefangenen.21 In den Siebzigerjahren differenzierte das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen zwischen politischen Häftlingen, »rein Kriminellen« und »politischkriminellen Mischdelikten«.22 Und auch heute unterscheiden einige Autoren bzw. Autorinnen zwischen »politisch begründeten« und »kriminell begründeten« Deliktvorwürfen sowie einer »Grauzone«.23 Je nachdem ob eher die politische Motivation der Betroffenen oder die politische Verfolgungsmotivation des Staates zum Ansatzpunkt einer Betrachtung wird, ergeben sich indes unterschiedliche »Unschärfen« in der Begrifflichkeit. Wird die 19  Vgl. Ansorg, Leonore: Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR. Die Strafvollzugsanstalt Brandenburg. Berlin 2005, S. 13 u. 241. 20  Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 20. 21  Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes 1961, S. 241; zit. nach: Widmaier, Christian: Häftlingshilfegesetz, DDR-Rehabilitierungsgesetz, SED-Unrechtsbereinigungs­gesetze: Rehabilitierung und Wiedergutmachung von SBZ-DDR-Unrecht? Frankfurt/M. 1999, S. 83. 22  Vgl. Der Spiegel Nr. 3/1973 vom 15.1.1973, S. 31 f. 23  Vgl. Schnell, Gabriele: Das »Lindenhotel«. Berichte aus dem Potsdamer Ge­heim­d ienst­ ge­fängnis. Berlin 2005, S. 149–151.

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letztgenannte Dimension zum Ausgangspunkt, kann die Sanktionspraxis nach bestimmten, »politischen« Paragrafen des Strafgesetzbuches der DDR untersucht (und für eine Deliktstatistik ausgezählt) werden. Doch damit bleiben solche Fälle außer Betracht, bei denen aus »optischen« Gründen Tatbestände der allgemeinen Kriminalität zur Anwendung kommen, was gerade in den Achtzigerjahren häufig praktiziert wurde. Wird wiederum nur auf die politische Motivation der »Täter« abgehoben, werden zwangsläufig andere Fallkonstellationen (wie in Ungnade gefallene Funktionäre oder allein wegen ihres Besitzes verfolgte Grundeigentümer) ausgeklammert. Zur Handlungsmotivation der »Täter« ist festzuhalten, dass deren Intentionen meist vielschichtig waren, sich im Laufe der Zeit ändern konnten und nicht ausschließlich politisch-weltanschaulicher Natur sein mussten. So mag sich ein Jugendlicher in der Jungen Gemeinde engagiert haben (und dafür bestraft worden sein), weil ihn neben seinem christlichen Glauben auch persönliche Sympathie für einen Pfarrer antrieb. Auch konnte versuchte »Republikflucht« aus unpolitischen Motiven resultieren24 und viele Delikte wie »Widerstand gegen staatliche Maßnahmen« oder »Staatsverleumdung« wurden unter Alkoholeinfluss begangen, waren also oftmals eher situativ bedingt als politisch motiviert.25 Auch gibt es in bestimmten sozialen Gruppen eine reflexartige Ablehnung jeglicher Obrigkeit, eine »milieubedingte Abwehrhaltung gegenüber dem Einfluss staatlicher Autorität« – ebenfalls ohne ein komplexes gesellschaftliches Gegenmodell vor Augen zu haben.26 Unter Umständen setzte die politische Sensibilisierung sogar erst nach einer kriminellen Tat ein – als Reaktion auf die Willkür im Untersuchungsverfahren, die harten Haftbedingungen im Strafvollzug sowie die Beeinflussung durch politische Mithäftlinge.27 Im Herbst 1989 stellten natürlich auch wegen krimineller Delikte Verurteilte politische Forderungen.28 Zudem ist zu bedenken, dass nicht alle Regimegegner den Idealen von Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit und Menschenrechten anhängen mussten wie etwa Maoisten in den Siebzigerjahren oder Neonazis in der Spätphase der SED-Diktatur. Ohne die Motive der Betreffenden in den entsprechenden 24  Vgl. Lengsfeld, Vera: Das Untersuchungsorgan. In: Knabe, Hubertus (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen. Stasi-Häftlinge berichten. Berlin 2007, S. 318–333, hier 325. 25  Mertens, Lothar: »Überkommenes bürgerliches Relikt«. Kriminalität in der DDR. In: ders.; Voigt, Dieter (Hg.): Opfer und Täter im SED-Staat. Berlin 1998, S. 243–266, hier 257. 26  Vgl. Heidenreich, Ronny: Aufruhr hinter Gittern. Das »gelbe Elend« im Herbst 1989. Leipzig 2009, S. 24 f. 27  Ein politischer Hintergrund hatte dann zwar nicht zur Verurteilung geführt, konnte aber letztlich die Haftzeit verlängern, denn eine regimekritische Weltanschauung bedeutete eine große Hürde, wenn über eine vorzeitige Entlassung entschieden wurde. Siehe Kapitel 4.1. Zu einem ähnlichen Befund für die sowjetischen Speziallager in Deutschland vgl. Greiner, Bettina: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland. Hamburg 2010, S. 319. 28  Vgl. Heidenreich: Aufruhr, S. 90.

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Zusammenhängen zu betrachten, lässt sich ihr Handeln indes nicht einschätzen. Je nach politischem System gilt ein und dieselbe Gewalttat als legitimer Akt der Befreiung oder aber als terroristischer Anschlag; allein im Hinblick auf die Tatbegehung ist der Terrorist manchmal nicht vom Freiheitskämpfer zu unterscheiden.29 Um die weltanschauliche Grundhaltung der »Täter« zu berücksichtigen, machte denn auch das Rehabilitierungsgesetz von September 1990 die Wahrnehmung politischer Grundrechte zur Voraussetzung einer Entschädigung.30 Selbst eindeutig politische Motive rechtfertigen indes nicht jedes Handeln – weswegen auch umstritten ist, ob bzw. unter welchen Bedingungen die Anwendung von Gewalt zum Ausschlussgrund wird, um von politischen Gefangenen zu sprechen.31 So wird der Tyrannenmord an brutalen Herrschern als Akt der Notwehr zumeist für legitim gehalten, wenngleich ein gegebenenfalls unvermeidbarer Tod Unbeteiligter Sympathien der Bevölkerungsmehrheit für den Diktator oder eine geringere Schuld des Betroffenen (etwa bei subalternen Funktionsträgern) auch eine andere Einschätzung erlauben würden.32 Der Attentäter in einem demokratischen Rechtsstaat hingegen mag zwar politisch motiviert sein, wird jedoch nach allgemeiner Auffassung zu Recht strafrechtlich belangt und ist nicht zu den politischen Gefangenen zu zählen, insbesondere bei fairem Prozess und korrekter Behandlung in der Haft. Die Einschätzung des »Delikts« variiert im Hinblick auf das politische System, in dem es begangen wurde. So liegt es nahe, Spionage danach zu unterscheiden, ob sie gegen eine Parteidiktatur oder eine Demokratie gerichtet war.33 Gleiches gilt für die Verweigerung des Wehrdienstes oder Fahnenflucht,34 was in einer Diktatur im Regelfall von anderer Qualität ist als in einem demokratischen Gemeinwesen. Abhängig von den jeweiligen politischen Verhältnissen sind also gleiche Taten unterschiedlich legitim, weswegen der Begriff 29  Entsprechend dem weit verbreiteten Aphorismus »One man’s terrorist is another man’s freedom fighter«. 30  Vgl. Guckes: Opferentschädigung mit zweierlei Maß?, S. 8 u. 79 f. 31  Vgl. Neier, Aryeh: Confining dissent. The political prison. In: Morris, Norval; Rothman, David J. (Hg.): The Oxford history of prison. The practice of punishment in Western society. Oxford 1995, S. 391–425, hier 392 f. 32  Vgl. etwa Fritze, Lothar: Legitimer Widerstand? Der Fall Elser. Berlin 2009. 33  Vgl. u. a. Fricke, Karl Wilhelm: Spionage als antikommunistischer Widerstand. Zur Zusammenarbeit mit westlichen Nachrichtendiensten aus politischer Überzeugung. In: Deutschland Archiv 35 (2002) 4, S. 565–578. Dagegen möchte Eckert auch Spionage gegen die DDR nicht zwangsläufig zum »antikommunistischen Widerstand« zählen. Vgl. Eckert, Rainer: Widerstand und Opposition: Umstrittene Begriffe der deutschen Diktaturgeschichte. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 21). Berlin 2001, S. 27–36, hier 35. 34  Zur erheblich abweichenden Rechtspraxis bei Rehabilitierungen vgl. Pfister, Wolfgang: Die Aufhebung von Willkürurteilen. In: Weber, Jürgen; Piazolo, Michael (Hg.): Eine Diktatur vor Gericht. Aufarbeitung von SED-Unrecht durch die Justiz. München 1995, S. 181–199, hier 190.

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des politischen Gefangenen im Kontext der DDR in der stalinistischen Phase anders gefasst werden müsste als in der Folgezeit. Eine politische Motivation allein reicht jedenfalls nicht aus, um von einem politischen Gefangenen zu sprechen – auch die gewählten Mittel, die Zielvorstellungen und der historische Kontext müssen berücksichtigt werden. Zu den Verfolgungsgründen des Staates als der zweiten Dimension, die dem Begriff des politischen Gefangenen zugrunde liegt: Viele Betroffene gerieten im SED-Staat in die Mühlen der politischen Justiz, ohne dass sie bewusst politisch handelten, etwa als Opfer gesellschaftlicher Umgestaltung in der stalinistischen Phase. »Nicht weil sie sich um Politik gekümmert hatten und auffällig geworden waren, sondern weil die Politik sich um sie ›gekümmert‹ hatte«, fanden sie sich hinter Gefängnismauern wieder.35 Auch die Spruchpraxis der Sowjetischen Militärtribunale (SMT) in Ostdeutschland speiste sich aus der Perzeption einer bedrohten und schutzbedürftigen Herrschaft und sollte generalpräventiv etwaige Widerstandspotenziale in der Bevölkerung beseitigen, wobei es auf die wirklichen Taten der Beschuldigten oft weniger ankam.36 Daher können die Begrifflichkeiten nicht allein an die Handlungsmotivation der Betroffenen geknüpft werden, sondern müssen berücksichtigen, dass die politische Strafverfolgung den Einzelnen treffen konnte, ohne dass dieser durch eigenes Zutun einen Grund dafür bot – sich ein Vorwand indes stets finden ließ. Die politische Verfolgungsabsicht des Staates ist bei vielen »Delikten« im Falle des SED-Regimes offenkundig, denn im Vergleich zur Bundesrepublik37 wurden in der DDR die Anwendungsvoraussetzungen für Straftatbestände wie »Hochverrat« enorm ausgeweitet. Meist waren sie auch mit höheren Strafandrohungen bewehrt und bereits Versuche hierzu standen unter Strafe; scheinbar unpolitische Auffangtatbestände wurden neu eingeführt und bewusst unscharf gefasst.38 Als politische Gefangene in der DDR werden deswegen gemeinhin jene bezeichnet, die nach bestimmten »politischen« Paragrafen des 35  Werkentin, Falco: Der politische und juristische Umgang mit Systemgegnern in der DDR und in der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. In: Kleßmann, Christoph u. a. (Hg.): Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte. Berlin 1999, S. 253–270, hier 268. 36  Vgl. Hilger, Andreas: Strafjustiz im Verfolgungswahn. Todesurteile sowjetischer Gerichte in Deutschland. In: ders. (Hg.): »Tod den Spionen!« Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953 (Hannah-Arendt-Institut. Berichte und Studien, 51). Göttingen 2006, S. 95–155, hier 124. 37  Vgl. u. a. Posser, Diether: Gab es »politische Strafverfolgung« in der Bundesrepublik Deutschland in den 50er und frühen 60er Jahren, und wie wurde diese Problematik von der SED instrumentalisiert? In: Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit« (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Hg. vom Deutschen Bundestag, Bd. VIII/3. Baden-Baden 1999, S. 2206–2251. 38  Vgl. Schroeder, Friedrich-Christian: Das Strafrecht des realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR. Opladen 1983, S. 78–82.

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DDR-Strafgesetzbuches verurteilt wurden.39 Der Vorteil dieser Herangehensweise, die etwa Johannes Raschka favorisiert, liegt darin, dass eine Quantifizierung verschiedener Fallgruppen möglich wird und eine Gesamtzahl von Betroffenen abgeschätzt werden kann.40 Die SED-gelenkte Justiz urteilte aber nicht allein auf der Grundlage »politischer« Paragrafen, sondern wendete zunehmend auch andere, »unpolitische« Bestimmungen des Strafgesetzbuchs gegen politisch Missliebige an, was für die politische Optik von Vorteil war.41 Hinter einem politisch anmutenden Delikt (wie »Widerstand gegen die Staatsgewalt«) konnte sich eine profane, alkoholisierte Wirtshausschlägerei mit der hinzugerufenen Volkspolizei (VP) verbergen, hinter einem Straftatbestand der allgemeinen Kriminalität (wie etwa Brandstiftung) ein politisch motivierter Täter (wie der dann wegen »Diversion« verurteilte Michael Gartenschläger, der als Fanal tatsächlich eine Scheune angezündet hatte; siehe Kap. 4.2.6). Auch konnte ein »krimineller« Straftatbestand wie Scheckbetrug zweifelsfrei erfüllt sein, doch wollte der Betreffende vielleicht nur eine Fluchthilfeorganisation bezahlen.42 Daher ist es ohne nähere Prüfung der einzelnen Fälle abwegig, allein aufgrund bestimmter Delikte von einem politischen Gefangenen zu sprechen – wie es auch in die Irre führt, andere pauschal auszuschließen, allein weil Straftatbestände der allgemeinen Kriminalität erfüllt waren. Es gilt in Rechnung zu stellen, dass in der »zutiefst politisierten Gesellschaft« der DDR nahezu jede Nonkonformität politisch

39 Hierzu zählen vorrangig, jedoch nicht ausschließlich, folgende Straftatbestände: Landesverräterische Nachrichtenübermittlung (§ 99), Staatsfeindlicher Menschenhandel (§ 105), Staatsfeindliche Hetze (§ 106), Ungesetzliche Verbindungsaufnahme (§ 219), Ungesetzlicher Grenzübertritt (§ 213 StGB), Boykotthetze (Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949), Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung (§ 256) sowie Hochverrat, Spionage, Anwerbenlassen zum Zwecke der Spionage, Landesverräterische Agententätigkeit, Staatsverbrechen, Geheimnisverrat (§§ 96, 97, 98, 100, 108, 225 Abs. 1 Nr. 2, §§ 245 oder 246 StGB). Vgl. Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Verfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (StrRehaG) vom 29.10.1992. http://bundesrecht.juris.de/strrehag/ (letzter Zugriff: 14.7.2018). Asozialität (§ 249 StGB) beispielsweise fehlt in dieser Aufstellung, was die Betroffenen zu »›unwürdigen‹ Opfern« werden ließ. Lindenberger, Thomas: »Asoziale Lebensweise«. Herrschaftslegitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines »negativen Milieus« in der SED-Diktatur. In: Geschichte und Gesellschaft (2005) 2, S. 227–254, hier 230. Dabei kannte der Gesetzgeber den teils politischen Charakter dieser Art der Verfolgung, wollte jedoch vermeiden, dass »ohne eingehende Prüfung kriminelles Unrecht« rehabilitiert würde. Vgl. Widmaier: Häftlingshilfegesetz, S. 193. Siehe auch Laßleben, Wolfgang: Zur Rehabilitierung von Verurteilungen nach § 249 StGB/DDR. In: Horch und Guck Nr. 2/2008, S. 42–45. 40  Vgl. Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers. Köln 2000, S. 17 f.; Schröder; Wilke: Politische Strafgefangene. Versuch einer statistischen Beschreibung, S. 3–78. 41  Vgl. Finn, Gerhard; Fricke, Karl Wilhelm: Politischer Strafvollzug in der DDR. Köln 1981, S. 9 f. 42  Vgl. Aust, Stefan: Deutschland, Deutschland. Expedition durch die Wendezeit. Hamburg 2009, S. 63.

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ausgelegt wurde, ungeachtet der eigentlichen Motive der Täter.43 So wurden im SED-Staat absurderweise ja auch rein kriminell motivierte Taten (wie Mord), besonders in den Fünfzigerjahren, aus politischer Warte betrachtet – und strenger geahndet, wenn der Täter keine »fortschrittliche« Lebensführung an den Tag legte oder ein Funktionär Opfer geworden war.44 Vor allem tendierten die Machthaber besonders in den frühen Jahren dazu, sämtliche »Wirtschaftsverbrechen« politisch zu interpretieren, da sie im Lichte der angestrebten gesellschaftlichen Umgestaltung betrachtet wurden.45 Auch ohne eigene politische Motivation und sogar ohne eigenes Zutun konnten so etwa Bauern in die Fänge der Strafverfolgung geraten, die allein althergebrachte Anbaumethoden beibehalten wollten und deswegen als gesellschaftlich »rückständig« kriminalisiert wurden. Die Verfolgungsintention des Regimes als einziges Kriterium heranzuziehen,46 spiegelt daher – ungewollt und unter umgekehrten Vorzeichen – die Optik der SED-Machthaber wider und führt zu einer Überdehnung der Begrifflichkeit.47 Diese Herangehensweise inflationiert den Terminus des politischen Gefangenen, denn neben überzeugten Regimegegnern könnte dies sogar deren Unterdrücker einschließen. So wurden in der stalinistischen Phase der DDR Funktionäre zu Staatsfeinden gestempelt und nach dem als politische Strafrechtsnorm angewendeten Artikel 6 der DDR-Verfassung verurteilt, nur weil sie Machtintrigen zum Opfer fielen und obwohl sie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) treu ergeben waren. Als Sonderfall wäre auch (ungeachtet der »echten« Fluchthelfer) die gewerblich betriebene Fluchthilfe48 zu nennen – weitgehend ohne politische Motivation der »Täter«, für das SED-Regime jedoch bedrohlich und entsprechend streng geahndet. Allein die Verfolgungsintention des Staates als Maßstab heranzuziehen und weitere Kriterien unbeachtet zu lassen, könnte sogar NS-Täter zu politischen Gefangenen »aufwerten«. Wenn eine politische Verfolgungsabsicht des Staates offenkundig ist bzw. eine Verurteilung in willkürlicher und grob rechtsstaatswidriger Weise geschah (wie beispielsweise bei den Waldheimer Prozessen), werden die Opfer heute rehabilitiert, sofern diese ihr Anliegen glaubhaft machen können.49 Unrecht konnte aber auch aus 43  Vgl. Port, Andrew I.: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Berlin 2010, S. 350. 44 Vgl. Koch, Arnd: Die Todesstrafe in der DDR. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 110 (1998) 1, S. 89–113, hier 105. 45  Vgl. Müller, Jörg: Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und der DDR. Sachsen in der Ära Ulbricht. Göttingen 2012, S. 41. 46  So etwa Ansorg: Brandenburg, S. 13; Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 24. 47  Vgl. Port: Arbeit und Alltag, S. 350. 48  Vgl. Detjen, Marion: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989. München 2005. 49  Vgl. Bräutigam, Hansgeorg: 17 Jahre Rehabilitierung. Der Versuch, SED-Unrecht wiedergutzumachen. In: Deutschland Archiv 40 (2007) 6, S. 1056–1066. Siehe auch Petrov, Nikita: Die Bewältigung der stalinistischen Vergangenheit am Beispiel der Rehabilitierung der

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einer Überdehnung der Tatbestandsvoraussetzungen, überharter Strafzumessung oder formalrechtlichen Versäumnissen (wie Fristverletzungen) resultieren.50 Daher wird in der heutigen Rehabilitierungspraxis die Verfolgungsintention des Staates bzw. die menschenrechtswidrige Haft berücksichtigt, die Art der Delikte jedoch teilweise gar nicht, etwa wenn Jugendliche (ohne Strafurteil) in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen wurden.51 Doch selbst eine willkürliche Verurteilung bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Betreffende in einem rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Verfahren in der Sache selbst freigesprochen worden wäre, und eine Rehabilitierung erfolgt ohnehin ohne neue Tatsachenfeststellung. So wurden beispielsweise einige NS-Täter, die ohne Gerichtsverfahren etliche Jahre in sowjetischer Haft zugebracht hatten, nach ihrer Überstellung an die Bundesrepublik in den Jahren 1955/56 wegen ihrer Taten in ordentlichen Gerichtsverfahren verurteilt. Ein anderer Extremfall (aus der Sowjetunion) wäre Lavrentij Berija, der nach seinem Sturz unter dem Vorwurf des »Vaterlandsverrats« und anderer Verbrechen in einem rechtswidrigen Scheinprozess verurteilt und umgehend hingerichtet wurde – also zu rehabilitieren wäre, zweifellos aber auch nach rechtsstaatlichen Maßstäben wegen seiner Verbrechen als ehemaliger Chef des NKWD hätte verurteilt werden müssen. Schmerzhaft erfahrenes Unrecht ist somit kein hinreichendes Kriterium für eine Einstufung als politischer Gefangener; das in unterschiedlichen Lebensabschnitten »auch Täter Opfer gewesen sein können« und umgekehrt, wird oftmals ausgeblendet.52 Zu der Justizpolitik des SED-Regimes gehörte, dass auch rein kriminelle Delikte unverhältnismäßig streng bestraft wurden,53 auch weil das erwartete Verschwinden der Kriminalität in der sozialistischen Gesellschaft zu den Glaubensgrundsätzen der Machthaber zählte. Rechtsstaatliche Prinzipien, wie das Gebot der Verhältnismäßigkeit oder das Analogieverbot, zählten dabei mitunter gar nicht. Die Leidtragenden dieser Strafpraxis wurden nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur ebenfalls rehabilitiert, soweit die »angeordneten Rechtsfolgen in grobem Missverhältnis zu der zu Grunde liegenden Tat« standen.54 Eine breit Opfer der politischen Repressionen. In: Zarusky, Jürgen (Hg.): Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Sondernummer, 2006). München 2006, S. 217–224. 50  Vgl. Keller, Iris: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Justizunrecht. Frankfurt/M. 2013. 51  Vgl. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13.5.2009 (– 2 BvR 718/08 –). http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20090513_2bvr024709.html (letzter Zugriff: 14.7.2018); Beschluss des 5. Beschwerdesenats des Kammergerichts Berlin vom 15.12.2004 (5 Ws 169/04 REHA). http://www.juris.de (letzter Zugriff: 14.7.2018). 52  Vgl. Greiner, Bettina: Speziallager? Was für Speziallager? Zum historischen Ort der stalinistischen Verfolgung in Deutschland. In: Mittelweg 36 19 (2009) 3, S. 93–112, hier 103. 53  Vgl. Schroeder: Das Strafrecht des realen Sozialismus, S. 136 f.; Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 58. 54  § 1 (2) des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaats­ widriger Verfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (StrRehaG) vom 29.10.1992. http://bundesrecht.

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angelegte Reduzierung der Strafmaße auf das in der Bundesrepublik übliche Niveau war zwar nicht beabsichtigt,55 doch konnten die Gerichte für übermäßig lang vollzogene Freiheitsstrafen den Betroffenen Haftentschädigung zusprechen. Auch bei diesen gewöhnlichen Straftaten, ohne politische Motivation, lässt sich von teils politischer Verfolgung sprechen, soweit das Strafmaß über das nach rechtsstaatlichen Maßstäben gebotene Verhältnis hinausging – und deswegen so hart ausfiel, weil dies politisch so gewollt war.56 Für die Zugehörigkeit zur Gruppe der politischen Gefangenen ist somit kein einzelnes Kriterium hinreichend, doch gibt es eine Reihe von Indizien – beispielsweise ob sich der Westen um einen Freikauf bemühte. Doch dies konnte auch Rechts- oder Linksextremisten betreffen. Führte die Staatssicherheit die Untersuchungen, ist dies ebenfalls ein wichtiger Hinweis – gleichwohl ermittelte die Geheimpolizei beispielsweise auch bei Verkehrsunfällen von Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA), während viele Fälle von »Republikflucht« wiederum die Kriminalpolizei untersuchte. Ein weiterer Anhaltspunkt mag sein, ob (in den späten Jahren) ein Ausreiseantrag gestellt bzw. in der Haft aufrechterhalten wurde. Angesichts drohender Repressionen zeugt dies von Standfestigkeit, doch auch Kriminelle ersuchten um Übersiedlung. Ein weiteres Kriterium kann sein, ob die Taten auch nach rechtsstaatlichen Maßstäben geahndet worden wären. Doch wegen Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole wären beispielsweise Neonazis auch in der Bundesrepublik bestraft worden.57 Gerade bei ihnen war die Motivationslage systemabhängig: Hätten sie statt in der DDR in einem freiheitlichen Rechtsstaat gelebt, hätten sie möglicherweise manche ihre strafbaren Handlungen gar nicht erst begangen. Denn manche Jugendliche nutzten Nazisymbolik als Mittel des Protests und der Provokation angesichts der allgegenwärtigen Indoktrination im SED-Staat. Auch viele Grenzverletzer, die nur mit Gewalt in den freien Teil Deutschlands glaubten gelangen zu können, wären im Westen vermutlich gesetzestreu geblieben.58

juris.de/strrehag/ (letzter Zugriff: 14.7.2018). 55  Vgl. Tappert, Wilhelm: Die Wiedergutmachung von Staatsunrecht der SBZ/DDR durch die Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1995, S. 98. 56  Auch hinsichtlich der NS-Diktatur wurden in der Bundesrepublik übermäßig hart bestrafte Kriminelle (sowie Zwangssterilisierte, Deserteure und gelegentlich sogar Widerstandskämpfer der Weißen Rose oder des 20. Juli) anfänglich nicht rehabilitiert. Vgl. Pawlita, Cornelius: Der Beitrag der Rechtsprechung zur Entschädigung von NS-Unrecht und der Begriff der politischen Verfolgung. In: Hockerts, Hans Günter; Kuller, Christine (Hg.): Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland? Göttingen 2003, S. 79–114, hier 80–83. 57  Zur Ausweitung der Gesinnungsjustiz in europäischen Demokratien auf die Leugnung »rechter« wie »linker« Verbrechen vgl. Hofbauer, Hannes: Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung. Rechtsprechung als politisches Instrument. Wien 2011. 58 So etwa Bodo Strehlow. Vgl. Fricke, Karl Wilhelm; Klewin, Silke: Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle. Leipzig 2001, S. 180 f.

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Die politischen Gefangenen in der DDR unterschieden sich demzufolge von ihren Mitinsassen vor allem durch die Art ihrer Motive bzw. die Gründe ihrer Verurteilung. Politische Gefangene wurden wegen partieller oder grundsätzlicher Ablehnung der DDR-Realität inhaftiert, gleich ob diese politisch oder religiös begründet war. Sie wollten ihre unveräußerlichen Menschenrechte (wie Freizügigkeit, freie Wahlen oder freie Meinungsäußerung) selbst wahrnehmen bzw. wünschten sich diese auch für ihre Mitbürger. Die sich daraus ergebenden Handlungen wären nach freiheitlich-rechtsstaatlichen Maßstäben nicht oder nicht annähernd so hart geahndet worden. Häufige (doch weder hinreichende noch notwendige) Indizien sind, ob die Staatssicherheit selbst das Untersuchungsverfahren geführt hatte, ob (in den späten Jahren) ein Ausreiseantrag gestellt wurde und ob nach der friedlichen Revolution eine Rehabilitierung erfolgte. Neben dem so verstandenen politischen Gefangenen soll hier ferner der Begriff des politisch Verfolgten verwendet werden. Diese Bezeichnung hebt stärker auf die Verfolgungsmotivation des Staates ab und umschließt insbesondere jene Personen, die (etwa in der stalinistischen Phase) nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht (etwa als selbstständige Bauern oder Unternehmer) kriminalisiert wurden. Viele, die nach den Normen des Wirtschaftsstrafrechts verurteilt wurden, sind, aufgrund drakonischer Strafmaße und weil ihre Verurteilung vor allem den repressiven Strategien der SED-Führung geschuldet war, als Opfer des Regimes und als politisch Verfolgte anzusehen. Insbesondere die Willkür der Untersuchungsorgane in den frühen Jahren konstituiert politische Verfolgung, etwa im Fall erpresster Geständnisse, wenn die Möglichkeit unzutreffender Selbstbezichtigung nicht geprüft wurde59 oder Funktionäre in Schauprozessen60 abgeurteilt wurden. Später gerieten »Asoziale« ebenfalls zahlreich in die Mühlen der Justiz, allein aufgrund der Art ihrer Lebensführung oder ihrer geringeren Anpassungsbereitschaft bzw. weil der SED-Staat bestimmte Randgruppen phasenweise besonders mit strafrechtlichen Mitteln disziplinieren wollte.61 Auch die Ausreisewilligen in den späten Jahren sind einzubeziehen aufgrund ihrer Verfolgung und Kriminalisierung durch den Staat, soweit sie nicht schon den Kriterien politischer Gefangener genügen. Selbst Skinheads könnten zu den politisch Verfolgten zählen, soweit ihre Strafmaße übermäßig 59  Vgl. Beleites, Johannes; Joestel, Frank: »Agenten mit spezieller Auftragsstruktur«. Eine Erfindung des MfS und ihre Folgen. In: Horch und Guck Nr. 2/2008, S. 56–59. 60  Vgl. u. a. Marxen, Klaus; Weinke, Annette (Hg.): Inszenierungen des Rechts: Schauprozesse, Medienprozesse und Prozessfilme in der DDR. Berlin 2006. 61  Vgl. Korzilius, Sven: »Asoziale« und »Parasiten« im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung. Köln 2005; Windmüller, Joachim: Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren … – »Asoziale« in der DDR. Frankfurt/M. 2006; Hirsch, Steffen: Der Typus des »sozial desintegrierten« Straftäters in Kriminologie und Strafrecht der DDR. Ein Beitrag zur Geschichte täterstrafrechtlicher Begründungen. Göttingen 2008; Lindenberger: »Asoziale Lebensweise«.

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hoch waren oder sie unter rechtsstaatlichen Bedingungen ihre Straftaten gar nicht erst begangen hätten. So verstanden ist der Begriff des politischen Gefangenen, trotz Überschneidungen, keinesfalls identisch mit dem Begriff des »Staatsfeindes« bzw. des »Staatsverbrechers«, wie das SED-Regime seine engagiertesten Gegner titulierte. Die ostdeutsche Justiz sprach beispielsweise gegenüber der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) im Jahre 1950 von »politischen«, »wirtschaftlichen« und »sonstigen« Verurteilten.62 Gerade im internen Schriftverkehr wurde der Begriff des politischen Häftlings vielfach verwendet, bis Justizminister Max Fechner 1951 den weiteren Gebrauch dieser Bezeichnung untersagte,63 was freilich auch intern nicht immer Beachtung fand.64 Auch viel später wurden in den internen Statistiken der Gefängnisverwaltung zumindest »Staatsverbrecher« gesondert erfasst, das heißt unter anderem wegen »Staatsfeindlicher Hetze«, »Landesverräterischer Nachrichtenübermittlung« oder »Spionage« Verurteilte.65 Implizit orientierten sich die Machthaber weiterhin am Begriff des politischen Häftlings, insbesondere mit Blick auf die westliche Kritik, weswegen etwa der Amnestiebeschluss von 1972 »politische […] Straftäter« erwähnte.66 Erich Honecker selbst behauptete dann 1981 in einem Interview, dass es seit der Amnestie von 1979 »bei uns keinen einzigen politischen Gefangenen mehr« gebe.67 Dies verriet im Umkehrschluss immerhin, dass es selbst in der Wahrnehmung der Verantwortlichen bis dahin sehr wohl politische Häftlinge gegeben hatte – und in Wirklichkeit auch weiterhin gab. In seiner Argumentation versteiften sich die SED-Offiziellen zumeist darauf, dass die Betreffenden nicht wegen ihrer Gesinnung, sondern wegen ihrer Taten verurteilt seien – wobei aber auch, seine politische Meinung in der Öffentlichkeit frei zu äußern, als »Staatsfeindliche Hetze« oder »Herabwürdigung der staatlichen Ordnung« bestraft werden konnte. Im Selbstverständnis der Häftlingsgesellschaft war die Unterscheidung zwischen Kriminellen und politischen Gefangenen ohnehin essenziell, und Letztere wurden durch die Aufseher auch deutlich strenger behandelt. 62  Vgl. Schröder; Wilke: Politische Strafgefangene. Versuch einer statistischen Beschreibung, S. 3–78, hier 8. 63  Vgl. Rundverfügung 125/51 des Ministers der Justiz vom 5.9.1951; abgedruckt bei: Rößler, Ruth-Kristin: Justizpolitik in der SBZ/DDR 1945–1956. Frankfurt/M. 2000 (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 136), S. 262 f. 64  Vgl. Aufstellung über den Stand der Gefangenen in den Strafanstalten des MdI am 25.3.1952; BArch DO1 11/1509, Bl. 178. 65  Vgl. Werkentin, Falco: Das Ausmaß politischer Strafjustiz in der DDR. In: Baumann, Ulrich; Kury, Helmut (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung: Opfer von SED-Unrecht. Berlin 1998, S. 49–74, hier 50. 66  Vgl. Beschluss des Ministerrates über eine Amnestie aus Anlass des 23. Jahrestages der Gründung der DDR vom 4.10.1972; BArch DC 20/I/3 984; abgedruckt in: Neues Deutschland vom 7.10.1972, S. 2. 67  Honecker, Erich: Für eine aktive Politik des Friedens (Interview mit Robert Maxwell am 6.2.1981). In: Honecker, Erich: Reden und Aufsätze, Bd. 7. Ostberlin 1982, S. 534–550.

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Idealtypisch lassen sich kriminelle und politische Gefangene sowie politisch Verfolgte also leidlich voneinander trennen, doch letztlich ist nur im Einzelfall zu entscheiden, wer zu welcher Gruppe zählt – unter Berücksichtigung aller vorliegenden Akten, Indizien und Selbstauskünfte. Dabei ist die Motivation der Betreffenden oft schwer zu rekonstruieren, denn Urteilsschriften und Ermittlungsakten spiegeln diese meist verfälscht wider und die Selbstwahrnehmung der Betroffenen kann sich im Laufe der Jahre gewandelt haben bzw. Rechtfertigungszwängen unterliegen. Bei der Untersuchung des DDR-Strafvollzugs ist es sinnvoll, möglichst neutrale Begriffe zu verwenden, die in deskriptiver Hinsicht tauglich sind. In den Quellen stehen sich meist zweierlei Begrifflichkeiten gegenüber – die des Strafvollzugsapparates und die der ehemaligen Häftlinge. Was die eine Seite als »Erzieher« bezeichnete, galt den anderen als »Schließer« – hier ein unerträglicher Euphemismus, dort im Grunde eine Simplifizierung ihrer umfassenden Überwachungsfunktion. In dieser Studie soll deshalb der neutralere Begriff des Aufsehers Verwendung finden, der alle Bediensteten einer Haftanstalt umfasst, unabhängig davon, ob sie auch für die »Seelenfilzungen« verantwortlich waren, die in der offiziellen Terminologie beschönigend »Erziehungsgespräch« hießen. Die technokratische Sprache der DDR-Bürokratie manifestierte sich auch in den Begriffen »Dienststellen des Strafvollzugs« und »Objekte« – womit jene Haftorte umschrieben wurden, die von den Insassen meist mit einem bitteren Pseudonym belegt wurden, wie etwa »das gelbe Elend« für Bautzen I oder der »gläserne Sarg« für Brandenburg-Görden. Die Betroffenen benutzten in den Fünfzigerjahren auch noch den älteren Begriff »Zuchthaus«, der bis 1968 auch im Strafrecht eine offizielle Entsprechung fand, oder sprachen gleich von »Konzentrationslagern«. In dieser Studie werden dagegen die neutraleren Begriffe Haftanstalt und Gefängnis verwendet, die alle Haftorte in der DDR umschließen sollen (Strafvollzugsanstalten bzw. Strafvollzugseinrichtungen, Gerichtsgefängnisse bzw. Untersuchungshaftanstalten, Haftkrankenhäuser, Haftarbeitslager und Jugendhäuser). Der Staatssicherheitsdienst bezeichnete seine Zuträger unter den Insassen der Strafvollzugseinrichtungen (StVE) zunächst als Kammeragenten (KA), später als Geheime Informatoren (GI) und zuletzt als inoffizielle Mitarbeiter (IM). Hier ist der allgemeinverständlichere Begriff des Spitzels angebracht, wenngleich die IM auch aktiv eingesetzt wurden (etwa um bestimmte Gerüchte zu verbreiten). Im Häftlingsjargon wurde als »Zinker« bezeichnet, wer aus eigenem Antrieb Mitinsassen denunzierte, und als »Zellenrutscher«, wer im Auftrag der Geheimpolizei nach und nach in unterschiedlichen Zellen eingesetzt wurde. Letztere hießen im offiziellen Sprachduktus »Verwahrräume« – kein angemessener Ausdruck für ein paar Quadratmeter Tristesse. Für die Erledigung anstaltsinterner Aufgaben, etwa in der Gefangenenküche oder -wäscherei, wurden – meist kriminelle – Häftlinge eingesetzt, teils »Brigadiere« genannt. Sie werden hier als Kalfaktoren (und nicht als Funktionshäftlinge) bezeichnet, weil deren Rolle in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Zuchthäusern eine andere war.

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1.2 Konzeption und Überblick In der zeitgeschichtlichen Forschung stehen die Blickwinkel der Herrschaftsund Gesellschaftsgeschichte oftmals nebeneinander, in der Darstellung der Haftbedingungen und der Lebenswelt im Strafvollzug indes verschmelzen sie. Beide Aspekte treten hier aufgrund der Besonderheiten der Gefangenschaft in akzentuierter und gleichzeitig spezifisch verzerrter Weise hervor: Zum einen manifestieren sich die Herrschaftsstrategien der SED-Führung in konkreten Anweisungen zur Behandlung der Gefangenen. Zum anderen ist die Häftlings­ gesellschaft zwar kein repräsentativer Ausschnitt der Gesamtgesellschaft, schon weil »Mitläufer« und »Angepasste« meist nicht hierher gelangten. Doch gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb der Gefängnismauern spiegelten sich immer auch im Strafvollzug wider, wenngleich sie hier eigenen Spielregeln gehorchten und oftmals verzögert eintraten. Hier wie dort wurden Überlebens- und Selbstbehauptungsstrategien gesucht – und wenn diese Disziplinarmaßnahmen auslösten, wurde dies im Strafvollzug besonders gut dokumentiert (durch Gefangenenakten, Disziplinarstatistiken und Zeitzeugenberichte), wodurch sich günstigstenfalls auch Interaktionsprozesse nachzeichnen lassen. Der politische Strafvollzug der DDR ist nicht als organisatorisch eigenständiger Teil des ostdeutschen Gefängniswesens zu verstehen. Gegen die politischen Gefangenen und die politisch Verfolgten in der DDR hatte zwar oft die Staatssicherheit als Untersuchungsorgan ermittelt und die Betreffenden bis zum Urteil in eigene Untersuchungshaftanstalten (UHA) gesperrt. Nach dem Urteilsspruch wurden sie jedoch, mit wenigen Ausnahmen,68 in die »gewöhnlichen« Strafvollzugsanstalten (StVA) der Deutschen Volkspolizei (DVP) bzw. des Ministeriums des Innern (MdI) verlegt, wo die Freiheitsstrafen vollstreckt wurden. Hier saßen die politischen Gefangenen und politische Verfolgten gemeinsam mit Kriminellen und Gelegenheitstätern ein, deren Ermittlungsverfahren von der Kriminalpolizei (und in seltenen Fällen vom Zollfahndungsdienst der Zollverwaltung) geführt worden waren. Die dann folgende Gefangenschaft war durch eine systematische Benachteiligung der politischen Häftlinge gegenüber ihren kriminellen Mitinsassen und Versuche ihrer politisch-weltanschaulichen Beeinflussung geprägt. Der politische Strafvollzug der DDR wird hier in seinen wichtigsten Dimensionen analysiert: als Institution und Apparat (»Der Strafvollzug«) wie auch hinsichtlich der dort herrschenden Haftbedingungen (»Die Gefangenschaft«). Teils stehen die Betroffenen selbst im Mittelpunkt (»Die Häftlinge«), teils der wichtigste Akteur hinter den Kulissen (»Die Staatssicherheit«). Diese Perspektivwechsel ermöglichen, 68  So konnte die Staatssicherheit in ihren Untersuchungshaftanstalten auch Freiheitsstrafen vollziehen sowie Einlieferungen in ihr Haftarbeitslager X (Hohenschönhausen) oder die »Sonderhaftanstalt« Bautzen II veranlassen.

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verschiedenen, in der Geschichtsschreibung zum Thema Gefangenschaft üblichen Betrachtungsweisen zu folgen, die sich nur idealtypisch folgendermaßen unterscheiden lassen: Der »traditionelle« Ansatz achtet vor allem auf die Reformanstrengungen des Gefängniswesens und ihrer Initiatoren, während in der »totalisierenden« Variante hauptsächlich die repressive Qualität der Gefangenschaft herausgearbeitet wird und das Gefängnis als Kerninstitution staatlicher Kontrolle gilt. Abgesehen von einer »integrationistischen« Variante (als Mischform der beiden erstgenannten) hat sich vor allem die »kulturalistische« Herangehensweise etabliert, die besonders das Eigenleben der Häftlingsgesellschaft aufzeigt.69 Der hier gewählte Ansatz folgt verschiedenen Perspektiven: So ist die Darstellung des ostdeutschen Gefängniswesens und der Rolle der Staatssicherheit zwangsläufig »totalisierend«, doch trägt die Darstellung des »sozialistischen Strafvollzugs« und der Haftbedingungen auch »traditionelle« Züge. Die Spielräume der Insassen auszuloten, folgt wiederum eher einer »kulturalistischen« Herangehensweise. Der Leser wird dabei mal mit der Perspektive des Apparates konfrontiert (soweit es etwa um die Disziplin der Aufseher geht), mal mit dem Standpunkt der Insassen (etwa bei der Gefangenenmisshandlung) und mehrfach mit dem Blickwinkel Dritter vertraut gemacht – wie dem der Staatsanwaltschaft, der ausländischen Besucher oder der Gefängnisseelsorger. Andere Schwerpunkte hätten sich ergeben, würde die Darstellung noch stärker der Perspektive der Betroffenen folgen (mit den Stationen Festnahme, Untersuchungshaft, Verurteilung, gegebenenfalls Zwangsadoption, Haftzeit und Wiedereingliederung oder Freikauf), doch wurde hier eine systematische Herangehensweise bevorzugt. Nachfolgend wird das Gefängniswesen der DDR unter den vier Haupt­ überschriften »Strafvollzug«, »Gefangenschaft«, »Häftlinge« und »Staatssicherheit« analysiert. Diese Kapitel stehen weitgehend für sich, wenngleich etwa die Staatssicherheit auch in den anderen Abschnitten zur Sprache kommt, ihrem Einfluss entsprechend. Auch auf den zeitgeschichtlichen Kontext muss mehrfach verwiesen werden, was Redundanzen nach sich zieht. Zunächst soll im Abschnitt über den Strafvollzug (in Kap. 2) untersucht werden, welche Institutionen, Strukturen und Mechanismen das Gefängniswesen Ostdeutschlands prägten. Hier gilt es, das Verhältnis der Gefängnisverwaltung zur Justiz, die Abwesenheit einer parlamentarischen Kontrolle und die Rolle der SED-Führung in der Strafvollzugspolitik in den Blick zu nehmen. Die Strafvollzugsverwaltung, der Politapparat und die Parteiorganisation im Strafvollzug werden dabei hinsichtlich ihrer Funktionalität für die Durchsetzung des umfassenden Herrschaftsanspruchs der SED beleuchtet. Dies betrifft zunächst 69  Vgl. Bretschneider, Falk: Humanismus, Disziplinierung und Sozialpolitik. Theorien und Geschichten des Gefängnisses in Westeuropa, den USA und in Deutschland. In: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 13 (2003) 5/6, S. 18–49, hier 24 f.

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die oberste Ebene der Verwaltung Strafvollzug (VSV) in Ostberlin und geht dann in die exemplarische Darstellung einer Haftanstalt als unterste Ebene über. Auch die Aufseher werden dabei betrachtet, insbesondere unter den Gesichtspunkten der Linientreue, Disziplinarvergehen und Nachwuchsrekrutierung. Die Konzeption des »sozialistischen Strafvollzugs« wird in dem Kapitel über die Gefangenschaft (Kap. 3) betrachtet. Denn diese ist das Produkt eines politischen Herrschaftsansatzes, das im Strafvollzug, stärker als in anderen gesellschaftlichen Bereichen, auf eine Entmündigung des Individuums hinauslief. Eine grundsätzliche Weichenstellung in den Jahren 1950 bis 1952 hatte die vergleichsweise modernen Strafvollzugskonzepte der Justizverwaltung beendet und der politisch zuverlässigeren Volkspolizei die Zuständigkeit übertragen. Manche Reformvorstellungen der Justiz griff die Volkspolizei später auf und ein Blick in die Haftpraxis wird zeigen, inwieweit sich die Behandlung der Insassen tatsächlich besserte. Hinsichtlich der körperlichen Übergriffe ist bislang ungeklärt, ob solche Misshandlungen »von oben« ausdrücklich und systematisch toleriert wurden (und sich diese Praxis im Laufe der Zeit veränderte) oder ob es sich primär um das Fehlverhalten Einzelner in bestimmten situativen Kontexten handelte. Die laufende Rechtsprechung geht heute jedenfalls davon aus, dass Übergriffe von Aufsehern zu DDR-Zeiten prinzipiell nicht strafrechtlich geahndet wurden – was einer Prüfung bedarf. Untersucht wird in Kapitel 3 auch die systematische Ausbeutung der Arbeitskraft von Gefangenen. Ihre niedrigen »Löhne« lassen eigentlich vermuten, dass das SED-Regime aus dem Arbeitseinsatz hohen Gewinn ziehen konnte – was es zu hinterfragen gilt. Ferner ist der Arbeitseinsatz in der Praxis darzustellen, der etwa durch die Missachtung von Arbeitsschutzbestimmungen geprägt war. Skizziert werden die Haftbedingungen unter anderem auch hinsichtlich der Regelungen zum Empfang von Briefen, Paketen und Besuchen sowie der Frage, inwieweit man kirchliche Seelsorge in Anspruch nehmen konnte. Bislang kaum erforscht wurden schließlich die Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbehauptung für Häftlinge im DDR-Strafvollzug. Unterlagen bestimmte Gruppen von Gefangenen indes gesonderten Haftbedingungen (wie die Zeugen Jehovas oder inhaftierte Bundesbürger), werden diese in jenen Abschnitten in Kapitel 4 erörtert, in denen die jeweilige Häftlingsgruppe hinsichtlich ihrer Alters- und Deliktstruktur vorgestellt wird. In Kapitel 4 wird zunächst überblicksartig die Häftlingsgesellschaft dargestellt, die aus politischen Häftlingen, politisch Verfolgten und Kriminellen bestand, aus Männern, Frauen und Jugendlichen. Sie werden in verschiedene Häftlingsgruppen eingeteilt (wie etwa Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale und WaldheimHäftlinge) und etwa in der Abfolge vorgestellt, in der sie in Haft gerieten. Entsprechend der Heterogenität der Häftlingsgesellschaft werden auch immer wieder querschnittartig Sozial- und Deliktstruktur in bestimmten Zeiträumen analysiert sowie die für den SED-Staat charakteristischen Amnestien beleuchtet.

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Doch jeder Gefangene hatte sein persönliches Schicksal wie auch die politische Repression erst im konkreten Fall anschaulich wird – weswegen einige Schicksale von Inhaftierten herausgegriffen und ihre Lebenswege, Verurteilungsgründe sowie ihre Hafterfahrungen exemplarisch dargestellt werden. Die Beispielfälle sollen das breite Spektrum unterschiedlicher Gruppen von Gefangenen andeuten, sind jedoch nicht im engeren Sinne repräsentativ. Der politische Strafvollzug in der DDR unterlag in hohem Maße dem Einfluss des Staatssicherheitsdienstes (Kap. 5). Mit welchen Methoden die ostdeutsche Geheimpolizei operierte, wie weit ihre Interessen reichten, nach welchen Prioritäten sie handelte und warum welche Häftlinge in ihr Visier gerieten (und was mit ihnen passierte), gilt es zu klären. Ferner ist zu fragen, ob der Mielke-Apparat die Aufseher als Verbündete zur Disziplinierung der Insassen betrachtete oder sie eher für unsichere Kantonisten hielt und ihnen misstraute. Zu untersuchen ist auch, wer unter Insassen und Aufsehern sich als inoffizieller Mitarbeiter anwerben ließ, welche Hintergründe dabei eine Rolle spielten und welche Einflussmöglichkeiten der Westen besaß (durch Freikaufsbemühungen, Besuche westlicher Delegationen oder Amnestieforderungen). Im Schlussteil (Kap. 6) gilt es schließlich, die gewonnenen Erkenntnisse zusammenzufassen und das Spezifische des politischen Strafvollzugs in der DDR zu bestimmen. Aufgrund der systematischen Herangehensweise ermöglicht ein feingliedriges Inhaltsverzeichnis den raschen Zugriff auf alle Detailfragen zum DDR-Strafvollzug, sodass auf ein Sachregister verzichtet wurde. Ein Personenindex erleichtert das Auffinden einiger Amtsträger und Personen der Zeitgeschichte, die für das ostdeutsche Gefängniswesen bedeutsam waren oder dort einsitzen mussten. Ein Index von Decknamen ermöglicht wiederum das Wirken des Staatssicherheitsdienstes abzuschätzen. Die genannten Kapitel sind in 25 Unterkapitel gegliedert, innerhalb derer sich das Zeitfenster jeweils über den gesamten Zeitraum von 40 Jahren öffnet, was einen Überblick über langfristige Veränderungen ermöglicht. So beginnt beispielsweise die Strukturgeschichte des ostdeutschen Gefängniswesens (in Kap. 2) mit dem Wiederaufbau der teilzerstörten Gefängnisse nach Kriegsende und endet mit den Auswirkungen des Zusammenbruchs des SED-Regimes im Jahre 1989. Ebenso wird im Abschnitt »Gefängnisseelsorge« (innerhalb des Hauptkapitels 3 »Gefangenschaft«) die wechselhafte religiöse Betreuung der Insassen von der Staatsgründung bis zur friedlichen Revolution untersucht. Wie in anderen Bereichen der DDR-Forschung zeichnen sich dabei zeitliche Schwerpunkte in den Fünfziger- und Achtzigerjahren ab. Dies ist teilweise der in diesen Phasen besseren Quellenlage geschuldet; zudem wurden in den Fünfzigerjahren die strukturellen Grundlagen für den allumfassenden Herrschaftsanspruch der SED gelegt, wohingegen sich der SED-Staat in den Achtzigerjahren in seiner vollen

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Ausprägung als »Fürsorgediktatur« zeigte.70 Die diesen Begriffen innewohnende Entmündigung der Bürger und Loyalitätserwartung der Herrschenden charakterisiert auch den Strafvollzug, insbesondere die Wiedereingliederung Haftentlassener.71 Wie auch in anderen Politikfeldern musste zwar in dieser Phase im Interesse des äußeren Erscheinungsbildes auf manche Schärfe verzichtet werden, doch behielt gerade der Strafvollzug seine repressive Grundstruktur bis zuletzt bei. Das Gefängniswesen Ostdeutschlands war mit bis zu 250 Haftanstalten, fast 10 000 Aufsehern und über 60 000 Häftlingen ein Machtapparat von beachtenswerter Größe. Seine komplexe Anatomie lückenlos zu erfassen und seine Entwicklung über 40 Jahre umfassend darzustellen, ist schwer möglich. Aus Gründen der Anschaulichkeit und Tiefenschärfe wird daher eine wichtige und für den politischen Strafvollzug durchgängig bedeutsame Haftanstalt in den Mittelpunkt gestellt: Brandenburg-Görden. Als Teil des »Organs Strafvollzug« steht sie für das Ganze, Veränderungen in diesem Gefängnis sind oftmals exemplarisch für die anderen Haftanstalten Ostdeutschlands. Die Übertragbarkeit der Befunde wird immer dann thematisiert, wenn Angaben für das ausgewählte Fallbeispiel Brandenburg-Görden wie auch für den Strafvollzug insgesamt vorliegen (etwa bei den Häftlingszahlen). Teilweise werden auch Vorgänge auf der Ebene der obersten Gefängnisverwaltung beleuchtet, von denen sämtliche Haftorte in der DDR betroffen waren (etwa bei Konflikten zwischen Justizministerium, Staatsanwaltschaft und Gefängniswesen in den Sechzigerjahren). Auch die wechselnden Prioritäten in der Strafvollzugspolitik werden untersucht, da sie für alle Gefängnisse relevant waren. Gleiches gilt für die Einflussmöglichkeiten der Staatssicherheit auf die oberste Gefängnisverwaltung.72 Zentrale Erkenntnisse, die aus diesem Fallbeispiel gewonnen werden, lassen sich vermutlich auf andere Haftorte übertragen, etwa bei den Themen der politischen Bevormundung der Aufseher oder der Indoktrination der Inhaftierten, beim Vorgehen der Geheimpolizei und bei der unübersehbaren Diskrepanz zwischen den selbstgesetzten Normen der Gefängnisverwaltung und der Realität, einschließlich der daraus resultierenden Vertuschungsbemühungen. Jedoch zeigten sich in der ausgewählten Haftanstalt aufgrund lokaler Besonderheiten auch spezifische Befunde (wie die extremen Eigenmächtigkeiten eines langjährigen Gefängnisleiters); ein Rückschluss vom Fallbeispiel auf den gesamten DDR-Strafvollzug ist daher nicht immer möglich.

70  Vgl. u. a. Jarausch, Konrad H.: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (1998) 20, S. 33–46; Sabrow, Martin: Die Diktatur des Paradoxons. Fragen an die Geschichte der DDR. In: Hockerts, Hans Günter (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. München 2004, S. 153–174, hier 154. 71  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 39 f. 72  Siehe die Kapitel 2.1.1, 5.1, 5.2 und 5.5.

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Die Haftanstalt Brandenburg-Görden war erst 1931 von der reformorientierten Weimarer Justizverwaltung errichtet worden,73 galt den Betroffenen jedoch als der »gläserne Sarg«.74 Sie zählte zu den vier größten Haftorten in der DDR; lediglich in Bautzen I, Waldheim sowie dem Haftarbeitslager Glowe waren mehr Personen inhaftiert als in Brandenburg-Görden mit seinen bis zu 3 500 Insassen.75 Was die Häftlingsgesellschaft betrifft, durchlief die Haftanstalt an der Havel eine für das ostdeutsche Gefängniswesen charakteristische Ent­wicklung: langfristig sinkende Zahlen von politischen Gefangenen und immer stärkere Durchmischung mit Kriminellen. Aufgrund der relativ vielen Insassen mit hohen Strafmaßen (und entsprechend langer Verweildauer) ist zudem davon auszugehen, dass die Häftlingsgesellschaft hier ein relativ starkes »Eigenleben« entwickelte – was ebenfalls untersucht werden soll. Mit nur einer Buchpublikation76 fand die Haftanstalt an der Havel bislang weniger Beachtung als andere Haftorte wie etwa Bautzen II, Cottbus oder Hoheneck. Zwar saßen an diesen Orten besonders viele politische Gefangene ein, doch auch in Brandenburg-Görden stellten sie, zusammen mit den politisch Verfolgten, etwa bis Mitte der Sechzigerjahre die Mehrheit gegenüber den gewöhnlichen Kriminellen. Anders als etwa Waldheim in den frühen Jahren war Brandenburg-Görden nicht zugleich Schauplatz politischer Justiz, doch saßen die in den Waldheimer Prozessen Verurteilten zuletzt in der Haftanstalt an der Havel ein. Verglichen mit Haftorten wie Cottbus waren hier die meisten Insassen – zumindest ab den Sechzigerjahren – vielleicht weniger prominent, wurden aber wohl teilweise als besonders gefährliche Gegner des SED-Regimes eingeschätzt (wie etwa Michael Gartenschläger oder Josef Kneifel), sofern die hier zumeist höheren Strafmaße als Indiz gelten können. Die Haftanstalt an der Havel unterstand wie die meisten Gefängnisse in der DDR der Strafvollzugsverwaltung

73  Vgl. Pasquale, Sylvia de: Der Bau der Strafanstalt Brandenburg-Görden 1927–1935. In: Klewin, Silke; Reinke, Herbert; Sälter, Gerhard (Hg.): Hinter Gittern. Zur Geschichte der Inhaftierung zwischen Bestrafung, Besserung und politischem Ausschluss vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Leipzig 2010, S. 65–82. 74  Dies bezog sich auf die erzwungene Stille und die zahlreichen Insassen mit hohen Haftstrafen. Vgl. u. a. Bericht [des ehemaligen Häftlings] Albert Geissler [betr. Haftanstalt Gera und Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden] vom 14.3.1951; BArch B 289/VA171/22–8. Andere Quellen beziehen die Bezeichnung auf das bekannte Märchen über Schneewittchen, deren gläsernem Sarg die Haftanstalt wegen ihres Glasdaches, aus der Vogelperspektive betrachtet, angeblich gleicht. Vgl. Maltzahn, Dietrich von: Mein erstes Leben oder Sehnsucht nach Freiheit. München 2009, S. 133. Der Diktion entsprechend unkten die Gefangenen auch, als Mitte der 50er-Jahre die Gefängnishöfe begrünt wurden, auf jedem Grab befänden sich nun Blumen. Vgl. Juretzko, Werner: Die Nacht begann am Morgen. Aufstieg und Fall eines westlichen Geheimagenten. Norderstedt 2009, S. 251. 75  Als Vergleichsmaßstab gilt hier die jeweils höchste Belegung, gleich zu welchem Zeitpunkt. 76  Vgl. Ansorg: Brandenburg.

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des Ministeriums des Innern,77 doch spielte das Mielke-Ministerium hier eine bedeutsame Rolle, wie noch zu zeigen sein wird. Auch in den Siebziger- und Achtzigerjahren waren hier noch bis zu 700 politische Häftlinge und politisch Verfolgte eingesperrt – und damit beispielsweise etwa viermal so viele wie in der berüchtigten »Sonderhaftanstalt« Bautzen II, in deren Leitung die Staatssicherheit durch Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) des MfS-Untersuchungsorgans direkt eingebunden war. Bautzen II erlangte seinen Status auch erst, als im August 1956 etwa 90 prominente Häftlinge direkt von der Haftanstalt an der Havel nach Sachsen verlegt wurden, was Brandenburg-Görden den Charakter eines unmittelbaren Vorläufers von Bautzen II verleiht. Dass die Haftanstalt an der Havel nach 1989 etwas »im Abseits« stand, ergab sich wohl aus ihrem Ruf als »Schwerverbrecher-Knast«, stellten dort doch ab Mitte der Sechzigerjahre Kriminelle mit oft hohen Freiheitsstrafen die Mehrheit der Insassen. Verkannt wurde Brandenburg-Görden wohl auch, weil das Zuchthaus als Symbol des »antifaschistischen Widerstandskampfes« von der offiziellen SED-Geschichtsschreibung vereinnahmt worden war.78 Denn hier hatten vor 77  Wegen der zahlreichen nach Befehl 201 verurteilten Insassen und ihrer strengen Bewachung in einem gesonderten Teil der Haftanstalt, dem sogenannten Haus 4, nahmen westliche Beobachter seinerzeit an, die Haftanstalt unterstehe unmittelbar der Staatssicherheit. Vgl. Schreiben der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen betr. Vollzugsanstalt Brandenburg-Goerden vom 31.8.1950; BArch B 137/1810. Dass Haus 4 Teil des Staatssicherheitsapparates war, ist aber wenig wahrscheinlich. Andernfalls wären nicht die Gefängnisleiter Heinz Marquardt und Robert Schroetter für die Genehmigung von Post für den inhaftierten ehemaligen Justizstaatssekretär Helmut Brandt in Haus 4 zuständig gewesen. Vgl. BStU, MfS, AU, Nr. 335/59, Bd. Gefangenenakte. Auch hätte die Staatssicherheit keinen Dienstauftrag erteilen müssen, damit ihre Vernehmer die Sprechstunden der Häftlinge Max Fechner und Bruno Goldhammer in Haus 4 beaufsichtigen konnten. Vgl. Dienstauftrag des Staatssekretariats für Staatssicherheit vom 18.11.1955; abgedruckt bei: Otto, Wilfriede: Erich Mielke - Biographie. Aufstieg und Fall eines Tschekisten. Berlin 2000, S. 573. Indes wurden Aufseher aus anderen Häusern der Haftanstalt in das Haus 4 mit dem Versprechen versetzt, ihnen dort eine höhere Planstelle zu vermitteln. Vgl. Treffbericht [mit dem GI »Meier«] vom 24.6.1954; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 321/62, Bd. 2, Bl. 19. Dies spricht zwar für die besondere Bedeutung des Hauses 4, jedoch gegen ein anderes Unterstellungsverhältnis. Zumindest erfolgten Einweisungen in Haus 4 durch das Ministerium für Staatssicherheit in Berlin, weswegen der vor Ort zuständige Mitarbeiter Karl Veit auch nicht Verlegungen von Häftlingen von Haus 4 in andere Stationen veranlassen konnte. Vgl. Bericht der Abteilung V/5 betr. geführte Absprache mit dem Gen[ossen] Leutnant Veit vom 23.6.1956; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 307/58, Bd. 1, Bl. 59. 78  Am 15.11.1951 hatte das Sekretariat des ZK beschlossen, eine Planungskommission für die Gedenkstätten des nationalsozialistischen Terrors, darunter auch für das Zuchthaus Brandenburg, ins Leben zu rufen. Vorsitzender der Kommission sollte Fritz Beyling sein. Das Sekretariat folgte damit, so hieß es, einer Initiative der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes. Vgl. Protokoll Nr. 119 der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 15.11.1951 zu Top 8 Mahnstätten des faschistischen Terrors; BArch DY 30 J IV 2/3–248. Die Arbeit der Gedenkstätte in der Haftanstalt Brandenburg galt als politisch so bedeutsam, dass sie der Aufsicht durch die Abteilung Sicherheitsfragen unterlag. Vgl. Schreiben der Abteilung für Sicherheitsfragen an den Stellvertreter des Ministers Grünstein vom 20.8.1973; BArch DY 30/IV B 2/12/70, Bl. 3.

Konzeption und Überblick

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Abb. 1: Der »gläserne Sarg« Brandenburg-Görden: Zellengang unter dem gläsernen Dach, 1989/90

1945 zahlreiche kommunistische Häftlinge den Tod gefunden.79 Neben Robert Havemann und Otto Buchwitz hatte auch Erich Honecker dort eingesessen, weswegen der Befreiung der Gefangenen im April 1945, hauptsächlich durch sowjetische Truppen, fortan feierlich gedacht worden war.80 Besonders an den 79  Vgl. u. a. Ehrenbuch für die im Zuchthaus Brandenburg-Görden ermordeten Antifaschisten. Bearbeitet von Rudolf Zimmermann, Bd. 1–7. Berlin 1986. 80  So etwa die vom Politbüro beschlossene Großkundgebung auf dem Marienberg und Kranzniederlegung am 26. April 1980 mit Erich Honecker als Redner. Weitere Teilnehmer waren Joachim Herrmann, Günter Mittag, Alfred Neumann und Egon Krenz. Vgl. Protokoll Nr. 13/80 Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 1.4.1980; BArch DY 30 J IV 2/2–1831. Bei der Kranzniederlegung und dem Besuch Honeckers waren 4 523 Volkspolizisten und 868 hauptamtliche MfS-Mitarbeiter im Einsatz. Durch »Sondertreffprämien« wurde außerdem eine nicht genannte Zahl von inoffiziellen Mitarbeitern zur Teilnahme und zur verdeckten Absicherung der Veranstaltung

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»runden« Jahrestagen wurde ein Großaufmarsch der Massenorganisationen in der Stadt Brandenburg und vor den Toren der etwas außerhalb gelegenen Haftanstalt inszeniert. Von solchen Feierlichkeiten ausgeschlossen waren allerdings die Gefangenen des SED-Regimes: Während des Festaktes wurden alle Zellen mit Blick auf die Versammlung geräumt81 und die Häftlinge teilweise in Kellerräume gesperrt oder in Arrest gebracht82 – ganz so, als gäbe es im »Arbeiter- und Bauernstaat« keine kriminellen oder gar politischen Gefangenen. Die Insassen hätten nämlich durch Spruchbänder oder lautes Rufen darauf aufmerksam machen können, dass Honecker in »seinem« ehemaligen Zuchthaus nunmehr seinerseits politische Gefangene einsperren ließ.

1.3 Quellen und Literatur 1.3.1 Aktenüberlieferung Weil sowohl die Deutsche Volkspolizei als auch die Staatssicherheit im Hinblick auf die Haftanstalt Brandenburg-Görden spezifische Zuständigkeiten besaßen, sind die archivarischen Überlieferungen heute auf mehrere Standorte verteilt. Im Bundesarchiv lagern die Sachakten des vorgesetzten Ministeriums des Innern bzw. der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei (HVDVP) sowie teilweise personenbezogene Unterlagen aus der Haftanstalt selbst.83 Dokumente über Brandenburg-Görden befinden sich auch im Brandenburgischen Landeshauptarchiv, wo die Akten der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Potsdam verwahrt werden, seinerzeit das bürokratische Bindeglied zwischen der Haftanstalt und der obersten Gefängnisverwaltung im Ministerium des Innern. Im Zentralarchiv der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, in das 2009 die Bestände der Außenstelle Potsdam integriert wurden, lagern motiviert. Vgl. Einsatzplan des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam vom 1.4.1980; BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. 911, Bl. 49–62; KD [Kreisdienststelle] Brandenburg: Aktion »Fundament II« vom 24.4.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. 911, Bl. 88. 81  Vgl. Maßnahmeplan des Leiters der StVA Brandenburg zur Gewährleistung der Gedenkfeiern anlässlich des 20. Jahrestages der Befreiung des ehemaligen Zuchthauses Brandenburg vom 23.4.1965; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704, Bl. 7–9. 82  Vgl. Mündlicher Bericht des FIM »Hubert« zum 27.4.1985 vom 24.4.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 46, Teil II, Bd. 2, Bl. 104; Lagebericht des FIM »Hubert« zum 27.4.1985; ebenda, Bl. 101. 83  Siehe auch Rathje, Ulf: Die Strafgefangenen- und Verhaftetendateien der Verwaltung Straf­ vollzug des Ministeriums des Innern der DDR. In: Historical Social Research (1997) 1, S. 132–140; Walther, Simone: Besonderheiten der Archivierung und Nutzung ministerialer Überlieferung der Bereiche Inneres und Justiz in der DDR – Rückblick und Ausblick. In: Unverhau, Dagmar (Hg.): Hatte »Janus« eine Chance? Das Ende der DDR und die Sicherung einer Zukunft in der Vergangenheit. Münster 2003, S. 51–68.

Quellen und Literatur

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wiederum die meisten Unterlagen, die von Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) über Brandenburg-Görden verfasst wurden. Das Herrschaftswissen, das die Staatssicherheit dabei anhäufte, ermöglicht heute eine genaue und zuverlässige Rekonstruktion der Geschichte dieses Haftortes. So haben zahlreiche Aufseher und Insassen, die als Spitzel geführt wurden, über Jahre hinweg Interna bei der Staatssicherheit zu Protokoll gegeben. Dies schließt geheime Anweisungen der Gefängnisleitung zur Behandlung renitenter Häftlinge84 ebenso ein wie Stimmungsberichte über die Insassen, deren Meinungen zeitnah und mitunter gar im Wortlaut aufgezeichnet wurden.85 Da der für die Arrestzellen zuständige Kalfaktor häufig als Spitzel fungierte, hat dieser beispielsweise auch die täglichen Zu- und Abgänge auf der Arreststation namentlich notiert,86 woraus sich die Zahl der Arrestanten errechnen lässt. Zudem nahm die Gefängnisleitung besondere Vorkommnisse (wie etwa Suizidversuche von Gefangenen), entgegen den dienstlichen Bestimmungen, vielfach nicht in die offiziellen Rapporte an die vorgesetzten Stellen auf, da solche Vorfälle ein schlechtes Licht auf die Haftanstalt geworfen hätten und ein gewisser Rechtfertigungsdruck erwachsen wäre. In den inoffiziellen Berichten der MfS-Spitzel hingegen sind auch diese Vorfälle dokumentiert.87 Die offiziellen Berichte der Gefängnisleitung sind in der Regel förmlicher gehalten und daher weniger aussagekräftig. Wie die Sachakten über die sowjetischen Speziallager in russischen Archiven88 geben auch diese Akten nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wieder. Es dominiert ein bürokratischer und schönfärberischer Berichtsstil, der sich einerseits auf Äußerlichkeiten konzentrierte, statt die internen Vorgänge der Haftanstalt abzubilden, andererseits periphere Ereignisse (wie den Dienstbuchverlust eines Aufsehers) herausstellte. Gelegentlich wurden aber auch halboffizielle, weniger geschminkte Berichte in Brandenburg-Görden erstellt, die der Gefängnisleiter mit dem Vermerk »persönlich« an seine Vorgesetzten sandte. Solche Dokumente sind heute offenbar nicht im Brandenburgischen Landeshauptarchiv oder im Bundesarchiv überliefert, doch weil der seinerzeitige Gefängnisleiter zugleich als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit fungierte,

84  Siehe Kapitel 4.2.7. 85  Vgl. u. a. [Bericht des GI »Karl Heinz«] betr. Meinungen der Strafgef[angenen] nach ihrer Entlassung aus der Strafanstalt vom 5.6.1956; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 307/58, Bd. 1, Bl. 8 f. 86  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 23/89. 87  Vgl. u. a. Information des [E-FIM] »Schiffer« vom 28.2.1976; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 141/77, Bl. 367. 88  Vgl. Plato, Alexander von: Zur Geschichte des sowjetischen Speziallagersystems in Deutschland. In: Mironenko, Sergej; Niethammer, Lutz; Plato, Alexander von (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1: Studien und Berichte. Berlin 1998, S. 19–75, hier 47.

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wurde eine Kopie des Berichts in dessen geheimpolizeilicher Akte abgelegt.89 So sind auch inoffizielle Niederschriften mancher Dienstkonferenz der Verwaltung Strafvollzug in den Achtzigerjahren überliefert, während die offiziellen Berichte hierüber offenbar zahlreich der Kassation zum Opfer fielen.90 Diese zusätzliche Überlieferung in Form von Spitzelberichten enthält keineswegs nur »schmutzige Wäsche«, sondern aus heutiger Sicht auch viele »entlastende« Momente. Dass beispielsweise einer der Gefängnisleiter von Brandenburg-Görden hinter vorgehaltener Hand an der ungerechten und oberflächlichen Amnestiepraxis im SED-Staat selbst verzweifelte, ist seinen Schreiben an Vorgesetzte nicht zu entnehmen. Auch in seiner eigenen Berichterstattung gegenüber der Staatssicherheit wollte der inoffizielle Mitarbeiter sich offenbar keine »Blöße« geben. Allein die Berichte anderer MfS-Spitzel über den Gefängnisleiter, denen er sich seinerzeit vertrauensvoll offenbarte, dokumentieren heute seine Skrupel.91 Die zahlreichen Misshandlungen, von denen Häftlinge schon immer berichteten, sind ebenfalls teilweise in den Akten der Geheimpolizei schwarz auf weiß dokumentiert (siehe Kap. 3.3.8). Allein der Mielke-Apparat notierte wohl weitere Unregelmäßigkeiten wie den Abrechnungsbetrug an der Arbeitsleistung der Gefangenen (siehe Kap. 3.5.4) und den Einsatz von Placebos im Haftkrankenhaus (siehe Kap. 3.3.6) – Missstände, von denen die Insassen nie etwas erfuhren und über die sie deswegen auch heute, als Zeitzeugen, nicht berichten können. Was hinter den Kulissen bzw. den Gefängnismauern tatsächlich geschah, ist daher vielfach nur den Unterlagen der Staatssicherheit zu entnehmen – gerade im Kontrast zu den schönfärberischen Aussagen der ehemaligen Mitarbeiter, insbesondere über die Untersuchungshaft des eigenen Apparates.92 In Rechnung zu stellen ist jedoch auch das Interesse der Geheimpolizei, über Missstände hinwegzusehen und ungesetzliche Ermittlungspraktiken nötigenfalls gar durch Aktenfälschung zu vertuschen.93 Bei den (nachfolgend selten zitierten) Vernehmungsprotokollen ist zudem der enorme 89  Vgl. Persönlicher Informationsbericht des Leiters der StVE Brandenburg an dem Chef der BDVP Potsdam Generalleutnant Griebsch vom 20.7.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 331–336. 90  Information der Abteilung VII/OPG [Operativgruppe] über die Dienstkonferenz beim Leiter der VSV in der Schwarzen Pumpe vom 19.12.1986; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 131/89, Bl. 92 f. 91  Vgl. Information der Operativgruppe der Abteilung VII über Stimmungen des Leiters der StVE zur Amnestie vom 17.11.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 389. 92  Vgl. u. a. Rataizik, Siegfried: Der Untersuchungshaftvollzug im MfS (Abt. XIV im MfS und in den BV). In: Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. Hg. von Grimmer, Reinhard, 2 Bde. Berlin 2002, S. 495–519; Engelhardt, Guntram: Rechtsbeugung? Das Untersuchungsorgan des MfS im Kampf gegen Spione. In: Kierstein, Herbert (Hg.): Heiße Schlachten im Kalten Krieg. Unbekannte Fälle und Fakten. Berlin 2007, S. 151–167; Pfütze, Peter: Besuchszeit. Westdiplomaten in besonderer Mission. Berlin 2006. 93 Vgl. Muhle, Susanne: Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 42). Göttingen 2015, S. 208.

Quellen und Literatur

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Druck zu bedenken, dem die Untersuchungshäftlinge ausgesetzt waren, sowie die normierte Sprache zu beachten, derer sich die Vernehmer bei der Verschriftlichung der Aussagen bedienten.94 Beide Aktenbestände, die der Volkspolizei und der Staatssicherheit, sind indes teilweise durch routinemäßige Kassation dezimiert worden. Hinzu kommt die Aktenvernichtung vor Ort in der Wendezeit; so vernichtete die Gefängnisleitung von Brandenburg-Görden nach der friedlichen Revolution schätzungsweise 90 Prozent der vorhandenen Unterlagen.95 Im Vergleich zu anderen Haftanstalten ist die Überlieferungsdichte in Brandenburg-Görden aber immer noch akzeptabel, denn die komplette mehrbändige »Leitakte« der Staatssicherheit blieb erhalten, in der das Mielke-Ministerium die wichtigsten Angaben zu der Haftanstalt und den politischen Gefangenen sammelte.96 Außerdem war die Fluktuation der Häftlinge in Brandenburg-Görden vergleichsweise gering (weil hier meist sehr hohe Haftstrafen vollzogen wurden), sodass die Staatssicherheit relativ stabile IMNetze aufbauen konnte, was sich in einer hohen Berichtsdichte niederschlug. Eine Besonderheit stellen schließlich die Akten der Arbeitsrichtungen I/4 und II der Kriminalpolizei dar. Obwohl dem Minister des Innern unterstellt, mussten diese geheimpolizeilich agierenden Strukturteile der Kriminalpolizei ihre Akten, etwa zu Inoffiziellen Kriminalpolizeilichen Mitarbeitern (IKM), bei der Staatssicherheit ablegen, sodass sie heute von der Behörde des Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen verwahrt werden.97 Indes konzentrierte sich die Arbeitsrichtung I/4 der Kriminalpolizei auf die kriminellen Häftlinge, sodass ihre Akten zum Verständnis des politischen Strafvollzugs weniger beitragen. Von den geheimpolizeilichen Spitzelberichten zu unterscheiden sind die eigentlichen Häftlingsakten. Sie können Führungsberichte, medizinische Unterlagen oder auch ein Verzeichnis der gesendeten und empfangenen Post sowie der einbehaltenen Briefe beinhalten. Im Archiv des Bundesbeauftragten finden sich beispielsweise auf etwa 80 Rollfilmen die Gefangenenakten der in den Waldheimer Prozessen Verurteilten; die letzten unter ihnen verbüßten ihre Strafe 94  Vgl. Martin, Elisabeth: »Ich habe mich nur an das geltende Recht gehalten«. Herkunft, Arbeitsweise und Mentalität der Wärter und Vernehmer der Stasi-Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen (Andrássy Studien zur Europaforschung, 14). Baden-Baden 2014, S. 262. 95  So die Aussage des seinerzeit als Häftlingsseelsorger vor Ort tätigen Pfarrers Johannes Drews. Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem Gefangenenseelsorger Johannes Drews am 7.2.2003 in Premnitz, 2 S. 96  Vgl. Rahmensicherungskonzeption zur Gestaltung der politisch-operativen Abwehrarbeit in den Strafvollzugseinrichtungen und Jugendhäusern o. D. [8/1989]; BStU, MfS, HA VII, AKG, Nr. 1/6.1, 1988/1989, Bd. 8, Bl. 4–31. 97  Der Beitrag des Arbeitsgebietes I der DDR-Kriminalpolizei zur politischen Überwachung und Repression. Hg. von den Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Berlin und Sachsen. Dresden 1996, S. 35; Studie zur Tätigkeit des Arbeitsgebietes I der Kriminalpolizei und zum Zusammenwirken mit dem Ministerium für Staatssicherheit (Schriftenreihe des Bürgerkomitees des Landes Thüringen, Bd. 3). Suhl 1994, S. 55.

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in Brandenburg-Görden.98 Ebenfalls liegen Karteikarten zu etwa 38 000 Personen vor, die zwischen 1945 und 1955 von Sowjetischen Militärtribunalen verurteilt worden waren.99 Zu mehreren Hundert dieser Personen, die nach dem Urteils­ spruch ihre Strafe teilweise in der Haftanstalt an der Havel verbüßten, existieren ebenfalls verfilmte Häftlingsakten.100 Zwar lassen sich daraus die Hintergründe der Verurteilung kaum ersehen, doch bleiben diese Akten eine wichtige Quelle, um Einzelschicksale zu dokumentieren. Dass der Staatssicherheitsdienst diese Akten verwahrte, geht auf eine Über­ einkunft von Strafvollzugsverwaltung und Geheimpolizei aus dem Jahre 1982 zurück. Demnach sollten die Akten jener Häftlinge, die durch Sowjetische Militärtribunale und in Waldheim verurteilt worden waren, nach einer Verfilmung dem Staatssicherheitsdienst übergeben werden; dennoch verblieben viele Original­ akten bei der Verwaltung Strafvollzug und lagern deswegen heute im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde.101 Gefangenenakten von Personen, gegen die der Staats­ sicherheitsdienst in den späteren Jahren ermittelt hatte oder die freigekauft worden waren, sollte der Mielke-Apparat ebenfalls vollständig übernehmen.102 Dies geschah dann aber nur in etwa jedem zweiten Fall, sodass im Jahr 1989 noch etwa 16 400 Akten freigekaufter Häftlinge in der Haftanstalt Berlin-Rummelsburg lagerten, bevor sie an die Berliner Senatsverwaltung für Justiz103 und schließlich 2002 ebenfalls in das Bundesarchiv überführt wurden. Bei den übrigen Häftlingen, so die 1982 getroffene Vereinbarung, wurde die Aufbewahrungsfrist 98  Die Angaben umfassen einige wenige, meist stereotype Angaben zum Delikt, die per Fragebogen erfasste Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen, Abschriften aus den »Ermittlungsberichten« des zuständigen Untersuchungsorgans, Auszüge aus den Vernehmungen (Schuldbekenntnisse wie auch Zurückweisungen der Beschuldigungen), die Anklageschrift, teilweise auch Beweismittel, Sitzungsprotokolle, Urteil und ggf. Totenschein. Vgl. u. a. BStU, MfS, Abt. XII, RF 72. 99  Vgl. Hecht, Jochen: Unterlagen zu Verurteilten der Sowjetischen Militärtribunale (SMT) in den Archiven der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. http://www.bstu.bund.de/DE/Archive/Fachbeitraege/smt.html (letzter Zugriff: 15.8.2018). 100  Neben einem handschriftlichen Lebenslauf sind hier ein stichwortartiger Urteilsauszug, Besuchserlaubnisscheine, Hausstrafenverfügungen, Übersicht über empfangene Briefe, Arbeitsfähigkeitsbefund, ggf. Entlassungsschein, Führungsberichte sowie teilweise selbst die Häftlingspost (alles in verfilmter Form) dokumentiert. Vgl. u. a. BStU, MfS, Abt. XII, RF, Nr. 348. 101  Vgl. Senatsverwaltung für Justiz Berlin: Verzeichnis von Gefangenenkarteien und Gefangenenakten der früheren DDR (Stand Juli 1993) (im Besitz des Autors); Schröder, Wilhelm Heinz; Wilke, Jürgen: Politische Gefangene in der DDR – Quellen und Datenbestände. In: Materialien zur Erforschung der DDR-Gesellschaft. Quellen. Daten. Instrumente. Hg. von der Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen e.V. (GESIS). Opladen 1998, S. 183–200, hier 189. 102  Vgl. [Vermerk der] Abt. Vollzugsgestaltung der Verwaltung Strafvollzug vom 22.7.1982; BArch DO1 3753, Bl. 1–3. 103  Vgl. Senatsverwaltung für Justiz Berlin: Verzeichnis von Gefangenenkarteien und Gefangenenakten der früheren DDR (Stand Juli 1993) (im Besitz des Autors).

Quellen und Literatur

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der Gefangenenakten auf zehn Jahre begrenzt; lediglich Aufnahmebogen, Entlassungsschein, Arbeitskarteikarte und Gesundheitsunterlagen sollten weitere 30 Jahre erhalten bleiben.104 Diese Akten von Gefangenen, gegen die nicht der Staatssicherheitsdienst ermittelt hatte, werden wiederum (teilweise auch aus Cottbus und Luckau) in Brandenburg-Görden verwahrt.105 Die heutige Überlieferungslage entspricht im Wesentlichen dieser Regelung und bedeutet, dass die eigentlichen Gefangenenakten noch zu DDR-Zeiten vielfach vernichtet worden oder aber aufgrund ihres personenbezogenen Charakters der Forschung nicht zugänglich sind. Auch zu den meisten kriminellen Insassen BrandenburgGördens ist heute folglich nur noch ein Teil der Gefangenenakten aus DDRZeiten vorhanden. Die Unterlagen gerade der politischen Häftlinge (bzw. solcher, gegen die der Staatssicherheitsdienst ermittelt hatte) sind indes seinerzeit dem Staatssicherheitsdienst übergeben worden und werden deswegen heute im Archiv des Bundesbeauftragten verwahrt. Dies betrifft, für alle DDR-Haftanstalten zusammengenommen, etwa 700 000 Gefangenenakten.106 1.3.2 Zeitzeugenberichte und Interviews Zum Wahrheitsgehalt dieser Gefangenenakten ist anzumerken, dass hier die Sichtweise der Strafvollzugsverwaltung dominiert. Erst die Kombination mit Häftlingsberichten ermöglicht es, die Haftwirklichkeit näher zu beschreiben.107 Selbstverständlich unterliegen dabei auch die Schilderungen der ehemaligen Inhaftierten den üblichen Regeln der Quellenkritik: Zeitumstände, etwaige Erinnerungslücken und verzerrte Wahrnehmungen sind in Rechnung zu stellen sowie mögliche Motive der Verfasser solcher Berichte zu berücksichtigen. Stets ist der Vergleich mehrerer, »auf ihre Widerspruchsfreiheit, Plausibilität und ihren Motivations- und Äußerungszusammenhang geprüfter Erinnerungsaussagen«

104  Vgl. [Vermerk der] Abt. Vollzugsgestaltung der Verwaltung Strafvollzug vom 22.7.1982; BArch DO1 3753, Bl. 1–3. 105  Vgl. Bundesarchiv: Übersicht über den Verbleib der Gefangenenakten von Verhafteten und Gefangenen der DDR; http://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Downloads/Benutzen/ benutzen_gefangenenakten_ddr.pdf?__blob=publicationFile (Stand 13.6.2018) (letzter Zugriff: 14.8.2018). 106  Vgl. Senatsverwaltung für Justiz Berlin: Verzeichnis von Gefangenenkarteien und Gefangenenakten der früheren DDR (Stand Juli 1993) (im Besitz des Autors); Schröder; Wilke: Politische Gefangene in der DDR – Quellen und Datenbestände, S. 183–200, hier 189; Sélitrenny, Rita: Die schriftlichen Hinterlassenschaften aus dem DDR-Untersuchungshaft- und Strafvollzug. In: Deutschland Archiv 34 (2001) 5, S. 801–805. 107  Vgl. Eberhardt, Andreas: Leben in Gefangenschaft. Hafterfahrungen in schriftlichen und mündlichen Erzählungen. In: Baumann, Ulrich; Kury, Helmut (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung: Opfer von SED-Unrecht. Berlin 1998, S. 171–181.

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notwendig.108 Denn Menschen tendieren dazu, ihre Lebensgeschichte in der Rückschau stringent und sinnstiftend darzustellen.109 Zeitzeugen erinnern sich zudem eher an statische Bilder als an zeitliche Abläufe, und die Reihenfolge der Ereignisse verschwimmt häufig.110 Besser rekapituliert als Fakten und Zahlen werden oft allgemeine Eindrücke und Empfindungen, etwa bei der Verhaftung. Denn »über das Datum eines Ereignisses kann der Lebensbeschreiber« sich täuschen, doch »über die wichtigsten Eindrücke seines Lebens, über die Vorstellungen und Stimmungen […] kann er sich nicht irren«.111 Allerdings handelt es sich bei Verhaftung und Gefangenschaft um Extremsituationen,112 geprägt durch Isolation und Hilflosigkeit. Die von den Vernehmern beabsichtigte Verunsicherung der Festgenommenen in den Verhören sowie die Angst vor der drohenden Strafe konnten die Wahr­nehmungsfähigkeit beeinflussen. Perfide Vernehmungsstrategien und das Erzwingen von Aussagen konnten später Schamgefühle hervorrufen, welche die Erinnerung beeinträchtigen und Prozesse einer sogenannten Realitätsdiffusion verursachen.113 Denn die Besonderheit der Haftsituation stellte die Insassen häufig vor die Wahl, nach gängigen Maßstäben moralisch korrekt zu handeln (und beispielsweise Spitzelaufträge abzulehnen) oder sich so zu verhalten, dass sie die Gefangenschaft möglichst unbeschadet überstehen konnten.114 So neigen ehemalige Inhaftierte mitunter dazu, ambivalentes Handeln bzw. eigene Schuld zu leugnen, da sie von der heutigen Rezeption ihrer Biografie durch Dritte mo­ralisch abhängig sind und jegliches Eingeständnis von Verfehlungen ihren Opferstatus gefährden würde.115 Manche ehemaligen politischen Häft­lin­ge gehen auch offensiv mit den erlittenen Kränkungen 108  Niethammer, Lutz: Fragen – Antworten – Fragen. In: Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960. Hg. von Niethammer, Lutz, Bd. 3: Wir kriegen jetzt andere Zeiten. Auf der Suche nach den Erfahrungen des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Berlin 1985, S. 392–445, hier 399 f. 109  Vgl. Sabrow, Martin: Autobiographie und Systembruch im 20. Jahrhundert. In: ders. (Hg.): Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Leipzig 2012, S. 9–24, hier 9 f. 110  Vgl. Fried, Johannes: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004, S. 381. 111  Mahrholz, Werner: Der Wert der Selbstbiographie als geschichtliche Quelle. In: Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 72 f., hier 72. 112  So für die Bundesrepublik Niemz, Susanne: Auszeit für eingesperrte Ersttäterinnen. Biographische Selbstpräsentationen inhaftierter Frauen. In: BIOS – Zeitschrift für Bio­gra­phie­ for­schung und Oral History (2010) 1, S. 63–89, hier 86. 113  Vgl. Morawe, Petra: Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit. Realitätsdiffusion infolge psychischer Folter. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History (1999) 2, S. 191–208. 114  Vgl. für die Gefangenschaft in Konzentrationslagern unter der permanenten Todesdrohung Pollak, Michael: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugenberichte und Identitätsarbeit. Frankfurt/M. 1988, S. 88. 115  Vgl. analog für die Speziallager Greiner: Verdrängter Terror, S. 42; ders.: Was für Speziallager?, S. 93–112.

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um und bezeichnen ihre Erfahrungsberichte als »eine einzige Anklage«,116 weswegen der Motivations­zu­sammenhang solcher Aussagen berücksichtigt werden muss. Jede Rekonstruktion bedeutet eine Fortschreibung und Veränderung der Erinnerung, abhängig von ihren Rahmenbedingungen.117 Insbesondere können die politischen Zeitumstände (und die historischen Brüche in der Zwischenzeit) auf die Interpretation der eigenen Vergangenheit durchschlagen. So waren ehemalige Häftlinge aus dem sowjetischen Machtbereich in den Fünfzigerjahren angesichts des antikommunistischen Grundkonsenses in der Bundesrepublik noch »wohlgelittene Zeugen gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg«.118 Im Zuge der Entspannungspolitik wurde ihnen jedoch immer weniger Aufmerksamkeit gezollt und ihnen schließlich sogar Unverständnis entgegengebracht, da sie als »Störenfriede« bei der innerdeutschen Annäherung galten. Immer häufiger gerieten sie jetzt in die Situation, erklären zu müssen, dass sie unschuldig bzw. nicht wegen nationalsozialistischer Verbrechen inhaftiert gewesen waren, was sich auf die Interpretation der eigenen Vergangenheit auswirken konnte. Zudem tauschten die ehemaligen Insassen sich in den Häftlingsverbänden gegenseitig über ihre Hafterfahrungen aus. Dieser Kommunikationsprozess erzeugt Solidarität und hilft, gemeinsame Interessen zu artikulieren. Doch Erfahrungen und Erinnerungen, die individuell recht unterschiedlich sein können, gleichen sich auf diese Weise mitunter einander an;119 individuelles und öffentliches Gedächtnis können so in eine komplexe Wechselwirkung treten.120 In der DDR wiederum war es ehemaligen Häftlingen untersagt, über ihre Hafterfahrungen zu sprechen, sodass eine Aufarbeitung allenfalls im engen Familienkreis möglich war. Das Jahr 1989 bedeutete dann für sie eine enorme Befreiung und Entlastung, was sich auch auf die Interpretation ihrer Vergangenheit auswirken konnte; ihre kollektiven Erinnerungsstrategien erwiesen sich insofern als kurzlebig und inhomogen.121 116  Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 117  Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002, S. 174, 205 u. 221. 118  Jarausch, Konrad H.: Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskompetenz oder Inkompetenz? In: ders.; Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt/M. 2002, S. 9–37, hier 14. So bezeichnete etwa die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit einige Aufseher der Haftanstalt Brandenburg-Görden in ihren Kurzpersonagrammen als »dumme Kommunisten« oder auch »ganz dumme Kommunisten«, womit wohl der Grad ihrer weltanschaulichen Überzeugung oder auch ihr geringes Bildungsniveau gemeint waren. Schreiben der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen betr. Vollzugsanstalt Brandenburg-Goerden vom 31.8.1950; BArch B 137/1810. 119  Vgl. Jarausch: Zeitgeschichte und Erinnerung, S. 9–37, hier 14. 120  Vgl. Abrams, Lynn: Oral history theory. London 2010, S. 99. 121  Vgl. Plato, Alexander von: Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History (2000) 1, S. 5–29, hier 10.

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Auch im wiedervereinigten Deutschland trafen die ehemaligen politischen Gefangenen jedoch auf eine »eigentümliche Scheu und Zurückhaltung bei der Thematisierung der stalinistischen Verbrechen«.122 Einer strengen Überprüfung ihrer inneren Widerspruchsfreiheit sowie Kompatibilität mit anderen Quellen müssen auch die Zeitzeugenberichte ehemaliger Aufseher genügen. Zu Brandenburg-Görden liegt ein ausführlicher Bericht eines geflüchteten Aufsehers aus den Fünfzigerjahren vor,123 der allerdings möglicherweise geneigt war, die Härte der Haftbedingungen zu leugnen, um sich selbst reinzuwaschen, und vermutlich bei seiner Befragung im Westen auch solche Feststellungen traf, von denen er annahm, dass seine Interviewpartner sie hören wollten. Auch nach 1989 äußerten sich manche Aufseher, standen dabei indes unter Rechtfertigungsdruck und reproduzierten teilweise nur die Sichtweise des Systems, die aus den Aktenbeständen der Gefängnisverwaltung bereits sattsam bekannt ist124 – aus diesen Gründen wurde auf eigene Interviews mit ehemaligen Aufsehern verzichtet. Einzige Ausnahme war ein Gespräch mit dem letzten Gefängnisleiter Udo Jahn, der 2016 an den Autor herangetreten war. Insgesamt lagen bereits 1998 mehr als 200 autobiographische Veröffentlichungen ehemaliger Insassen aus DDR-Haftanstalten vor, von denen etwa zwei Drittel vor 1989 erschienen waren.125 Seitdem sind unzählige weitere Titel erschienen, die vollständig zu bibliographieren hier gar nicht erst versucht wurde.126 Gerade bei zeitnahen Berichten, insbesondere wenn sie (zunächst) unveröffentlicht blieben, kann jedoch im Regelfall eine relativ hohe Authentizität angenommen werden. Solche Zeitzeugenberichte vermitteln ein anschauliches Bild der tatsächlichen Haftpraxis – sie »verzerren« das Bild allerdings auch, denn es liegen fast aus­ schließlich Lebenserinnerungen politischer Häftlinge deutscher Nationalität vor, während Berichte krimineller Insassen oder ausländischer Häftlinge so gut wie nicht existieren. Zudem werden oft besondere Vorkommnisse (wie etwa 122  König, Helmut: Politik und Gedächtnis. Weilerswist 2008, S. 542. 123  Vgl. [Bericht des in den Westen geflüchteten ehemaligen Aufsehers Horst Bock] betr. Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden (Eigen-Fortsetzungsbericht) vom 3.8.1954, 116 S.; BArch B 289/SA 171/22–01/14. 124  Vgl. Lenz, Reinhold: Der Lenz ist da. Der Lebensweg eines Justizvollzugsbeamten 1943 bis 2003. Berlin 2003; Heyme, Torsten; Schumann, Felix: »Ich kam mir vor wie’n Tier«. Knast in der DDR. Berlin 1991, S. 222–245; Schmidt: Zur Frage der Zwangsarbeit, S. 444-453. Siehe auch Furian, Gilbert: Mehl aus Mielkes Mühlen. Schicksale politisch Verurteilter. Berichte, Briefe, Dokumente. Berlin 1991, S. 176–305. 125  Vgl. Eberhardt: Leben in Gefangenschaft, S. 171–181; Jenker, Siegfried: Erinnerungen politischer Häftlinge an den GULAG. Eine kommentierte Bibliographie (Hannah-Arendt-Institut. Berichte und Studien, 41). Dresden 2003. 126  Vgl. u. a. Sylvester, Heiner (Hg.): Wir wollten nur anders leben. Erinnerungen politischer Gefangener im Zuchthaus Cottbus. Cottbus 2013; Gelebte Geschichte. Hg. von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Bd. 2: Weggesperrt. Zwei Erlebnisberichte politischer Gefangener in SBZ und DDR. Berlin 2007.

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Ausbrüche) hervorgehoben, wohingegen der Haftalltag manchen ehemaligen Häftlingen nicht der Erwähnung wert zu sein scheint. Eine wertvolle und seltene Quellengattung sind schließlich Kassiber, da sie zeitnah entstanden und sich gerade nicht an die Öffentlichkeit richteten – und von der Staatssicherheit abgefangen und archiviert wurden.127 Aus der Fülle der Memoirenliteratur konnten für diese Untersuchung nur jene Titel berücksichtigt werden, die Brandenburg-Görden oder einen wichtigen Vergleichsaspekt betreffen. Indes wurden zusätzlich Interviews mit ehemaligen politischen Häftlingen dieser Haftanstalt geführt.128 Die Kontaktaufnahme erfolgte teilweise unter freundlicher Mithilfe des Zeitzeugenbüros der Gedenkstätte Hohenschönhausen, bei dem sich auch ehemalige Insassen der Haftanstalt an der Havel freiwillig als mögliche Ansprechpartner gemeldet hatten. Ihre Aussagen erwiesen sich als unverzichtbar, um die konkreten Haftbedingungen zu rekonstruieren. Andere ehemalige Häftlinge hatten einen Antrag auf persönliche Akteneinsicht bei der Stasi-Unterlagen-Behörde gestellt und wurden, zumeist geraume Zeit nach der Einsichtnahme in ihre Unterlagen, um ein Interview gebeten, da ihr Fall von besonderer Bedeutung war und ergänzender Angaben bedurfte. Bei anderen Gesprächspartnern handelte es sich um ehemalige Mitinsassen bereits befragter Zeitzeugen, die freundlicherweise einen Kontakt vermittelten. Aus persönlichen Gründen sahen manche Interviewpartner davon ab, einen Antrag auf persönliche Akteneinsicht in ihre »Stasi-Akte« zu stellen, gestatteten aber großzügig die Auswertung ihrer Unterlagen durch den Autor. Überhaupt fanden sich freundlicherweise fast alle angesprochenen ehemaligen politischen Häftlinge zu einem Interview bereit, obwohl die Rückschau auf ihre Haftzeit sie seelisch enorm belasten musste.129 Gerade weil sie einen ganz persönlichen Blick in ihre Empfindungen und ihre Erfahrungen gewährten, sei allen im Anhang namentlich genannten Gesprächspartnern an dieser Stelle sehr herzlich gedankt.

127  Vgl. u. a. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 240, Bd. 1. Siehe auch Kassiber aus Bautzen. Heimliche Briefe von Gefangenen aus dem sowjetischen Speziallager 1945–1950. Bearbeitet von Liebold, Cornelia; Morré, Jörg; Sälter, Gerhard. Dresden 2004. 128  Vgl. die genaue Aufstellung im Anhang. 129  Die überwiegende Zahl der Gesprächspartner saß in den 50er- und 60er-Jahren in der Haftanstalt an der Havel, denn später gerieten die politischen Häftlinge dort in die Minderheit.

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1.3.3 Literatur Durch Aussagen ehemaliger Insassen wie auch in den Westen geflüchteter Aufseher waren viele Grundtatsachen des DDR-Strafvollzugs bereits vor 1989 bekannt.130 Einzelne Angaben erwiesen sich zwar als haltlos, als sie nach der friedlichen Revolution überprüft werden konnten,131 doch insgesamt war der Kenntnisstand in der Bundesrepublik akkurat. Dies gilt sogar im Hinblick auf die Häftlingszahlen, wobei der Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen (UfJ), die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) und das Deutsche Rote Kreuz (DRK) freilich mitunter zu abweichenden Ergebnissen gelangten.132 Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen stützte sich mal auf die Angaben des DRK,133 mal auf die Schätzungen des UfJ.134 Das DRK konnte auf die umfangreichsten Befragungen zurückgreifen und 130  Vgl. u. a. [Bericht des in den Westen geflüchteten ehemaligen Aufsehers Horst Bock] betr. Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden (Eigen-Fortsetzungsbericht) vom 3.8.1954, 116 S.; BArch B 289/SA 171/22–01/14. 131  So behauptet etwa ein ehemaliger Insasse, Anfang der 50er-Jahre habe der bis 1950 amtierende Chef der brandenburgischen Landespolizei Richard Staimer in Brandenburg-Görden eingesessen. [Bericht eines ehemaligen Häftlings über die] Verhältnisse im Zuchthaus (Strafvollzugsanstalt) Brandenburg vom 18.9.1952; BArch B 285/201. Tatsächlich befand sich Staimer seinerzeit auf einem Sonderlehrgang in Moskau. Vgl. Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Hg. von Müller-Enbergs, Helmut; Wielgohs, Jan; Hoffmann, Dieter. Berlin 2000, S. 814, sowie BStU, MfS, HA IX/11, SiVo, Nr. 1/81, Bd. 280, Bl. 10–20. Ein anderer Häftling wähnte die gestürzte ehemalige Angehörige des Politbüros und Vorsitzende des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) Elli Schmidt 1954 unter den Insassen von Brandenburg-Görden. Vgl. [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. prominente Häftlinge der SVA [Strafvollzugsanstalt] Brandenburg vom 18.5.1955; BArch B 289/SA 171/22–31/10. Ein Beleg für eine Verhaftung oder gar Inhaftierung in einer Strafvollzugsanstalt findet sich jedoch nicht. Vgl. Werner, Constanze: Funktionärinnen und Frauenpolitik in der SBZ/DDR (1945–1953) (Magisterarbeit an der Humboldt-Universität). Berlin 1995. Zur Haftanstalt Cottbus behauptete der ehemalige Insasse Karl Winkler unzutreffender Weise, ein (besonders brutaler) Aufseher habe einen Totschlag an einem Gefangenen verübt und sei deswegen in Abwesenheit in der Bundesrepublik zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Vgl. Winkler, Karl: Zur Klärung eines Sachverhalts. Berlin 1990, S. 144; Alisch, Steffen: Strafvollzug im SED-Staat. Das Beispiel Cottbus. Frankfurt/M. 2014, S. 12. Siehe auch Thiemann, Ellen: Wo sind die Toten von Hoheneck? Neue Enthüllungen über das berüchtigte Frauenzuchthaus der DDR. München 2013, S. 203 u. 244. 132  So sprach etwa Rainer Hildebrandt Anfang 1956 von einem Anteil von 47 % politischer Häftlinge sowie 23 % Wirtschaftsverbrechern in der DDR, während er den Anteil der Kriminellen auf lediglich 30 % schätzte. Tatsächlich lag der Anteil der Staatsverbrecher seinerzeit bei 31,2 % und die Gesamtzahl aller Insassen bei 48 000, während Hildebrandt diese Ziffer um 10 000 Personen höher schätzte. Vgl. Vermerk [im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen] betr. politische Häftlinge in Strafanstalten der SBZ vom 18.4.1956; BArch B 137/257, 1 S.; Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Berlin 1995, S. 409. 133  Vgl. Vermerk [im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen] betr. politische Häftlinge in Strafanstalten der SBZ vom 18.4.1956; BArch B 137/257, 1 S. 134  Vgl. Schreiben des Suchdienstes Hamburg des Deutschen Roten Kreuzes an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen betr. politische Häftlinge in Haftanstalten der sowjetischen Besatzungszone vom 20.10.1958; BArch B 137/1705.

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war daher wohl besonders gut im Bilde,135 wenngleich etwa der Anteil der politischen Gefangenen schwer zu ermitteln war.136 Mit einem Mangel an empirisch gesichertem Material ist also nicht zu erklären, warum bis 1989 nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zum DDRStrafvollzug erschienen sind. Vielleicht hat dazu auch beigetragen, dass Teile von Öffentlichkeit und Wissenschaft seit den Siebzigerjahren immer öfter über die repressiven Züge des SED-Staates hinwegsahen.137 Bedeutende Ausnahmen waren die Studien von Karl Wilhelm Fricke und Gerhard Finn.138 Sie haben alle Bereiche des DDR-Strafvollzugs beleuchtet – von den Verurteilungsgründen der Insassen bis zu den Haftbedingungen und den örtlichen Besonderheiten vieler Haftorte.139 Die beiden Autoren konnten ferner die Opferperspektive mit einfließen lassen, kannten sie doch den ostdeutschen Haftalltag aus eigenem Erleben. Ihre Veröffentlichungen gelten bis heute als Standardwerke, die unverändert Gültigkeit beanspruchen können. Auf ihren Ergebnissen kann die vorliegende Studie aufbauen und sie auf der Grundlage der nach 1989 zugänglich gewordenen Aktenüberlieferung von Gefängnisverwaltung und Staatssicherheitsdienst erweitern. Auf dieser Materialbasis lassen sich die Strukturen des Gefängniswesens sowie die Verurteilungsgründe der Häftlinge umfassend darstellen. Einen wichtigen Schritt hin zu einer Überblicksdarstellung unternahm Jörg Müller, der die sächsischen Haftanstalten in der Ära Ulbricht behandelte.140 Sämtliche DDR-Haftanstalten behandelt sogar Birger Dölling, beschränkt seine breite 135  Als das DRK etwa, nach zahlreichen Haftentlassungen, im Frühjahr 1958 eine Zahl von jetzt 26 191 Strafgefangenen in der gesamten DDR errechnete, traf dies fast exakt zu, wohingegen die stark variierende Zahl von Untersuchungshäftlingen viel schwerer zu schätzen war. Vgl. Aufstellung über die am 30. April 1958 in Haftanstalten der SBZ verbliebenen Gefangenen, 3 S.; BArch B 137/1705. Am 30. März 1958 handelte es sich tatsächlich um 25 000 Strafgefangene. Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 409. 136  Beispielsweise rechnete das DRK im Sommer 1958 mit 5 785 politischen Häftlingen. Vgl. Schreiben des Suchdienstes Hamburg des Deutschen Roten Kreuzes an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen betr. politische Häftlinge in Haftanstalten der sowjetischen Besatzungszone vom 20.10.1958; BArch B 137/1705. Tatsächlich saßen jetzt 7 913 Gefangene wegen Staatsverbrechen ein. Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 409. 137  Vgl. u. a. Hacker, Jens: Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen. Berlin 1992. 138  Vgl. insbesondere Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug; Fricke, Karl Wilhelm: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR. Köln 1988; Finn, Gerhard: Die politischen Häftlinge der Sowjetzone 1945–1959. Köln 1989. 139  Der Staatssicherheitsdienst der DDR behauptete zwar, die Zustände im Strafvollzug würden »bewusst falsch, entstellt bzw. verdreht« dargestellt, musste jedoch die unzähligen Detailangaben der Autoren nach näherer Prüfung bestätigen. Dass die beiden Verfasser nicht immer auf dem aktuellen Stand sein konnten (was etwa umgewidmete oder zwischenzeitlich aufgelöste Haftanstalten betrifft), war ihnen kaum vorzuwerfen. Bericht der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII zu Überprüfungen des Manuskripts Finn/Fricke unter dem Titel »Politischer Strafvollzug in der DDR« vom 20.5.1981; BStU, MfS, HA VII, Nr. 676, Bl. 2–87. 140  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime.

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Darstellung indes auf das letzte Jahr vor der friedlichen Revolution.141 Alle anderen Autoren greifen Teilaspekte des ostdeutschen Strafvollzugs heraus, worauf gleich zurückzukommen sein wird, oder fokussieren auf einzelne Gefängnisse. Pionierarbeit speziell zu Brandenburg-Görden hat Leonore Ansorg geleistet, die dabei auf Akten der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter sowie der Staatssicherheit zurückgreifen konnte. Auch durch zahlreiche Interviews konnte sie die Geschichte von Brandenburg-Görden umfassend darstellen. Allerdings ging sie auf die zentrale Ebene der obersten Gefängnisverwaltung nicht näher ein und bevorzugte eine chronologische statt einer systematischen Herangehensweise.142 Die Autoren des von Norbert Haase und Brigitte Oleschinski herausgegebenen Sammelbandes nahmen sich der Haftanstalt Torgau an. Hier hatten sowohl die Nationalsozialisten als auch die SED-Machthaber ihre Gegner inhaftiert, weswegen Torgau als Schauplatz der politischen Repression in Deutschland besonders aufschlussreich ist.143 In der gleichen Stadt wurden politisch auffällige und kriminell gefährdete Jugendliche unter sehr harten Bedingungen eingesperrt; dieser einzige Geschlossene Jugendwerkhof der DDR fand ebenfalls das zunehmende Interesse der wissenschaftlichen Forschung.144 Auch zu weiteren Strafvollzugseinrichtungen sind inzwischen Einzelstudien erschienen wie etwa zu Cottbus (von Steffen Alisch und Tomas Kittan),145 Bautzen I (von Karl Wilhelm Fricke),146 Waldheim (von Friedemann Schreiter),147 Hoheneck (unter anderem von Ellen Thiemann),148 zum Militärgefängnis in 141  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung. Siehe auch Heidenreich: Aufruhr. 142  Vgl. Ansorg: Brandenburg. 143  Vgl. Haase, Norbert; Oleschinski, Brigitte (Hg.): Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug. Leipzig 1993. 144  Vgl. Einweisung nach Torgau. Texte und Dokumente zur autoritären Jugendfürsorge in der DDR. Hg. vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Geschichte, Struktur und Funktionsweise der DDR-Volksbildung, 4). Berlin 1997; Gatzemann, Andreas: Die Erziehung zum »Neuen Menschen« im Jugendwerkhof Torgau. Ein Beitrag zum kulturellen Gedächtnis. Berlin 2008; Linke, Claudia: Endstation Torgau. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau und seine Aufarbeitung. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2006) 19, S. 41–52. 145  Vgl. Alisch: Beispiel Cottbus; Alisch, Steffen: Das Zentralgefängnis Cottbus. Vom nationalsozialistischen Frauenzuchthaus zur »Strafvollzugseinrichtung« der DDR (Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, 43). Berlin 2009; Kittan, Tomas: Das Zuchthaus Cottbus. Die Geschichte des politischen Strafvollzugs (Cottbuser Blätter, Sonderheft, 2009). Cottbus 2009. 146  Vgl. Fricke, Karl Wilhelm (Hg.): Humaner Strafvollzug und politischer Mißbrauch. Zur Geschichte der Strafvollzugsanstalten in Bautzen 1904 bis 2000 (Sächsische Justizgeschichte, 10). Dresden 1999. 147  Vgl. Schreiter, Friedemann: Strafanstalt Waldheim. Geschichten, Personen und Prozesse aus drei Jahrhunderten. Berlin 2014. 148  Vgl. Thiemann: Wo sind die Toten von Hoheneck?; Stadtverwaltung Stollberg (Hg.): Vergittertes Schloss. Hoheneck im Wandel der Zeit. Stollberg 2002.

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Schwedt (von Rüdiger Wenzke)149, zu Berndshof (von Falk Bersch),150 sowie zu einigen weiteren Orten.151 Während einige Autoren (wie der Letztgenannte) alle wichtigen Aspekte ausführlich analysieren, können andere Verfasser nicht in die Tiefe gehen oder legen nicht einmal ihre Quellen offen. Einige systemübergreifende Chroniken von Haftanstalten behandeln die DDR-Zeit nur am Rande,152 einige Fotobände sind eher von dokumentarischem Wert.153 Recht präzise erforscht wurden bislang auch die Untersuchungshaftanstalten der Staatssicherheit154 in Dresden (durch Annette Weinke und Gerald Hacke),155 Erfurt (durch Andrea Herz),156 Halle (durch Joachim Scherrieble und Alexander Sperk),157 Leipzig (durch Martin Albrecht),158 Magdeburg (durch Alexander Bastian),159

149  Vgl. Wenzke, Rüdiger: Ab nach Schwedt! Die Geschichte des DDR-Militärstrafvollzugs. Berlin 2011. Siehe auch Irmen, Helmut: Stasi und DDR-Militärjustiz. Der Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit auf Strafverfahren und Strafvollzug in der Militärjustiz der DDR. Berlin 2014. 150  Vgl. Bersch, Falk; Dirksen, Hans Hermann: Strafvollzug Berndshof, Ueckermünde (1952–1972), (LStU für Mecklenburg-Vorpommern, 2012). Schwerin 2012. 151  Vgl. u. a. Aris, Nancy; Heitmann, Clemens (Hg.): Via Knast in den Westen. Das KaßbergGefängnis und seine Geschichte. Leipzig 2013; Ahrberg, Edda; Fuhrmann, Alexander; Preiß, Jutta: Das Zuchthaus Coswig (Anhalt) (Schriftenreihe des LStU in Sachsen-Anhalt, Bd. 61). Naumburg 2007; Hoffmeister, Heike: Strafvollzugsanstalt Rummelsburg 1951–1990. Berlin 2011; Reitel, Axel: »Frohe Zukunft« – keiner kommt hier besser raus. Strafvollzug im Jugendhaus Halle (LStU in Sachsen-Anhalt, 21). Naumburg 2002; Pinkert, Mario: Chronik der Justizvollzugsanstalt in Dessau. Das Gerichtsgefängnis zu Dessau von 1886 bis 1997. Ein Gerichtsgefängnis im Wandel der Zeit. Dessau 1998. 152  Vgl. etwa Schreiter: Strafanstalt Waldheim; Blacha, Katrin: Das Suhler Stadtgefängnis. Von der Errichtung als Königlich-Preußisches Kreisgerichtsgefängnis bis zur Auflösung als Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit im Bezirk Suhl 1860–1989. Suhl 2007; Ehmke, Karina. Die Entwicklung der Haftanstalt Bützow-Dreibergen und ausgewählte Beispiele aus ihrer Geschichte. Bützow 1994. 153 Vgl. Rodewill, Rengha: Bautzen II. Dokumentarische Erkundung in Fotos und Zeitzeugenberichten. Bonn 2013; dies.: Hoheneck. Das DDR-Frauenzuchthaus. Bonn 2014. 154  Vgl. Beleites, Johannes: Abteilung XIV: Haftvollzug (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2004. 155  Vgl. Weinke, Annette; Hacke, Gerald: U-Haft am Elbhang. Die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Dresden 1945 bis 1989/90. Dresden 2004. 156  Vgl. Herz, Andrea: Die Erfurter Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit 1952 bis 1989. Erfurt 2006; Untersuchungshaft und Strafverfolgung beim Staatssicherheitsdienst Erfurt/Thüringen. Hg. vom LStU des Freistaates Thüringen u. a., Bd. 1: Die MfS-Haftanstalt Andreasstraße 37. Erfurt 2000. 157  Vgl. Scherrieble, Joachim (Hg.): Der Rote Ochse Halle (Saale). Politische Justiz 1933–1945, 1945–1989. Berlin 2008; Sperk, Alexander: Die MfS-Untersuchungshaftanstalt »Roter Ochse« Halle/Saale von 1950 bis 1989. Eine Dokumentation. Halle 1998. 158  Vgl. Albrecht, Martin: Die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Leipzig. Masterarbeit; Universität Leipzig, Historisches Seminar. Leipzig 2011. 159  Vgl. Bastian, Alexander: Repression, Haft und Geschlecht. Die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit Magdeburg-Neustadt 1958–1989. Halle 2012. Siehe auch Möbius, Sascha: »Grundsätzlich kann von jedem Beschuldigten ein Geständnis erlangt werden.« Die MfS-Untersuchungshaftanstalt Magdeburg-Neustadt von 1957–1970. Magdeburg 1999.

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Einleitung

Potsdam (durch Gabriele Schnell),160 Schwerin (durch Johannes Beleites),161 Suhl (durch Katrin Blacha)162 und Rostock (durch Jenny Schekahn sowie den Autor).163 Hinzu kommen die Studien zum Gefängniskomplex der Staatssicherheit in BerlinHohenschönhausen: zur zentralen Untersuchungshaftanstalt (von Johannes Beleites sowie Elisabeth Martin),164 zum Haftarbeitslager »X« (von Peter Erler)165 sowie zum Haftkrankenhaus (von dem Vorgenannten und Tobias Voigt166). Zu erwähnen ist auch die von der Staatssicherheit dominierte Sonderhaftanstalt Bautzen II, die Silke Klewin eingehend untersucht hat.167 Sowjetische Untersuchungsgefängnisse wurden nach Gründung der DDR der Staatssicherheit übergeben (oder geschlossen),168 das Gefängnis in der Potsdamer Leistikowstraße indes wurde bis in die Achtzigerjahre genutzt (und durch Ines Reich und Maria Schultz untersucht).169 Diese Studien behandeln zumeist alle wichtigen Aspekte der jeweiligen Haftanstalt (wie etwa Gefängnisleitung und Spitzelapparat, Haftalltag und Misshandlungen), gehen über die Gefängnismauern »ihrer« Haftanstalten jedoch nicht wesentlich hinaus. Hervorzuheben ist, dass Untersuchungshaft eine eigene Thematik ist, die zwar Berührungspunkte mit dem Thema Strafvollzug aufweist, sich aber von diesem im Hinblick auf Funktion, institutionelle Zuständigkeiten, Quellen und Fragestellungen zum Teil deutlich unterscheidet. Doch auch wichtige Teilaspekte des DDR-Gefängniswesens sind quellen­ ge­stützt abgehandelt worden. So befassen sich Andreas Beckmann und Regina Kusch besonders mit der Gefangenenseelsorge, bieten aber auch weitere Innen­ 160  Vgl. Schnell: »Lindenhotel«. 161  Vgl. Beleites, Johannes: Schwerin, Demmlerplatz. Die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Schwerin. Schwerin 2001. 162  Vgl. Blacha: Suhler Stadtgefängnis. 163  Vgl. Schekahn, Jenny; Wunschik, Tobias: Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock. Ermittlungsverfahren, Haftbedingungen und Zelleninformatoren in der Ära Honecker (BStU, BF informiert; 31). Berlin 2012. 164  Zu den Strukturen Beleites: Abteilung XIV: Haftvollzug; zum Personal Martin: Wärter und Vernehmer, S. 262. 165  Vgl. Erler, Peter: »Lager X«. Das geheime Haftarbeitslager des MfS in Berlin-Hohen­schön­ hausen (1952–1972). Fakten, Dokumente, Personen (Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, 25). Berlin 1997. 166  Vgl. Voigt, Tobias; Erler, Peter: Medizin hinter Gittern. Das Stasi-Haftkrankenhaus in Berlin-Hohenschönhausen. Berlin 2011. 167  Vgl. Fricke; Klewin: Bautzen II, sowie Stasi-Gefängnis Bautzen II 1956–1989. Katalog zur Ausstellung der Gedenkstätte Bautzen. Hg. von Hattig, Susanne; Klewin, Silke; Liebold, Cornelia. Dresden 2008. 168  Vgl. u. a. Wild, Volker; Roder, Bernt (Hg.): Haus 3. Haftort des sowjetischen Geheimdienstes und der Staatssicherheit in Berlin-Prenzlauer Berg. Berlin 2012; Erler, Peter: GPU-Keller. Arrestlokale und Untersuchungsgefängnisse sowjetischer Geheimdienste in Berlin (1945–1949). Berlin 2005. 169  Vgl. Reich, Ines; Schultz, Maria (Hg.): Sowjetisches Untersuchungsgefängnis Leistikowstraße Potsdam. Berlin 2012. Siehe auch Alt, Corina; Höhne, Anke (Hg.): Schatten zwischen Belvedere und Schloss Cecilienhof. Lebensläufe ehemaliger Häftlinge des KGB-Gefängnisses PotsdamLeistikowstraße. Berlin 2007.

Quellen und Literatur

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an­sichten des Strafvollzugswesens vor allem in den Fünfzigerjahren.170 Das Ver­dienst, speziell die Haftbedingungen systematisch dargestellt und ana­ly­ siert zu haben, gebührt Klaus-Dieter Müller. Er kann sich dabei auf Be­fra­gun­ gen einer hohen Zahl von Betroffenen stützen, deren Urteil er grund­sätz­lich höher bewertet als die Aussagekraft der überlieferten Akten zu Haft­bedingungen und Verurteilungsgründen.171 Speziell die Übergriffe auf die Insassen (bzw. deren Ahndung nach 1989) hat Micha Christopher Pfarr un­tersucht172 und ihre medizinische Versorgung Juliane Meyer.173 Die Härte der Haft ergab sich auch aus dem Arbeitseinsatz der Gefangenen, was die For­schung jahrelang vernachlässigte, zuletzt jedoch – aufgrund der öffentlichen Dis­kussionen über westliche Firmen als Nutznießer der DDR-Häftlingsarbeit – in­tensiv behandelte.174 Einen besonders wichtigen und charakteristischen Teil­aspekt des DDR-Strafvollzugs, nämlich den Häftlingsfreikauf, beleuchten die profunden Dissertationen von Jan Philipp Wölbern und Alexander Koch in allen seinen Aspekten.175 Auch Norbert F. Pötzl hat zu diesem Thema gründlich re­cherchiert, jedoch teils auf Quellennachweise verzichtet, weswegen seine Stu­d ien wissenschaftlichen Maßstäben nicht genügen.176 Mit einem anderen Teil­aspekt des DDR-Strafvollzugs beschäftigt sich Anja Mihr. Sie untersucht die Mög­lichkeiten der Menschenrechtsorganisation 170  Vgl. Beckmann, Andreas; Kusch, Regina: Gott in Bautzen. Gefangenenseelsorge in der DDR. Berlin 1994. 171  Vgl. Müller, Klaus-Dieter: »Jeder kriminelle Mörder ist mir lieber ...«. Haftbedingungen für politische Häftlinge in der SBZ und DDR und ihre Veränderungen 1945–1989. In: »Die Vergangenheit läßt uns nicht los ...«. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen. Hg. von der Gedenkstätte für die Opfer politischer Gewalt Moritzplatz Magdeburg u. a. Berlin 1997, S. 7–129. 172  Vgl. Pfarr, Micha Christopher: Die strafrechtliche Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen in den Haftanstalten der DDR. Berlin 2013. 173  Vgl. Meyer, Juliane: Humanmedizin unter Verschluss. Die medizinische Versorgung und Behandlung politischer Häftlinge in den Strafvollzugsanstalten der DDR. Berlin 2013. 174  Vgl. Bastian, Uwe; Neubert, Hildigund: Schamlos ausgebeutet. Das System der Haft­ zwangsarbeit politischer Gefangener des SED-Staates. Berlin 2003; Schmidt, Karin: Zur Frage der Zwangsarbeit im Strafvollzug der DDR. Die »Pflicht zur Arbeit« im Arbeiter- und Bauernstaat. Hildesheim 2011; Sonntag, Marcus: Die Arbeitslager in der DDR. Essen 2011; Vesting, Justus: Zwangsarbeit im Chemiedreieck. Strafgefangene und Bausoldaten in der Industrie der DDR. Berlin 2012; Wunschik, Tobias: Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR, der OstWest-Handel und die Staatssicherheit (1970–1989) (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 37). Göttingen 2014; Sachse, Christian: Das System der Zwangsarbeit in der SED-Diktatur. Die wirtschaftliche und politische Dimension. Leipzig 2014. 175  Vgl. Wölbern, Jan Philipp: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 38). Göttingen 2014; Koch, Alexander: Der Häftlingsfreikauf. Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte. München 2014. 176  Vgl. Pötzl, Norbert F.: Basar der Spione. Die geheimen Missionen des DDR-Unterhändlers Wolfgang Vogel. Hamburg 1997; ders.: Mission Freiheit. Wolfgang Vogel. Anwalt der deutschdeutschen Geschichte. München 2014.

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Einleitung

Amnesty International (AI) bei der Mobilisierung der internationalen öffentlichen Meinung mit dem Ziel, das SED-Regime zu einer besseren Behandlung und vorzeitigen Entlassung seiner politischen Gefangenen zu veranlassen.177 Den erwähnten Untersuchungs- und Strafvollzugsanstalten thematisch nah verwandt ist die politische Justiz, deren Entwicklung zu den am besten erforschten Bereichen der DDR-Geschichte gehört. So hat Falco Werkentin bereits 1995 die politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht umfassend dargestellt178 – wie Johannes Raschka den Wandel des Strafrechts und seiner Anwendung während der Amtszeit Honeckers.179 Die repressive Funktion speziell der MfS-Untersuchungshaft (sowie die Grenzen ihrer abschreckenden Wirkung) zeigt Katrin Passens auf.180 Wichtige Teilaspekte der politischen Justiz im SED-Staat werden außerdem in einem von Roger Engelmann und Clemens Vollnhals herausgegebenen Sammelband dargelegt.181 Speziell die politische und organisatorische Entwicklung der Justizverwaltung bis zum Jahre 1953 hat Hermann Wentker mit großer Präzision nachgezeichnet.182 Aus dem gleichen Projektzusammenhang heraus haben Petra Weber und Dieter Pohl die Transformationsprozesse von Justiz und Strafrecht am Beispiel der Länder Thüringen und Brandenburg bis 1955 bzw. 1961 aufgezeigt.183 Zur Ermittlungstätigkeit der Linie IX der Staatssicherheit sowie der Arbeitsrichtung II der Kriminalpolizei in den Untersuchungshaftanstalten liegt eine umfangreiche Studie von Rita Sélitrenny vor.184 Die DDR-Literatur zum ostdeutschen Strafvollzug ist demgegenüber weitgehend zu vernachlässigen, schon aufgrund des überzogenen Geheimhaltungsinteresses des Apparates sowie einer starken Neigung zur Schönfärberei.185

177  Vgl. Mihr, Anja: Amnesty International in der DDR. Der Einsatz für Menschenrechte im Visier der Stasi. Berlin 2002. 178  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. 179  Vgl. Raschka: Justizpolitik im SED-Staat. 180  Vgl. Passens, Katrin: MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung von 1971 bis 1989. Berlin 2012. 181  Vgl. Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 16). Berlin 1999. 182  Vgl. Wentker, Hermann: Justiz in der SBZ/DDR 1945–1953. Transformation und Rolle ihrer zentralen Institutionen. München 2001. 183  Vgl. Weber, Petra: Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945–1961. München 2000; Pohl, Dieter: Justiz in Brandenburg 1945–1955. Gleichschaltung und Anpassung. München 2001. 184  Vgl. Sélitrenny, Rita: Doppelte Überwachung. Geheimdienstliche Ermittlungsmethoden in den DDR-Untersuchungshaftanstalten. Berlin 2003. 185  Aufsätze von leitenden Mitarbeitern der Gefängnisverwaltung in »Fachzeitschriften« wie der Neuen Justiz sind vollmundige Absichtserklärungen über die Leistungen des sozialistischen Strafvollzugs, die dem bitteren Haftalltag Hohn sprachen (siehe Kapitel 3.2).

Quellen und Literatur

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Auch Veröffentlichungen zur Geschichte von Brandenburg-Görden vor 1945 wurden politisch instrumentalisiert.186 So hat sich die Literaturlage zu den Gefängnissen der DDR seit 1989 enorm verbessert, vor allem die politische Justiz und einzelne Haftanstalten betreffend. Obwohl oder gerade weil sich in den Archiven das zugängliche Wissen so drastisch erweitert hat, steht eine umfassende Darstellung des DDR-Strafvollzugs bislang aus. Mit der vorgelegten Studie können nun aber auch bisherige Dunkelfelder wie die Disziplinierung der Aufseher oder das verdeckte Agieren der Staatssicherheit im Strafvollzug beleuchtet werden. Die neu gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen eine breite Analyse des ostdeutschen Gefängniswesens und speziell des politischen Strafvollzugs im Zuständigkeitsbereich der Volkspolizei, exemplarisch dargestellt am Beispiel der Haftanstalt Brandenburg-Görden. Bei der Erarbeitung wurde dem Autor große Hilfe durch Kolleginnen und Kollegen im engeren wie weiteren Sinne zuteil, wofür ich ihnen hiermit meinen Dank aussprechen möchte. Allen voran hat Dr. Roger Engelmann den Text verdienstvollerweise intensiv begutachtet, Dr. Reinhard Buthmann und Dr. IlkoSascha Kowalczuk haben ebenfalls sachkundige Anmerkungen gemacht. Dr. Ralf Trinks, Andreas Eschen, Christiane Neumicke und Thomas Heyden haben die wertvolle redaktionelle Überarbeitung mit viel Fachverstand übernommen. Die umfangreichen Recherchen am Anfang des Entstehungsprozesses wären unmöglich gewesen ohne die kompetente und unablässig freundliche Hilfe von Simone Humke und Annett Wernitz, seinerzeit Archivarinnen der zwischenzeitlich aufgelösten Außenstelle Potsdam des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. In dessen Zentralarchiv in Berlin-Lichtenberg gebührt für das Ausführen unzäh­ liger Personenrecherchen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bereichs AR 2, für Sachrecherchen sowie Erschließungsarbeiten den Archivarinnen und Archivaren der Bereiche AR 4 bis 6 sowie für das Ausheben und Reponieren unzähliger Akten den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Referates AR 3 großer Dank. Auch etliche, hier namentlich nicht zu nennende Beschäftigte des 186  So hatte Erich Honecker persönlich ein Auge darauf, dass die Haftanstalt BrandenburgGörden in der DDR angemessen dargestellt wurde. Ein ihm vorgelegtes Buchmanuskript des Arbeitsausschusses der antifaschistischen Widerstandskämpfer, in dem auch die illegale Arbeit der KPD im Zuchthaus berührt war, kommentierte er mit den Worten: »Die Frage der Herausgabe des Buches muss noch geklärt werden. In der jetzigen Form eignet es sich noch nicht einmal für das Archiv.« Handschriftliche Notiz auf einer Hausmitteilung der Abteilung für Sicherheitsfragen an Erich Honecker vom 10.9.1974; BArch DY 30/IV B 2/12/70, Bl. 9. Ein Totenbuch für die vor 1945 ermordeten Insassen sollte auch lediglich die Namen jener enthalten, die »aus politischen Gründen, wegen ihrer humanistischen Gesinnung oder aufgrund der Rassenpolitik des Naziregimes« verfolgt wurden, nicht jedoch Homosexuelle und V-Leute, wie von verantwortlicher Seite verfügt wurde. Vgl. Vortragsnotiz zum Entwurf »Ehrenbuch der in Brandenburg hingerichteten bzw. umgekommenen Häftlinge« o. D.; BStU, MfS, HA IX, Nr. 19370, Bl. 100  Es erschien dann das Ehrenbuch für die im Zuchthaus Brandenburg-Görden ermordeten Antifaschisten. Bearbeitet von Rudolf Zimmermann, 7 Bände, Berlin 1986.

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Einleitung

Bundesarchivs (in Berlin-Lichterfelde und Koblenz) sowie des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam haben unverzichtbare Hilfe beim Auffinden einschlägiger Archivalien geleistet und diese bereitgestellt. Last but not least gilt der Dank einer Reihe ehemaliger politischer Gefangener der Haftanstalt BrandenburgGörden, die sich interviewen ließen, bereitwillig Auskunft gaben und sich an eine für sie überaus schmerzhafte und entbehrungsreiche Zeit erinnerten, ohne dass dies zu honorieren in irgendeiner Weise möglich war.

2. Der Strafvollzug 2.1 Das Gefängniswesen der DDR 2.1.1 Die oberste Gefängnisverwaltung und ihre Leiter An der Spitze des DDR-Gefängniswesens stand eine zentrale Verwaltungseinheit im Ostberliner Ministerium des Innern. Sie wurde als Hauptabteilung X im Oktober 1949 gebildet, im Januar 1950 als Hauptabteilung Haftsachen (HA HS) bezeichnet und im Januar 1951 in Hauptabteilung Strafvollzug (HA SV) umbenannt. Diese verfügte zu dieser Zeit über die sechs Abteilungen Politkultur, Organisation, Arbeitsverwaltung, Rechtsstelle, Intendantur und Technische Dienste. Die Hauptabteilung Strafvollzug unterstand zunächst unmittelbar der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei. In der Folge des Juni-Aufstandes von 1953 wurde das Innenministerium indes neu strukturiert und es entstanden mehrere Stellvertreterbereiche. Dem Innenminister Willi Stoph unterstand der Chef der Volkspolizei, Karl Maron, der seinerseits nun über einen Stellvertreter für besondere Dienstzweige verfügte. In dessen Verantwortungsbereich lag jetzt, neben dem Betriebsschutz und der Feuerwehr, auch der Strafvollzug.1 Dieser wurde auf Beschluss des Politbüros vom April 1955 jedoch »aus dem Bereich der Deutschen Volkspolizei ausgegliedert und als selbstständige Verwaltung« innerhalb des Innenministeriums organisiert.2 Zum Jahresbeginn 1956 wurde die Hauptabteilung Strafvollzug somit zur Verwaltung Strafvollzug aufgewertet und erhielt eine eigene Personal- und Politabteilung.3 Doch dies wurde bald rückgängig gemacht, da die Chefs der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei um ihren Einfluss fürchteten und der Strafvollzug seinerzeit bei der obersten Parteiführung in der Kritik stand (siehe Kap. 3.2.4). Im April 1958 beschloss das Politbüro daher eine Neugliederung des Innenministeriums, in dessen Zuge die Verwaltung Strafvollzug wieder in den Dienstbereich der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei eingegliedert wurde. Diese war ihrerseits dem Stellvertreter

1  Vorlage Stophs für das Politbüro betr. Statut des Kollegiums der DVP vom 28.12.1953; BArch DY 30 J IV 2/2 A–326, Bl. 423–425. 2  Vgl. Anlage Nr. 1 zum Protokoll Nr. 18/55 der Sitzung des Politbüros vom 12.4.1955; BArch DY 30 J IV 2/2–415. 3  Vgl. Befehl 53/55 des Ministers des Innern betr. Reorganisation des Strafvollzuges vom 13.12.1955; BArch DO1 2.2./58020. Siehe auch Erfahrungsbericht [des Notaufnahmelagers Marienfelde] über die Fluchtgründe aus der Nationalen Volksarmee bzw. KVP und aus der Volkspolizei vom 30.4.1956; BArch B 137/1428.

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Der Strafvollzug

des Ministers für die bewaffneten Organe untergeordnet.4 Folgerichtig wurde im April 1959 die Kaderabteilung der Verwaltung Strafvollzug der Hauptabteilung Personal der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei zugeschlagen.5 Auf Beschluss des Politbüros vom Juni 1962 erhielt Willi Seifert, seinerzeit Stellvertreter des Ministers für die bewaffneten Organe, die Zuständigkeit für verschiedene Dienstzweige einschließlich des Strafvollzugs.6 Zu dieser Zeit bekam die Gefängnisverwaltung auch die alleinige Verantwortung für die Gefangenentransporte, die bis dahin teilweise die Schutzpolizei übernommen hatte.7 Nach dem Amtsantritt des neuen Ministers des Innern Friedrich Dickel im November 1963 wurde die gesamte Gefängnisverwaltung ab Januar 1964 dann als Organ Strafvollzug bezeichnet. Sie wurde im Februar dem unmittelbaren Verantwortungsbereich des sogenannten 1. Stellvertreters des Ministers und Staatssekretärs zugeschlagen, dem auch die Kriminalpolizei, das Pass- und Meldewesen, die Abteilung Innere Angelegenheiten sowie weitere Dienstzweige der Volkspolizei unterstanden.8 Diese wurden bald darauf ausgegliedert, sodass dem 1. Stellvertreter des Ministers und Staatssekretärs fortan neben dem Strafvollzug Abteilungen eher ziviler Art unterstanden.9 Den Posten des ersten Stellvertreter Dickels bekleidete von 1957 bis 1973 Herbert Grünstein, der auf eine mustergültige Biografie (im Sinne der SED-Führung) verweisen konnte, da er seit 1931 der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) angehörte und am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatte. Anfang der Siebzigerjahre unterstanden ihm die Verwaltung Strafvollzug, die Hauptabteilung Innere Angelegenheiten sowie die Hauptabteilung Feuerwehr.10 4  Vgl. Anlage 5 zum Protokoll Nr. 18/58 der Sitzung des Politbüros vom 22.4.1958; BArch DY 30 J IV 2/2–590; Befehl 24/58 des Ministers des Innern betr. Struktur des Ministeriums des Innern vom 20.6.1958; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 50029. 5  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII/1/2 vom 31.3.1959; BStU, MfS, AIM, Nr. 4400/59, Bd. 1, Bl. 111. 6  Vgl. Anlage Nr. 5 zum Protokoll Nr. 27 der Sitzung des Politbüros vom 19.6.1962; BArch DY 30 J IV 2/2–834. 7  Vgl. Befehl 21/62 des Ministers des Innern betr. Übernahme des Gefangenentransportwesens der DVP durch den Dienstzweig Strafvollzug vom 15.5.1962; BArch DO1 2.2./58374; [Bericht] betr. Lage und Stand im Gefangenentransport vom 26.3.1962; BStU, MfS, AIM, Nr. 14624/64, Bd. 1, Bl. 10 f. Siehe auch Umlaufplan der Gefangenen-Sammeltransportwagen in der DDR vom 2.6.1957 bis 28.9.1957; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 14830; Dienstvorschrift IX/1 des Ministers des Innern betr. Durchführung von Gefangenentransporten vom 20.11.1964; BArch DO1 2.2./60022; Kuhlmann, Bernd: Deutsche Reichsbahn geheim. Giftzüge, Militärtransporte, Geheimprojekte. München 2013, S. 166–175. 8  Vgl. Befehl 3/64 des Ministers des Innern betr. Veränderung des Unterstellungsverhältnisses vom 28.1.1964; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15774. 9  Vgl. Befehl 26/66 des Ministers des Innern betr. die Prinzipstruktur des Ministeriums des Innern vom 25.11.1966; BArch DO1 2.2./58547. 10  Vgl. Befehl 1/73 des Ministers des Innern betr. Struktur des Ministeriums des Innern vom 20.12.1972; BArch DO1 2.2./58733.

Das Gefängniswesen der DDR

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Im Januar 1974 wurde Grünstein von Günter Giel abgelöst, der 1946 die SED-Mitgliedschaft erworben und sich im Folgejahr der DVP angeschlossen hatte. Bereits seit 1960 arbeitete er in verschiedenen Leitungsfunktionen zugleich inoffiziell für die Staatssicherheit.11 Ihm attestierte die Geheimpolizei »konsequente Verwirklichung der Parteibeschlüsse« sowie eine »parteiliche und klare Einstellung« gegenüber dem eigenen Apparat.12 Giel versuchte, der allgemeinen Selbstbedienung der Leitungskader etwas Einhalt zu gebieten,13 verlor jedoch (oder deswegen) die Bezeichnung 1. Stellvertreter und wurde nunmehr als einer der Stellvertreter des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei bezeichnet. Wie sein Vorgänger war er, neben dem Strafvollzug, für den Bereich Innere Angelegenheiten sowie die Feuerwehr zuständig.14 Er erhielt im Jahre 1983 zudem die Verantwortung für das staatliche Archivwesen,15 doch blieb die Struktur ansonsten bis zur friedlichen Revolution grundsätzlich unverändert.16 Im Jahre 1987 wurde Giel dann durch Dieter Winderlich abgelöst, auf den noch zurückzukommen sein wird. Über die Jahre ist somit die Tendenz feststellbar, den Strafvollzug aus dem polizeilichen Kernbereich der Innenverwaltung auszugliedern und einen zivileren Anstrich zu geben. Weil der Strafvollzugsapparat aber weiterhin zu den bewaffneten Organen zählte, gehörte der Leiter der Verwaltung Strafvollzug zu den Nomenklaturkadern des Nationalen Verteidigungsrates.17 In der Regierung Hans Modrows fungierte schließlich Karl-Heinz Schmalfuß als Stellvertreter für die zivilen Bereiche; die Zuständigkeit für den Strafvollzug hätte er gern an die Justizverwaltung abgetreten, doch deren Interesse an diesem politisch sensiblen Bereich war gering, weswegen er bis zum Ende der DDR bei der Zuständigkeit des Ministeriums des Innern (zuletzt unter Peter-Michael Diestel) blieb.18 11  Vgl. BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80. 12  Vgl. Einschätzung der Wirksamkeit der wichtigsten Leitungskader des Ministeriums des Innern vom 26.8.1975; BStU, MfS, HA VII, Nr. 4152, Bl. 22–51. 13  Vgl. Bericht über den Besuch des Gen. Oberst Giel vom 4.7.1974; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. 1, Bl. 310–320. 14  Vgl. u. a. Befehl 1/75 des Ministers des Innern betr. Struktur des Ministeriums des Innern vom 17.1.1975; BArch DO1 2.2./58815; Befehl 1/78 des Ministers des Innern betr. Struktur des Ministeriums des Innern vom 30.3.1978; BArch DO1 2.2./58937. 15  Vgl. Befehl 1/85 des Ministers des Innern betr. Struktur des Ministeriums des Innern vom 14.6.1985; BArch DO1 2.2./59222; Befehl 1/90 des Ministers des Innern betr. Struktur des Ministeriums des Innern o. D.; BArch DO1 2.2./59411. 16  Vgl. Befehl 1/87 des Ministers des Innern betr. Struktur des Ministeriums des Innern vom 30.10.1987; BArch DO1 2.2./59300; Befehl 1/90 des Ministers des Innern betr. Struktur des Ministeriums des Innern o. D.; BArch DO1 2.2./5941. 17  Vgl. Wagner, Matthias: Ab morgen bist Du Direktor. Das System der Nomenklaturkader in der DDR. Berlin 1998, S. 237. Zum Nationalen Verteidigungsrat vgl. Wagner, Armin: Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED. Der Nationale Verteidigungsrat der DDR und seine Vorgeschichte (1953–1971). Berlin 2002. 18  Vgl. Schmalfuß, Karl-Heinz: 30 Jahre im Ministerium des Innern der DDR. Ein General meldet sich zu Wort. Aachen 2009, S. 129, 133–137 u. 152.

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Der Strafvollzug

An der Spitze des Gefängniswesens selbst standen Leiter, die zunehmend Qualifikationen vorweisen konnten, sich politisch immer angepasster zeigten und in sehr unterschiedlichem Verhältnis zur Staatssicherheit standen. Geleitet wurde die Hauptabteilung X bzw. Hauptabteilung Haftsachen – zunächst kommissarisch – von Karl Gertich, der 1905 in Oberschlesien geboren worden war. Als Funktionär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) hatte er sich 1931 der Gruppierung »Rote Kämpfer« um Karl Schröder angeschlossen, die innerhalb der SPD eigenständige Positionen vertrat. Wegen seiner politischen Tätigkeit verbüßte er während der Diktatur des Nationalsozialismus (NS) ab Dezember 1936 eine zweieinhalbjährige Haftstrafe und wurde 1943 in das Strafbataillon 999 eingezogen.19 Von Mai 1945 bis Februar 1947 befand er sich in britischer Kriegsgefangenschaft in Ägypten, wo er sich als Leiter der sozialistischen Lagergemeinschaft betätigte. Nach seiner Rückkehr von einem Lehrgang übernahm er noch im gleichen Jahr Funktionen im politischen Arbeitsbereich der Kriminalpolizei K 5, der später teilweise in der Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft bzw. im Staatssicherheitsdienst aufging.20 Bereits 1949 wurde er hier zum stellvertretenden Abteilungsleiter befördert. Als Vertreter des Untersuchungsorgans war er zu den Waldheimer Prozessen abgeordnet und wachte auch über den Vollzug der Todesurteile vor Ort.21 Nach Auflösung der K 5 wurde er jedoch nicht in den Staatssicherheitsdienst übernommen, sondern im Strafvollzug eingesetzt und zum Inspekteur befördert.22 Nach Bildung der Abteilung X lag seine erste Aufgabe in der Überführung der ehemaligen Speziallagerinsassen (siehe Kap. 2.6.2). Die aufwendige Aktion glaubte er mit dem ihm zur Verfügung stehenden, unzuverlässigen Wachpersonal aber kaum durchführen zu können und fürchtete, für Fluchtversuche der Häftlinge zur Rechenschaft gezogen zu werden, wie er gegenüber einem Freund äußerte.23 Seinerseits wurde Gertich am 30. Juni 1951 unter dem absurden Vorwurf verhaftet, er habe in der Volkspolizei »zersetzend« wirken wollen.24 Zur Last gelegt wurde ihm, dass er (durch einen Freund ausschließlich indirekt) Verbindung zu Alfred Weiland besaß. Dieser Anhänger des Rätekommunismus galt den 19  Vgl. Handschriftlicher Lebenslauf von Karl Gertich vom 9.4.1956; BStU, MfS, AU, Nr. 258/52, GfA, Bl. 12. 20  Vgl. Fricke, Karl Wilhelm: Der Strafvollzug in Bautzen während der realsozialistischen Diktatur (1950 bis 1989). In: Ders: Humaner Strafvollzug und politischer Mißbrauch. Zur Geschichte der Strafvollzugsanstalten in Bautzen 1904 bis 2000. Dresden 1999, S. 118–186, hier 126. 21  Vgl. BArch DO1 32/2918. 22  Vgl. Verhandlungsprotokoll der Sitzung der 1. Gr. Strafkammer des Landgerichts Greifswald vom 27.8.1952; BStU, MfS, AU, Nr. 258/52, GA, Bd. 12, Bl. 116. 23  Vgl. [Vernehmungsprotokoll mit] Karl Gertich vom 7.4.1952; BStU, MfS, AU, Nr. 258/52, Bd. 8, Bl. 28–35. 24  Vgl. u. a. Anklage des Oberstaatsanwalts des Bezirks Greifswald vom 14.8.1952; BStU, MfS, AU, Nr. 258/52, GA, Bd. 12, Bl. 105–115.

Das Gefängniswesen der DDR

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Einheitssozialisten als »Trotzkist«, weil er sich 1925 der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) angeschlossen und die KPD bekämpft hatte.25 Als Abteilungsleiter hatte Gertich dann von der bevorstehenden Verhaftung eines Freundes erfahren und diesen informiert, was nun so interpretiert wurde, als habe er auch Weiland warnen wollen. Weiland hatte nach dem Krieg eine eigene, »linksabweichlerische« Zeitung namens »Neues Beginnen« gegründet; wegen seiner antistalinistischen Haltung hatte der Vertreter des KGB, Ivan S. Serov, Wilhelm Pieck mit deren Verfolgung beauftragt.26 Die ostdeutsche Geheimpolizei entführte Weiland dann im November 1950 aus Westberlin27 und konstruierte eine »verbrecherische Organisation« um Weiland und Gertich. Dieser soll sogar eine Flucht in den Westen geplant haben,28 doch bestritt Gertich dies vor Gericht29 und es hätte auch nicht seiner politischen Grundhaltung entsprochen. Obwohl bereits mehrere Personen im Umfeld von Weiland festgenommen worden waren, hatte sich Gertich bis zuletzt in Sicherheit gewogen. Gertich wurde nach Artikel 6 der DDR-Verfassung bzw. Kontrollratsdirek­ tive 38 zu sieben Jahren Zuchthaus in Einzelhaft verurteilt, Weiland erhielt sogar 15 Jahre.30 Gertich empfand seine Haft in Bützow-Dreibergen als noch bedrückender als die Inhaftierung vor 1945, weil ihm sein Glaube an die sozialistische Idee keine Stütze mehr sein konnte und sein Gesundheitszustand schlechter war.31 Von dem seinerzeit noch in Bützow-Dreibergen amtierenden Gefängnisleiter Fritz Ackermann wurde er bevorzugt behandelt (siehe Kap. 2.6.6), jedoch verlegt, als die oberste Strafvollzugsleitung davon erfuhr. Nachdem der stellvertretende Staatssicherheitsminister Erich Mielke zugestimmt hatte,32 wurde Gertich im Juni 1956 vorzeitig aus der Haft entlassen und flüchtete in die Bundesrepublik.33

25  Vgl. Klein, Thomas: »Für die Einheit und Reinheit der Partei«. Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED in der Ära Ulbricht. Köln 2002, S. 64. 26  Vgl. Kubina, Michael: Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland (1906–1978). Münster 2001. 27  Vgl. Muhle: Menschenraub, S. 265, 285. 28  Schlussbericht [des Ministeriums für Staatssicherheit] vom 25.6.1952; BStU, MfS, AU, Nr. 258/52, Bd. 1, HA/GA, Bl. 27–61; Urteil der 1. Gr. Strafkammer des Landgerichts Greifswald vom 27.8.1952; BStU, MfS, AU, Nr. 258/52, GA, Bd. XII, Bl. 144–165. 29  Vgl. Verhandlungsprotokoll der Sitzung der 1. Gr. Strafkammer des Landgerichts Greifswald vom 27.8.1952; ebenda, Bl. 116–142. 30  Weiland gelangte zunächst nach Bützow-Dreibergen, wurde wegen Rädelsführerschaft bei einem Streik aber Ende 1955 nach Brandenburg-Görden verlegt. Vgl. Kubina: Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg, S. 422. 31  Vgl. Brief von Karl Gertich an seine Ehefrau vom 8.10.1952; BStU, MfS, AU, Nr. 258/52, GfA, Bl. 21. Er gelangte dann nach Halle-Kirchtor, schließlich nach Cottbus. 32  Vgl. Schreiben an das Ministerium für Staatssicherheit vom 9.6.1956; BStU, MfS, AU, Nr. 258/52, Bd. 1, HA/GA, Bl. 208 f. 33  Vgl. Fricke: Strafvollzug in Bautzen, S. 118–186, hier 126; Kittan: Zuchthaus Cottbus, S. 28.

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Auf Gertich folgte August Mayer, Jahrgang 1898, der auf eine im kommu­ nistischen Sinne mustergültige Biografie verweisen konnte. Er war 1921 der Weimarer KPD beigetreten und im Jahre 1925 zum Mitarbeiter des Kommu­ nistischen Informations- und Kurierdienstes der KPD aufgestiegen. 1930 avancierte er zum Funktionär in der Abteilung Militärpolitik (AM), eine Deckbezeichnung des mehrfach umbenannten Nachrichtendienstes der KPD. Dieser hatte die Aufgabe, durch Agenten vertrauliche Informationen aus dem Staatsapparat zu beschaffen, Polizeispitzel in der Partei zu enttarnen und perspektivisch bewaffnete Aktionen gegen die Weimarer Republik bzw. das NS-Regime vorzubereiten.34 Zu diesem Zweck hatte Mayer 1931 unter dem Decknamen »Ferdinand« den III. Kursus an der Militärischen Schule der Kommunistischen Internationale (M-Schule) in Moskau besucht und dabei als Parteisekretär des Lehrgangs gewirkt. Zusammen mit den anderen, vorwiegend deutschen Teilnehmern wurde er vom sowjetischen Militärgeheimdienst fachlich geschult und politisch im Sinne Moskaus beeinflusst.35 Ab 1933 war er dann im Widerstand gegen die Nationalsozialisten tätig. Nach Kriegsende leitete er zeitweilig den Zentralen Suchdienst für vermisste Deutsche in der Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler, der unter anderem nach Ostdeutschland geflüchtete Personen überwachte.36 Aufgrund seiner parteipolitischen Zuverlässigkeit wurde Mayer im Sommer 1951 an die Spitze des ostdeutschen Gefängniswesens berufen und sorgte bis 1952 für die Übernahme der bislang der Justiz unterstehenden Untersuchungshaftanstalten (siehe Kap. 2.6.3). Gleichwohl zog er heftige Kritik der SED-Führung auf sich, etwa als sich im Juni 1953 20 Haftanstalten von aufgebrachten Bürgern überrennen ließen (siehe Kap. 2.6.4): In den Haftanstalten sei »die führende Rolle der Partei […] nicht vorhanden«. Deswegen wollte das Politbüro Maron beauftragen, »schnellstens für die Veränderung der Arbeit im Strafvollzug« zu sorgen, Mayer »sofort abzulösen und durch einen qualifizierten, energischen Genossen zu ersetzen«. Die Ausbildung und die politische Anleitung der Aufseher müsse verbessert werden, um »Versöhnlertum« gegenüber den Gefangenen auszuschließen.37 Als dieser Bericht zwei Monate später vom Politbüro endgültig verabschiedet

34  Vgl. Kaufmann, Bernd u. a.: Der Nachrichtendienst der KPD 1919–1937. Berlin 1993. 35 Vgl. BStU, MfS, HA IX/11, SiVo, Nr. 1/81, Bd. 270; Herlemann, Beatrix: Der deutschsprachige Bereich an den Kaderschulen der Kommunistischen Internationale. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 18 (1982) 2, S. 205–229. 36  Vgl. Donth, Stefan: Vertriebene und Flüchtlinge in Sachsen 1945 bis 1952. Die Politik der Sowjetischen Militäradministration und der SED. Köln 2000, S. 109 u. 326 f. 37  Beschluss des Politbüros über die Verbesserung der Arbeit der Deutschen Volkspolizei vom 3.3.1954; BArch DY 30 J IV 2/2 A–341, Bl. 64–89.

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werden sollte, war von einer Ablösung Mayers allerdings nicht mehr die Rede38 – möglicherweise war kein qualifizierter Nachfolger verfügbar. Im August 1956 wurde Mayer dann vorgeworfen, dass in der obersten Gefängnisverwaltung »ein Allgemeinzustand herrscht, wo unter den leiten­ den Mitarbeitern keiner dem anderen wehtun möchte«.39 Der Chef der Gefängnisverwaltung setzte sich zudem für die Freilassung eines SMT-Verurteilten ein, dessen Verurteilung Karlshorst weiterhin für richtig hielt – und Mayer hatte die sowjetischen Behörden wohl schon häufiger erzürnt.40 Immerhin erhielt er im Juni 1958 noch den Orden »Banner der Arbeit«.41 Doch der Strafvollzug stand weiterhin in der Kritik, insbesondere was die ungenügende Erziehung und die mangelnde Trennung der Insassen betraf (siehe Kap. 3.2.4). Auch galt seine Mitarbeiterführung als »überholt« und sein Ressortegoismus als zu groß; so zögerte er die Auflösung der eigenständigen Kaderabteilung der Verwaltung Strafvollzug und die Übertragung ihrer Befugnisse an die Hauptabteilung Personal der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei immer weiter hinaus.42 Offenbar vor diesem Hintergrund erfolgte schließlich die Ablösung des im Februar 1959 erkrankten Mayers. In der Folgezeit war dieser dann wieder geheimdienstlich tätig – und zwar von 1960 bis 1972 als inoffizieller Mitarbeiter der Hauptverwaltung A (Aufklärung – HV A).43 Von 1959 bis 1960 fungierte Alfred Schönherr als Leiter des ostdeutschen Gefängniswesens. 1909 in Chemnitz geboren, war er ab 1933 illegal für die KPD tätig und wegen »Hochverrats« von 1935 bis 1940 und 1944 bis 1945 in Waldheim inhaftiert. Unmittelbar nach dem Krieg wurde er Leiter der Chemnitzer, 1948 Chef der Ostberliner Kriminalpolizei.44 Ab 1951 im Bereich der Auslandsaufklärung tätig, hatte er 1955 die Funktion des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung innerhalb des Staatssicherheitsapparates übernommen, war dann jedoch in Ungnade gefallen und als Offizier im besonderen Einsatz in das Innenministerium »abgeschoben« worden.45 Offenbar stellte Schönherr stärker als sein Vorgänger bei der Unterbringung der Häftlinge Sicherheitsaspekte in den Vordergrund und gab der Planerfüllung beim Arbeitseinsatz nicht mehr 38  Vgl. Anlage 1 zum Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 11.5.1954; BArch DY 30 J IV 2/2–360. 39  Aktenvermerk der Abteilung VII/3 vom 3.8.1956; BStU, MfS, AIM, Nr. 4400/59, Bd. 1, Bl. 77 f. 40  Vgl. [Aktennotiz] vom 27.7.1956; BStU, MfS, AS, Nr. 136/63, Bd. 2, Bl. 79; Schreiben von Mayer an das Zentralkomitee der SED, Genosse Röbelen, vom 7.2.1957; ebenda, Bl. 75–77. 41  Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 4.6.1958; BArch DY 30 J IV 2/3–603. 42  Treffbericht der Abteilung VII/3 vom 5.2.1959; BStU, MfS, AIM, Nr. 4400/59, Bd. 1, Bl. 103–105. 43  Vgl. BStU, MfS, Rechercheausdruck SIRA-Teildatenbank 21. 44  Vgl. Schreiter: Strafanstalt Waldheim, S. 138–144. 45  Vgl. Gieseke, Jens: Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 1998, S. 64.

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Priorität;46 das Konstruktionsbüro in Bautzen I etwa wollte er auflösen, weil dort überwiegend politische Gefangene arbeiteten.47 Zudem wollte Schönherr das Gefängniswesen reorganisieren, wodurch neu gegliedert und Vollzugs- und Wachdienst vereinheitlicht werden sollten.48 Sein kollektiver Leitungsstil wurde zwar gelobt, doch gerade während der organisatorisch aufwendigen Amnestie vom Oktober 1960 war Schönherr erkrankt.49 Als Stellvertreter der genannten Leiter der obersten Gefängnisverwaltung fungierte bereits seit 1950 Werner Jauch. Obwohl nicht auf der Gehaltsliste der Staatssicherheit stehend, galt er doch als »deren Mann«. Er »unterstütze«, wie es hieß, »die Hinweise des MfS und legt Wert auf eine gute offizielle Zusammenarbeit«.50 Im Konfliktfall vertrat Jauch indes die Interessen der Gefängnis­ verwaltung; so verweigerte er etwa die bislang übliche Verlegung von Gefan­ genen zum Arbeitseinsatz in das Haftarbeitslager der Staatssicherheit in Hohenschönhausen, als dort nach der Amnestie von 1960 die Häftlingszahlen stark sanken, der Gefängnisverwaltung jedoch selbst Häftlingsarbeiter fehlten.51 Weil Jauch insgesamt aber kooperierte, erschien der Geheimpolizei offenbar auch seine Anwerbung als inoffizieller Mitarbeiter überflüssig; erst nach seiner Berentung nutzte man seine Wohnung sporadisch als Treffquartier. Da außerdem sein Gesundheitszustand nicht der beste war, ließ sich Jauch im Jahre 1965 berenten.52 Johannes Kohoutek trat 1962 an die Spitze der ostdeutschen Gefängnisverwal­ tung. Im Jahre 1911 geboren, hatte er eine Lehre als Drogist absolviert und als Buchhalter gearbeitet. Als Anhänger der KPD hatte er nach 1933 illegal Parteiarbeit geleistet und deswegen mehr als ein Jahr Gefängnis verbüßen müssen. Bei der Wehrmacht fungierte er hauptsächlich als Koch und Funker und lief im Februar 1944 zur Roten Armee über. Als Propagandist sowie im Fronteinsatz kämpfte er dann für die sowjetische Armee, sodass er sich bereits zwei Tage nach Kriegsende in 46  Vgl. Aktenvermerk über die am 9.2.1960 durchgeführte Besprechung beim Stellv[ertreter] des Ministers, Gen[ossen] Generalmajor der VP Wenzel, vom 15.2.1960; BArch DO1 11/1584, Bl. 232. 47  Vgl. Eberle, Henrik: GULag DDR? Ökonomische Aspekte des Strafvollzuges in den 50er und 60er Jahren. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR – Recht und Justiz als politisches Instrument. Berlin 2000, S. 111–140, hier 120. 48  Vgl. Grundsätze zur Herbeiführung einer einheitlichen Struktur im Dienstzweig Strafvollzug vom 24.6.1960; BArch DO1 11/1454, Bl. 323–328. 49  Vgl. Einschätzung durch den GI »Gustav« vom 15.1.1961; BStU, MfS, AIM, Nr. 13640/85, Bd. 1, Bl. 40 f. 50  Vgl. Vorschlag der Hauptabteilung VII/1 zur Werbung vom 28.2.1967; BStU, MfS, AIM, Nr. 10301/71, Bl. 13–17; Aufklärungsbericht der Hauptabteilung VII/1 vom 25.1.1967; ebenda, Bl. 59–62. 51  Vgl. Eberle: Ökonomische Aspekte des Strafvollzuges, S. 111–140, hier 129. 52  Vgl. Vorschlag der Hauptabteilung VII/1 zur Werbung vom 28.2.1967; BStU, MfS, AIM, Nr. 10301/71, Bl. 13–17; Aufklärungsbericht der Hauptabteilung VII/1 vom 25.1.1967; ebenda, Bl. 59–62.

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der Heimat wieder frei bewegen konnte.53 Bereits im Juni 1945 schloss er sich der Deutschen Volkspolizei an, wurde im August 1949 Polizeipräsident in Chemnitz und im April 1957 Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei in Leipzig.54 Im August 1958 bezeichnete der Staatssicherheitsdienst sein Verhältnis zum eigenen Organ als »nicht klar«,55 ein halbes Jahr später jedoch als »gut«.56 Im Jahre 1961 besuchte Kohoutek den Höheren Akademischen Kurs an der Militärakademie »Friedrich Engels« und wurde im Folgejahr Leiter der Strafvollzugsverwaltung. Doch je höher er auf der Karriereleiter kletterte, desto mehr überforderten ihn die übertragenen Leitungsaufgaben. Zu sehr verlor sich Kohoutek in Detailarbeit und Formulierungsfragen, statt die grundsätzliche Linie der Strafvollzugspolitik zu bestimmen. Seine Untergebenen empfanden sein Auftreten als unwirsch und besserwisserisch, während sich die Abteilungen Strafvollzug in den Bezirken über mangelnde Anleitung beklagten. Ehrgeizige Nachwuchskader in der obersten Gefängnisverwaltung hinderte er an einem Hochschulstudium, obwohl seinerzeit »wissenschaftliche Leitungstätigkeit« angesagt war.57 Seine »spontane Arbeitsweise«, seine »Selbstherrlichkeit« und sein »alter, administrativ-polizeilicher Arbeitsstil« waren nicht länger gefragt, wie die Staatssicherheit notierte.58 Gerade bei der Umsetzung der Amnestie im Oktober 1964 wurde dies deutlich.59 Zudem verschlechterte sich sein Verhältnis zur Staatssicherheit rapide. Seinen Stellvertreter Werner Jauch ließ er meistens links liegen,60 »raunzte« subalterne Mitarbeiter des Mielke-Ministeriums an und war angeblich bestrebt, »das Ansehen der Organe des MfS herabzusetzen und in Misskredit zu bringen«.61 Zudem geriet die Gefängnisverwaltung seinerzeit bei der SEDFührung wieder in die Kritik, als Kohoutek Anfang 1965 das innere Regime in den Haftanstalten etwas lockerte (siehe Kap. 3.2.5). Außerdem hielt die SEDSpitze die Trennung von Gelegenheitsverbrechern und Schwerstkriminellen sowie die damit zusammenhängenden Anstrengungen zur Resozialisation der 53  Vgl. Lebenslauf von Johannes Kohoutek o. D.; BStU, MfS, AP, Nr. 12711/73, Bl. 22–24. 54  Vgl. Herbst, Andreas; Ranke, Winfried; Winkler, Jürgen: So funktionierte die DDR, Bd. 3: Lexikon der Funktionäre. Reinbek 1994, S. 182. 55  Schreiben der BV Leipzig an die Abt. VII vom 19.8.1958; BStU, MfS, AP, Nr. 12711/73, Bl. 45 f. 56  Vgl. Schreiben der Abt. VII der BV Leipzig an die BV Leipzig vom 6.1.1959; ebenda, Bl. 49–52. 57  Vgl. Bericht der HA VII/1 über die Fragen der Leitungstätigkeit in der Verwaltung Strafvollzug vom 22.2.1965; ebenda, Bl. 71–76. 58  Bericht der HA VII/1 über die Situation in der Verwaltung Strafvollzug vom 15.3.1965; ebenda, Bl. 77–80. 59  Vgl. Bericht der HA IX/4 vom 17.3.1965; ebenda, Bl. 86–88. 60  Vgl. Bericht der HA VII/1 über eine Aussprache mit dem Gen. Oberst der VP Werner Jauch vom 15.3.1965; ebenda, Bl. 81–83. 61  Bericht der HA IX/4 vom 17.3.1965; ebenda, Bl. 86–88. Siehe auch BStU, MfS, HA VII/7, VSH.

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Täter für ungenügend. Im April 1965 wurde daher die Verwaltung Strafvollzug intern neu strukturiert62 und Kohoutek im November, angeblich »wegen seines Gesundheitszustandes«, von seinem Posten abberufen63 und zum stellvertretenden Leiter der Verwaltung Strafvollzug degradiert. Sein neuer Chef ließ ihm weitgehend freie Hand, was Kohoutek auch auszunutzen verstand.64 Daher wurde er, auf Initiative der Staatssicherheit hin, die bei der Leitung des Ministeriums des Innern intervenierte,65 im Dezember 1966 auf den Posten des Leiters der weniger wichtigen Versorgungsbasis Mitte des Ministeriums des Innern abgeschoben. Als dann im Zuge der allgemeinen Bestrebungen zur »Verwissenschaftlichung« im gleichen Jahr die Abteilung Sicherheitsfragen die Gründung eines wissenschaftlichen Beirats der Gefängnisverwaltung forderte,66 wurde Kohoutek als deren Leiter eingesetzt, obwohl seine Führung zuvor als antiquiert gegolten hatte. Das Gremium tagte fortan halbjährlich in der Haftanstalt Waldheim, hatte eine beratende Funktion und setzte sich aus Experten des Strafrechts, der Psychologie, Pädagogik, Psychiatrie, Soziologie und Ökonomie sowie Vertretern der Rechtspflegeorgane als auch »erfahrenen Praktikern« zusammen, die vom Innenminister berufen wurden.67 Der im Oktober 1965 neu eingesetzte Chef der Gefängnisverwaltung, Werner Oertel, gehörte wie Schönherr zeitweise dem Staatssicherheitsdienst an. Im Jahre 1918 geboren, war er als Wehrmachtsangehöriger schwer verwundet worden und in russische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er 1948 nach Deutschland zurückkehrte. Nach kurzer Zugehörigkeit zur Volkspolizei wurde er im November 1949 bereits Angehöriger der Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft, eines Vorläufers der Staatssicherheit, und erwarb sich »große Verdienste« im Bereich der Untersuchungstätigkeit. Ab Januar 1953 leitete er die Abteilung 3, ab 1956 die Abteilung 4 der Hauptabteilung IX und koordinierte in dieser Position die Arbeit des Untersuchungsorgans der Staatssicherheit in den Bezirken. 1959 wurde er zum stellvertretenden Leiter der Hauptabteilung IX ernannt und erhielt zusätzliche Zuständigkeit für die Abteilung 6, die gegen Angehörige der bewaffneten Organe ermittelte.68 Er war so mit der politischen Justiz im SED-Staat 62  Vgl. Aufgaben und Struktur der Verwaltung Strafvollzug vom 5.4.1965 (mit Organigramm); BArch DO1 32/54128. 63  Vgl. Bericht der HA VII/1 über die Fragen der Leitungstätigkeit in der Verwaltung Strafvollzug vom 22.2.1965; BStU, MfS, AP, Nr. 12711/73, Bl. 71–76. Siehe auch Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 257. 64  Vgl. Treffbericht der GHI »Krause« und GI »Gustav« vom 26.3.1966; BStU, MfS, AIM, Nr. 13640/85, Bd. 1, Bl. 198–200. 65  Vgl. Auswertung der Hauptabteilung VII/1 vom 30.8.1966; ebenda, Bd. 1, Bl. 206. 66  Vgl. Vorlage der Abteilung für Sicherheitsfragen für das Sekretariat des Zentralkomitees über die Lage im Strafvollzug (mit Anlage 1–5) vom 26.10.1966; BArch DY 30 J IV 2/3 A–1390. 67  Vgl. Statut des wissenschaftlichen Beirates Strafvollzug beim Ministerium des Innern, Verwaltung Strafvollzug o. D. [1970]; BArch DO1 32/47966. 68  Vgl. BStU, MfS, DOS, Nr. 8766/92.

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vertraut und für den fraglichen Posten in der Gefängnisverwaltung qualifiziert. Seine Berufung als Leiter der Verwaltung Strafvollzug im Oktober 1965 geschah in Abstimmung »mit den entsprechenden anderen staatlichen und den parteilichen Stellen«.69 Damit waren der Nationale Verteidigungsrat, der zuständige Stell­ vertreter Mielkes, Bruno Beater, der Leiter der Hauptabteilung VII, Erich Kistowski, und der Leiter der Kaderverwaltung im Innenministerium, Gerhard Exner, gemeint. Oertel wurde auf Wunsch des seit November 1963 amtierenden Ministers des Innern Friedrich Dickel auch noch kurz vor seiner Abordnung zum Innenministerium vom Oberstleutnant zum Oberst befördert, vermutlich weil der »Seiteneinsteiger« Oertel seinen Kollegen so besser zu »verkaufen« war.70 Oertel stand fortan als Offizier im besonderen Einsatz de facto weiterhin im Dienst des Mielke-Ministeriums. Durch miserable Arbeitsorganisation und schlechte Atmosphäre war die Verwaltung Strafvollzug unter seiner Leitung jedoch bald »auf dem Tiefstand angelangt«, sodass er bereits nach zwei Jahren kurzfristig abgelöst wurde.71 Oertel wechselte dann in eine Leitungsfunktion in der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Staatssicherheitsdienstes.72 Der »Diplomgesellschaftswissenschaftler«73 Hans Tunnat wurde im Juli 1968 zunächst mit der Führung der Dienstgeschäfte des Leiters der Verwaltung Strafvollzug beauftragt und drei Monate später förmlich auf diesem Posten eingesetzt. Im Jahre 1920 geboren, hatte er nach Abschluss der 8. Klasse als Stallbursche und Schmiedegehilfe gearbeitet. Im Alter von 20 Jahren zur Wehrmacht eingezogen, erhielt er beim Einsatz an der Ostfront das Eiserne Kreuz Erster und Zweiter Klasse. Im März 1945 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er nach zuletzt acht Monaten Antifa-Schule im Dezember 1949 entlassen wurde.74 Im Folgemonat wurde er Volkspolizist und diente sich über den Posten eines Leiters für Politkultur in einem Volkspolizeikreisamt zum Abteilungsleiter

69  Protokoll der Arbeitstagung der Verwaltung Strafvollzug vom 1.11.1965; BArch DO1 32/36357. 70  Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptabteilung Kader und Schulung vom 23.9.1965; BStU, MfS, KS, Nr. 128/73, Bl. 83. 71  Vgl. Information des [IM] »Günter Rabe« über Tunnat, Hans vom 1.7.1973; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 5, Bl. 48–53. 72 Siehe auch Engelmann, Roger; Joestel, Frank: Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2009. Von 1969 bis zu seinem Tod im Jahre 1972 leitete er dann die Operativdienststelle beim 1. Stellvertreter des Ministers. Vgl. BStU, MfS, KS, Nr. 128/73. 73  Buchholz, Erich; Tunnat, Hans; Mehner, Heinrich: Die Hauptaufgaben des sozialistischen Strafvollzuges im System der Kriminalitätsbekämpfung in der Deutschen Demokratischen Republik. Ostberlin 1969. 74  Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung 5 der Hauptabteilung VII über den Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom 26.3.1975; BStU, MfS, HA VII, Nr. 4224, Bl. 23–35.

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in der Politischen Verwaltung der Hauptverwaltung und zum Stellvertreter des Leiters für politische Arbeit der Verwaltung Strafvollzug hoch.75 Als Leiter der Verwaltung Strafvollzug war Tunnat ein Quereinsteiger, der seine mangelnden Fachkenntnisse durch Einsatzbereitschaft und Führungsqualitäten teils auszugleichen vermochte.76 Entsprechend seinen bisherigen beruflichen Stationen legte er wohl eine gewisse »einseitige Betonung auf politisch-ideologische Fragen«. Da er »keine fundierten Strafvollzugskenntnisse« besitze, wie die Staatssicherheit intern kritisierte, seien seine Entscheidungen oft durch »Sorglosigkeit« geprägt. Gegenüber seinen Untergebenen verhalte er sich inkonsequent, bleibe unnahbar und habe für diese nicht immer ein offenes Ohr.77 Auch Dickel kritisierte Tunnats Führungsstil und seine mangelnde Bereitschaft zur Selbstkritik.78 Trotz seines »parteiverbundenen und klassenmäßigen Auftretens« hielt der Mielke-Apparat zudem seine Einstellung gegenüber der Geheimpolizei für ambivalent. So zeigte er sich zwar bemüht, »die vom MfS gegebenen Hinweise [...] umzusetzen«, ließ Häftlinge verlegen und besondere Sicherungsmaßnahmen anweisen, wenn der Mielke-Apparat offiziell an ihn herantrat.79 Ohne diesen beim Namen zu nennen, rühmte er sich gegenüber Untergebenen sogar seiner guten Verbindungen und behauptete, besser als der ihm vorgesetzte stellvertretende Innenminister Giel informiert zu sein,80 mit dem ihn kein gutes Verhältnis verband.81 Kritik der Geheimpolizei nahm Tunnat aber oft persönlich »und erkennt dabei nicht die beabsichtigte Hilfe und Unterstützung«, wie diese jovial notierte. Außerdem zeigte er sich verschiedentlich »unaufrichtig« und betrieb die Versetzung eines Stellvertreters mit Rückendeckung des Chefs der Deutschen Volkspolizei, jedoch ohne die Staatssicherheit zu konsultieren.82 Da Tunnat über Westverwandtschaft verfügte, sich moralisch angreifbar verhielt, sich gegen Spitzeltätigkeit seiner Untergebenen für die Staatssicherheit verwahrte und sich zunehmend in Detailfragen einmischte (statt diese seinen Stellvertretern zu überlassen), eröffnete 75  Vgl. Begründung für den Vorschlag, den Leiter der Verwaltung Strafvollzug im Ministerium des Innern, Genossen Generalmajor Tunnat, zu entlassen o. D. [6/1980]; BA MA, DVW 1/39522, Bl. 363. 76  Vgl. Information des [IM] »Günter Rabe« über Tunnat, Hans vom 1.7.1973; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 5, Bl. 48–53. 77  Auskunftsbericht der Abteilung 5 der Hauptabteilung VII über den Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom 26.3.1975; BStU, MfS, HA VII, Nr. 4224, Bl. 23–35. 78  Vgl. Vermerk über ein Gespräch vom 19.3.1975; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. II, Bl. 250–253. 79  Auskunftsbericht der Abteilung 5 der Hauptabteilung VII über den Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom 26.3.1975; BStU, MfS, HA VII, Nr. 4224, Bl. 23–35. 80  Vgl. Treffbericht des IM »Günter Rabe« vom 29.10.1976; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 2, Bl. 327–332. 81  Vgl. [Bericht des] IM »Günter Rabe« vom 3.5.1979; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 3, Bl. 53–55. 82  Auskunftsbericht der Abteilung 5 der Hauptabteilung VII über den Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom 26.3.1975; BStU, MfS, HA VII, Nr. 4224, Bl. 23–35.

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der Staatssicherheitsdienst im Jahre 1973 sogar eine Operative Personenkontrolle (OPK) gegen ihn. Dies förderte indes nichts zusätzlich Belastendes zutage,83 sodass die Geheimpolizei die Nachforschungen im Folgejahr beendete und ihm ein »gutes« Verhältnis zum eigenen Apparat attestierte.84 Gleichwohl erboste ihn, dass Zuträger innerhalb seiner Abteilung der Staatssicherheit immer wieder Interna übermittelten und er drohte mit Sanktionen: »Wenn ich den erwische, der alles nach außen trägt!«85 Letztlich wurde der oberste Chef der Gefängnisverwaltung 1977 vom Politbüro noch zum Generalmajor befördert,86 was ihm jedoch offenbar zu Kopf stieg und zu selbstherrlichem Auftreten veranlasste.87 Als Hans Tunnat dann im Sommer 1980 abgelöst und wegen Vollinvalidität mit dem »Dank« des Politbüros entlassen wurde,88 rückte Wilfried Lustik zum Leiter der Verwaltung Strafvollzug auf. Lustik, Jahrgang 1928, stammte aus einer SPD-nahen Arbeiterfamilie, was im Sicherheitsbereich der SED-Diktatur nicht unbedingt karriereförderlich war. Nach einer Ausbildung und kurzer Berufstätigkeit als Bäcker trat er im Mai 1950 in die Reihen der Volkspolizei ein, erwarb jedoch erst vier Jahre später die Parteimitgliedschaft. Zunächst war er in der Verkehrspolizei tätig, unter anderem bei der Verkehrsüberwachung und der Prüfung der Führerscheinkandidaten, und absolvierte dann bis Oktober 1965 einen dreijährigen Lehrgang an der Hochschule der Deutschen Volkspolizei. Im Anschluss wurde er 1. Stellvertreter des Chefs im Volkspolizeikreisamt Zwickau und vier Jahre später Leiter des Volkspolizeikreisamtes Dresden-Land. Im März 1972 konnte er den Posten des 1. Stellvertreters des Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden übernehmen. Intensiv mit dem Gefängniswesen befasst war er erst ab November 1975, als er zum Stellvertreter Operativ des Leiters der Verwaltung Strafvollzug ernannt wurde. Dort galt er zwar als Quereinsteiger, doch zeigte er wohl mehr Führungsqualitäten als seine fachlich bewanderten Kollegen.89 83  Vgl. Auskunftsbericht der Hauptabteilung VII/5/A über den Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom 29.8.1973; BStU, MfS, HA VII, Nr. 910, Bl. 14–18; Abschlussbericht der Hauptabteilung VII/5/A zur OPK »Regent« vom 26.2.1975; ebenda, Bl. 26–32. 84  Auskunftsbericht der Abteilung 5 der Hauptabteilung VII über den Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom 26.2.1975; ebenda, Bl. 33–37. 85  Bericht der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über den Stellvertreter des Leiters der VSV vom 13.7.1977; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1, Bl. 62. 86  Vgl. Anlage Nr. 15 zum Protokoll Nr. 24/77 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 14.6.1977; BArch DY 30 J IV 2/2–1678, Bl. 302. 87  Vgl. Information der HA VII/8 über den Leiter der VSV vom 14.7.1977; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 5, Bl. 208–211. 88  Vgl. Protokoll Nr. 30/80 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 29.7.1980; BArch DY 30 J IV 2/2–1850. 89  Vgl. Begründung für den Vorschlag, den Stellvertreter Operativ des Leiters der Verwaltung Strafvollzug im Ministerium des Innern, Genossen Oberst des SV, Tunnat, zum Leiter der Verwaltung Strafvollzug zu ernennen o. D. [6/1980]; BStU, Bibliothek 90/7944, Nationaler Verteidigungsrat, VA 01/39522, Bl. 364. Zu seinen Führungsqualitäten vgl. Treffauswertung der

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Rund ein Jahr nach seiner Versetzung nach Ostberlin warb ihn die Staatssicherheit als inoffiziellen Mitarbeiter unter dem Decknamen »Erwin« an. Weil er in Dresden bereits offiziell mit der Geheimpolizei kooperiert hatte, unterzeichnete er bereits drei Tage nach dem ersten Kontaktgespräch eine Verpflichtungserklärung.90 Dem Mielke-Apparat schien seine Anwerbung insbesondere geboten, um stärker von »oben herab« auf den Strafvollzug einwirken zu können, auch weil dieser politische, sensible Bereich gegenüber der westlichen Öffentlichkeit immer weniger Angriffsfläche bieten sollte. Für diese schwierige Aufgabe qualifizierten ihn vermutlich besonders seine »politisch verantwortungsbewusste« Handlungsweise und sein Charakter als der Partei »treu ergebener Führungskader«.91 Bereits vor seiner Beförderung zum Chef der Gefängnisverwaltung spekulierte die Staatssicherheit auf die dann »optimalen Möglichkeiten« zur Steuerung des Strafvollzugswesens.92 So wurde nach seiner Ernennung beispielsweise gemeinsam »beraten«, wie unterbelegte Gefängnisse durch zentrale Weisungen wieder aufzufüllen seien,93 und die Staatssicherheit konnte durch ihn vor bestimmten Jahrestagen mit symbolischer Bedeutung verstärkte Sicherheitsmaßnahmen im Gefängniswesen erwirken.94 Im Auftrag der Geheimpolizei wies Lustik ganz gezielte Maßnahmen in einzelnen Haftanstalten an, wie etwa die Durchsuchungsgruppe in Brandenburg-Görden unter die Lupe zu nehmen.95 Seine inoffizielle Mitarbeit galt als »rückhaltslos« und Arbeitsaufträge der Staatssicherheit erledigte er »gewissenhaft und schöpferisch«,96 wenngleich die Geheimpolizei stets noch größere Folgsamkeit erwartete.97 Dabei war der Mielke-Apparat bestrebt, die Weisungsbefugnis der obersten Gefängnisverwaltung gegenüber den einzelnen Haftanstalten zu stärken, weil Lustik nur aus einer

Abteilung 5 der Hauptabteilung VII über den durchgeführten Kurztreff mit IMS »Klaus Günther« vom 8.4.1975; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. 1, Bl. 245–247. 90  Vgl. Verpflichtung von Wilfried Lustik vom 18.12.1976; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1, Bl. 9. Erst am 17. November 1989 wurde die inoffizielle Mitarbeit beendet. 91  Begründung für den Vorschlag, den Stellvertreter Operativ des Leiters der Verwaltung Strafvollzug im Ministerium des Innern, Genossen Oberst des SV, Tunnat, zum Leiter der Verwaltung Strafvollzug zu ernennen o. D. [6/1980]; BStU, Bibliothek 90/7944, Nationaler Verteidigungsrat, VA, Nr. 01/39522, Bl. 364. 92  Vorschlag der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII zur Verpflichtung vom 13.12.1976; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1, Bl. 46–57. 93  [Bericht des] IME »Erwin« vom 6.12.1985; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 2, Bl. 254–256. 94  Vgl. Beurteilung über den Genossen Feig, Frieder vom 15.9.1979; BStU, MfS, KS, Nr. 26742/90, Bl. 98–105. 95  Vgl. Treffbericht des IME »Erwin« vom 11.1.1989; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 2, Bl. 334–341. 96  Beurteilung über IMS »Erwin« o. D.; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1, Bl. 128–133. 97  Vgl. Beurteilung über den Genossen Feig, Frieder vom 15.9.1979; BStU, MfS, KS, Nr. 26742/90, Bl. 98–105.

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starken Position heraus Missstände würde abstellen können.98 Lustik präsentierte sich gegenüber dem stellvertretenden Innenminister Giel gern als besonders gut informiert – was diesen zu spitzen Bemerkungen über seine Quellen veranlasste.99 Lustik empfand sich nicht zu Unrecht als »rechte Hand« der Geheimpolizei und brüstete sich damit, von dieser über bestimmte Neuigkeiten schneller ins Bild gesetzt zu werden als der Minister des Innern – ganz entgegen den Instruktionen der Staatssicherheit, die die Konspiration ihres Zuträgers gewahrt wissen wollte. Doch Lustik wusste die mächtige Geheimpolizei hinter sich und konnte daher mit teilweise »offenem Visier« kämpfen, wenn etwa Tunnat ihn der Zuträgerschaft für die Staatssicherheit verdächtigte.100 Auch andere Mitarbeiter der Verwaltung Strafvollzug kritisierten, dass ihr Chef den Wünschen der Staatssicherheit zu beflissen Folge leiste.101 Lustik wurde jedenfalls bereits zwei Jahre nach seiner Ernennung zum Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom Politbüro zum Generalmajor befördert102 und amtierte bis in die Phase der friedlichen Revolution.103 Lustik führte die 59 Mann starke Verwaltung Strafvollzug im Ministerium des Innern nach dem »Prinzip der Einzelleitung«. Als Chef unterstanden ihm zuletzt ein Stellvertreter, die Leiter der Abteilungen Operativ (zuständig für Sicherheit und Planung im Gefängniswesen), Vollzugsgestaltung (verantwortlich für die Haftbedingungen und das Strafvollzugsrecht), Ökonomie (zur Lenkung des Arbeitseinsatzes entsprechend den Vorgaben des Ministerrats bzw. der Staatlichen Plankommission), Planung/Information/Ausbildung (zuständig auch für Speicherführung und Publikationen) sowie (seit 1975) die Kontrollgruppe (zur Überprüfung einzelner Haftanstalten).104 Mehrere seiner leitenden Mitarbeiter hatten vor ihrer Versetzung im Jugendstrafvollzug gearbeitet und protegierten sich gegenseitig, weswegen sie Lustik als »Ichtershausener Kreis« bezeichnete, angelehnt 98  Vgl. Bericht der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über ein Kontaktgespräch vom 15.12.1976; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1, Bl. 58. 99  Vgl. [Bericht des] IM »Wolfgang« vom 13.2.1985; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 4, Bl. 4–11. 100  Bericht der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über den Stellvertreter des Leiters der VSV vom 13.7.1977; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1, Bl. 62. 101  Vgl. Tonbandabschrift der Information des FIM »Fritz« o. D. [2/1979]; BStU, MfS, AIM, Nr. 1536/87, Bd. 1, Bl. 156 f. 102  Vgl. Protokoll Nr. 21 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 25.5.1982; BArch DY 30 J IV 2/2–1948. 103  Vgl. Mehner, Heinrich: Aspekte zur Entwicklung des Straf- und Untersuchungshaftvollzugs in der ehemaligen SBZ sowie in den Anfangsjahren der DDR. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe (1992) 2, S. 91–98, hier 97; Schönefeld, Bärbel: Die Struktur des Strafvollzuges auf dem Territorium der DDR (1945–1950). In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (1990) 6, S. 808–816. 104  Vgl. Arbeitsordnung der Verwaltung Strafvollzug vom 18.5.1978; BArch DO1 32/54128; Anlage 1 zur Konzeption der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII zur Sicherung der Verwaltung Strafvollzug vom 10.5.1985; BStU, MfS, HA VII, Nr. 2503, Bl. 61–63.

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an den Namen eines wichtigen Jugendhauses.105 Gegenüber Verfehlungen von Aufsehern (wie illegaler Bereicherung) plädierte Lustik für eine strenge Bestrafung, was mehrere Leiter von Haftanstalten zu spüren bekamen.106 Lustik galt als un­ bestechlich, ehrgeizig, unnachgiebig und spontan, im persönlichen Umgang mit seinen Mitarbeitern als offen und mitunter humorvoll, zeigte jedoch auch autori­ täre, überhebliche und verletzende Züge.107 In den Augen von »Hardlinern« im Strafvollzugsapparat war Lustik indes ein »Vertreter ›unbedingter Humanität‹« gegenüber den Häftlingen (siehe Kap. 3.2.10).108 Lustiks Stellvertreter Dieter Winderlich fungierte ebenfalls als inoffizieller Mitarbeiter (mit dem Decknamen »Hans Görlich«). Seit 1961 hatte er als Erzieher im Jugendhaus Dessau gearbeitet, bevor er zwischen 1967 und 1970 ein Studium an der Hochschule des sowjetischen Ministeriums für Innere Angelegenheiten absolvierte und sich dort speziell mit dem dortigen Strafvollzug beschäftigte. Im Anschluss fungierte er als Leiter des neu aufgebauten Jugendhauses Wriezen, bevor er 1974 zur Verwaltung Strafvollzug versetzt wurde. Als Leiter des wichti­ gen Referates Kader/Ausbildung wurde er dann vom Staatssicherheitsdienst angeworben, der schon seit geraumer Zeit lose Kontakte zu ihm pflegte. Nachdem Winderlich sich knapp zwei Jahre als Leiter des Sekretariats des Minister des Innern bewährte, wurde er im Mai 1979 Leiter der Kontrollgruppe und im Oktober 1980 Stellvertreter Operativ des Leiters der Verwaltung Strafvollzug. In dieser Funktion hat er sich nach Einschätzung der Staatssicherheit »mit der von ihm eingegangenen Verpflichtung voll identifiziert« und berichtete »konkret zu Personen, ohne Dinge zu verniedlichen oder zu beschönigen«.109 Sein guter Draht zum Mielke-Apparat war seinem Chef Lustik jedoch ein Dorn im Auge, weil dieser die Kontakte zur Geheimpolizei wohl am liebsten monopolisiert hätte. Winderlich war außerdem älter als viele Leitungskader und verwahrte sich gegen Lustiks »eigenwilligen« Führungsstil. Aus diesen Gründen hatte er in der Gefängnisverwaltung auch geringe Karrierechancen, obwohl er als Perspektivkader für den Chefposten vorgesehen war. Nicht ganz uneigennützig war der Staatssicherheitsdienst deswegen dabei behilflich, dass der zuverlässige inoffizielle Mitarbeiter im Februar 1987 Stellvertreter des Ministers des Innern 105  Vgl. Information des IM »G[ünter] Rabe« über »Ichtershausener Kreis« vom 8.5.1976; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 2, Bl. 308–311. 106  Vgl. u. a. Niederschrift über eine Aussprache beim Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom 15.4.1986; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1, Bl. 95–97; Information über Mängel, Missstände und Weisungsverstöße sowie grobe Verletzungen der Sicherheit und Ordnung in der StVE Bitterfeld vom März 1986; BStU, MfS, HA VII, Nr. 1359, Bl. 289–294. 107  Vgl. BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1. 108  Information der Operativgruppe der Abteilung VII zur Errichtung einer Sonderstation in der StVE Brandenburg vom 21.8.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 192. 109  Abteilung 8 der Hauptabteilung VII: Einschätzung der bisherigen inoffiziellen Zusammen­ arbeit mit dem IME »Hans Görlich« vom 9.1.1987; BStU, MfS, AIM, Nr. 12527/88, Bd. 1, Bl. 342 f.

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wurde – und damit zum Vorgesetzten Lustiks avancierte.110 Dieser hatte selbst auf diesen Posten spekuliert, gab deshalb wichtige Informationen zunächst nicht an seinen neuen Vorgesetzten weiter und bemühte sich erst später um Kooperation.111 Winderlichs erste Aufgabe in der neuen Funktion lag dann in der Umsetzung der großen Amnestie von 1987. Vermutlich aufgrund seines Aufstiegs in die Ränge eines stellvertretenden Ministers führte ihn der Mielke-Apparat fortan nur mehr als Gesellschaftlichen Mitarbeiter für Sicherheit (GMS).112 Winderlich bestritt auch nach der friedlichen Revolution Missstände im Strafvollzug der DDR.113 Unmittelbar nach seinem Amtsantritt entließ Peter-Michael Diestel Ende April 1990 Lustik von seinem Posten als Leiter der Verwaltung Strafvollzug, bemühte sich jedoch nicht um ein allgemeines Revirement, denn bis August 1990 wurde zwar in den meisten Abteilungen Strafvollzug, aber nur in jedem vierten Gefängnis der Leiter ausgetauscht.114 Lustik wurde nach der Wiedervereinigung noch in Verfahren wegen Gefangenenmisshandlung als Zeuge geladen, trug dort aber nichts zur Aufklärung allgemeiner Missstände bei.115 Kurzzeitiger Nachfolger Lustiks in der noch existierenden DDR wurde Harald Martens. Im Jahre 1940 geboren, hatte er sich zu einer sechsjährigen Dienstzeit bei der Nationalen Volksarmee verpflichtet und war im Anschluss zum Organ Strafvollzug gewechselt. Nachdem er die Fachschule des Strafvollzugs in Radebeul besucht und in der Haftanstalt Berlin-Rummelsburg praktische Erfahrungen gesammelt hatte, konnte er an der Humboldt-Universität Rechtswissenschaften studieren. Zu seiner vergleichsweise hohen Qualifikation trug auch bei, dass er dreimal Weiterbildungslehrgänge in der Sowjetunion besuchte. Bei der obersten Gefängnisverwaltung zunächst als Offizier für Strafvollzugsrecht eingesetzt, konnte Martens im Oktober 1980 zu Lustiks Stellvertreter für Vollzug aufsteigen, nachdem der Staatssicherheitsdienst zugestimmt hatte.116 Ab Januar 1985 war er, nach einer Veränderung der inneren Struktur der obersten Gefängnisverwaltung, Leiter der Abteilung Vollzugsgestaltung, fungierte indes weiterhin zeitweilig als Stellvertreter Lustiks.117 Martens galt als »klassenbewusster, einsatzbereiter und 110  BStU, MfS, AIM, Nr. 12527/88. 111  Vgl. Information über den Genossen Winderlich, Dieter vom 7.12.1987; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 4, Bl. 121–126. 112  BStU, MfS, AIM, Nr. 12527/88. 113  Vgl. u. a. Winderlich, Dieter: Sachsens Justizbehörden und die Wahrheit. Karl Mays Zuchtanstalt Waldheim im Wandel der Zeiten. In: RotFuchs-Extra (2007) 5, S. I–IV. 114  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 290 f. 115  Vgl. Urteil des Landgerichts Bautzen vom 2.9.1994 (1 KLs 183 Js 5993/91); abgedruckt in: Marxen, Klaus; Werle, Gerhard (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 7: Gefangenenmißhandlung, Doping und sonstiges DDR-Unrecht. Berlin 2009, S. 5–28, hier 17. 116  Kaderentscheidung über Major des SV Martens, Harald vom 7.8.1980; BStU, MfS, HA VII, Nr. 4220, Bl. 54 f. 117  Vgl. Stellungnahme der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII vom 20.1.1988; ebenda, Bl. 58–60.

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standhafter Offizier«, der »stets die politisch-operativen Interessen des MfS« beachtete und aus eigener Initiative heraus stets frühzeitig über heraufziehende Probleme informierte.118 Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass die oberste Gefängnisverwaltung immer stärker mit linientreuen und zuverlässigen Kadern besetzt war, die in wachsendem Maße gemäß den Interessen der Staatssicherheit handelten (siehe auch Kap. 5.1 und 5.2). 2.1.2 Die Abteilungen Strafvollzug in den Bezirken Bereits am 1. Januar 1951 wurden bei den Landesbehörden der Deutschen Volkspolizei (LBDVP) sogenannte Abteilungen Strafvollzug gebildet.119 Mit deren Hilfe wollte die Volkspolizei für den Fall gewappnet sein, dass die Justiz bereits zum Jahresbeginn sämtliche Haftanstalten an die Volkspolizei übergeben hätte, die diese seinerzeit noch in eigener Regie führte (siehe Kap. 2.6.3). Da zunächst jedoch nur in wenigen Einrichtungen der Hausherr wechselte, konnte die Hauptabteilung Strafvollzug diese zentral verwalten oder unterstellte sie nahegelegenen Strafvoll­ zugsanstalten.120 Durch Übertragung weiterer Zuständigkeiten unterstanden der brandenburgischen Abteilung Strafvollzug, mit Ausnahme der zentralgeleiteten Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden, Anfang 1952 die Haftanstalten der Volkspolizei in Potsdam, Frankfurt/O., Cottbus, Perleberg, Wittenberge, Finsterwalde, Falkensee, Templin, Eberswalde, Bernau, Kyritz und Brandenburg.121 Die Diensteinheit wurde seinerzeit von einem Kommissar der Volkspolizei Czepernik geleitet und verfügte über 19 Mitarbeiter.122 Mitte Februar 1952 erhielt die brandenburgische Abteilung Strafvollzug dann von der Justiz die Aufsicht über die Strafvollzugsanstalt Cottbus sowie die Haftarbeitslager in Fürstenberg und Rüdersdorf. Aufgrund der zögerlichen Übertragung der Zuständigkeiten sollten die Abteilungen Strafvollzug in den Ländern sogar schon wieder aufgelöst werden,123 als im Sommer 1952 schließlich doch das gesamte Gefängniswesen 118  Einschätzung des Obersts des SV Martens, Harald o. D. [1986]; BStU, MfS, HA VII, Nr. 3454, Bl. 286 f. 119  Teilweise nahmen diese aber erst gegen Jahresende tatsächlich die Arbeit auf. Vgl. Befehl des Chefs der DVP 75/51 vom 30.11.1951; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 115164; Bericht der Vollzugsabteilung [der Hauptabteilung Strafvollzug] über ihre Arbeit im ersten Quartal 1952 [von 1952]; BArch DO1 11/1469, Bl. 30–42. 120  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung SV an den Chef der DVP Maron vom 26.2.1951; BArch DO1 11/1588, Bl. 240–243. 121  Vgl. Fernschreiben der LBDVP Brandenburg an die Leiter der VPKA vom 5.1.1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/121, Bl. 1. 122  Vgl. BArch DO1 11/1451. 123  Vgl. Vorschlag der Abteilung Organisation der Hauptabteilung SV zur Einsparung von Verwaltungskosten durch Auflösung der bei den Landesbehörden der Volkspolizei gebildeten Abteilungen Strafvollzug vom 21.2.1951; BArch DO1 11/1588, Bl. 244–247.

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der Volkspolizei übertragen wurde124 und die Abteilungen Strafvollzug somit doch noch die ihnen zugedachte Bedeutung erhielten. Mit Auflösung der Länder im Juli 1952 wurden die Abteilungen Strafvollzug der Landesbehörden der Deutschen Volkspolizei aufgeteilt. In jedem Bezirk der DDR entstand jetzt eine Abteilung Strafvollzug, die der jeweiligen Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei bzw. dem für Strafvollzug und Feuerwehr zuständigen Stellvertreter des Chefs dieser Behörde zugeordnet war.125 In fachlicher Hinsicht wur­den die Abteilungen Strafvollzug jedoch von der Hauptabteilung bzw. Ver­ wal­tung Strafvollzug in Ostberlin angeleitet und fungierten als regionale »Schalt­ zentralen« des Gefängniswesens. Sie leiteten alle Haftanstalten der Deutschen Volks­polizei im jeweiligen Bezirk an, auch wenn diese aus logistischen und tech­ nischen Gründen förmlich Volkspolizeikreisämtern unterstanden. Nicht zuständig waren sie indes bis 1955/56 für die Sonderhaftanstalten (sowie die diesen direkt angeschlossenen Haftorte), einige besonders wichtige Strafvollzugsanstalten, die von der Hauptabteilung Strafvollzug unmittelbar angeleitet wurden (siehe Abb. 2). Die Abteilung Strafvollzug der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam war folglich für alle Gefängnisse der Volkspolizei in ihrem Bezirk zuständig, mit Ausnahme der besagten Haftanstalt Brandenburg-Görden. Geleitet wurde diese Abteilung in Potsdam von Walter Loll, der zuvor stellvertretender Leiter der Abteilung Strafvollzug der Landesbehörde der Deutschen Volkspolizei Brandenburg gewesen war. Die Abteilungen Strafvollzug standen jedoch seinerzeit in der Kritik, weil trotz ihrer Aufsichtstätigkeit katastrophale Missstände in den Haftanstalten herrschten, was nicht nur bauliche Mängel betraf, sondern aus Sicht der Machthaber auch die angeblich große Nachsichtigkeit der Aufseher. Auch Eigenmächtigkeiten waren üblich; so hatte manche Abteilung Strafvollzug unter anderem Außenarbeitskommandos bilden lassen, ohne den jeweiligen Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei darüber zu informieren, wie Maron monierte.126 Die besonders wichtige Haftanstalt Brandenburg-Görden jedoch unterstand zunächst zentral der Hauptabteilung Strafvollzug in Ostberlin, so wie alle sieben Haftanstalten mit besonders vielen ehemaligen Insassen der sowjetischen Speziallager – die deswegen auch als Spezial- bzw. Sonderhaftanstalten bezeichnet wurden. So konnten Entscheidungen über das Vollzugsregime zentral in Ostberlin 124  Vgl. Bericht einer gemeinsamen Kommission Strafvollzug von Hauptabteilung Strafvollzug und Abteilung Strafvollzug vom 3.3.1952; BArch DO1 11/1451, Bl. 129–135. 125  Vgl. Grundsätze des Ministeriums des Innern über die Stellung, Aufgaben, Arbeitsweise und Leitung der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei – Grundsätze BDVP – vom 14.4.1983; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 11427. 126  Die Bezirksbehörden seien aber »voll verantwortlich« für die Haftanstalten in ihrem Bezirk und hätten die Tätigkeit der Abteilungen Strafvollzug »ständig zu überprüfen«. Befehl 61/53 des Chefs der Deutschen Volkspolizei betr. Verbesserung der Sicherheit in den Dienststellen des Strafvollzugs vom 26.8.1953; BArch DO1/2.2./56336.

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getroffen werden, wo eine Abstimmung mit der sowjetischen Besatzungsmacht leichter möglich war. Für die Personalrekrutierung war indes die Hauptabteilung Personal der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei verantwortlich, in Abstimmung mit den Kaderabteilungen der Haftanstalten sowie der jeweiligen Landesbehörde der Deutschen Volkspolizei Brandenburg bzw. Abteilung Strafvollzug.127 Nach der Entlassung eines großen Teils der SMT- und Waldheimverurteilten durch die beiden Amnestien des Jahres 1954 (siehe Kap. 4.1.6) verloren die ostdeutschen Sonderhaftanstalten, darunter auch Brandenburg-Görden, an Bedeutung. Aus diesem Grunde erhielten die jeweiligen Abteilungen Strafvollzug im November 1955 das volle Kontrollrecht über diese Einrichtungen. BrandenburgGörden wurde der Potsdamer Abteilung Strafvollzug indes förmlich erst im Folgejahr unterstellt, als das ostdeutsche Gefängniswesen vorübergehend (bis 1958) aus der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei herausgelöst und die Hauptabteilung Strafvollzug zur Hauptverwaltung aufgewertet wurde. Die Abteilung Strafvollzug in Potsdam wurde so zwischenzeitlich zur Bezirksverwaltung Strafvollzug.128 Allerdings blieb die neue Kompetenzverteilung, etwa in Personalfragen, strit­ tig.129 Die Gefängnisleitung von Brandenburg-Görden empfand die Unter­ stellung unter die Abteilung bzw. Bezirksverwaltung Strafvollzug wohl als De­ gra­dierung, denn die bisherige Anbindung an die oberste Gefängnisleitung in Ostberlin war vermutlich prestigeträchtiger gewesen. Außerdem handelte es sich bei Brandenburg-Görden um die mit Abstand größte und wichtigste Haft­ an­stalt im gesamten Bezirk, personell fast zwanzig Mal so stark wie die jetzt über­geordnete Dienststelle. Deswegen ersuchte der seit 1954 in BrandenburgGörden amtierende Anstaltsleiter Robert Schroetter »im Interesse einer guten Ar­beitsorganisation« in Ostberlin auch um »eine eindeutig klare Entscheidung« über das Verhältnis der beiden Einrichtungen.130 Das Verhältnis blieb jedoch an­gespannt; so war Loll formell zur »Anleitung und Kontrolle« der Haftanstalt be­fugt, wenn er jedoch bei einer Vor-Ort-Kontrolle einen bestimmten Zellen­ trakt aufsuchen wollte, verwehrte ihm Schroetter den Zutritt. Um eine ab­schlie­ ßende Entscheidung gebeten, schlug sich der Leiter der ostdeutschen Ge­fäng­ nisverwaltung, August Mayer, angeblich aufseiten Schroetters. »Der Lei­ter der

127  Vgl. Bericht der Personalabteilung der StVA Brandenburg für das Jahr 1951 vom 16.1.1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 30–32. 128  Vgl. Befehl 53/55 des Ministers des Innern betr. Reorganisation des Strafvollzuges vom 13.12.1955; BArch DO1 2.2./58020. 129  Vgl. Quartalsbericht des Referats Kader der BVSV Potsdam für das IV. Quartal 1956 vom 4.1.1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/116, Bl. 294–296. 130 Ebenda.

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StVA wurde dadurch in seiner Überheblichkeit gestärkt«, wie ein lei­ten­der Mit­ ar­beiter der Haftanstalt seinerzeit notierte.131 Auch Schroetters Nachfolger Fritz Ackermann rebellierte gegen die Abteilung Strafvollzug des Bezirks und ihren Chef Walter Loll. Aufgrund des eigenwilligen Charakters des Gefängnisleiters (siehe Kap. 2.6.6 bis 2.6.9) war in Potsdam die Stellung der Abteilung Strafvollzug vermutlich schwächer als in anderen Bezirken. In der Praxis beschränkte sich ihre Zuständigkeit gegenüber der Haftanstalt an der Havel auf »verschiedene Fragen wie Statistik, Finanzmittel, Stellenplan, Medaillen ›Für treue Dienste‹ usw.«132, also nachrangige Aufgaben. Loll war zwar durchaus bemüht, weitere Kompetenzen gegenüber der Haftanstalt an sich zu ziehen. Doch er pflegte einen moderaten Führungsstil und war dem ausgesprochen autoritären Gefängnisleiter wohl schon allein deshalb ein Dorn im Auge. In einem Schreiben an dessen Vorgesetzten Heinz Münchow behauptete Ackermann daher, Loll habe versucht, »sich immer als der gute und treusorgende Onkel herauszustellen. In seiner bisherigen Tätigkeit war er recht viel damit beschäftigt, bei dem Leiter im Zimmer oder mit der Leitung gemeinsam in ständig wiederholenden Reden diese zu beschäftigen. Wir haben es so empfunden, dass der Gen. Abteilungsleiter uns in Wirklichkeit von unserer eigenen Arbeit abhält.« Außerdem habe Loll für die Beförderung einzelner Wachtmeister gesorgt, obwohl diesen das notwendige politische Rückgrat fehle. Dagegen kritisiere der Leiter der Abteilung Strafvollzug die Gefängnisleitung übermäßig hart, »um sie in jeder Hinsicht unbotmäßig zu machen und sich selbst mit seiner Arbeit in ein gutes Licht zu rücken«.133 So wollte Ackermann sich schon bald nach seinem Amtsantritt im Januar 1959 beim Leiter der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei, Richard Dombrowski, schriftlich über Loll beschweren und mit der eigenen Demission drohen.134 Letztlich zog Loll tatsächlich den Kürzeren, denn er stand auch beim seinerzeitigen Leiter der obersten Gefängnisverwaltung August Mayer in der Kritik, weil er insgesamt als zu nachsichtig galt.135 So wurde er im Frühjahr 1959 abgesetzt 131  Leutnant der VP Pabst: [Redebeitrag auf einer Tagung der BVSV von 1957]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 132. 132  Quartalsbericht des Referats Kader der BVSV Potsdam für das IV. Quartal 1956 vom 4.1.1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/116, Bl. 294–296. 133  Vgl. Schreiben des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg Ackermann an den Chef der BDVP Potsdam Münchow vom 28.2.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 95–102. 134  Vgl. Bericht der KD Brandenburg über die Zusammenarbeit des Mitarbeiters des MfS mit dem Anstaltsleiter vom 31.12.1958; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 31–36. 135 Vgl. Protokoll des Sekretariats der BDVP Potsdam der Dienststellenleiter- und Abteilungsleitertagung am 14.2.1959 vom 16.2.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 215–224. Dies betraf freilich nur die Anleitung der Dienststellen, nicht das innere Regime der Haftanstalten. Loll versagte nämlich beispielsweise Sondersprechgenehmigungen für Strafgefangene selbst dann, wenn die Staatsanwaltschaft bereits zugestimmt hatte – was sie aus formalen Gründen freilich nicht durfte. Vgl. Schreiben der Abteilung Strafvollzug an den Staatsanwalt des Kreises vom 3.12.1958; BStU, MfS, C SKS, Nr. 65700, Bl. 158.

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Der Strafvollzug

und musste von nun an das Haftarbeitslager Oelsnitz leiten.136 Ackermann resümierte in diesem Zusammenhang noch einmal, dass die Unterstützung durch die Abteilung Strafvollzug »mangelhaft« gewesen sei und viele Defizite auf die »Kurzsichtigkeit des Genossen Loll« zurückzuführen seien. Dieser habe »mangelnde Kenntnisse in fachlicher und politischer Art und Unkenntnis der sich entwickelnden gesellschaftlichen und ökonomischen Gesetze« bewiesen. Nach dessen Ablösung mache das Arbeiten nun aber wieder »Freude, weil es vorangeht«. Nun müsse nachgeholt werden, »was durch jahrelanges Diskutieren versäumt worden ist«.137 Der neue Leiter der Abteilung Strafvollzug, Major Schmidt, hatte angesichts der starken Position und des intriganten Verhalten Ackermanns einen schweren Stand. Zwar führte er angeblich im ersten Halbjahr 1959 etwa 60 Vor-Ort-Kontrollen durch, leistete dabei jedoch keine »politische Arbeit«, wie die Bezirksleitung der SED ihrerseits bei einem Instrukteurseinsatz im Juni 1959 kritisierte. »Hieraus ergibt sich, dass der Gen. Schmidt, trotzdem [!] er oft in der StVA war, keine Kontrolle mehr ausübte.«138 Bereits im April 1960 musste er daher seinen Posten für Major Rudi Petry räumen, der zuvor in der Bezirksverwaltung des Strafvollzugs in Leipzig gearbeitet hatte. Bei dem Leitungswechsel spielte möglicherweise auch eine Rolle, dass Petry sich bereits einmal als Geheimer Informator der Staatssicherheit bewährt hatte und wenig später erneut verpflichtet wurde,139 und sich von daher der Unterstützung der einflussreichen Geheimpolizei sicher sein konnte. Vor diesem Hintergrund konnte Petry nach heftigen Auseinandersetzungen die Fronten mit Ackermann offenbar einigermaßen klären. Ein dreiviertel Jahr nach seinem Amtsantritt erklärte er, »wichtige Maßnahmen, die die Dienststelle betreffen, vorher gemeinsam [mit Ackermann zu] beraten«.140 Der autoritäre Gefängnisleiter verzichtete ab jetzt wohl aus taktischen Gründen auf offene Konfrontation. Doch auch auf zentraler Ebene war bekannt, dass die Abteilungen Strafvollzug in den Bezirken einen schweren Stand bei der Durchsetzung ihrer Befugnisse

136  Treffbericht der Abteilung VII/I/2 vom 27.2.1959; BStU, MfS, AIM, Nr. 4400/59, Bd. 1, Bl. 109 f. 137  Protokoll der Abt. Strafvollzug der BDVP Potsdam betr. Arbeitsberatung mit den Leitern und Parteisekretären der SV-Dienststellen des Bezirkes Potsdam vom 13.10.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 285–300. 138  Bericht [einer Brigade der SED-Bezirksleitung] über den Einsatz in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 25.6.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 103–117. 139  Vgl. Abteilung VII der Bezirksverwaltung Potsdam: Einschätzung der leitenden Offiziere des Dienstzweiges Strafvollzug der BDVP Potsdam vom 24.8.1960; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2022/69, Bl. 111–118. 140  [Referat des Leiters der] Abteilung SV der BDVP Potsdam [Petry] vom 24.1.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/389, Bl. 35–45.

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hatten.141 Sie waren bis 1960 »noch nicht über die Rolle des Vermittlers« zwischen den Haftanstalten und der obersten Gefängnisverwaltung »hinausgekommen«, wie kritisiert wurde,142 und umfassende Pläne zu ihrer Reorganisation wurden aufgestellt.143 Die Potsdamer Abteilung Strafvollzug jedenfalls geriet durch »politisch-moralische Verfehlungen« sowie angeblich ungenügende »Parteiarbeit« ihres Abteilungsleiters Anfang 1964 unter starken Beschuss,144 weswegen Petry von seiner Funktion abgelöst wurde (siehe Kap. 5.3.2.1). Mehrere Offiziere wurden disziplinarisch bestraft und die Abteilung Strafvollzug wurde als solche förmlich aufgelöst.145 Die bisher von ihr wahrgenommenen Steuerungsfunktionen sollte (mit Ausnahme der Strafvollstreckung) fortan Brandenburg-Görden als wichtigste Haftanstalt im Bezirk selbst übernehmen.146 Dieses Modell bewährte sich jedoch wohl ebenfalls nicht; die wieder eingerichtete Abteilung Strafvollzug erhielt im August 1964 »versuchsweise« eine neue Struktur, das heißt es wurde eine Kontrollgruppe mit zwei Offizieren und einer technischen Kraft sowie der Arbeitsgruppe Strafvollstreckung gebildet.147 Die Stellung dieser Diensteinheit blieb in der Folgezeit in der Grauzone zwischen Arbeitsgruppe und selbstständiger Abteilung.148 Sie galt »als operativ-anleitendes und kontrollierendes Organ im System der BDVP und zur Erfüllung von Aufträgen des obersten Vollzugsorgans« in den Haftanstalten des Bezirks.149 Grundsätzlich war die Stellung der Abteilungen Strafvollzug in den Bezirken »dadurch charakterisiert, dass sie sowohl dem Chef der BDVP als verantwortlichen Kommandeur im Bezirk als auch in Vollzugsfragen dem obersten Vollzugsorgan gegenüber verantwortlich ist«. Sie sollten vor allem helfen, die Anweisungen der obersten 141  »Die Abteilungen SV der BVDVP sind noch äußerst schwache Glieder und bieten im Wesentlichen noch nicht die Gewähr, dass sie selbst das politisch-operative Führungsorgan gegenüber den SV-Dienststellen sein können.« Rohentwurf des Jahresberichts 1959 der Verwaltung Strafvollzug vom 4.2.1960; BArch DO1 11/1476, Bl. 1–12. 142  Einschätzung der Lage im Strafvollzug durch die Arbeitsgruppe SV der Politischen Verwaltung vom 12.4.1960; BArch DO1 11/1477, Bl. 25–36. 143  Vgl. Grundsätze zur Herbeiführung einer einheitlichen Struktur im Dienstzweig Strafvollzug vom 24.6.1960; BArch DO1 11/1454, Bl. 323–328. 144  Abteilung SV der BDVP Potsdam: Einschätzung der Lage in der Abteilung SV und Vorschläge zur Durchführung der Reorganisation vom 2.7.1964; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/390, Bl. 82–86. 145 Ebenda. 146  Vgl. Treffbericht des GI »Werner« vom 9.11.1963; BStU, MfS, AIM, Nr. 14624/64, Bd. I, Bl. 54 f. 147  Vgl. Jahresbericht 1964 der Kontrollgruppe SV der BDVP Potsdam vom 12.1.1965; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/390, Bl. 99–102. 148  Vgl. Protokoll der Leitungsberatung der Verwaltung Strafvollzug vom 22.2.1968; BArch DO1 32/37583. 149  Auskunftsbericht der AG Strafvollzug der BDVP Potsdam über Struktur und Funktion sowie Hauptaufgaben und Arbeitsweise des Strafvollzugs im Bezirk vom 19.5.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/250, Bl. 190–199.

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Der Strafvollzug

Gefängnisverwaltung gegenüber den einzelnen Haftanstalten durchzusetzen.150 Die Abteilungen Strafvollzug galten als so entbehrlich, dass 1967 eine direkte Unterstellung der Strafvollzugsanstalten unter die oberste Gefängnisverwaltung beabsichtigt war.151 Der Abteilung Strafvollzug in Potsdam blieben die gravierendsten Missstände in Brandenburg-Görden nicht völlig verborgen, etwa was die Schwarzbauten Ackermanns, die Bereicherung an der Arbeitskraft der Gefangenen und die Haftbedingungen betraf (siehe Kap. 2.6.9). Letztlich beteiligte sich die Diensteinheit aber eher an der Vertuschung der Missstände statt für Abhilfe zu sorgen und griff lediglich vergleichsweise unwichtige Fragen der Sicherheit auf, etwa dass Häftlingsarbeiter nur noch unter Aufsicht Fahrzeuge innerhalb der Haftanstalt benutzen sollten.152 Zu den Wurzeln der vielfältigen Missstände konnte oder wollte die Abteilung jedoch nicht vorstoßen, vermutlich weil die starke Position Ackermanns dem entgegenstand, und so kam sie ihrer Aufsichtspflicht kaum nach. Im Jahr 1982, als auch Ackermann abgelöst wurde, erhielten die Abteilungen Strafvollzug in den Bezirken abermals eine neue Struktur.153 Geführt wurde die Abteilung Strafvollzug Potsdam in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre von Major Härtel, dem in den Siebzigerjahren Klaus Skoczylas und 1983 Horst Gallasch folgten.154 Dessen Leitungstätigkeit wurde, im Vergleich zu seinen Vorgängern, durch die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei deutlich

150  Die Abteilungen Strafvollzug waren seinerzeit in den Bezirken in die Arbeitsgebiete Vollzug und Vollstreckung gegliedert und verfügten außerdem über eine Geschäftsstelle. Der erstgenannte Bereich umfasste die Organisation der Vollzugsdurchführung, der »kulturell-erzieherischen Einwirkung«, des Arbeitseinsatzes und die Einschätzung von Sicherheitsfragen. Die Arbeitsgruppe Strafvollstreckung hatte die Umsetzung der rechtskräftigen Urteile und Strafbefehle vorzunehmen, also beispielsweise Ladungen zum Strafantritt auszusprechen. Außerdem sollte stets ein Überblick über die Lage im Bezirk gewahrt werden. Vgl. Abteilung III der Verwaltung Strafvollzug: Entwurf von Thesen zum Thema »Rolle und Aufgaben der Abteilungen SV der BDVP« [Vortrag von Mehner auf der Schulungs- und Arbeitstagung des Leiters der VSV 22.11.–2.12.1965], 11 S.; BArch DO1 32/36357; Vorläufige Arbeitsordnung der Abteilung Strafvollzug der BDVP Potsdam [von 1966]; BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/10, Bl. 186–194; Auskunftsbericht der AG Strafvollzug der BDVP Potsdam über Struktur und Funktion sowie Hauptaufgaben und Arbeitsweise des Strafvollzugs im Bezirk vom 19.5.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/250, Bl. 190–199. 151 Vgl. Stellungnahme der Hauptabteilung IX zur Vorläufigen Arbeitsordnung des Ministeriums des Innern über die Rolle, Aufgaben und Struktur der Verwaltung Strafvollzug vom 2.2.1967; BStU, MfS, SdM, Nr. 1094, Bl. 273. 152  Vgl. Kontrollbericht der AG Strafvollzug der BDVP Potsdam zur Nachkontrolle in der StVE Brandenburg vom 17.3.1982; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/764. 153  Vgl. Kollegiumsvorlage des Ministeriums des Innern vom 24.5.1988; BArch DO1 32/53234. 154  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/583.

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positiver eingeschätzt.155 In seiner nur dreiköpfigen Diensteinheit156 stand ihm ein ehemaliger hauptamtlicher Mitarbeiter der Staatssicherheit zur Seite157 – und Gallasch selbst arbeitete bereits seit Mai 1977 als inoffizieller Mitarbeiter, seinerzeit als Leiter des Dezernates VI der Kriminalpolizei der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam. Auch nach Übernahme der Abteilung Strafvollzug arbeitete er offiziell und inoffiziell eng mit dem Mielke-Apparat zusammen.158 Aus geheimpolizeilicher Sicht war indes problematisch, dass Gallaschs »offizielle« und seine »private« Meinung oftmals voneinander abwichen.159 Der Mielke-Apparat hielt ihn zuletzt in seiner Position für überfordert, betrieb aber mangels eines geeigneten Nachfolgers nicht seine Ablösung. Immerhin konnte die Staatssicherheit durch ihn bestimmte Inhaftierte nach Brandenburg-Görden einweisen lassen, obwohl dies nicht dem eigentlich maßgeblichen Einweisungsplan entsprach.160 Auch instruierte ihn die Staatssicherheit, nur planmäßige Kontrolleinsätze in den Haftanstalten seines Bezirks durchzuführen und alle kurzfristigen VorOrt-Besuche mit dem Mielke-Apparat abzustimmen.161 Dies bedeutete eine Schwächung der Abteilung Strafvollzug, da sie sich als Kontrollinstanz nicht länger mit der Staatssicherheit messen konnte. Wegen nachlässiger Bewachung von Gefangenentransporten, Entweichungsversuchen und Kadermangel hatte die Abteilung Strafvollzug in Potsdam jedenfalls zuletzt einen schweren Stand bei der obersten Gefängnisverwaltung und war dementsprechend um Profilierung bemüht.162 Weil viele Entscheidungswege an ihnen vorbeiliefen, wurde keine der Abteilungen Strafvollzug zum echten Mittler zwischen den Haftanstalten und der obersten Gefängnisverwaltung.163

155  Vgl. Protokoll über die mündliche Auswertung des Komplexeinsatzes der Verwaltung Strafvollzug im Bezirk Potsdam vom 23.2.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1223, Bl. 39–41. 156  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 767. Keine der verschiedenen Abteilungen Strafvollzug in den Bezirken verfügte über mehr als acht Mitarbeiter. 157  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, KS, Nr. 120/74. 158  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 431/82. 159  Vgl. Information der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII vom 9.9.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 211, Bl. 295. 160  Vgl. Treffbericht der Abt. VII/1 mit GMS »Oskar« vom 25.7.1986; ebenda, Bl. 320 f. 161  Treffbericht der Abteilung VII/1 mit GMS »Oskar« vom 28.11.1984; ebenda, Bl. 267 f. 162  Vgl. Auskunftsbericht der Abt. Strafvollzug zur Komplexkontrolle der Verwaltung Strafvollzug in der Abteilung Strafvollzug und in ausgewählten SV-Einrichtungen vom 30.1.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1223, Bl. 21–38. 163  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 65 f.

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Der Strafvollzug

2.1.3 Die Haftanstalten Auf der untersten Ebene in der Hierarchie des ostdeutschen Gefängniswesens rangierten die Haftanstalten, von denen im Jahre 1953 etwa 250 der Deutschen Volkspolizei unterstanden (siehe Organigramm). Aus Rationalisierungsgründen wurden indes allein in den Jahren 1960 bis 1963 99 Untersuchungshaftanstalten geschlossen.164 Mitte der Sechzigerjahre wurden nur mehr 75 Gefängnisse gezählt,165 woran sich später nicht mehr viel änderte. Am Ende der Siebzigerjahre existierten in der DDR insgesamt 74 eigenständige Haftanstalten166 und im Herbst 1989 waren es genau 81 Gefängnisse, die letztlich dem Innenminister bzw. dem Chef der Deutschen Volkspolizei unterstanden.167 Sie wurden auch als »Dienststellen des Strafvollzugs« bezeichnet; lediglich 21 kleinere Untersuchungshaftanstalten besaßen keine Eigenständigkeit, sondern wurden organisatorisch vom jeweiligen Volkspolizeikreisamt geführt.168 Unmittelbar vor der Wiedervereinigung gab es in der DDR dann, aufgrund der Entlassungen und nachfolgenden Schließungen, nur noch 38 Gefängnisse.169 Der Aus- und Weiterbildung der Aufseher dienten zuletzt eine Fachschule in Dresden namens »Heinrich Rau« und eine Dienstanfängerschule in Chem­nitz, die nach dem langjährigen Leiter der obersten Gefängnisverwaltung August Mayer benannt worden war.170 Daneben gab es, seitdem im Jahre 1976 die Haftarbeitslager abgeschafft bzw. in Strafvollzugseinrichtungen umbenannt 164  Drei Untersuchungshaftanstalten wurden aufgrund wachsender Verhaftungszahlen kurzfristig wiedereröffnet. Vgl. BArch DO1 32/280/1. Siehe auch Treffbericht des GI »Werner« vom 26.10.1962; BStU, MfS, AIM, Nr. 14624/64, Bd. I, Bl. 26 f. 165  Im Dezember 1964 handelte es sich um 37 Strafvollzugsanstalten bzw. Standkomman­dos (Haftarbeitslager), 31 Untersuchungshaftanstalten, sechs Jugendhäuser und ein Haftkran­ken­haus. Vgl. Statistischer Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug 1964 vom 1.2.1965; BArch DO1 32/280/1. 166  Im September 1977 handelte es sich um 37 Strafvollzugsanstalten bzw. Standkomman­ dos (Haftarbeitslager), 30 Untersuchungshaftanstalten (zuzüglich sechs weiterer, die in einem Gebäudekomplex mit Strafvollzugsanstalten lagen), sechs Jugendhäuser, acht Strafvollzugsabtei­ lungen (die einer Untersuchungshaftanstalt oder einem Jugendhaus angeschlossen waren) und ein Haftkrankenhaus. Vgl. Verzeichnis der Verwaltung Strafvollzug der StVE, JH und UHA vom 8.9.1977; BStU, MfS, HA VII, Nr. 1386, Bl. 148–158. 167  Im Oktober 1989 wurden 40 Strafvollzugsanstalten, 35 Untersuchungshaftanstalten, fünf Jugendhäuser und ein Haftkrankenhaus gezählt, wobei mehrere »Dienststellen des Strafvollzugs« innerhalb eines Gebäudekomplexes gewissermaßen doppelt gezählt wurden. Vgl. Information der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über die gegenwärtige operative Lage im Organ Strafvollzug vom 13.10.1989; BStU, MfS, HA VII, Nr. 423, Bl. 73–78. Siehe auch Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 66. 168  Vgl. ebenda, S. 67. 169  Vgl. Die Welt vom 25.9.1990. 170  Vgl. Mehner: Entwicklung des Straf- und Untersuchungshaftvollzugs, S. 91–98; Schönefeld: Struktur des Strafvollzuges, S. 808–815; Wunschik, Tobias: Der Strafvollzug als Aufgabe der Deutschen Volkspolizei in den fünfziger Jahren. In: Archiv für Polizeigeschichte (1997) 3, S. 74–91.

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worden waren, noch vier verschiedene Anstaltstypen. Die »rechts­k räftig« Verurteilten verbüßten ihre Freiheitsstrafen fast ausnahmslos in Strafvollzugsein­ rich­tungen – meist größere Gefängnisse, in denen mitunter mehrere Hundert Auf­seher eine vierstellige Zahl von Insassen bewachten. Hier saßen, bei einer Gesamt­zahl von etwa 30 000 bis 40 000 Häftlingen im Zeitraum 1976 bis 1989, etwa 85 Prozent aller Häftlinge ein. Die weitaus geringere, doch besonders stark schwan­kende Zahl von Untersuchungsgefangenen war in den bescheidener dimen­sio­nier­ten Untersuchungshaftanstalten untergebracht; diese verfügten zu­ sam­men­ge­nom­men über eine Kapazität von 6 127 Haftplätzen (Stand 1986).171 Des Weiteren bestanden speziell für jugendliche Strafgefangene (SG) zu­letzt fünf Jugendhäuser (JH). Schließlich existierte in der Zuständigkeit des Innen­ ministeriums zuletzt nur noch ein zentrales Haftkrankenhaus (HKH) in LeipzigKlein Meusdorf für Gefangene, die erkrankt waren und eingehender untersucht werden sollten, Unfälle erlitten hatten oder sich selbst verletzt hatten.172 Wegen seiner landesweiten Bedeutung wurde das Haftkrankenhaus im Jahre 1988 der obersten Gefängnisverwaltung sogar unmittelbar unterstellt. Einen Sonderfall bildete schließlich der Militärstrafvollzug in Schwedt, der seit Herbst 1982 dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstand.173 Die sieben besonders wichtigen Gefängnisse mit den ehemaligen Insassen der sowjetischen Speziallager unterstanden zunächst, wie bereits erwähnt, unmittelbar der obersten Gefängnisverwaltung (siehe Abb. 2). Hinzu kamen noch einige angegliederte Haftanstalten (wie Bautzen II oder das Haftarbeitslager Heidekrug), die meist in unmittelbarer Nähe lagen. Erst nach Entlassung der vormaligen Insassen der aufgelösten Speziallager übernahmen die jeweils zuständigen Abteilungen Strafvollzug in den Bezirksbehörden der Volkspolizei ab 1955/56 nach und nach die Verantwortung für die sieben Strafvollzugsanstalten Torgau, Halle, Hoheneck, Bautzen I, Luckau, Brandenburg-Görden und Waldheim sowie die angeschlossenen Einrichtungen. So führten die Abteilungen Strafvollzug nun grundsätzlich die Aufsicht über alle Gefängnisse der Volkspolizei im jeweiligen Bezirk, woran sich bis zum Jahre 1989 nicht mehr viel änderte. Intern verfügten die genannten sieben Sonder- bzw. Spezialhaftanstalten, so auch Brandenburg-Görden, im Jahre 1950 über dieselbe Struktur. So unterstanden dem Anstaltsleiter als erster Stellvertreter der sogenannte Stellvertreter Politkultur (PK) sowie ein Stellvertreter Operativ. Darüber hinaus verfügte jede Haftanstalt über eine Intendantur, eine Verwaltung, eine Personalstelle, eine PK-Abteilung, eine Arbeitsverwaltung, eine Vollzugsstelle sowie eine Abteilung für Gesundheitswesen. Das Wachkommando war für die äußere Sicherheit der Haftanstalt verantwortlich, 171  Vgl. Anlage 3: Bestätigte Verwahrkapazität der UHA und deren Auslastung vom 20.12.1986; BArch DO1/10099, o. Pag. 172  Siehe auch Meyer: Humanmedizin unter Verschluß, S. 182–191. 173  Vgl. Wenzke: Ab nach Schwedt, S. 328.

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Der Strafvollzug

HA Strafvollzug

StVA Torgau StVA Hoheneck StVA Halle StVA Bautzen StVA Bautzen II Außenlager Neschwitz StVA Luckau StVA Brandenburg HAL Heidekrug

Abt. SV Chemnitz 19 UHA

15 UHA

StVA Zwickau

StVA Ichtershausen

HAL Aue

StVA Gräfentonna

HAL Oelsnitz

HKH Eisenach

Abt. SV Cottbus 8 UHA

HKH Waldheim

JH Heiligenstadt Abt. SV Frankfurt/O.

StVA Cottbus

15 UHA

HKH Cottbus

HAL Rüdersdorf

Abt. SV Dresden 17 UHA

StVA Waldheim

Abt. SV Erfurt

HAL Fürstenberg Abt. SV Gera

StVA Radebeul

5 UHA

StVA Görlitz

StVA Hohenleuben HAL Unterwellenborn

Abb. 2: Organigramm des DDR-Strafvollzugs von März 1953

Das Gefängniswesen der DDR

Abt. SV Halle

Abt. SV Magdeburg

19 UHA

18 UHA

StVA Halle II

StVA Halberstadt

StVA Naumburg

StVA MagdeburgSudenburg

StVA Coswig

HKH Jericho

angeschl. HAL Bitterfeld

HAL Volkstedt JH Dessau Abt. SV Leipzig 7 UHA StVA Leipzig

Abt. SV Neubrandenburg 9 UHA JH Neustrelitz Abt. SV Potsdam

StVA Altenburg

17 UHA

JH Torgau

JH Plauerhof

HKH Klein-Meusd. M. Ast. Schkeuditz

Abt. SV Rostock 12 UHA Abt. SV Schwerin 10 UHA StVA Bützow Abt. SV Suhl 5 UHA StVA Untermaßfeld

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Der Strafvollzug

während der Vollzugsdienst für die Durchführung des Strafvollzugs zuständig war.174 Mitte der Sechzigerjahre erfolgte eine größere innere Reorganisation der Haftanstalten.175 Wach- und Aufsichtsdienst wurden jetzt neu in Erziehungsund Sicherungsdienst umgruppiert.176 Hiermit erhielten beispielsweise in der Haftanstalt an der Havel zum 1. Januar 1966 insgesamt 111 Aufseher eine andere Planstelle zugewiesen,177 was etwa jeden dritten Aufseher betraf. Die Neustrukturierung der Vollzugsabteilungen und die Besetzung der entsprechenden Posten zogen sich bis 1968 hin.178 Weil dabei viele Offiziere im Stellenplan »abrutschten«, herrschte unter den Aufsehern seinerzeit eine »grauenhafte Stimmung«.179 Als sogenannte Erzieher sollten jetzt nur noch Offiziere eingesetzt werden; die zum weiteren Einsatz vorgesehenen Wachtmeister mussten sich entsprechend qualifizieren oder fortan als gewöhnliche Aufseher ihren Dienst verrichten.180 Die sogenannten Erzieher waren beispielsweise in Brandenburg-Görden seinerzeit für Gruppen von 80 bis 90 Gefangenen (und bei höherer Belegung für bis zu 120 Insassen) zuständig. Auch nach Auffassung der Aufseher181 ließ dies eine differenzierte Behandlung der Insassen kaum zu. In den Siebzigerjahren unterstanden dem Leiter einer Haftanstalt wie Branden­ burg-Görden vier Stellvertreter – der Stellvertreter des Leiters, der Stellvertreter für politische Arbeit, der Stellvertreter für Vollzug und der Stellvertreter für Ökonomie und Versorgung. Hinzu kamen der Leiter des Medizinischen Dienstes, der Leiter des Referates Finanzen und der Leiter der Abteilung Kader/Ausbildung.182 Letzterer war berechtigt, »mit Mitarbeitern der Kreisleitung der SED Absprachen zu führen, um Kaderentscheidungen vorzubereiten« sowie gesellschaftliche und 174  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung HS an den stellv. Vorsitzenden der SKK für administrative Fragen A.F. Kabanow vom 26.8.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 45–53. Siehe auch Vorläufige Strafvollzugsordnung der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei für die Durchführung des Strafvollzuges in Strafvollzugsanstalten unter polizeilicher Verwaltung vom 14.12.1950; BArch DO1 2.2./56784. 175  Vgl. Chronik der Kaderabteilung der StVA Brandenburg über die Kaderarbeit des Jahres 1964 vom 11.2.1965; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/697, Bl. 21. 176  Kontrollbericht der Abt. SV der BDVP Potsdam über die Kontrolle der StVA Brandenburg vom 26.2.1963; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/390, Bl. 21–35. 177  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/697. 178  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII mit dem GI »Stein« vom 4.6.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 28 (MfS-Pag.). 179  Mündlicher Bericht des GHI »Schiffer« vom 29.2.1968; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 141/77, Bl. 177. 180  Vgl. Bericht der Quelle 72052 Hm betr. StVA Brandenburg Haus 5 vom 1.12.1970 (Stand Oktober 1970), 2 S.; BArch B 137/15761. 181  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/699, Bl. 160; Kurzeinschätzung der Wirksamkeit des Strafvollzuges in der StVE Brandenburg vom 29.11.1984; BStU, MfS, HA KuSch, Abt. Diszi, Nr. 7258/92, o. Pag. Für Bautzen I siehe Heidenreich: Aufruhr, S. 31. 182  Vgl. Pfarr: Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen, S. 61.

Das Gefängniswesen der DDR

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staatliche Institutionen im Bezirk zum Zweck der Nachwuchsrekrutierung zu kontaktieren. Dem Stellvertreter des Leiters unterstanden seinerseits der Leiter der operativen Dienste (verantwortlich für die Bewachung der Insassen und die Gefangenentransporte), der Operative Diensthabende (ODH), der Offizier für operativ-taktischen Ein­satz und Information, der Offizier für Post/Zentraler Kurierdienst (ZKD), die Verschlusssachenstelle und der Truppführer Nachrichten. Der Stellvertreter für Vollzug konnte die Leiter der Vollzugsabteilungen (die ihrerseits für die »Erziehung« der Insassen verantwortlich waren), den Leiter der Aufnahmestation, den Leiter der Vollzugsgeschäftsstelle, den Offizier für staatsbürgerliche Erziehung und Bildung, den Strafvollzugspsychologen und den Offizier für Wiedereingliederung anweisen. Dem für die Organisation des Arbeitseinsatzes verantwortlichen Stellvertreter für Ökonomie unterstanden der Leiter der Versorgung, der Offizier für Arbeitseinsatz, der Offizier Abrechnung und der Offizier Eigengeld. Besondere Bedeutung hatte der Stellvertreter für politische Arbeit, der für die Schulung der Aufseher im Sinne der SED (siehe Kap. 2.5) sowie die Grundorganisationen der Partei innerhalb der Haftanstalt (siehe Kap. 2.2.4) zuständig war.183 In den Sechzigerjahren verfügte Brandenburg-Görden auf dem Gelände der Haftanstalt phasenweise über eine eigene Untersuchungshaftabteilung. Diese wurde vermutlich erstmalig aufgrund der dem Mauerbau folgenden Verhaf­tungs­ welle eingerichtet, doch bereits zu Beginn des Folgejahres wieder geschlossen. Aufgrund des Nachlassens der Repression und allgemeiner Amnestien sanken die Belegungszahlen in der Folgezeit so, dass nun überall in der DDR Gefängnisse geschlossen wurden. Dies betraf auch die alte Untersuchungshaftanstalt Branden­ burg in der Steinstraße, deren Kapazität Anfang der Sechzigerjahre ohnehin auf 56 Plätze reduziert worden war und die im Dezember 1962 gänzlich geschlossen wurde, weil zuletzt nur noch 33 Gefangene hier eingesessen hatten.184 Im Zuge der Zentralisierung des DDR-Gefängniswesens wurde stattdessen im November 1963 erneut eine Untersuchungshaftabteilung in Brandenburg-Görden eröffnet – und ein Jahr später wieder aufgelöst.185 Eine neue Situation entstand, als 1964 in den Volkspolizeikreisämtern Unter­ suchungskommissariate K II eingerichtet wurden.186 Auch das Volks­po­li­zei­k reis­ amt Brandenburg verfügte nun über einen solchen Bereich. Die Ver­hafteten der 183  Entwurf der Arbeitsordnung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 79–110; Auskunftsbericht des Leiters der StVA Brandenburg vom 17.7.1973; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/696, Bl. 127–135. 184  Vgl. Aufstellung aller Haftanstalten nach Bezirken o. D. [Herbst 1962]; BArch DO1 11/1568, Bl. 192–194. 185  Vgl. Chronik der Kaderabteilung der StVA Brandenburg über die Kaderarbeit des Jahres 1964 vom 11.2.1965; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/697, Bl. 21. 186  Vgl. Befehl des Ministers des Innern 22/64 betr. Aufgaben und Arbeitsorganisation der Kriminalpolizei vom 9.11.1964; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15866.

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Kreise Brandenburg-Stadt und -Land, Belzig und Rathenow wur­den sei­ner­ zeit aber mangels Alternativen in die Untersuchungshaftanstalt Pots­dam ge­ schafft, weswegen die Mitarbeiter des Kommissariats II Brandenburg zu Ver­ neh­mungen eigens nach Potsdam fahren mussten. Um dies zu vereinfachen, wurde kurzerhand die Untersuchungshaftanstalt Brandenburg im Mai 1965 mit 25 Planstellen wiedereröffnet. Gleichzeitig wurde die Untersuchungshaftanstalt Neu­ruppin geschlossen und deren Stellen zur Untersuchungshaftanstalt Bran­ den­burg verlegt.187 Im Jahre 1968 verfügte Brandenburg-Görden über eine Untersuchungshaftabteilung für meist 60 bis 80 Insassen.188 Im Jahre 1972 ließ der Minister des Innern die Untersuchungshaftanstalt Brandenburg aber­ mals schließen, die Untersuchungshaftanstalt Neuruppin wiedereröffnen und Verhaftete aus dem Bereich der Stadt Brandenburg fortan vorrangig in die Untersuchungshaftanstalt Potsdam einliefern.189 In den Monaten nach der großen Amnestie von 1972 (siehe Kap. 4.1.15) schwoll die Zahl der Verhafteten wieder so stark an, dass mehrere Strafvollzugsanstalten Haftraum für Untersuchungsgefangene freimachen mussten, darunter Brandenburg-Görden für 160 Häftlinge, Bautzen I für 350, Leipzig für 400 und Berlin gar für 500 Häftlinge.190 Die Untersuchungshaftabteilung in Brandenburg-Görden sollte anlässlich der Weltjugendfestspiele von 1973 wieder große Bedeutung gewinnen (siehe Kap. 4.1.16). Im Übrigen waren die Abteilungen Strafvollzug »berechtigt, in besonderen Fällen auch U-Gefangene aus Sicherheitsgründen in Strafvollzugsanstalten [...] einzuweisen«,191 was sich geringfügig in der Gefangenenstatistik niederschlug. Weil im Anschluss an die umfassende Amnestie von 1987 viele Entlassene erneut Straftaten begingen, wurde Haftraum für Untersuchungshäftlinge jetzt abermals knapp. Im April 1988 wurde in Brandenburg-Görden daher erneut eine Untersuchungshaftabteilung eingerichtet, die mit 40 Insassen belegt war und bereits im Herbst wieder geschlossen wurde.192 Die an Schwerverbrecher und politische Gefangene gewöhnten Aufseher zeigten allerdings nicht viel pädagogisches Geschick im Umgang mit Verhafteten.193 Die zuletzt 17 Insassen wurden bei einer erneuten 187  Vgl. Schreiben des Oberstleutnants Osterburg betr. Wiedereröffnung der UHA Oranienburg vom 4.1.1965; BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/394, Bl. 74 f. 188  Vgl. Bericht der Quelle 71443 Hm betr. StVA Brandenburg vom 3.10.1968 (Stand Ende Mai 1968), 5 S.; BArch B 137/15761. 189  Vgl. Anweisung 8/71 des Chefs der BDVP Potsdam Griebsch vom 5.10.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/394, Bl. 108–112. 190  Vgl. Information [der Verwaltung Strafvollzug] über die Situation im Un­ter­su­chungs­haft­ vollzug vom 5.4.1973; BArch DO1 3697, o. Pag. 191  Vgl. Aktenvermerk der Vollzugsabteilung der Hauptabteilung SV vom 10.6.1954; BArch DO1 11/1563, Bl. 199 f. 192  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 769. 193  »Den erwarteten Erscheinungen renitenten Auftretens von Verhafteten wurde und wird mit Erziehungs- und Disziplinarmaßnahmen wirksam begegnet, bis hin zu Arreststrafen.« Komplexe

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Auflösung der Einrichtung im Januar 1989 in die Untersuchungshaftanstalt Potsdam verlegt.194

2.2 Der Strafvollzug und die Staatspartei 2.2.1 Die sowjetische Besatzungsmacht und der DDR-Strafvollzug Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland betrieb von Anfang an sy­stematisch die Sowjetisierung Ostdeutschlands nach heimischem Vorbild. Nur aus taktischen Erwägungen hielt sie anfänglich an der gemeinsamen alliierten Kon­trolle über Deutschland fest, ließ verschiedene Parteien zu und gestattete in be­schränktem Maße freie Wahlen.195 Um ihre Herrschaft zu festigen, setzte sie ins­besondere auf die »terrorisierende Nebenwirkung« ihrer nach Ostdeutschland ex­portierten Justizpraxis (mit unzähligen Geheim- wie auch wenigen Schau­pro­ zessen).196 Insbesondere verfolgte sie Andersdenkende sowie Re­gime­geg­ner durch eigene Untersuchungsorgane, ließ sie in die Speziallager ein­sperren und teilweise durch die Sowjetischen Militärtribunale verurteilen (siehe Kap. 4.1.1). Nach und nach wurden die Ermittlungstätigkeit sowie der Straf­vollzug an (vermeintlichen) Regimegegnern jedoch an ostdeutsche Behörden und Institutionen übertragen. Unter der Anleitung der SED entwickelten sich die­se insgesamt zu verlässlichen Verbündeten und Stellvertretern. Zum Einsatz ka­men dabei sogenannte sowjetische Berater, die anfänglich das Sagen hatten und auch später gern das letzte Wort

Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 1. Halbjahr 1988 vom 13.7.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 194  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 774, Bl. 129. 195  Vgl. u. a. Creuzberger, Stefan: Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System in der SBZ. Weimar 1996, S. 182–188. 196  Vgl. u. a. Hilger: Strafjustiz im Verfolgungswahn, S. 95–155. Unmittelbar vor der II. Parteikonferenz hatte sich Ulbricht bei Stalin das Plazet geholt, auch in der DDR verstärkt Schauprozesse zu veranstalten. Vgl. Bonwetsch, Bernd; Kudrjašov, Sergej: Stalin und die II. Parteikonferenz der SED. Ein Besuch der SED-Führung in Moskau, 31. März–8. April 1952, und seine Folgen. In: Zarusky, Jürgen (Hg.): Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Sondernummer, 2006). München 2006, S. 173–206. Letztlich kam es nur Anfang der 50er- sowie zu Beginn der 60er-Jahre zu einigen Schauprozessen. Häufiger wurden sie halböffentlich vor einem ausgesuchten Publikum (etwa vormaliger Kollegen) veranstaltet. Vgl. Sälter, Gerhard: Interne Schauprozesse. Über exemplarisches Strafen und seine politische Instrumentalisierung in der Strafjustiz der DDR in den fünfziger Jahren. In: Härter, Karl; Graaf, Beatrice de (Hg.): Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2012, S. 321–351.

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behielten.197 Im Bereich der Un­ter­su­chungs­tätigkeit etwa agierte die ostdeutsche Staatssicherheit zunächst ge­radezu als »Erfüllungsgehilfe« der sowjetischen Seite.198 Auch in der Strafvollzugspolitik trat die Besatzungsmacht in Erscheinung, besonders als in den frühen Jahren die meisten Gefängnisse noch der Justizverwaltung unter Werner Gentz unterstanden (siehe Kap. 2.6.3).199 Die sowjetische Seite begrüßte beispielsweise zunächst, dass die Justiz für Erstverurteilte einen Bewährungseinsatz anstelle einer Haftstrafe favorisierte, entsprach dies doch der sogenannten Besserungsarbeit nach sowjetischem Vorbild; zugleich wurde jedoch der mangelnde Strafcharakter kritisiert.200 Für Strafgefangene wünschte sich die Besatzungsmacht ebenfalls einen intensiveren Arbeitseinsatz und stärkere weltanschauliche Umerziehung nach sowjetischem Vorbild,201 wie sie seinerzeit generell stark auf die Übernahme eigener »Erfahrungen« drängte.202 Da der Strafvollzug aber nicht im Mittelpunkt des sowjetischen Interesses stand – was beispielsweise auch für die Tschechoslowakei galt –,203 eröffnete sich für die Justizverwaltung zunächst ein gewisser Spielraum zur Modernisierung des Strafvollzugs.204 Die Berater befürworteten zwar die Einrichtung von speziellen Jugendstrafanstalten, konnten sich aber mit anderen Reformvorschlägen der Justiz – wie der vorzeitigen Entlassung schwer erkrankter Häftlinge – nicht anfreunden (siehe Kap. 2.3.1). »Den sowjetischen Justizoffizieren, die aus ihrer Heimat einen sehr viel schonungsloseren Umgang mit Häftlingen gewohnt waren, ging die Tendenz von Gentz, den Strafvollzug menschlich zu gestalten, letztlich 197  Vgl. Hilger, Andreas; Petrow, Nikita: »Im Namen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken«. Sowjetische Militärjustiz in der SBZ/DDR von 1945 bis 1955. In: Roginskij, Arsenij; Drauschke, Frank; Kaminsky, Anna (Hg.): »Erschossen in Moskau …« Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953. Berlin 2005, S. 19–35, hier 25. 198  Vgl. Engelmann, Roger: Diener zweier Herren. Das Verhältnis der Staatssicherheit zur SED und den sowjetischen Beratern 1950–1959. In: Suckut, Siegfried; Süß, Walter (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 8). Berlin 1997, S. 51–72. 199  Dagegen konstatiert Möhler einen »nur geringen Einfluß« der Besatzungsmacht auf die Strafvollzugspolitik in den ostdeutschen Ländern. Möhler, Rainer: Der DDR-Strafvollzug zwischen Sowjetisierung und deutscher Tradition: Die Ministerratsverordnung vom 16. November 1950. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (2004) 4, S. 336–357, hier 340. 200  Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 76 f.; Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 41. 201  Vgl. Niederschrift der Besprechung vom 18.6.1949; BArch DP 1/30200; zit. nach: Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 88. 202  Vgl. Foitzik, Jan: Sowjetische Ordnungspolitik und deutsche Ordnungsambitionen. In: ders. (Hg.): Sowjetische Kommandanturen und deutsche Verwaltung in der SBZ und frühen DDR. Dokumente. Berlin 2015, S. 99–254, hier 221. 203  Vgl. Pinerová, Klára: Vergleich der Strafvollzugssysteme in der Tschechoslowakei und der DDR in den 1950er Jahren. In: Rezník, Milos; Rosenbaum, Katja (Hg.): Die ČSSR und die DDR im historischen Vergleich. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier staatssozialistischer Systeme in Mitteleuropa. Leipzig 2013, S. 94–111, hier 104. 204  Vgl. Harpprecht, Klaus: Harald Poelchau. Ein Leben im Widerstand. Reinbek 2004, S. 199.

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zu weit.«205 1948/49 führte dies zum »Aufweichen des Reformkonzepts« und zur stärkeren Betonung des Arbeitseinsatzes Gefangener.206 Weil angesichts dieser Linie das Konzept eines »humanen Strafvollzugs« chancenlos zu sein schien, quittierte Gentz’ Referent für Grundsatzfragen Harald Poelchau schon im April 1949 den Dienst.207 Die Volkspolizei galt demgegenüber als Garant für die sichere und strenge Verwahrung der Inhaftierten. Im Bereich der Inneren Verwaltung kann anfänglich von einer »gemischten deutsch-sowjetischen Verwaltung« mit »sowjetischer Prädominanz« gesprochen werden.208 Der Präsident der Deutschen Verwaltung des Innern, Erich Reschke, wurde zwar im Jahre 1948 abgelöst und zwei Jahre später »durch die Sicherheitsorgane der Freunde« verhaftet,209 doch sein zwischen 205  Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 216 u. 218 f. Siehe auch Alisch: Beispiel Cottbus, S. 21. 206  Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 71. 207 Harald Poelchau hatte sich während des Nationalsozialismus als Gefängnispfarrer in der Strafanstalt Berlin-Tegel sowie in Brandenburg-Görden für politisch Verfolgte eingesetzt, illegal ihre Nachrichten transportiert, Lebensmittel eingeschleust und zum Tode Verurteilten Trost gespendet. Nahezu als einziger aus der Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises überlebte er die Verfolgung der Attentäter vom 20. Juli 1944. Vgl. Harpprecht: Poelchau, S. 190 u. 193; Krebs, Albert: Begegnungen mit Harald Poelchau. Ein Erlebnisbericht. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe (1989) 2, S. 67–73; Poelchau, Harald: Die Ordnung der Bedrängten. Autobiographisches und Zeitgeschichtliches seit den zwanziger Jahren. Berlin 1963; Wald, Ed[uard]: Die Tätigkeit der politischen Gefangenen des Zuchthauses Brandenburg-Görden und ihre Befreiung (im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der ehem[aligen] pol[itischen] Gefangenen des Zuchthaues Brandenburg) von Juni/Juli 1945, 24 S.; BArch DY 30/IV 2/10.02 62. Poelchau wurde nach seiner Demission wieder Gefängnispfarrer in Berlin-Tegel. Vgl. Poelchau: Die Ordnung der Bedrängten, S. 105 u. 110. 208  Vgl. Foitzik, Jan: Sowjetische Militäradministration in Deutschland 1945–1949. Struktur und Funktion. Berlin 1999, S. 346. 209 Reschke blieb bis 1955 in Haft. Vgl. u. a. Aktenvermerk der Abteilung XXII vom 21.7.1978; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 110/61, Bl. 16. Erich Reschke, Jahrgang 1902, war bereits 1922 der KPD beigetreten und im Folgejahr am Hamburger Aufstand beteiligt. Im Jahre 1933 war er von den Nationalsozialisten verhaftet worden und blieb bis 1945 inhaftiert. Als Funktionshäftling in Buchenwald (»Lagerältester«) fungierte er im Auftrag der SS als »Mann fürs Grobe«. Vgl. Niethammer, Lutz (Hg.): Der »gesäuberte Antifaschismus«. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Berlin 1994, S. 108–109; Hartewig, Karin: Wolf unter Wölfen? Die prekäre Macht der kommunistischen Kapos im Konzentrationslager Buchenwald. In: Herbert, Ulrich; Orth, Karin; Dieckmann, Christoph (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Bd. 2. Göttingen 1998, S. 939–958, hier 955. Nach dem Krieg hatte ihn die SMAD mit dem Aufbau der Landespolizei in Thüringen beauftragt, bevor er 1946 Chef der Deutschen Verwaltung des Innern wurde. Abgelöst wurde er in der Folge sowjetischer Untersuchungen über die KPD-Häftlingsorganisation in Buchenwald. In der Zeit 1948/49 war er Mitarbeiter der Zentralen Kontrollkommission und 1950 kurzzeitig Leiter der Strafvollzugsanstalt Bautzen I, bevor er schließlich verhaftet, von einem sowjetischen Militärtribunal zu lebenslänglicher Haft verurteilt und nach Workuta deportiert wurde. Vgl. Fricke: Strafvollzug in Bautzen, S. 118–186, hier 136 f. Nach Rehabilitierung durch die Zentrale Kaderkommission beim ZK der SED im Jahre 1956 wurde er auf Fürsprache von Hermann Matern als Major bei der Verwaltung Strafvollzug eingestellt, wo er bis zu seiner Berentung im Jahre 1962 arbeitete. Als treuer »Parteisoldat« stellte er der Staatssicherheit Ende der 70er-Jahre seine Wohnung auf Anfrage sofort als konspirative

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1948 und 1950 amtierender Nachfolger, der machtbewusste Kurt Fischer, pflegte als vormaliger Agent der sowjetischen Militärspionage (GRU) gute Kontakte zur Sowjetischen Militäradministration.210 Auch der Chef der brandenburgischen Landespolizei, Richard Staimer, stand der Besatzungsmacht nahe und galt als politisch zuverlässig.211 Aufgrund der genannten Vorbehalte erwog die Besatzungsmacht schon seit Anfang 1946 strukturelle Veränderungen im ostdeutschen Gefängniswesen und wollte die Strafvollzugsanstalten der Volkspolizei übergeben, entschied sich jedoch »fürs Erste« gegen eine solche Neuordnung.212 Im März 1948 überlegten Besatzungsmacht und SED-Führung erneut, den Strafvollzug Teils der Justiz zu entziehen,213 und im Sommer 1948 stritten Besatzungsmacht und deutsche Justizverwaltung über die Modalitäten der Untersuchungshaft.214 Mit der Gründung der DDR im Oktober 1949 trat die Sowjetische Kontrollkommission dann die Nachfolge der Sowjetischen Militäradministration an und fungierte »faktisch [als] ›Überregierung‹« in Ostdeutschland.215 Eine wichtige Entscheidung der sowjetischen Seite im Einvernehmen mit der SEDFührung im Vorfeld der Staatsgründung war, die Speziallager aufzulösen und einen Teil der Insassen in DDR-Haftanstalten zu übernehmen (siehe Kap. 2.6.2). Sollten einzelne dieser Häftlinge in den Folgejahren aus den Sonderhaftanstalten vorzeitig Wohnung zur Verfügung. Vgl. Bericht der Abteilung XXII über die erfolgte Kontaktierung des IM-Kandidaten »Stern« vom 27.9.1977; BStU, MfS, AIM, Nr. 991/80, Bl. 72 f.; Vorschlag zur Werbung einer IMK (KW) vom 6.10.1977; ebenda, Bl. 74–78. 210  Vgl. u. a. Richter, Michael; Schmeitzner, Mike: »Einer von beiden muß so bald wie möglich entfernt werden.« Der Tod des sächsischen Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs vor dem Hintergrund des Konfliktes mit Innenminister Kurt Fischer 1947. Leipzig 1998, S. 79. Auch sein späterer Nachfolger Friedrich Dickel arbeitete zuvor als Agent der sowjetischen Auslandsspionage (GRU). Vgl. Herbst, Andreas: Friedrich Dickel – GRU-Agent, NVA-General und Innenminister der DDR. In: Ehlert, Hans; Wagner, Armin (Hg.): Genosse General. Die Militärelite der DDR in biographischen Skizzen (Militärgeschichte der DDR, 7). Berlin 2003, S. 191–208. 211 Richard Staimer, Funktionär der KPD und Mitarbeiter des parteieigenen Sich­er­heits­ap­ pa­rates, war vor 1933 in der Sowjetunion militärisch ausgebildet worden, kom­man­dier­te dann im Spanischen Bürgerkrieg das sogenannte Thälmann-Bataillon und un­ter­richtete während des Zwei­ten Weltkrieges an Antifa-Schulen. Vgl. Kotsch, Detlef: Kar­rie­re­wege in Brandenburg nach dem Zweiten Weltkrieg. Entstehung und Etablierung der neuen Eli­ten in den Jahren 1945–1960. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 47. Berlin 1996, S. 149–191, hier 171. Au­ßerdem war er der Schwiegersohn des Staatspräsidenten Wilhelm Pieck. Vgl. Fingerle, Stephan: Waf­fen in Arbeiterhand? Die Rekrutierung des Offi­ziers­korps der NVA und ihrer Vorläufer. Berlin 2001, S. 60; BStU, MfS, HA IX/11, SiVo, Nr. 1/81 Bd. 280, Bl. 10–20. 212  Vgl. Vermerk von Gentz an Schiffer vom 26.2.1946; BArch DO1 11/1586, Bl. 10. 213  Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 141. 214  Vgl. den entsprechenden Schriftverkehr zwischen Gentz und der Sowjetischen Militäradmi­ ni­stra­tion, der ohne präzisen Quellenbeleg wiedergegeben ist bei Oleschinski, Brigitte: Strafvollzug in Deutschland vor und nach 1945. In: Neue Justiz (1992) 2, S. 65–68, hier 68. 215  Vgl. Lemke, Michael: Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949–1961. Berlin 2001, S. 41.

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freigelassen werden, wollte die sowjetische Seite konsultiert werden, beantwortete konkrete Anfragen jedoch oft ausweichend oder gar nicht. So mochte die DDRSeite beispielsweise im Oktober 1950 nur nach Rücksprache mit der Sowjetischen Kontrollkommission 283 ehemalige jugendliche Insassen der Speziallager vorzeitig entlassen.216 Ebenfalls mit Blick auf die Deutschlandpolitik wies die sowjetische Seite im November 1951 an, dass nur »in strenger Übereinstimmung mit den in der DDR gültigen Gesetzen« verhaftet werden dürfe und die Staatssicherheit Auskunftsbüros einrichten solle, in denen Familienangehörige die Namen Verhafteter erfragen können.217 Bis mindestens 1954 führten die sowjetischen Berater auch noch eigene Kontrolleinsätze in den Haftanstalten durch, in denen vormalige Speziallagerinsassen inhaftiert waren.218 Im Jahre 1955 erhielten die ostdeutschen Behörden jedoch die volle Verfügungsgewalt über die ehemals von Sowjetischen Militärtribunalen Verurteilten. Der sowjetische Einfluss auf die Strafvollzugspolitik der DDR ließ in dieser Phase merklich nach, da sich die SED-Führung mit sowjetischer Billigung von Moskau »emanzipierte«. So war im Zuge des »beschleunigten Aufbaus des Sozialismus« im Jahre 1952 noch begonnen worden, nach Vorbild des sowjetischen Gulags auch in der DDR ein Netz von Haftarbeitslagern für unzählige Gefangene zu errichten.219 In den Jahren 1953/54 vollzog das Zentralkomitee indes einen Richtungswechsel und wies die Hauptabteilung Strafvollzug an, sich »unbedingt der Erziehung der langfristig verurteilten Strafgefangenen anzunehmen«. Auch die Sowjetunion, die selbstverständlich als Orientierungshilfe diente, habe »das Hauptaugenmerk auf diese Kategorie von Gefangenen gelegt. Alle Langbestraften kommen dort in die Arbeitserziehungslager, weil die Frage der Umerziehung ein schwieriger und langfristiger Prozess ist. Die Kurzbestraften dagegen verbüßen ihre Strafe in festen Anstalten, ähnlich wie wir es bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik haben.« Diese Praxis lasse sich aber »unter den derzeitigen Verhältnissen der Spaltung Deutschlands« nicht aufrechterhalten. Damit war wohl gemeint, 216  »Eine solche Begnadigungsaktion für Jugendliche sollten wir in den Schwung des Parteitages hineinbringen. Die Initiative in diesen Dingen muss bei uns bleiben. Wir dürfen es keinesfalls der NPD oder gar der Kirche überlassen, und es könnte uns nichts Unangenehmeres passieren, als wenn Begnadigungen nach außen hin als ein Erfolg von [Otto] Dibelius oder Propst Grüber in Erscheinung treten«, wie der zuständige Staatssekretär im Ministerium des Innern Hans Warnke seinerzeit die Winkelzüge des SED-Regimes beschrieb. [Schreiben verm. von Warnke an Grotewohl] betr. Internierungen vom 16.6.1950; BArch NY 4090/440, Bl. 88 f. 217  Russische Anweisung o. D. [vermutlich 11/1951]; BArch NY 4090/301, Bl. 75 f.; zit. nach: Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 530. 218  Vgl. Aktennotiz über eine Besprechung bei Walter Ulbricht am 8.1.1954; BArch DY 30/IV 2/12/119, Bl. 1–9; abgedruckt in: Hoffmann, Dierk; Schmidt, Karl-Heinz; Skyba, Peter (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949–1961. München 1993, S. 197–203. 219  Vgl. Wunschik, Tobias: Die Befreiung der Gefangenen im Juni 1953. In: Engelmann, Roger; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953 (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 27). Göttingen 2005, S. 175–204.

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dass man im Herzen Europas keinen Gulag würde errichten können. Außerdem sah sich die sowjetische Führung, die in dieser Sache gewiss konsultiert worden war, mit massenhaften Aufständen in ihren Gefangenenlagern konfrontiert.220 Dieses Unruhepotenzial wollte man im ostdeutschen Satellitenstaat, gerade nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953, unbedingt vermeiden. Nicht von ungefähr kritisierten die sowjetischen Chefberater im Ministerium des Innern Anfang 1954 auch, die Außenkommandos würden »völlig ungenügend bewacht«, was »Entweichungen von Gefangenen größerer Zahl« zur Folge habe, und die Aufseher würden auch nicht genügend Distanz zu den Insassen wahren.221 Der DDR-Strafvollzug, so entschied das Zentralkomitee daher nun, müsse »im Gegensatz zur Methode der Sowjetunion die Erziehung langfristig Verurteilter in festen Strafvollzugsanstalten« durchführen. Die politischen und renitenten Gefangenen gelte es in gesonderte Gefängnisse einzuweisen, »in denen die Durchführung des Strafvollzugs unter den Bedingungen einer schweren körperlichen Arbeit erfolgt«.222 Die politischen Gefangenen in festen Gebäuden statt in Lagern unterzubringen, minimierte auch deren Chancen angesichts der nahen innerdeutschen Grenze bis in den Westen zu flüchten. Deswegen verboten sich auch für minderschwere Delikte »Sondersiedlungen« sowjetischen Typs, wie Ulbricht im August 1961 gegenüber Chruschtschow ausführte (»natürlich haben wir [in der DDR] kein Sibirien«).223 Dass die ostdeutsche Gefängnisverwaltung das sowjetische Modell nicht mehr blindlings übernahm, zeugt von ihrem wachsenden Handlungsspielraum.224

220  Vgl. Foitzik, Jan; Henning, Horst (Hg.): Begegnungen in Workuta. Erinnerungen, Zeugnisse, Dokumente. Leipzig 2003; Stettner, Ralf: »Archipel GULag«. Stalins Zwangslager – Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Paderborn 1996, S. 345–354. 221  Aktennotiz über eine Besprechung bei Walter Ulbricht am 8.1.1954; BArch DY 30/IV 2/12/119, Bl. 1–9; abgedruckt in: Hoffmann; Schmidt; Skyba (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau, S. 197–203. 222  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung SV vom 9.8.1954; BArch DO1 11/1589, Bl. 172. 223  Gespräch Chruschtschows mit Ulbricht am 1.8.1961; RGANI [Russisches Staatsarchiv für zeitgenössische Geschichte], fond 52, opis‘ 1, delo 557, Bl. 129–147; abgedruckt bei: Wettig, Gerhard (Hg.): Chruschtschows Westpolitik 1955–1964. Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen, Bd. 3: Kulmination der Berlin-Krise (Herbst 1960 bis Herbst 1962). München 2011, S. 295–313. 224  Vgl. Engelmann, Roger: Aufbau und Anleitung der ostdeutschen Staatssicherheit durch sowjetische Organe 1949–1959. In: Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Schmidt, Ute (Hg.): Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden kommunistischer Machtsicherung in der SBZ/ DDR 1945–1955 (Hannah-Arendt-Institut. Berichte und Studien, 35). Dresden 2001, S. 55–64.

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2.2.2 Der Einfluss der SED-Führung auf die Strafvollzugspolitik Der wichtigste Verbündete der sowjetischen Führung bei der Festigung ihrer Herrschaft in Ostdeutschland war die KPD bzw. SED, der die sowjetische Seite sukzessive Macht und Einfluss übertrug und ihr maßgeblichen Einfluss auf die Errichtung einer staatlichen Verwaltung in Ostdeutschland einräumte. »Die Beherrschung des Staates und seine Instrumentalisierung für die Zwecke der Parteiführung« avancierte »zum vorrangigen Ziel«.225 Die allmähliche Durchsetzung der »führenden Rolle« der SED in der Gesellschaft ging Hand in Hand mit innerparteilicher Zentralisierung und Säuberung der eigenen Reihen.226 So bestärkte die Sowjetische Militäradministration die Parteiführung darin, nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD ihre innerparteilichen Gegner auszuschalten, um die Verlässlichkeit ihres Bündnispartners zu zementieren.227 Mit der forcierten Stalinisierung der SED im Jahre 1948 wuchs der Parteiführung immer mehr Macht zu und die innerparteiliche Demokratie bestand nur mehr auf dem Papier, in grober Missachtung des eigenen Statuts.228 Gemäß dem sogenannten Prinzip des »demokratischen Zentralismus« sollten keine Fraktionen und Gruppierungen geduldet und alle nachgeordneten Parteiinstanzen dazu verpflichtet werden, die Beschlüsse der Parteizentrale zu übernehmen und umzusetzen. Deswegen führte die Partei im März 1949 auch das System der Kadernomenklatur ein, demzufolge der SED-Führung alle leitenden Funktionen in Staat und in den Massenorganisationen zur Bestätigung unterbreitet werden mussten. Dies bedeutete, dass »über sämtliche Positionen von oben nach unten bestimmt wurde«.229 So bildete die SED-Spitze letztlich den »Dreh- und Angelpunkt aller Macht­ ausübung« im Osten Deutschlands.230 Sie konnte sich im Konfliktfall »immer durchsetzen« und alle politischen Entscheidungen »wurden entweder ex ante von der Partei getroffen oder waren ex post von ihr zu bestätigen«.231 Im Denken der Parteioberen herrschte dabei die Vorstellung einer Einheit von Partei und Staatsmacht, dessen Verwaltungshandeln die SED-Führung folglich zu bestimmen 225  Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR. München 1998, S. 420. 226  Vgl. Foitzik: Sowjetische Militäradministration, S. 383. 227  Vgl. Weber, Hermann: Geschichte der DDR. München 1999, S. 119. 228  Vgl. Malycha, Andreas; Winters, Peter Jochen: Die SED. Geschichte einer deutschen Partei. München 2009, S. 40–41. 229  Weber: Geschichte der DDR, S. 120 f. 230  Vgl. Jessen, Ralph: Partei, Staat und ›Bündnispartner‹: Die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur. In: Judt, Matthias (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Berlin 1997, S. 27–86, hier 27. 231  Lepsius, M. Rainer: Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR. In: Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen; Zwahr, Hartmut (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 17–30, hier 18 f.

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suchte.232 Institutionell bestand die Parteispitze aus dem Zentralkomitee, dem Sekretariat des Zentralkomitees der SED und dem Politbüro. Die beiden Letztgenannten waren die eigentlichen Machtzentren der SED, während das Zentralkomitee lediglich deren Entscheidungen durch Beschluss zu legitimieren hatte und zuletzt nur mehr akklamatorische Funktionen erfüllte. Das Politbüro diente gemäß Parteistatut zur politischen Anleitung der Arbeit des Zentralkomitees zwischen den Parteitagen, doch seine Beschlüsse hatten »faktisch Gesetzeskraft«. Es konnte nicht nur die Besetzung von Spitzenämtern in Partei, Staat und Gesellschaft diktieren (Personalkompetenz), sondern auch die Zuständigkeiten verteilen (die sogenannte Kompetenzkompetenz).233 Von Bedeutung für die »Sicherheitsorgane« und damit auch für Volkspolizei und Strafvollzug war darüber hinaus die 1953 gegründete Sicherheitskommission des Zentralkomitees (ZK), die 1960 in den Nationalen Verteidigungsrat umgewandelt wurde, ihrem Wesen nach jedoch ein Parteigremium blieb.234 In der Praxis liefen die Fäden bei Walter Ulbricht zusammen, der allen zentralen Führungsgremien der Partei angehörte: dem Parteivorstand (bzw. ab 1950 dem Zentralkomitee), dem Zentralsekretariat und ab 1949 dem Politbüro und dem Kleinen Sekretariat bzw. seit 1950 dem Sekretariat des Zentralkomitees der SED. Als »Virtuose der Macht« verstand er es, sich mit hoher Durchsetzungskraft, ja geradezu »äußerster Brutalität«, eine deutlich herausgehobene Position zu erkämpfen.235 Er verfügte über den notwendigen Machtinstinkt, der ihm bei der Ausschaltung innerparteilicher Rivalen von Nutzen war.236 Außerdem übte er in Personalunion das staatliche Amt des Stellvertreters des Vorsitzenden des Ministerrats aus. »Mithilfe des Sekretariats beherrschte Ulbricht zunehmend den zentralen Parteiapparat und konnte mittels dessen wiederum Einfluss auf [...] den Verwaltungsapparat, die Polizei usw. nehmen.«237 Aufgrund einer gewissen Überheblichkeit gegenüber Leonid Breschnew sowie vor dem Hintergrund enormer wirtschaftlicher Schwierigkeiten verlor Ulbricht 1969/70 den Rückhalt der sowjetischen Führung.238 Sein Nachfolger und einstiger Schützling Erich Honecker vereinigte ebenfalls die drei bedeutendsten Partei- und 232  Vgl. Lemke: Einheit oder Sozialismus?, S. 37. 233  Schroeder: Der SED-Staat, S. 397; Weinreich, Bettina: Strafjustiz und ihre Politisierung in der SBZ/DDR bis 1961. Frankfurt/M. 2005, S. 88. 234  Vgl. Wagner: Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED, S. 175–190 u. 320. 235  Vgl. Frank, Mario: Walter Ulbricht. Eine deutsche Biographie. Berlin 2001, S. 215–219. 236  Vgl. u. a. Görldt, Andrea: Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser. Ihre Konflikte in der SED-Führung im Kontext innerparteilicher Machtsicherung und sowjetischer Deutschlandpolitik. Frankfurt/M. 2002. 237  Kaiser, Monika: Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972. Berlin 1997, S. 30. 238  Vgl. Malycha, Andreas: Die SED in der Ära Honecker. Machtstrukturen, Entscheidungs­ mechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei 1971 bis 1989. München 2014, S. 46–66.

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Staatsfunktionen in seiner Hand – ab 1971 als Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates sowie ab 1976 auch als Vorsitzender des Staatsrates. Der Generalsekretär verfügte als »faktischer Leiter des Politbüros [...] über die größte Machtfülle«.239 Er agierte meist mit Billigung der sowjetischen Führung und bildete mit einigen Angehörigen des ZK-Apparates und Mitgliedern des Politbüros einen Führungszirkel, der in der Praxis selbst vom Politbüro nicht kontrolliert wurde,240 dem im Allgemeinen »beherrschenden […] Führungsorgan nicht nur der SED, sondern auch der staatlichen Verwaltung«.241 Honecker hatte so »die letzte Entscheidungsbefugnis« in allen wichtigen politischen Fragen inne.242 Unter seiner Ägide wurde zwar stärker auf die Rechtsförmigkeit staatlicher Repression geachtet, mit insgesamt fünf Strafrechtsergänzungsgesetzen in den Siebziger- und Achtzigerjahren das überkommene Feindstrafrecht jedoch weitgehend fortgeführt und im Kern der Politikvorbehalt im Bereich der Rechtsausübung aufrechterhalten.243 Gemäß ihrem Statut war die Partei die »führende Kraft der sozialistischen Gesellschaft« und bestimmte alle Felder der Politik,244 darunter die zur Herrschaftsausübung besonders wichtigen Bereiche Justiz, Polizei und Gefängniswesen. Die SED-Führung steuerte die Justizpolitik, beeinflusste teilweise die Urteilsfindung der Gerichte,245 befand über Amnestien246 und entschied über Verhängung sowie Aufhebung von Todesurteilen.247 Auch für die Volkspolizei und das Organ Strafvollzug sollte die »Führung durch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands« die »wichtigste Quelle« ihrer »Stärke und Kraft« sein.248 »Alle grundsätzlichen Fragen über Bestand, Aufgaben und 239  Weber: Geschichte der DDR, S. 322. 240  Vgl. Malycha: Die SED in der Ära Honecker, S. 26 u. 74. 241  Vgl. ebenda, S. 73. 242  Schroeder: Der SED-Staat, S. 395. 243  Vgl. u. a. Weinke, Annette: Strafrechtspolitik und Strafrechtspraxis in der Honecker-Ära. In: Ansorg, Leonore u. a. (Hg.): »Das Land ist still – noch!« Herrschaftswandel und politische Gegner­ schaft in der DDR (1971–1989) (Zeithistorische Studien, 41). Köln 2009, S. 37–55, hier 40–42. 244  Vgl. Herbst, Andreas; Stephan, Gerd-Rüdiger; Winkler, Jürgen (Hg.): Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Berlin 1997. 245  Vgl. Roggemann, Herwig: Gutachterliche Stellungnahme – Lenkungsmechanismen der DDR-Justiz, insbesondere im Hinblick auf die Richter und Staatsanwälte, in den siebziger Jahren. In: Rottleuthner, Hubert (Hg.): Das Havemann-Verfahren. Das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) und die Gutachten der Sachverständigen Prof. H. Roggemann und Prof. H. Rottleuthner. Baden-Baden 1999, S. 209–334, hier 254. 246  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 300–358; Weinreich: Strafjustiz und ihre Politisierung, S. 146–152. 247  Vgl. Werkentin, Falco: »Souverän ist, wer über den Tod entscheidet«. Die SED-Führung als Richter und Gnadeninstanz bei Todesurteilen. In: Deutschland Archiv 31 (1998) 2, S. 179–195. 248  Vgl. Instruktion für die Parteiarbeit der SED in der Deutschen Volkspolizei und der anderen Organe des Ministeriums des Innern (Beschluss des Sekretariats des ZK vom 10.1.1968); BArch DY 30 J IV 2/3–1363.

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Entwicklung der Organe des Ministeriums des Innern«, so wurde im Herbst 1953 zweifelsfrei festgelegt, »sind dem Politbüro zur Beschlussfassung zu unterbreiten. [...] Alle Beschlüsse des Politbüros [...] sind im Bereich des Ministeriums des Innern durch Befehl des Ministers des Innern in Kraft zu setzen.«249 In der Justizpolitik hatte sich Ulbricht die Kompetenzen auf dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD im April 1946 eigentlich mit dem SPD-Mann Max Fechner geteilt.250 Doch schon der Chef der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz, Eugen Schiffer, wurde von der SED-Führung und der Sowjetischen Militäradministration im Jahre 1948 aus dem Amt gedrängt251 und sein Nachfolger Fechner stolperte über ein unbotmäßiges Interview nach dem Volksaufstand vom 17. Juni. Die ostdeutsche Justizverwaltung verlor ab 1948 gegenüber SED-Führung und Besatzungsmacht jeglichen Restbestand an Unabhängigkeit und übte sich zunehmend in vorauseilendem Gehorsam.252 Der Strafvollzug ging in den Jahren 1950 bis 1952 von der Justiz in die Zuständigkeit des Innenressorts über (siehe Kap. 2.3.1 und 2.6.2). Dies bedeutete eine Richtungsentscheidung der Staatsführung, denn die Justizverwaltung hatte sich um Reformierung und Liberalisierung des Strafvollzugs bemüht. Die SED konnte damit ihren Einfluss auf die Strafvollzugspolitik festigen, denn in allen Angelegenheiten des Innenministeriums hatte sich die Partei ein besonderes Mitspracherecht gesichert.253 Dass man zur Übertragung des Strafvollzugs eine Verordnung in Kraft setzte254 statt ein Gesetz zu verkünden, wie die DDRVerfassung es vorschrieb, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Intentionen des Regimes.255 249  Vgl. Protokoll Nr. 68/53 der Sitzung des Politbüros vom 8.9.1953 (mit Anlagen); BArch DY 30 J IV 2/2–322. 250  Vgl. Amos, Heike: Justizverwaltung in der SBZ/DDR. Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre. Köln 1996, S. 76. 251  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 105–111. 252  Vgl. ebenda, S. 234–250; Bordjugov, Gennadij A.: Die Rechtsabteilung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (1945–1949). In: Bender, Gerd; Falk, Ulrich (Hg.): Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45–1989), Bd. 2: Justizpolitik (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 114). Frankfurt/M. 1999, S. 55–82. 253  Vgl. Naimark, Norman M.: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949. Berlin 1997, S. 451. 254  Vgl. Verordnung zur Übertragung der Geschäfte des Strafvollzugs auf das Ministerium des Innern der DDR vom 16.11.1950; GBl. der DDR Nr. 133 vom 16.11.1950, S. 1165 f. 255  Artikel 115 der Verfassung der DDR schrieb vor, dass »die Republik [nur] durch Gesetz eigene Verwaltungen einrichten« könne. Mittels einer Verordnung jedoch konnte man unauffälliger in die Kompetenz der Länder eingreifen, denen die Errichtung einer neuen Verwaltung eigentlich oblegen hätte. Vgl. Verordnung zur Übertragung der Geschäfte des Strafvollzugs auf das Ministerium des Innern der DDR vom 16.11.1950; ebenda. Wenn ein »offensichtliches Abweichen von der Verfassung vermieden werden soll, so ließe sich das nur in der Form durchführen, dass zunächst beim Innenministerium eine Dienststelle gebildet wird, welcher weitgehende Aufsichts- und Kontrollbefugnisse über den Strafvollzug der Länder übertragen werden könnten. Diese Befugnisse

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Der großangelegte Arbeitseinsatz der Gefangenen war dann in der Folgezeit die wichtigste Frage in der Strafvollzugspolitik, die auf formellem oder informellem Wege der Zustimmung der Parteispitze bedurfte. So trug beispielsweise die oberste Gefängnisverwaltung 1953 ihre volkswirtschaftlich bedeutsame Konzeption für die Verwendung der Häftlinge in aller Ausführlichkeit der im August des gleichen Jahres gebildeten Abteilung für Sicherheitsfragen des Zentralkomitees der SED vor und ließ sich vom Leiter dieser Abteilung, Gustav Röbelen, der den Dienstrang eines Chefinspekteurs, später eines Generalmajors der Volkspolizei hatte, die vorgelegten Pläne absegnen.256 Es war erneut die Abteilung Sicherheitsfragen, die 1966 den Entschluss fasste, in der Verwaltung Strafvollzug eine Abteilung Ökonomie zu bilden, die den Arbeitseinsatz der Gefangenen zentral planen und die korrekte Abrechnung von Fonds zwischen den Arbeitseinsatzbetrieben und dem Organ Strafvollzug sicherstellen sollte.257 Solche Strukturveränderungen bedurften stets eines Plazets der Abteilung Sicherheitsfragen (sowie des Ministeriums für Staatssicherheit).258 Die SED-Führung nahm jedoch auch auf die Haftbedingungen im engeren Sinne Einfluss. So stellte Anton Plenikowski, Leiter der Abteilung Staatliche Verwaltung im Zentralkomitee der SED, im Mai 1952 auf einer Arbeitstagung des Gefängniswesens klar, dass »nicht arme bedauernswerte Menschen in Haft sitzen. Darum müsse mal mit der Humanitätsduselei Schluss gemacht werden.«259 Mit solchen Maßgaben förderte die Partei das harte Vorgehen der Aufseher und ihre Unduldsamkeit gegenüber den Häftlingen. Die SED-Führung sorgte so im Spätsommer 1960 auch dafür, dass fortan keine politischen Gefangenen mehr als Kalfaktoren eingesetzt werden durften, wodurch sie stärker dem Einfluss krimineller Mitinsassen unterlagen (siehe Kap. 3.2.4). Dass die SED-Führung die Haftbedingungen bis ins Detail bestimmte, geht auch aus einer Vorlage der Abteilung Sicherheitsfragen für das Zentralkomitee aus dem Jahre 1966 könnten dann im Laufe der Zeit durch Dienstanweisung derart erweitert werden, dass von der Länderverwaltung hinsichtlich des Strafvollzugs nichts übrig bleibt.« Vermerk der Hauptabteilung Gesetzgebung des Ministeriums der Justiz o. D. [8/1950]; BArch DO1 11/1586, Bl. 68 f. Tatsächlich verlief die Neuordnung der Zuständigkeiten im ostdeutschen Gefängniswesen diesem Drehbuch entsprechend. 256  Vgl. BArch DO1 11/1583. Röbelen wurde allerdings wegen seines chaotischen Arbeitsstils schon 1956 wieder von dieser Funktion abberufen. Vgl. Hagemann, Frank: Parteiherrschaft in der NVA. Zur Rolle der SED bei der inneren Entwicklung der DDR-Streitkräfte (1956–1971) (Militärgeschichte der DDR, 5). Berlin 2002, S. 27. 257  Vgl. Schreiben des Mitarbeiters der Verwaltung Strafvollzug Oberstleutnant des SV KarlHeinz Franke an die Abteilung Sicherheit des ZK der SED vom 31.5.1989; BArch DY 30/1083, Bl. 168–174. 258  Vgl. Schreiben von Wansierski an Mielke vom 22.2.1967; BStU, MfS, SdM, Nr. 1094, Bl. 272; Schreiben von Mielke an Genossen Wansierski vom 3.3.1967; ebenda, Bl. 271. 259  Einschränkend fügte er aber hinzu: »Trotzdem soll jede Schärfe vermieden werden und in jedem Häftling der Mensch gesehen werden.« Protokoll der Arbeitstagung am 3. Mai 1952 zur Vorbereitung der Übergabe der Justizhaftanstalten vom 6.5.1952; BArch DP 1–295, Bl. 18–21.

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hervor. Seinerzeit hielt man die Rechte der Gefangenen für »überbetont« und drängte darauf, »Erscheinungen der Liberalisierung zu überwinden« (siehe auch Kap. 3.2.6).260 In eine ähnliche Richtung zielte die Einflussnahme der Parteiführung bei der Ausarbeitung der neuen Strafvollzugsordnung von 1974 sowie auf weitere Entscheidungen zu den Haftbedingungen (siehe Kap. 3.2.9).261 Die Abteilung für Sicherheitsfragen und die Abteilung für Staats- und Rechtsfragen bemängelten nämlich am Entwurf der obersten Gefängnisverwaltung eine »zu großzügige« Honorierung gewünschten Verhaltens und kritisierten etwa den – ohnehin nur in Ausnahmefällen für Jugendliche im erleichterten Vollzug vorgesehenen – Hafturlaub von bis zu acht Tagen und den Besuch von Sportveranstaltungen.262 Den Wünschen der Parteiführung entsprechend wurden dann mehrere Bestimmungen im Entwurf der obersten Gefängnisverwaltung »ersatzlos gestrichen«. Immerhin folgten die Abteilung für Sicherheitsfragen und die Verwaltung Strafvollzug dem Vorschlag des Generalstaatsanwalts, die Isolationshaft auf drei Jahre zu begrenzen.263 Honecker wies dann sogar persönlich an,264 dass ein neues Strafvollzugsgesetz (StVG) ausgearbeitet werden sollte. Er gestaltete den ihm vorgelegten Entwurf dann sogar etwas großzügiger, indem er eine Passage tilgte, der zufolge ein Gefängnisleiter Sicherungsmaßnahmen auch nachträglich genehmigen könne, sowie einen Absatz strich, der Ausnahmen von der Haftunterbrechung für Schwangere gestattet hätte265 – weil eine Niederkunft in der Gefangenschaft jetzt grundsätzlich vermieden werden sollte (statt Frauen zu einer Abtreibung zu nötigen, wie es bis dahin üblich gewesen war und weiterhin möglich blieb).266 Dies entsprach dem wachsenden Interesse der SEDFührung international Anerkennung zu finden, weswegen der DDR-Strafvollzug möglichst wenig Angriffsfläche bieten sollte. Diese Erleichterungen des Haftregimes entsprangen in erster Linie diesen außenpolitischen Opportunitätserwägungen und waren weniger das Ergebnis wachsender Rechtsstaatlichkeit in der DDR.

260  Vgl. Vorlage der Abteilung für Sicherheitsfragen für das Sekretariat des Zentralkomitees über die Lage im Strafvollzug (mit Anlage 1–5) vom 26.10.1966; BArch DY 30 J IV 2/3 A–1390. 261  Vgl. Ordnung 107/75 des Ministers des Innern über die Durchführung des Vollzuges der Strafen mit Freiheitsentzug (Strafvollzugsordnung) vom 25.3.1975; BArch DO1 2.2./60944. 262  Schreiben der Abteilung für Sicherheitsfragen zum Entwurf der 1. Durchführungsbestim­ mung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugs­ ord­nung) vom 4.3.1975; BArch DO1 2.2./60945. 263  Vermerk [zu einer Besprechung der Abteilung für Sicherheitsfragen und der Verwaltung Straf­vollzug zum Entwurf der 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wie­der­ ein­gliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsordnung)] vom 10.3.1975; BArch DO1 2.2./60945. 264  Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 118 f. 265  Vgl. Arbeitsprotokoll der Sitzung des Politbüros am 15.3.1977; BArch DY 30 J IV 2/2, A 2051–2054; zit. nach: Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 119. 266  Vgl. Meyer: Humanmedizin unter Verschluß, S. 65 u. 286.

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Besonders deutlich zeigte sich der Führungsanspruch der Staatspartei bei der Entscheidung darüber, welchen (politischen) Gefangenen wieder die Freiheit zu schenken sei. So ließ sich Honecker ab 1973 die Namenslisten für den Häftlingsfreikauf vorlegen (siehe Kap. 5.6.5). Noch mehr Gefangene waren vom starken Einfluss der Staatspartei auf die allgemeinen Amnestien betroffen: Förmlich wurden diese vom Ministerrat bzw. dem 1960 gebildeten Staatsrat verkündet, letztlich aber vom Politbüro der SED, dem höchsten Entscheidungsgremium der Partei, beschlossen und dann durch die staatlichen Organe lediglich ausgeführt. Diese in unregelmäßigen Abständen gewährten Haftentlassungen waren ebenfalls zu einem Gutteil außenpolitischer bzw. innerdeutscher Rücksichtnahme geschuldet, sollten aber auch den Häftlingen deutlich vor Augen führen, dass ihr Schicksal vom Wohlwollen der Mächtigen in der SED abhing, was eine disziplinierende und insofern herrschaftssichernde Funktion hatte. Doch in Wirklichkeit gehorchten die massenhaften Entlassungen vor allem der Notwendigkeit, die oftmals überfüllten Haftanstalten zu leeren – und ermöglichten der (politischen) Justiz damit erst ihre strenge Spruchpraxis. Auf humanitäre Überlegungen basierten die Amnestien und Gnadenakte jedenfalls eher weniger, wenn auch – besonders in den Fünfziger- und Sechzigerjahren – die »Korrektur« einer vorangegangenen Strafrechtspraxis beabsichtigt war, die nicht mehr zur gegenwärtigen politischen Linie passte.267 Die Strafvollzugsverwaltung suchte in vorauseilendem Gehorsam gemäß den Wünschen der obersten Parteiführung zu handeln. Als beispielsweise im Juli 1961 begonnen wurde, ein neues Strafvollzugsgesetz auszuarbeiten, ersuchte Innenminister Maron den seinerzeit für Sicherheitsfragen zuständigen Sekretär Erich Honecker um Mitteilung, ob die Parteiführung die Entsendung eines ZK-Mitarbeiters in die anstehenden Beratungen »für notwendig« halte und bat darum, diesen namentlich zu benennen.268 Honecker antwortete, er halte es »nicht für zweckmäßig« einen Mitarbeiter des Zentralkomitees in die zuständige Kommission zu entsenden, diese solle lediglich die entsprechende Konzeption der Abteilung für Staats- und Rechtsfragen vorlegen.269 Auf eine unmittelbare Anleitung zu verzichten erwies sich jedoch als Fehler, denn in der Folgezeit kam es zu Kommunikationsproblemen. So wurde im Zusammenhang mit dem Rechtspflegeerlass unter anderem die Ausarbeitung von »Bestimmungen über den sozialistischen Strafvollzug und seine Ausgestaltung« gefordert. Der Ministerrat nannte in einem Beschluss vom 2. Mai 1963 als ausdrücklichen Termin hierfür das II. Quartal 1964. Das Ministerium des Innern interpretierte dies als Auftrag 267  Vgl. Werkentin, Falco: Justizkorrekturen als permanenter Prozeß – Gnadenerweise und Amnestien in der Justizgeschichte der DDR. In: Neue Justiz (1992) 12, S. 521–527, hier 521. 268  Vgl. Schreiben Marons an das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands z. Hd. Genossen Honecker o. D. [1961]; BArch DO1 11/1577, Bl. 114 f. 269  Vgl. Schreiben Honeckers an den Minister des Innern Karl Maron vom 8.7.1961; BArch DO1 32/47966.

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zur Ausarbeitung eines Strafvollzugsgesetzes und fertigte unter Beteiligung einer Vielzahl anderer Ministerien bis Juni 1963 einen entsprechenden Entwurf. Als dieser dem Staatsrat vorgelegt wurde, erklärte jedoch der Sektorenleiter in der Abteilung Staat und Recht des Zentralkomitees, Herbert Kern, dass lediglich an eine Ordnung oder Verordnung gedacht gewesen sei. Ein Strafvollzugsgesetz oder ein Ministerratsbeschluss hätten nicht vorbereitet werden müssen, weil der Staatsratserlass ja bereits alle wichtigen Fragen geregelt habe.270 Offenbar waren die Vorgaben der SED-Führung unpräzise gewesen oder die politischen Prioritäten hatten sich verschoben – und sie änderten sich abermals, denn bis 1968 wurde zusammen mit einem neuen Strafgesetzbuch dann doch ein Strafvollzugsgesetz formuliert (siehe Kap. 3.2.7). Damit die oberste Gefängnisverwaltung, so wie andere Zweige des Mi­nis­ te­riums des Innern, gemäß den Vorstellungen der Parteiführung handelte, nahm an den Kollegiumssitzungen des Ministeriums des Innern fast immer Bruno Wansierski teil, von 1959 bis 1976 zuständiger stellvertretender Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen. Er äußerte sich dort »fast zu jedem Ta­ges­ord­ nungspunkt« mit seiner »eigenwilligen Meinung«, was zu »gewissen kon­tro­ versen Auffassungen« mit Minister Dickel führte. Wansierskis Nachfolger Heinz Leube hingegen meldete sich kaum zu Wort.271 Auch an der alljährlichen Ta­ gung der obersten Strafvollzugsleitung mit den Chefs der Abteilungen Straf­ voll­zug und den Leitern der größeren Haftanstalten nahm ein Mitarbeiter der Ab­teilung Sicherheitsfragen teil. Selbst wenn dieser sich nicht unmittelbar »ein­ schal­tete«, zeitigte seine Anwesenheit vermutlich doch Wirkung. Mitarbeiter der Ab­teilung Sicherheitsfragen nahmen ferner an Wahlversammlungen der SEDGrund­organisation der Verwaltung Strafvollzug teil, wenn besondere Per­so­nal­ ent­scheidungen anstanden.272 Von großer Bedeutung waren auch die Vor-Ort-Kontrollen in wichtigen Haft­ an­stalten (so auch in Brandenburg-Görden) durch Brigadeeinsätze der Partei. Da­bei wurde meist die Sicherheit der Haftanstalt überprüft, die Parteiarbeit ein­ge­schätzt und die korrekte Durchführung der Amnestiebeschlüsse kon­trol­ liert. Besonders in den Jahren 1959 bis 1961, als das Organ Strafvollzug bei der obersten Parteiführung sehr in der Kritik stand (siehe Kap. 3.2.4) und in Brandenburg-Görden der neue Anstaltsleiter Fritz Ackermann zunächst keine gute Figur machte (siehe Kap. 2.6.6), war die Anleitung der SED-Führung in

270  Vgl. BArch DO1 32/47967; Protokoll Nr. 12/63 über die Beratung des Kollegiums [des Ministeriums des Innern] am 8.11.1963; BArch DO1 32/47966. 271  Tonbandabschrift der Abteilung 5 der Hauptabteilung VII [des Berichts des IMS »Klaus Günther«] vom 23.12.1976; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. 1, Bl. 286–291. 272  Vgl. Abschrift [des Berichts des FIM] »Krause« vom 10.3.1971; BStU, MfS, AOPK, Nr. 2045/75, Bl. 122.

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der Haftanstalt an der Havel intensiv.273 Vermutlich vor dem Hintergrund der wach­senden Rücksichtnahme Ostberlins auf die Meinung der Weltöffentlichkeit so­wie der stärkeren Einbindung der DDR in die Konferenz über Sicherheit und Zu­sammenarbeit in Europa (KSZE) untersuchten die Abteilung für Si­cher­heits­ fra­gen sowie die Abteilung für Staats- und Rechtsfragen auch im Jahre 1987 in eigenen Kontrolleinsätzen die Haftbedingungen im Strafvollzug des In­nen­ mi­nisteriums sowie,274 deutlich oberflächlicher, in der Untersuchungshaft der Staats­sicherheit.275 Zudem nahm die Parteiführung im Sinne der erwähnten Personalkompetenz durch eine gezielte Personalpolitik Einfluss. So hatten die Mitglieder des Politbüros oftmals zugleich bedeutsame staatliche Leitungsfunktionen inne276 und auch viele weitere bedeutsame Posten wurden nicht ohne Zustimmung der zuständigen Parteigremien vergeben. »Auf diese Weise wurden alle Schlüsselpositionen von SED-Mitgliedern oder von Personen besetzt, die das Vertrauen der Parteileitungen besaßen.«277 Die Personalentscheidungen auf der obersten Ebene trafen die Spitzengremien der Partei (wie das Politbüro und das Sekretariat der SED). Speziell das Gefängniswesen betreffend, bedurfte der Leiter der Verwaltung Strafvollzug im Innenministerium278 (bzw. der Leiter der Vorläufereinrichtung Hauptabteilung Strafvollzug der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei279) sowie der Leiter der Zentralschule des Strafvollzugs der Bestätigung durch das Politbüro. Entsprechend den hierarchischen Strukturen waren die Leiter von Haftanstalten, die der obersten Gefängnisverwaltung unmittelbar unterstanden, von der Bestätigung durch die Abteilung für Sicherheitsfragen abhängig. Diese legte auch alle Beförderungsvorschläge zum Dienstgrad Oberst oder Inspekteur dem Politbüro bzw. dem Zentralsekretariat der SED zur Entscheidung vor.280 Das ZK273  Vgl. u. a. Bericht [einer Brigade der SED-Bezirksleitung] über den Einsatz in der Straf­ vollzugsanstalt Brandenburg vom 25.6.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 103–117. 274  Vgl. Abteilung Staats- und Rechtsfragen und Abteilung Sicherheitsfragen: Information über die Verwirklichung des Strafvollzugsgesetzes vom 7.4.1977 in den Strafvollzugseinrichtungen Bautzen I und Hoheneck vom 20.7.1987; BArch DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 115–124. 275 Vgl. Abteilung Sicherheitsfragen: Information über die Verwirklichung des Untersuchungshaft- und Strafvollzuges in der Einrichtung Berlin, Magdalenenstraße vom 20.7.1987; BArch DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 125–129. 276  Vgl. Schroeder, Klaus: Staatsverständnis und Herrschaftsformen der SED. In: März, Peter (Hg.): 40 Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz. München 1999, S. 99–117, hier 108. 277  Winkler, Jürgen: Zum Verhältnis zwischen Partei und Staat in der DDR. In: Herbst, Andreas; Stephan, Gerd-Rüdiger; Winkler, Jürgen (Hg.): Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Berlin 1997, S. 159–176, hier 173. 278  Vgl. Anlage 3 zum Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 21.4.1953; BArch DY 30 J IV 2/2–276. 279  Vgl. Protokoll Nr. 68/53 der Sitzung des Politbüros vom 8.9.1953 (mit Anlagen); BArch DY 30 J IV 2/2–322. 280  Vgl. Anlage Nr. 3 zum Protokoll Nr. 11/54 der Sitzung des Politbüros vom 23.2.1954; BArch DY 30 J IV 2/2–349; Nomenklatur der leitenden Kader des MdI, die vom Politbüro zu

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Sekretariat traf dann eine »Auslese der Kader« und überwachte damit die oberste Nomenklatur.281 So ging schon die Neubesetzung des Leiterpostens der Haftanstalt Brandenburg-Görden zum 1. September 1950 mit Heinz Marquardt offenbar auf eine direkte Anweisung des Zentralkomitees zurück.282 Und auch sein Nachfolger Fritz Ackermann bot bald nach seiner Ernennung dem für Sicherheitsfragen zuständigen Sekretär des Zentralkomitees, Erich Honecker, seinen Rücktritt an,283 fand dann jedoch, trotz seiner Eigenwilligkeiten, das Vertrauen der Partei (siehe Kap. 2.6.6 bis 2.6.8). Die SED-Führung bestimmte also die Grundlinien der Strafvollzugspolitik, steuerte die Personalpolitik auf Leitungsebene und hatte somit starken Einfluss auf das Gefängniswesen. Dabei ging es freilich immer um das linientreue Funktionieren der Strafvollzugsverwaltung und die weltanschauliche Kontrolle der Volkspolizisten und selten um die Einhaltung der Rechte von Gefangenen. Vielmehr überwachte die SED mit ihrem Parteiapparat die politische Arbeit in den Haftanstalten und hielt die Aufseher zu Härte gegenüber den politischen Gefangenen an, worauf noch näher einzugehen sein wird (siehe Kap. 3.2). Dennoch galt die Parteiführung, die in erster Linie verantwortlich für die Missstände im DDR-Strafvollzug war, den Häftlingen auch als Appellationsinstanz (neben Staatsanwaltschaft und Staatssicherheit), wenn mit Beschwerden bei der Gefängnisleitung kein Durchkommen war. Weil den Gefangenen selbst noch in den Siebziger- und Achtzigerjahren ihr verfassungsmäßig garantiertes Eingaben­ recht meist verwehrt wurde, konnten sie sich oft erst nach einer Entlassung oder unter Einschaltung ihrer Angehörigen beschweren (siehe Kap. 3.3.8.4). Auf Eingaben von Haftentlassenen hin ließ dann beispielsweise die Abteilung für Sicherheitsfragen die Verwaltung Strafvollzug oder die Hauptabteilung Innere Angelegenheiten erhobene Vorwürfe prüfen (zum Beispiel hinsichtlich Defiziten bei der Wiedereingliederung wie Zuteilung unzulänglichen Wohnraums oder von Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen). Ging es um Gefangenenmisshandlung, wurde in den späten Jahren mitunter eine strenge – wenngleich zumeist wirkungslose – Untersuchung der Vorfälle angeordnet.284 Auch die Tätigkeit von Fritz Ackermann sollte die Verwaltung Strafvollzug (nach einer Eingabe) auf Anweisung der Abteilung Sicherheitsfragen im Jahre 1972 untersuchen,285 doch bestätigen sind (endgültige Anlage zum Protokoll 11/54) o. D.; BArch DY 30 J IV 2/2A–336. 281  Weber: Geschichte der DDR, S. 324. 282  Vgl. Arbeitsplan der Hauptabteilung HS für die Übernahme der Strafanstalten aus der Regie der Justiz vom 24.11.1950; BArch DO1 11/1479, Bl. 113–119. 283  Vgl. Bericht der KD Brandenburg über die Zusammenarbeit des Mitarbeiters des MfS mit dem Anstaltsleiter vom 31.12.1958; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 31–36. 284  Vgl. u. a. Bericht [des MdI] über die Bearbeitung der Eingabe der Eheleute [...] und [...] vom 28.12.1978; BArch DY 30 IV B 2/12/213. 285  Vgl. Schreiben der Abteilung für Sicherheitsfragen an den Leiter der Verwaltung Strafvollzug Tunnat vom 18.4.1972; BArch DY 30 IV B 2/12/212, Bl. 141.

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blieb dies ohne Konsequenzen. Gelegentlich wurde auf solche Beschwerden hin sogar das Tätigwerden der Staatssicherheit oberflächlich geprüft.286 Meist wurde jedoch paradoxerweise jene Institution mit den Untersuchungen betraut, gegen die Beschwerden vorlagen. Diese kam dann in aller Regel zu dem Ergebnis, dass streng nach den Regeln der sozialistischen Gesetzlichkeit verfahren worden sei. War der Buchstabe des Gesetzes allerdings allzu deutlich verletzt worden, wurden Verwaltungsentscheidungen mitunter auch modifiziert – etwa wenn Staatsbetriebe sich gegen die Einstellung eines Vorbestraften wehrten. In seltenen Fällen wurden in den Siebziger- und Achtzigerjahren auch Versäumnisse eingeräumt – etwa wenn Inhaftierte zu spät vom Tod naher Angehöriger unterrichtet worden waren. Die meisten Eingaben, etwa Beschwerden über die Duldung von Gewalttätigkeiten zwischen Gefangenen durch Aufseher, wurden aber zurückgewiesen287 – getreu dem Motto, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Dass solche Eingaben nicht von Erfolg gekrönt sein würden, war für die Häftlinge absehbar – weswegen sie meist von vornherein darauf verzichteten. 2.2.3 Der Politapparat der Gefängnisverwaltung Der Einfluss der SED kam innerhalb der Deutschen Volkspolizei auch durch die sogenannten Politorgane zum Tragen. Sie wurden von der Parteiführung »zur Verstärkung der Leitung der politischen Arbeit« eingesetzt und sollten »die Erhöhung des sozialistischen Bewusstseins« und »die systematische Hebung der Kampf- und Einsatzbereitschaft« der Mitarbeiter bewirken. Diese sollten »zur Treue und Ergebenheit zur Arbeiterklasse und ihrer Partei, zur Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und zur Sache des Sozialismus [...] erzogen werden«.288 Zentral gesteuert wurde die politische Arbeit im Strafvollzug zunächst von der Hauptabteilung Politkultur des Innenministeriums, die im Jahre 1950 gebildet und zwei Jahre später in Politische Verwaltung umbenannt wurde. Im Zuge der Aufwertung zur Verwaltung Strafvollzug im Jahre 1956 erhielten die oberste Gefängnisverwaltung und die Abteilungen Strafvollzug in den 286  So beschwerte sich beispielsweise 1983 ein auf dem Gelände von Brandenburg-Görden eingesetzter Betriebsangehöriger des Reichsbahnausbesserungswerkes, dass ihm die Staatssicherheit den Zugang verwehrt hatte. Der Arbeiter hatte vor dem erstmaligen Betreten schriftlich versichern müssen, keine Westkontakte zu besitzen. Die Geheimpolizei hatte jedoch nachgeforscht, verschwiegene Westbesuche aufgedeckt und seine Zutrittsgenehmigung zurückgezogen. Seine Eingabe beim Zentralkomitee wurde zurückgewiesen, da er falsche Angaben gemacht habe. Vgl. BArch DY 30/1083; DY 30/1084. 287  Vgl. BArch DY 30/1083; DY 30/1084. 288  Vgl. Instruktion für die Parteiarbeit der SED in der Deutschen Volkspolizei und der anderen Organe des Ministeriums des Innern (Beschluss des Sekretariats des ZK vom 10.1.1968); BArch DY 30 J IV 2/3–1363.

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Bezirken dann eigene Politabteilungen.289 Eine organisatorisch eigenständige Politverwaltung verlor die Verwaltung Strafvollzug jedoch wieder, als sie 1958 wieder in den Dienstbereich der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei eingegliedert wurde.290 Im Jahre 1962 wurde dann eine eigene Politische Verwaltung im Innenministerium gebildet,291 die auch die Politabteilungen in den Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei sowie die politische Arbeit im gesamten Gefängniswesen anzuleiten hatte.292 Als »Organ der Partei« war die Politische Verwaltung »dem Zentralkomitee der SED gegenüber verantwortlich und rechenschaftspflichtig«. Die Politstellvertreter in den Haftanstalten (und anderen Dienststellen der Volkspolizei) »unterstehen der Politabteilung und der Kreisleitung der SED«, wie es Mitte der Sechzigerjahre eindeutig hieß, und nur in »ihrer dienstlichen Funktion« außerdem dem Leiter der jeweiligen Dienststelle bzw. Haftanstalt.293 Da der neue Innenminister Friedrich Dickel die weltanschauliche Beeinflussung der Kader für ungenügend hielt,294 wurde im Jahre 1966 in der Verwaltung Strafvollzug wiederum eine eigene Politabteilung gebildet.295 Diese wurde unter ihrem 1969 berufenen Leiter Adolf Kminikowski indes »nur ungenügend wirksam«, weil er als wenig entscheidungsfreudig galt. Er selbst fand zwar Rückhalt bei Tunnat, verhielt sich jedoch gegenüber der Staatssicherheit wenig kooperativ.296 Die Politabteilung der Gefängnisverwaltung wurde jedenfalls Ende 1973 erneut der Politischen Verwaltung des Innenministeriums zugeschlagen.297 Die Politstellvertreter, über die alle größeren Haftanstalten verfügten, hatten die »politische Arbeit« anzuleiten. Diese Leiter für »Polit-Kultur«, wie sie anfänglich genannt wurden, sollten die Parteiarbeit an der Basis überwachen und konnten daher faktisch als Vorgesetzte gegenüber den Parteiorganisationen auftreten. Dass 289  Vgl. Anordnung 1 des Leiters der Verwaltung Strafvollzug über Aufbau und Aufgaben der Polit-Organe vom 1.1.1956; BArch DO1 2.2./57916. 290  Vgl. Anlage 5 zum Protokoll Nr. 18/58 der Sitzung des Politbüros vom 22.4.1958; BArch DY 30 J IV 2/2–590; Befehl 24/58 des Ministers des Innern betr. Struktur des Ministeriums des Innern vom 20.6.1958; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 50029. 291  Vgl. Anlage Nr. 5 zum Protokoll Nr. 27 der Sitzung des Politbüros vom 19.6.1962; BArch DY 30 J IV 2/2–834. 292  Vgl. u. a. Instruktion 17/65 des Leiters der Politischen Verwaltung des Ministeriums des Innern über die Durchführung der Politschulung in der Deutschen Volkspolizei und den Organen Feuerwehr, Strafvollzug und Luftschutz vom 10.7.1965; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 11460. 293  Vgl. Instruktion für die Parteiorganisation der SED in der Deutschen Volkspolizei und für die Politorgane der DVP o. D. [1964]; BArch DY 30 J IV 2/3–999, Bl. 43–74, hier 57 u. 64. 294  Direktive des Ministers des Innern über die Ausbildung der Deutschen Volkspolizei und der Organe Feuerwehr, Strafvollzug und Luftschutz vom 12.1.1965; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10268. 295  Vgl. Vorlage der Abteilung für Sicherheitsfragen für das Sekretariat des Zentralkomitees über die Lage im Strafvollzug (mit Anlage 1–5) vom 26.10.1966; BArch DY 30 J IV 2/3 A–1390. 296  Eröffnungsbericht zur OPK VII/5/A/005/72 vom 10.2.1972; BStU, MfS AOPK, Nr. 2045/75, Bl. 5–10. 297  Vgl. Auskunftsbericht der Hauptabteilung VII/5 vom 23.4.1974; BStU, MfS, AP, Nr. 1401/89, Bl. 3–7.

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sie zu deren »Anleitung« befugt waren, hatte das Politbüro 1954 klargestellt, das »Kommandieren« jedoch untersagt.298 Gleichzeitig kritisierte die SED-Führung die »politische Arbeit« in allen Zweigen der Volkspolizei: Die Politstellvertreter seien »in vielen Fällen in ihrer Arbeit völlig unerfahren« und besäßen »ein nicht genügendes theoretisches Niveau«.299 Auch Ende der Fünfzigerjahre hieß es noch, die »Fähigkeiten und Kenntnisse« der Politstellvertreter in den Haftanstalten seien nur schwach entwickelt.300 Insgesamt kam ihnen in der Volkspolizei jedoch, verglichen etwa mit den Parteisekretären in Volkseigenen Betrieben (VEB), eine relativ starke Stellung zu.301 In Brandenburg-Görden nahm den Posten des Politstellvertreters, zunächst nur im Rahmen eines Instrukteurseinsatzes, Heinz Tunger ein. Ihm folgte bald Werner Fiedler, der jedoch diesem Posten als nicht gewachsen galt.302 Er konnte (wie wohl in den meisten anderen Haftanstalten) die Aufseher nicht wirklich für die SED begeistern, »erreichte [...] allerdings eine völlige Überwachung der ihm anvertrauten Truppe. Dadurch ist er jederzeit in der Lage, jede Opposition in den Reihen der Wachmannschaft zu unterdrücken«, wie ein in den Westen geflüchteter Mitarbeiter der Politabteilung im Jahre 1954 konstatierte.303 Nach dieser aufsehenerregenden Flucht wurde Fiedler, wie auch Anstaltsleiter Marquardt, im September 1954 abgelöst.304 Unter dem neuen Gefängnisleiter Robert Schroetter sollte nun wieder Politstellvertreter Heinz Tunger die Dienststelle ideologisch auf Vordermann bringen. Tunger galt als »offen, kämpferisch und impulsiv«; besonders hervorgehoben wurde seine »Schonungslosigkeit gegenüber den Feinden unserer Partei und unseres Staates«. Durch seine Tätigkeit, so hieß es wenig später, habe sich der »polit-moralische Zustand in der Dienststelle wesentlich verbessert«, denn er verstehe es, »die Notwendigkeit des Dienstes im Staatsapparat aufzuzeigen und alle innen- sowie außenpolitischen Ereignisse im Interesse des Dienstes der 298  Beschluss des Politbüros über die Verbesserung der Arbeit der Deutschen Volkspolizei vom 3.3.1954; BArch DY 30 J IV 2/2 A–341, Bl. 64–89; Anlage 1 zum Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 11.5.1954; BArch DY 30 J IV 2/2–360. 299  Beschluss des Politbüros über die Verbesserung der Arbeit der Deutschen Volkspolizei vom 3.3.1954; BArch DY 30 J IV 2/2 A–341, Bl. 64–89. 300  Vgl. Bericht der Adjutantur des Ministeriums des Innern über eine Überprüfung im Strafvollzug vom 15.8.1959; BArch DO1 11/1489, Bl. 299–320. 301  Vgl. Glaser, Günther: »Reorganisation der Polizei« oder getarnte Bewaffnung der SBZ im Kalten Krieg? Dokumente zur sicherheits- und militärpolitischen Weichenstellung in Ostdeutschland 1948/49. Frankfurt/M. 1995, S. 34. 302  [Bericht des in den Westen geflüchteten ehemaligen Aufsehers Horst Bock] betr. Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden (Eigen-Fortsetzungsbericht) vom 3.8.1954, 116 S.; BArch B 289/SA 171/22–01/14. 303  Vgl. [Bericht des geflüchteten Aufsehers Horst Bock] über die Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden vom 28.7.1954; BArch B 285/201. 304  Vgl. [Bericht des Aufsehers] Theodor Sziegaud betr. SVA Brandenburg-Goerden vom 2.9.1954; BArch B 289/VA 171/22–19/21.

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Strafvollzugsanstalt auszuwerten.«305 Tatsächlich scheint Tunger seine Sache recht gut gemacht zu haben, denn im Dezember 1957 wurde er zum Leiter der Zentralschule des Strafvollzugs in Radebeul befördert. Nach seinem Weggang lag aus Sicht der Verantwortlichen die politische Arbeit in der Haftanstalt an der Havel für einige Monate brach,306 bis im August 1958, zwei Monate vor Ackermann, der neue Politstellvertreter Wilhelm Lehmann sein Amt antrat. Er verschärfte erneut die politisch-ideologischen Ansprüche an die Aufseher und ging mit der bisherigen Personalpolitik hart ins Gericht, etwa wenn Aufseher aufgrund mangelnder politischer Linientreue eigentlich nicht hätten befördert werden dürfen.307 Doch Lehmann wurde seinerseits bei einem Kontrolleinsatz der vorgesetzten Abteilung Strafvollzug im Oktober 1960 kritisiert, weil er es in der Vergangenheit »an der notwendigen Offenheit, der kritischen und parteilichen Auseinandersetzung [habe] fehlen lassen«. Mitunter sei er in Aussprachen laut und überheblich geworden. »Genosse L. neigt dazu, nach Kritiken zu resignieren und sich in seinen Rechten und Pflichten als Politstellvertreter eingeschränkt zu sehen.«308 Diese Einschätzung ging wohl auf seine heikle Stellung zwischen Gefängnisleitung und Parteiorganisation zurück, war jedoch auch ganz im Sinne Ackermanns, der seine eigene Machtvollkommenheit im Blick hatte und sich letztlich gegenüber Lehmann durchsetzen konnte, auch wegen dessen angeblich überheblichen Leitungsstils.309 Um seine Position zu festigen, versprach Ackermann denn auch, dass »keine Kaderfragen ohne die Partei entschieden werden«310 und hielt sich zugute, »alle Entstellungen der Durchsetzung der führenden Rolle der Partei beseitigt« zu haben.311 Um dies besser zu bewerkstelligen, müssten die Beschlüsse der SED zur Richtschnur des Handelns jedes Offiziers werden, so Ackermann.312 Lehmanns Nachfolger galt ebenfalls als überempfindlich gegenüber Kritik und fand deswegen wenig Anklang bei den Aufsehern, zumal er sich bei der Aufklärung von

305  Beurteilung des VP-Kommandeur Tunger, Heinz durch den Leiter der Strafvollzugsanstalt Brandenburg, Schroetter, vom 30.4.1955; BStU, MfS, Vorl. AIM, Nr. 2764/75, Bl. 53 f. 306  Vgl. Vorschlag der Verwaltung Strafvollzug zur Versetzung vom 2.1.1958; BArch DO1 26.0/18079. 307  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345. 308  Kontrollbericht der Abteilung SV der BDVP Potsdam betr. StVA Brandenburg vom 11.10.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 211–217. 309  Vgl. Protokoll der Offiziersversammlung in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 29.5.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 111; Schreiben des Stellv. für Polit-Arbeit der StVA Brandenburg an die Politabteilung der BDVP Potsdam vom 24.4.1962; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/698, Bl. 1–5. 310  Plan der Hauptaufgaben für das 1. Halbjahr der StVA Brandenburg vom 14.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 46–54. 311  BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344. 312  Vgl. Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden für das 1. Halb­jahr 1960 vom 27.1.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 71–80.

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Übergriffen gelegentlich auf die Seite der Betroffenen schlug sowie angeblich die politische Schulung der Gefangenen vernachlässigte.313 Den ab 1976 amtierenden neuen Politstellvertreter wollte Ackermann ebenfalls nur dann als vollwertiges Mitglied der Leitungsebene des Gefängnisses behandeln, wenn dieser sich ihm gegenüber treu ergeben zeigte – und hätte andernfalls die Kompetenzen seines Politstellvertreters auf das nötigste beschränkt.314 Die Politische Abteilung der vorgesetzten Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei in Potsdam beurteilte die politisch-ideologische Verfassung der Dienststelle jetzt wohlwollender315 und der besagte Politstellvertreter wollte besonders jene Aufseher weltanschaulich beeinflussen, die politische Gefangene beaufsichtigten.316 Er selbst zeichnete sich angeblich »durch Klassenverbundenheit und revolutionäre Wachsamkeit aus«, galt jedoch als entscheidungsschwach und neigte zur »Schwatzhaftigkeit«, weswegen sogar die Staatssicherheit ein Auge auf ihn hatte.317 Dennoch war er zeitweilig sogar als Nachfolger Ackermanns im Gespräch.318 Die Politabteilungen der Haftanstalten sollten im Übrigen nicht nur die Aufseher ideologisch formen, sondern auch die »politisch-kulturelle Erziehung« der Häftlinge bewerkstelligen (siehe Kap. 3.1.2). 2.2.4 Die Parteiorganisation der SED innerhalb der Gefängnisverwaltung In den Parteiorganisationen waren die der SED zugehörigen (bzw. als Kandidaten beitrittswilligen) Mitarbeiter aller Dienststellen der Deutschen Volkspolizei organisiert. Das Ministerium des Innern verfügte über eine eigene SEDKreisleitung, der alle Diensteinheiten der Berliner Zentrale zugeordnet waren.319 313  Vgl. Informationsbericht des FIM »Heinz« o. D. [12/1971]; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, T. II, Bd. II, Bl. 129 f. 314  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII/5 mit dem IMK »Stein« vom 27.9.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 104 (MfS-Pag.). 315  Die Politische Abteilung der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam stellte beispielsweise 1977 im Zuge eines neuntägigen Kontrolleinsatzes in Brandenburg-Görden fest, »die Mehrzahl des Personalbestandes leistet eine vorbildliche Dienstdurchführung, wobei insbesondere die Genossen der Partei an der Spitze stehen«. Abschlussbericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zum Kontrollgruppeneinsatz der Politischen Abteilung in der StVE vom 14.4.1977; BLHA, Bez. Pdm. 404/15.2/184, Bl. 27–42. 316  Bericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zur komplexen Sicherheitskontrolle im Bereich der StVE Brandenburg vom 1.3.1984; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/190. 317  So ergriff der Staatssicherheitsdienst »über IM in Schlüsselpositionen Maßnahmen zur schrittweisen Erziehung dieses Genossen«. Abteilung VII/OPG: Zuarbeit zur Einschätzung der politisch-operativen Lage vom 13.8.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 705, Bl. 553 f. 318  Treffbericht des IMS »Forelle« vom 19.6.1979; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. I, Bl. 46–48. 319  Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK am 7.12.1955; BArch DY 30 J IV 2/3–497.

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Unterhalb der Ministeriumsebene wurde die Parteiarbeit in der Volkspolizei durch die jeweilige Bezirks- und Kreisleitung der SED angeleitet.320 Auch die Parteiorganisationen der Abteilungen Strafvollzug bzw. der Bezirksverwaltungen für Strafvollzug »unterstanden« somit der jeweiligen SED-Bezirksleitung.321 Auf der untersten Ebene der Haftanstalten waren die Parteimitglieder schließlich in den örtlichen Grundorganisationen zusammengeschlossen; in BrandenburgGörden existierten beispielsweise im Jahre 1953 bereits vier Parteiorganisationen und sechs Parteigruppen, die mit der örtlichen Parteileitung allerdings kaum zusammenarbeiteten.322 Die Gefängnisleitung und die höheren Offiziere der Verwaltung bildeten dabei eine eigene Parteigruppe323 – hierfür sprachen praktische Gründe, doch auch Standesdünkel spielte vermutlich eine Rolle. An der Spitze dieser Grundorganisationen standen Parteisekretäre, die durch die Parteileitung gewählt, nach den Prinzipien des »demokratischen Zentralismus« aber von der übergeordneten Kreisorganisation der SED bestätigt werden mussten. Die Parteisekretäre waren zur Teilnahme an dienstlichen Beratungen befugt und sollten sich in allen Fragen der politischen Arbeit mit dem Politstellvertreter beraten und diesem gegenüber »berichten«. Die Grundorganisationen sollten insbesondere »die Mitglieder und Kandidaten zur strikten Einhaltung der Leninschen Normen des Parteilebens erziehen« und »die führende Rolle der Partei auf allen Gebieten« durchsetzen helfen.324 Die Grundorganisationen dienten letztlich der politischen Sozialisation der Parteimitglieder (besonders durch Studium der Parteibeschlüsse), ihrer Disziplinierung (mittels Verhängung von Parteistrafen bei 320  Vgl. Instruktion für die Parteiorganisation der SED in der Deutschen Volkspolizei und für die Politorgane der DVP o. D. [1964]; BArch DY 30 J IV 2/3–999, Bl. 43–74, hier 67. 321  Vgl. Anordnung 1 des Leiters der Verwaltung Strafvollzug über Aufbau und Aufgaben der Polit-Organe vom 1.1.1956; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 50493. 322  Vgl. Kontrollbericht zur Haftanstalt Brandenburg vom 17.10.1953; BArch DO1 11/1485, Bl. 1–4. 323  Vgl. Mündliche Mitteilung des GI »Stein« vom 30.12.1966; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 4 (MfS-Pag.). 324  Instruktion für die Parteiorganisation der SED in der Deutschen Volkspolizei und für die Politorgane der DVP o. D. [1964]; BArch DY 30 J IV 2/3–999, Bl. 43–74, hier 52 u. 73. In der Instruktion von 1968 heißt es hierzu: »Die Grundorganisationen sind verpflichtet, a) die Mitglieder und Kandidaten zu befähigen, alle Angehörigen der Deutschen Volkspolizei und der anderen Organe des Ministeriums des Innern zu bewussten Kämpfern für die Arbeit- und Bauernmacht [...] zu erziehen«, den »unversöhnlichen Kampf gegen alle Einflüsse der bürgerlichen Ideologie« zu führen, neue Mitglieder zu gewinnen, die Meinungen der VP-Angehörigen »zu analysieren und wahrheitsgetreu über die Erfüllung der Beschlüsse der Partei sowie der politischen und fachlichen [sic!] Aufgaben das zuständig leitende Parteiorgan und Politorgan zu informieren« sowie »ernste Verstöße gegen Beschlüsse, Gesetze und Befehle sowie gegen die Disziplin und Moral dem zuständigen leitenden Parteiorgan und dem Politorgan der übergeordneten Dienststelle – wenn notwendig, bis zum Zentralkomitee – zu melden« und »die Leninischen Normen des Parteilebens streng zu wahren«. Instruktion für die Parteiarbeit der SED in der Deutschen Volkspolizei und der anderen Organe des Ministeriums des Innern (Beschluss des Sekretariats des ZK vom 10.1.1968); BArch DY 30 J IV 2/3–1363.

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politisch-moralischem Fehlverhalten) und ihrer mehr oder weniger freiwilligen Selbstunterwerfung unter die Linie der Partei (durch Anwendung der Rituale von »Kritik und Selbstkritik« in den Mitgliederversammlungen). So wurden beispielsweise Parteiverfahren gegen Aufseher angestrengt, wenn diese sich an der Arbeitskraft der Gefangenen bereichert hatten, mit Alkohol am Steuer ertappt worden waren oder Westkontakte verschwiegen hatten. Solche Vergehen zogen, unbenommen der nachfolgenden dienstlichen Sanktion, Parteistrafen nach sich.325 Sogar der Parteisekretär von Brandenburg-Görden selbst musste 1956 wegen »seiner damaligen Schwächen in Bezug des übermäßigen Alkoholkonsums« eine »strenge Rüge« einstecken und seinen Dienst quittieren.326 Auch der nachfolgende Parteisekretär der Haftanstalt, Heinz Pabst, hatte gegen den autokratischen Gefängnisleiter Fritz Ackermann einen schweren Stand. Die Gelegenheit zur Abrechnung war gekommen, als im Juni 1959 die SEDBezirksleitung einen Instrukteurseinsatz in der Haftanstalt durchführte. Pabst habe, so stellte die Kontrollbrigade jetzt fest, »gegen die Gesetze der Ethik und Moral verstoßen«.327 Ackermann assistierte, Pabst habe nicht nur die breite Durchsetzung der sozialistischen Moralprinzipien gehemmt, sondern auch die Verfestigung und Vertiefung der führenden Rolle der Partei. Aus kleinbürgerlichen egoistischen Interessen hat er jahrelang die Kreisleitung der Partei desorientiert und verhindert, dass eine objektive Einschätzung des politischen sowie moralischen Zustandes entstand. Zur Behauptung seiner kleinbürgerlichen egoistischen Interessen verstieg er sich bis zu Intrigen und brachte sich in einen Gegensatz zur Partei.328

Pabst habe »in der führenden Rolle der Partei die führende Rolle seiner Person, und nicht die des Parteikollektivs gesehen«.329 Daher wurde er nun als Parteisekretär abgelöst und entlassen.330 Zudem kritisierte die Bezirksleitung der SED die zuletzt stark angewachsene Zahl von Parteiverfahren in der Haftanstalt und bemängelte, dass die Parteiarbeit noch nicht zu »grundlegender Veränderung« geführt habe. Das Verhältnis einiger Offiziere zur Partei gelte es »in Ordnung zu bringen«.331 Ackermann konnte jedoch später versichern, dass nach der Ablösung von Pabst »alle Entstellungen der Durchsetzung der führenden 325  Vgl. BLHA, Kreis Bbg. Rep. 531/2105. 326  Vgl. BStU, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 1282/63. 327  Bericht [einer Brigade der SED-Bezirksleitung] über den Einsatz in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 25.6.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 103–117. 328  Referat von Ackermann über die Grundfragen des Strafvollzugs vom 13.11.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 180–220. 329  BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344. 330  Vgl. Bericht der Kaderabteilung der StVA Brandenburg über die Entpflichtungen in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 3.3.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/428, Bl. 10–13. 331  Bericht [einer Brigade der SED-Bezirksleitung] über den Einsatz in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 25.6.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 103–117.

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Rolle der Partei beseitigt« worden seien und die Stellung der Partei in der Haftanstalt gestärkt werde.332 Eine Überprüfung der Offiziere auf ihre politische Linientreue habe bereits die ersten Erfolge gebracht.333 Ackermann beteuerte in nachfolgenden Delegiertenkonferenzen, von seiner Seite bestehe »nicht die Absicht die innerparteiliche Demokratie zu durchbrechen«. Doch weiterhin bestrafte er Fehlverhalten von Aufsehern lieber auf dienstlichem Wege und ließ die Grundorganisation der SED außen vor, vermutlich weil er seine Disziplinargewalt nicht teilen mochte. Dass er regelmäßig dem Präsidium der Wahlversammlungen der Grundorganisation der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in der Haftanstalt vorstand,334 sollte vermutlich ebenfalls seinen eigenen Einfluss festigen. Ganz ähnlich betonte der autokratische Anstaltsleiter verbal die Bedeutung seiner Politstellvertreter, entmachtete sie aber zugleich. Nicht zuständig waren die Parteiorganisationen für die Erörterung fachlicher Angelegenheiten, doch setzte sich dies erst sukzessive durch. So kritisierte Herbert Grünstein, vormals Leiter der Hauptabteilung Politkultur, im Jahre 1967 als Stellvertreter des Innenministers,335 dass man viele Parteiversammlungen »genausogut dienstlich durchführen könnte«, weil »man überhaupt nicht den Unterschied zwischen einer dienstlichen Beratung und der Arbeit in der Parteiorganisation spürt«. Die beiden Felder müssten stärker voneinander getrennt werden.336 Die ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen erklärte im gleichen Jahr, dass es ganz im Ermessen des Parteisekretärs in der Verwaltung Strafvollzug liege, ob er an den fachlichen Leitungsberatungen teilnehmen wolle. Des Weite­ren müssten die Beschlüsse der SED und wichtige Parteitagsdokumente in außer­ ordentlichen Leitungsberatungen ausgewertet werden,337 was eine Intensi­vierung der parteipolitischen Anleitung bedeutete. Dennoch erhielt die Parteiarbeit im ostdeutschen Gefängniswesen immer wieder schlechte Noten – besonders im Jahre 1966, was dann die erwähnte Errichtung einer eigenen Politabteilung in der Verwaltung Strafvollzug zur Folge hatte.338 332  BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344; Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden für das 1. Halbjahr 1960 vom 27.1.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 71–80. 333  »Im Monat April [1959] hatten wir noch 6 disziplinäre Vorkommnisse, im Monat Mai 3 und im Monat Juni kein Vorkommnis.« BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344. 334  Protokoll der Delegiertenkonferenz der SED-Grundorganisation der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 20.4.1964; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/699, Bl. 25–59. 335  Vgl. Protokoll 38/55 der Sitzung des Politbüros vom 16.8.1955; BArch DY 30 J IV 2/2–435. 336  Vgl. Referat des Generalleutnants Grünstein auf der Tagung mit den Leitern der selbstständigen Vollzugseinrichtungen und den Abteilungsleitern SV der BDVP in der StVA Brandenburg am 28.6.1967, 38 S.; BArch DO1 32/36357. 337  Vgl. Konzeption des Leiters der Verwaltung Strafvollzug zur Erhöhung der Wirksamkeit der Führungs- und Leitungstätigkeit vom 6.3.1967; BArch DO1 32/30902. 338  Vgl. Vorlage der Abteilung für Sicherheitsfragen für das Sekretariat des Zentralkomitees über die Lage im Strafvollzug (mit Anlage 1–5) vom 26.10.1966; BArch DY 30 J IV 2/3 A–1390.

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Auch der letzte hauptamtliche Sekretär der Grundorganisation in BrandenburgGörden, Siegfried Tragor, blieb von Kritik nicht verschont. Die »Wirksamkeit« seiner »politisch-ideologischen Erziehungsarbeit« unter den Wachtmeistern gelte es zu verbessern und »das Niveau der politischen und Parteiarbeit« zu erhöhen, wie die Staatssicherheit im Jahre 1986 befand. Kritisch bemerkte diese ferner, die »Ausstrahlungskraft der [hierzu] eingesetzten Genossen insbesondere im Bereich des operativen Dienstes« müsse wachsen.339 Einschätzungen solcher Art ernteten auch immer wieder andere Zweige des Staatsapparates, was wohl die Notwendigkeit anhaltender weltanschaulicher Indoktrination unterstreichen sollte. Tragor wurde von der Staatssicherheit wohl auch deswegen kritisiert, weil ihm eine vergleichsweise kritische Einstellung zur Geheimpolizei nachgesagt wurde.340 Hingegen arbeitete der letzte Sekretär der Grundorganisation in der Verwaltung Strafvollzug, Helmut Serfas, seit 1973 inoffiziell für die Staatssicherheit und bemühte sich zugleich um ein gutes Verhältnis zu seinem dienstlichen Vorgesetzten Lustik.341

2.3 Der Strafvollzug und die Justiz 2.3.1 Die unterschiedlichen Konzepte in der Strafvollzugspolitik (1945–1952) Bis zum Jahre 1952 unterstand, wie bereits erwähnt, die Mehrzahl der ostdeutschen Haftanstalten noch nicht der Volkspolizei, sondern der Justiz (siehe Kap. 2.6.3). Diese bemühte sich durchaus um eine Reform des Strafvollzugs; der Präsident der Deutschen Justizverwaltung, Eugen Schiffer, der bis 1948 amtierte, wollte dabei seine Ideen zu einer allgemeinen Justizreform aus Weimarer Zeiten umsetzen.342 So erarbeitete der Leiter des Strafvollzugsamtes der Justiz, Werner Gentz, im September 1949 in diesem Sinne eine neue Strafvollzugsordnung. Doch die Rechtsabteilung der Sowjetischen Militäradministration enthielt sich zunächst einer Antwort – und argumentierte nach der DDR-Staatsgründung, dass ihre Zustimmung nun nicht mehr notwendig sei. Gentz ließ sogar ein neues Strafvollzugsgesetz formulieren, das auch Strafvollzugsausschüsse vorsah (siehe Kap. 2.4). Doch weil das Durchsetzungsvermögen des Justizressorts gegenüber 339  Abteilung VII/OPG: Zuarbeit zur Einschätzung der politisch-operativen Lage vom 13.8.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 705, Bl. 553 f. 340  Vgl. Auszug aus der Information der Quelle Rainer vom 8.5.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1928, Bl. 10. 341  Vgl. Abschlussbericht der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII zur Überprüfung des GMS »Fritz« vom 15.11.1988; BStU, MfS, AGMS, Nr. 11609/89, Bl. 36–42. 342  Vgl. Rößler: Justizpolitik in der SBZ/DDR 1945–1956, S. 56; Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 29.

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der Volkspolizei fraglich erschien, verzichtete Schiffers Nachfolger Max Fechner im Januar 1950 darauf, der Vorlage Gesetzeskraft zu verleihen.343 Dem Reformkonzept der Justiz zufolge sollte nicht die Vergeltung und die sichere Verwahrung der Täter, sondern deren Erziehung im Mittelpunkt stehen. Dies sollte auch die Rückfallkriminalität vermindern, deren Bekämpfung großteils der Justiz selbst zur Last fiel. Doch neben solchen Zweckmäßigkeitsüberlegungen wurden die Reformpläne tatsächlich von einer humanistischen, aufklärerischen Grundhaltung getragen. »Wir strafen nicht nur falsch, sondern zu viel in Deutschland«, wie Werner Gentz bekundete.344 Er erklärte auf einer Sitzung im Juni 1950 unter Verweis auf Artikel 137 der DDR-Verfassung, »dass unsere neue demokratische Justiz nicht nur die Straftat sieht, sondern die Frage der Besserung der Strafgefangenen stellen muss«.345 Für minderschwere Delikte wollte Gentz neue Sanktionsformen einführen (wie »Öffentliche Missbilligung, Friedensbürgschaft, Berufswechsel und bedingte Verurteilung«), da er Haftstrafen (insbesondere von kurzer Dauer) nicht für wirkungsvoll hielt und die Wiedergutmachung durch »tätigen Einsatz durch Arbeit besonderer Art, besonderen Ausmaßes« favorisierte.346 So ließ die Justiz Haftarbeitslager errichten, in denen »aus der Not der Zeit« heraus straffällig gewordene Menschen Seite an Seite mit gewöhnlichen Beschäftigten in normalen Betrieben arbeiteten. Ihnen wurden »größtmögliche Selbstverwaltung«, Hafturlaub sowie Kino- und Theaterbesuche gestattet, was auch Fluchtgedanken entgegenwirken sollte.347 Durch einen gerechten Lohn und Mitwirkung bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes sollten sie eng in Arbeitskollektive eingebunden werden.348 Erstverurteilte konnten im sogenannten Bewährungseinsatz bei tadellosem Verhalten eine Inhaftierung sogar ganz vermeiden und stattdessen, bei gekürztem Lohn, in ihren Betrieben weiterarbeiten. Umstritten war seiner­ zeit allerdings, ob auch NS-Täter und »Wirtschaftsverbrecher« von diesen Regelungen profitieren sollten.349 Zu längeren Freiheitsstrafen Verurteilte sollten stärker nach Geschlecht, Alter und Schwere des Verbrechens getrennt werden, um negative Einflüsse etwa von Berufskriminellen auf jugendliche Ersttäter auszuschließen. Gentz wollte überhaupt die Unterscheidung von Zuchthausstrafe und Gefängnisstrafe abschaffen; besonders gesicherte Haftanstalten sollte es nur 343  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 376 f. 344  Gentz, Werner: Reform des Strafvollzugs. In: Fechner, Max (Hg.): Beiträge zur Demokratisierung der Justiz. Berlin 1948, S. 229–257, hier 237. 345  [Protokoll der] Arbeitsbesprechung im Ministerium der Justiz am 9.6.1950 vom 10.6.1950; BArch NY 4090/440, Bl. 58 f. 346  Gentz: Reform des Strafvollzugs, S. 229–257, hier 237. 347  Kampfrad, Amtsrichter: Erfahrungen mit dem produktiven Arbeitseinsatz Strafgefange­ner. In: Neue Justiz (1950) 4, S. 58 f. 348  Vgl. Gentz: Reform des Strafvollzugs, S. 229–257. Zur Praxis siehe u. a. Gélieu, Claudia von: Frauen in Haft. Gefängnis Barnimstraße. Eine Justizgeschichte. Berlin 1994, S. 206. 349  Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 76 f.

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noch für Schwerverbrecher geben. »Für das Gros der Gefangenen genügen Lager und Anstalten halboffenen Stils. Man darf diese Menschen nicht zu Käfigtieren machen.«350 Die Häftlinge sollten auch keinesfalls durch einen monotonen Haft­a lltag zermürbt werden oder in den Zellen vor sich hindämmern, sondern durch Buchlektüre, Musik und Sport ihre Zeit sinnvoll gestalten. Im Sinne der »Vitalisierung« und »Humanisierung« des Strafvollzugs351 sollte ihnen sogar eine partielle Selbstverwaltung ermöglicht werden. Die Volkspolizei hingegen bekämpfte die Reformvorstellungen von Gentz und profilierte sich gegenüber Besatzungsmacht und SED-Führung als Garant einer strengen und sicheren Verwahrung der Inhaftierten. Da sich dies mit den ordnungspolitischen Vorstellungen der SED-Führung deckte, konnte sich der Polizeiapparat durchsetzen und erlangte bis 1952 die Zuständigkeit für den gesamten Strafvollzug wie auch für die Untersuchungshaftanstalten (mit Ausnahme jener der Staatssicherheit, siehe Kap. 2.6.3). Dies kam einer ausdrücklichen Absage an einen »humanen Strafvollzug« gleich, obwohl die Volkspolizei Jahre später inhaltlich an einige der Reformvorstellungen der Justiz anknüpfte. Dies betraf etwa den – dann allerdings unter volkswirtschaftlichen Prämissen betriebenen – Arbeitseinsatz (besonders ab 1954/55), die stärkere Trennung der Insassen nach Strafmaß (ab 1955) oder die Abschaffung der Zuchthausstrafe (1968). Viele Reformvorstellungen der Justizverwaltung wurden indes nie verwirklicht, weil sie den weltanschaulichen Prämissen oder den Machtinteressen der Herrschenden zuwiderliefen – so etwa die gerechte Bezahlung der Häftlingsarbeit, eine Gefangenenselbstverwaltung oder eine Aufsicht über den Strafvollzug durch dritte Instanzen. Eine der wichtigsten Forderungen der Justiz in den ersten Jahren lautete nämlich, Kontrollmechanismen gegenüber dem Gefängniswesen zu errichten, wie es dem demokratischen Prinzip der Gewaltenteilung entsprach. Gentz ging dabei von der Überlegung aus, dass an keinem Ort »Gewalt so viel Unheil anrichten kann wie [in] eine[r] Strafanstalt, weil kein Mensch so wenig Möglichkeit hat, sich ihrer zu erwehren wie ein Gefangener. Allein deshalb schon bedürfen die Anstalten wachsamster demokratischer Kontrolle.« Gentz dachte dabei an Volkskontrollausschüsse des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) auf lokaler Ebene sowie an parlamentarische Ausschüsse, die »in keinem Landtag […] fehlen« dürften.352 In Sachsen und Thüringen waren diese nach dem Krieg tatsächlich eingerichtet, dann aber wieder abgeschafft worden (siehe Kap. 2.4). Zudem hatte die Justiz unabhängigen Persönlichkeiten die Besichtigung wichtiger

350  Gentz: Reform des Strafvollzugs, S. 229–257, hier 241. 351  Vgl. ebenda, S. 229–257. Ausführlich hierzu Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 36 f. 352  Gentz: Reform des Strafvollzugs, S. 229–257, hier 255.

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Haftanstalten wie etwa Brandenburg-Görden gestattet.353 Auch dies setzte die Volkspolizei erst viel später in abgewandelter Form um, denn an einer wirksamen, öffentlichen Kontrolle des Gefängniswesens waren die SED-Machthaber wenig interessiert. Formal wurde allerdings die Staatsanwaltschaft 1952 mit der Aufsicht über die Gefängnisse betraut. 2.3.2 Die Rolle der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gefängniswesen (1952–1989) Für die Anleitung des ostdeutschen Justizwesens war seitens der SED die Abteilung Justiz zuständig, die Ende 1949 der Abteilung Staatliche Verwaltung des Zentralkomitees der SED als Unterabteilung bzw. Sektor eingegliedert wurde. Die von Anton Plenikowski geleitete Abteilung musste ab diesem Zeitpunkt allen Personalentscheidungen auf der Leitungsebene des Justizapparates ihr Plazet geben, während das Politbüro oder das Kleine Sekretariat über besonders wichtige Fälle selbst entschieden.354 Weitere Schritte zur Instrumentalisierung der Justiz waren die Einführung von linientreuen, doch ungenügend ausgebildeten »Volksrichtern« im Jahre 1946355 und die Zentralisierung von Gerichten und Staatsanwaltschaft in den Jahren 1951/52.356 Obwohl auf der obersten Ebene SED-nahe Juristen dominierten, war der Justizapparat noch teils bürgerlicher Herkunft; bei verringerten Spielräumen fungierte er noch nicht in allen Teilen als willenloses Instrument der Staatspartei.357 Und auch die Staatsanwaltschaft 353  So hatte beispielsweise auch der Justizstaatssekretär Helmut Brandt im Frühsommer 1950 der Haftanstalt an der Havel einen Besuch abgestattet, wenngleich dies wohl nur kosmetische Korrekturen nach sich gezogen hatte. Dabei war dem Juristen »unangenehm« aufgefallen, wie ein ehemaliger Häftling berichtete, dass der im Prozess gegen die Deutsche-Continental-GasGesellschaft zusammen mit Willi Brundert verurteilte Leo Herwegen gemeinsam mit Kriminellen in einer Zelle saß. Die Konsequenz der Gefängnisleitung war nicht etwa die Verlegung Herwegens, sondern das Entfernen der Türschilder mit den Namen der Insassen. Vgl. [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Gefängnis Brandenburg-Görden vom 29.9.1950; BArch B 137/1809. Brandt kehrte tragischer Weise wenig später als Häftling nach Brandenburg-Görden zurück. 354  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 245 u. 271. Siehe auch Rottleuthner, Hubert: Zur Steuerung der Justiz in der DDR. In: ders. (Hg.): Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Köln 1994, S. 9–66; Schöneburg, Volkmar: Rechts- und Justizpolitik. In: Herbst, Andreas; Stephan, Gerd-Rüdiger; Winkler, Jürgen (Hg.): Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Berlin 1997, S. 378–388. 355  Vgl. Schröder, Steffen: Die Juristenausbildung in der DDR. In: Bender, Gerd; Falk, Ulrich (Hg.): Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45–1989), Bd. 2: Justizpolitik (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 114). Frankfurt/M. 1999, S. 441–485; Weber: Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen, S. 44–51. 356  Vgl. Rößler: Justizpolitik in der SBZ/DDR 1945–1956, S. 134. 357  Vgl. Beckert, Rudi: Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR. Goldbach 1995, S. 44–49.

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folgte im Rahmen ihrer Möglichkeiten anfangs noch teilweise einer eigenen Logik. Sie konnte ihre Kompetenzen gegenüber dem Gefängniswesen wahren, als infolge einer Richtungsentscheidung der SED-Führung die Justizverwaltung ihre Aufsicht über den Strafvollzug im Jahre 1952 einbüßte. Der diesbezüglich zwischen der Staatsanwaltschaft und der Hauptabteilung Strafvollzug teilweise polemisch ausgetragene Konflikt wurde erst Mitte der Fünfzigerjahre von der Parteiführung wohl überwiegend zugunsten der letzteren entschieden.358 Anfang der Fünfzigerjahre war noch umstritten, wie weit die Kompetenzen der Staats­anwaltschaft im Einzelnen reichen sollten. Im sozialistischen Rechtssystem kam ihr die Kompetenz einer Aufsichtsbehörde über die gesamte exekutive und ju­stizielle Normdurchsetzung zu, was weit über ihre traditionelle Rolle in Ge­ richts­verfahren hinausging.359 Das Gesetz über die Staatsanwaltschaft von Mai 1952 verschaffte der Staatsanwaltschaft weitreichende Kompetenzen durch eine umfassende Gesetzlichkeitsaufsicht,360 einschließlich der »Aufsicht über alle Haft- und Strafvollzugsanstalten«.361 Dabei war die Generalstaatsanwaltschaft für die besonders wichtigen, der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei un­mittelbar unterstehenden (Sonder-)Haftanstalten (wie Brandenburg-Görden) zu­ständig. Hierzu war eine mit lediglich zwei Staatsanwälten besetzte Ab­tei­ lung I/4 bei der Generalstaatsanwaltschaft eingerichtet worden.362 Die Be­zirks­ staatsanwaltschaft indes führte die Aufsicht über die den Abteilungen Straf­ vollzug unterstehenden Gefängnisse und die Staatsanwälte in den Kreisen über die den Volkspolizeikreisämtern angeschlossenen Haftanstalten. Die zu­stän­ digen Staatsanwälte hatten die Gefängnisse »von Zeit zu Zeit (tunlichst mo­ natlich einmal) zu überprüfen«. Dabei sollten sie die Vollständigkeit und kor­rek­te Führung der Haftunterlagen, die Dauer der Untersuchungshaft, die Si­cher­heit der Anstalt, die Vollzugspraxis (»insbesondere den im Rahmen der An­stalts­ ordnungen vorgesehene Besuchs- und Briefverkehr«) sowie die »ärztliche Be­ 358  Ab dem Jahre 1956 verwies die Verwaltung Strafvollzug jedenfalls darauf, dass die Konzepte der Staatsanwaltschaft vom Zentralkomitee der SED »scharf zurückgewiesen« worden seien. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 359  Vgl. Mollnau, Karl A.: Die staatsanwaltschaftliche Gesetzlichkeitsaufsicht in der DDR als gescheiterter Versuch eines sowjetischen Rechtstransfers. In: Bender, Gerd; Falk, Ulrich (Hg.): Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45–1989), Bd. 3: Sozialistische Gesetzlichkeit (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 115). Frankfurt/M. 1999, S. 249. 360 Vgl. Carsten, Ernst Sigismund; Rautenberg, Erardo Cristoforo: Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Beseitigung ihrer Weisungsabhängigkeit von der Regierung in Strafverfahren. Berlin 2012, S. 274. 361  Vgl. Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 23.5.1952; GBl. der DDR Nr. 66 vom 29.5.1952, S. 408–410. Siehe auch Bericht über die Durchführung der neuen Justizgesetze vom 15.5.1953; BArch NY 4090/440, Bl. 123–141. 362  Vgl. Analyse der Haftaufsicht [durch Generalstaatsanwalt Ernst Leim] o. D. [3/1953]; BArch DY 30 IV 2/13/409, o. Pag.

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treuung« kontrollieren. Die Staatsanwälte waren dabei förmlich »berechtigt und verpflichtet, Beschwerden von Anstaltsinsassen entgegenzunehmen und die­se Beschwerden auf ihre Begründetheit zu prüfen. Festgestellte Mängel sind un­ verzüglich der Anstaltsleitung zur Kenntnis zu bringen und ihre Abstellung in einer gewissen Zeit zu fordern.« Sollte dies nicht erfolgen, war die Angelegenheit eine Ebene höher zu entscheiden.363 Dies war ein Kompromiss zwischen Ge­ne­ ral­staatsanwalt Ernst Melsheimer und Polizeichef Karl Maron, der damit eine An­ordnungsbefugnis der Staatsanwälte gegenüber den Haftanstalten gerade noch hatte verhindern können. Nicht durchzusetzen vermochte der ober­ste Volks­polizist allerdings seine Forderung, die zentralgeleiteten Son­der­haft­an­stal­ ten von jeglicher Aufsicht durch die Staatsanwaltschaft aus­zu­neh­men, was auch Brandenburg-Görden eingeschlossen hätte.364 Im Juni 1952 instruierte Melsheimer die zuständigen Staatsanwälte, bei ihren Besuchen vor Ort darauf zu achten, welche Häftlinge aus welchen Gründen von der täglichen Freistunde ausgeschlossen und ob die Arreststrafen korrekt umgesetzt würden.365 Drei Monate später schränkte der Generalstaatsanwalt die Kontrollbefugnisse dann dahingehend ein, dass nachts keine Kontrollen mehr stattfinden sollten, obwohl solch überraschende Besuche vermutlich eine heilsame Wirkung hatten. Auch die ausreichende Bewachung der Häftlinge durch die Aufseher durfte jetzt nicht mehr untersucht werden, denn dies sei »eine interne Angelegenheit« der Volkspolizei.366 Im Oktober 1952 erhielt die Staatsanwaltschaft mit der neuen Strafprozessordnung zwar formal die Aufsichtsfunktion über alle Haftanstalten, doch die Staatssicherheit beispielsweise ließ sich kaum in die Karten schauen;367 »ihre« Untersuchungshäftlinge waren faktisch von der Rechtsaufsicht durch die Staatsanwaltschaft ausgenommen.368 Im November 1952 wurde der Staatsanwaltschaft dann durch den Leiter der Abteilung für Sicherheitsfragen, Gustav Röbelen, »ein tieferes Eindringen in gewisse Dinge untersagt«. Die Staatsanwälte hätten allein auf die »Wahrung der Gesetzlichkeit«, die Verpflegung und die »Sauberkeit« zu achten, nicht jedoch auf die Sicherheit der Gefängnisse und den Arbeitseinsatz.369 Da Melsheimer gegenüber der SED363  Vgl. Beschluss [der Regierung] vom 27.3.1952; BArch DO1 11/1589, Bl. 62; 5. Entwurf der Rundverfügung des Generalstaatsanwalts an die Landesstaatsanwälte von 1952; ebenda, Bl. 63 f. 364  Vgl. Schreiben Marons an den Generalstaatsanwalt Melsheimer (nachrichtlich an Plenikowski vom ZK der SED) o. D. [3/1952]; ebenda, Bl. 46 f. 365  Vgl. Kontrollplan zur Durchführung der Aufsicht über die Haftanstalten o. D. [6.6.1952]; BArch DP 3 45, Bl. 4–7. 366  Rundschreiben des Generalstaatsanwalts betr. Durchführung der Aufsicht über die Haftanstalten vom 5.9.1952; BArch DP 3 45, Bl. 8. 367  Vgl. Gesetz über das Verfahren in Strafsachen in der Deutschen Demokratischen Republik (Strafprozessordnung) vom 2.10.1952; GBl. der DDR Nr. 142 vom 11.10.1952, S. 996–1029. 368  Analyse der Haftaufsicht [durch Generalstaatsanwalt Ernst Leim] o. D. [3/1953]; BArch DY 30 IV 2/13/409, o. Pag. 369 Ebenda.

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Führung als willfährig galt,370 dürfte er sich der neuen Linie kaum widersetzt haben; einer weiteren Machtverlagerung leistete Vorschub, dass im Frühjahr 1953 die Strafvollstreckung der Staatsanwaltschaft entzogen und der Volkspolizei übertragen wurde.371 In der Praxis wurden die Haftanstalten seinerzeit durchschnittlich etwa vier Mal jährlich von den Staatsanwälten aufgesucht. Dabei wurde beispielsweise kritisiert, dass die Aufseher den Rechtsverkehr von Untersuchungshäftlingen mit ihren Rechtsanwälten behinderten. Oft werde wegen des vorrangigen Arbeitseinsatzes keine Freistunde gewährt. Auch würden in kleineren Gefängnissen inhaftierte Ärzte zur medizinischen Versorgung ihrer Mitinsassen eingesetzt (siehe Kap. 3.3.6). Einzelne Haftanstalten (wie etwa Halle) würden über keine Gefangenenbibliothek verfügen.372 Im Haftarbeitslager Bitterfeld kritisierte die Staatsanwaltschaft sogar vehement die Drangsalierung der Gefangenen und forderte ihre Gleichbehandlung mit den »freien« Arbeitern beim Arbeitseinsatz.373 Die Gefängnisleiter unterwarfen sich dieser Kontrolle durch die Staats­ anwaltschaft nur ungern – und erhielten dabei zumeist von der obersten Strafvollzugsleitung Rückendeckung. Forderungen der Staatsanwaltschaft, gegebenenfalls auch Gefängnisleiter zu bestrafen, ignorierte der 1951 angetretene Leiter der obersten Gefängnisverwaltung, August Mayer, ausnahmslos. Seiner Gefängnisverwaltung kam auch nicht in den Sinn, aus eigener Initiative die Staatsanwälte über »vorgekommene Entweichungen und Ungesetzlichkeiten« zu unterrichten. Hilferufe von Insassen erreichten die Staatsanwaltschaft daher kaum. So konnte (oder wollte) die Staatsanwaltschaft von März 1952 bis März 1953 keinen einzigen Hinweis auf eine Gefangenenmisshandlung finden, obwohl diese seinerzeit häufig vorkamen (siehe Kap. 3.3.8). Dass auch bei einer Inspektion Brandenburg-Gördens durch die Staatsanwaltschaft im Oktober 1952 »eine Reihe von Missständen« übersehen worden war, stellte sich erst beim nächsten Besuch heraus,374 »sodass eine Überwachung nur sehr begrenzt stattfand«. Deswegen forderten die SED-Bezirksleitungen auch, die Staatsanwälte für Strafvollzugsaufsicht besonders gut auszuwählen.375 Alles in allem kann man 370  Vgl. Heymann, Britta: Ernst Melsheimer (1897–1960). Eine juristische Karriere in unterschiedlichen politischen Systemen. Frankfurt/M. 2007, S. 234. 371  Vgl. Reibetanz, Hans; Richter, Kurt; Flemming, Kurt: Soll die Strafvollstreckung wieder der Staatsanwaltschaft übertragen werden? In: Neue Justiz (1956) (Sonder-Nr. vom 15.12.1956), S. 788–790. 372  Im Einzelnen waren es 56 Visiten durch die zuständige Abteilung I–4 der obersten Staatsanwaltschaft, 355 durch die Beauftragten der Bezirksstaatsanwälte und 703 durch die Staatsanwälte der Kreise, insgesamt also 1 114 Besuche im Jahr. Vgl. Bericht über die Durchführung der neuen Justizgesetze vom vom 15.5.1953; BArch NY 4090/440, Bl. 123–141. 373  Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 52. 374  Analyse der Haftaufsicht [durch Generalstaatsanwalt Ernst Leim] o. D. [3/1953]; BArch DY 30 IV 2/13/409, o. Pag. 375  Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 143.

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– so jedenfalls die Einschätzung von Mollnau – eine »Kompetenzohnmacht der Staatsanwälte gegenüber den staatlichen Organen« konstatieren, »besonders gegenüber jenen, die repressive und geheimdienstliche Funktionen erfüllten«.376 Im Zuge der Entstalinisierung versuchte die Generalstaatsanwaltschaft ihre allgemeine Aufsichtsfunktion zu präzisieren und auszuweiten,377 doch das Innenministerium steuerte dem entgegen. Mayer sah seine Autorität untergraben, »wenn Staatsanwälte versuchen, in die Befugnisse des Ministers des Innern oder des Leiters der Verwaltung Strafvollzug einzugreifen, indem sie selbst Anordnungen geben oder die Genossen zur Ungehorsamkeit gegenüber den Weisungen des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auffordern«. Es genüge völlig, so sein Ansinnen im Jahr 1956, wenn die Staatsanwaltschaft erst auf Anweisung des Innenministers hin Kontrollen vornehme.378 Wenn Vor-OrtBesuche schon nicht zu verhindern waren, wollte Mayer den Staatsanwälten wenigstens die Befugnis verweigern, Auflagen zu erteilen. Der stellvertretende Leiter der Obersten Staatsanwaltschaft, Bruno Haid, entgegnete, dass sich die Gefängnisverwaltung »nur sehr schwer von ›alten Vorstellungen‹ lösen« könne. Nach Haids Ansicht war es Aufgabe des Strafvollzugs, »bei den Strafgefangenen ›menschliche Werte‹ zu schaffen«. Deswegen sollten die Insassen beispielsweise auch Hobbybücher lesen dürfen. Haid wollte nicht einsehen, »weshalb man Gefangenen Fachliteratur z. B. über Zierfischzucht vorenthält, wenn der Einzelne dafür Interesse zeigt«. Derlei Vergünstigungen zu gewähren und einen »humanen« Strafvollzug einzurichten, lag der Volkspolizei allerdings fern. Um ihr Ansinnen zu unterstreichen, lobte die Staatsanwaltschaft sogar die Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit, wo materiell teilweise bessere Bedingungen herrschten, aber die Verhöre härter und die Isolation perfekter war.379 Melsheimer erklärte, »dass er außerordentlich beeindruckt gewesen sei, als er anlässlich einer Kontrolle der Dienststelle des MfS in Berlin in einer Zelle der Gefangenen ein Aquarium mit 3 Schleierschwänzen gesehen habe.«380 Die unterschiedlichen Konzepte kamen 376  Mollnau: Die staatsanwaltschaftliche Gesetzlichkeitsaufsicht, S. 262; ähnlich Carsten; Rautenberg: Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland, S. 314. 377  Vgl. Mollnau: Die staatsanwaltschaftliche Gesetzlichkeitsaufsicht, S. 262 f. 378  Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 379  Vgl. u. a. Beleites, Johannes: »Feinde bearbeiten wir!«. Die Haftbedingungen im Untersuchungshaftvollzug des MfS. In: Deutschland Archiv 32 (1999) 5, S. 787–798. Zugleich musste die Staatsanwaltschaft seinerzeit auf die Gesetzlichkeitsaufsicht über die operative Arbeit der Geheimpolizei verzichten. Vgl. Rottleuthner, Hubert: Gutachterliche Stellungnahme zu Fragen des Gerichts in der Strafsache vor dem Landgericht Frankfurt/Oder gegen Ha. In: ders. (Hg.): Das Havemann-Verfahren. Das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) und die Gutachten der Sachverständigen Prof. H. Roggemann und Prof. H. Rottleuthner. Baden-Baden 1999, S. 335–437, hier 415. 380  Vgl. Aktenvermerk der Verwaltung Strafvollzug betr. Besprechung über den Entwurf einer Ordnung über die staatsanwaltschaftliche Aufsicht vom 8.11.1956; BArch DO1 11/1589, Bl. 228.

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ferner darin zum Ausdruck, dass die Staatsanwaltschaft die »Kulturarbeit« als ein wichtiges pädagogisches Mittel betrachtete, die Volkspolizei hingegen in der Teilnahme an den Kulturabenden eine Vergünstigung sah, die sich die Häftlinge im Arbeitseinsatz erst »verdienen« sollten.381 Die oberste Gefängnisverwaltung warf ihrerseits im November 1956 der Staatsanwaltschaft vor, sie wolle aus den Haftanstalten Sanatorien machen.382 In dieser Phase wurde eine Ordnung über die staatsanwaltschaftliche Aufsicht vorbereitet, gegen die sich auch der Staatssicherheitsdienst sperrte, und die sich gegen den Widerstand beider Ministerien offenbar nicht durchsetzen ließ.383 Es sei nicht hinnehmbar, so die Verwaltung Strafvollzug weiter, wenn sich die Insassen mit Fachzeitschriften selbst versorgen oder eigenhändig Bücher bestellen könnten. Zwei Staatsanwälte hätten sogar bei einer Vor-Ort-Kontrolle einem jugendlichen Strafgefangenen die Hand geschüttelt: »Mit Erziehung hat das unseres Erachtens nach nichts zu tun, und das ganze Auftreten der Staatsanwälte führte dazu, dass die jugendlichen Strafgefangenen aufsässig wurden.« Mit der pädagogisch durchaus sinnvollen Idee, die Aufseher in Jugendhäusern sollten auf Uniformen verzichten, war Mayer ebenfalls nicht einverstanden. Vor allem aber wehrte er sich dagegen, dass in mehreren »Jugendhäusern an jugendliche Strafgefangene die Frage gestellt wurde, ob sie geschlagen werden«.384 Selbst bei Vorliegen von Verdachtsmomenten hielt Mayer solche Interventionen für unzulässig. Unter diesen Voraussetzungen aber konnten die Staatsanwälte für Strafvollzugsaufsicht, sofern sie überhaupt entsprechend ambitioniert waren, den Gefangenen nicht zu ihren wenigen Rechten verhelfen. In Brandenburg-Görden etwa hatte ein namentlich nicht genannter Staatsanwalt den Insassen im Vorjahr versichert, dass Kollektivstrafen unzulässig seien. Die Aufseher allerdings umgingen dies, indem sie etwa auf das geringste Fehlverhalten Einzelner hin die Freistunde für alle Häftlinge vorzeitig mit der Begründung beendeten, hierbei handle es sich gar nicht um eine Bestrafung im Sinne der Disziplinarordnung.385 Der für die Strafvollzugsaufsicht seitens der Obersten Staatsanwaltschaft maß­geblich verantwortliche stellvertretende Generalstaatsanwalt Bruno Haid war, ebenso wie August Mayer, Anfang der Dreißigerjahre in dem mehrfach um­benannten illegalen Nachrichtendienst der KPD aktiv gewesen.386 Doch die 381  Vgl. Schreiben des Leiters der Abteilung Strafvollzug des Präsidium der Volkspolizei Berlin an den Leiter der Hauptabteilung SV Mayer vom 22.5.1954; ebenda, Bl. 146 f. 382  Vgl. Aktenvermerk der Verwaltung Strafvollzug betr. Besprechung über den Entwurf einer Ordnung über die staatsanwaltschaftliche Aufsicht vom 8.11.1956; ebenda, Bl. 228. 383  Vgl. Otto: Erich Mielke, S. 256. 384  Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 385  Bericht des GI »Esther« vom 5.1.1956; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1188/62, Bd. I, Bl. 15 f. 386  Vgl. Auszug aus der Niederschrift über die Befragung des Genossen Bruno Haid vom 28.5.1974; BStU, MfS, HA IX/11, SiVo, Nr. 1/81, Bd. 257, Bl. 42–58.

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ge­meinsame Vergangenheit stand Rivalitäten und unterschiedlichen Auf­fas­sun­ gen nicht entgegen. Haid galt als Mann des Ulbricht-Rivalen Franz Dahlem und hatte die Schule eines Vorläufers der Hauptverwaltung Aufklärung ge­lei­ tet, war im Oktober 1952 jedoch aufgrund haltloser Unterstellungen auf Be­ trei­ben von Markus Wolf abgelöst worden.387 Als Richter und Staatsanwalt am Bezirksgericht Chemnitz (1952–54) hatte ihm die Staatssicherheit dann man­gelnde Härte gegenüber Oppositionellen vorgeworfen.388 Von 1954 bis 1958 fungierte er als Abteilungsleiter bei der Obersten Staatsanwaltschaft bzw. ab 1955 als Stellvertreter des Generalstaatsanwalts.389 Dann gehörte er der 1956 gebildeten Kommission des Zentralkomitees zur Überprüfung von Par­ teimitgliedern und ehemaligen Parteimitgliedern an, die durch Haft­ent­las­sungen Justizkorrekturen vornahm. Haid wehrte sich dagegen, dass die Ge­heimpolizei auch innerhalb der Staatsanwaltschaft Spitzel anwarb und ver­wandte sich nach dessen Inhaftierung für Walter Janka. Mielke wies daraufhin im Sommer 1958 an, die »wirkliche Meinung« von Haid zu erforschen.390 Im Er­geb­nis wurde er von der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) für sein Ver­halten gerügt und auf Beschluss des Politbüros im April 1958 von seiner Funk­tion als Stellvertreter des Generalstaatsanwalts entbunden, weil er den »Kampf gegen Feinde der DDR vernachlässigt« habe.391 Ein pädagogisches Anliegen war dem Chef der DDR-Gefängnisverwaltung August Mayer fremd. Die Staatsanwaltschaft wolle den Insassen sozialistisches Bewusstsein vermitteln und sogar »sozialistische Wettbewerbe« durchführen. Das, so Mayer, sei aber Aufgabe der Partei, der Gewerkschaften sowie verschiedener Massenorganisationen. Die Vorstellungen der Staatsanwaltschaft, so Mayer weiter, würden »der Zeit weit vorauseilen und unseren Bedingungen entsprechend heute noch nicht durchgeführt werden können«. Ein immer wiederkehrendes, gleichwohl unzutreffendes Begründungsmuster hierfür war, dass der Strafvollzug ständig den »Angriffen« des Westens ausgesetzt sei. Mayer erwähnte hier vor allem den Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) sowie die Zustellung von »Hetzschriften« an Aufseher durch antikommunistische Organisationen wie die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit. Diese »Spionageorganisationen« seien 387  Vgl. Müller-Enbergs, Helmut: Markus Wolf und die Ablösung Bruno Haids als Leiter der DDR-Nachrichtendienstschule 1952. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (2006), S. 311–319. 388  Vgl. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AOP, Nr. 355/54. 389  Vgl. Klein: Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED, S. 323. 390  Bericht der Hauptabteilung V/5/I vom 3.4.1957; BStU, MfS, AP, Nr. 40637/92, Bl. 22–24. 391  Von 1958 bis 1960 musste er dann in der subalternen Funktion eines Juristen bei verschiedenen volkseigenen Betrieben arbeiten. Dann wurde er rehabilitiert und arbeitete ab 1960 im Ministerium für Kultur. Seine Zuverlässigkeit musste er auch unter Beweis stellen, als er ab 1961 auf offizieller Basis mit dem Staatssicherheitsdienst zusammenarbeiten musste und dabei angeblich »entsprechend seinen Möglichkeiten volle Unterstützung gibt«. Auskunftsbericht der Hauptabteilung XX/1 über Haid, Bruno vom 11.10.1968; ebenda, Bl. 86–88.

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dazu übergegangen, Steckbriefe gegen einzelne Aufseher herauszugeben und sie der Übergriffe auf Insassen zu beschuldigen. »Mir scheint, dass es gerade gegenwärtig notwendig ist, die moralische Kraft unserer Genossen dadurch zu stärken, dass man sie in dem Bemühen unterstützt, durch den Gegner veranlasste Störungsversuche rasch zu unterbinden.« Bei der Drangsalierung der Gefangenen forderte er von der Staatsanwaltschaft also Rückendeckung statt Einmischung.392 Haid wollte dann im Januar 1957 zwar erneut eine Gefangenenmisshandlung (im Jugendhaus Ichtershausen) untersuchen, wurde jedoch mit der Begründung politischer Inopportunität durch Erich Honecker als Sekretär der Sicherheitskommission beim Politbüro in die Schranken gewiesen.393 Im Zuge der Entstalinisierung geriet Mayer 1956 etwas in die Defensive und gestand den Insassen immerhin zu, »in bestimmten Zeitabschnitten den Staatsanwalt zu sprechen«. Bisher sei es so, dass die Staatsanwälte die Gefängnisse aufsuchten, mit nur wenigen Gefangenen sprechen könnten und »oft nur oberflächlich durch die Anstalt gehen, was sich dann in dem lakonischen Satz im Kontrollbuch ausdrückt: ›Keine besonderen Beanstandungen.‹« Um das Gefängniswesen gegen den schwerwiegenden Vorwurf der Missachtung der Gesetzlichkeit zu wappnen, versprach Mayer nun sogar, die Aufsichtsfunktion der Staatsanwälte zu unterstützen. Deren Arbeit wäre, so Mayer, eine »ausgezeichnete Unterstützung«, »wenn diese in der richtigen Form und in gegenseitiger Zusammenarbeit durchgeführt wird«, was freilich nicht dem Wesen einer Kontrollfunktion entsprach. Mayer hielt sich in diesem Zusammenhang bemerkenswerterweise auch zugute, man habe »mit den Genossen des Ministeriums für Staatssicherheit um die Abschaffung der Ausnahmehaftbedingungen« einen »hartnäckigen Kampf« geführt, der, wie er mit einem Seitenhieb feststellte, »vom Genossen Generalstaatsanwalt kaum unterstützt wurde«.394 Freilich fungierte die Volkspolizei auch jetzt nicht aus Überzeugung als Vorkämpfer humanitärer Haftbedingungen, sondern ließ sich bei dieser Frage wohl eher von Rivalität zwischen den Institutionen leiten. Im Zuge der innerdeutschen Amnestiedebatte der Jahre 1955 bis 1958 (siehe Kap. 5.6.1.5) wurden die politischen Häftlinge in der DDR eine Art politischer Faustpfand, was besonders für inhaftierte Sozialdemokraten galt.395 392  So verwahrte sich Mayer auch entschieden gegen den pragmatischen Vorschlag eines Staatsanwalts für Strafvollzugsaufsicht bei einem »Ausspracheabend« der Nationalen Front zu den Gerüchten über das Haftarbeitslager Rüdersdorf, ein Häftling solle selbst zu Wort kommen oder vier abgeordnete Bürger sollten das Lager besuchen und sich selbst ein Bild von den Zuständen machen. Vgl. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. Zum RIAS siehe auch Galle, Petra: RIAS Berlin und Berliner Rundfunk 1945–1949. Münster 2003. 393  Vgl. Alisch: Beispiel Cottbus, S. 160 f. 394  Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 395  Vgl. Mitteilung des Presseamtes beim Ministerpräsidenten. In: Neues Deutschland vom 21.6.1956, S. 1.

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So befasste sich die Generalstaatsanwaltschaft im März 1958 besonders mit dieser Häftlingsgruppe, als einer ihrer Mitarbeiter inhaftierte Sozialdemokraten auch in Brandenburg-Görden aufsuchte und mit ihnen diskutierte.396 Gewisse Erfolge in der Aufsicht über diese Haftanstalt konstatierte die Staatsanwaltschaft zwei Jahre später, wollte sich aber auch zukünftig mit einem Besuch pro Jahr zufrieden geben.397 Unter diesen Bedingungen konnte von einer wirkungsvollen Kontrolle keine Rede sein. Nach dem Staatsratserlass über die Rechtspflege vom 4. April 1963 wurde ein neues Gesetz über die Staatsanwaltschaft verabschiedet398 und wenige Monate später die »Ordnung über die Arbeitsweise der Staatsanwaltschaft« vom Zentralsekretariat der SED bestätigt.399 Die allgemeine Gesetzlichkeitsaufsicht der Staatsanwaltschaft wurde demzufolge »erheblich eingeschränkt«.400 Den neuen Bestimmungen nach war die Abteilung Strafvollzugsaufsicht der General­ staatsanwaltschaft indes weiterhin explizit »verantwortlich für die Durchsetzung der Prinzipien des sozialistischen Strafvollzugs und für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen« in den Gefängnissen sowie für die Überprüfung der Strafvollstreckung. Hinsichtlich der Wiedereingliederung wurden der Staatsanwaltschaft sogar neue Kompetenzen zugewiesen.401 Sogar gegenüber dem Staatssicherheitsdienst wollte die Abteilung Sicherheitsfragen seinerzeit die Aufsichtsfunktion der Staatsanwaltschaft gestärkt sehen.402 Im Einzelnen sollte seinerzeit die Abteilung III der Generalstaatsanwaltschaft die Aufsicht über Strafvollzug, Haftarbeitslager, Jugendhäuser, Ar­beits­er­ ziehungskommandos sowie Heime für soziale Betreuung führen. Es galt, die Er­zie­hung der Gefangenen, die Einhaltung der gesetzlichen Grundlagen des Ar­ 396  Vgl. Ostspiegel des Ostbüros der SPD vom 22.12.1958; zit. nach: BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 488/62, Bd. 1, Bl. 179–181. 397 Vgl. Bericht des [Bezirksstaatsanwalts für Haftstättenaufsicht] Rödel über die Haftstättenaufsicht für das Jahr 1959 o. D. [Anfang 1960]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/117, Bl. 154 f. 398  Vgl. Erlass des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege vom 4. April 1963 (Drucksache der Volkskammer Nr. 189); BArch DA 5/2236, Bl. 23–56 und Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 17.4.1963; GBl. der DDR Nr. 4 vom 25.4.1963, S. 57–62. 399  Vgl. Anlage 2 zum Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 19.11.1963: Ordnung über die Arbeitsweise der Staatsanwaltschaft; BArch DY 30 J IV 2/3–928. 400  Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 31. Siehe auch Baer, Andrea: Rechtsquellen der DDR. Steuerung auf der normativ-symbolischen Ebene. In: Rottleuthner, Hubert (Hg.): Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Köln 1994, S. 67–91, hier 81; Mollnau: Die staatsanwaltschaftliche Gesetzlichkeitsaufsicht, S. 263. 401  Vgl. Anlage 2 zum Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 19.11.1963: Ordnung über die Arbeitsweise der Staatsanwaltschaft; BArch DY 30 J IV 2/3–928. 402  Vgl. Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90 (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 20). Berlin 2000, S. 232.

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beits- und Gesundheitsschutzes sowie »die Anwendung von Disziplinarstrafen« zu überwachen und auf den Erlass neuer Dienstanweisungen »unmittelbaren Ein­fluss« zu nehmen. Als Leiter der Abteilung III (und Nachfolger Haids) fun­ gier­te Staatsanwalt Kurt Kunze, der die Haftstättenstaatsanwälte in den Be­zir­ ken anleitete, die Arbeitskontakte zu verschiedenen Ministerien pflegte und für be­sonders wichtige Haftanstalten persönlich verantwortlich war, darunter das zen­tra­le Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Hohenschönhausen so­ wie die von ihr dominierte Strafvollzugsanstalt Bautzen II. Staatsanwalt Butte über­nahm die meisten Straf- und Untersuchungshaftanstalten, während der Frauen- und Jugendstrafvollzug sowie die Wiedereingliederung in der Zu­stän­dig­ keit von Staatsanwältin Irma Thorn lagen.403 Kunze sprach in Bautzen II einmal mit Rudolf Bahro. Zudem war er bei der Vollstreckung von To­desurteilen zu­ ge­gen.404 Als an seiner Stelle einmal Thorn Bautzen II be­such­te, zeigte sie sich zwar schockiert, als ihr der politische Häftling Klaus Benzing verschiedene Miss­ stände schilderte.405 Doch der nachfolgend ein­ge­setz­te Staatsanwalt Jahnke ge­ stattete, die schriftlichen Beschwerden und Straf­anzeigen der Gefangenen zu­ künf­tig unbeantwortet abzulegen – wegen ihrer »provokatorischen, frechen und zynischen Art«.406 Der 1962 ernannte Lei­ter der Gefängnisverwaltung, Johannes Kohoutek, schaffte sogar die mo­nat­li­chen Beratungen mit den Staats­ an­wälten für Strafvollzugsaufsicht ab. »Kom­men diese Genossen zu ihm, so hört er sich zwangsläufig das Vorgetragene an. Sobald die Genossen die Tür hin­ter sich zugemacht haben, ist alles vergessen und bedeutungslos.« Noch in kei­nem einzigen Fall hätten die Staatsanwälte ihn da­zu veranlassen können, für Abhilfe zu sorgen.407 In der Praxis wurden so die Kon­trollabsichten der Staats­an­waltschaft vom Gefängniswesen unterlaufen. Im Oktober 1965 forderte Ulbricht kurzfristig eine »exakte Analyse des derzeitigen Standes« im Strafvollzug und ließ Generalstaatsanwalt Streit eine Arbeitsgruppe aus Mitarbeitern der Gefängnisverwaltung, des Justizministeriums sowie des Obersten Gerichts bilden.408 In ihrem Berichtsentwurf vom November kritisierte die Staatsanwaltschaft, der ostdeutsche Strafvollzug sei »in den alten überkommenen Formen steckengeblieben« und liege mittlerweile hinter dem einiger westlicher Staaten zurück (wie etwa Schweden). Wegen der bislang völlig 403  Vgl. Schreiben des Generalstaatsanwalts der DDR an Genossen Klaus Sorgenicht vom Zentralkomitee der SED vom 2.4.1963; BArch DY 30/IV 2A/152, o. Pag. 404  Vgl. Halter, Hans: »Nahschuß in den Hinterkopf«. In: Der Spiegel Nr. 35/1991 vom 26.8.1991, S. 84–86. 405  Vgl. Hauptabteilung VII/1: Zusammenfassender Bericht, Prüfung und Einschätzung des Materials Benzing vom 24.3.1964; BStU, MfS, BV Dresden, AOP, Nr. 256/67, Bd. 1, Bl. 11–27. 406  Stellungnahme des Oberstleutnants Winkler vom 16.12.1963; ebenda, Bl. 126 f. 407  Vgl. Bericht der HA VII/1 über die Fragen der Leitungstätigkeit in der Verwaltung Strafvollzug vom 22.2.1965; BStU, MfS, AP, Nr. 12711/73, Bl. 71–76. 408  Vgl. Schreiben des Generalstaatsanwalts der DDR an die Abteilung Staats und Recht des Zentralkomitee der SED vom 13.11.1965; BArch DY 30/IV 2A/152, o. Pag.

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ungenügenden Resozialisation müsse der Strafvollzug viel differenzierter erfolgen und es gelte »eine bunte Vielfalt« von Gefängnissen bis hin zu »offenen Anstalten« und »Besserungs-Internaten« zu errichten. Nachtarbeit gelte es zu reduzieren, Hafturlaube seien zu gestatten und »erniedrigende Kleidung« sowie »unwürdige Disziplinarmaßnahmen« tabu.409 Im Februar des Folgejahres legte Streit dann eine »Konzeption zur Erhöhung der Wirksamkeit des Strafvollzugs« vor.410 Während die SED-Führung bereits auf eine strengere Linie bei der Behandlung der Insassen umschwenkte (siehe Kap. 3.2.6), forderte die Staatsanwaltschaft eine stärker nach Altersgruppen differenzierte Unterbringung der Häftlinge sowie Therapieplätze für alkoholkranke und psychisch auffällige Insassen; Verschärfungen der Arbeitsoder Haftbedingungen seien keine geeigneten Disziplinarmaßnahmen.411 Im April 1966 drängte Streit dann auf einer Staatsratssitzung erneut darauf, »die erzieherische und rückfallverhütende Wirkung« des Strafvollzugs zu erhöhen,412 und der Präsident des Obersten Gerichts, Heinrich Toeplitz, betonte, dass in den Gefängnissen die »Hauptmethode des sozialistischen Staates, Überzeugung und Erziehung, immer stärker in den Vordergrund« treten müsse.413 Zusammen mit Streit kritisierte er die strenge und unflexible Behandlung der Häftlinge. Trotz guter Ansätze in einigen Haftanstalten erfolge die individuelle Behandlung der Gefangenen nicht differenziert genug.414 Dies entsprach dem Hauptvorwurf der Justiz, dass das Organ Strafvollzug nicht in der Lage sei, pädagogische Konzepte umzusetzen. Mit einem Seitenhieb stellte Streit fest, dass »ausreichend und spezifisch geschulte Erzieher« sowie »hochqualifizierte Leitungskader« benötigt würden.415 Grünstein plädierte jetzt für ein »lückenloses System erzieherischer und administrativer Maßnahmen«, um die Rückfälligkeit von Haftentlassenen zu

409  Vgl. Entwurf einer Konzeption des Generalstaatsanwalts der DDR für die Ausarbeitung von Maßnahmen zur Erhöhung der Wirksamkeit des Strafvollzugs vom 11.11.1965; BArch DY 30/IV 2A/152, o. Pag. 410  Vgl. Schreiben des Generalstaatsanwalts an den Vorsitzenden des Staatsrates vom 28.2.1966; BArch DA 5/506, Bl. 61. 411  [Generalstaatsanwalt u. a.]: Konzeption für die Ausarbeitung von Maßnahmen zur Erhöhung der Wirksamkeit des Strafvollzugs in der DDR o. D. [2/1966]; BArch DA 5/506, Bl. 62–87. 412  Streit, Josef: Erfahrungen und neue Probleme bei der Durchführung des Rechtspflegeerlasses. Diskussionsbeitrag [auf der 25. Sitzung des Staatsrates am 15. April 1966]. In: Neue Justiz (1966) 12, S. 353–361, hier 355. 413  Toeplitz, Heinrich: Die DDR ist der wahre deutsche Rechtsstaat. Diskussionsbeitrag [auf der 25. Sitzung des Staatsrates am 15. April 1966]. In: ebenda, S. 374–376, hier 375. 414  Vgl. Bericht von Streit und Toeplitz über die hauptsächlichen Erfahrungen bei der Durchführung des Rechtspflegeerlasses vom 31.1.1964; BArch DA 5/329, S. 1–46. 415  Vgl. [Generalstaatsanwalt u. a.]: Konzeption für die Ausarbeitung von Maßnahmen zur Erhöhung der Wirksamkeit des Strafvollzugs in der DDR o. D. [2/1966]; BArch DA 5/506, Bl. 62–87.

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bekämpfen.416 Staatssicherheitsminister Erich Mielke betonte ebenfalls, es seien noch nicht die richtigen Konsequenzen aus dem Rechtspflegeerlass gezogen worden. Bei einigen Aufsehern würden »die pädagogischen Fähigkeiten, das psychologische Einfühlungsvermögen und auch oft die Liebe zur Sache nicht ausreichen, um die Menschen zu verändern«. Die baulichen Voraussetzungen der Haftanstalten müsse die Gefängnisverwaltung aber selbst verbessern.417 Drei Monate später ermahnte Innenminister Dickel die Gefängnisleiter erneut, gut mit den zuständigen Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, erklärte aber zugleich: »Lassen Sie sich nicht durcheinander bringen, wenn der ein oder andere in Ihre Anstalt kommt und Ihnen Ratschläge gibt. Niemand hat das Recht, Weisungen zu verändern.«418 Weitere drei Monate später sah sich die Abteilung Sicherheitsfragen veranlasst, nochmals den Generalstaatsanwalt zu ermahnen, seiner Aufsichtspflicht gegenüber dem Strafvollzug nachzukommen.419 Nach dem neuen Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz von 1968 ent­schieden in der Regel nicht mehr die Gerichte, sondern die Leiter der Un­ ter­suchungshaftanstalten über die Einordnung der Häftlinge in bestimmte Voll­zugskategorien, was die Strenge der Haftbedingungen für die Be­trof­fe­ nen vorzeichnete.420 In institutioneller Hinsicht bedeutete dies eine wei­te­re Kompetenzverlagerung von der Justiz zur Volkspolizei. Trotz ihrer po­li­tisch repressiven Funktion als oberster Ankläger im SED-Staat zeigte sich die Justiz den Anliegen der Inhaftierten gegenüber immer noch ten­den­ziell of­fener als Staatssicherheit oder Volkspolizei. So gingen Anträge auf vor­zei­tige Haftentlassung bei guter Führung nach § 346 der Straf­pro­zess­ord­nung zumindest in BrandenburgGörden seinerzeit häufiger von der Staats­an­waltschaft als von der Gefängnisleitung aus (siehe Kap. 4.1.11). Auch kri­ti­sier­te die Generalstaatsanwaltschaft die dortige Gefängnisleitung da­für, dass sie politische Häftlinge zu lange isoliere.421 Insgesamt verlor die Auf­sichts­fun­ktion der Staatsanwaltschaft aber an Relevanz, weil alles in allem we­ni­ger Gründe zum Einschreiten vorlagen bzw. allzu offensichtliche Re­gel­ver­stö­ße (wie das Überschreiten der Haftzeit) insgesamt nachließen. Die ober­ste Straf­vollzugsleitung gab diese Entwicklung als ihre eigene Leistung aus; 416  Grünstein, Herbert: Kampf gegen Kriminalität – ein komplizierter Prozess. Diskussions­ beitrag [auf der 25. Sitzung des Staatsrates am 15. April 1966]. In: Neue Justiz (1966) 12, S. 378 f., hier 378. 417  Mielke, Erich: Die sozialistische Gesetzlichkeit dient der weiteren Entfaltung der Demokratie. Diskussionsbeitrag [auf der 25. Sitzung des Staatsrates am 15. April 1966]. In: ebenda, S. 376 f., hier 377. 418  Ausführungen des Ministers des Innern auf der Arbeitstagung der Verwaltung Strafvollzug am 27.7.1966; BArch DO1 32/36357. 419  Vgl. Vorlage der Abteilung für Sicherheitsfragen für das Sekretariat des Zentralkomitees über die Lage im Strafvollzug (mit Anlage 1–5) vom 26.10.1966; BArch DY 30 J IV 2/3 A–1390. 420  Vgl. Buchholz; Tunnat; Mehner: Hauptaufgaben des sozialistischen Strafvollzugs, S. 55 f. 421  Vgl. Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft an den Leiter der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 6.9.1960; BStU, MfS, AU, Nr. 131/52, SV-Überwachungsheft 2, Bl. 44.

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die Ri­valitäten schwelten weiterhin, wenn auch weniger offen. Im Umfeld des Staats­ratsvorsitzenden Walter Ulbricht registrierte man mit sichtlichem Miss­ fal­len »Eifersüchteleien, persönliche Vorbehalte usw. zwischen den Leitern der zentralen Rechtspflegeorgane«.422 Der von 1967 bis 1972 amtierende Justizminister Kurt Wünsche besuchte zwar die Haftanstalt an der Havel im Jahre 1970 offiziell mit einer Delegation, doch seine Visite galt nicht der (außerhalb seiner Zuständigkeit liegenden) Aufsicht über das Gefängnis.423 Wünsche hatte vor seiner Berufung zum Minister zeitweise als inoffizieller Mitarbeiter für die Staatssicherheit gearbeitet – was seiner Unabhängigkeit nicht eben förderlich gewesen sein dürfte. Dies gilt auch für seinen Nachfolger Hans-Joachim Heusinger.424 Dieser wollte in der neuen Strafvollzugsordnung von 1975425 immerhin die Höchstdauer des Freizeitarrestes um eine Woche gesenkt und die »Anwendungsvoraussetzungen [...] differenzierter« geregelt wissen,426 was auf eine Einschränkung der willkürlichen Anwendung hinauslief. Und auch Streit drängte seinerzeit auf Regelungen wie die Begrenzung der Isolationshaft auf drei Jahre sowie eine Verankerung der Informationspflicht der Haftanstalten gegenüber den Staatsanwälten für Strafvollzugsaufsicht in der neuen Strafvollzugsordnung.427 Die Staatsanwaltschaft besaß innerhalb des Institutionengefüges des ost­ deut­schen Rechtswesens »die stärkste Stellung«.428 Als streng hierarchisch ge­ glie­derte Anklagevertretung fungierte sie weiterhin als eine Art Kontrollinstanz ge­genüber anderen Staatsorganen, wenngleich die Staatsanwälte für Straf­voll­ zugsaufsicht ab 1975 für mehrere Bezirke zuständig wurden.429 Da­f ür leg­te das Staatsanwaltschaftsgesetz von 1977430 die Kompetenzen der Straf­voll­ zugsaufsicht vom Wortlaut her sogar eindeutiger fest: Hatte es im Straf­voll­zugs­ gesetz von 1968 noch geheißen, die Staatsanwaltschaft sei berechtigt, »mit den Strafgefangenen Aussprachen zu führen« sowie »ausgesprochene Dis­zi­pli­nar­ 422  Vermerk zum Bericht des Generalstaatsanwalts vom 14.4.1966; BArch DA 5/506, Bl. 56–58. 423  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 160 f. 424  Vgl. Sélitrenny: Doppelte Überwachung, S. 136. 425  Vgl. Ordnung 107/75 des Ministers des Innern über die Durchführung des Vollzuges der Strafen mit Freiheitsentzug (Strafvollzugsordnung) vom 25.3.1975; BArch DO1 2.2./60944. 426  Schreiben des Ministers der Justiz zum Entwurf der 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsordnung) vom 10.3.1975; BArch DO1 2.2./60945. 427  Vgl. Schreiben des Generalstaatsanwalts zum Entwurf der 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsordnung) vom 5.3.1975; ebenda. 428  Vgl. Sélitrenny: Doppelte Überwachung, S. 142. 429  Vgl. Sonntag: Arbeitslager in der DDR, S. 100. 430 Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 31. Siehe auch Behlert, Wolfgang: Die Generalstaatsanwaltschaft. In: Rottleuthner, Hubert (Hg.): Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Köln 1994, S. 287–349, hier 291 f.

Der Strafvollzug und die Justiz

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maßnahmen, besonders Arreststrafen, zu überprüfen«,431 hieß es im Ge­setz­es­ text von 1977, dass jede Beschwerde über Disziplinarmaßnahmen, der durch die Gefängnisleitung nicht entsprochen wurde, »unverzüglich dem Leiter der Ver­ waltung Strafvollzug zur Entscheidung vorzulegen« sei und der zuständige Staats­ anwalt informiert werden sollte. Dieser war jetzt ausdrücklich befugt, den Ge­ fängnisleitern »Weisungen zur Beseitigung festgestellter Rechtsverletzungen zu erteilen«, was zuvor immer strittig geblieben war.432 Die Staatsanwaltschaft für Straf­vollzugsaufsicht sollte jetzt »erhebliche Überschreitungen der Befugnisse« durch die Aufseher untersuchen, »Beschwerden gegen die Anwendung von Sicherungs- und Disziplinarmaßnahmen« prüfen sowie die Einhaltung der Ar­ beitszeiten überwachen.433 Zur Untersuchung von Vorfällen verfügte die Staats­ anwaltschaft für Strafvollzugsaufsicht beispielsweise in Brandenburg-Görden über ein eigenes »Aussprachezimmer«.434 An den katastrophalen Haft­be­dingungen und der Behinderung von Beschwerden änderte das neue Staats­an­waltschaftsgesetz jedoch wenig (siehe Kap. 3.2.9). Angesichts der Haftbedingungen (siehe Kap. 3.3) wird deutlich, dass Justiz und Staatsanwaltschaft es versäumten, ihre Befugnisse auszuschöpfen und sich für die Rechte der Gefangenen einzusetzen. In der Praxis nahmen die Staatsanwälte nur selten mäßigend Einfluss – so lehnten sie beispielsweise in den Siebziger- und Achtzigerjahren gelegentlich ab, von der Strafvollzugsverwaltung angestrebte Ermittlungsverfahren gegen Inhaftierte durchzuführen, weil die entsprechenden Rechtsgrundlagen nicht vorliegen würden.435 Auch sind Fälle überliefert, in denen couragierte Vertreter ihres Standes, etwa durch besorgte Eltern alarmiert, Disziplinarverfahren gegen Aufseher auslösten, weil diese Misshandlungen unter jugendlichen Strafgefangenen zugelassen hatten.436 Im Allgemeinen jedoch legten die Staatsanwälte ihr Augenmerk mehr auf formale Fragen, wie die korrekte Berechnung von verbliebenen Reststrafen durch die Vollzugsstellen. Über die eigentlichen Missstände sahen sie bei ihren Besuchen vor Ort meist hinweg oder zogen jedenfalls nicht die notwendigen Konsequenzen. Falls Beschwerden gegen Disziplinarmaßnahmen sie überhaupt erreichten, wiesen sie diese meist 431  Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz (SVWG) vom 12.1.1968 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestimmung (Strafvollzugsordnung) vom 15.1.1968. Hg. als Arbeitsmaterial von der Verwaltung Strafvollzug des MdI; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10068, Bl. 55. 432  Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestimmung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 433  Vgl. Entwurf einer Anweisung des Generalstaatsanwalts zur staatsanwaltschaftlichen Aufsicht über den Strafvollzug o. D. [1973]; BArch DP 3/III/64. 434  Vgl. Vorschlag der Abteilung VII/1 zur Umregistrierung des IMS »Stein« vom 11.9.1974; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, Bl. 68–70. Siehe auch Abb. 25. 435  Vgl. u. a. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 677/78. 436  Vgl. Bericht der Hauptabteilung VII über die durchgeführten Überprüfungen zu einer Eingabe an den Generalstaatsanwalt vom 26.7.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 361/78, Bl. 1–10.

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als unbegründet zurück. Selbst als ein bundesdeutscher Häftling im Jahre 1980 in Bautzen II gegen seine Misshandlung klagen wollte, verdeutlichte ihm der zuständige Staatsanwalt im persönlichen Gespräch, dass seine »Anschuldigungen grundlos sind«. Und der Justizvertreter genehmigte auch die nachfolgende Zensur der Briefe, sodass Rechtsanwälte gar nicht erst verständigt werden konnten.437 Damit war die Angelegenheit auf »lautlose« Art und Weise »bereinigt«. Ebenso wurden die Briefe eines Insassen Brandenburg-Gördens an Rechtsanwalt Wolfgang Schnur angehalten, gerade als der Betreffende Anzeige wegen seiner Misshandlung erstatten wollte.438 Zuletzt fungierte Alfred Heyer als Leiter der Abteilung Strafvollzugsaufsicht, der seit 1965 in der Abteilung 4 der Generalstaatsanwaltschaft tätig war. Er ver­ trat einen »klaren und festen Klassenstandpunkt« und galt als wenig ent­schei­ dungs­freudig,439 was seine Durchsetzungsfähigkeit bei Konflikten mit der Ge­ fäng­nisverwaltung kaum befördert haben dürfte. Deren Mitarbeiter lud er auch zu Geburtstagsfeiern ein,440 bei denen alkoholische Getränke ausgeschenkt wur­ den, obwohl er eigentlich eine Aufsichtsfunktion über den Strafvollzug ausüben soll­te. Wie weit die staatsanwaltschaftliche Kontrolle tatsächlich reichte, variierte da­her in der Praxis sehr stark – je nach Haftanstalt, Kooperationsbereitschaft des Ge­fängnisleiters, Durchsetzungsvermögen des zuständigen Staatsanwalts und Gut­dünken der zuständigen Stellen des Ministeriums für Staatssicherheit. Zu Bau­tzen I beispielsweise erklärte der ehemalige stellvertretende Gefängnisleiter rück­blickend, die zuständige Staatsanwaltschaft sei durch die vor Ort tätigen Mit­arbeiter von Kriminalpolizei und Staatssicherheit (siehe Kap. 5.1.1) »mehr oder weniger ausgeschaltet« worden.441 Auch was Brandenburg-Görden be­ trifft, liegen bislang keine Hinweise auf eine nennenswerte Einflussnahme der Staatsanwaltschaft vor. Es wäre auch verwunderlich, hätte der fast 25 Jahre am­ tierende Gefängnisleiter Fritz Ackermann sich seine Rolle als alleiniger »Herr im Hause« ausgerechnet von der Staatsanwaltschaft streitig machen lassen. Ei­ gen­sinnig zeigte er sich indes auch schon im Juni 1962, als er aus unbekannten Grün­den, aber entgegen den Intentionen der Staatsanwaltschaft, die vorzeitige Frei­lassung eines bestimmten politischen Gefangenen forderte.442 Vielmehr half 437  Schreiben des Leiters von Bautzen II an die Verwaltung Strafvollzug vom 5.12.1986; BArch DO1 32/53262. 438  Vgl. Information der OPG zum Verhalten des SG vom 21.4.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 632, Bl. 188–191. 439  Vgl. Bericht von »Largo« vom 15.10.1988; BStU, MfS, HA XX, AP, Nr. 30907/92, S. 141 f. Siehe auch BStU, MfS, HA VIII, RF, Nr. 1753/81 (3641/78). 440  Vgl. Mündliche Information des IM »Günter Rabe« vom 5.4.1978; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 5, Bl. 260–263. 441  Zit. nach: dpa-Meldung vom Mai 1994. 442 Vgl. Fricke, Karl Wilhelm; Engelmann, Roger: »Konzentrierte Schläge«. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956 (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 11). Berlin 1998, S. 204.

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die Staatsanwaltschaft in Brandenburg-Görden tatkräftig mit, Vorkommnisse wie et­wa Gefangenenmisshandlung zu vertuschen, die im Falle ihres Bekanntwerdens »po­litischen Schaden angerichtet« hätten.443 So hoffte etwa Wolfgang Defort in der Haftanstalt an der Havel vergeblich darauf, dass seine zwei Anzeigen wegen Kör­perverletzung gegen Aufseher bearbeitet würden.444 Der in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre hier zuständige Staatsanwalt für Strafvollzugsaufsicht Fischer sor­gte sich lieber darum, dass der Anstaltsgeistliche Eckart Giebeler allein­ste­ hen­den Häftlingen keine Briefkontakte zu sozial engagierten – aber nicht ver­ wandten – DDR-Bürgerinnen vermittelte. Dies hätte zwar der Resozialisation för­derlich sein können, widersprach jedoch den Sicherheitsbestimmungen.445 Wäre gegen Aufseher wegen Übergriffen auf Insassen ermittelt worden, hätte dies in der Zuständigkeit einer gesonderten Abteilung der Staatsanwaltschaft ge­ legen. Vergehen von Volkspolizisten verfolgte nämlich das 1953 gebildete Un­ tersuchungsbüro beim Innenministerium, das 1954 in eine Staats­an­walt­schaft der Volkspolizei beim Innenministerium mit 157 Planstellen um­struk­tu­riert und der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt wurde.446 Wären die be­schuldigten Aufseher indes aus den Reihen der Volkspolizei ausgestoßen wor­den, wären gewöhnliche Gerichte auf den Plan getreten. Im November 1956 wur­de dann die Militärstaatsanwaltschaft gebildet, die grundsätzlich für alle Er­mittlungsverfahren gegen Angehörige der bewaffneten Organe sowie für De­lik­te von Zivilpersonen zuständig war, die die militärische Sicherheit zu be­ein­träch­tigen schienen.447 Diese besondere Konstruktion lässt schon ver­mu­ten, dass Gesetzesverstöße von Volkspolizisten mit anderer Elle gemessen wur­den als die gewöhnlicher DDRBürger (siehe auch Kap. 3.3.8.3).

2.4 Die Abschaffung parlamentarischer Kontrolle Entsprechend ihren ordnungspolitischen Vorstellungen legte die SED-Führung die Zuständigkeit für den Strafvollzug Anfang der Fünfzigerjahre in die Hände der politisch zuverlässigen Volkspolizei. Ein weiterer Schritt zur Diktaturdurchsetzung war die Ausschaltung parlamentarischer Kontrollgremien. Denn nach Kriegsende waren in Sachsen und Thüringen Parlamentsausschüsse für Strafvollzug auf 443  Zit. nach: Der Tagesspiegel vom 26.5.1994, S. 6. 444  Vgl. Brief von Wolfgang Defort an den Verbindungsoffizier des MfS vom 16.1.1977; BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 1744/77, Bl. 287–290. 445  Vgl. Aktenvermerk der Abteilung VII [der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit] Potsdam vom 2.3.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 2, Bl. 76. 446  Vgl. Vorlage Stophs für das Politbüro betr. Staatsanwaltschaft der Volkspolizei beim Ministerium des Innern vom 8.1.1954; BArch DY 30 J IV 2/2 A–326, Bl. 428 f. 447  Vgl. Wenzke, Rüdiger: Militärjustiz und Disziplinarrecht in der NVA. In: Militärgeschichte (1995) 6, S. 45–51.

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Der Strafvollzug

Landesebene sowie ähnliche Gremien auf Kreisebene eingerichtet worden. Die Mitglieder dieser Ausschüsse, die der SED, aber auch den Blockparteien der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) und der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) angehörten, konnten sich Zugang zu den Haftanstalten verschaffen und mit Häftlingen sprechen. Ferner durften sie zu ihren Sitzungen die Leitungskader einzelner Haftanstalten vorladen und befragen. Allerdings wurde den Mitgliedern dieser Gremien der Besuch von Haftanstalten mit politischen Häftlingen in der Regel verwehrt. Gleichwohl gewann etwa der thüringische Landtagsausschuss durchaus Einblicke in das Gefängniswesen, benannte beispielsweise im Landtag die Zustände in der Haftanstalt Ichtershausen offen als »menschenunwürdig« und konnte teilweise für Abhilfe bei gravierenden Missständen sorgen.448 In Sachsen stand der Strafvollzugsausschuss unter der Ägide des Land­tags­ präsidenten Otto Buchwitz, der als Sozialdemokrat mit der Zwangs­ver­ei­nigung von KPD und SPD in die Reihen der Einheitspartei gelangt war. Buchwitz hatte sich zwar gegen den »Bolschewisierungsdruck« gewandt und im Frühjahr 1947 mit Rücktritt gedroht, später aber klein beigeben müssen. Zwar kritisierte er intern die weitere politische Entwicklung im Osten Deutsch­lands, trug sie aber letztlich mit.449 Da Buchwitz von März 1941 bis April 1945 in Brandenburg-Görden inhaftiert gewesen war, wusste er aus ei­ge­ner Er­fahrung um die Notwendigkeit von Kontrollinstanzen für den Straf­voll­zug, zumal er auch dem Parlamentsausschuss für Strafvollzug des Preu­ßi­schen Landtags angehört hatte. Während er jedoch in dem »Klassenstaat« der Wei­ma­rer Republik unangemeldet alle Strafanstalten hatte besuchen dürfen, konn­te er sich jetzt in Sachsen nur auf sehr bürokratische Weise Zugang zu den Ge­fäng­nissen verschaffen.450 Im Januar 1951 ging Buchwitz deshalb in die Offensive und beantragte als Präsident des sächsischen Landtags bei der Volkskammer, auch auf zentraler Ebene einen Ausschuss für Strafvollzug einzurichten. Dabei konnte er darauf verweisen, dass angesichts der zunehmenden Zentralisierung des Gefängniswesens aus Gründen der Einheitlichkeit ein zentrales parlamentarisches Kontrollgremium Sinn mache.451 Der Präsident der Volkskammer, Johannes Dieckmann, unterstützte dieses Vorhaben, weil er in seiner Funktion mit einer Vielzahl von Eingaben zu den Missständen in den Gefängnissen konfrontiert war und offenbar Abhilfe schaffen

448  Vgl. [Bericht eines in den Westen geflüchteten Mitglieds des Strafvollzugsausschusses des thüringischen Landtags] betr. Strafvollzug in Thüringen (Stand September 1950) vom 10.10.1950; BArch B 137/1809. 449  Vgl. Schmeitzner, Mike; Donath, Stefan: Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/ SED in Sachsen 1945–1952. Weimar 2002, S. 317–324. 450  Schreiben der Verwaltung Strafvollzug an das Zentralkomitee der SED vom 8.3.1957; BArch DO1 11/1604, Bl. 53. 451  Vgl. Schreiben von Buchwitz an Dieckmann vom 29.1.1951; BArch DC 20 I/3 65, Bl. 125.

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wollte.452 Doch das Politbüro lehnte die Initiative im April 1951 ausdrücklich ab453 und der Ministerrat wies den Antrag deswegen wenig später »als sachlich nicht gerechtfertigt« zurück.454 Die SED-Führung war an einer parlamentarischen Kontrolle der Zustände im Strafvollzug offenkundig nicht interessiert, obwohl die Volkskammer ohnehin weitgehend willfährig agierte.455 Seinerzeit existierten die Ausschüsse für Strafvollzug in den Ländern jedoch noch fort – und konnten je nach Kooperationsbereitschaft der jeweiligen Gefängnisleitung auch Einfluss nehmen. Während etwa in der sächsischen Frauenhaftanstalt Görlitz sämtliche Parteien im örtlichen Kontrollausschuss saßen und die Freizeitgestaltung der Gefangenen recht flexibel war, kamen die meisten anderen Gefängnisse nicht einmal ihrer quartalsmäßigen Berichts­pflicht gegenüber dem Ausschuss nach.456 Oft gewannen die Ausschüsse dann bei Vor-Ort-Besuchen einen denkbar schlechten Eindruck von den Gefängnissen. Beispielsweise konnte im Juli 1951 eine Abordnung des Kreisstrafvollzugsausschusses Bautzen die Haftanstalt Bautzen II besichtigen, die zu Jahresbeginn von der Justiz an die Volkspolizei übergeben worden war und noch nicht ihre spätere Sonderrolle für die Staatssicherheit innehatte. Die Delegation, der Vertreter fast aller damals zugelassenen Parteien angehörten, zeigte sich schockiert über die hygienischen Verhältnisse und die schlechte Ernährung der Insassen. Besonders die LDPDAbgeordnete des sächsischen Landtags, Gertrud Thürmer, nahm sich des Falles an.457 Ihr Bericht gelangte über Buchwitz bis zu Ministerpräsident Otto Grotewohl, der die oberste Gefängnisverwaltung um Überprüfung bat. Wie nicht anders zu erwarten, stellte diese fest, dass der Bericht nicht den Tatsachen entspreche.458 Denn Werner Jauch hatte im Zuge eigener Überprüfungen zwar Häftlinge befragen lassen, doch hatten diese, vermutlich aus Angst vor Vergeltung, die Vorwürfe nicht bestätigen wollen. Grotewohl schlussfolgerte daraus in einem Schreiben an Buchwitz, die LDPD-Vertreterin Thürmer habe 452  Vgl. Vermerk über die Sitzung des Präsidiums der Volkskammer vom 10.3.1951; ebenda, Bl. 126. 453  Vgl. Protokoll Nr. 41 der Sitzung des Politbüros vom 3.4.1951; BArch DY 30 IV 2/2–141. 454  Vgl. Protokoll der 38. Sitzung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 24.8.1951; BArch DC 20 I/3 65, Bl. 120. 455  Vgl. Schirmer, Roland: Die Volkskammer – ein ›stummes‹ Parlament? Die Volkskammer und ihre Abgeordneten im politischen System der DDR. In: Patzelt, Werner J.; Schirmer, Roland (Hg.): Die Volkskammer der DDR. Sozialistischer Parlamentarismus in Theorie und Praxis. Wiesbaden 2002, S. 94–186. 456  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 92. 457 Vgl. Schreiben des Landesverbandes Sachsen der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands betr. Kontrollausschuss für den Strafvollzug und Strafentlassenenfürsorge vom 13.7.1951; BArch NY 4090/440, Bl. 113. Gertrud Thürmer war die Ehefrau des von der LDPD gestellten sächsischen Ministers für Gesundheitswesen, Walter Thürmer. 458  Stellungnahme von Jauch von der Hauptabteilung SV o. D. [Herbst 1951]; ebenda, Bl. 93–97.

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sich in »verantwortungsloser Weise [...] zum Fürsprecher unserer politischen Feinde gemacht«. Die Angelegenheit zeige deutlich, »welche unverantwortlichen Wirkungen aus der Arbeit solcher Ausschüsse entstehen können«. Grotewohl stimmte daher der Empfehlung des Staatssekretärs im Innenministerium Hans Warnke zu, »die Tätigkeit solcher Kontrollausschüsse für den Strafvollzug sofort einzustellen«. Der Ministerpräsident bat Buchwitz sogar, die undichte Stelle in der LDPD Sachsen zu ermitteln, die die Missstände publik gemacht habe. »Vielleicht sind inzwischen auch die wirklich verdächtigen Elemente in diesen Fragen tatsächlich bereits zum Schweigen gebracht.«459 Sogar Buchwitz schwenkte nun um und erklärte, dass ein Indiz für die Unglaubwürdigkeit der Häftlingsberichte aus Bautzen II darin liege, dass die Haftentlassenen inzwischen in den Westen geflüchtet seien.460 Tatsächlich führte die Auflösung der Länder im Sommer 1952 dazu, dass mit den Landtagen auch deren Strafvollzugsausschüsse verschwanden. Indes machte sich Otto Buchwitz im August 1956, in einem gewandelten politischen Klima, erneut für die Einrichtung eines Volkskammerauschusses für den Strafvollzug stark.461 Die oberste Gefängnisverwaltung resümierte daraufhin die aus ihrer Sicht schlechten Erfahrungen in Sachsen, wo die »reaktionären Kräfte« in dem Ausschuss mit ihren »persönlichen Wahrnehmungen« ständig die Zustände in den Haftanstalten kritisiert hätten. »In erster Linie gelangten zumeist unberechtigte Beschwerden an diesen Ausschuss und die bürgerlichen Abgeordneten benutzten diese Tatsache immer dazu, eine oppositionelle Stellung bei der Behandlung der Probleme der Gefangenen im Ausschuss und im Parlament selbst zu nehmen.«462 An kritischen Fragen und parlamentarischer Kontrolle hatte die Verwaltung Strafvollzug eben kein Interesse. In einem abschließenden Schreiben an das Zentralsekretariat der SED argumentierte sie vielmehr entsprechend der politischen Interessen der Parteiführung: »Während der Weimarer Zeit war die Hilfe der Partei für die Eingekerkerten ein Teil unseres Klassenkampfes gegen den Staat und seine monopolitischen und militaristischen Machthaber. Heute, nachdem die Arbeiter und Bauern die Führung des Staates in ihre eigenen Hände genommen haben«, sei diese Hilfe nicht mehr notwendig. Denn bei den Häftlingen, so die Gefängnisverwaltung, handle es sich jetzt ja nur noch um Faschisten und Militaristen.463 Das Konzept einer demokratischen Aufsicht über den Strafvollzug hatte sich im SED-Staat als chancenlos erwiesen, weil es den Interessen der Machthaber entgegenstand. 459  Schreiben von Grotewohl an Buchwitz vom 15.12.[1951]; ebenda, Bl. 109. 460  Vgl. ebenda. 461  Vgl. Schreiben von Otto Buchwitz an die Sicherheitskommission vom 4.8.1956; BArch DO1 11/1604, Bl. 56. Buchwitz war auch als einer von wenigen Staatsfunktionären bereit bzw. sah sich gezwungen, in den Tagen des Volksaufstandes von 1953 mit den Aufständischen zu diskutieren. 462  Aktennotiz von Siegemund vom 15.2.1957; ebenda, Bl. 54. 463  Schreiben der Verwaltung Strafvollzug an das Zentralkomitee der SED vom 8.3.1957; ebenda, Bl. 53.

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2.5 Die Aufseher 2.5.1 Personalbestand und Rekrutierung Der Strafvollzug hatte von Anfang an mit enormen Nachwuchssorgen und Ent­ pflichtungsbestrebungen zu kämpfen.464 Denn das Sozialprestige eines »Schließers« war in der Öffentlichkeit deutlich geringer als das eines Kriminalpolizisten oder Feuerwehrmanns und diese Geringschätzung bekamen die Aufseher auch intern zu spüren.465 Wer aus Überzeugung oder Mangel an Alternativen überhaupt in die Reihen der Volkspolizei eintreten wollte, mochte seinen Dienst meist nicht »hinter Gittern« verrichten. Trotz bevorzugter Zuteilung von Wohnraum gegenüber vielen zivilen Berufen waren die Arbeitsbedingungen wenig attraktiv, sah doch der Dienstplan seinerzeit in unmittelbarer Folge je 12 Stunden Dienst, Bereitschaft und Freizeit vor.466 Dabei wurde die Nachtarbeit im Strafvollzug, anders als etwa bei der Schutzpolizei, nicht gesondert vergütet und die Aufseher hatten militärischen Gehorsam zu leisten.467 Zusätzliche Missstimmung machte sich breit, als Ende 1950 die Trennungszulage abgeschafft wurde. Weil viele Aufseher sich nun entpflichten lassen wollten, wurde die Zulage wenige Wochen später wieder eingeführt.468 In Brandenburg-Görden äußerten im Dezember 1951 zwei Aufseher frustriert: »Gebt uns die Papiere, wir gehen woanders arbeiten und wenn es sein muss im Steinbruch.«469 Selbst dass zwei von drei Aufsehern im Jahresverlauf befördert wurden,470 schuf offenbar nicht genug Anreiz zum Bleiben.471 464  Als etwa Anfang 1950 in Hoheneck die weiblichen Insassen aus den sowjetischen Speziallagern eingeliefert wurden, ergänzten die sowjetischen Begleitkräfte den völlig unzureichenden Personalbestand dadurch, dass sie die Näherinnen einer nahegelegenen Strumpffabrik vor die Wahl stellten, entweder als Aufseher oder aber als Gefangene in Hoheneck zu bleiben. Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 69. 465  In den Jahren 1972 bis 1975 erhielten 46,9 % der Schutzpolizisten, 43,4 % der Kri­mi­ nal­polizisten, 36,2 % der Verkehrspolizisten und 31,5 % der Feuerwehrleute eine Auszeichnung; die Aufseher rangierten mit 28,5 % an letzter Stelle. »Der Minister [des Innern] forderte, mit der Un­terschätzung des Strafvollzugs entschieden Schluss zu machen.« Protokoll Nr. 1/76 der Sitzung des Kollegiums des MdI vom 27.1.1976; BArch DO1/10015, o. Pag. 466  Vgl. Bericht [eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 3.1.1951, 13 Bl.; BArch B 137/1809. 467  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/700. 468  Monatlicher Informationsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für den Monat Februar an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 27.2.1951; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 118–124. 469  1. Stimmungsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für den Monat Dezember an die Abteilung PK der Hauptabteilung SV der HVDVP vom 8.12.1951; ebenda, Bl. 257. 470  Bericht der Personalabteilung der StVA Brandenburg für das Jahr 1951 vom 16.1.1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 30–32. 471  Vgl. u. a. Bericht der HA Personal der HVDVP über die Dienstfahrt zur VA [(Straf-) Vollzugsanstalt] Brandenburg vom 5.11.1953; BArch DO1 11/1485, Bl. 105–108.

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Aufgrund dieser Rekrutierungsprobleme konnte das Gefängniswesen seine Fehlstellen meist nicht aus eigener Kraft besetzen, sondern war auf Zuversetzungen aus anderen Dienstzweigen der Volkspolizei angewiesen. Diese wiederum dachten nicht daran, ihre besten Kräfte abzugeben, sodass der Strafvollzug meist über weniger qualifizierte Mitarbeiter verfügte. So äußerte ein Wachtmeister in Brandenburg-Görden einmal gegenüber einer jüngeren Aufseherin, »sie müsse sich hier vor den Kameraden und den Jugendfreunden vorsehen, da zum Strafvollzug nur die schlechten VP-Angehörigen kämen«.472 Aus anderen Zweigen der Volkspolizei zum Strafvollzug versetzt zu werden, galt demzufolge als Herabstufung oder gar als Strafmaßnahme.473 War der Personalbedarf besonders dringlich (wie etwa beim Aufbau des Haftarbeitslagers Glowe im Herbst 1952), wurden die Anforderungskriterien gesenkt – und beispielsweise Personen eingestellt, die erst kurz zuvor wegen Betruges aus der Kasernierten Volkspolizei (KVP) entlassen worden waren.474 In allen Zweigen der Volkspolizei hatte seinerzeit bei der Personalrekrutierung die politische Zuverlässigkeit Vorrang gegenüber »Fachkenntnissen und Bildungsniveau«.475 So bestand auch das Gefängniswesen in den Fünfzigerjahren »fast ausschließlich aus berufsfremden Personen«. Aus ideologischen Gründen sollten die Aufseher möglichst aus der Arbeiterschicht stammen, doch waren diese vor 1945 meist nicht im Polizeidienst tätig gewesen und konnten daher keine spezifische Ausbildung vorweisen.476 »Der fachliche Zustand ist noch nicht der, der es eigentlich nach 4 Monaten sein müsste«, hieß es denn auch im Oktober 1950 über die Aufseher in der Haftanstalt an der Havel.477 Fachwissen an ihre Untergebenen zu vermitteln, war auch den Vorgesetzten mangels eigener Kompetenz oft nicht möglich.478 Die schlechte Ausbildung des eilig rekrutierten Personals förderte wiederum Disziplinarvergehen und Desertionen (siehe Kap. 2.5.2).

472  Vgl. Informationsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für den Monat Mai an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 22.5.1951; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 132–136. 473  Vgl. Finn: Die politischen Häftlinge der Sowjetzone, S. 115. 474  Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AP, Nr. 930/71. 475  Lindenberger, Thomas: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968. Köln 2003, S. 39. 476  Ders.: Die Deutsche Volkspolizei (1945–1990). In: Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe in der DDR. Hg. von Diedrich, Torsten; Ehlert, Hans; Wenzke, Rüdiger. Berlin 1998, S. 97–152, hier 101. 477  Informationsbericht der Strafanstalt Brandenburg vom Monat Oktober an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 1.11.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 103–106. 478  Informationsbericht [der Strafanstalt Brandenburg] für den Monat November an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 29.11.1950; ebenda, Bl. 107–110.

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Doch auch die Häftlinge bekamen unangenehm zu spüren, dass die Aufseher ihre Defizite an pädagogischem Geschick oft durch übertriebene Härte zu kompensieren versuchten. »Da in der Kürze der Zeit keine Ausbildung [der Aufseher] möglich war,« so schreibt Gerhard Finn über das Torgauer Wachpersonal, »verfiel man auf die naheliegende Idee, Genossen für diese Aufgabe anzuwerben bzw. zu verpflichten, die während der NS-Zeit inhaftiert gewesen und von daher mit dem Metier einigermaßen vertraut waren. Allerdings waren sie auch mit jeder Schikane vertraut, die einem Häftling das Leben schwer machen kann.« Hinzu kam ihr Hass auf Kriegsverbrecher sowie hohe Funktionäre des NS-Staates, die sie mit den Gefangenen vor sich zu haben glaubten (zu der tatsächlichen Deliktstruktur siehe Kap. 4.1).479 Wer selbst die Repressionen des NS-Regimes am eigenen Leibe erfahren hatte, war nun teilweise bereit, im Gegenzug ähnliche Methoden anzuwenden.480 Andere Insassen hingegen berichten, ein vor 1945 in Brandenburg-Görden inhaftierter Aufseher hätte sie vergleichsweise korrekt behandelt und sogar die rauen Ermittlungsmethoden der Staatssicherheit kritisiert.481 Tatsächlich dienten auch in dieser Haftanstalt einige Aufseher, die zuvor in nationalsozialistischen Konzentrationslagern482 oder gewöhnlichen Haftanstalten483 eingesessen hatten. Dies dürfte allerdings nicht für die Mehrheit des Personals zutreffen, denn dies hätte in den einschlägigen Berichten aus jener Zeit gewiss Erwähnung gefunden. Die gegenläufige Behauptung, dass überwiegend Anhänger, Parteimitglieder und Funktionäre des NS-Regimes eingestellt wurden, lässt sich mit den überlieferten und ausgewerteten Unterlagen ebenfalls nicht bestätigen – und scheint für die Gefängnisverwaltung der Justiz eher zuzutreffen als für die Volkspolizei. Der Chef der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz, Eugen Schiffer, hatte zwar eine Entnazifizierung bis in die untere Verwaltungsebene gefordert, doch unterliefen die Justizministerien der Länder dies teilweise.484 479  Finn, Gerhard: Hinter dem Eisernen Vorhang. Zur Wahrnehmung der DDR-Gefängnisse in der frühen Bundesrepublik. In: Haase, Norbert; Oleschinski, Brigitte (Hg.): Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug. Leipzig 1993, S. 215–221, hier 217 f. 480  Vgl. allgemein Laufer, Jochen: Die Ursprünge des Überwachungsstaates in Ostdeutschland. Zur Bildung der Deutschen Verwaltung des Innern in der Sowjetischen Besatzungszone. In: Florath, Bernd; Mitter, Armin; Wolle, Stefan (Hg.): Die Ohnmacht der Allmächtigen. Geheimdienste und politische Polizei in der modernen Gesellschaft. Berlin 1992, S. 146–168. 481  Vgl. Fritzsch, Günter: »Gesicht zur Wand«. Willkür und Erpressung hinter Mielkes Mauern. Berlin 1993, S. 133. 482  Vgl. Informationsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für den Monat November an die Abteilung PK der Hauptabteilung SV der HVDVP vom 29.11.1951; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 168–175. 483  Vgl. [Bericht des in den Westen geflüchteten ehemaligen Aufsehers Horst Bock] betr. Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden (Eigen-Fortsetzungsbericht) vom 3.8.1954, 116 S.; BArch B 289/SA 171/22–01/14 und demgegenüber BStU, MfS, AIM, Nr. 12254/81. 484  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 105–111.

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So wurden rund 80 Prozent des gesamten Justizpersonals nach Kriegsende entlassen,485 doch waren im Justizdienst des Landes Brandenburg im Jahre 1949 immer noch 20 Prozent ehemalige Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) beschäftigt.486 In der besonders wichtigen Haftanstalt Brandenburg-Görden hatte indes angeblich kein einziger Aufseher der NSDAP angehört, jeder fünfte aber altersbedingt der Hitlerjugend (HJ) oder dem Bund Deutscher Mädel (BDM).487 Im November 1949 gestattete das sogenannte Gleichstellungsgesetz prinzipiell die Beschäftigung von NSDAPMitgliedern und Wehrmachtsoffizieren in der öffentlichen Verwaltung.488 Doch die Volkspolizei hatte entsprechend ihren eigenen Richtlinien von Beginn an NSDAP-Mitglieder sowie Angehörige von Schutzstaffel (SS), Sturmabteilung (SA) und Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS kategorisch abgelehnt.489 Als die Volkspolizei dann im Juli 1950 die Haftanstalt an der Havel von der Justiz übernahm, wollte sie vor 1945 beschäftigte Aufseher selbst dann entlassen, wenn sie sich zwischenzeitlich bewährt hatten.490 Daraus lässt sich ableiten, dass einige Aufseher zwischenzeitlich eingestellt oder weiterbeschäftigt worden waren. Ehemalige Wehrmachtsangehörige beschäftigte indes auch die Volkspolizei in Brandenburg-Görden, was angesichts der seinerzeitigen demographischen Lage wohl auch kaum anders möglich war. Angeblich wurden etwa Feldwebel »zum größten Teil aus strukturellen Gründen abgelehnt«,491 doch einer Statistik von 1953 zufolge hatten 53 Prozent der Aufseher am Zweiten Weltkrieg teilgenommen, davon 7,3 Prozent im Range eines Offiziers und 45,8 Prozent mit einem Mannschaftsdienstgrad.492 Dass auch Angehörige nationalsozialistischer Kampf485  Vgl. Rößler, Ruth-Kristin: Aspekte der Personalentwicklung und der Personalpolitik in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR. In: Hübner, Peter (Hg.): Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR. Köln 1999, S. 131–146, hier 141. 486  Vgl. Fait, Barbara: (Mark) Brandenburg. In: SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949. Hg. von Broszat, Martin u. a. München 1993, S. 80–102, hier 90. 487  Vgl. Bericht [der Haftanstalt Brandenburg-Görden] über den Personalbestand bei den Justizministerien vom 31.1.1950; BArch DP 1–1065, o. Pag. 488  Vgl. Amos: Justizverwaltung, S. 147. 489  Thomas Lindenberger geht davon aus, dass in allen Zweigen der DVP »Polizisten des Dritten Reiches und Mitglieder von NS-Organisationen nur in verschwindend geringem Umfang in Kenntnis dieses Umstandes eingestellt wurden«. Lindenberger: Die Deutsche Volkspolizei (1945–1990), S. 97–152, hier 101. Siehe auch Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt, S. 69. 490  Vgl. Ergebnisprotokoll einer Besprechung in der Deutschen Justizverwaltung vom 2.11.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 4–6. 491  Vgl. Jahresbericht 1952 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 35–42. 492  Vgl. Schreiben der Personalabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an die HVDVP vom 30.6.1953; BArch DO1 11/1468, Bl. 186–190.

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und Eliteorganisationen unter den Aufsehern waren, geht aus den Unterlagen aber nicht hervor. Die Altersgliederung gibt darüber Aufschluss, dass im Strafvollzug viele junge Aufseher tätig waren – sie hielt man wohl zur Gefangenenbewachung für besser geeignet als für verantwortungsvollere Tätigkeiten in anderen Zweigen der Volkspolizei. Aufgrund des vorangegangenen Krieges standen mittlere Jahrgänge vielfach auch gar nicht zur Verfügung. Letztlich waren im Dezember 1951 in Brandenburg-Görden 40 Prozent der Aufseher maximal 25 Jahre alt, während weitere 21 Prozent das fünfunddreißigste Lebensjahr noch nicht überschritten hatten. Höchstens 45 Jahre waren 22,3 Prozent und älter als 45 Jahre lediglich 16,7 Prozent der Aufseher. 25,7 Prozent waren in sowjetischer, 6,6 Prozent in amerikanischer, 5,6 Prozent in britischer und 1,0 Prozent in französischer Kriegsgefangenschaft gewesen.493 Wegen möglicher Anwerbung von Agenten wurde Internierung bei den Westalliierten nicht gern gesehen, mangels Alternativen aber offenbar toleriert. Im Sommer 1951 arbeiteten 325 Volkspolizisten in Brandenburg-Görden. Davon waren 137 im Wachdienst, 130 im Aufsichtsdienst, 58 in der Verwaltung und neun in der Zensurstelle tätig; ein Arzt war hauptberuflich angestellt.494 Die Fluktuationsrate war jedoch sehr hoch: Allein im Jahre 1953 wurden 30 Aufseher zuversetzt, 73 neu eingestellt, 48 wegversetzt und nicht weniger als 120 entlassen. Zum Jahresende 1953 arbeiteten noch 290 Aufseher in Brandenburg-Görden, etwa 60 weniger als zur Jahresmitte. Dies ist nicht mit verringertem Personalbedarf zu erklären, denn die Häftlingszahlen stiegen bis zum Jahresende (siehe Kap. 4.1.5). Vermutlich spielte hier eher eine Auslese unzuverlässiger Kader nach dem Volksaufstand vom 17. Juni eine Rolle.495 Komplementär dazu stieg die Zahl der unbesetzten Planstellen von 57 zum Jahresbeginn 1952 auf insgesamt 100 Fehlstellen im Sommer 1953.496 Sie sank dann bis zum Jahresbeginn 1956 in den einstelligen Bereich, auch weil Planstellen gestrichen wurden497 und weil die 493  Vgl. I. Quartalsbericht 1952 der Personalabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an die HVDVP vom 3.4.1952; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 58 f. 494  Vgl. Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Strafvollzugs o. D. [1952]; BArch DO1 11/1508, Bl. 101–142. 495  Vgl. Jahresbericht 1953 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1953; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 46–50. 496  Vgl. Schreiben der Personalabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an die HVDVP vom 30.6.1953; BArch DO1 11/1468, Bl. 186–190. Am fiktiven Feind ausgerichtet waren auch praktische Übungen, die aus dem Umstand resultierten, dass im Zuge des Volksaufstandes von 1953 etliche Haftanstalten überrannt worden waren. So wollte die Kaderabteilung von BrandenburgGörden »zur Verbesserung des taktischen Einsatzes [...] besonderen Wert auf die Ausbildung der Genossen in der Räumung von Straßen und des Geländes« legen. Bericht des [Referates] Ausbildung/Schulung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg über den Abschluss des ersten Ausbildungsabschnittes vom 19.10.1953; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 112 f. 497  Vgl. Jahresbericht der Kaderabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1955 vom 4.1.1956; ebenda, Bl. 61 f.; Jahresbericht der Kaderabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1956 vom 31.12.1956; ebenda, Bl. 66–69.

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Haftanstalt ab dem Herbst 1952 selbst Einstellungen vornehmen durfte, während sie bis dahin auf Zuteilung durch die Hauptabteilung Strafvollzug angewiesen war. Das gesamte Gefängniswesen der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei verfügte Mitte 1952 jedenfalls über 5 908 Planstellen, mit der Übernahme der Untersuchungshaftanstalten aus den Händen der Justiz dann über 9 545 Stellen.498 Aufgrund der wachsenden Häftlingszahlen rechnete die oberste Gefängnisverwaltung für das Jahr 1953 gar mit einem Stellenbedarf von 12 990  Mitarbeitern.499 Allerdings blieb manche Planstelle unbesetzt, und im August 1955 standen so genau 9 387 Aufseher im Strafvollzugsdienst der DDR.500 Fünf Jahre später waren es, bei 476 unbesetzten Planstellen, 9 444 Mitarbeiter.501 Damit verschob sich das Verhältnis zwischen den Bewachern und den Insassen, aufgrund deren schwankender Zahl, von 1:3,9 (1952)502 auf 1:5,1 (1955) bzw. 1:3,7 (1960).503 Der Strafvollzug kämpfte nicht nur mit Nachwuchssorgen, sondern diente auch als Rekrutierungsbasis für andere Zweige der Volkspolizei, die der Staatsund Parteiführung wichtiger waren. Dies zeigte sich besonders beim Aufbau der Kasernierten Volkspolizei, dem Vorläufer der NVA. Allein die Haftanstalt Brandenburg-Görden musste hierfür im Jahre 1952 mindestens 40 Mitarbeiter abgeben. Um diese entsprechend zu motivieren, riefen Gefängnisleitung sowie FDJLeitung zwei Versammlungen ein – angeblich mit großem Erfolg: »Schwierigkeiten bei der Übernahme traten nicht auf, sondern die Genossen gingen mit Begeisterung zu den benannten Dienststellen.«504 Diese Formulierung ist sicher Ausdruck der typischen beschönigenden Tendenz im DDR-Berichtswesen, doch waren einige Aufseher vermutlich tatsächlich froh, nicht länger hinter Gittern arbeiten zu müssen. Und auch zum Staatssicherheitsdienst wurden Aufseher abkommandiert, ohne dass Widerspruch dagegen Aussicht auf Erfolg hatte.505 Die Versetzungen vorwiegend junger Kräfte beeinflussten nachhaltig die Altersstruktur der Aufseher in Brandenburg-Görden. Bis Ende 1956 sank hier der Anteil der maximal 25-Jährigen um die Hälfte auf 20,5 Prozent.506 Vermutlich 498  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung Strafvollzug an die Sowjetische Kontrollkommission betr. Struktur der Hauptabteilung Strafvollzug vom 14.4.1953; BArch DO1 11/1468, Bl. 171–173. 499  Vgl. ebenda. 500  Vgl. BArch DO1 11/1638, Bl. 37. 501  Vgl. Soll und Ist mit Stand vom 30.9.1060; BArch DO1 11/1454, Bl. 339. 502  Vgl. Informatorischer Bericht der HA SV über die Entwicklung des Gefangenenbestandes im Bereich der Hauptabteilung SV seit Übernahme vom 26.8.1953; BArch DO1 11/1578, Bl. 49 f. 503  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 409. 504  Vgl. Jahresbericht 1952 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 35–42. 505  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung Personal der HVDVP betr. Versetzungen zum Staatssekretariat für Staatssicherheit vom 31.5.1954; BArch DO1 11/1638, Bl. 187. 506  Vgl. Jahresbericht der Kaderabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1956 vom 31.12.1956; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 66–69.

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konnten auch immer weniger junge Männer neu rekrutiert werden, weil ihre Verdienstmöglichkeiten und Aufstiegschancen etwa in der Volkswirtschaft größer waren. Als »Ausgleich« erhielt der Strafvollzug dann immer wieder ehemalige Soldaten zugeteilt, die aus körperlichen oder anderen Gründen zum Militärdienst nicht mehr geeignet waren. So wurden im Jahr 1955 in der gesamten DDR 317 ehemalige Militärangehörige dem Strafvollzug überstellt.507 Allein nach Brandenburg-Görden wurden im Folgejahr beispielsweise sieben Angehörige der NVA und acht Angehörige anderer Zweige der Volkspolizei versetzt.508 Im Jahre 1958 konnte die Haftanstalt 13 Personen für die eigenen Reihen gewinnen, musste gleichzeitig aber 35 Kräfte für Grenz- und Bereitschaftspolizei werben und übernahm ihrerseits acht Soldaten aus der NVA. Da letztere bei ihrem Wechsel in den Strafvollzugsdienst ihren Dienstgrad und ihre Besoldungsstufe behielten, führte dies dazu, dass im Wach- und Aufsichtsdienst Oberwachtmeisterbis Meisterdienstgrade dominierten, was der eigentlichen Bedeutung ihrer Tätigkeit nicht entsprach. Wurden sie in verantwortungsvollere Positionen (wie Wachhabender oder Stationsleiter) befördert, hatten sie keine höhere Vergütung zu erwarten, womit Anreize für beruflichen Aufstieg fehlten.509 Die zum Strafvollzug gewissermaßen strafversetzten Ex-Soldaten zeigten sich in ihrer Dienstdurchführung jedenfalls wenig beflissen – zur Freude der Insassen.510 Insgesamt arbeiteten in Brandenburg-Görden im Jahre 1958 274 Aufseher.511 Als Reservoir für Neurekrutierungen für die Haftanstalt Brandenburg-Görden kam vor allem die Bevölkerung des Umlandes in Betracht. Weniger Erfolg hatte man im industriell geprägten Stadtgebiet, da hier die Betriebe höhere Löhne zahlten und es auch stärkere Vorbehalte in der Bevölkerung gegen einen Dienst in der Volkspolizei gab.512 Außerdem unterstützte die SED-Kreisleitung die Werbungsbemühungen der Haftanstalt angeblich unzureichend. Angesichts ihrer ländlichen Herkunft bezeichnete auch der Leiter der Verwaltung Strafvollzug, August Mayer, einen Teil der Aufseher in einer Dienstversammlung im Herbst 1957 als »Polizeibauern«, die nebenbei noch Vieh versorgten und Äcker bestellten 507  Vgl. Zwischenbericht der Hauptabteilung Personal der HVDVP betr. Abschlussmeldung Übernahme aus der KVP vom 14.12.1955; BArch DO1 11/1638, Bl. 129–131. 508  Vgl. Jahresbericht der Kaderabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1956 vom 31.12.1956; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 66–69. 509  Vgl. Schreiben des Leiters der Verwaltung Strafvollzug an den Leiter der HVDVP vom 3.6.1959; BArch DO1 11/1585, Bl. 264. 510  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. 511  Stand 31.7.1958. Schreiben der Abteilung Strafvollzug der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam vom 25.8.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/117, Bl. 89–95. 512  »Die Ursachen lagen zum Teil darin, dass Brandenburg sehr von Sozialdemokratismus verseucht ist, was die Vorfälle am 17. Juni 1953 gezeigt haben, und dass die Löhne und Gehälter in der Industrie sehr hoch sind.« Jahresbericht 1953 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1953; ebenda, Bl. 46–50.

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und deswegen den Dienst vernachlässigten.513 Mayer wandte sich auch dagegen, »politisch schwache Volkspolizisten« aus anderen Dienstzweigen einfach in den Strafvollzug abzuschieben, denn hier sei die Tätigkeit besonders verantwortungsvoll, da sie dem Einfluss der politischen Gefangenen ausgesetzt seien. »Man kann solche Genossen nicht in eine noch schwierigere Lage bringen. Die Gefangenen studieren unsere Genossen ganz genau, das beweisen zahlreiche Beispiele, und die Gefangenen haben dabei immer den Richtigen herausgefunden.«514 Damit waren die aus mangelnder Linientreue und ungenügend gefestigtem Feindbild resultierenden Disziplinarfälle gemeint, auf die in Kapitel 2.5.4 noch näher eingegangen wird. Obwohl jeder vierte der 282 Aufseher in Brandenburg-Görden noch am Ende der Sechzigerjahre keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen konnte,515 hatte sich der Bildungsgrad doch bereits deutlich verbessert. So verfügten im gesamten Gefängniswesen 6,5 Prozent der Offiziere und 1,5 Prozent der Wachtmeister über Abitur. 49,3 bzw. 14,4 Prozent hatten eine zehnjährige Schulausbildung durchlaufen, 42,6 bzw. 71,0 Prozent nur eine achtjährige. Auf einen noch kürzeren Schulbesuch blickten 13,1 Prozent der Wachtmeister, aber auch 1,6 Prozent der Offiziere zurück. Von diesen hatten allerdings fünf Prozent eine Hochschule und 33,6 Prozent eine Fachhochschule besucht; über den letztgenannten Abschluss verfügten auch 1,7 Prozent der Wachtmeister.516 Verlangt wurde von den Aufsehern stets, sich aus eigenem Antrieb fortzubilden.517 Da dies in der Praxis jedoch nur mit geringer Ausdauer geschah, drängte der Gefängnisleiter Ackermann in solchen Fällen auf »kaderpolitische Maßnahmen« und einen entsprechenden Eintrag in die Kaderakte.518 Grundsätzlich mussten alle Aufseher Dienstsport betreiben, der zu 75 Prozent aus dem Trainieren verschiedener Kampfsportarten bestand,519 was zur Gewalt­

513  Protokoll über die durchgeführte Dienstversammlung [in der StVA Brandenburg] am 21.10.1957 vom 23.10.1957; BArch DO1 11/1493, Bl. 99–114. 514 Protokoll des Sekretariats der BDVP Potsdam der Dienststellenleiter- und Abteilungsleitertagung am 14.2.1959 vom 16.2.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 215–224. 515  Vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-Anweisung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33. 516  Vgl. Information des Leiters der Verwaltung Strafvollzug an den 1. Stellvertreter des Ministers des Innern Grünstein betr. Tendenzen der Entwicklung des Personalbestandes im Organ Strafvollzug (ohne VSV, Abt. SV der Hochschule und Fachschule SV) [von 1970]; BArch DO1 32/279/2. 517  1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung der Arbeitsergebnisse im 1. Halbjahr 1971 vom 6.7.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 39–60. 518  Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden für das 1. Halbjahr 1960 vom 27.1.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 71–80. 519  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/691, Bl. 24.

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bereitschaft der Bewacher vermutlich beitrug.520 Für die meisten Aufseher obli­ gatorisch war zudem die Schießausbildung, wobei mit Pistolen, aber auch mit Maschinengewehren geübt wurde.521 Bemerkenswerterweise verfügte die Haft­ anstalt an der Havel zuletzt sogar über eine nicht näher bekannte Zahl von Panzerfäusten sowjetischer Bauart (RPG-7),522 außerdem 13 Maschinengewehre, 459 Maschinenpistolen, 445 Pistolen, fast 250 000 Schuss Munition verschiedenen Kalibers sowie 160 Handgranaten des Typs RGD-5, die im nahegelegenen Munitionslager Plauer Hof verwahrt wurden.523 Angesichts der seltenen und so gut wie niemals bewaffneten Häftlingsrevolten im DDR-Strafvollzug handelte es sich hierbei buchstäblich um »Overkill«-Kapazitäten, die der Abwehr von Angriffen von außen dienen sollten524 – vermutlich eine Lehre aus dem Volksaufstand von 1953, als zahlreiche Gefängnisse gestürmt worden waren.525 Im Jahre 1971 dienten in der gesamten DDR mehr als 8 000 Aufseher,526 darunter insgesamt 321 in Brandenburg-Görden, davon 75 Offiziere und 246 Wachtmeister.527 Die Mindestdienststärke war von Ackermann auf 2:39 festgelegt worden, das heißt 41 Aufseher sollten gleichzeitig im Dienst sein, davon 15 im Aufsichtsdienst und 14 im Wachdienst sowie zehn als Arbeitsplatzaufsicht.528 Da nach der Amnestie von 1972 die Gefangenenzahlen wieder in die Höhe schnellten (siehe Kap. 4.1.16), wollte man durch »maximale Schichtauslastung« und »weitere Konzentrierung des Außenarbeitseinsatzes« Bewachungskräfte einsparen. Trotzdem mussten im Frühjahr 1974 in der gesamten DDR rund 500 Bereitschaftspolizisten zur äußeren Bewachung der Gefängnisse eingesetzt sowie etwa 180 Volkspolizisten aus anderen Dienstzweigen in Strafvollzuganstalten und Jugendhäuser abkommandiert werden. Speziell in Brandenburg-Görden waren es Angehörige der 3. Volkspolizeibereitschaft, 520  Vgl. Brey, Hans-Michael: Doppelstaat DDR. Menschenrechtsverletzungen der Deutschen Volkspolizei, S. 170. 521  Vgl. BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/159, Bl. 97–126; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/156, Bl. 127. 522  Vgl. Protokoll der Sicherheitskontrolle in der StVE Brandenburg vom 31.5.1977; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/583, 4 S. 523  Vgl. Information der OPG der Abteilung VII über die Lagerung und Sicherung von Waffen in der StVE Brandenburg vom 4.4.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 937, Bl. 54 u. 56. 524  Für die Haftanstalt Schwedt/Oder vgl. Lenz: Lebensweg eines Justizvollzugsbeamten, S. 178. 525  Vgl. Wunschik: Befreiung der Gefangenen. 526  Vgl. Information des Leiters der Verwaltung Strafvollzug an den 1. Stellvertreter des Ministers des Innern Grünstein betr. Tendenzen der Entwicklung des Personalbestandes im Organ Strafvollzug (ohne VSV, Abt. SV der Hochschule und Fachschule SV) [von 1970]; BArch DO1 32/279/2. 527  Vgl. Auskunftsbericht des Leiters der StVA Brandenburg vom 8.2.1972; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/696, Bl. 1–12. 528  Vgl. Protokoll der Sicherheitskontrolle in der StVE Brandenburg vom 31.5.1977; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/583, 4 S.

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die mit der Außensicherung betraut wurden.529 Im Herbst beantragte die Verwaltung Strafvollzug dann 300 neue Stellen für Aufseher, scheiterte damit jedoch bereits im Innenministerium.530 So blieb es vorerst bei einem Verhältnis zwischen Aufsehern und Gefangenen von 1:6,3.531 Vor allem die Schließung kleiner, personalintensiver Untersuchungshaftanstalten in der ersten Hälfte der Sechzigerjahre (siehe Kap. 2.1.3) hatte zu dieser leichten Veränderung des Kräfteverhältnisses geführt. Die Personaldecke blieb auch in Brandenburg-Görden dünn – 56 Planstellen waren hier Mitte der Siebzigerjahre unbesetzt –, sodass die Abkommandierten oft länger ihren Dienst verrichten mussten, als ihnen zugesagt worden war. Diese Personalmisere brachte auch Ackermann in die Kritik; er wurde im Herbst 1975 in einer Leitungssitzung der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei in Potsdam beauftragt, binnen zwei Monaten über die Stabilisierung des Kaderbestandes zu berichten. Der Leiter der vorgesetzten Arbeitsgruppe Strafvollzug, Klaus Skoczylas, sollte darüber hinaus mit allen Aufsehern persönlich sprechen, die in den vorangegangenen eineinhalb Jahren Brandenburg-Görden den Rücken zugekehrt hatten. So wollte man wohl die Gründe ihres Weggangs ermitteln,532 da man Ackermanns Führungsstil offenbar für nicht ganz schuldlos an der Personalmisere hielt (siehe Kap. 2.1.8). In der gesamten DDR arbeiteten im Jahre 1977 ins­ gesamt 8 260 Aufseher, darunter 2 000 Offiziere,533 was angesichts sinkender Häftlingszahlen einem Verhältnis von 1:4,6 entsprach.534 In Brandenburg-Görden waren es seinerzeit 384 Aufseher, darunter 268 Wachtmeister im operativen Dienst, 84 Offiziere und 32 Zivilangestellte.535 Teilweise war die Personalmisere dadurch bedingt, dass Männer für den Dienst im Strafvollzug gegenüber Frauen bevorzugt wurden. Auch in der Haftanstalt an der Havel wurden diese zwar schon in den Fünfzigerjahren als Aufseherinnen eingesetzt, solange es weibliche Häftlinge in Brandenburg-Görden 529  Vgl. Konzeption [der Verwaltung Strafvollzug] zur Lösung der sich aus der Entwicklung des Inhaftiertenbestandes ergebenden Aufgaben vom 18.4.1974; BArch DO1 32/278/2. 530  Vgl. Bericht des IMS »Klaus Günther« vom 4.12.1974; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. 2, Bl. 226 f. 531  Im Einzelnen betrug die Relation 1:4,3 in der Untersuchungshaft, 1:5,1 im Jugendstrafvollzug und 1:7 im Erwachsenenstrafvollzug. Vgl. Vorbemerkungen zur GKV [Geheimen Kollegiums Vorlage] Nr. 32/74 Einschätzung der Lage im Strafvollzug o. D.; ebenda, Bl. 235–239. 532  Protokoll des Chefs der BDVP Potsdam über die Dienstbesprechung am 14.10.1975 vom 20.10.1975; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/45, Bl. 2–8. 533  Bericht über die Arbeit des Organs Strafvollzug (Anlage Nr. 24 zum Protokoll Nr. 11/77 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 15.3.1977); BArch DY 30 J IV 2/2–1663, Bl. 379–394. 534  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 409. 535  Stand Juni 1978. Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129.

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gab. Meist jedoch mussten sie den ungeliebten Dienst auf der Wache schieben,536 im Sekretariat oder in der Küche arbeiten oder wurden mit der Kontrolle der Besucher betraut. Der Einsatz von Frauen, so stellte die Gefängnisleitung 1971 fest, habe »sich nicht voll bewährt«. Ihre starke Fluktuation und ein »teilweise labiles Auftreten« beeinträchtigten die Kontrolltätigkeit.537 Die Geringschätzung der weiblichen Bediensteten drückte sich auch darin aus, dass Ackermann und seine leitenden Offiziere bei Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag meist durch Abwesenheit glänzten.538 Dem Wechsel in der SED-Führung von Ulbricht zu Honecker folgte eine Verstärkung sozialpolitischer Maßnahmen zum Zwecke der Legitimierung und Stabilisierung des Regimes. Hiervon profitierten gerade auch die Mitarbeiter des Staatsapparates, denn das Politbüro beschloss im September 1972, die Gehälter der Volkspolizisten denen der NVA-Soldaten anzugleichen und Prämien nach 25-jähriger Dienstzeit auszuloben.539 Der Leiter der Haftanstalt Brandenburg-Görden verdiente jetzt als Oberst ohne Zulagen ein Grundgehalt von etwa 1 300 Mark, seine Sekretärin 600 Mark, Erzieher 600 bis 700 Mark, ein Wachtmeister im operativen Dienst 475 Mark und Spezialisten (wie der Strafvollzugspsychologe oder der Leiter der Zentralwerkstatt) 900 bis 1 000  Mark.540 Trotzdem dauerten die Rekrutierungsprobleme an, auch weil noch nicht jeder Neueingestellte ausreichenden Wohnraum erhielt.541 Doch die Zahl der Fehlstellen lag in den Achtzigerjahren meist nur noch im einstelligen Bereich, und zum Jahresende 1984 waren angeblich sogar alle Planstellen besetzt. Dabei war ungefähr jeder zwanzigste Mitarbeiter zum Fachschulstudium oder zur Bezirksparteischule delegiert.542 Trotz sogenannter »Bereitschaftserklärungen« scheint auch in diesem Zeitraum ein erheblicher Teil der Aufseher nicht ganz 536  Vgl. u. a. BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 628/54. 537  1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung der Arbeitsergebnisse im 1. Halbjahr 1971 vom 6.7.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 39–60. 538  Vgl. Mündlicher Bericht des GI »Stein« vom 2.5.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, Teil II, Bd. 1, Bl. 26 (MfS-Pag.). 539  Dadurch entstanden dem Staatsetat jährlich Zusatzkosten in Höhe von 171 Millionen Mark für das gesamte Ministerium des Innern. Vgl. Protokoll Nr. 36/72 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 5.9.1972 zu Top 11: Vorschläge zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Angehörigen der Deutschen Volkspolizei und der Organe der Feuerwehr und des Organs Strafvollzug; BArch DY 30 J IV 2/2–1410, Bl. 49–51. 540  Vgl. Besoldungsgruppenkatalog [des MdI] Teil B Verzeichnis 15 Strafvollzugseinrichtungen/ Jugendhäuser; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/905. Einer anderen Aufstellung zufolge, die vermutlich die Zulagen einschließt, verdiente 1970 ein Wachtmeister im operativen 3-SchichtDienst etwa 650 Mark netto, ein Abteilungsleiter 980 Mark und der Leiter sogar 1 780 Mark. Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/695. 541  Bericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zur Kontrolle der Wirksamkeit der politisch ideologischen Arbeit vom 13.5.1980; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/187, Bl. 89–95. 542  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 2. Halbjahr 1987 vom 14.1.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459.

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freiwillig dorthin versetzt worden zu sein.543 Einzelne Aufseher suchten auch um eine hauptamtliche Anstellung beim Staatssicherheitsdienst nach, weil dies bessere Bezahlung und höhere Reputation sowie weitere persönliche Vorteile versprach.544 Im Jahre 1986 arbeiteten in Brandenburg-Görden dann 365 Aufseher, darunter 98 Offiziere und 267 Wachtmeister bei vier vakanten Planstellen;545 Anfang 1989 waren dann wiederum sämtliche Posten besetzt.546 Im ostdeutschen Gefängniswesen insgesamt waren seinerzeit, aufgrund von Schwierigkeiten bei der Nachwuchsrekrutierung, 2,6 Prozent der Planstellen vakant.547 Insgesamt arbeiteten zuletzt 2 219 Offiziere und 6 284 Wachtmeister im Organ Strafvollzug,548 was einer Relation von 1:3,9 entsprach.549 2.5.2 Disziplin Gründe für disziplinarische Bestrafungen konnten im dienstlichen und im politisch-moralischen Bereich liegen. Schlafen auf dem Wachturm etwa wurde sofort mit Arrest bestraft, ebenso das unentschuldigte Fernbleiben vom Dienst. Als strafverschärfend galten vorangegangene Disziplinlosigkeiten, Beteiligung mehrerer Aufseher und Alkoholgenuss. Im Jahre 1952 etwa wurden 20 Fälle des unerlaubten Entfernens vom Dienst, 17 Fälle der Nichtbeachtung der Dienst­ ordnung, achtmal angebliche Undiszipliniertheiten, sieben Fälle von Diebstahl, sechs Verstöße gegen Befehle und in drei Fällen sonstige Gründe notiert.550 Das aus Sicht der Dienststelle gravierendste Vorkommnis war die Desertion von Aufsehern, was allein im Jahre 1952 zweimal vorkam. In einem Fall gab wohl eine bevorstehende Einberufung zum Militär den Ausschlag, im anderen Fall der Umstand, dass der Betreffende »in Brandenburg 3 Mädels [hatte], die von ihm ein Kind erwarteten« und er Verwandtschaft in Kanada besaß, zu der er offenbar 543  Kontrollbericht der Abteilung Strafvollzug der BDVP Potsdam betr. StVE Brandenburg vom 15.3.1985; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/524. 544  Vgl. Aussprachebericht der OPG der Abt. VII vom 9.9.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1432, Bl. 277. 545  Vgl. [Handschriftlicher] Komplexrapport vom Ltr. StVE an Chef BDVP vom 5.3.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 162–169. 546  Bericht der Abteilung Kontrolle der Verwaltung Strafvollzug über den in der StVE Brandenburg durchgeführten Kontrollgruppeneinsatz vom 21.2.1989; BStU, MfS, HA VII, AKG, Nr. 7/25, Bl. 60–67. 547  Vgl. Abschrift eines Berichtes vom 30.3.1989; BStU, MfS, HA VII, Nr. 2617, Bl. 7–10. 548  Vgl. Übersicht über Planstellenkontingente des MdI vom April 1988; BStU, MfS, HA VII, Nr. 2624, Bl. 8–10. 549  Bezogen auf Gefangenenzahlen vor der Amnestie von 1987. Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 409. 550  Vgl. Wöchentlicher Stimmungsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an die Abt. PK der Hauptabteilung SV der HVDVP vom 24.3.1952; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 269.

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hatte flüchten wollen. Manchmal trat sogar die Staatssicherheit auf den Plan und veranlasste in einem ähnlich gelagerten Fall eine baldige Entlassung.551 Vermutlich eher aus politischen Gründen desertierte am 30. August 1953 ein weiterer Aufseher, der schon mehrfach durch eine politisch abweichende Meinung aufgefallen war.552 Später wurde seine Desertion auf Eheschwierigkeiten zurückgeführt,553 was für die Gefängnisleitung weniger Fragen aufwarf. Besonders heikel war, dass im Juli 1954 ein Aufseher zusammen mit einem Häftling nach Westberlin flüchtete und dabei sogar vertrauliche Unterlagen der Haftanstalt mitnahm (siehe Kap. 3.4.6).554 Was den gesamten DDR-Strafvollzug betrifft, setzten sich auch im Jahre 1957 noch insgesamt sieben Aufseher in den Westen ab, wobei sie selbst meist politische Unzufriedenheit geltend machten.555 Grundsätzlich wiesen die Jahre nach den Krisen von 1953 und 1956 sowie das Jahr 1960 die höchsten Entpflichtungsraten in Brandenburg-Görden auf.556 Hier hatten zwischen September 1952 und Dezember 1960 insgesamt fast 200 Aufseher ihren Dienst in der Haftanstalt beendet oder waren entlassen worden. Mit 46 Prozent gehörten unterdurchschnittlich wenige dieser Entpflichteten der SED an (siehe Kap. 2.5.3), was auf eine gewisse »Sozialisationsleistung« der Partei und ihrer Grundorganisationen gegenüber den weiterhin dort tätigen Mitarbeitern schließen lässt. Lediglich ein Aufseher war, dieser Statistik zufolge, in dem genannten Zeitraum desertiert, während 18 weitere nach Beendigung ihres Dienstes republikflüchtig geworden waren. Möglicherweise handelte es sich hierbei jedoch teilweise um rückdatierte Entlassungen, mittels derer die Zahlen geschönt wurden.557 Andere ehemalige Aufseher blieben zwar in der DDR, wurden jedoch aus politischen Gründen diszipliniert.558 Immerhin 23 Aufseher waren 551  Vgl. Jahresbericht 1952 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 35–42. 552  Vgl. BArch DO1 11/1484, Bl. 271. 553  Vgl. Jahresbericht 1953 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1953; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 46–50; BArch DO1 11/1485, Bl. 110. 554  Vgl. Gaedemann, Claus; Littell, Robert: Flucht aus dem Zuchthaus Brandenburg. In: Menschen auf der Flucht. 41 Tatsachenberichte von mutigen Männern und Frauen, die für die Freiheit ihr Leben riskierten. Zürich 1982, S. 403–409. Aus den oben erwähnten Personalstatistiken geht diese Flucht zwar nicht hervor, doch sorgte die Dienststelle durch umgehende oder rückdatierte Entlassung aus den Reihen der Volkspolizei gerne dafür, dass der Fall möglichst nicht als Desertion in den Statistiken erschien. 555  Vgl. die Quartalsberichte [des Notaufnahmelagers Marienfelde] über die Fluchtgründe aus der Nationalen Volksarmee bzw. KVP und aus der Volkspolizei vom 4.4.1957, 3.7.1957 und 10.1.1958; BArch B 137/1428. 556  Vgl. Bericht der Kaderabteilung der StVA Brandenburg über die Entpflichtungen in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 3.3.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/428, Bl. 10–13. 557  Andere Aufseher wurden indes tatsächlich erst nach ihrem Ausscheiden aus den Reihen der Volkspolizei straffällig. Vgl. Der Morgen, Potsdam, vom 12.9.1956; BArch B 289/SA 171/25/4; BStU, MfS, B SKS, Nr. 8675. 558  Vgl. BStU, MfS, C SKS, Nr. 69722.

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wegen »politischer Unzuverlässigkeit« entlassen worden, 13 Mitarbeiter hatten sich nicht näher spezifizierte »Verbrechen und Vergehen« zuschulden kommen lassen und 37 ihrer Kollegen attestierte man »moralische und fachliche Nichteignung«. Hingegen waren 86 Personen auf eigenen Wunsch hin ausgeschieden, acht hatten aufgrund von Stellenplanveränderungen ihren Hut genommen, drei waren während ihrer Dienstzeit verstorben und bei 28 Aufsehern wurden sonstige Gründe festgehalten.559 Verstöße gegen die Disziplin wurden von Anfang an hart bestraft, waren aber dennoch häufig.560 Allerdings besaßen solche Vorkommnisse, bei steigender Mitarbeiterzahl, in den Fünfzigerjahren eine rückläufige Tendenz, wenn man die Jahre 1952 und 1953 mit den Jahren 1955 und 1956 vergleicht. Wurden im erstgenannten Zeitraum insgesamt 54 Arreststrafen gegen Aufseher verhängt, waren es in den Jahren 1955/56 insgesamt 26 Arreststrafen, die zu etwa zwei Drittel in der strengen Form von bis zu 12 Tagen vollzogen wurden. 25 Entlassungen bzw. später nur noch vier Entlassungen wurden ausgesprochen, 33 bzw. 17 strenge Verweise und acht bzw. 17 einfache Verweise erteilt und in drei Fällen bzw. kein einziges Mal der Dienstgrad herabgesetzt.561 Vermutlich war diese Entwicklung durch einen Rückgang disziplinarischer Verstöße wie auch deren nachsichtigere oder differenziertere Ahndung bedingt. Die Fluchtmöglichkeit ins nahegelegene Westberlin stand einer harten Disziplinarpraxis bis zum Mauerbau eigentlich entgegen. Doch um vorzubeugen, etwaige Anwerbungsversuche westlicher Dienste zu verhindern und die Attraktivität des »Schaufensters der freien Welt« gar nicht erst zur Geltung kommen zu lassen, 559  In absoluten Zahlen ausgedrückt handelte es sich um insgesamt 199 Aufseher, unter ihnen auch acht Offiziere. 65 von ihnen besaßen kein Parteibuch, 92 gehörten hingegen der SED und weitere 42 der FDJ an. Vgl. Bericht der Kaderabteilung der StVA Brandenburg über die Entpflichtungen in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 3.3.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/428, Bl. 10–13. 560  Vgl. Monatlicher Informationsbericht des PK-Leiters Bergelt an Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 29.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 90–96; Informationsberichte der Strafanstalt Brandenburg für Oktober, November, Dezember, Januar und Februar an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 1.11.1950; ebenda, Bl. 103–116 u. 118–124. 561  Vgl. Jahresbericht 1952 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 35–42; Jahresbericht 1953 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1953; ebenda, Bl. 46–50; Jahresbericht der Kaderabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1955 vom 4.1.1956; ebenda, Bl. 61 f.; Jahresbericht der Kaderabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1956 vom 31.12.1956; ebenda, Bl. 66–69. Hingegen gab es (in den Jahren 1952 und 1953 zusammen) unter den Aufsehern Brandenburgs 79 förmliche Belobigungen, 594 Prämierungen und die erstaunliche Zahl von 244 Beförderungen. Für die »gezeigten Leistungen in Durchführung des Gnadenerweises des Staatsrates der DDR« vom 1. Oktober 1960 gab es dann für zwölf Mitarbeiter der Haftanstalt zwei bis drei Tage Sonderurlaub. Befehl 14/60 des Chefs der BDVP Potsdam vom 1.12.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/115, Bl. 8 f. Die absolute Zahl der Mitarbeiter hatte sich zwischen den beiden Untersuchungszeiträumen kaum verändert.

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wurden Aufenthalte in und Kontakte nach Westberlin streng bestraft. Dass beispielsweise auf dem Gelände der Haftanstalt leere Zigarettenschachteln westlicher Herkunft gefunden wurden, führte in mindestens zwei Fällen zu fristloser Entlassung.562 Dienstvorgesetzte waren auch gehalten, bei Hausbesuchen darauf zu achten, ob Aufseher Westfernsehen schauten.563 Die Erwartungen an korrektes Verhalten betrafen aber auch den privaten Bereich; gerade junge Volkspolizisten wurden regelmäßig belehrt, keine »niederen Lokale« aufzusuchen,564 was mit »Lokalstreifen« auch kontrolliert wurde. Nicht in den Griff zu bekommen war hingegen der Alkoholkonsum, auch wegen des schlechten Vorbildes der Leitungsebene. Auch hier mussten häufiger Streifen des Volkspolizeikreisamtes Brandenburg einschreiten und Aufseher »wegen ihres renitenten Benehmens vorläufig in Haft« nehmen.565 Im Sommer 1959 wurden sogar mehrere Offiziere nach übermäßigem Alkoholkonsum und anderen moralischen Vergehen entpflichtet, was aus erzieherischen Gründen im gesamten Organ Strafvollzug bekannt gegeben wurde.566 In den überlieferten Unterlagen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren wird Alkohol seltener thematisiert. Doch heißt das nicht zwangsläufig, dass weniger konsumiert wurde, vielmehr wurde aufgrund geringerer gesellschaftlicher Akzeptanz vermutlich stärker im Verborgenen getrunken.567 Die Zahl der Entlassungen ging in den Sechzigerjahren jedenfalls merklich zurück, doch verließen zwischen Januar 1966 und Juli 1970 immerhin noch 68 Aufseher die Dienststelle (bei 116 Einstellungen).568 Durchschnittlich wurden jetzt etwa 30 Disziplinarstrafen jährlich ausgesprochen, was somit rechnerisch immer noch jeden zehnten Aufseher betraf.569 Diese Rate halbierte 562  Vgl. Jahresbericht 1952 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 35–42. 563  Für die Haftanstalt Schwedt/Oder vgl. Lenz: Lebensweg eines Justizvollzugsbeamten, S. 185. 564  Informationsbericht [der Strafanstalt Brandenburg] für den Monat November an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 29.11.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 107–110. 565  Informationsbericht [der Strafanstalt Brandenburg] für den Monat Dezember an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 2.1.1951; ebenda, Bl. 111 f. 566  Vgl. Befehl 39/59 des Ministers des Innern betr. unwürdiges Verhalten von Offizieren in der StVA Brandenburg vom 12.9.1959; BArch DO1 2.2./58203. 567  Siehe auch Lenz: Lebensweg eines Justizvollzugsbeamten, S. 176. Zur Alkoholismusrate in der gesamten DDR-Bevölkerung siehe auch Zeng, Matthias: »Asoziale« in der DDR. Transformation einer moralischen Kategorie. Münster 2000. 568  Vgl. [Analyse der] StVA Brandenburg vom 2.7.1970; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 1–10. 569  Als Durchschnittswert errechnet aus vorliegenden Angaben für die Jahre 1960, 1963, 1964, 1967 und 1968. Vgl. Jahresbericht des Leiters der StVA Brandenburg vom 7.1.1965; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 42–71; Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-Anweisung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33.

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sich in den Siebzigerjahren, als jährlich in Brandenburg-Görden 16570 und im gesamten DDR-Strafvollzug etwa 446 Disziplinarstrafen verhängt wurden,571 was in der Haftanstalt an der Havel 4,1 Prozent und in der gesamten DDR 5,5 Prozent aller Aufseher entsprach (sofern nicht einer oder einige mehrfach negativ auffielen). Härteste Disziplinarmaßnahme neben der Entlassung war die bereits erwähnte Arreststrafe. Sie wurde beispielsweise bis zuletzt bei wiederholtem Alkoholkonsum im Dienst ausgesprochen,572 und in den frühen Jahren genügten auch kleinere Vergehen. Aufseherinnen durften nicht mit Arrest bestraft werden573 – eine Vergünstigung, die weiblichen Häftlingen, bei ungleich härteren Arrestbedingungen, nicht zustand. Ein typischer Regelverstoß in den späteren Jahren war, dass die Aufseher es mit dem Durchzählen des Gefangenenbestandes nicht so genau nahmen. Doch je früher ein Ausbruch durch Nachzählen der Insassen entdeckt wurde, desto größer war die Chance zum Wiederergreifen der Flüchtigen. Grund für die »Nachlässigkeit« der Aufseher war, dass jedes Nachzählen Zeit kostete und das pünktliche Dienstende gefährdete.574 Gefängnisleiter Ackermann bekräftigte daher, dass jedes Verzählen bestraft werden musste, bis hin zum strengen Verweis.575 Häufig Anlass für Sanktionen boten auch die etwa 300 Westkontakte, die alle Aufseher des Organs Strafvollzug zusammengenommen hatten, darunter überwiegend »unvorhergesehene« Zusammentreffen bei Familienfeiern.576 Wegen Vergehen wie Diebstahl am sozialistischen Eigentum, Alkohol im Dienst, politisch abweichenden Äußerungen, verbotenen Westkontakten sowie anderen Formen von »politisch-moralischem Fehlverhalten« wurden in den Jahren 1981 bis einschließlich 1986 in der gesamten DDR 40 Offiziere und 138 Wachtmeister aus dem Strafvollzugsdienst entlassen.577 Allein in Brandenburg-Görden waren es zehn Aufseher, die binnen 17 Monaten vorzeitig gehen mussten oder, in minder 570  So wurden in den Jahren 1976 und 1977 32 Disziplinarstrafen gegen Aufseher ausgesprochen. Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129. 571  Jährlicher Durchschnitt im Zeitraum 1.10.1973–30.3.1977. Vgl. Bericht über die Ursachen und Bedingungen für die Entwicklungstendenzen im disziplinaren Zustand o. D. [1977]; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 5, Bl. 173–192. 572  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. IV, Nr. 777/76. 573  Vgl. Dienstvorschrift 63/82 des Ministeriums des Innern über die Disziplinarbefugnisse und disziplinarische Verantwortlichkeit in der Deutschen Volkspolizei sowie den Organen Feuerwehr und Strafvollzug – Disziplinarvorschrift der Organe des MdI – vom 23.6.1982; BStU, MfS, BdL/ Dok., Nr. 11517. 574  Politabteilung der BDVP Potsdam: Abschlussbericht des Kontrollgruppeneinsatzes in der StVE Brandenburg vom 19.4.1974; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/108, Bl. 52–65. 575  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/108. 576  Vgl. Disziplinarverstöße durch SV-Angehörige 1974/75; BArch DO1/10166, o. Pag. 577  Vgl. Einschätzung der Abteilung 2 der Verwaltung Kader des MdI der Entlassungspraxis im Zeitraum 1981 bis 1986 (mit Anlagen); BStU, MfS, HA VII, Nr. 2614, Bl. 5–18; Anlage 2

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schweren Fällen, an anderer Stelle im Bereich der Volkspolizei weiterbeschäftigt wurden.578 Im August 1989 flüchtete dann ein Aufseher aus Brandenburg-Görden über Ungarn in den Westen, wie viele andere DDR-Bürger auch.579 Ein weiterer Kollege nutzte die Öffnung der Grenzen am 9. November offenbar, um bereits am Folgetag nach Westberlin zu desertieren.580 2.5.3 Politische Linientreue Ebenso wie korrekte Dienstdurchführung war politische Linientreue erwünscht.581 Die meisten Aufseher verhielten sich weltanschaulich angepasst, doch bedeutet dies nicht, dass sie eine gefestigte politische Haltung im Sinne der SED besaßen. So war während einer »Breitenschulung« in Brandenburg-Görden im Oktober 1950 »festzustellen, dass 2 VP-Angehörige noch nicht wussten, dass bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik eine Einheit der Arbeiterklasse besteht«.582 Ein anderer Aufseher vertrat sogar die hellsichtige Auffassung, »dass die Volkswahlen am 15. Oktober [1950] denselben Charakter wie in der Nazizeit trugen«. Dabei wurde von Volkspolizisten eine besonders »fortschrittliche« Haltung erwartet; aus Sicht der Vorgesetzten galt seinerzeit bereits als rückständig, wer von »den Russen« statt von »den Sowjetmenschen« sprach.583 Ein anderer Aufseher hatte seinen politischen Standpunkt offenbar verschleiern können, bis (Aufstellung aller SV-Angehörigen) zum Bericht der Hauptabteilung VII vom 1.3.1984; BStU, MfS, HA VII, Nr. 2047, Bl. 16. 578  Vgl. Abteilung VII/OPG: Bericht über den Stand des Klärungsprozesses vom 28.5.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 705, Bl. 542–549. 579  Vgl. Lageeinschätzung der OPG zur StVE Brandenburg vom 12.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 836, o. Pag. 580  Vgl. Aktenvermerk der Operativgruppe vom 10.11.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1411, o. Pag. 581  Als idealisiertes Vorbild der Aufseher galt etwa in den 60er-Jahren der »neue sozialistische Mensch«, »der unbeugsam, mutig und diszipliniert die Interessen unseres Staates vertritt, erfolgreich auf die Strafgefangenen einwirkt, der seinen Dienst liebt, parteilich an alle Aufgaben und Probleme herangeht und auch bereit ist, unter Einsatz seines Lebens seinen Eid zu erfüllen, der klug und umsichtig, konsequent und schöpferisch die SVO [Sicherheitsverordnung], Befehle und Weisungen erfüllt und nach höchsten Ergebnissen in der Strafvollzugstätigkeit, der Kampf- und Einsatzbereitschaft sowie in der Ausbildung strebt, der hohe Allgemeinbildung mit gründlichem Fachwissen, fester politischer Überzeugung und dem Streben nach ständiger Erhöhung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten vereint.« Thesen zum Thema ›Ziel und Inhalt der politischideologischen Arbeit im Organ Strafvollzug‹ [Vortrag von Schmidt-Bock auf der Schulungs- und Arbeitstagung des Leiters der VSV 22.11.–2.12.1965], 32 S.; BArch DO1 32/36357. 582  Informationsbericht der Strafanstalt Brandenburg vom Monat Oktober an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 1.11.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 103–106. 583  Informationsbericht [der Strafanstalt Brandenburg] für den Monat November an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 29.11.1950; ebenda, Bl. 107–110.

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er in angetrunkenem Zustand Volkspolizisten drohte: »Wart[et] nur ihr Hunde, wenn es einmal anders kommt, dann seid ihr aber dran!«584 Als im Juni 1953 kurzzeitig ein gesellschaftlicher Umsturz tatsächlich vor der Tür stand, verhielten sich die Aufseher indes weitgehend diszipliniert (siehe Kap. 2.6.4). Ein später in den Westen geflüchteter Aufseher attestierte seinen ExKollegen zwar Solidarität mit den Aufständischen bis hin zum intendierten »Putsch« gegen die Gefängnisleitung,585 doch sind dem keine Taten gefolgt. Jedenfalls erschienen am 17. Juni 1953 die dienstfreien Aufseher, als sie alarmiert wurden, zu 80 Prozent binnen 15 Minuten »vorschriftsmäßig gekleidet« zum Dienst.586 Lediglich ein Aufseher erklärte, als das von ihm bewachte Außenkommando vorzeitig einrückte, dass er im Herbst den Dienst quittieren wolle, was mit Arrest bestraft wurde,587 und ein anderer desertierte am 30. August 1953.588 Dass es im dritten Quartal 1953 zu vergleichsweise vielen Entlassungen kam,589 war wohl vor allem das Ergebnis einer politischen Säuberung von allen unsicheren Kantonisten. Strengere Maßstäbe wurden auch angelegt, als im zweiten Halbjahr 1961 die Disziplinarstrafen gegen die Aufseher im Bezirk Potsdam um 60 Prozent gegenüber dem ersten Halbjahr zunahmen und sogar eine sechsmonatige Freiheitsstrafe wegen »Staatsverleumdung« ausgesprochen wurde.590 Lässt man das Vorhandensein eines Parteibuchs als Indiz für Linientreue gelten, zeigten sich die Aufseher Brandenburg-Gördens bereits vor der Übernahme durch die Volkspolizei weltanschaulich loyal. Obwohl sich die Polizei als politisch zuverlässiger gerierte (siehe Kap. 2.6.2) und auch strenger mögliche NS-Belastungen verfolgte (siehe Kap. 2.5.1), war der Anteil der Parteimitglieder unter den Aufsehern im Justizdienst sogar noch höher als bei der Volkspolizei. So besaßen im Februar 1950 129 der 157 Aufseher in der Haftanstalt an der Havel das Parteibuch der 584  Vgl. Informationsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für den Monat Mai an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 22.5.1951; ebenda, Bl. 132–136. Der betreffende Aufseher zeigte sich außerdem auch moralisch fehlbar, weil bei ihm »Zeichnungen mit äußerst schlechten sexualen Darstellungen« gefunden wurden. »Die Zeichnungen hat L. in einem Heft, dass er von der Abteilung PK/Schulung erhielt und zum Zwecke der Breitenschulung verwandt werden sollte, angebracht.« 585  Vgl. [Bericht des geflüchteten Aufsehers Horst Bock] über die Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden vom 28.7.1954; BArch B 285/201. 586  Vgl. Informationsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg zum II. Quartal 1953 vom 3.7.1953; BArch DO1 11/1468, Bl. 231–259. 587  Vgl. Anlage der StVA Brandenburg zum Quartalsbericht vom 4.7.1953; BArch DO1 11/1512, Bl. 66–68. 588  Vgl. BArch DO1 11/1484, Bl. 271. 589  Vgl. Jahresbericht 1953 der Personalabteilung der StVA Brandenburg vom 31.12.1953; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 46–50. 590  Vgl. Teilbericht der Abteilung Strafvollzug der BDVP Potsdam für das 2. Halbjahr 1961 [von 1962]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/12, Bl. 60–69; Bericht der Abteilung SV der BDVP Potsdam über das II. Halbjahr 1961 vom 4.1.1962; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/389, Bl. 168–177.

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SED (82,1 Prozent),591 was in etwa dem landesweiten Durchschnitt entsprach.592 Nach Übernahme der Haftanstalt durch die Volkspolizei waren im Jahre 1951 »nur noch« 46,6 Prozent Vollmitglieder und weitere 5,5 Prozent Kandidaten der SED (bei 47,9 Prozent Parteilosen).593 Damit war zum damaligen Zeitpunkt der Anteil der Parteimitglieder in Brandenburg-Görden sogar geringer als in allen anderen Sonderhaftanstalten (mit Ausnahme Luckaus).594 In der gesamten DDR waren im Jahre 1950 die SED-Mitglieder unter den Aufsehern im Justiz- und Polizeidienst mit jeweils etwa 78 Prozent gleich stark vertreten, doch gehörten bei der Justiz weitere sechs Prozent einer anderen Partei an, was bei der Volkspolizei nicht geduldet wurde.595 Auch Kirchenzugehörigkeit war bei der Volkspolizei nicht gerne gesehen, wurde aber eher toleriert.596 Zwei Jahre später, zum Jahresende 1953, waren in Brandenburg-Görden 48,7 Prozent der Aufseher der SED beigetreten und 11,8 Prozent galten als Kandidaten der Partei.597 Der Anteil beider Gruppen stieg in der Folge immer weiter an, gleichwohl die periodische Rückgabe der Parteibücher zu leichten Schwankungen geführt haben dürfte. In der gesamten DDR verfügten im Jahre 1960 75,2 Prozent der Aufseher über ein Parteibuch.598 In der Haftanstalt an der Havel bekannten sich im Jahre 1969 223 der 282 Aufseher zur SED (80,2 Prozent); dabei besaßen ausnahmslos alle 49 Offiziere ein Mitgliedsbuch.599 Im Jahre 1973 waren 85,4 Prozent der insgesamt 270 Aufseher Mitglieder der SED,600 im Mai 1989 79 Prozent.601 Und selbst die Neueingestellten bzw. Zuversetzten besaßen 591  Vgl. [Übersicht über den Gefangenenbestand in der DDR] vom 1.2.1950; BArch DP 1–262, Bl. 92a. 592  Dieser lag Anfang Januar 1950 bei 78 %. Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 49. 593  Vgl. I. Quartalsbericht 1952 der Personalabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an die HVDVP vom 3.4.1952; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 58 f. 594  Vgl. Übersicht über die Parteizugehörigkeit der Kader o. D. [Herbst 1951]; BArch DO1 11/1508, Bl. 147. 595  Vgl. Bericht des Ministeriums der Justiz im 1. Halbjahr 1950; BArch NY 4090/440, Bl. 296–353; Bericht über die Arbeit der Polit-Abteilung und den politisch-moralischen Zustand [der Angehörigen des Strafvollzugs] o. D. [1953]; BArch DO1 11/1466, Bl. 1–12. 596  Im Jahre 1963 beispielsweise gehörten noch 23 Aufseher (8,4 %) der Kirche an. Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/697, Bl. 19. Im Bezirk Cottbus waren es 1957 sogar noch 20 % gewesen. Vgl. Alisch: Beispiel Cottbus, S. 177. 597  Vgl. Quartalsbericht der Personalabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 31.3.1954; BArch DO1 11/1468, Bl. 22 f. 598  Vgl. Einschätzung der Lage im Strafvollzug durch die Arbeitsgruppe SV der Politischen Verwaltung vom 12.4.1960; BArch DO1 11/1477, Bl. 25–36. 599  Vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-Anweisung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33. 600  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/697, Bl. 176. 601  Vgl. Der Leiter der StVE Brandenburg: Einschätzung des politisch-moralischen Zustandes des Personalbestandes vom 10.5.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 760, Bl. 42–50.

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Mitte der Achtzigerjahre zu 57 Prozent bereits das Mitgliedsbuch der SED oder waren als Kandidaten registriert.602 Die Bewerber für den Dienst im Strafvollzug sollten sich durch »unbedingte Treue zur Arbeiter- und Bauernmacht« sowie »Verbundenheit mit den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft, insbesondere der Sowjetunion« aus­ zeichnen, wie es in den einschlägigen Richtlinien des Innenministeriums hieß.603 Ganz ähnliche Anforderungen galten auch für die Aufseher in den Untersuchungshaftanstalten der Staatssicherheit.604 »Ihre Überzeugung von der Sieghaftigkeit des Sozialismus/Kommunismus in der weltweiten Klassen­ auseinandersetzung mit dem Imperialismus« sollten sie »ständig ver­tie­fen, vom unerbittlichen Hass gegenüber dem Klassenfeind durchdrungen« sein und sich »offensiv und kompromisslos mit dem Imperialismus und allen Er­ scheinungsformen seiner Ideologie auseinandersetzen«.605 Um eine Of­fi­ziers­ laufbahn einschlagen zu können, mussten die Bewerber ab 1976 Mit­glie­der oder Kandidaten der SED sein; Ausnahmen wurden jetzt nicht mehr ge­dul­ det.606 Zusätzlichen Anforderungen in weltanschaulicher Hinsicht hatten die Ge­fängnisleiter zu genügen, die nicht nur für die Einhaltung der dienst­li­chen Bestimmungen, sondern auch für die »konsequente Verwirklichung der Be­schlüs­se und Dokumente der SED« verantwortlich waren.607 Zur Verbesserung ihres ideologischen Rüstzeugs war es für Offiziere und Wachtmeister Pflicht, Veranstaltungen zu ihrer weltanschaulichen Indoktrination zu besuchen. Neben den sogenannten »politischen Schulungen«, der »Hauptform der marxistisch-leninistischen Bildung«, standen »Zirkel«, »Seminare«, »politischaktuelle Gespräche«, »Lektionen« und »Vorträge« auf dem Programm.608 Dabei 602  Berichterstattung des Leiters der StVE Brandenburg über die schöpferische Initiative der StVE Brandenburg vom 6.6.1985; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/524. 603  Ordnung 101/71 des Ministers des Innern und Chefs der DVP über die Verfahrensweise bei Einstellungen von Bürgern in die DVP sowie die Organe Feuerwehr und Strafvollzug des Ministeriums des Innern – Einstellungsordnung – vom 20.4.1971; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 11110. 604  Vgl. Martin: Wärter und Vernehmer, S. 280–314. 605  Direktive 2/74 des Ministers des Innern und Chefs der DVP über die Führung und Organisation der Agitation, Propaganda und kulturellen Massenarbeit vom 10.10.1973; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10458, Bl. 1 f. 606  Vgl. Ordnung 113/77 des Ministers des Innern und Chefs der DVP zur Prüfung der allseitigen Eignung der Bewerber für die Einstellung in die DVP sowie die Organe Feuerwehr und Strafvollzug des Ministeriums des Innern – Einstellungsordnung – vom 14.12.1976; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 9709. 607  Grundsätze des MdI über die Aufgaben, Prinzipien der Führung, Arbeitsweise, Organisation und Struktur der Strafvollzugseinrichtungen – Grundsätze Strafvollzugseinrichtungen – vom 5.7.1968 in der Fassung vom 15.12.1971; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10359. 608  Vgl. u. a. Direktive 2/82 des Ministeriums des Innern betr. die Führung und Organisation der Agitation, Propaganda und Kulturarbeit in der Deutschen Volkspolizei vom 4.8.1982; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 11571; Jeschonneck, Peter: Methoden der Durchführung und Auswertung politisch-aktueller Gespräche. In: Forum der Kriminalistik (1971) 2, S. 89 f.

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wurde die jeweilige Linie der Partei aus den Grundlagen des MarxismusLeninismus heraus begründet und das Tagesgeschehen entsprechend interpretiert. Wenn das Hohelied von der Sieghaftigkeit des Sozialismus gesungen wurde, war die Teilnahmequote angeblich sehr hoch, betrug schon Anfang der Fünf­ zigerjahre zwischen 70 und 80 Prozent,609 stieg dann rasch an610 und lag seit den Siebzigerjahren bei etwa 97 Prozent.611 Vermutlich wollte sich kein Aufseher durch Fernbleiben die Chance einer Beförderung verbauen bzw. Anlass zur Kritik bieten. Die Anwesenheit ging freilich nicht immer mit entsprechendem Engagement einher. So sprach ein Oberwachtmeister 1957 offen das aus, was vermutlich viele dachten: »Man solle nicht mehr so viel Polit-Unterricht halten, weil einem das langsam schon zum Hals raushängt.«612 Ein anderer äußerte, als er 1966 zum Studium der Beschlüsse der Partei aufgefordert wurde: »Lasst mich in Ruhe oder gebt mir die Papiere!«, woraufhin die Parteileitung einen Hausbesuch bei ihm durchführte.613 Auch die Lektüreinteressen der Aufseher galten, sofern nicht ausdrücklich dazu verpflichtet, nur selten den marxistischleninistischen Klassikern.614 Die Politische Abteilung der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei in Potsdam bemängelte zudem, dass Aufseher vielfach zur Erledigung dringender dienstlicher Aufgaben aus den Politschulungen abkommandiert wurden.615 Zu den unvermeidlichen Ritualen in der sozialistischen Gesellschaft gehörte es, dass die Volkspolizisten von Zeit zu Zeit Ergebenheitsadressen an die oberste Parteiführung richteten. 1971 hieß es etwa beim Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker: So wurden z. B. von allen Kollektiven zum Beschluss der 16. Tagung des Zentralkomitees der SED Zustimmungserklärungen abgegeben, verbunden mit einem persönlichen Dank an den Gen. Walter Ulbricht und dem Glückwunsch zur Wahl des Gen. Erich Honecker zum 1. Sekretär des ZK der SED. Diese Zustimmung wurde verbunden mit der Verpflichtung, den Kampf zu führen zur Gewährleistung der Sicher­heit 609  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345. 610  Vgl. BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311. 611  Teilbericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zur Kontrolle im Rahmen des Brigadeeinsatzes der ZKG des Chefs in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 29.3.1978; BLHA, Bez. Pdm. 404/15.2/184, 7 S. 612  Vgl. Quartalsbericht der Polit-Abteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg zum II. Quartal 1957 vom 27.6.1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, Bl. 400–403. 613  Schreiben des Politstellvertreters der StVA Brandenburg vom 16.8.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/700, Bl. 64–66. 614  Statt für die politische Schulung begeisterten sich die Aufseher wohl für andere Dinge – so wurden im IV. Quartal 1952 aus der anstaltseigenen Bibliothek durch Aufseher 100 Bücher ausgeliehen, darunter 78 Bücher mit schöngeistiger Literatur sowie Erzählungen und Novellen. Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, Bl. 186. 615  Vgl. Bericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zur Kontrolle der Wirksamkeit der politisch ideologischen Arbeit vom 13.5.1980; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/187, Bl. 89–95.

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der StVA Brandenburg, zur Erhöhung der Ordnung und Disziplin sowie zur Steigerung der Effektivität bei der Erziehung der Strafgefangenen.616

Im gleichen Sprachduktus berichtete Anstaltsleiter Harry Papenfuß Mitte der Achtzigerjahre über seine persönlichen Anstrengungen in der politischen Führungstätigkeit. Diese richtete »sich insbesondere auf die Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten« bei den jüngeren Aufsehern. Regelmäßige Aussprachen beim ›Treffpunkt Leiter‹ und die bewusste Nutzung der Gedenkstätte trugen zur kommunistischen Erziehung bei. Treffen mit Antifaschisten des ehemaligen Zuchthauses Brandenburg-Görden, mit Veteranen der Arbeiterbewegung sowie Ehrung von ehemaligen verdienstvollen SV-Angehörigen haben die jungen Genossen nachhaltig beeinflusst und sie zum bewussten Handeln in der dienstlichen Tätigkeit veranlasst.617

Solche Bekenntnisse zu Partei und Staat lassen Übereinstimmung mit der Programmatik der SED-Führung vermuten, doch konnte sich im Einzelfall auch politische Indifferenz hinter solchen (Lippen-)Bekenntnissen verbergen. Charakteristisch war, dass »von oben« der politisch-ideologische Zustand der Dienststelle stets grundsätzlich positiv eingeschätzt,618 aber unter Bezugnahme auf negative Einzelfälle immer auf weitere Verbesserungen gedrängt wurde.619 Vor allem der Staatssicherheitsdienst war durch seine Zuträger über Defizite gut im Bilde und monierte Mitte der Achtzigerjahre, die Aufseher von BrandenburgGörden würden sich durch »ideologische Unklarheiten, labiles charakterliches Verhalten, kleinbürgerliches Denken, Besitzstreben und Karrierismus« aus­zeich­ nen.620 Zudem orientierten sich viele »vorrangig an Veröffentlichungen west­ licher Massenmedien«.621 Fester Bestandteil der politischen Erziehung war die Freundschaft zur Sowjetunion, die zu vertiefen man sich unablässig bemühe, so Papenfuß. So pflegten die Aufseher regelmäßig Kontakte zu einem in der Nähe stationierten sowjetischen Regiment und trafen sich etwa im Jahre 1984 achtmal zu 616  Bericht der Politabteilung der BDVP Potsdam über die durchgeführte Kontrolle in der StVE Brandenburg vom 19.5.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/108, Bl. 43–47. 617  Berichterstattung des Leiters der StVE Brandenburg über die schöpferische Initiative der StVE Brandenburg vom 6.6.1985; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/524. 618  Vgl. Politabteilung der BDVP Potsdam: Abschlussbericht des Kontrollgruppeneinsatzes in der StVE Brandenburg vom 19.4.1974; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/108, Bl. 52–65. 619  Vgl. u. a. Bericht des Stellv. des Chefs F/SV der BDVP Potsdam über die in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg durchgeführte Komplexkontrolle vom 29.9.1989; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/470. 620  Abteilung VII/OPG: Bericht über den Stand des Klärungsprozesses vom 28.5.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 705, Bl. 542–549. 621  Vgl. Lageeinschätzung der OPG zur StVE Brandenburg vom 12.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 836, o. Pag.

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»Erfahrungsaustauschen«, Sportwettbewerben und »Kulturveranstaltungen«.622 Auch sogenannte Aussprachen mit sowjetischen Offizieren der Brandenburger Garnison sollten der politischen Erziehung der Aufseher dienen.623 Unerwünscht war hingegen, dass zwei Aufseher befreundeten sowjetischen Soldaten Zivilkleidung für Ausflüge in die Stadt Brandenburg liehen und gemeinsam »Trinkgelage« veranstalteten; die Missetäter erhielten fünf Tage Arrest.624 Eine doppelt so hohe Strafe erhielt ein anderer Aufseher, der mit einem sowjetischen Soldaten so sehr in Streit geraten war, dass er im Rausch seine Waffe gezogen und durchgeladen hatte.625 Die fachliche und politische Schulung der Aufseher fand teilweise auf dem Gelände der Haftanstalt Brandenburg-Görden statt. Eine Ausbildungsstätte mit 60 Plätzen zu errichten, hatte bereits Max Fechner im Juli 1949 angewiesen, als die Justiz noch Hausherr war.626 Das Gebäude wurde am 20. Juni 1950 fertiggestellt, jedoch nicht mehr genutzt, weil die Volkspolizei zehn Tage später die Haftanstalt übernahm.627 Im März 1952 folgte dann tatsächlich die Eröffnung der Einrichtung,628 die vom Rat der Volkspolizei Schiller geleitet wurde. Die Absolventen mussten sich bei Abschluss ihres Lehrgangs einer zweitägigen schriftlichen Prüfung unterziehen. Dabei mussten sie sich beispielsweise mit dem Prozess gegen Johann Burianek auseinandersetzen – einem früheren Volkspolizisten, der als Kontaktmann der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit verhaftet und in einem Schauprozess im Mai 1952 abgeurteilt worden war, weil er angeblich Sprengstoffattentate auf Brücken vorbereitet hatte. Da das Oberste Gericht dabei erstmalig die Todesstrafe verhängt hatte, war die Abschreckungsfunktion dieser »Lektion« offenkundig.629 Außerdem sollten sich die Prüflinge mit der »weiteren Festigung der demokratischen Gesetzlichkeit« auseinandersetzen. Ferner wurde gefragt: »Warum muss jeder VP-Angehörige die Handhabung seiner Schusswaffe 622  Berichterstattung des Leiters der StVE Brandenburg über die schöpferische Initiative der StVE Brandenburg vom 6.6.1985; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/524. 623  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/700, Bl. 135. 624  Vgl. Quartalsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das I. Quartal 1954 vom 29.3.1954; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, Bl. 244–263. 625  Vgl. Einschätzung der bewaffneten Kräfte der StVA Brandenburg in der Zeit vom 13.8. bis 31.8.1961 vom 5.9.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 16–22. 626  Vgl. Protokoll über die Dienstbesprechung bei dem Herrn Amtschef am 18.7.1949; BArch DP 1–262, Bl. 61–65. 627  Vgl. Bericht des Ministeriums der Justiz im 1. Halbjahr 1950; BArch NY 4090/440, Bl. 296–353, Bl. 323. 628  Vgl. Bericht der Vollzugsabteilung [der Hauptabteilung Strafvollzug] über ihre Arbeit im ersten Quartal 1952 [von 1952]; BArch DO1 11/1469, Bl. 30–42. 629  Zum Fall Burianek vgl. Merz, Kai-Uwe: Kalter Krieg als antikommunistischer Widerstand. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit 1948–1959. München 1987, S. 162–166; Heitzer, Enrico: Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948–1959. Köln 2015, S. 375–381.

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beherrschen?«630 Die Schule wurde ab den Siebzigerjahren als Dienstanfängera usbildungseinrichtung bezeichnet. Ihr Leiter musste indes im Jahre 1970 wegen »grober Mängel und Schwächen in der Leitungs- und Führungstätigkeit, besonders im Umgang mit Unterstellten«, von seinem Posten abgelöst werden.631 2.5.4 Feindbilder und »Versöhnlertum« Die politische Zuverlässigkeit der Aufseher galt als besonders wichtig, weil sie Gegnern des SED-Regimes unmittelbar gegenüberstanden. Würden die Anweisungen der Gefängnisleitung korrekt ausgeführt und die Häftlinge hart angefasst, seien Ruhe und Ordnung garantiert – so die dahinterstehende Überlegung. »Unser Grundsatz, über eine gute Disziplin der SV-Angehörigen die Strafgefangenen zu disziplinieren«, so erklärte der Politstellvertreter von Brandenburg-Görden, »hat sich bewährt.«632 Doch über pädagogische Fähigkeiten verfügten wohl nur die wenigsten Aufseher, wie auch Gefängnisleiter Ackermann von seiner Warte aus konstatierte: »Die Gefangenen sehen, dass viele der Genossen nicht einmal ihre Kinder erziehen können, aber erwachsene Rechtsbrecher umerziehen wollen.« Auf diese Weise könne man sie nicht von der Sieghaftigkeit des Sozialismus überzeugen.633 Für das ungenügende pädagogische Geschick der Aufseher spricht auch, dass sie stets ihre Autorität in Gefahr sahen, sobald ihre Disziplinarbefugnisse durch neue dienstliche Regelungen eingeschränkt wurden.634 Offenbar sahen sich die meisten von ihnen außerstande, die Insassen anders als mit strengen Strafen zu dem gewünschten Verhalten zu bewegen. In der ersten Hälfte der Sechzigerjahre gewann in der Strafvollzugspolitik die Erziehung der Insassen an Bedeutung (siehe Kap. 3.2.5). Jetzt galt die Haltung der Aufseher in den Augen der obersten Gefängnisleitung als vorbildlich, wenn sie gegenüber den Häftlingen »konsequent« auftraten, bedingungslose Disziplin jedoch mit möglichst wenig Bestrafungen zu erreichen wussten. Disziplinarstrafen galten jetzt auch als Indizien für Verstöße gegen Ruhe und Ordnung, was ein schlechtes Licht auf den jeweiligen »Erziehungsbereich« warf. Für die Aufseher lag es deswegen nahe, etwaige Regelverletzungen durch Einschüchterung und 630  Vgl. Prüfungsplan der Grundschule SV in Brandenburg vom 1.7.1952; BArch DO1 11/1481, Bl. 314–317. 631  Vgl. Realisierung der Jahreskonzeption des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg im Jahre 1970 vom 14.1.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 186–217. 632  Diskussionsbeitrag des Stellv. für polit. Arbeit der StVE Brandenburg vom 25.2.1984; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/190. 633  Protokoll der Abt. Strafvollzug der BDVP Potsdam betr. Arbeitsberatung mit den Leitern und Parteisekretären der SV-Dienststellen des Bezirkes Potsdam vom 13.10.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 285–300. 634  Vgl. Thesen der Verwaltung Strafvollzug für die Beratung der Abteilungsleiter Strafvollzug am 12.8.1965, 8 S.; BArch DO1 32/36357.

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Drohungen präventiv zu verhindern. Ein probates Mittel schien ferner zu sein, auf körperliche Gewalt gegründete Hierarchien unter den Gefangenen zu dulden bzw. sich ihrer zur Disziplinierung von Unruhestiftern zu bedienen.635 Positiv angerechnet wurde Aufsehern auch, wenn möglichst jahrelang »keine berechtigte Beschwerde« von Gefangenen vorkam – eine Sichtweise, die das Ignorieren von Eingaben und das Vertuschen von Missständen nahelegte.636 Ferner galt als ein Indikator für die Qualität der »Erziehungsarbeit« in den späteren Jahren, wie viele Arbeitsverweigerer und Übersiedlungsersuchende im eigenen Zuständigkeitsbereich gezählt wurden.637 Auf diese Weise waren die Aufseher besonders motiviert, den Gehorsam der Gefangenen zu erzwingen – wenngleich auf subtilere Art als in der Frühphase der DDR. Die oberste Parteiführung selbst war es, die Unnachgiebigkeit gegenüber den Häftlingen forderte. »Erscheinungen des Versöhnlertums und des Paktierens mit den Gefangenen sind scharf zu bekämpfen«, so eine frühe Direktive des Politbüros.638 Und der vom Zentralkomitee eingesetzte Anstaltsleiter Heinz Marquardt soll die Aufseher sogar ausdrücklich aufgefordert haben, »die Gefangenen zu hassen«.639 Der Tonfall mäßigte sich im Laufe der Jahre zwar etwas, doch wurden die Aufseher unablässig ermahnt, das richtige Feindbild vor Augen zu behalten. Der Leiter der Verwaltung Strafvollzug, August Mayer, verdeutlichte dies auf einer Dienstversammlung im Herbst 1957 in Brandenburg-Görden: »Hier sitzen die schwersten Verbrecher ein. Menschen die ihr Vaterland verraten haben usw. Wenn man aber die Diskussionen [der Aufseher untereinander] hört, wenn man die Vorkommnisse liest, dann muss man sich fragen, sind sich denn die Genossen über den Charakter dieser Gefangenen klar und wie ein Genosse unserer Partei zu diesen Verbrechen stehen muss.«640 Einige der Aufseher hörten sogar den RIAS641 und ließen sich davon soweit beeinflussen, dass sie sich »im Verhalten den Strafgef[angenen] gegenüber für eine Zeit vorbereiten, die einmal kommen könnte, und die dann sagen, ich war ja gar nicht so streng zu den

635  Dies gilt besonders im Militärstrafvollzug. Vgl. Lenz: Der Lebensweg eines Justizvollzugs­ be­a m­ten, S.  166. 636  Abschlussbericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zum Kontrollgruppenein­satz der Politischen Abteilung in der StVE vom 14.4.1977; BLHA, Bez. Pdm. 404/15.2/184, Bl. 27–42. 637  Bericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zur Kontrolle der Wirksamkeit der politisch ideologischen Arbeit vom 13.5.1980; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/187, Bl. 89–95. 638  Anlage 1 zum Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 11.5.1954; BArch DY 30 J IV 2/2–360. 639  Aussage von Heinz Marquardt bei Übernahme der Haftanstalt Brandenburg-Görden Ende 1950; zit. nach: Finn: Die politischen Häftlinge der Sowjetzone, S. 170. 640  Protokoll über die durchgeführte Dienstversammlung [in der StVA Brandenburg] am 21.10.1957 vom 23.10.1957; BArch DO1 11/1493, Bl. 99–114. 641  Diese Einschätzung war zutreffend. Vgl. [Bericht des GI] »Meier« über einige Vorkommnisse vom 11.5.1956; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 321/62, Bd. 2, Bl. 41.

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Strafgef[angenen]«.642 Auf diese Weise rückversichert hätten sich die Aufseher etwa während des Ungarnaufstandes, als Disziplinarstrafen wegen »versöhnlerischen Verhaltens« um 90 Prozent zunahmen.643 Solche Nachgiebigkeit, so Mayer, müsse bekämpft werden: »Unsere Genossen müssen hart werden.«644 Auch der Stellvertreter des Innenministers, Herbert Grünstein, bediente auf einer Tagung mit den Gefängnisleitern im Jahre 1967 das gängige Feindbild. Die Leiter der Gefängnisse, so führte er aus, stünden an einer komplizierten Front, in mancher Einrichtung [Haftanstalt] direkt dem Klassenfeind gegenüber, dort wo es sich um Feinde, Agenten, Spione handelt, zumindest einem Teil Menschen, die durch ihre Labilität und Kriminalität Werkzeuge des Klassenfeindes werden könnten. Bekanntlich spielte das Verbrechertum immer eine wichtige Handlangerrolle für den Faschismus, denken wir an die Berufsverbrecher in den Zeiten der faschistischen Konzentrationslager, an die Rolle, die diese Verbrecher in den besetzten Gebieten spielten als Polizisten und Handlanger der Okkupationsmächte. Diesen steht Ihr direkt gegenüber. Das heißt, nur einen Moment in der Wachsamkeit nachlassen, vertrauensselig zu sein, das wäre ein großes Verbrechen an der Sicherheit und dem Schutz unseres Staates. Das heißt, da muss ich auch bei uns das Pulver trocken halten, höchste Wachsamkeit üben und immer davon ausgehen, dass der Klassenfeind da ist.645

Von militärischen Denkstrukturen geprägt, äußerte die oberste Straf­voll­zugs­ver­ waltung gar die weltfremde Befürchtung, die politischen Häft­lin­ge würden ent­ sprechend westlichen Plänen im Falle einer militärischen Kon­frontation zwi­schen den Blöcken zur »Kolonne« werden.646 Und Ackermann stell­te an die inhaftierten Mörder und Sexualstraftäter gerichtet fest: »Ihr seid nicht so ver­achtenswert wie die sogenannten ›politischen‹. Ihr habt nur einen Men­schen getötet, aber diese Vorschub leisten und der Ent­fes­se­lung eines Drit­ten Weltkrieges.«647 642  Protokoll über die durchgeführte Dienstversammlung [in der StVA Brandenburg] am 21.10.1957 vom 23.10.1957; BArch DO1 11/1493, Bl. 99–114. 643  Quartalsbericht der Polit-Abteilung der Verwaltung Strafvollzug [für das] IV. Quartal vom 19.1.1957; BArch DO1 11/1472, Bl. 116–122. Siehe auch Aussage von Hans-Eberhard Zahn; abgedruckt in: Über Grenzen und Zeiten – Für Freiheit, Recht und Demokratie. 7. Kongress der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und der Stiftung Aufarbeitung mit den Verfolgtenverbänden und Aufarbeitungsinitiativen, 23.–25. Mai 2003 in Brandenburg an der Havel. Berlin 2004, S. 113. 644  Protokoll über die durchgeführte Dienstversammlung [in der StVA Brandenburg] am 21.10.1957 vom 23.10.1957; BArch DO1 11/1493, Bl. 99–114. 645  Vgl. Referat des Generalleutnants Grünstein auf der Tagung mit den Leitern der selbstständigen Vollzugseinrichtungen und den Abteilungsleitern SV der BDVP in der StVA Brandenburg am 28.6.1967, 38 S.; BArch DO1 32/36357. 646  Vgl. Einschätzung der Lage im Strafvollzug durch die Arbeitsgruppe SV der Politischen Verwaltung vom 12.4.1960; BArch DO1 11/1477, Bl. 25–36. 647  [Augenzeugenbericht des ehemaligen Insassen der StVA Brandenburg] Lothar Lienicke. In: 15 Jahre Mauer. Menschenrechtsverletzungen der DDR seit dem 13.8.1961. Hg. von der Arbeitsgemeinschaft 13. August am 12.8.1976; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 272/79, Bl. 39–70.

Die Aufseher

Abb. 3: Zellentrakt in Brandenburg-Görden, 1989/90

Abb. 4: Gefangene und Aufseher im Zellentrakt, 1989/90

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Ackermann und seine Aufseher wer­den mit ähnlichen For­mu­lierungen von vielen ehemaligen Insassen zitiert.648 Zur Stärkung ihres Feind­bildes ließ die oberste Gefängnisverwaltung im Jahre 1985 auch einen Schu­lungsfilm für alle Aufseher erarbeiten und von Karl-Eduard von Schnitzler be­sprechen. Hinter vorgehaltener Hand benannte Lustik offen das Leitmotiv des Films: »Feind bleibt Feind.«649 Doch auf der Leitungsebene der Haftanstalt Brandenburg-Görden waren die Einstellungen unterschiedlich rigoros. Die Leiter der Vollzugsabteilungen etwa hielten Ackermann gelegentlich von Übergriffen ab.650 Einer der Leiter machte den autokratischen Gefängnisleiter angeblich »häufiger darauf aufmerksam, dass einige Maßnahmen sich negativ bei der Erziehung der Strafgefangenen auswirken müssen«, wagte jedoch nicht den offenen Affront und setzte Ackermanns strengere Linie in seinem Zuständigkeitsbereich dann ebenfalls um. »Allerdings achtet er immer darauf, dass es zu keinen Ausschreitungen gegenüber den Strafgefangenen kommt«,651 was in anderen Vollzugsabteilungen offensichtlich sehr wohl noch vorkam. Mitunter fehlte auch einzelnen Aufsehern die »nötige Härte« gegenüber den Insassen. Angesichts der insgesamt strengeren Linie stachen solche Fälle in den Fünfzigerjahren besonders hervor und zogen unterschiedlich strenge Sanktionen nach sich. Mochte ein Aufseher die Häftlinge beispielsweise nicht zur korrekten Kommandosprache zwingen, wurde er aus dem Aufsichtsdienst abgelöst.652 Als sich ein Häftling bei einem Aufseher darüber beklagte, dass seine Überstunden nicht bezahlt würden und dieser daraufhin antwortete »Beruhigen Sie sich, mir geht es genauso wie Ihnen, und befördert und prämiert werden nur die, die oben kratzen können«, wurde der Aufseher durch die Parteileitung mündlich verwarnt, weil er die Regeln der Geheimhaltung verletzt hatte.653 Unverständnis erntete auch der Aufseher, der in einem Anfall von Mitgefühl die Auffassung vertrat, die Insassen seien eigentlich »doch zu bedauern, er jedenfalls könnte die Strafgefangenen nicht hart ansprechen«.654

648  Vgl. Welt der Arbeit Nr. 22 vom 27. Mai 1960, S. 1. 649  Bericht zum Treff mit IME »Erwin« vom 19.7.1985; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 2, Bl. 238–243. 650  Vgl. Bericht der Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam über die festgestellten Missstände in der StVA Brandenburg vom 26.10.1966; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1326, Bl. 12–30. 651  Werbungsvorschlag der Abteilung VII [der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit] Potsdam vom 21.10.1966; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, Bd. I, S. 36–42. 652  Vgl. [Bericht des GI] »Meier« über einige Vorkommnisse vom 11.5.1956; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 321/62, Bd. 2, Bl. 41. 653  Vgl. Kontrollbericht zur Haftanstalt Brandenburg vom 17.10.1953; BArch DO1 11/1485, Bl. 1–4. 654  Lagebericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an das Referat Vollzug der Abt. Strafvollzug der BDVP Potsdam o. D. [1959]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 89.

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Gerade einige ältere Aufseher mochten sich an den Übergriffen auf Häftlinge (siehe Kap. 3.3.8) nicht beteiligen und hielten sogar ihre jüngeren, fanatischeren Kollegen zur Mäßigung an.655 Ein Aufseher ließ sich 1950 gar von zwei Häftlingen überreden, ihre Briefe aus der Haftanstalt rauszuschmuggeln und nach Westberlin zu bringen, wodurch er in das Visier der Staatssicherheit geriet (siehe Kap. 5.4.2).656 Ein anderer Aufseher spielte aus Langeweile während der Nachtschichten Schach mit einem Kalfaktor,657 und noch ein anderer ließ sich »ein Schnitzel braten und aß dieses vor Strgf. [Strafgefangenen] auf«, weswegen er zum unbeliebten Wacheschieben eingeteilt wurde.658 Tolerierten Aufseher das Einschmuggeln von Lebensmitteln in eine Arrestzelle, wurden sie ebenfalls auf einen Wachturm versetzt.659 Wer grundsätzlich eine religiös-barmherzige Auffassung vertrat660 oder sich weigerte, auf Ausbrecher zu schießen,661 musste sogar mit Entlassung rechnen. Selbst Offiziere ließen mitunter das richtige Feindbild missen, als sie einen Teil der Insassen als »Kaninchendiebe« bezeichneten662 – offenbar gab es auch hier »Täter mit schlechtem Gewissen«.663 Hintergrund einer nachsichtigen Haltung war mitunter bloße Bequemlichkeit oder menschliches Mitgefühl, denn viele Aufseher wussten sehr wohl auch, dass sie nicht nur NS-Täter vor sich hatten, wie ihnen ihre Vorgesetzten erzählten.664 Aufgrund des täglichen Umgangs miteinander, individuellen Sympathien und der subjektiven »Schicksalsgemeinschaft« Brandenburg-Görden konnten zwischen 655  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812; Fritzsch: »Gesicht zur Wand«, S. 119. 656 Vgl. Bericht [des ehemaligen Häftlings] Walter Bihrer über das Verhalten des VP-Hauptwachtmeisters Karl Schmutzler [vermutlich Arthur Schmutzler] vom 23.8.1956; BArch B 289/SA 171/22–19/36. 657  Vgl. Auszug aus der Information der Quelle »Juwel« o. D.; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1416, Bl. 16. 658  Bericht betr. VP-Hauptwachtmeisters Liesecke, Baldur vom 7.10.1960; BStU, MfS, BV Potsdam, KS, Nr. 103/66, Bd. 2, Bl. 29–10. 659  Vgl. Ammer, Thomas: Strafvollzug in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg. In: Deutschland Archiv 35 (2002) 6, S. 1006–1008, hier 1007. 660  »In einem Fall kam bei der Rücksprache zum Ausdruck, dass eine VP-Angehörige durch ihre kirchliche Erziehung den Strafgefangenen gegenüber nicht korrekt auftreten konnte, sondern im Gegenteil noch Mitleid mit ihnen hatte, es ist schon so weit gekommen, dass sie mit den Strafgefangenen mitweinte.« Abschlussbericht der Personalabteilung der StVA Brandenburg zum Befehl 1/53 des Chefs der DVP vom 10.6.1953; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 43–45. 661  Jahresbericht der Kaderabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1960 vom 3.1.1961; ebenda, Bl. 106–108. 662  Vgl. Abteilung SV der BDVP Potsdam: Schlussfolgerungen für den Strafvollzug in Auswertung von Vorkommnissen vom 25.6.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/390, Bl. 108–114. 663  Vgl. Fritze, Lothar: Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im dik­ta­to­ rischen Sozialismus. Köln 1998, S. 61 u. 158. 664  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812.

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einzelnen Häftlingen und ihren Bewachern durchaus soziale Bindungen entstehen. So ließ sich beispielsweise in den Achtzigerjahren ein hauptamtlich angestellter Arzt in Brandenburg-Görden von zwei Häftlingen, die als Pfleger im Krankenhaus arbeiteten, bei der Anfertigung seiner Dissertation helfen. Dies widersprach ebenso wissenschaftlichen Gepflogenheiten wie dienstlichen Bestimmungen665 – und stellte je nach gewährten Vorteilen eine Begünstigung oder aber zusätz­ liche Ausbeutung der Gefangenen dar, in jedem Fall aber ein Zeichen von Vertrautheit. Auch konnten vier wegen Mordes verurteilte Kalfaktoren 1966 das Vertrauen mehrerer Aufseher gewinnen, die ihnen ungestörte Zusammenkünfte ermöglichten, illegal Zugang zur Verkaufsstelle gewährten und das Verlegen einer gesonderten Stromleitung (für eine unabhängige Lichtquelle) in ihre Zelle deckten; durch die gewährten Vorteile vermochten die Aufseher unerwünschtes Verhalten dieser Gefangenen kaum mehr zu sanktionieren.666 Der spektakulärste Fall von Gefangenenbegünstigung war freilich die gemeinsame Republikflucht eines Aufsehers und eines politischen Häftlings im Jahre 1954 (siehe Kap. 3.4.6). Meist wurde eine Solidarisierung auch durch die soziale Kontrolle unter den Aufsehern sowie drohende Disziplinarstrafen unterbunden, doch gerade Kontakte zu ehemaligen Insassen nach einer Haftentlassung ließen sich kaum verhindern. Wie das Beispiel von Ackermann und Papenfuß zeigt, waren gelegentliche Zusammenkünfte mit ehemaligen Gefangenen sogar auf der Leitungsebene üblich, während den gewöhnlichen Aufsehern im Falle des Bekanntwerdens scharfe Sanktionen drohten. Zwei in dem Brandenburg-Görden angeschlossenen Haftarbeitslager Heidekrug beschäftigte Aufseherinnen beispielsweise freundeten sich bei einer Tanzveranstaltung mit einer ehemaligen Inhaftierten an und brachten sie für etliche Tage in ihrer Wohnung unter. Sie wurden daraufhin mit zehn Tagen Arrest bestraft sowie entlassen und die Staatssicherheit sorgte wegen des angeblichen Geheimnisverrats sogar für strafrechtliche Sanktionen.667 Auch Liebesbeziehungen zwischen Aufsehern und Häftlingen ließen sich nicht vollständig verhindern. So fuhr ein Aufseher aus durchsichtigen Gründen mit seinem Fahrrad bis nach Halle, um dort eine ehemalige Inhaftierte wiederzutreffen.668 Zur Abschreckung wurde Gefangenenbegünstigung auch strafrechtlich verfolgt. So verbüßte in Brandenburg-Görden ein ehemaliger Aufseher der MfSUntersuchungshaftanstalt Halle eine siebenjährige Zuchthausstrafe, weil er politische Gefangene begünstigt hatte. Sein Vorgesetzter hatte gar ein Strafmaß von zehn 665  Vgl. Abschrift einer Information eines IKMR-K vom 10.11.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 437, Bd. 2, Bl. 10. 666  Vgl. Bericht der Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam über die festgestellten Missstände in der StVA Brandenburg vom 26.10.1966; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1326, Bl. 12–30. 667  BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 628/54. 668  Vgl. Informationsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg zum II. Quartal 1953 vom 3.7.1953; BArch DO1 11/1468, Bl. 231–259.

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Jahren erhalten, weil er sich weltanschaulich ungefestigt gezeigt hatte und eine inhaftierte Frau hatte heiraten wollen; das Urteil war zum Zwecke der Abschreckung im Beisein von 60 ehemaligen Kollegen verkündet worden.669 Auch Aufseher aus Brandenburg-Görden wurden – im Jahre 1964 – vom Bezirksgericht Potsdam zu Zuchthausstrafen von bis zu drei Jahren und einem Monat verurteilt. Sie hatten sich von Häftlingen, die in der Gefangenenküche beschäftigt waren, Lebensmittel, und von deren Familienangehörigen Geld zustecken lassen. Im Gegenzug hatten sie Briefe an der Zensur vorbeigeschmuggelt und in einem Fall sogar versucht, bei einem Außenarbeitseinsatz ein Treffen eines Haftentlassenen mit einem befreundeten, noch inhaftierten Leidensgenossen zu ermöglichen. Aus »pädagogischen« Gründen fand der Prozess im Beisein von etwa 180 ehemaligen Kollegen im Kulturhaus der Haftanstalt statt. Das Verfahren stellte das »liberale, kumpelhafte und äußerst unkorrekte Verhalten« der Aufseher an den Pranger. »Insgesamt ist festzustellen, dass die Mehrzahl unserer Volkspolizisten recht erstaunt war, dass Strafen in derartiger Höhe beantragt und ausgesprochen wurden.«670 Dabei handelte es sich nicht um Einzelfälle; ein ähnliches Strafmaß (von drei Jahren Haft) hatte im Jahre 1961 ein Aufseher in Torgau erhalten, der ebenfalls Briefe sowie Lebensmittel eingeschmuggelt hatte.671 Im Haftkrankenhaus Eisenach beschäftigte Ärzte und Pfleger hatten sogar politische Gefangene vor Spitzeln gewarnt und durch gefälschte Atteste sowie überflüssige Operationen vorzeitige Freilassungen herbeigeführt bzw. Überstellungen an die Staatssicherheit verhindert – weswegen sie 1955 Freiheitsstrafen von bis zu sieben Jahren erhielten.672 Und auch ohne weltanschauliche Sympathien wurde ein Aufseher des Haftarbeitslagers »X« der Staatssicherheit mit sechs Monaten Gefängnis bestraft, weil durch seine Unachtsamkeit zwei Gefangenen die Flucht gelungen war.673 Solche sorgsam statuierten Exempel trugen zum strengen Umgang mit den Häftlingen bei; den gemäßigteren Aufsehern wurde durch die Bestrafung der unzuverlässigen die »Notwendigkeit« einer harten Linie vor Augen geführt. Doch nicht nur aufgrund gegenseitiger Kontrolle und aus einem latenten »Befehlsnotstand« heraus behandelten die meisten Aufseher die Insassen unnachgiebig. Viele Aufseher rechtfertigten wohl die Schlechtbehandlung der Inhaftierten und die politische Strafjustiz der DDR in dem Glauben, auf diese 669 Vgl. Schlussbericht der Verwaltung Land Sachsen-Anhalt des Ministeriums für Staatssicherheit vom 5.9.1951; BStU, MfS, Gh 20/56, Bd. 1, Bl. 2–10. 670  Quartalsbericht des Stellvertr. Polit der StVA Brandenburg für das II. Quartal 1964 vom 30.6.1964; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/699, Bl. 90–95; Urteil des Kreisgerichts BrandenburgStadt vom 1.6.1964; BStU, MfS, E SKS, Nr. 9615, Bl. 102–113; Befragung [des ehemaligen Aufsehers] Helmut Siodlaczek [durch die Operativgruppe der Abteilung VII der BV Potsdam] vom 3.9.1964; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 117–119. 671  Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AU, Nr. 222/61. 672  Vgl. Weber: Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen, S. 455 f. 673  Vgl. Martin: Wärter und Vernehmer, S. 389.

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Weise einen Beitrag zu einer wahrhaft sozialistischen Gesellschaft zu leisten. Das utopische Fernziel entlastete ihr Gewissen und ließ es legitim erscheinen, die »noch unreifen« (politischen) Gefangenen zu »erziehen«.674 Im Kollegenkreis versuchten sich die Aufseher daher, an politischer Linientreue und Härte gegenüber dem Gegner gegenseitig zu übertreffen. So fand nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 keine kritische Stimme Niederschlag in den Akten. Hingegen vertrat ein Aufseher die Meinung »lieber so, wie es die chinesische Führung gemacht hat, als so, wie die Ungarn«.675 Nach der Wiedervereinigung kam es in den neuen Bundesländern nur zu einer begrenzten personellen Fluktuation. So verließen in Mecklenburg-Vorpommern 25 Prozent, in Thüringen 28,7 Prozent, in Sachsen-Anhalt 60 Prozent676 und in Ostberlin 61,8 Prozent677 der zu DDR-Zeiten beschäftigten Aufseher den Staatsdienst. Das Land Brandenburg machte zwar keine offiziellen Angaben,678 doch wurde offenbar nur 5,0 Prozent der Aufseher (bzw. 90 Mitarbeitern) gekündigt, meist wegen Spitzeltätigkeit für die Staatssicherheit und seltener wegen Gefangenenmisshandlung.679 Etliche Aufseher zogen zwar von sich aus Konsequenzen und kündigten bzw. akzeptierten Aufhebungsverträge oder wechselten in den Vorruhestand, doch viele Aufseher wurden weiterbeschäftigt und verbeamtet. Sie mussten sich zumindest Weiterbildungsmaßnahmen unterziehen, etwa sogenannter Teamschulungen in den Haftanstalten.680 Vielen fiel es jedoch schwer, sich des »militärischen Umgangstons zu entledigen«.681 Unter anderem weil ihre Sanktionsmacht eingeschränkt wurde, »bevorzugten die meisten Strafvollzugsbediensteten«, verglichen mit ihrem neuen Berufsfeld, eine Tätigkeit als Aufseher in der ehemaligen DDR.682

674  Vgl. Fritze: Täter mit gutem Gewissen, S. 61 u. 158. 675  Information des [IMS] »Liti« vom 15.6.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 118, Bd. 2, Bl. 118. 676  Vgl. Essig, Karen: Die Entwicklung des Strafvollzuges in den neuen Bundesländern. Bestandsaufnahme und Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Strafvollzugsbediensteten aus der ehemaligen DDR. Godesberg 2000, S. 160 f. 677  Vgl. Rüddenklau, Wolfgang: »Nur krank darfst Du nicht werden«. Versuch einer Lokalisierung von Erinnerungen an alte Ostberliner Knäste. In: Telegraph 7 (1995). http://www. belfalas.de/knast.htm (letzter Zugriff: 17.8.2018). 678  Vgl. Essig: Entwicklung des Strafvollzuges, S. 160 f. 679  Vgl. Knabe, Hubertus: Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur. Berlin 2007, S. 107. 680  Vgl. Faupel, Rainer: Der Neuaufbau der Justiz in Brandenburg. 500 kurze Tage auf dem langen Weg zur Einheitlichkeit. Baden-Baden 1992, S. 33 f. 681  Vgl. Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission zu Problemen des Strafvollzugs in der DDR vom 26.6.1990; Privatarchiv Johannes Drews. 682  Essig: Entwicklung des Strafvollzuges, S. 219.

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2.6 Die Haftanstalt Brandenburg-Görden 2.6.1 Die Wiederinbetriebnahme des Gefängnisses und der Wechsel der Zuständigkeit 1948/49 Im April 1945 hatten die Alliierten das nationalsozialistische Deutschland so weit besiegt, dass Truppenverbände der sowjetischen Armee sich der Haftanstalt Brandenburg-Görden näherten. Viele der Aufseher setzten sich daraufhin ab und versuchten, hinter die deutschen Linien – oder in die westlichen Besatzungsgebiete – zu gelangen. Den in zuletzt geduldeten, zuvor jedoch illegalen Strukturen operierenden Häftlingen gelang es am Mittag des 27. April 1945, die Kontrolle über die Anstalt zu übernehmen, kurz bevor russische Soldaten die Haftanstalt endgültig befreiten und von den Insassen begeistert empfangen wurden. Einige Aufseher wurden nun verhaftet, andere mit der Führung der Haftanstalt betraut.683 Bereits am Folgetag befahl der verantwortliche Kommandeur der Roten Armee die Räumung des Gefängnisses, da in dieser Gegend weitere Kampfhandlungen zu erwarten waren. So begaben sich rund 100 politische Häftlinge zu Fuß auf den Weg nach Berlin-Spandau, soweit es die Truppenbewegungen erlaubten, unter ihnen Erich Honecker und Otto Buchwitz.684 Viele ausländische Gefangene blieben jedoch ebenso auf dem Gelände wie die Schwerkranken im anstaltseigenen Krankenhaus – Ende Mai noch etwa 150 Personen, von denen einige am 10. Juli in das zivile Krankenhaus Brandenburgs überführt wurden.685 Weil die Rote Armee zunächst sämtliche Insassen befreit hatte, gleich ob sie aus politischen oder anderen Gründen inhaftiert waren, wurden einige Schwerkriminelle bald wieder verhaftet. Andere hielten sich freiwillig weiterhin auf dem Gefängnisgelände auf bzw. kehrten dorthin zurück.686 Die Provinzverwaltung Brandenburg dachte bereits an die Wie­der­in­ be­triebnahme der Haftanstalt und setzte im Mai einen gewissen Johannes Buchholz als Leiter ein. Wegen angeblicher Nähe zur NSDAP (oder auf­ 683  Vgl. Kreiler, Kurt (Hg.): Sie machen uns langsam tot. Zeugnisse politischer Gefangener in Deutschland 1780–1980. Darmstadt 1983, S. 187–197. 684  Vgl. Wald, Ed[uard]: Die Tätigkeit der politischen Gefangenen des Zuchthauses Brandenburg-Görden und ihre Befreiung (im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der ehem. pol. Gefangenen des Zuchthauses Brandenburg) von Juni/Juli 1945, 24 S.; BArch BA DY 30/IV 2/10.02 62. 685  Vgl. Hammer, Walter: Im vorurteilsfreien Dienst der Gerechtigkeit [Bericht über Brandenburg-Görden] vom 8.12.1945; IfZ, ED 106, Bd. 1. o. Pag.; Keune, Wilhelm: Im Zuchthaus Brandenburg o. D.; IfZ, MA 1561/1N, o. Pag.; Das Zuchthaus. Eine Ausstellung über das faschistische Zuchthaus Brandenburg. Berlin 1990, S. 102. 686  Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 75; DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Hg. von Rüter, Christiaan F., Bd. 12: Die Verfahren Nr. 1693–1779 der Jahre 1947 und 1948. Amsterdam 2008, S. 399–402.

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grund entsprechender Denunziation) wurde er aber bereits im November ab­ ge­löst; der leere Teil der Haftanstalt wurde jetzt durch den Wirt­schafts­in­ spek­tor Püschl verwaltet.687 Einen anderen Teil des Gefängnisses nutz­te die sow­jetische Besatzungsmacht zur Internierung von Kollaborateuren, ins­be­son­ dere Mitgliedern der sogenannten Wlassow-Armee (siehe Kap. 4.1.1). Sie wur­ den nun im sogenannten Repatriierungslager Nr. 226 auf dem Gelände von Brandenburg-Görden untergebracht, mit einer Kapazität für 500 Insassen das größte Lager dieser Art in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ).688 Als Chef des Lagers 226 fungierte zuletzt ein Oberstleutnant Iwanow. Im Zu­ge der Verlegung, Entlassung und Repatriierung der Insassen leerte sich die Haftanstalt nach und nach, sodass die sowjetische Besatzungsmacht am 27. Januar 1948 einen Teil der Haftanstalt Brandenburg-Görden an die Ab­tei­lung Polizei des brandenburgischen Innenministeriums übergeben konnte. Den ent­sprechenden Vertrag unterzeichnete russischerseits der Stabschef des La­gers, Oberst W. F. Trunin, deutscherseits der Chef der brandenburgischen Lan­despolizei, Ministerialdirektor Richard Staimer.689 Die Besatzungsmacht be­hielt jedoch Haus 3 und 4 sowie das Krankenhaus vorerst in eigener Regie (was etwa 25 Prozent der Gesamtkapazität entsprach), um dort ihre verbliebenen Ge­fangenen unterzubringen. Die deutsche Polizei übernahm hingegen die Ver­wahr­häuser 1 und 2, das Verwaltungs- und das Wirtschaftsgebäude, die Ar­beitshallen, die Werkstätten und die Garagen. Die Grenze zwischen den Kom­plexen bildete das quer über das Gelände führende Bahngleis, das mit ei­nem Metallzaun gesichert wurde. Diese Grundstücksgrenze musste die Deut­sche Volkspolizei zusätzlich mit einem drei Meter hohen Holzzaun sichern, weil die Besatzungsmacht sonst die zeitgleiche Nutzung der Gebäude nicht ge­stat­tet hätte. Die beiden übergebenen Verwahrhäuser verfügten über je 150 Einzelzellen, 180 Doppelzellen und 18 Gemeinschaftszellen für jeweils sieben bis acht Häftlinge, insgesamt also Platz für rund 1 300 Personen.690 Die Deutsche Volkspolizei befand allerdings, allein in dem ihr übergebenen Teil des Gefängnisses dürften sich »bis zu 3 000 Häftlinge unterbringen lassen«. Eine solch drastische Überbelegung wurde von vornherein einkalkuliert, weil dies geringere Personalkosten verursachte, großer Mangel an Haftraum herrschte und die Interessen der Gefangenen nicht 687  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 39. 688  Vgl. Jeske, Natalja: Die Repressionspraxis der sowjetischen Besatzungsmacht in BerlinBrandenburg 1945–1949. In: Morsch, Günter; Pasquale, Sylvia de (Hg.): Perspektiven für die Dokumentationsstelle Brandenburg. Beiträge der Tagung in der Justizschule der Justizvollzugsanstalt Brandenburg am 29./30. Oktober 2002 (Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenk­ stätten, 2). Münster 2004, S. 155–192, hier 159–167. 689  Vgl. Vertrag zwischen dem Kommandanten des Lagers 226 und dem Ministerium des Innern des Landes Brandenburg vom Februar 1948; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 4. 690  Vgl. Schreiben der Abt. Polizei des Ministers des Innern der Landesregierung Brandenburg an die DVdI vom 23.4.1948; ebenda, Bl. 20–22.

Die Haftanstalt Brandenburg-Görden

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zählten. Die Ausstattung der Gebäude war seinerzeit kaum der Rede wert, weil sie nach Kriegsende geplündert worden waren und auch die Besatzungsmacht vor der Übergabe noch Teile des Inventars demontiert hatte.691 Nur die Klappbetten, die mit dem Gemäuer fest verbunden waren und sich nicht hatten entwenden lassen, standen noch zur Verfügung; selbst die Zellentüren waren meist ausgehängt und anderenorts eingesetzt worden.692 Da die Wasserversorgung aber noch funktionierte und es hier und da noch Stahlmatratzen gab, entsprachen die Zellen nach Auffassung der Deutschen Volkspolizei »in Bezug auf Hygiene den Erfordernissen«.693 Die Ansprüche, denen eine Haftanstalt aus Sicht der Deut­ schen Volkspolizei zu genügen hatte, waren offenkundig nicht besonders hoch, was mit ihrem repressiven Strafvollzugskonzept wie auch den Zeitumständen zusammenhing (siehe Kap. 3.2.2). Bereits Anfang 1948 war die Zweckbestimmung klar: Brandenburg-Görden sollte die nach Befehl 201 der SMAD Verurteilten aufnehmen (siehe Kap. 4.1.4). Unklar war noch, ob nach Abschluss der Wiederinstandsetzung nur die Verurteilten aus dem Land Brandenburg oder aus der gesamten Sowjetischen Besatzungszone nach Brandenburg-Görden verlegt werden sollten. Schon im Dezember 1946 hatte die deutsche Zentralverwaltung für Justiz bei der sowjetischen Besatzungsmacht in Karlshorst beantragt, NS-Täter von anderen Gefangenen zu trennen und hierfür die Haftanstalt Brandenburg-Görden zu nutzen. Im Sommer 1947 hatte der Vortragende Rat der ostdeutschen Justizverwaltung, Harald Poelchau, die Sowjetische Militäradministration erneut um Räumung des Gefängnisses ersucht, »weil diese Anstalt der Sicherheit wegen sehr gut geeignet wäre«.694 Aufgrund der baulichen Gegebenheiten und der hohen Zahl von Einzelzellen ließ sich diese politisch wichtige Tätergruppe hier besonders sicher verwahren. Auch die Rolle der Haftanstalt während der nationalsozialistischen Diktatur schien es nahezulegen, an diesem Ort nun die echten (oder vermeintlichen) NS-Täter büßen zu lassen. Und die allgemeine Überfüllung der Haftanstalten erforderte ohnehin, neuen Haftraum zu requirieren. Die Sowjetische Militäradministration vereinbarte daher im Februar 1948 mit der Volkspolizei des Landes Brandenburg, dass in Brandenburg-Görden die nach Befehl 201 zu mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe Verurteilten untergebracht werden sollten.695

691  Aktennotiz für Ministerial-Direktor Staimer betr. Zuchthaus in Görden bei Brandenburg vom 27.2.1948; ebenda, Bl. 7 f. 692  Vgl. BArch DO1 11/1589. 693  Aktennotiz für Ministerial-Direktor Staimer betr. Zuchthaus in Görden bei Brandenburg vom 27.2.1948; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 7 f. 694  Protokoll der Konferenz vom 29.8.1947; BArch DP 1–19, Bl. 1–43. 695  Vgl. Fernschreiben der DVdI an den Chef der Landespolizeibehörde Brandenburg vom 3.4.1948; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 16.

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Der Strafvollzug

Abb. 5: Lageplan von Brandenburg-Görden, 1948

Am 26. April 1948 wurden die ersten 30 Häftlinge nach Brandenburg-Görden verlegt, um dort unter Aufsicht die Gebäude instand zu setzen.696 In Ermangelung von Inventar und Mobiliar war dann mit 40 Insassen auch schon die maximale

696  Vgl. Schreiben der Abt. Polizei des Ministers des Innern der Landesregierung Brandenburg an die DVdI vom 23.4.1948; ebenda, Bl. 20–22.

Die Haftanstalt Brandenburg-Görden

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Kapazität erreicht.697 Die neue Gefängnisleitung ließ in Erwartung steigender Häftlingszahlen dennoch gleich 250 Strohsäcke und 250 Kopfpolster beschaffen. Der Präsident der Deutschen Verwaltung des Innern, Erich Reschke, wollte die Haftanstalt jetzt nur mit jenen Häftlingen belegen, die eine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren verbüßten und deshalb am häufigsten zu fliehen versuchten.698 Zu diesem Zeitpunkt war allerdings immer noch unklar, ob Brandenburg-Görden nicht sogar alle in der Sowjetischen Besatzungszone nach Befehl 201 Verurteilten aufnehmen sollte.699 Weil aber die Besatzungsmacht das Anstaltsgelände noch mitnutzte, entschied Reschke zunächst, Brandenburg-Görden nur für das Land Brandenburg zu nutzen.700 Bereits im April signalisierte die Besatzungsmacht jedoch ihre Bereitschaft, auch die restlichen Gebäude zu übergeben, was wenig später tatsächlich erfolgte. Zugleich behielt sich die sowjetische Seite jedoch vor, die Gebäude bei Bedarf wieder zurückzufordern.701 Zuständig für Ermittlungen nach Befehl 201 waren die Dezernate 5 der Kriminalpolizei (K 5). Bis in die Ermittlungstätigkeit hinein wurde das Vorgehen der K 5 in dieser Zeit maßgeblich durch die sowjetischen Instrukteure bestimmt, wie auch viele Häftlinge an die sowjetischen Untersuchungsorgane überstellt wurden.702 Der Potsdamer Leiter der K 5, Otto Reimann, berichtete täglich offiziell den sowjetischen Behörden, die außerdem offenbar inoffizielle Kanäle innerhalb dieses Zweiges der Kriminalpolizei besaßen. Die K 5 war in Brandenburg mit rund 200 Mitarbeitern im Jahre 1948703 im Vergleich zu den anderen Ländern personell und materiell am schwächsten,704 zeichnete sich aber durch eine besonders rücksichtslose Verhaftungspraxis aus.705 So vertrat sogar ein Mitglied der SED-Kreisleitung in Potsdam die Meinung, der Befehl schaffe neues Denunziantentum und neue Verbrechen gegen die Menschlichkeit.706 697  Vgl. Bericht des Dezernats K 5/201 der Abt. Polizei des Landeskriminalamtes Brandenburg über die Durchführung des Befehl 201 vom 27.4.1948; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, Bl. 56–61. 698  Vgl. Fernschreiben von Reschke vom 17.4.1948; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 18. 699  Vgl. Schreiben der Abt. Polizei des Ministers des Innern der Landesregierung Brandenburg an die DVdI vom 23.4.1948; ebenda, Bl. 20–22. 700  Vgl. Fernschreiben von Reschke vom 17.4.1948; ebenda, Bl. 18. Der Verwaltungsteil des Anstaltskomplexes wurde seinerzeit auch für eine Polizeischule der brandenburgischen Schutzpolizei genutzt. 701  Vgl. Aktenvermerk betr. Zuchthaus Görden vom 3.4.1948; ebenda, Bl. 14. 702  Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 51–72, hier 54. 703  Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 130 f. 704  Vgl. Tantzscher, Monika: Die Vorläufer des Staatssicherheitsdienstes in der Polizei der Sowjetischen Besatzungszone. Ursprung und Entwicklung der K 5. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (1998), S. 125–156, hier 151. 705  Vgl. Meyer-Seitz, Christian: Die Verfolgung von NS-Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone. Berlin 1998, S. 241. 706  Dies musste Erich Mielke, seinerzeit Vizepräsident der deutschen Innenverwaltung, mit Bestürzung feststellen, als er die Umsetzung des Befehls 201 im Oktober 1947 vor Ort kontrollierte.

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Der Strafvollzug

Vor einem Urteilsspruch saßen Untersuchungshäftlinge seinerzeit meist in den Gerichtsgefängnissen der Justiz ein – es sei denn, es wurde nach Befehl 201 (bzw. Kontrollratsdirektive 38) gegen sie ermittelt. In diesem Fall wurden sie schon während des Untersuchungsverfahrens in Polizeigefängnissen inhaftiert, wie es die Sowjetische Militäradministration angewiesen hatte.707 Diese Einrichtungen zählten zum Dienstzweig Schutzpolizei und unterstanden den örtlichen Volkspolizeikreisämtern und fungierten als Untersuchungshaftanstalten. Da die Justizhaftanstalten in jener Zeit völlig überbelegt waren, wurden hier aber auch Freiheitsstrafen von bis zu zwölfmonatiger Dauer vollzogen.708 Weiterer Haftraum für diese Polizeigefängnisse sollte nach dem Willen Mielkes aus der Übergabe von Justizhaftanstalten, dem Aufbau zerstörter Gebäude und der Übertragung von Gefängnissen, die noch die Besatzungsmacht nutzte, resultieren.709 Da Ermittlungen gegen und Verwahrung von Straftätern nach Befehl 201 in ein und denselben Händen (nämlich derer der Volkspolizei) lag, wurde gleichsam die »Praxis der Nationalsozialisten, Strafverfolgung und Strafvollstreckung für eine bestimmte Deliktskategorie unter Polizeikompetenz zusammenzufassen, wiedereingeführt«.710 Die Volkspolizei unterhielt ferner Haftarbeitslager (in

Vgl. Bericht Erich Mielkes über den Stand der Durchführung des Befehls 201 vom 31.10.1947; BArch DY 30/IV 2/13/4, Bl. 67–87. 707  Da die Polizeihaftanstalten jedoch ebenso überfüllt waren wie die Untersuchungs­ haftanstalten der Justiz, war die ausschließliche Unterbringung in Polizeihaftanstalten im Sommer 1947 noch nicht überall gang und gäbe. Vgl. Protokoll der Konferenz vom 29.8.1947; BArch DP 1–19, Bl. 1–43. 708  So saßen in den Haftanstalten und Gewahrsamen der Volkspolizei im Land Brandenburg Ende 1951 insgesamt 239 Personen ein, davon 121 wegen Befehl 201, 73 wegen Delikten des Strafgesetzbuchs und 45 aus sonstigen Gründen. Für 176 Personen hatte die Staatsanwaltschaft den Haftbefehl ausgestellt und 37 Häftlinge waren auf Anweisung der Staatssicherheit (meist in Potsdam) inhaftiert, weil deren Untersuchungshaftanstalt in der Lindenstraße völlig überfüllt war. 21 Personen waren für die Kriminalpolizei und vier für die sowjetischen Dienste inhaftiert, sowie einer offenbar auf Anordnung des Pass- und Meldewesens. Für 226 Insassen lag ein Haftbefehl vor, für 13 jedoch nicht. Die Dauer der Inhaftierung lag für 117 Insassen unter vier Wochen, für 85 unter drei und für 37 über drei Monaten. Vgl. BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/172, Bl. 156–159. In Sachsen beispielsweise waren die Häftlinge in den Polizeihaftanstalten im Jahre 1946 zu einem Drittel wegen krimineller Delikte, zu einem Drittel aufgrund von Anordnungen der Besatzungsmacht und zu einem weiteren Drittel wegen anderer Delikte verurteilt worden. Dies betraf wohl insbesondere Arbeitsunwillige und Prostituierte. Vgl. Herz, Andrea; Fiege, Wolfgang: Haft und politische Polizei in Thüringen 1945–1952. Zur Vorgeschichte der MfS-Haftanstalt Erfurt-Andreasstraße. Erfurt 2002, S. 107 u. 225. Siehe auch Mehner: Entwicklung des Straf- und Untersuchungshaftvollzugs, S. 91–98, hier 97; Schönefeld: Struktur des Strafvollzuges, S. 808–815. 709  Protokoll der Tagung über den Befehl 201 mit den stellv. Innenministern und den Leitern der Landesuntersuchungsorgane o. D. [12/1947]; BArch DY 30/IV 2/13/4, Bl. 254. 710  Müller, Hans-Peter: »Parteiministerien« als Modell zuverlässiger Verwaltungsapparate. In: Wilke, Manfred (Hg.): Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht. Berlin 1998, S. 337–411, hier 375–377.

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Sachsen und Thüringen), in die bis 1948 »Arbeitsscheue« und (vermeintliche) Prostituierte nach Schnellverfahren gesperrt wurden.711 Zur Unterbringung der nach Befehl 201 Verurteilten sollten zur Sühne Sonderstrafarbeitslager mit erschwerten Haftbedingungen eingerichtet werden. Die Konferenz der Innenminister der ostdeutschen Länder beauftragte daher im November 1947 die Volkspolizei, in »Bergwerken, Mooren [und] Steinbrüchen« entsprechende Arbeitslager zu errichten.712 Die Gefangenen sollten hier zu den härtesten Tätigkeiten gezwungen werden: »Steinbrucharbeit, Flussregulierung, Moorarbeiten, Arbeit in Zement- und Kalkfabriken, Aufforstungen, Arbeit im Bergtagebau«. Dabei sollte Brandenburg-Görden als »Stammanstalt« dienen, in der alle nach Befehl 201-Verurteilten erfasst werden und jene mit besonders hohen Strafmaßen auch leibhaftig einsitzen sollten. Auf die Sonderstrafarbeitslager in den verschiedenen Ländern sollten dann jene verteilt werden, die maximal fünf Jahre abzusitzen oder, bei höheren Strafen, bereits ein Drittel der Gesamtstrafe verbüßt hatten.713 Sonderhaftbedingungen herrschten auch bereits im Haftarbeitslager Rüdersdorf. Hierhin wurden nach Befehl 201 verurteilte Häftlinge ab Februar 1948 vorübergehend eingewiesen, als Brandenburg-Görden noch nicht zur Verfügung stand. Es handelte sich um ein ehemaliges Umsiedlerlager, das auf Beschluss der Konferenz der ostdeutschen Länder vom November 1947 von der Polizei des Landes Brandenburg übernommen und als Sonderstrafarbeitslager eingerichtet wurde.714 Seit dem 14. Januar 1948 waren die Gebäude mithilfe der Arbeit von Untersuchungsgefangenen wiederinstandgesetzt worden, und am 10. Februar 1948 wurden die ersten Verurteilten überführt.715 Binnen eines Monats wurden nun 139 nach Befehl 201 rechtskräftig verurteilte Häftlinge nach Rüdersdorf verlegt. Dem ersten Leiter dieser Haftanstalt, PolizeiOberkommissar Rudolf Schulz, waren 37 Aufseher unterstellt, die im April 1948 bereits über 205 Gefangene wachten.716 Am Jahresende handelte es sich

711  Vgl. Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten«, S. 158–165; Spors, Joachim: Der Aufbau des Sicherheitsapparates in Sachsen 1945–1949. Die Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit unter den Bedingungen eines politischen Systemwechsels. Frankfurt/M. 2003, S. 248–256. 712  Protokoll der Innenministerkonferenz am 29./30.11.1947; BArch IV 2/13/109, Bl. 84 u. 88–93; abgedruckt in: Rößler, Ruth-Kristin (Hg.): Die Entnazifizierungspolitik der KPD/SED 1945–1948. Goldbach 1994, S. 212–217. 713  Strukturplan für die Errichtung und den Betrieb von Häftlingslagern gemäß Befehl 201 vom 11.3.1948; BArch FBS 363/15310, NY 4182, Bd. I, Bl. 228 f. 714  Protokoll der Innenministerkonferenz am 29./30.11.1947; BArch IV 2/13/109, Bl. 84 u. 88–93; abgedruckt in: Rößler (Hg.): Die Entnazifizierungspolitik der KPD/SED, S. 212–217. 715  Vgl. Schreiben der Abteilung Polizei des Ministeriums des Innern der Landesregierung Brandenburg vom 16.1.1948; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/319, Bl. 81. 716  Vgl. Bericht des Lagers 201 Rüdersdorf bei Berlin vom 3.4.1948; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, Bl. 182 f.

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Der Strafvollzug

um etwa 240 Häftlinge, darunter rund zehn Prozent Frauen.717 Letzteres machte eine anderweitige Unterbringung bzw. eine Verlegung nach Brandenburg-Görden immer dringlicher. Am 23. Mai 1948 konnte daher die Deutsche Verwaltung des Innern dem Chef der brandenburgischen Landespolizei, Richard Staimer, mitteilen, dass die Abteilung Inneres der Sowjetischen Militäradministration die Haftanstalt Brandenburg-Görden auf zentraler Ebene der Deutschen Verwaltung des Innern zugewiesen habe.718 Die Polizei des Landes Brandenburg, die seit knapp einem Monat die Haftanstalt an der Havel in eigener Regie instand setzen ließ, war somit ausgebootet. Sie ließ daraufhin umgehend alle Ausbesserungsarbeiten einstellen,719 was vermutlich den Abzug der Häftlinge beinhaltete. Strittig blieb die genaue Verteilung der Zuständigkeiten auch zwischen Justiz und Volkspolizei. Die Rechtsabteilung der Sowjetischen Militäradministration bestätigte zunächst am 7. Juni 1948 die bisherige Regelung und setzte sich damit ausdrücklich über den Einwand der ostdeutschen Justizverwaltung hinweg, die Zuständigkeit der Polizei erscheine im Westen in schlechtem Licht.720 Die Besatzungsmacht revidierte jedoch »aus bisher nicht bekannten Gründen«721 im Laufe der nächsten vier Monate ihre Entscheidung über das Unterstellungsverhältnis von Brandenburg-Görden. Möglicherweise wollte Karlshorst dem Kompetenzgerangel innerhalb der Volkspolizei ein Ende bereiten oder erkannte jetzt doch die Problematik eines gesonderten politischen Strafvollzugs in den Händen der Volkspolizei. Sicher spielte auch eine Rolle, dass Max Fechner seine Berufung als Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz im Oktober 1948 davon abhängig machte, ob ihm der Strafvollzug weiterhin unterstehe.722 Die Haftanstalt Brandenburg-Görden wurde nun jedenfalls an die Justiz übergeben, der seinerzeit die meisten Gefängnisse in Ostdeutschland unterstanden. »Die Strafanstalt Brandenburg-Görden ist am 27. September 1948«, wie die brandenburgische Justizverwaltung später notierte, »auf Weisung der SMA – Rechtsabteilung – von der Abt. Polizei der Landesregierung übernommen worden.«723 Die Abteilung Polizei des brandenburgischen Innenministeriums, vertreten durch einen Polizeirat Schwerke, übergab an diesem Tag das Gefängnis 717  Ergebnisprotokoll einer Besprechung in der Deutschen Justizverwaltung vom 2.11.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 4–6. 718  Fernschreiben von Wagner an Staimer vom 25.5.1948; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 33. 719  Schreiben vom 22.7.1948; ebenda, Bl. 36. 720  Vermerk über eine Unterredung mit Jakupow vom 7.6.1948; BArch DP 1–11, Bl. 141; zit. nach: Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 370. 721  Ebenda. Siehe auch Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 108. 722  Vgl. Vermerk der Hauptabteilung X über die Besprechung im Justizministerium zwecks Erteilung einer Ermächtigung zum Besuch bestimmter Strafanstalten vom 20.12.1949; BArch DO1 11/1586, Bl. 21. 723  Schreiben des Ministers der Justiz der Landesregierung Brandenburg an den Chef der Deutschen Justizverwaltung vom 18.10.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 1.

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an die Justizbehörden des Landes Brandenburg, vertreten durch Staatsanwalt Sawade vom Strafvollzugsamt des brandenburgischen Justizministeriums. Eine Ausnahme bildeten dabei die angrenzenden Wohnhäuser für die Aufseher, die bei der Polizei verblieben.724 Die Verwaltung des geräumten Gefängnisses übernahm zunächst »nebenbei« der Leiter des nahegelegenen Jugendgefängnisses Brandenburg-Plauerhof, Inspektor Eggers.725 Für die Bewachung des leeren Gebäudes wurden drei Aufseher abgestellt, Gefangene aber zunächst nicht eingeliefert, da ein Einstellungsstopp seinerzeit die Rekrutierung des notwendigen Wachpersonals verhinderte. Werner Gentz, Leiter der Strafvollzugsabteilung in der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz, bestätigte dann am 29. September 1948, dass die Anstalt für die nach Befehl 201 Verurteilten reserviert sei und keine anderweitigen Schritte unternommen werden sollten.726 Am 27. Oktober 1948 bekräftigten die sowjetischen Behörden, dass künftig alle nach Befehl 201 Verurteilten zentral in Brandenburg-Görden untergebracht werden sollten. Die Kapazität der Haftanstalt reichte hierfür gerade aus, denn Ende 1948 gab es in der östlichen Besatzungszone etwa 2 080 nach Befehl 201 verurteilte Personen.727 Die zehn Prozent Frauen unter ihnen, so wurde vorausgedacht, sollten in Haus 4 untergebracht werden, da es über eine gesonderte Umfassungsmauer verfügte.728 Aufgrund ihrer wachsenden Bedeutung wurde Brandenburg-Görden dann im Februar 1949 von der brandenburgischen Justizverwaltung an die zentrale Deutsche Justizverwaltung übergeben.729 Im April 1949 wechselte konsequenterweise auch die Zuständigkeit für das Haftarbeitslager Rüdersdorf von der Polizei zur Justiz.730 Diese Neuordnung wurde später rückwirkend für das ganze Land Brandenburg förmlich geregelt; in Rüdersdorf blieben zunächst jene, gegen die bis einschließlich Mai 1949 ein Urteilsspruch nach Befehl 201 ergangen war, während die später Verurteilten in die Haftanstalt an der Havel gelangten. Für die nach Befehl 201 verurteilten Frauen hatte man unterdessen eine andere Lösung ersonnen; sie wurden nach Luckau eingewiesen.731 Wohl erst die konzentrierte Unterbringung in der festen 724  Übergabeverhandlung der Polizeidirektion Brandenburg vom 27.9.1948; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 40. 725  Eggers stieg noch zum Leiter des Strafvollzugsamtes der Justiz in Brandenburg auf, wurde aber im Herbst 1949 wegen Gefangenenentweichungen abgelöst. Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 141. 726  Vgl. Schreiben des Ministers der Justiz der Landesregierung Brandenburg an den Chef der Deutschen Justizverwaltung vom 18.10.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 1. 727  Abschrift eines Vermerks vom 27.10.1948; ebenda, Bl. 2. 728  Vgl. Ergebnisprotokoll der Besprechung der Justizverwaltung beim Chef der Rechtsabteilung der SMAD Professor Karasseff vom 16.11.1948; ebenda, Bl. 9–15. 729  Deutsche Justizverwaltung: [Belegung des] Strafvollzug[s] vom 13.7.1949; BArch DP 1–46. 730  Vgl. BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133. 731  Vgl. Runderlass Nr. 159/49 des Ministers der Justiz vom 8.6.1949; zit. nach: Bericht der Landeskriminalpolizeiabteilung Brandenburg über die Durchführung des Befehls 201 vom 1.8.1949;

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Der Strafvollzug

Haftanstalt Brandenburg-Görden ermöglichte es Fechner im Sommer 1949, den Außenarbeitseinsatz von nach Befehl 201-Verurteilten generell zu untersagen,732 was dieser politisch bedeutsamen Häftlingsgruppe jede Fluchtmöglichkeit nehmen sollte. Strittig war seinerzeit noch, ob das Land Brandenburg Häftlinge anderer Deliktgruppen in andere ostdeutsche Länder würde verlegen dürfen, nachdem es nun alle nach Befehl 201 Verurteilten übernehmen musste. Einen solchen »Lastenausgleich« stellte die Justiz für den Fall in Aussicht, dass BrandenburgGörden auch noch die in Ostberlin nach Befehl 201 Verurteilten übernehmen sollte.733 Als Leiter Brandenburg-Gördens war Regierungsrat Walter Bullerjahn vorgesehen, dem seinerzeit die Haftanstalt Gräfentonna unterstand. Seine Berufung nach Brandenburg wäre ein symbolischer Akt gewesen, denn er war zu Weimarer Zeit, aufgrund von falschen Zeugenaussagen, zu 15 Jahren Haft verurteilt worden.734 Als sich später seine Unschuld herausstellte, war er im alten, innerstädtischen Zuchthaus Brandenburg inhaftiert. Bullerjahn erklärte sich zur Übernahme des Postens bereit, doch erlaubte sein schlechter Gesundheitszustand dies nicht; er starb im August 1949.735 Zur Bewachung sollten zunächst 60 Aufseher, später, bei einer Belegung mit 2 000 Häftlingen, 200 Aufseher eingesetzt werden. Im Herbst 1948 wurde zunächst das Haus 2 der Haftanstalt Brandenburg-Görden wieder belegt. Hier wurden bis Jahresende zunächst 150 Gefangene untergebracht, die die anderen Gebäude instand setzen sollten.736 Die Besatzungsmacht drängte zudem Anfang 1949 auf Eile. In einem ersten Bauabschnitt sollten daher im Frühjahr 1949 119 Justizangestellte 800 Gefangene beaufsichtigen, während man für das Jahresende bereits mit 296 Aufsehern und etwa 2 000 Insassen rechnete.737 Im Juni lag die Kapazität aber noch bei 345 Personen, und tatsächlich saßen lediglich 300 Männer hier ein, die vorwiegend im Vormonat eingeliefert worden waren. Zwar verzeichnete

BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, Bl. 102–104. Das Haftlager Rüdersdorf ging dann zum 1.1.1951 wiederum von der Justiz an die Volkspolizei über. 732  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 82. 733  Ergebnisprotokoll einer Besprechung in der Deutschen Justizverwaltung vom 2.11.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 4–6. 734  Vgl. Lehmann, Lutz: Legal & opportun. Politische Justiz in der Bundesrepublik. Ostberlin 1966, S. 275–277. Siehe auch Krach, Tillmann: Rechtsanwälte in Preußen. Über die Bedeutung der freien Advokatur und ihre Zerstörung durch den Nationalsozialismus. München 1991, S. 94 f. 735  Vgl. Schreiben der Deutschen Justizverwaltung der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland an Fr. Bullerjahn vom 31.8.1949, 2 Bl.; IfZ, ED 106 Bd. 82, o. Pag. 736  Ergebnisprotokoll einer Besprechung in der Deutschen Justizverwaltung vom 2.11.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 4–6; Ergebnisprotokoll der Besprechung der Justizverwaltung beim Chef der Rechtsabteilung der SMAD Professor Karasseff vom 16.11.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 9–15. 737  Vgl. Stellen- und Strukturplan der Deutschen Justizverwaltung der im Wiederaufbau begriffenen Strafanstalt Brandenburg Görden o. D.; BArch DO1 11/1581, Bl. 5 f.

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die Deutsche Justizverwaltung »gute Fortschritte« bei der Instandsetzung,738 doch war beispielsweise das Haus 3 lange Zeit nicht beziehbar, weil fast alle Türen fehlten.739 Leiter der Haftanstalt wurde im Mai 1949 Oberregierungsrat Paul Locherer, der in der NS-Zeit selbst in politischer Haft gesessen hatte.740 Zuletzt war er als Leiter der Justizhaftanstalt Zwickau und im Ausschuss für Strafvollzugsfragen des sächsischen Landtags (siehe Kap. 2.4) tätig gewesen. Locherer war Mitglied der SED und galt als »ausgesprochener Edelkommunist«,741 initiierte in Brandenburg-Görden eine Gefangenenselbstverwaltung und führte ein für damalige Verhältnisse ausgesprochen liberales Regime (siehe Kap. 3.2.2). 2.6.2 Die Auflösung der Speziallager und die Konflikte zwischen Justiz und Volkspolizei um Brandenburg-Görden 1950 Nach »intensivem internem Vorlauf« bat die SED-Führung am 19. September 1949 Josef Stalin schriftlich darum, die letzten sowjetischen Speziallager auf deutschem Boden zu schließen, die verurteilten Häftlinge in die Sowjetunion zu transportieren und die übrigen Insassen den ostdeutschen Behörden zu übergeben.742 Das Politbüro des Zentralkomitees der sowjetischen kommunistischen Partei war hierzu grundsätzlich bereit, wie bereits am 28. September mitgeteilt wurde.743 Die ostdeutschen Behörden mussten nun umfangreiche Entlassungsaktionen der mehrheitlich von Sowjetischen Militärtribunalen verurteilten Gefangenen durchführen und die verbleibenden etwa 14 000 Personen aus den letzten drei Speziallagern Buchenwald, Bautzen und Sachsenhausen in eigene Haft­ anstalten übernehmen.744 Für die zentrale Lenkung dieser Aktion wurde nun eine gesonderte Struktureinheit in der Hauptverwaltung der Deutschen Volks­ polizei geschaffen, zunächst als Hauptabteilung X bezeichnet und alsbald in 738  Deutsche Justizverwaltung: [Belegung des] Strafvollzug[s] vom 13.7.1949; BArch DP 1–46. 739  Vgl. BArch DO1 11/1479. 740  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 48. 741  [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings über das] Zonenzuchthaus BrandenburgGörden, Anton-Saefkow-Allee 22 vom 8.12.1950; BArch B 137/1809. 742  Vgl. Brief an Stalin vom 19. September 1949; BArch NL 36/695, Bl. 117–121; abgedruckt in: Badstübner, Rolf; Loth, Wilfried (Hg.): Wilhelm Pieck – Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945–1953. Berlin 1994, S. 294–297. 743  Vgl. Foitzik: Sowjetische Militäradministration 1945–1949, S. 174. Förmlich bestätigt wurde die Auflösung der letzten Lager durch einen Beschluss des Politbüros der Kommunistischen Partei der Sowjetunion vom 30.12.1949, auszugsweise abgedruckt bei: Das sowjetische Speziallager Nr. 2, 1945–1990. Gedenkstätte Buchenwald, Katalog zur Dauerausstellung. Hg. von Ritscher, Bodo u. a. Göttingen 1999, S. 172. 744  Vertraulicher Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei an den Staatssekretär im Ministerium des Innern Hans Warnke vom 1.10.1951; abgedruckt in: Deutschland Archiv 29 (1996) 1, S. 26–33.

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Hauptabteilung Haftsachen umbenannt. Da eigener Haftraum kaum zur Verfügung stand, wurde zunächst erwogen, dass auch die sowjetischen Speziallager Buchenwald und Sachsenhausen, einschließlich der Insassen, durch die Deutsche Volkspolizei übernommen und weiterbetrieben werden sollten. Der Staatssekretär im Innenministerium, Hans Warnke, erkannte jedoch die politische Brisanz dieser Lösung und lehnte sie Mitte Dezember endgültig ab. So musste die Hauptabteilung Haftsachen sich entsprechende Verwahrkapazitäten auf Kosten der Justiz beschaffen, weil allein diese über größere Haftanstalten verfügte. Welche Gefängnisse im Einzelnen übergeben werden sollten, wurde nun zum Gegenstand heftiger Kontroversen zwischen Innen- und Justizressort.745 Letzteres weigerte sich, wegen der Begehrlichkeiten der Volkspolizei sein »gesamtes Strafvollzugswesen über den Haufen [zu] werfen«.746 Mit Rückendeckung der Besatzungsmacht konnte die Volkspolizei jedoch wunschgemäß die Haftanstalten Torgau, Luckau, Hoheneck, Waldheim und Untermaßfeld von der Justiz übernehmen. Im Januar und Februar 1950 wurden dann die Insassen aus den sowjetischen Lagern hierhin überführt;747 in Anlehnung an deren Herkunft wurden diese Gefängnisse fortan auch als Spezial- oder Sonderhaftanstalten bezeichnet. Die Justiz musste die bislang in den genannten Gefängnissen Inhaftierten in andere Haftanstalten übernehmen. Um der zwangsläufigen Überbelegung die Spitze zu nehmen, wurden alle Häftlinge mit einer Freiheitsstrafe von weniger als zwei Jahren und einem Strafrest von nicht mehr als fünf Monaten auf freien Fuß gesetzt.748 Die Justiz sah sich angesichts der sowjetischen Präferenz für die Polizeiverwaltung um Kompetenzen und Ansehen betrogen. Schließlich hatte Justizminister Fechner, wie erwähnt, seine Berufung davon abhängig gemacht, ob ihm der Strafvollzug weiterhin unterstellt bleibe.749 Aus Sicht der Besatzungsmacht hatte die Justizverwaltung die Entnazifizierung jedoch nicht mit dem nötigen Nachdruck betrieben,750 was teilweise zutraf. Dafür war unter ihrer Ägide der 745  Vgl. Vermerk der Hauptabteilung X über die Besprechung im Justizministerium zwecks Erteilung einer Ermächtigung zum Besuch bestimmter Strafanstalten vom 20.12.1949; BArch DO1 11/1586, Bl. 21. 746  Vermerk der Hauptabteilung HS betr. getroffene Maßnahmen vom 18.1.1950; BArch DO1 11/1587, Bl. 12 f. 747  Vgl. Buddrus, Michael: »... im Allgemeinen ohne besondere Vorkommnisse«. Dokumente zur Situation des Strafvollzugs der DDR nach der Auflösung der sowjetischen Internierungslager 19491951. In: Deutschland Archiv 29 (1996) 1, S. 10–33, hier 17. 748  Vgl. Vermerk von Gentz für Fechner vom 20.1.1950; BArch DP 1–6414; zit. nach: Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 382. 749  Vgl. Vermerk der Hauptabteilung X über die Besprechung im Justizministerium zwecks Erteilung einer Ermächtigung zum Besuch bestimmter Strafanstalten vom 20.12.1949; BArch DO1 11/1586, Bl. 21. 750  Vgl. Oleschinski, Brigitte: Die Abteilung Strafvollzug der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz in der SBZ 1945–49. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe (1992) 2, S. 83–90; Lorenz, Thomas: Die Deutsche Zentralverwaltung der Justiz und die SMAD in der sowjetischen Besatzungszone 1945–49. In: Rottleuthner, Hubert (Hg.): Steuerung der Justiz in

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Anteil von SED-Mitgliedern in Brandenburg-Görden höher als später unter der Volkspolizei (siehe Kap. 2.5.1). Die Unterstellung der Gefängnisse unter die Innenverwaltung entsprach ebenfalls dem sowjetischen Vorbild.751 Hinzu kam, dass die Länder im Bereich der Justiz seinerzeit noch eine relativ starke Stellung innehatten.752 Hätte die vergleichsweise föderal strukturierte Justizverwaltung die Speziallagerinsassen übernommen, wären die Anweisungen zu ihrer weiteren Behandlung möglicherweise weniger zuverlässig »nach unten« durchgestellt worden als in den zentral geleiteten Haftanstalten der Volkspolizei.753 Der verantwortliche Leiter der Strafvollzugsverwaltung der Justiz, Werner Gentz, hatte sich schon in der Weimarer Republik einen Ruf als Reformer erworben, als er Ministerialrat im Preußischen Justizministerium gewesen war.754 Als Referent für Grundsatzfragen stand ihm jetzt Harald Poelchau zur Seite, der als Theologe den gleichen Ansatz vertrat und nun als Vortragender Rat ein neues Strafvollzugskonzept ausarbeitete.755 Die Vorstellungen der beiden Experten der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Köln 1994, S. 135–166, hier 135 f. u. 164 f.; Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 28. 751  Vgl. Wunschik: Strafvollzug als Aufgabe der Volkspolizei, S. 74–91. 752  Vgl. Amos: Justizverwaltung, S. 116. 753  Selbst auf die Besetzung der Posten der Anstaltsleiter hatte die oberste Justizverwaltung mitunter keinen nachhaltigen Einfluss ausüben können. Vgl. Auszugsweise Abschrift eines Schreibens des Chefs der Deutschen Justizverwaltung, Dr. Schiffer, an die Rechtsabteilung der SMAD vom 31.10.1947 bzw. 1.11.1947; BArch DO1 11/1586, Bl. 17. 754  Der 1884 geborene Werner Gentz meldete sich nach einem Jurastudium und Tätigkeit bei der Berliner Staatsanwaltschaft 1921 zur Ausbildung im Strafvollzug, da ihm die Reintegration sozial schwacher Straftäter am Herzen lag. Im Jahre 1922 wurde er Leiter des Strafvollzugsamtes in Kiel, wo er zwei Jahre später auch eine Dozentur für Strafvollzugsrecht an der Universität übernahm. 1928 wurde er als Ministerialrat in die Strafvollzugsabteilung des Preußischen Justizministeriums berufen, wo er im Folgejahr eine neue Verordnung zum Stufenstrafvollzug ausarbeitete. Im Jahr der Machtergreifung entließen die Nationalsozialisten ihn aus dem Ministerium und entzogen ihm die 1928 übertragene Dozentur für Strafvollzugsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er überstand das »Dritte Reich« als Amtsrichter in Berlin-Mitte, sammelte ab Juli 1945 als Leiter einer Arbeitsgruppe in der neu gegründeten Deutschen Zentralverwaltung für Justiz Beweise gegen NS-Täter und wurde im September 1945 Leiter der Strafvollzugsabteilung in Ostberlin. Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 203; Weinke, Annette: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg. Paderborn 2002, S. 44. Nach Kriegsende war er der KPD beigetreten, doch war seine Parteizugehörigkeit beim Aufbau der ostdeutschen Justizverwaltung vorsätzlich geheim gehalten worden, um die Dominanz der KPD-Vertreter auf der Ebene der Abteilungsleiter zu verschleiern. Vgl. Schmid, Tobias: Die Bedeutung der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz für die Entwicklung der Strafjustiz in der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland 1945–1949. Berlin 2001, S. 31; Amos: Justizverwaltung, S. 16 u. 215. Anfang 1947 wurde er neben seiner Tätigkeit in der staatlichen Justizverwaltung Mitglied des Rechtspolitischen Ausschusses beim Zentralsekretariat der SED, der die Anleitung der Justizpolitik durch die Parteizentrale verstärken sollte. Vgl. Howe, Marcus: Karl Polak. Parteijurist unter Ulbricht. Frankfurt/M. 2002, S. 46. 755  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 15 f.

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beruhten auf der Konzeption eines »humanen Strafvollzugs« (siehe Kap. 2.3.1)756 und zielten auf ein einheitliches Gefängniswesen in ganz Deutschland. Zu diesem Zweck knüpfte Gentz intensive Arbeitskontakte in die drei Westzonen und kooperierte mit dem reformorientierten Chef der Abteilung Strafvollzug des hessischen Justizministeriums, Albert Krebs, den er noch aus Vorkriegszeiten kannte.757 Als heikle Westverbindung entpuppte sich auch seine Freundschaft mit dem thüringischen SED-Juristen Karl Schultes, der im Dezember 1950 in den Westen flüchtete. Gentz weigerte sich, gegenüber einer SED-Sonderkommission Schultes zu belasten, was ihn in den Augen der Machthaber diskreditierte.758 Demgegenüber hielt die Besatzungsmacht die Volkspolizei für politisch loyal und einen Garanten für die sichere und strenge Verwahrung der Inhaftierten (siehe Kap. 2.2.1). Besatzungsmacht und SED-Führung störten sich zudem an einer angeblich hohen Entweichungsquote der Häftlinge in den Haftanstalten der Justiz – oder nahmen dies als willkommenen Vorwand, die Ressortzuordnung des Haftvollzugs infrage zu stellen. Das Sekretariat des Zentralkomitees warf den Justizorganen jedenfalls vor, sie seien nicht in der Lage, »die Flucht und die unzulässige Freilassung von Gefangenen zu verhindern«.759 So mussten die ostdeutschen Behörden allmonatlich der Besatzungsmacht darüber Rechenschaft ablegen, wie vielen Häftlingen eine Flucht gelungen war.760 Tatsächlich waren in den Jahren 1947/48 binnen zwölf Monaten aus den Justizhaftanstalten nicht weniger als 1 379 Insassen geflüchtet (bei einer durchschnittlichen Belegung von etwa 18 000 Personen).761 Entgegen der Überzeugung der Machthaber war dies aber wohl weniger auf mangelnde (politische) Wachsamkeit des Justizpersonals zurückzuführen als 756  Vgl. Gentz: Reform des Strafvollzugs, S. 229–257. 757  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 15 f. Zu Albert Krebs siehe auch Krebs, Albert: Freiheitsentzug. Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung. Berlin 1978. 758  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 283. Gentz wurde dann an das Staatliche Vertragsgericht der DDR versetzt. Vgl. Möhler: DDR-Strafvollzug, S. 336–357, hier 339. 759  Protokoll der Sitzung des Kleinen Sekretariats vom 12.8.1949; BArch DY 30 J IV 2/3–46. 760 Vgl. Scherstjanoi, Elke: Das SKK-Statut. Zur Geschichte der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland 1949 bis 1953. München 1998, S. 192. 761  Deutsche Justizverwaltung: [Belegung des] Strafvollzug[s] vom 13.7.1949; BArch DP 1–46. In Relation zu der Gesamtzahl der Insassen war dies weit mehr als in der Weimarer Republik üblich gewesen war. Vgl. Wunschik, Tobias: Selbstbehauptung und politischer Protest von Gefangenen im DDR-Strafvollzug. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 21). Berlin 2001, S. 267–292, hier 277. Auch die Besatzungsmacht hatte aber mit Entweichungsbemühungen von Häftlingen zu kämpfen – so waren aus den Speziallagern bis Frühjahr 1948 114 Insassen geflohen, von denen lediglich sechs wieder aufgegriffen worden waren. Vgl. Possekel, Ralf: Sowjetische Lagerpolitik in Deutschland. In: Mironenko, Sergej; Niethammer, Lutz; Plato, Alexander von (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik. Berlin 1998, S. 15–110, hier 89 f.

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auf den desolaten baulichen Zustand vieler Gefängnisse sowie die ungenügende Ausstattung der Wachmannschaften mit Waffen.762 Im Februar 1949 forderte die Sowjetische Militäradministration, in den Ländern einheitliche Richtlinien für die Bestrafung der Verantwortlichen bei Gefangenenentweichungen zu erlassen, was zuvor am Widerstand des SED-Landesvorstandes Brandenburg gescheitert war.763 Immerhin war die Untersuchung von Häftlingsausbrüchen spätestens seit 1949 auch ein Arbeitsgegenstand des politischen Zweiges der Kriminalpolizei (K 5).764 Die Abteilung Inneres der Sowjetischen Militäradministration schlug dann im Mai 1949 vor, die Außenposten der Justizhaftanstalten zukünftig von Volkspolizisten bewachen zu lassen. Die Deutsche Justizverwaltung konnte diesen Vorschlag jedoch mit dem Hinweis auf ein absehbares Kompetenzgerangel abwehren.765 Im August 1949 wollte die SED-Führung dann jedem Justizdirektor einen Volkspolizisten als stellvertretenden Anstaltsleiter zur Seite stellen, dessen Plazet bei jeder einzelnen Haftentlassung eingeholt werden sollte.766 Dem Verdacht mangelnder politischer Zuverlässigkeit sah sich gerade die Justiz im Land Brandenburg ausgesetzt, da im Jahre 1949 binnen kürzester Zeit zehn teilweise leitende Mitarbeiter des Justizministeriums in den Westen überliefen. Im Sommer 1950 flüchtete sogar Justizminister Ernst Stargardt, der früher der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) angehört hatte und nach Kriegsende der CDU beigetreten war.767 Unter den Überläufern befand sich auch ausgerechnet der für Haftentlassungen zuständige Referent, der zuvor offenbar noch gezielt »Wirtschaftsverbrechern« zur Flucht verholfen hatte. Die »Zustände im brandenburgischen Justizministerium« galten als so alarmierend, dass sich im November 1949 das Zentralsekretariat der SED damit befasste.768 Zudem warf man der Justiz vor, die besonders harten Haftbedingungen für die nach Befehl 201 Verurteilten seit der Übernahme von Brandenburg-Görden nicht konsequent genug zu vollziehen.769 Besonders die von Paul Locherer geduldete bzw. geförderte Gefangenenselbstverwaltung mit geheimer Wahl von Vertrauensleuten (siehe Kap. 3.2.2) dürfte den Machthabern ein Dorn im Auge gewesen sein. Locherer hatte außerdem der Gedenkstätte von Walter Hammer innerhalb der Gefängnismauern breiten Raum gelassen, die dann im 762  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 210. 763  Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 141 f. 764  Vgl. Schmeitzner, Mike: Formierung eines neuen Polizeistaates. Aufbau und Entwicklung der politischen Polizei in Sachsen 1945–1952. In: Behring, Rainer; Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945–1952. Köln 2003, S. 201–267, hier 226. 765  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 377. 766  Protokoll der Sitzung des Kleinen Sekretariats vom 12.8.1949; BArch DY 30 J IV 2/3–46. 767  Vgl. Amos: Justizverwaltung, S. 47. 768  Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats der SED vom 9.11.1949; BArch DY 30 J IV 2/3–62. 769  Vgl. Stellungnahme der Hauptabteilung Haftanstalten vom 14.12.1949; BArch DO1 11/1479, Bl. 11.

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Februar 1950 wegen angeblicher »Agententätigkeit« Hammers auf Betreiben von Fritz Lange geschlossen wurde.770 Der Justizminister bzw. Präsident der deutschen Zentralverwaltung für Justiz, Max Fechner, wehrte sich nach Kräften gegen die erhobenen Vorwürfe, insbesondere was die Ausbrüche von Insassen betraf. Er verwies auf den schlechten baulichen Zustand der Gefängnisse sowie die ebenfalls hohe Entweichungsquote in den Haftarbeitslagern der Polizei. In Brandenburg-Görden sei sogar noch keinem einzigen Häftling die Flucht geglückt. Außerdem sei nicht ersichtlich, was ein stellvertretender Anstaltsleiter aus den Reihen der Volkspolizei alleine gegen Entweichungsversuche unternehmen könne. Dass jede Haftentlassung dessen Unterschrift bedürfe, wie vorgeschlagen worden war, bedeute die »Aufhebung der geltenden Strafprozessordnung«, der zufolge allein der Untersuchungsrichter den Haftbefehl zurücknehmen könne. Bestenfalls »zu gegebener Zeit« sei eine Übertragung des gesamten Strafvollzugs an die Volkspolizei möglich, wie Fechner wohl aus taktischen Gründen zugestand.771 Der Justizminister »sah sich angesichts der Entschlossenheit seiner Kontrahenten in der Innenverwaltung, in der SEDSpitze und in der SMAD nicht länger in der Lage, seine Position rückhaltlos zu verteidigen, und verlegte sich aufs Taktieren«.772 So gab er sich jetzt hinsichtlich der nach Befehl 201 Verurteilten geschlagen, die zu verwahren ihm wohl ohnehin politisch heikel erschien. So beschloss das Sekretariat des Zentralkomitees der SED im Mai 1950, dass der »gesamte Strafvollzug an den nach Befehl 201 verurteilten Personen« der Hauptabteilung Haftsachen der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei zu unterstellen sei. Die Justiz habe »die mit Insassen nach Befehl 201 belegten Strafvollzugsanstalten mit allen Einrichtungen, mit ihren Stellenplänen und Haushaltsmitteln der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei zu übergeben«. Die Insassen dort, die nach anderen Strafnormen verurteilt worden waren, seien in andere Gefängnisse zu überführen.773 Betroffen davon war vor allem BrandenburgGörden, da hier die nach Befehl 201 Verurteilten untergebracht waren und diese nun, wie die aus sowjetischen Speziallagern stammenden Inhaftierten, von der Volkspolizei übernommen werden sollten. Sogar Justizminister Fechner sprach

770  Vgl. Hammer, Walter: Die Katastrophe in Brandenburg vom 4.3.1950, 10 Bl.; IfZ, ED 106 Bd. 1, o. Pag. 771  Vgl. Stellungnahme [von Fechner] zu dem Beschluss des Kleinen Sekretariats vom 12. August 1949 betreffend Zustände in den Gefangenenanstalten der SBZ o. D.; BArch DP 1–262, Bl. 97. 772  Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 379. 773  Protokoll Nr. 107 der Sitzung des Sekretariats [des ZK der SED] vom 15.5.1950; BArch DY 30 J IV 2/3–107, Bl. 1–6.

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sich im Juni 1950 für eine rasche Übergabe dieser Haftanstalt aus, was er bei anderen Gefängnissen ablehnte.774 Der Leiter von Brandenburg-Görden, Paul Locherer, und sein Stellvertreter von der Volkspolizei, Hans Bergelt, wurden Ende Mai von dem Beschluss des Zentralkomitees unterrichtet. Wenig später sprach Locherer bei der zukünftig vorgesetzten Hauptabteilung Haftsachen der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei und deren Leiter Karl Gertich vor. Locherer, dem seine eigene Ablösung unvermeidlich erschien, zeigte sich dabei um den Verbleib seiner Mitarbeiter auf ihren Positionen besorgt. Ihm wurde geantwortet, »gegen eine Übernahme des Personals wäre nichts einzuwenden, soweit dieselben den allgemeinen polizeilichen Richtlinien genügen«.775 Gerade auf der höchsten und mittleren Leitungsebene wünschte das Innenministerium zwar einen vollständigen Austausch des Personals, doch stand geeigneter Ersatz nicht immer bereit.776 Letztlich wurden wohl nicht mehr als 60 Aufseher tatsächlich von der Justiz übernommen, rund zwei Drittel aber entlassen.777 Den weiterbeschäftigten Aufsehern attestierte die Volkspolizei in der Folge »versöhnlerisches« Auftreten gegenüber den Häftlingen und »Ansichten über den Objektivismus […] in seiner schlimmsten Form«.778 Daher setzte die Volkspolizei auf deren politische Schulung,779 doch kam es dennoch (oder gerade deswegen) zu Desertionen.780 Entsprechend dem Beschluss des Zentralkomitees übernahm die Hauptabteilung Haftsachen am 1. Juli 1950 die Befehlsgewalt in Brandenburg-Görden.781 Offenbar wurde das Gefängnis zusammen mit den damaligen Insassen übergeben, die 774  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung HS betr. Vorsprache des Leiters der Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 2.6.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 9 f. 775  Vgl. ebenda, Bl. 29 f. 776  Aktenvermerk der Hauptabteilung SV der HVDVP vom 2.1.1951; BArch DO1 11/1449, Bl. 369. 777  Vgl. Bericht [eines ehemaligen Aufsehers] über meine Erlebnisse während meiner Tätigkeit im Zuchthaus Brandenburg vom 1.11.1949 bis 28.11.1950; BArch B 289/SA 171/22–119/1; [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Gefängnis Brandenburg-Görden vom 29.9.1950; BArch B 137/1809; [Bericht eines ehemaligen Häftlings] Nr. 1847 betr. Haft-Anstalt BrandenburgGörden o. D. [Herbst 1950]; BArch B 289/VA 171/22–16. Siehe auch BArch DP 1–1324 sowie Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 778  Vgl. Monatlicher Informationsbericht des PK-Leiters Bergelt an Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 29.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 90–96. 779  Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 780  Vgl. u. a. Bericht [eines ehemaligen Aufsehers] über meine Erlebnisse während meiner Tätigkeit im Zuchthaus Brandenburg vom 1.11.1949 bis 28.11.1950; BArch B 289/SA 171/22–119/1. 781  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung Strafvollzug an die Sowjetische Kontrollkommission betr. Struktur der Hauptabteilung Strafvollzug vom 3.3.1953; BArch DO1 11/1468, Bl. 125–133. In anderen Dokumenten ist hingegen vom 1. Juni als Tag der Übergabe die Rede. Vgl. Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Strafvollzugs o. D. [1952]; BArch DO1 11/1508, Bl. 101–142.

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dann durch die Volkspolizei »größtenteils abtransportiert« wurden.782 Durch die Struktur des Häftlingsbestandes wäre es aber so oder so zu erheblicher Fluktuation gekommen, denn am 1. Juni saßen in Brandenburg-Görden noch 1 722 Häftlinge ein, von denen bis Jahresende 479 und im Folgejahr weitere 489 entlassen werden sollten.783 Die Übergabe der Haftanstalt erfolgte vermutlich auch bereits mit Blick auf die Häftlinge aus Bautzen und Waldheim, die im August 1950 nach Brandenburg-Görden verlegt wurden. Einige von ihnen hatten sich im März 1950 an der Hungerrevolte in Bautzen I beteiligt, andere waren im Juni 1950 in den Waldheimer Prozessen verurteilt worden und sollten nun ebenfalls in eine besser gesicherte Haftanstalt verlegt werden.784 In den Folgemonaten wurde die Haftanstalt an der Havel daher mit neuen Häftlingen »aufgefüllt«. Neben den nach Befehl 201 Verurteilten aus Waldheim wurden beispielsweise 402 SMT-Verurteilte aus Untermaßfeld nach Brandenburg-Görden gebracht, dafür 303 Inhaftierte mit einem Strafmaß von bis zu fünf Jahren in der umgekehrten Richtung verlegt. Dahinter stand die Überlegung, dass Untermaßfeld nur acht Kilometer von der Demarkationslinie entfernt war und bauliche Mängel aufwies, weswegen sich SMT-Verurteilte hier nicht sicher genug verwahren ließen.785 In BrandenburgGörden stieg so die Zahl der Gefangenen im Frühjahr 1951 auf 2 741.786 Seit der Übernahme der Haftanstalt durch die Volkspolizei war Locherer von seinem Posten entbunden, weswegen sein Politstellvertreter, Kommandeur Hans Bergelt, faktisch als Leiter amtierte.787 Bergelt hatte in der Weimarer Republik der KPD-Jugendorganisation KJVD (Kommunistischer Jugendverband Deutschlands) angehört und ab Dezember 1933 eine 16-monatige Haft wegen »Hochverrat« verbüßt. Als Wehrmachtsoldat war er kurz vor Kriegsende desertiert und hatte dann der Politabteilung der Kriminalpolizei Dresden angehört. Als Mitarbeiter der sächsischen Staatsanwaltschaft hatte er nach Kontrollratsdirektive 10 ermittelt und war 1947 stellvertretender Leiter des Zuchthauses Zwickau geworden, wo er 1934/35 selbst inhaftiert gewesen war. Nach seiner Tätigkeit in Brandenburg782 Schreiben der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen betr. Vollzugsanstalt Brandenburg-Goerden vom 31.8.1950; BArch B 137/1810. 783  Längere Haftstrafen bis zehn Jahre hatten noch 641 Häftlinge zu verbüßen, 90 hatten ein Strafmaß von über zehn Jahren und 23 eine lebenslängliche Freiheitsstrafe abzusitzen. Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung HS betr. Vorsprache des Leiters der Strafanstalt BrandenburgGörden vom 2.6.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 29 f. 784  Vgl. Ansorg, Leonore: Strafvollzug an politischen Gefangenen in der DDR. Die Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden. In: Deutschland Archiv 35 (2002) 5, S. 769–781, hier 770. 785  Nicht von ungefähr war dort bereits acht Häftlingen die Flucht gelungen. Vgl. Schlussbericht der Abteilung Organisation der Hauptabteilung Strafvollzug vom 14.12.1951; BArch DO1 11/1562, Bl. 73–80. 786  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 52. 787  Vgl. Bericht über die Instrukteurstätigkeit in der Strafanstalt Brandenburg vom 18.9.1950; BArch DO1 11/1480, Bl. 114–119.

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Görden wurde er im April 1952 zum Leiter des kleineren Jugendhauses Heidenau ernannt.788 Eine wichtige Rolle spielte auch Heinz Tunger, den die Abteilung Politkultur der Hauptabteilung Haftsachen gewissermaßen als Kaderbeauftragten (siehe Kap. 2.2) Anfang August 1950 nach Brandenburg-Görden schickte.789 Zum 1. September 1950 wurde dann der Inspekteur der Volkspolizei, Heinz Marquardt, zum kommissarischen Leiter der Haftanstalt ernannt (siehe Kap. 2.6.5). Die Neuordnung des Gefängniswesens schritt im Sinne der SED-Führung und der Sowjetischen Kontrollkommission, die an den Schaltstellen der Macht in Ostdeutschland saßen (siehe Kap. 2.2.1 und 2.2.2), jetzt weiter voran. 2.6.3 Die Umstrukturierung des gesamten Gefängniswesens (1950–1952) Die Übergabe der sechs Sonderhaftanstalten an die Volkspolizei zu Beginn des Jahres 1950 wie auch die Übernahme von Brandenburg-Görden im Sommer des gleichen Jahres waren lediglich Zwischenetappen in der Umstrukturierung des gesamten DDR-Strafvollzugs. Im Herbst 1950 unterstanden die meisten Gefängnisse immer noch der Justiz, darunter (mit Ausnahme der Sonderhaftanstalten) alle Strafvollzugsanstalten, Haftkrankenhäuser und Jugendhäuser sowie die meisten Haftarbeitslager. Dies gilt auch für die Untersuchungshaftanstalten, soweit sie nicht zum Apparat der Staatssicherheit zählten, der sowjetischen Seite unterstanden oder als kleinere (Untersuchungs-)Haftanstalten von der Volkspolizei betrieben wurden. Der im Justizressort zuständige Abteilungsleiter Werner Gentz argwöhnte jedenfalls zu Recht bereits im Dezember 1949, dass die Volkspolizei mittelfristig sämtliche Haftanstalten übernehmen wolle, nachdem im Vorfeld der Auflösung der sowjetischen Speziallager eine Delegation des Innenministeriums die zehn größten Strafvollzugsanstalten der Justiz inspiziert hatte.790 Anfang April 1950 setzte der Leiter des Sektors Justiz im Zentralsekretariat der SED eine (später abgesagte) Besprechung an, bei der es auch um die Unterstellungsverhältnisse im Strafvollzug gehen sollte. Anton Plenikowski regte dann eine diesbezügliche Vorlage für das Politbüro an, derer sich der Chef der Volkspolizei, Kurt Fischer, annehmen sollte. Dieser begründete die Begehrlichkeiten seines Apparates 788  Vgl. Lebenslauf von Hans Bergelt vom 24.10.1967; BStU, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 1757/87, Bl. 82–84; [Kurzbiographie] von Hans Bergelt der Kreisdienststelle Brandenburg vom 23.11.1950; ebenda, Bl. 62 f. 789  Vgl. Monatlicher Informationsbericht des PK-Leiters Bergelt an Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 29.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 90–96. 790  Vgl. Vermerk der Hauptabteilung X über die Besprechung im Justizministerium zwecks Erteilung einer Ermächtigung zum Besuch bestimmter Strafanstalten vom 20.12.1949; BArch DO1 11/1586, Bl. 21.

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damit, dass in den Haftanstalten der Volkspolizei eine »gewaltige Überbelegung« herrsche, was bei der Justiz nicht der Fall sei. Die Zweiteilung des Strafvollzugs sei ökonomisch und wirtschaftlich von Nachteil, weswegen zum 1. Juni 1950 der gesamte Strafvollzug an die Volkspolizei übergeben werden solle.791 Das Politbüro konnte sich im Mai 1950 aber nur dazu entschließen, die Verantwortlichkeiten für den Strafvollzug an der verhältnismäßig kleinen Gruppe der nach Befehl 201 Verurteilten in die Hände der Volkspolizei zu legen (siehe Kap. 2.6.2). Doch mittelfristig stand die Justiz angesichts der Präferenzen der SED-Führung auf verlorenem Posten. Dass der Chef der Gefängnisverwaltung im Justizbereich, Werner Gentz, mittelfristig auf einem Ast saß, an dem gesägt wurde, nahm dieser zwar wahr, vertrat jedoch die zweckoptimistische Ansicht, »man müsse ausharren, bis die anderen beim Sägen müde würden«.792 Der weiteren Übertragung der Zuständigkeiten leistete Vorschub, dass im Mai 1950 zwei im Glauchauer Prozess von 1948 verurteilte Häftlinge unter Mithilfe einer Aufseherin aus dem Zuchthaus Zwickau fliehen konnten. Der Vorfall wurde von der Parteipresse begierig aufgegriffen und vom Zentralsekretariat genutzt, um eine Untersuchungskommission einzusetzen.793 Obwohl sie in dieser Zeit immer seltener glückten, dienten Entweichungen erneut als Vorwand, um den Strafvollzug der Justiz zu entmachten. Sogar der Gefängnisleiter von BrandenburgGörden Locherer vertrat die Meinung, »es sei kein ehernes Gesetz, dass die Justiz den Strafvollzug wahrnehmen müsse«.794 Und auch Minister Fechner stellte im Juli 1950 fest, dass die Volkspolizei Häftlinge sicherer verwahren könne als der Justizapparat, weil diese besser ausgerüstet und ausgebildet sei.795 Im August schließlich stimmten Sekretariat und Politbüro der Übertragung der Verantwortlichkeiten zu,796 und im September gab die Sowjetische Kontrollkommission grünes Licht.797 Aus dieser »Empfehlung« von SED und Besatzungsmacht resultierte eine Regierungsverordnung vom 16. November 791  Vgl. Entwurf eines Politbürovorschlags vom 11.4.1950; BArch DO1/7 Nr. 49, Bl. 144 f.; zit. nach: Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 383. 792  Aktenvermerk der Hauptabteilung HS betr. Vorsprache des Leiters der Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 2.6.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 29 f. 793  Vgl. Neues Deutschland vom 18.6.1950, S. 7. Siehe auch BArch B 289/VA 191/22–4. Gefängnisleiter Heinz Spranger wurde wegen Gefangenenbefreiung und -begünstigung zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Vgl. Retzlaff, Birgit: Widerstand der Sozialistischen Jugend in der frühen DDR. Verfolgung, Opposition und Widerstand von Mitgliedern und Freunden der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken in der DDR 1949–1959. Rostock 2005, S. 156. 794  Aktenvermerk der Hauptabteilung HS betr. Vorsprache des Leiters der Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 2.6.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 29 f. 795  Max Fechner, Probleme des Strafvollzugs. Kritik, Selbstkritik, praktische Lösung vom 17.7.1950; BArch DP 1–6997; zit. nach: Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 385. 796  Protokoll Nr. 107 der Sitzung des Sekretariats [des ZK der SED] vom 16.8.1950; BArch DY 30 J IV 2/3–131; Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 22.8.1950; BArch DY 30 J IV 2/2–105. 797  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung Haftsachen an den Chef der Deutschen Volkspolizei Maron vom 14.9.1950; BArch DO1 11/1573, Bl. 16.

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1950, in der die Zuständigkeit für den Strafvollzug der Volkspolizei übertragen sowie, allerdings in weniger klaren Worten, die Verantwortung der Justiz für die Untersuchungshaft bestätigt wurde.798 Die Volkspolizei zeigte, obwohl sie entsprechende Pläne in der Schublade hatte,799 zunächst gar kein Interesse an der Übernahme der seinerzeit etwa 180 kleinen Untersuchungshaftanstalten bzw. Gerichtsgefängnisse, da diese zu betreiben vergleichsweise personalintensiv war. Zudem waren viele Justizangestellten bereits vor 1945 tätig gewesen und hätten aus politischen Gründen entlassen werden müssen, ohne das neues Personal bereitstand.800 Auch den Jugendstrafvollzug wollte die Volkspolizei gar nicht übernehmen, »da es sich hier um einen sehr gelockerten Strafvollzug handelt, bei dem Erziehungsfragen von wesentlicher Bedeutung sind« – wozu sich die Volkspolizei wohl nicht berufen fühlte.801 Die Haftkrankenhäuser im eigenen Geschäftsbereich zu führen, war wegen der hohen laufenden Kosten ebenfalls nicht attraktiv. Positiver war die »Leistungsbilanz« der Haftlager durch die dort verrichtete Gefangenenarbeit.802 Welche Haftanstalten im Einzelnen übergeben werden sollten, konnten die bei­den Chefs der Gefängnisverwaltungen im Justiz- und Polizeibereich, Gentz und Gertich, erst nach zähem Ringen bestimmen. Auf Vorschlag der Jus­tiz kamen sie Mitte November 1950 zunächst überein, dass die Volkspolizei (nach den Sonderhaftanstalten) eine Reihe weiterer größerer Haftanstalten, da­für aber auch etliche Haftkrankenhäuser übernehmen sollte. Darin wollte die Volkspolizei künftig alle Häftlinge unterbringen, die zu mindestens zwei Jah­ren Freiheitsstrafe verurteilt waren oder besonders sicher »verwahrt« wer­den sollten. Die Justiz hätte dagegen alle Untersuchungsgefangenen, alle zu Ju­gendgefängnis Verurteilten sowie alle Haftarbeitslager in ihrer Obhut be­hal­ten.803 Walter Ulbricht, damals neben seiner Parteifunktion auch stell­ver­tre­tender Ministerpräsident, wies jedoch wenig später an, dass alle bisher der Jus­tiz unterstellten Strafvollzugsanstalten, Jugendhaftanstalten und Haft­ar­beits­lager zu übergeben seien,804 womit er die vorangegangene »Emp­feh­lung« der Sowjetischen Kontrollkommission bekräftigte. 798  Vgl. Verordnung zur Übertragung der Geschäfte des Strafvollzugs auf das Ministerium des Innern der DDR vom 16.11.1950; GBl. der DDR Nr. 133 vom 16.11.1950, S. 1165 f. 799  Vgl. Vorschlag der Hauptabteilung HS für die Übernahme des gesamten Strafvollzugs vom 24.10.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 99–104. 800  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung HS betr. Übernahme des Strafvollzuges durch die Deutsche Volkspolizei vom 9.11.1950; ebenda, Bl. 117–124. 801  Vgl. Vorschlag der Hauptabteilung HS für die Übernahme des gesamten Strafvollzugs vom 24.10.1950; ebenda, Bl. 99–104. 802  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung HS betr. Übernahme des Strafvollzuges durch die Deutsche Volkspolizei vom 13.11.1950; ebenda, Bl. 125–133. 803  Vgl. Niederschrift über die Besprechung zwischen Volkspolizei-Inspekteur Gertich und Hauptabteilungsleiter Dr. Gentz sowie Referent Schaefer vom 16.11.1950; ebenda, Bl. 150 f. 804  Vgl. Aktenvermerk der Abteilung Organisation der Hauptabteilung HS vom 30.11.1950; ebenda, Bl. 181.

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Dabei ließ er die zeitliche Aus­gestaltung offen – angesichts des logistischen Aufwandes wären prä­zise Zeit­vor­gaben auch realitätsfern gewesen.805 In Anbetracht der Präferenzen von Staats- und Parteiführung legte Justiz­ minister Max Fechner nunmehr – wohl auch aus taktischen Gründen – »Wert auf frühe Übernahmetermine«.806 Er gab an, dass er sich den personalintensiven Untersuchungshaftvollzug möglichst schnell vom Hals schaffen wolle und plante deswegen für das Folgejahr keinerlei entsprechende Finanzmittel mehr ein.807 Volkspolizeichef Karl Maron polemisierte daraufhin, Fechner würde »offenbar den Beschluss der Regierung nach eigenem Ermessen auslegen«. Es sei schließlich von den Untersuchungsanstalten nie die Rede gewesen, wie er zutreffend in Erinnerung rief.808 Allerdings entwickelte der Prozess der Neuordnung der Zuständigkeiten eine gewisse Eigendynamik: Die Gerüchte um die Übernahme der noch in den Händen der Justiz befindlichen Gefängnisse hatte im Spätherbst 1950 zu Unruhe unter den Gefangenen geführt und die Zahl der Entweichungen wieder ansteigen lassen, denn die Insassen sahen härtere Haftbedingungen auf sich zukommen.809 Die Justiz bemühte sich jetzt auch teilweise um vorzeitige Begnadigungen.810 Auch die Aufseher, so Fechner, würden ihren Dienst zunehmend nachlässig versehen, weil sie von der Volkspolizei ohnehin nicht übernommen würden,811 wie die Erfahrungen gerade bei der früheren Übernahme von BrandenburgGörden vermuten ließen. Erst eine Woche vor der geplanten Übergabe zum Jahresbeginn 1951 waren sich Justiz- und Innenressort einig, in welchen Gefängnissen im Einzelnen der Hausherr wechseln sollte.812 Dies betraf die Strafvollzugsanstalten Gräfentonna, Ichtershausen, Magdeburg-Sudenburg, Coswig, Zwickau, Bautzen II, Cottbus und Bützow-Dreibergen, die Haftkrankenhäuser Leipzig Klein-Meusdorf und Schkeuditz sowie die Haftarbeitslager Cranzahl-Sosa, Aue, Erlabrunn, Rüdersdorf und Volkstedt.813 Bereits im Mai 1951 folgten die Haftlager Fürstenberg, 805  Vgl. Schreiben Marons an den Minister für Justiz Fechner vom 7.12.1950; ebenda, Bl. 252 f. 806  Protokoll der HA III [des Justizministeriums] über die Sitzung im Justizministerium vom 9.12.1950; ebenda, Bl. 277–279. 807  Vgl. Schreiben des Justizministers Fechner an den Chef der DVP Maron vom 9.12.1950; ebenda, Bl. 271–273. 808  Schreiben des Chefs der DVP Maron an den Minister der Justiz Fechner vom 11.12.1950; ebenda, Bl. 280–283. 809  Vgl. Schreiben des Justizministers Fechner an die HVDVP vom 5.12.1950; ebenda, Bl. 314. 810  Vgl. Weber: Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen, S. 257. 811  Schreiben des Justizministers Fechner an den Chef der DVP Maron vom 9.12.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 271–273. 812  Vgl. Erste Durchführungsbestimmung zur Verordnung zur Übertragung der Geschäfte des Strafvollzuges auf das Ministerium des Innern vom 16.11.1950 vom 23.12.1950; BArch DO1 11/1588, Bl. 222–224. 813  Aktenvermerk der Hauptabteilung SV der HVDVP vom 2.1.1951; BArch DO1 11/1449, Bl. 369. Das 1949 eröffnete Haftkrankenhaus Cottbus, das nach der oben erwähnten Ersten Durchführungsbestimmung eigentlich ebenfalls von der HVDVP übernommen werden sollte,

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Wittmansdorf, Heidekrug, Neschwitz, Bitterfeld, Hohenleuben und Maxhütte.814 In diesen Haftanstalten übernahmen umgehend sogenannte Verbindungsoffiziere der Volkspolizei die Kontrolle vor Ort. Sämtliche Gefängnisleiter wurden ausgetauscht und hatten ab sofort keinen Zutritt mehr.815 Die entmachtete Justiz musste sich dabei den – möglicherweise zutreffenden – Vorwurf gefallen lassen, »dass viele der an der Übergabe beteiligten Justizangestellten offensichtlich Gegenarbeit leisteten«.816 Auf der mittleren und der unteren Leitungsebene war ein vollständiger Austausch des Personals zwar politisch gewünscht, doch in der Praxis wurden die bisher tätigen Justizangestellten im »Dienst belassen, soweit es für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung erforderlich« war und kein Ersatz bereit stand.817 Letztlich wurden landesweit mittelfristig jedoch wohl nur fünf Prozent von rund 2 500 Justizangestellten dieses Bereichs in den Polizeidienst übernommen,818 es fand also eine starke Auslese des Personals statt.819 Die Volkspolizei drängte schon bald auf die Übergabe weiterer Gefängnisse, denn ihre Strafvollzugsanstalten waren seinerzeit durchschnittlich zu 157 Prozent belegt.820 Gentz zeigte sich davon allerdings unbeeindruckt und machte geltend, »dass dies die allgemeinen Schwierigkeiten seien, unter denen auch die Justiz bisher zu leiden« habe.821 Die Hauptabteilung Strafvollzug führte jedoch noch ein zweites Argument ins Feld. Die beiden Ressorts hatten sich darauf verständigt, dass die Justiz Haftstrafen bis sechs oder auch neun Monaten Dauer in den eigenen kam offenbar nicht zur Übergabe, weil dessen Unterhalt der HVDVP zu kostspielig erschien. Aktenvermerk der Hauptabteilung SV vom 3.2.1951; BArch DO1 11/1588, Bl. 239. 814  Vgl. Bericht des Referates II der Abt. Organisation [der HA SV] vom 29.9.1951; BArch DO1 11/1586, Bl. 307 f. Hinzu kamen noch die Haftlager Krumpa und Pfennerhall, die von der Volkspolizei jedoch binnen kürzester Zeit aufgelöst wurden. 815  Vgl. Protokoll über die Dienstbesprechung der mit der Übernahme der Objekte der Justiz beauftragten Verbindungsoffiziere der Hauptabteilung Strafvollzug vom 5.1.1951; BArch DO1 11/1449, Bl. 336–344. 816  Vgl. Bericht der Strafanstalt Untermaßfeld an die Abt. J [Intendantur] über die durchgeführte inventarmäßige Übernahme der Haftanstalten Ichtershausen und Gräfentonna vom 21.12.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 302–306. 817  Aktenvermerk der Hauptabteilung SV der HVDVP vom 2.1.1951; BArch DO1 11/1449, Bl. 369. 818  Vgl. Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Strafvollzugs o. D. [1952]; BArch DO1 11/1508, Bl. 101–142. Siehe auch Oleschinski: Abteilung Strafvollzug, S. 83–90, hier 85. 819  Doch auch Ende der 50er-Jahre gab es in Brandenburg-Görden (wie sicherlich auch in vielen anderen Haftanstalten) Aufseher, die bereits unter der Justiz ihren Dienst versehen hatten und sich gegenüber den Insassen vergleichsweise anständig benahmen. Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Heinz Kühn am 6.6.2001 in Berlin, 7 S. 820  Auf 17 265 vorhandenen Plätzen drängten sich Anfang 1952 27 192 Inhaftierte. Vgl. Schreiben der Abt. Organisation der Hauptabteilung SV betr. Stellungnahme zum Schreiben des persönlichen Referenten des Innenministers vom 23.6.1951; BArch DO1 11/1588, Bl. 180 f. 821  Aktenvermerk der Hauptabteilung SV betr. Übernahme weiterer Strafvollzugsanstalten vom 25.1.1951; ebenda, Bl. 153.

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Untersuchungshaftanstalten vollziehen konnte und weitere Strafgefangene als Hausarbeiter (Kalfaktoren) einsetzen durfte. Die Justiz hatte diese Regelung jedoch dazu genutzt, weitaus mehr Strafgefangene in der eigenen Obhut zu behalten (nämlich rund 4 000), als zur Besetzung der Kalfaktorenstellen streng genommen notwendig waren (etwa 1 500), und hatte diese zur vergleichsweise profitablen Arbeit in Haftarbeitslagern eingesetzt. Die Volkspolizei kritisierte daher nicht zu Unrecht, dass es so »zu einem zweigeteilten Strafvollzug komme«, der »ganz zwangsläufig zu Unstimmigkeiten« führe.822 Um diese Aufsplitterung der Zuständigkeiten zu beenden, gingen zum 1. Juli 1952 auch alle anderen Gefängnisse der Justiz in die Zuständigkeit der Volkspo­ li­zei über. Dazu zählten die mittlerweile noch 133 Untersuchungshaftanstalten bzw. vor­maligen Gerichtsgefängnisse, sechs Jugendhäuser sowie drei weitere Haft­ kran­kenhäuser,823 in denen insgesamt 2 003 Angestellte ihren Dienst versahen und noch 8 509 Personen, vorwiegend als Untersuchungshäftlinge, inhaftiert wa­ ren.824 Anders als bei der ersten Übernahmewelle zu Beginn des Vorjahres blieb die personelle Fluktuation dieses Mal gering – lediglich 107 Justizangestellte wur­ den nicht übernommen –,825 da neues Personal für die zahlreichen dezentralen Ge­richtsgefängnisse nicht bereit stand. Bis zum 31. Januar 1952 wurden dann auch die alten Haftanstalten der Volkspolizei aus dem Dienstzweig Schutzpolizei herausgelöst und dem Strafvollzug unterstellt, was ein gewisses »Kompetenzgerangel« mit sich brachte. Insgesamt übernahm der Dienstzweig Strafvollzug auf diese Weise 99 weitere Haftanstalten (mit einer Kapazität für 3 865 Personen), in denen 778 Aufseher ihren Dienst versahen.826 Die Vereinheitlichung des Strafvollzugs wurde analog auch in Ostberlin durchgeführt: Dessen Sonderstatus bewirkte, dass die Regierungsbeschlüsse zur Übertragung des Strafvollzugs auf das Ministerium des Innern hier eines gesonderten Beschlusses des Ostberliner Magistrats bedurften. Dieser entschied im November 1950, dass die zwei Strafvollzugsanstalten, das Jugendhaus, die »Krankenanstalt« sowie die fünf »Bewährungslager« in Ostberlin zum Jahresbeginn 1951 von der 822  Vgl. Schreiben der Abt. Organisation der Hauptabteilung SV betr. Stellungnahme zum Schreiben des persönlichen Referenten des Innenministers vom 23.6.1951; ebenda, Bl. 180 f. 823  Vgl. Zweite Durchführungsbestimmung zur Verordnung zur Übertragung der Geschäfte des Strafvollzuges auf das Ministerium des Innern vom 16.11.1950 vom 5.5.1952; ebenda, Bl. 361 f. 824 Vgl. Statistik betr. statistische Angaben über den Gefangenenbestand in den Untersuchungshaftanstalten bei der Übernahme (Stichtag 25.6.1952) vom 5.9.1952; BArch DO1 11/1578, Bl. 14 f. 825  In Brandenburg waren dies 35 Justizangestellte, in Mecklenburg 4, in Sachsen 29, in Sachsen-Anhalt 15 und in Thüringen 24. Vgl. BArch DO1 11/1588, Bl. 387–391. 826  Nach Ländern waren dies in Brandenburg 12 Haftanstalten mit 109 Angehörigen der Volkspolizei, in Mecklenburg 19/133, in Thüringen 18/139, in Sachsen 14/197 und in SachsenAnhalt 36/200. Vgl. Bericht der Vollzugsabteilung [der Hauptabteilung Strafvollzug] über ihre Arbeit im ersten Quartal 1952 [von 1952]; BArch DO1 11/1469, Bl. 30–42.

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Justiz an das Präsidium des Volkspolizei (PdVP) zu übergeben seien.827 Damit verschärften sich auch hier die Haftbedingungen und die Häftlinge bezeichneten ihre neuen Bewacher, nach der Farbe ihrer Uniformen, als »blaue Pest«. In der Haftanstalt Berlin II kam es sogar zu zwei »Meutereien größeren Ausmaßes«.828 Das bisherige »Arbeits- und Bewahrungshaus« Berlin-Rummelsburg wurde erst vier Monate später übergeben; dessen Ausbau zur Strafvollzugsanstalt ermöglichte mittelfristig die Schließung anderer Haftanstalten. Als letztes folgte, wie in den ostdeutschen Ländern, die Übergabe der Ostberliner Polizeihaftanstalt aus dem Zuständigkeitsbereich der Schutzpolizei an die neue Abteilung Strafvollzug des Präsidiums der Volkspolizei.829 Die Ostberliner Abteilung Strafvollzug aber verlor in der Folge kontinuierlich an Selbstständigkeit und unterlag immer stärker der Kontrolle durch die oberste Gefängnisverwaltung.830 2.6.4 Der 17. Juni 1953 in Brandenburg-Görden Die bislang angestaute Unzufriedenheit der Bevölkerung kulminierte im Juni 1953 in einer Welle offenen Protests. Beginnend in Ostberlin am 16. Juni legten in zahlreichen Orten der DDR etwa eine Million »Werktätige« die Arbeit nieder, et­wa eine halbe Million Bürger versammelten sich auf den Straßen und Plätzen. In ihren Resolutionen forderten sie die Rücknahme der erhöhten Arbeitsnormen, aber auch die Zulassung von Parteien und die Durchführung freier Wahlen. Am 17. Juni wurde daraus offener Widerstand: Die örtlichen Einrichtungen der SED so­wie Institutionen des staatlichen Herrschaftsapparat (wie Polizeidienststellen, Ge­richte und Staatsanwaltschaften) wurden vielfach belagert und mancherorts auch besetzt.831 Besonders die Haftanstalten des SED-Regimes zogen Proteste auf sich, weil die Bürger hinter den Gefängnismauern zu Recht Opfer politischer Re­pression vermuteten und diese teils zu befreien versuchten, mindestens aber vor den Gefängnistoren ihren Unmut artikulieren wollten. Dies hing insbesondere 827  Vgl. Mehner: Entwicklung des Straf- und Untersuchungshaftvollzugs, S. 91–98, hier 97. 828  Schreiben der U-Haft- und Vollzugsanstalt Berlin II an die Abteilung Strafvollzug vom 22.5.1954; BArch DO1 11/1604, Bl. 313. 829  Vgl. Mehner: Entwicklung des Straf- und Untersuchungshaftvollzugs, S. 91–98, hier 97. 830  Vgl. u. a. Schreiben des Leiters des SV an den Leiter der Abt. SV des Präsidiums der Volkspolizei [Berlin] vom 5.12.1953; BArch DO1 11/1585, Bl. 33. 831  Vgl. u. a. Diedrich, Torsten: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR. München 2003; Kowalczuk, Ilko-Sascha (unter Mitarbeit von Weber, Gudrun): 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen. Berlin 2003; Fricke, Karl Wilhelm; Engelmann, Roger: Der Tag »X« und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953 – Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 24). Berlin 2003; Koop, Volker: Der 17. Juni 1953. Legende und Wirklichkeit. Berlin 2003; Knabe, Hubertus: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand. München 2003; Roth, Heidi: Der 17. Juni 1953 in Sachsen. Mit einem einl. Kapitel von Karl Wilhelm Fricke. Köln 1999.

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da­mit zusammen, dass auf sowjetisches Geheiß hin das Politbüro der SED am 9. Juni die Entlassung von Opfern der wirtschaftlichen Umgestaltungspolitik, nicht aber der politischen Häftlinge im engeren Sinne angekündigt hatte. Dies hatte enorme Erwartungen der Bürger heraufbeschworen, denn fast jeder kannte je­manden, der zu Unrecht eingesperrt worden war. Dass die Haftentlassungen in der Praxis dann nur zögerlich erfolgten, bewog viele Menschen, durch Proteste »nach­zuhelfen«. In Brandenburg an der Havel wollten bereits am 12. Juni zweibis dreitausend Demonstranten den in der Untersuchungshaftanstalt in der Stein­ stra­ße inhaftierten Fuhrunternehmer August Taege auf freiem Fuß sehen.832 Auch die Haftanstalt Brandenburg-Görden musste mit solchen Protesten rechnen. Am 17. Juni wurde der Gefängnisleiter von dem morgendlichen Streik der Beschäftigten im nahegelegenen Stahl- und Walzwerk unterrichtet. Die dort zur Arbeit eingesetzten rund 450 Häftlinge bewahrten aber »volle Disziplin«, obwohl die Aufständischen sie aufforderten, sich ihnen anzuschließen. »Ein Mitdemonstrieren der Strafgef[angenen] hätte durch die schwachen Bewachungskräfte nicht verhindert werden können.« Stattdessen ließen sich die Häftlinge anstandslos auf Umwegen in die Haftanstalt zurückführen.833 Dass sie so wenig Neigung zu Rebellion verspürten, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass zur Arbeit außerhalb der Gefängnismauern vorzugsweise »politisch zuverlässige« und kriminelle Gefangene eingesetzt wurden. Am gleichen Tag verdichteten sich zudem die Hinweise, dass die Arbeiter mehrerer Brandenburger Industriebetriebe eine Demonstration vor den Toren von Brandenburg-Görden planten, um gezielt die politischen Gefangenen zu befreien. Sämtliche Betriebe auf dem Gelände der Haftanstalt wurden daraufhin geschlossen und die Insassen in ihre Zellen gesperrt. Die Gefängnisleitung ließ sämtliche Aufseher zusammenrufen – einschließlich derer, die gerade eben ihre Nachtschicht beendet hatten. Sämtliche verfügbaren Waffen wurden aus der Waffenkammer ausgegeben. »Den verantwortlichen Offizieren wurde der Befehl erteilt bei Versuch des gewaltsamen Eindringens in das Objekt, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind, Waffengewalt anzuwenden.« Feuerwehrschläuche wurden ausgelegt, um »Zusammenrottungen vor dem Tor mit Wasser zu bekämpfen«. Dann wurden zwei Aufseher in Zivil mit dem Fahrrad losgeschickt, um anrückende Demonstrationszüge rechtzeitig zu melden. So wurde um 15 Uhr bekannt, dass neun unbewaffnete Arbeiter (großteils aus dem Stahl- und Walzwerk) sich mit Fahrrädern auf den Weg nach Brandenburg-Görden gemacht hatten. Einige unter ihnen hatten bereits die innerstädtische Untersuchungshaftanstalt in der

832  Vgl. Wunschik: Befreiung der Gefangenen, S. 175–204. 833  Vgl. Anlage der StVA Brandenburg zum Quartalsbericht vom 4.7.1953; BArch DO1 11/1512, Bl. 66–68.

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Steinstraße erfolgreich gestürmt und fühlten sich entsprechend ermutigt.834 Eine gewaltsame Besetzung auch von Brandenburg-Görden war angesichts von Größe und Sicherung des Gefängnisses zwar aussichtslos, doch die Solidarität mit einem wegen politischer Meinungsäußerung verurteilten und in BrandenburgGörden inhaftierten Ex-Kollegen aus dem Walzwerk Kirchmöser trieb sie zu diesem Schritt. Unter dem Eindruck des ersehnten und scheinbar nahestehenden Umsturzes erklärten sie, dass mehrere Lastkraftwagen mit weiteren Demonstranten auf dem Weg zu der Haftanstalt seien, und sogar telefonisch forderten Bürger, »schnellstens die Gefangenen herauszugeben«.835 Eine eigens gebildete »Einsatzgruppe« von elf bewaffneten Volkspolizisten konnte die anrückenden Arbeiter festnehmen.836 Genauso erging es einer anderen Gruppe von Demonstranten, die zu Verhandlungen sogar erst in die Haftanstalt eingelassen worden war.837 Bei den Verhaftungen spielten offenbar die in Brandenburg-Görden eingesetzten hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit eine maßgebliche Rolle.838 Die Betroffenen wurden dann selbst vorübergehend in der Haftanstalt Brandenburg-Görden inhaftiert, aus der sie eigentlich andere politische Gefangene und politisch Verfolgte hatten befreien wollen. Weitere Ansammlungen von Demonstranten vor dem Haftarbeitslager Heidekrug wurden ebenfalls zerstreut. Dagegen sah sich die Haftanstalt außerstande, ihrerseits der SED-Kreisleitung zur Hilfe zu eilen, als deren Gebäude im Stadtzentrum von den aufgebrachten Bürgern gestürmt wurde.839 Für alle Eventualitäten gewappnet war die Gefängnisleitung, als gegen 17 Uhr drei Lastkraftwagen voller Kasernierter Volkspolizisten erschienen, um die Ruhe auch innerhalb der Gefängnismauern wiederherzustellen. »Die neuen KVP-Uniformen taten auch ihre Wirkung, denn sie lehnten sich an den Uniformschnitt und die Waffengattungsfarben der Sowjetarmee an«, was offenbar zu Verwechslungen bei den Häftlingen führte.840 Innerhalb der Gefängnismauern von Brandenburg-Görden war die Stimmung bis dahin angespannt, zumal das Gefängnis mit 3 269 Insassen zu diesem Zeitpunkt 834  Vgl. Wunschik: Befreiung der Gefangenen, S. 175–204; Schnell, Gabriele: »Freiheit wollten wir!« Der 17. Juni 1953 im Land Brandenburg. Berlin 2003, S. 62 f. 835  Vgl. Vernehmungsprotokoll [eines Beschäftigen des Walzwerkes] vom 19.6.1953; BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 313/53, Bl. 58 f. Siehe auch Bericht vom 18.6.1953; ebenda, Bl. 71. 836  Vgl. Anlage der StVA Brandenburg zum Quartalsbericht vom 4.7.1953; BArch DO1 11/1512, Bl. 66–68. Hingegen behaupten ehemalige Insassen, die Marschkolonnen seien mit Spruchbändern bis vor das Hauptportal der Haftanstalt gelangt. Vgl. Bericht des ehemaligen Insassen Reinhold Runde über die Ereignisse des 17. Juni 1953 vom 9.2.1983, 3 S. (im Besitz des Autors). 837  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 102. 838  Vgl. [Bericht des geflüchteten Aufsehers Horst Bock] über die Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden vom 28.7.1954; BArch B 285/201. 839  Vgl. Anlage der StVA Brandenburg zum Quartalsbericht vom 4.7.1953; BArch DO1 11/1512, Bl. 66–68. 840  Unabhängige Autorengemeinschaft »So habe ich das erlebt«: Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953. Schkeuditz 1999, S. 108.

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extrem hoch belegt war.841 Die Gerüchteküche »brodelte« seinerzeit heftig, denn kein Aufseher erläuterte den Insassen die politische Lage.842 So verbreitete etwa ein politischer Gefangener die Meldung, Kurt Maron sei in den Westen geflüchtet und Wilhelm Pieck nach Moskau bestellt worden. Auf die Verbreitung dieses Gerüchts hin wurde der Häftling noch am 17. Juni von Anstaltsleiter Marquardt mit Einzelhaft bestraft,843 da die Gefängnisleitung wohl Stärke demonstrieren wollte. Aus Furcht vor einem möglichen Umsturz agierten viele Aufseher aber bemerkenswert vorsichtig. So wurde auf einmal toleriert, wenn sich die Insassen verschiedener Zellen durch die Fenster miteinander verständigten, was sonst mit Arrest bestraft worden wäre. »Die größten Schläger [unter den Aufsehern] huschten lautlos und ängstlich durch die Korridore«,844 wie ein ehemaliger Insasse bezeugte. Etliche Aufseher nahmen sogar politische Häftlinge zur Seite und vergewisserten sich: »Wir haben Sie doch gut behandelt, oder?«845 In einigen Vollzugsabteilungen herrschte eine besonders aufrührerische Stimmung. So machte sich etwa in der Schneiderei, in der 150 vorwiegend politische Häftlinge arbeiteten, Unruhe breit. Einige Insassen hatten sich nämlich beim Arbeitseinsatz innerhalb des Anstaltsgeländes von »freien« Arbeitern, die ihrerseits die Sendungen des RIAS hörten, über die politische Lage in der DDR unterrichten lassen. Eine Gruppe von Häftlingen drohte am 20. Juni »mit Streik, wenn sie nicht Zigaretten bekommen würden«. Daraufhin wurden KVP-Soldaten eingesetzt, die zwölf Gefangene als »Rädelsführer« isolierten, und die Staatssicherheit übernahm die Ermittlungen.846 Die Forderung nach Tabakwaren sollte dem Erhalt des Suchtmittels dienen, war jedoch auch ein Indiz verschobener Machtverhältnisse in der Haftanstalt. Für eine politische Dimension des Vorfalls spricht ferner, dass die Staatssicherheit sich mit dem Streik befasste. Etwas dramatischer schilderte diese Begebenheit hingegen ein ehemaliger Insasse: Als am 17. Juni versehentlich keine Zigaretten ausgegeben worden seien, hätten einige jüngere Häftlinge umgehende Abhilfe gefordert. Die nervösen Aufseher lösten daraufhin Alarm aus, woraufhin Gefängnisleiter Heinz Marquardt, 30 Mann der KVP und »einige höhere SSD[Staatssicherheitsdienst]Offiziere« erschienen seien. Der verantwortliche Mitarbeiter der Geheimpolizei habe dann den »Befehl zum Vorgehen gegen die Häftlinge« erteilt. Marquardt habe 841  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 99. 842  So die Aussage des seinerzeitigen Insassen Max Pelke. Vgl. Märkische Allgemeine vom 24./25.5.2003, S. 15. 843  Vgl. Führungsbericht über den Strafgefangenen Georg Stupperich vom 17.6.1953; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 488/62, Bd. 3, Bl. 24 f. 844  Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 845  Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. 846  Vgl. Informationsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg zum II. Quartal 1953 vom 3.7.1953; BArch DO1 11/1468, Bl. 231–259.

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jedoch die Entschlossenheit der Insassen und die zahlenmäßige Unterlegenheit der Aufseher und Soldaten erkannt und daraufhin beide Seiten »beschwichtigt«.847 Den Augenzeugenberichten zufolge herrschte also innerhalb der Haftanstalt trotz der Soldaten wohl eine aufrührerische Stimmung, anders als den offiziellen Berichten zu entnehmen ist.848 Am 18. Juni trauten sich nur noch vereinzelt Bürger an die Haftanstalt heran und wurden, wenn sie kein Personaldokument mitführten, festgenommen. In der Nacht zum 19. Juni näherten sich dann »zwei junge Burschen«, die über eine genaue Skizze des Geländes verfügten. Sie wurden von sowjetischen Soldaten und einer hauseigenen Hundestreife festgenommen und »von den sowjetischen Freunden abtransportiert«. Ebenfalls Erkundigungen über die Haftanstalt wollte am 21. Juni ein ehemaliger Insasse einholen, der sich zu diesem Zweck an einen seiner ehemaligen Bewacher wandte, der als Justizangestellter zwischenzeitlich entlassen worden war. Der Angesprochene unterrichtete jedoch einen noch in Brandenburg-Görden tätigen Kollegen, woraufhin die Staatssicherheit den ehemaligen Insassen festnehmen und ihm angeblich Verbindungen zu »Westberliner Stellen« nachweisen konnte.849 Am gleichen Abend wandte sich Marquardt telefonisch an die Hauptabteilung Strafvollzug und erklärte, dass er »von höheren Dienststellen« unterrichtet worden sei, dass »für morgen eine neue Aktion größeren Ausmaß[es] geplant ist« und bat um Instruktionen.850 Dies zeugt vor allem von der anhaltenden Nervosität der Sicherheitsorgane auch nach der brutalen Niederschlagung des Volksaufstandes. Insgesamt wurden im Bezirk Potsdam 154 »Provokateure« verhaftet, darunter waren 123 Arbeiter, 17 Angestellte, vier Angehörige der Intelligenz, fünf Bauern und fünf Angehörige der Mittelschicht. Der überwiegende Teil von ihnen – nämlich 141 – war partei­los.851 An anderer Stelle ist sogar von 243 Inhaftierungen und weiteren 355 vorübergehenden Festnahmen im Bezirk die Rede.852 Besonders die Haftanstalten in den Bezirken Halle, Magdeburg und Dresden waren von den Demonstrationen betroffen. Insgesamt wurden 27 Haftorte gestürmt und etwa 1 440 Häftlinge befreit, von denen allerdings binnen 14 Tagen mindestens 90 Prozent wieder verhaftet wurden.853 Besonders dramatisch waren

847  Häftlingsbericht von Horst Wieczorek aus Brandenburg und Bautzen vom 31.8.1954; BArch B 289/VA 171/22–19/13. 848  Vgl. Unabhängige Autorengemeinschaft: Spurensicherung, S. 108. 849  Vgl. Anlage der StVA Brandenburg zum Quartalsbericht vom 4.7.1953; BArch DO1 11/1512, Bl. 66–68. 850  Vgl. BArch DO1 11/1512, Bl. 146. 851  Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung der faschistischen Provokation am 17. und 18.6.1953 im Bezirk Potsdam; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 530/487, Bl. 1–27. 852  Vgl. Koop: Der 17. Juni 1953, S. 173. 853  Vgl. Wunschik: Befreiung der Gefangenen, S. 175–204.

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die Ereignisse um die beiden Haftanstalten in Halle.854 In sechs Gefängnissen kam es zu »Meutereien bzw. Kundgebungen« der Häftlinge. »Die Verluste der Volkspolizei im SV in dieser Zeit belaufen sich auf 2 ermordete VP-Angehörige, 5 Schwerverletzte und 28 verletzte VP-Angehörige.«855 Die beiden Toten waren beim Sturm auf die Strafvollzugsanstalt Magdeburg-Sudenburg zu beklagen; auch ein Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes war dabei erschossen worden.856 Besonders massiver Widerstand wurde mithilfe der Kasernierten Volkspolizei gewaltsam gebrochen, die auch an der Niederschlagung der Proteste außerhalb der Haftanstalten die Hauptverantwortung trug: rund 16 000 ihrer Angehörigen kamen alleine am 22. Juni 1953 zum Einsatz.857 In der Folge des Aufstandes untersuchte die Staatssicherheit, wie in den meisten Orten, auch in Brandenburg die Geschehnisse.858 Insgesamt wurden hauptsächlich in den Tagen nach dem Volksaufstand, aber auch in späteren Verhaftungswellen zwischen 13 000 und 15 000 Aufständische durch Staatssicherheit, Volkspolizei und sowjetische Dienste festgenommen. Im Zusammenhang mit dem Volksaufstand ergingen dann etwa 1 800 Urteilssprüche durch ostdeutsche Gerichte sowie zusätzlich mehrere Hundert durch sowjetische Gerichte, während viele minder Belastete bereits nach wenigen Wochen freikamen.859 Mindestens 50 Demonstranten haben bei den Auseinandersetzungen, gerade auch beim Sturm auf die Haftanstalten, ihr Leben gelassen.860 Dass der Volksaufstand innerhalb der Haftanstalten nicht auf noch mehr Resonanz stieß, resultierte aus dem zeitlichen Zusammenfallen mit einer Welle vorzeitiger Haftentlassungen, was die Bereitschaft der Insassen zum Meutern stark konterkarierte. Denn durch den erwähnten Beschluss des Politbüros vom 9. Juni 1953 wurden in der DDR bis zum 20. Juli 1953 insgesamt 15 206 Personen vor der vollständigen Verbüßung ihrer Haftstrafe auf freien Fuß gesetzt.861 Weil 854  Vgl. Löhn, Hans-Peter: Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht des Volkes Wille! Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 22). Bremen 2003, S. 57–103. 855  Jahresbericht der Hauptabteilung Strafvollzug für das Jahr 1953 vom 15.2.1954; BArch DO1 11/1468, Bl. 106–122, hier 113. 856  Frühbericht der Hauptabteilung Strafvollzug vom 18.6.1953; BArch DO1 11/1512, Bl. 124. Siehe auch Engelmann: Tag »X«, S. 88–107. 857  Vgl. Marquardt, Bernhard: Menschenrechtsverletzungen durch die Deutsche Volkspolizei. In: Materialien der Enquete Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Hg. vom Deutschen Bundestag, Bd. 4. Baden-Baden 1995, S. 655–759, hier 689. 858  Vgl. Dienstanweisung 42/53 des Staatssekretariat für Staatssicherheit vom 8.12.1953; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 3018. 859  Vgl. Kowalczuk: 17. Juni 1953, S. 244–256. 860  Vgl. Ahrberg, Edda; Hertle, Hans-Hermann; Hollitzer, Tobias (Hg.): Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Münster 2004. 861  Vgl. Quartalsbericht der Hauptabteilung SV für das II. Quartal 1953 vom 4.8.1953; BArch DO1 11/1468, Bl. 266–276. Siehe auch Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 369.

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sich vermutlich alle Inhaftierten entsprechende Hoffnungen machten, wollten sie wohl nicht ihre Chancen durch Beteiligung an den Protesten verspielen. Ohne diesen Umstand wäre im Juni 1953 der Aufruhr in den Haftanstalten der DDR vermutlich heftiger ausgefallen.862 Die Zahl der vorzeitig Haftentlassenen überwog die erwähnte Zahl von Neuverurteilungen bei Weitem, was Ausdruck der justizpolitisch milderen Linie des am 9. Juni verkündeten »neuen Kurses« war. 2.6.5 Die Gefängnisleiter Marquardt und Schroetter Bald nach Übernahme von Brandenburg-Görden durch die Volkspolizei (siehe Kap. 2.6.2) wurde zum 1. September 1950 der Inspekteur der Volkspolizei, Heinz Marquardt, zunächst kommissarischer Leiter der Haftanstalt. Als langjähriges KPD-Mitglied war er angeblich bereits für den Nachrichtendienst der Partei aktiv gewesen. Im Jahre 1942 war er verhaftet worden und hatte die Haftanstalten Luckau, Moabit und Brandenburg-Görden von innen kennenlernen müssen.863 Der Partei treu ergeben war er zuletzt als Verantwortlicher der Untersuchungsorgane für die Waldheimer Prozesse eingesetzt worden864 und hatte dabei als »Scharfmacher« fungiert.865 Ihn nun als Leiter der Haftanstalt Brandenburg-Görden einzusetzen, ging offenbar auf eine Anweisung des Zentralkomitees der SED zurück – ebenso wie der Einsatz des ihn begleitenden Oberrats Erwin Budach, der hier als eine Art »Volontär« die Befähigung zur Leitung einer größeren Haftanstalt erwerben sollte.866 Anlässlich seiner Amtseinführung geißelte Marquardt noch einmal die angebliche politische Unzuverlässigkeit der bisherigen Justizverwaltung, deren Mitarbeiter »nicht die politische Reife besitzen und einsehen, dass sie einen harten Strafvollzug durchführen müssen«.867 862  Vgl. u. a. Stimmungsbericht der Abteilung SV der BDVP Suhl vom 30.6.1953; BArch DO1 11/1512, Bl. 87 f. 863  [Bericht des in den Westen geflüchteten ehemaligen Aufsehers Horst Bock] betr. Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden (Eigen-Fortsetzungsbericht) vom 3.8.1954, 116 S.; BArch B 289/SA 171/22–01/14. 864  Vgl. BArch DO1 11/1571. 865  Vgl. 3. Tätigkeits- und Erfahrungsbericht des U-Organs Waldheim vom 5.5.1950; Schreiben des Leiter des U-Organs Marquardt an die Abteilung Staatliche Verwaltung vom 13.7.1950; abgedruckt bei: Wendel, Eberhard: Ulbricht als Richter und Henker. Stalinistische Justiz im Parteiauftrag. Berlin 1996, S. 50 f. 866  Vgl. Arbeitsplan der Hauptabteilung HS für die Übernahme der Strafanstalten aus der Regie der Justiz vom 24.11.1950; BArch DO1 11/1479, Bl. 113–119. Budach wurde dann im Februar 1951 Leiter der Haftanstalt Coswig (vgl. Ahrberg: Zuchthaus Coswig, S. 60), am 6.7.1953 Leiter der von Aufständischen gestürmten Haftanstalt Halle II (vgl. LHASA, Abt. Mer., Rep. 19, BDVP Nr. 13). 867  Aussage von Heinz Marquardt bei Übernahme der Haftanstalt Brandenburg-Görden Ende 1950; zit. nach: Finn: Die politischen Häftlinge der Sowjetzone, S. 170. Finn wiederum zitiert: Bericht [eines ehemaligen Aufsehers] über meine Erlebnisse während meiner Tätigkeit im Zuchthaus Brandenburg vom 1.11.1949 bis 28.11.1950; BArch B 289/SA 171/22–119/1.

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Das Zentralkomitee wollte den als besonders fähig geltenden Marquardt von diesem Posten wieder zurückziehen, sobald ein qualifizierter Nachfolger bereitstünde. Zwar war auch er selbst »von sich aus bestrebt [...], dort möglichst schnell wieder abgelöst zu werden«, doch fand sich offenbar zunächst kein geeigneter Ersatz, als im November 1950 eine Neubesetzung erörtert wurde.868 Im Dezember 1951 war seine Versetzung nach Bautzen I geplant und ein Nach­ folger bereits namentlich benannt. Doch der Kandidat R. Stenzel869 wurde stattdessen aus nicht näher genannten Gründen mit der Leitung der Haftanstalt Luckau betraut. Die Häftlinge hatten ohnehin von Anfang an mit einer baldigen Ablösung Marquardts gerechnet – allerdings wegen Unfähigkeit.870 Auch das Ministerium des Innern beurteilte den »Gesamtzustand der Dienststelle« unter dem mit vielen Vorschusslorbeeren bedachten Marquardt mittlerweile als »negativ«.871 Die Parteiorganisation in der Haftanstalt habe »bisher nicht die führende Rolle gespielt«, dadurch begünstigt seien insbesondere die Offiziere bei Unbotmäßigkeiten nicht hart genug bestraft worden.872 Gerade Marquardts einsamer Führungsstil rief Kritik hervor: Regelmäßige Beratungen würden kaum durchgeführt und selbst bei außerdienstlichen Veranstaltungen würde sich die Gefängnisleitung abgrenzen.873 Hinzu kam noch, dass Marquardt familiäre Kontakte nach Westberlin unterhielt.874 Der Volksaufstand vom Juni 1953 kostete manchem Gefängnisleiter wegen mangelnder Standfestigkeit den Posten, doch Marquardt überstand ihn unversehrt. Er hatte im Angesicht einer drohenden Meuterei teils defensiv agiert, war aber nicht durch ernsthafte Versuche der Gefangenenbefreiung auf die Probe gestellt worden. Indes lastete man ihm verschiedene andere »Vorkommnisse« an.875 So wurden die insgesamt drei Desertionen von Aufsehern und die Entweichungen

868  Vgl. Arbeitsplan der Hauptabteilung HS für die Übernahme der Strafanstalten aus der Regie der Justiz vom 24.11.1950; BArch DO1 11/1479, Bl. 113–119. 869  Vgl. Vorschläge der Hauptabteilung für die Besetzung der bei den Landesbehörden der Volkspolizei zu bildenden Abteilungen Strafvollzug vom 19.12.1951; BArch DO1 11/1449, Bl. 1–3. 870  Vgl. Leiterbesprechung in der Strafanstalt Brandenburg vom 17.11.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 57. 871  Vgl. Bericht der Abteilung Kontrolle des Ministeriums des Innern über die Kontrolle der politischen, operativen und wirtschaftlichen Arbeit in der StVA Brandenburg-Görden vom 6.7.1956; BArch DO1 11/1488, Bl. 170–178. 872  Quartalsbericht III/54 der Polit-Abteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 21.10.1954; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, Bl. 282–297. 873  Vgl. Kontrollbericht der Hauptabteilung SV betr. Kontrolle der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 22.12.1953; BArch DO1 11/1485, Bl. 190–207. 874  Vgl. [Bericht des GI] »Otto« betr. VP-Insp[ekteur] vom 18.12.1953; BStU, MfS, AIM, Nr. 4400/59, Bd. 1, Bl. 24. 875  Vgl. Bericht der Abteilung Kontrolle des Ministeriums des Innern über die Kontrolle der politischen, operativen und wirtschaftlichen Arbeit in der StVA Brandenburg-Görden vom 6.7.1956; BArch DO1 11/1488, Bl. 170–178.

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von Gefangenen auf seine Leichtfertigkeit zurückgeführt.876 Auch mit einigen dienstlichen Bestimmungen (wie den Geheimhaltungsvorschriften) nahm er es wohl nicht so genau. Insbesondere die gemeinsame Flucht des Aufsehers Horst Bock mit dem Häftling Alfred Lauterbach in den Westen, die am 8. Juli 1954 erst nach sieben Stunden bemerkt worden war (siehe Kap. 3.4.6), wurde zum Grund für Marquardts Ablösung.877 Hinzu kamen noch einige persönliche Verfehlungen, wie »ein im Zimmer des Dienststellenleiters vorgefundener Schrank, gefüllt mit leeren Likörflaschen«, weswegen von Marquardt auf die »Verbesserung des politisch-moralischen Zustandes nicht genügend eingewirkt werden konnte«.878 Er wurde im Dienstgrad um eine Stufe herabgesetzt, seines Postens entbunden und als Leiter der Abteilung Strafvollzug der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei in Leipzig eingesetzt. Doch auch dort konnte er nicht reüssieren, die Kaderverwaltung befand am 21. August 1958, er sei »untragbar« für den weiteren Dienst und entpflichtete ihn aus den Reihen der Volkspolizei.879 Ab dem 1. September 1954 amtierte Robert Schroetter als Leiter der Haftanstalt Brandenburg-Görden. Er war im Jahre 1905 als eines von 14 Geschwistern geboren worden und konnte tatsächlich auf eine Herkunft aus der Arbeiterklasse verweisen. Denn bereits ab dem 15. Lebensjahr arbeitete in Bergwerken, weswegen er auch von einem Kriegseinsatz freigestellt worden war. Seit 1946 war er Offizier der Deutschen Volkspolizei und galt als »treu ergeben« gegenüber der SED bzw. KPD, der er seit 1945 angehörte.880 Zuletzt hatte er als Leiter der wesentlich kleineren Strafvollzugsanstalt Zwickau fungiert, bevor er nach BrandenburgGörden versetzt wurde. Seine neuen Untergebenen wünschten sich von ihm vor allem mehr Bereitschaft zur Kooperation. »Es ist erforderlich, dass die neue Leitung mehr Fühlung mit den Genossen sucht«, wie ein Aufseher befand.881 So hielt sich auch Schroetter nicht lange auf diesem Posten.

876  Vgl. BArch DO1 11/1513, Bl. 342. 877  Vgl. Bericht des GI »Otto« über die VA Brandenburg o. D. [7/1954]; BStU, MfS, AIM, Nr. 4400/59, Bd. 1, Bl. 42–44; [Bericht des Aufsehers] Theodor Sziegaud betr. SVA BrandenburgGoerden vom 2.9.1954; BArch B 289/VA 171/22–19/21. 878  Monatliche Berichterstattung der Polit-Abteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an die Polit-Verwaltung der HVDVP vom 2.10.1954; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, Bl. 279–281. 879  Vgl. BArch DO1 26.0/18079. 880  Auszug aus der Kaderakte Schroetter, Robert o. D. [1966]; BStU, MfS, BV Karl-MarxStadt, AOG, Nr. 379/75, Bl. 15. Nach seiner Pensionierung stellte er denn auch seine Wohnung als Treffquartier für die Arbeitsrichtung I des Volkspolizeikreisamtes Zwickau zur Verfügung. 881  [Bericht des GI] »Meier« vom 15.11.1954; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 321/62, Bd. 2, Bl. 26–28.

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Abb. 6: Lageplan von Brandenburg-Görden, 1959; BArch B 137/1809

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2.6.6 Der Amtsantritt von Gefängnisleiter Ackermann (1958) Mit Wirkung vom 1. Oktober 1958 an wurde Fritz Ackermann Leiter der Haftanstalt Brandenburg-Görden.882 Im Jahre 1921 war er als Sohn eines Maurers im Kreis Sangerhausen geboren worden und als Zehnjähriger den Roten Falken beigetreten. Von 1935 bis 1939 machte er eine Lehre in der Maschinenfabrik Sangerhausen – und nahm nicht am Spanischen Bürgerkrieg teil, wie später einige Häftlinge glaubten.883 Bald nach Erreichen der Volljährigkeit zur Wehrmacht eingezogen, war er in Frankreich und in der Sowjetunion im Kriegseinsatz und geriet kurz vor der Kapitulation Deutschlands in die Hände der Roten Armee. Nach Besuch der Antifa-Schule, wo er als Instrukteur seiner Mitinsassen ausgezeichnet wurde, entließ man ihn am 1. August 1948 aus der Gefangenschaft. Wenige Tage später war er wohl aus Überzeugung Mitglied der SED geworden und war im Januar 1949 in die Reihen der Volkspolizei eingetreten. Nach kurzer Tätigkeit als Stellvertreter Politkultur in der Haftanstalt Torgau wurde er in die Haftanstalt Waldheim versetzt. Als Leiter des dortigen Arbeitseinsatzes wurde ihm von ehemaligen Insassen bescheinigt, er habe »durch Amnestieversprechungen einerseits und Kostentziehung bzw. -herabsetzung auf brutale Art das Äußerste an Arbeitskraft aus den Gefangenen herausgeholt«.884 Ackermann soll angeblich auch an der Hinrichtung von 24 Häftlingen unmittelbar mitgewirkt haben, die in den berüchtigten Waldheimer Prozessen zum Tode verurteilt worden waren.885 Offenbar wurden seine rauen Methoden von höchster Seite geschätzt, denn bereits im September 1951 wurde er zum Leiter der Strafvollzugsanstalt Cottbus befördert.886 Schon zu diesem Zeitpunkt wurde Ackermann nachgesagt, er behandle selbst die ihm unterstellten Volkspolizisten sehr rau und bestrafe diese schon »bei den kleinsten Vergehen« mit bis zu zwölf Tagen Arrest. Diejenigen Aufseher, die er 882  Vgl. BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/264. 883  Vgl. u. a. Vernehmung [des ehemaligen Häftlings Manfred Tschiersch] durch die bayerische Grenzpolizei von September 1959 (mit Lageplan), 8 S.; BArch B 137/1809. 884  [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Zuchthaus Waldheim vom 1.10.1951; BArch B 289/SA 390/22–19/2. 885  Abschrift eines Berichtes des GI »Hermann« aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 8.1.1954; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 145; Abschrift eines Berichtes des GI »Hermann« aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 21.12.1953; ebenda, Bl. 146. In den Spitzelberichten ist davon die Rede, dass die Hinrichtungen in Cottbus stattgefunden hätten. Nach Lage der Dinge ist jedoch davon auszugehen, dass die Hinrichtung der 24 Todeskandidaten am 4. November 1950 in Waldheim gemeint war, da es in der DDR keine andere Massenvollstreckung von Todesurteilen gab. Vgl. Werkentin, Falco: Die politische Instrumentalisierung der Todesstrafe in der SBZ/DDR. In: Materialien der Enquete Kommission »Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozeß der deutschen Einheit« (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Hg. vom Deutschen Bundestag, Bd. II/1. Baden-Baden 1999, S. 101–192. 886  Lebenslauf von Fritz Ackermann vom 14.5.1954; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 75.

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für illoyal hielt, stellte er bloß oder drängte sie aus dem Dienst. Doch vor allem die Häftlinge hatten von Ackermann nichts Gutes zu erwarten. Sie wurden seinerzeit im DDR-Strafvollzug häufiger misshandelt (siehe Kap. 3.3.8), doch ein Vorfall im September 1951 ist kennzeichnend für die Haltung Ackermanns. So habe der Gefängnisleiter, wie es in einem anonymen Brief hieß, Häftlingen persönlich ins Gesicht geschlagen und sie mit Gummiknüppeln verprügeln lassen.887 Die Generalstaatsanwaltschaft untersuchte daraufhin die erhobenen Vorwürfe und befragte einen ehemaligen Kalfaktor als Zeugen. Dieser bestätigte, dass sich zwei Gefangene im Kohlenkeller versteckt hätten, um bei entsprechender Gelegenheit flüchten zu können. Nachdem sie entdeckt wurden, versuchten sie wegzulaufen, wurden jedoch im Gefängnishof eingeholt und »mit Koppel und Gummiknüppel« geschlagen. Die Prügeleien setzten sich bis in die Kellerräume des Zellenhauses fort, wie der Zeuge hören konnte. Andere Gefangene hätten ihm dann berichtet, dass die Häftlinge »schwer misshandelt« und bis zur Bewusstlosigkeit »blutig geschlagen« worden seien.888 Die beiden Betroffenen selbst bestätigten bei einer Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft ebenfalls im Wesentlichen die Darstellung. Sie seien »nicht schnell genug« aus ihrem Versteck hervorgekommen, weswegen die Aufseher »mit Schlägen geholfen« hätten – eine verräterische Argumentation und Formulierung, weil die noch Inhaftierten wohl Repressalien fürchteten. Indizien für die Richtigkeit der Vorwürfe waren auch, dass einer der beiden Häftlinge eine sichtbare Narbe an der Stirn davongetragen und der andere einen Zahn verloren hatte.889 Ackermann wurde nun von der Hauptabteilung Strafvollzug zu einer Stellungnahme aufgefordert. Dieser redete sich aber heraus und erklärte, den Gebrauch der Gummiknüppel habe er unmittelbar nach dem Vorfall vorschrifts­ mäßig an die oberste Gefängnisleitung gemeldet. Im Übrigen kenne er den Verfasser der anonymen Eingabe – es handle sich um einen ehemaligen Auf­ seher, der »feige und hinterlistig« sei. Schon als dieser noch in Cottbus beschäftigt gewesen sei, habe er ihm einmal ins Gesicht gesagt, er sei wohl »von Kautsky oder den Theorien von Kautsky erzogen worden«. Er, Ackermann, sei dagegen »durch Stalin und die Stalinsche Theorie erzogen worden«, wie er sich in der politischen

887  Vgl. Anonymer Brief an den Chef der DVP 15.5.1952; BArch DO1 11/1481, Bl. 219. 888  Protokoll der Vernehmung eines ehemaligen Häftlings durch die Landgerichtspräsidentin in Eberswalde Magiera vom 19.5.1952; ebenda, Bl. 226 f. 889  Kontrollbericht der Vollzugsabteilung der Hauptabteilung SV vom 16.6.1952; ebenda, Bl. 229–232. In dem anonymen Schreiben war weiterhin die Rede davon, dass ein anderer Häftling nach einem »Tobsuchtsanfall« in die Arrestzelle geschafft worden sei. Als er keine Ruhe gegeben habe und das Mobiliar zertrümmerte, hätten ihn die Aufseher »gewaltsam ausgezogen, geschlagen und mitem Wasser aus einem C-Rohr solange bearbeitet, bis er ruhig wurde«. Protokoll der Vernehmung eines ehemaligen Häftlings durch die Landgerichtspräsidentin in Eberswalde Magiera vom 19.5.1952; ebenda, Bl. 226 f.

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Atmosphäre jener Zeit gerne brüstete.890Die oberste Gefängnisverwaltung kam schließlich zu dem Ergebnis, dass die Aufseher »ziemlich erregt waren und wahrscheinlich auch mehr von den Gummiknüppeln Gebrauch machten, als es unbedingt notwendig war«. Die »demokratische Gesetzlichkeit« sei deswegen aber nicht verletzt worden – eine groteske Argumentation angesichts der schweren Körperverletzung, der sich die Aufseher erwiesenermaßen schuldig gemacht hatten. Bei dem Kontrolleinsatz kam zugleich ans Tageslicht, dass ein anderer Häftling nach Auffassung des behandelnden Arztes möglicherweise durch »Stoßen oder Schlagen auf den Kopf« an Gehirnhautentzündung erkrankt und gestorben war. »Meiner Ansicht nach«, so resümierte der Untersuchungsführende jedoch, »sind die Anschuldigungen zu Unrecht [erhoben worden] und bezwecken, durch eine systematische Diskriminierung die Dienstfreudigkeit der Leitung der Strafvollzugsanstalt zu zersetzen«. Der anonyme Briefeschreiber sei »vom Sozialdemokratismus durchdrungen«, womit sich die oberste Gefängnisverwaltung die Argumentation Ackermanns zu Eigen machte.891 Der Leiter der Verwaltung Strafvollzug, August Mayer, vermerkte abschließend zu Ackermanns Entlastung, seit dessen Amtsantritt sei in Cottbus eine »tatsächliche Verbesserung des politischideologischen und fachlichen Niveaus der VP-Angehörigen zu verzeichnen«,892 was allemal wichtiger war als eine menschenwürdige Behandlung der Insassen. Anfang Dezember 1952 wurde Ackermann dann Leiter der Haftanstalt BützowDreibergen – möglicherweise eine Art Strafversetzung, doch geht dies aus den überlieferten Akten nicht mit Gewissheit hervor. Auch auf seinem neuen Posten sicherte sich Ackermann die Loyalität seiner Untergebenen, in dem er nicht willfährige Kräfte »wegmobbte« – ein immer wiederkehrendes Muster seiner Dienstpraxis.893 Ackermann äußerte auch ganz offen nach seiner Amtsübernahme, »dass er hier Ordnung schaffen würde und wenn nicht anders, dann mit den brutalsten Mitteln. [...] Wem es hier nicht passe, der könne sich gleich seine Entpflichtung holen.« Der neue Gefängnisleiter suchte nicht die Kooperation mit seinen Untergebenen, sondern meinte, »er müsse alles selbst überwachen«. Seine Abteilungsleiter hielt er »für unfähig, die Korrespondenzen« zu erledigen und ließ sich deswegen alle Schriftstücke vorlegen. »Hält sich der Oberrat A. für so befähigt, dass er die ganze Anstalt allein ohne Mitarbeiter leiten kann?«,894 890  Schreiben des Leiters der Strafvollzugsanstalt Cottbus an den Chef der DVP Maron vom 28.5.1952; ebenda, Bl. 220–223. 891  Kontrollbericht der Vollzugsabteilung der Hauptabteilung SV vom 16.6.1952; ebenda, Bl. 229–232. 892  Vgl. Abschlussbericht der HA SV über die Überprüfung der Strafvollzugsanstalt Cottbus vom 24.6.1952; ebenda, Bl. 218. 893  Zwischenbericht [der Operativgruppe des MfS in der Strafvollzugsanstalt BützowDreibergen] vom 9.3.1953 und 20.3.1953; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 2 f. u.103. 894  Bericht des IM »Herbert« aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 7.3.1953; ebenda, Bl. 101.

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notierte ein Aufseher, der zugleich Zuträger der Staatssicherheit war. Tatsächlich ließen sich wegen seiner strengen Führung binnen drei Monaten 37 Aufseher entpflichten und 27 weitere versetzen.895 Bezeichnend war auch die Behandlung einer Mitarbeiterin der Geschäftsstelle, die im Oktober 1953 auf Anweisung der Hauptabteilung Strafvollzug kurzfristig ein umfangreiches Schriftstück anfertigen sollte. Ihre umgehend vorgetragene Bitte, dass eine weitere Schreibkraft sie unterstützen möge, lehnte Ackermann ab. Als der Abgabetermin nahte, die Arbeit aber noch nicht erledigt war, ersuchte sie die Hauptabteilung Strafvollzug um Fristverlängerung, was ihr auch genehmigt wurde. Ackermann fragte die Mitarbeiterin am Abend des ursprünglich festgesetzten Termins dann, ob sie ihre Schreibarbeiten termingerecht beenden werde. Sie verneinte dies, kam aber nicht mehr dazu, die Terminverlängerung zu erwähnen. »Auf die Antwort ›Nein‹ hat der VP-Oberrat sie fertiggemacht, sodass sie nicht mehr zu Wort kam. Danach wurde die Genn. V. auf Veranlassung des Gen. A.«, der offenbar um den guten Ruf seiner Dienststelle fürchtete, »mit sämtlichen Unterlagen zu dieser VVS[Vertrauliche Verschluss]-Sache im Zellenbau mit 9 männlichen Strafgefangenen eingeschlossen und hat diese Nacht allein als Frau mit 9 Strafgefangenen die VVS-Sache bearbeitet. Am nächsten Tage wurde sie dann von dem Gen. A. mit 5 Tagen Arrest bestraft.«896 Kein Wunder, dass ein Häftling die Meinung vertrat, die Aufseher würden »vom Oberrat [auch] nicht besser behandelt wie wir«.897 Ein Aufseher notierte, die Stimmung richte sich deswegen immer mehr gegen den Gefängnisleiter.898 Die Frau des Politstellvertreters bezeichnete ihn gar als einen »Diktator« mit einem »ganz schlechten Charakter«. Er würde alle Mitarbeiter vergraulen, die »etwas intelligent sind und ihm gefährlich werden« konnten.899 Der ungeliebte Anstaltsleiter galt als »leicht erregbar«, trat dann »sehr gemein und aggressiv« auf 900 und verwendete russische Schimpfwörter.901 Ein Hauptwachtmeister äußerte deswegen auch Ende 895  Zwischenbericht [der Operativgruppe des MfS in der Strafvollzugsanstalt BützowDreibergen] vom 9.3.1953 und 20.3.1953; ebenda, Bl. 2 f. u. 103. 896  Bericht des GI »v. Butter« aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 26.10.1953; ebenda, Bl. 135. 897  Bericht des GI »Fritz Schulz« aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 17.6.1954; ebenda, Bl. 142. Auch 15 Jahre später war in Brandenburg-Görden ein Aufseher »der Meinung […], dass in der StVA erst der Leiter kommt, dann die Strafgefangenen und anschließend wir«. Information des GHI »Heinz« vom 19.3.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, T. II, Bd. 1, Bl. 262. 898  Bericht [eines IM des MfS aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom 26.7.1954; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 23–25. 899  Bericht des GI »Blumentopf« aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 12.3.1954; ebenda, Bl. 138. 900  Beurteilung des VP-Oberrat Ackermann, Fritz durch den GI »Fritz Schulz« der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 24.12.1954; ebenda, Bl. 169 f. 901  Zwischenbericht [der Operativgruppe des MfS in der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom 31.3.1953; ebenda, Bl. 111 f.

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1956 kurz und bündig: »Überall wird der Stalinismus beseitigt, nur in unserer Dienststelle nicht!«902 Gegenüber den Häftlingen sprach Ackermann auch in Bützow-Dreibergen härteste Disziplinarstrafen aus.903 So ließ er beispielsweise zur Bestrafung sämtlichen Insassen der Krankenstation das Kopfhaar kahl scheren904 und beteiligte sich an Misshandlungen von Häftlingen905 bzw. duldete sie in seiner Anwesenheit906. Ackermann, so bestätigte ein weiterer Gefangener, habe »bei Beschwerden gegen Misshandlungen des Wachpersonals nie eingegriffen, sondern sich sogar selbst beteiligt«.907 Einem anderen Insassen indes wurden unter Ackermanns Leitung besondere Vergünstigungen zuteil. So musste der schon erwähnte vormalige Leiter der Hauptabteilung Strafvollzug, Karl Gertich, seine siebenjährige Zuchthausstrafe in Einzelhaft teilweise in Bützow-Dreibergen absitzen. Da Ackermann und Gertich sich aber von früher kannten, wurde Gertich deutlich besser behandelt als andere Insassen. So überbrachte ihm der Gefängnisleiter nun persönlich die weit über dem zulässigen Gewicht liegenden Pakete seiner Ehefrau und empfing sie vor dem Besuch ihres Gatten persönlich. Da dies auch dem neuen Chef der Gefängnisverwaltung Mayer zu Ohren kam, wurde Ackermann für sein Vorgehen gerügt.908 Fritz Ackermann rühmte sich auch gerne selbst, dass er der »strengste Anstaltsleiter in der DDR wäre«.909 Und als solcher schien er gerade für die Häftlinge in Brandenburg-Görden, die besonders rigorosen Haftbedingungen unterliegen sollten (siehe Kap. 2.3.1), genau der Richtige zu sein. Da Ackermann zudem das Arbeitsklima in Bützow-Dreibergen vergiftet hatte und mit dem 902  Bericht eines GI aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 30.11.1956; ebenda, Bl. 162. 903  So soll er einen Häftling wegen Rauchens außerhalb der dafür vorgesehenen Zeit mit 21 Tagen Arrest bestraft haben. Ein anderer Insasse, der sich während des »Sprechers« gegenüber seiner Mutter über das schlechte Essen beschwerte, erhielt wegen »Verbreitung tendenziöser Gerüchte« acht Monate Isolationshaft. Vgl. Hildebrandt, Rainer: So geht es in Bötzow[sic!]Dreibergen zu. In: Der Tagesspiegel vom 14.12.1955, S. 3. Siehe auch Kaven, Ewald: »Denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei«. In: ders. u. a. (Hg.): »Denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei«. DDR-Strafvollzug in Bützow-Dreibergen. Essen 2004, S. 23–140, hier 80 u. 99. 904  Vgl. [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betrifft Misshandlungen in der StVA Bützow-Dreibergen durch den Anstaltsleiter vom 2.7.1956; BArch B 289/SA 225/22–30/18. 905  So soll Ackermann einen Häftling nach einem Suizidversuch »so lange geschlagen [haben] bis er zusammenbrach«, wie der Betroffene später im Westen berichtete. [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betrifft Misshandlungen in der StVA Bützow-Dreibergen durch den Anstaltsleiter vom 7.4.1955; BArch B 289/SA 225/22–30/11. 906  [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betrifft Misshandlungen in der StVA Bützow-Dreibergen vom 17.3.1955; BArch B 289/SA 225/22–30/10. 907  Vernehmungsprotokoll mit dem Gefangenen [...] vom 17.10.1953; BStU, MfS, SdM, Nr. 1908, Bd. 1, Bl. 26 f. 908  Bericht der Kreisverwaltung Bützow des Ministeriums für Staatssicherheit vom 6.3.1953; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 98. 909  Stimmungsbericht des GI »Ilse Wenzel« [aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom 1.8.1953; ebenda, Bl. 118.

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zuständigen MfS-Mitarbeiter dauernd im Clinch lag (siehe Kap. 5.3.2), wurde er am 1. Oktober 1958 nach Brandenburg-Görden versetzt.910 Dass ihm seit seiner Leitungstätigkeit in Cottbus Vorwürfe wegen Gefangenenmisshandlung anhingen, tat seiner Karriere jedenfalls keinen Abbruch, zumal er die Arbeitskraft der Gefangenen bestmöglichst auszubeuten verstand.911 Ackermanns Führungsstil änderte sich in Brandenburg-Görden nicht: Zunächst kritisierte er das bislang herrschende Arbeitsklima um sich den gewünschten Respekt bei seinen Untergebenen zu verschaffen. Die Offiziere würden die Befehle nicht einhalten und es herrsche »Kumpelhaftigkeit« sogar gegenüber den Wachtmeistern. Die Rolle des Gefängnisleiters sei jahrelang verwischt worden, »was seine Folgen nach sich gezogen hat. Damit muss endgültig gebrochen werden«, weil Ackermann selbst über alle Belange entscheiden wollte. »Jeder Offizier wird unter ein sehr kritisches Auge genommen und wir werden in Zukunft nicht das Geringste mehr durchgehen lassen.«912 Besonders die älteren Aufseher waren hiervon nicht angetan, versuchten offenbar, Ackermanns Anweisungen zu unterlaufen und beeinflussten wohl auch ihre jüngeren Kollegen in diesem Sinn – wie Ackermann scharf kritisierte.913 Leitungskader, die sich zu seinem autokratischen Führungsstil äußerten, erhielten einen Vermerk in die Kaderakte, sie würden gegen den Gefängnisleiter »intrigieren«.914 Unter seiner Führung, so Ackermann, werde ein anderer Wind in der Haftanstalt wehen, und etwaige Entpflichtungswünsche würden genau geprüft.915 Um zusätzliche Punkte zu sammeln bemängelte er, dass zuletzt die Sicherheit der Haftanstalt zugunsten der Produktion vernachlässigt worden sei – doch nahm er es selbst damit nicht so genau.916 Ganze drei Monate im Amt, wurde Ackermann nach Potsdam zitiert, wo ihm neben August Mayer, Chef der ostdeutschen Gefängnisverwaltung, Heinz Münchow, seit 1955 Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam, und der Leiter der vorgesetzten Bezirksverwaltung für Strafvollzug in Potsdam,

910  Vgl. Protokoll der BDVP Potsdam über die Besprechung in der BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 178–187. 911  Vgl. Telegraf vom 14.12.1958; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 488/62, Bd. 1, Bl. 144. 912  Protokoll der Offiziersversammlung in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 29.5.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 111. 913  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344. 914  Bericht von »Jonas« zur Leitungstätigkeit des Gen. Ackermann von 1964; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 141–143. 915  Plan der Hauptaufgaben für das 1. Halbjahr der StVA Brandenburg vom 14.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 46–54. 916  Vgl. Protokoll über die Besprechung mit dem Leiter der VSV Generalmajor Mayer in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 12.2.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 97.

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Walter Loll, eine Abreibung verpassten.917 Mayer verwies auf die wachsende Zahl von Disziplinarfällen in Brandenburg-Görden und verlangte am Quartalsende eine gründliche Überprüfung. »Sie müssen lernen richtig zu analysieren«, beschied er dem Gefängnisleiter oberlehrerhaft. Es müsse häufiger kontrolliert werden und auch kleinere Vergehen seien »radikal auszumerzen«.918 Ackermann fälle einsame Entscheidungen, führe keine kollektiven Beratungen durch und ordne sich der Abteilung Strafvollzug nicht unter. Er sei zu impulsiv und gebe »Anweisungen, ohne diese richtig zu durchdenken«. Einen Kraftfahrer, der ein Jahr Fahrverbot wegen Schwarzfahrten hatte, habe er eigenmächtig wieder als Fahrer eingesetzt und damit die Autorität dessen unmittelbaren Vorgesetzten untergraben, der das Fahrverbot veranlasst hatte. Dem Instrukteur einer vorgesetzten Dienststelle, der die Produktion in der Haftanstalt untersuchen wollte, habe Ackermann gesagt, er solle ein Jahr später wiederkommen, da sei alles fertig.919 Zu einem Bauvorhaben habe der Anstaltsleiter eigenmächtig Steine und anderes Material anfahren lassen und sich von den Burger Bekleidungswerken 35 000 Mark vorab erbeten, um eine nicht genehmigte Produktionshalle finanzieren zu können.920 »Man muss sich immer wieder fragen, woher der Genosse Major Ackermann so viel Mut oder Unvernunft nimmt«, lautete das wenig schmeichelhafte Fazit seiner Vorgesetzten. Auch den Häftlingen gegenüber trete er zu streng auf, wenn er etwa zur Bestrafung den Kahlschnitt des Kopfhaares anordne (siehe Kap. 3.2.4); dies sei nach der Disziplinarordnung unzulässig. Außerdem sei bei einer kompletten Auswechselung der Küchenkalfaktoren nicht beachtet worden, dass dort anschließend viele politische Gefangene zusammenkommen konnten, was vom Sicherheitsaspekt her stets als heikel galt.921 Angesichts der Missstände brauche man sich »nicht zu wundern, wenn in der Westpresse über die Zustände in der StVA berichtet wird«. Ackermann empfände entsprechende Schlagzeilen offensichtlich als Auszeichnung, doch sei es »politisch« ein Fehler, wenn man durch überzogene Härte für eine schlechte Presse sorge. Letztlich würde er selbstherrlich über das Gefängnis verfügen. »Man hat den Eindruck, dass es eine Haftanstalt ›Ackermann‹ und nicht eine Haftanstalt Brandenburg 917  Protokoll der BDVP Potsdam über Besprechung in BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 178–187. 918  Protokoll über die Besprechung mit dem Leiter der VSV Generalmajor Mayer in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 12.2.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 97. 919  Protokoll der BDVP Potsdam über die Besprechung in der BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 178–187. 920  Bericht der KD Brandenburg über die Zusammenarbeit des Mitarbeiters des MfS mit dem Anstaltsleiter vom 31.12.1958; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 31–36. 921  Protokoll der BDVP Potsdam über die Besprechung in der BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 178–187. Die Einschätzung der Situation in der Gefangenenküche war durchaus zutreffend. Vgl. u. a. Bericht des GI »Schwantes« vom 14.1.1959; BStU, MfS, AIM, Nr. 87/62, Bd. 2, Bl. 151.

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gibt. [...] Gen. Ackermann darf das alles nicht so auffassen, dass wir gegen ihn persönlich etwas haben, aber es muss doch endlich eine grundlegende Änderung im Arbeitsstil eintreten.« Denn werde Ackermann auf Fehler hingewiesen, zeige er sich uneinsichtig und drohe damit, seinen Dienst zu quittieren oder sich seiner Kontakte zum Zentralkomitee der SED zu bedienen.922 Tatsächlich hatte Ackermann, vermutlich weil sich die Kritik abzeichnete, zwei Tage vor der Sitzung in Potsdam den für Sicherheitsfragen zuständigen Sekretär des Zentralkomitees, Erich Honecker, schriftlich um Versetzung gebeten.923 In seiner Erwiderung versuchte Ackermann, nun die erhobenen Vorwürfe herunterzuspielen. Dass er dem Instrukteur geantwortet habe, er solle in einem Jahr wiederkommen, sei zwar richtig, doch habe er das nicht ernst gemeint. Möglicherweise sei er verschiedentlich zu scharf vorgegangen (wie beim Anordnen des Kahlschnitts), doch sei es nur seine Absicht gewesen, vorgefundene Missstände binnen kürzester Zeit zu beseitigen. Seine Untergebenen habe er dabei nicht schikanieren wollen. Ackermann gab zwar zu, dass er es versäumt habe, eine Genehmigung für das Bauvorhaben einzuholen. Jedoch habe das Stadtbauamt für einige Ziegelsteine keine Verwendung gehabt, woraufhin er das Baumaterial habe herschaffen lassen. Dennoch werde diese Angelegenheit eine disziplinarische Bestrafung nach sich ziehen, so Mayer, »wobei man noch froh sein kann, dass diese Sache nicht durch die Kriminalpolizei untersucht wird«.924 Fünf Wochen später wurde Ackermann dann vom Leiter der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei mit einer Verwarnung bestraft und in einer Besprechung mit den leitenden Offizieren der Haftanstalt von Mayer vor versammelter Mannschaft kritisiert. Die Baumaßnahmen seien »gesetzeswidrig« gewesen, weswegen das Baumaterial jetzt abgezogen werde; Ackermann solle sich mit den von ihm »verletzten Gesetzen vertraut machen«.925 Auch Loll bekräftigte später gegenüber den Leitern anderer Haftanstalten, der Chef von BrandenburgGörden sei »baumäßig bestraft worden und nicht, weil er politisch-moralisch nicht richtig gearbeitet hat«.926 Die außerplanmäßige Verwendung von Ziegelsteinen wog offenkundig schwerer als sein Fehlverhalten gegenüber Häftlingen und Untergebenen. 922  Protokoll der BDVP Potsdam über die Besprechung in der BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 178–187. 923  Vgl. Bericht der KD Brandenburg über die Zusammenarbeit des Mitarbeiters des MfS mit dem Anstaltsleiter vom 31.12.1958; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 31–36. 924  Protokoll der BDVP Potsdam über die Besprechung in der BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 178–187. 925  Protokoll über die Besprechung mit dem Leiter der VSV Generalmajor Mayer in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 12.2.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 97. 926  Vgl. Protokoll des Sekretariats der BDVP Potsdam der Dienststellenleiter- und Abtei­ lungsleitertagung am 14.2.1959 vom 16.2.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 215–224.

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Vor diesem Hintergrund führte die SED-Bezirksleitung im Juni 1959 einen Instrukteurseinsatz in Brandenburg-Görden durch, was Ackermann auch zur Abrechnung mit dem Parteisekretär der Haftanstalt Heinz Pabst nutzte (siehe Kap. 2.2.4). Die Instrukteursbrigade bemängelt unter anderem, dass die »politischen Ursachen« klammheimlicher Sabotage beim Arbeitseinsatz der Gefangenen nicht erkannt worden seien.927 Dies wollte Ackermann keinesfalls auf sich sitzen lassen und konnte wenige Wochen später berichten, dass die Ausschussquote nunmehr rückläufig sei.928 Und während sein Vorgänger Schroetter noch Ende 1957 angewiesen hatte, unter Wahrung der Einzelhaft auch »Spione« und »Saboteure« zur Arbeit einzusetzen,929 ließ Ackermann nun die politischen Gefangenen von den Brigadiersposten umgehend ablösen. Fortan sollten die Kalfaktoren häufiger ersetzt werden,930 damit sich die politischen Häftlinge nicht in wichtigen Funktionen festsetzen konnten. Die Ablösung der politischen Gefangenen von wichtigen Positionen sollte bis April 1960 abgeschlossen sein,931 doch auch gegen Ende des Folgejahres leitete noch ein Spion die Kulturgruppe.932 Der eigentliche Hintergrund dieser Vorsichtsmaßnahmen war jedoch, dass Anfang 1959 eine illegale »Widerstandsgruppe« von politischen Gefangenen bekannt geworden war, die es jetzt zu zerschlagen galt (siehe Kap. 5.5.2.4). Schon im Sommer 1959 geriet Brandenburg-Görden erneut in die Kritik, weil mehrere Offiziere nach übermäßigem Alkoholkonsum und anderen moralischen Vergehen entlassen oder degradiert werden mussten. Die Disziplinarmaßnahmen wurden aus erzieherischen Gründen im gesamten Organ Strafvollzug bekannt gegeben. Hinter der rigiden Bestrafung stand vermutlich Ackermann, der wohl weiterhin eine Aussonderung unzuverlässiger Mitarbeiter betrieb. Die Leitung des Innenministeriums lastete die aufgedeckten Missstände jedenfalls nicht Ackermann, sondern seinen Vorgängern an.933 Da sich sein autokratischer 927  Bericht [einer Brigade der SED-Bezirksleitung] über den Einsatz in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 25.6.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 103–117. 928  BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344. 929  Jahresperspektivplan des Referates Vollzug der BVSV Potsdam vom 28.12.1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/115, Bl. 288–290. 930  Ergänzung zum Plan der Hauptaufgaben für das 2. Halbjahr 1959 in Auswertung des Berichts der Bezirksleitung der SED vom 10.8.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 68–70; Lagebericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an das Referat Vollzug der Abt. Strafvollzug der BDVP Potsdam vom 27.7.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 127 f. 931  Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden für das 1. Halbjahr 1960 vom 27.1.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 71–80. 932  Ende 1961 erfolgte die Ablösung wegen Stimmungsmache gegen die Gefängnisleitung. Vgl. Führungsbericht des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg Ackermann vom 6.11.1962; BStU, MfS, AU, Nr. 142/56, Bd. 7, Bl. 146 f. 933  Vgl. Befehl 39/59 des Ministers des Innern betr. unwürdiges Verhalten von Offizieren in der StVA Brandenburg vom 12.9.1959; BArch DO1 2.2./58203.

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Führungsstil indes nicht wandelte, geriet er auch immer wieder in die Schusslinie. So erhielt er im August 1960 Besuch »verschiedener Funktionäre vom ZK«, der SED-Bezirksleitung und der Verwaltung Strafvollzug. Dabei wurden mit scharfen Worten seine »unmenschlichen Methoden« gerügt,934 womit wohl vor allem sein Führungsstil gegenüber den Aufsehern gemeint war, doch wurde dies nicht näher präzisiert. Bei einem erneuten Einsatz einer Instrukteursbrigade des Zentralkomitees und einer Kontrollbrigade der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam zur Umsetzung des Amnestiebeschlusses vom 4. Oktober 1960935 konnte Ackermann zwar auf manche »Verbesserung« pochen, doch war sein Leitungsstil immer noch der Gleiche. Er handele »in seiner gesamten Leitungstätigkeit spontan« und vernachlässige völlig kollektive Beratungen. Ackermann verstand es jedoch, die von den Instrukteuren gegebenen »Arbeitshinweise« zu den Haftentlassungen so darzustellen, als seien sie bereits gängige Praxis936 und konnte sich auf diese Weise rehabilitieren. Wegen seiner »gezeigten Leistungen« bei der Durchführung des Gnadenerweises wurde seine (wegen der illegalen Baumaßnahmen ausgesprochene) Disziplinarstrafe im Dezember 1960 wieder gelöscht.937 Denn trotz seiner Eigenwilligkeit führte er die große Haftanstalt Brandenburg-Görden doch mit viel Geschick. Auch seine Vorgesetzten erkannten an, dass Ackermann die Organisation verbessert hatte und mehr sogenannte Entlassungsgespräche geführt wurden, wie es die dienstlichen Bestimmungen eigentlich schon seit Längerem vorsahen.938 2.6.7 Die Sechzigerjahre Wie der Volksaufstand von 1953 hatte auch der Mauerbau Auswirkungen auf den Strafvollzug939 und auf die Stimmung der Häftlinge (siehe Kap. 3.1.4). Deren zunehmende Aufsässigkeit wurde in Brandenburg-Görden mit zahlreichen Disziplinarstrafen im Keim erstickt (siehe Kap. 3.2.5). Weil man über die zahlreichen Fälle individuellen Aufbegehrens hinaus sogar eine kollektive 934  Treffbericht der Abteilung VII/1 der Bezirksverwaltung Potsdam vom 16.8.1960; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1369/63, Bl. 71. 935  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 380. 936  Bericht der Polit-Abteilung der BDVP Potsdam über Vorkommnisse in der Leitung der Strafvollzugsanstalt Bdg./H. [Brandenburg/Havel] vom 22.10.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 218–221. 937  Befehl 14/60 des Chefs der BDVP Potsdam vom 1.12.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/115, Bl. 8 f. 938  Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden – 2. Halbjahr 1960 vom 6.7.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 83–89. 939  Vgl. Wunschik, Tobias: Hinter doppelten Mauern. Die Gefängnisse der DDR nach dem 13. August 1961. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR zwischen Mauerbau und Mauerfall. Münster 2003, S. 557–574.

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Häftlingsrevolte befürchtete, wurden die Aufseher im Sommer 1961 über mehrere Wochen in permanente Einsatzbereitschaft versetzt. So mussten diejenigen, die nicht in der angrenzenden Anton-Saefkow-Allee wohnten, kaserniert auf dem Anstaltsgelände in insgesamt neun Zelten kampieren, die eigens von ostdeutschen und sowjetischen Armeeinheiten ausgeliehen worden waren.940 Dass Ackermann sich trotz der geschilderten Eigenmächtigkeiten weiterhin auf seinem Posten hielt, hing auch mit seinen guten Kontakten zur sowjetischen Seite zusammen (siehe auch Kap. 2.2.1). »Durch die Jagd verkehrt er mit einigen Funktionären des Kreises Brandenburg und sowjetischen Offizieren« und besitzt »eine fortschrittliche Einstellung zur Sowjetunion«, konstatierte die Staatssicherheit. Zudem bestanden enge familiäre Bande, da sein Sohn eine sowjetische Staatsbürgerin geheiratet hatte.941 Ackermann lud auch die Offiziere eines benachbarten sowjetischen Regiments samt ihren Frauen zu einem kleinen Konzert in die Haftanstalt ein, wo dann Gefangene vorzuspielen hatten.942 Ferner ließ er für sowjetische Militäreinheiten »in größeren Mengen Parkbänke anfertigen« und erhielt im Gegenzug Kaviar und Südfrüchte für Geburtstagsfeiern.943 Indes wurde das gute Verhältnis zum »großen Bruder« gelegentlich auf eine harte Probe gestellt. So war der Gefängnisleiter am 8. November 1961 zu einer Festveranstaltung der sowjetischen Kommandantur eingeladen. Am nächsten Tag musste er dann melden, dass er dabei eine Sowjetbürgerin getroffen hatte, die sich daran zu erinnern glaubte, dass er früher Brigadier eines Baukommandos von deutschen Kriegsgefangenen gewesen sei. Die besagte Russin hingegen berichtete ihren Vorgesetzten, sie habe in dem Gefängnisleiter einen »Angehörigen des damals faschistischen Sicherheitsdienstes wiedererkannt, der sie zur damaligen [Zeit] mit einer MPi [Maschinenpistole] bedrohte.« Beim Anblick Ackermanns, so die Zeugin, sei ihr derart schlecht geworden, dass sie umgehend die Festveranstaltung habe verlassen müssen. »Die befreundete Dienststelle«, also eine Abteilung des sowjetischen Geheimdienstes KGB, ließ sich daraufhin umgehend die Kaderakte des Gefängnisleiters überreichen. Wenig später bestätigte die sowjetische Seite jedoch Ackermanns Darstellung des Zusammentreffens; die Zeugin, so die mehr oder weniger glaubwürdige Erklärung, habe ihre Angaben »im Zustand der Volltrunkenheit gemacht«.944 940  Vgl. Einschätzung der bewaffneten Kräfte der StVA Brandenburg in der Zeit vom 13.8. bis 31.8.1961 vom 5.9.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 16–22. 941  Eröffnungsbericht der Abteilung VII/3 der BV Potsdam zum OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 27–31. 942  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S. 943  Mündliche Mitteilung des GI »Stein« vom 30.12.1966; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, Teil II, Bd. 1, Bl. 4 (MfS-Pag.). 944  Bericht der Abteilung VII/1 [der BV Potsdam] über ein Gespräch mit Genossen Oberst Ackermann vom 9.11.1961; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 113–115. Recherchen des Autors nach Ackermanns Militärlaufbahn blieben erfolglos.

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Der Strafvollzug

Schon im Dezember 1962 erhielt Ackermann wieder einen Rüffel der Verwaltung Strafvollzug, weil er den Empfang von Weihnachtspaketen, ent­ gegen der allgemeinen Linie, in seiner Haftanstalt untersagt hatte und die standardisierten Ablehnungsbescheide in der Westpresse veröffentlicht worden waren.945 Auch bei einer unangemeldeten Alarmübung im Mai 1965 sorgte Ackermann nicht für die gewünschte straffe Führung.946 In größere Bedrängnis brachten die Gefängnisleitung mehrere Vorfälle im Sommer 1966. Zunächst konnte am 6. Juni im Außenarbeitskommando Wusteritz ein Häftling fliehen. Ausgerechnet zum Jahrestag des Volksaufstandes von 1953 geschah das Gleiche im Außenarbeitskommando Ludwigsfelde. Bei der nachfolgenden Untersuchung stellte sich heraus, dass einige Gefangene, wegen der Höhe ihrer verbliebenen Reststrafen, selbst unter Bewachung, nicht aus der Haftanstalt hätten ausrücken dürfen. Die Gefängnisleitung hatte aber darüber hinweggesehen, weil wirtschaftliche Gesichtspunkte in Brandenburg-Görden Priorität hatten947 und der Leiter der obersten Gefängnisverwaltung, Johannes Kohoutek, noch im Vorjahr Ackermann den Außenarbeitseinsatz krimineller Häftlinge unter der Hand gestattet hatte.948 So zeigte sich der Leiter von Brandenburg-Görden uneinsichtig, als ihm nun die Entweichungen vorgehalten wurden. Daraufhin wurde der Gefängnisleiter in eine Leitungssitzung des Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam, Heinz Münchow, bestellt, an der auch der Leiter der Kriminalpolizei des Bezirks, Alfred Ballschmieter, und Kohoutek teilnahmen. Münchow erklärte dabei, dass die Entweichungen »im Zusammenhang mit der gesamten Leitungstätigkeit zu sehen sind«. Ballschmieter assistierte mit der Einschätzung, »Kritik und Selbstkritik« seien in der Leitungsebene nicht genügend ausgeprägt und die Beziehungen zur vorgesetzten Abteilung Strafvollzug schwierig (siehe Kap. 2.1.2). Der Umstand, dass ausgerechnet am Jahrestag des Volksaufstandes Häftlinge außerhalb der Ge­fängnismauern zur Arbeit eingesetzt worden waren, verstoße eindeutig gegen die dienstlichen Bestimmungen. »Der gesamten Leitung der StVA Brandenburg wur­de eine Missbilligung ausgesprochen«, wie es im Sitzungsprotokoll hieß. Der da­malige Leiter der Abteilung Strafvollzug, Hauptmann Härtel, solle zukünftig ein wacheres Auge auf Brandenburg-Görden werfen. Ackermann hatte sich schon vor der Sitzung verpflichten müssen, die Zahl der Außenkommandos drastisch zu 945  Vgl. [Bericht des] GI »G[ünter] Rabe« vom 19.12.1962; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 1, Bl. 16 f.; Treffauswertung der Hauptabteilung VII mit dem GI »Günter Rabe« vom 27.12.1962; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 1, Bl. 18 f. 946  Vgl. [Bericht des GI] »Gustav« betr. Ergebnis der Alarmübung in der StVA Brandenburg vom 21.5.1965; BStU, MfS, AIM, Nr. 13640/85, Bd. 1, Bl. 171 f. 947  Protokoll der Leitungssitzung der BDVP Potsdam am 5.7.1966 vom 15.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/23, Bl. 2–8; Schlussfolgerungen der Abteilung SV der BDVP Potsdam vom 25.6.1966; ebenda, Bl. 11–17. 948  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung VII/1 vom 29.5.1965; BStU, MfS, AIM, Nr. 13640/85, Bd. 1, Bl. 174.

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re­duzieren, diese zukünftig von der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei ge­nehmigen zu lassen und weniger politische Häftlinge dabei einzusetzen – und kam so gewissermaßen mit einem blauen Auge davon.949 Und trotzdem gelang es im Folgejahr wieder einem Häftling beim Außenarbeitseinsatz entkommen.950 Außerdem pflegte Ackermann, Arbeitskraft der Häftlinge für private Zwecke zu nutzen. Schon der vormalige Leiter der obersten Gefängnisverwaltung, August Mayer, hatte dies immer wieder untersagt, »weil es der Beginn der Korruption« sei und sich die Aufseher »in die Hände des Gefangenen« begeben.951 Dennoch ließ sich beispielsweise Ackermann im Jahre 1963 eine Einbauküche von Gefangenen zimmern und zu Weihnachten »Schmuckkästchen und Fernsehtische« bauen. Angesichts ihrer ausweglosen Lage konnten sich die Häftlinge gegen diese zusätzliche Ausbeutung gar nicht wehren – und wollten wohl auch von »Sonderessen und Zigaretten« profitieren. Zwei Kanus hingegen wurden nicht zu Ende gebaut, weil der Gefängnisleiter damit den Bogen überspannte und sich auch in der Parteiversammlung Widerstand regte.952 Solche Praktiken stießen also durchaus auf Kritik von Untergebenen wie auch Vorgesetzten, doch machte Ackermann alsbald weiter wie zuvor. 2.6.8 Ackermanns Leitungsstil in den Siebzigerjahren Ein weiterer, spektakulärer Zwischenfall ereignete sich im Jahr 1969. Der später wegen des Abbaus von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze bekannt gewordene politische Häftling Michael Gartenschläger konnte den 48 Meter hohen Schornstein der Haftanstalt erklimmen und das Wort »Hunger« auf das Mauerwerk schreiben, was einen größeren Menschenauflauf verursachte.953 Der gleiche Häftling unternahm im gleichen Jahr noch einen spektakulären Fluchtversuch (siehe Kap. 4.2.6), weswegen umgehend der stellvertretende Innenminister Herbert Grünstein zu einer »Auswertung« nach Brandenburg-

949  Protokoll der Leitungssitzung der BDVP Potsdam am 5.7.1966 vom 15.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/23, Bl. 2–8; Schlussfolgerungen der Abteilung SV der der BDVP Potsdam vom 25.6.1966; ebenda, Bl. 11–17. 950  Vgl. BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/391, Bl. 2. 951  Protokoll des Sekretariats der BDVP Potsdam der Dienststellenleiter- und Abteilungsleiter­ ta­g ung am 14.2.1959 vom 16.2.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 215–224. 952  Befragung [des ehemaligen Aufsehers] Helmut Siodlaczek [durch die Operativgruppe der Abteilung VII der BV Potsdam] vom 3.9.1964; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 117–119. 953  Vgl. Lienicke, Lothar; Bludau, Franz: Todesautomatik. Die Staatssicherheit und der Tod des Michael Gartenschläger an der Grenzsäule 231. Hamburg 2001, S. 92–94; Fritzsch: »Gesicht zur Wand«, S. 131.

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Der Strafvollzug

Görden fuhr und Ackermann ergebnislos »ins Gebet nahm«.954 Diese Vorfälle sowie vorliegende Berichte über fortdauernde Mängel in der Leitungstätigkeit führten dazu, dass Innenminister Friedrich Dickel dann sogar eine Kommission zur Überprüfung der Sicherheit in Brandenburg-Görden einsetzen ließ. Hektische Aktivitäten zur Beseitigung aller Schwachstellen waren die Folge, doch ließen sich diese auf die Schnelle nicht aus der Welt schaffen. Nachdem die eingesetzte Kontrollkommission Bericht erstattet hatte, mussten Ackermann und seine leitenden Offiziere zum Rapport bei der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei erscheinen. Die geschilderten Vorkommnisse wurden thematisiert, doch hauptsächlich kritisierte die Abteilung Strafvollzug der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei die ökonomische Prioritätensetzung Ackermanns, durch die »die eigentlichen Hauptaufgaben zur Gewährleistung einer hohen Sicherheit und Ordnung [...] in den Hintergrund« getreten seien. »Wann endlich will der Leiter der StVA die sich zeigende Routine und Selbstzufriedenheit in der Arbeit ablegen, die Lösung der Probleme in Angriff nehmen und eine vorbildliche Ordnung in seinem Bereich schaffen?«955 Letztlich kam Ackermann jedoch erneut mit einem »blauen« Auge davon und versprach fortan der Sicherheit den Vorrang einzuräumen. Außerdem entschied er sich, künftig enger mit den beiden für die Gefängnisse zuständigen geheimpolizeilichen Apparaten, dem Staats­ sicherheitsdienst und der Abteilung 4 der Verwaltung Strafvollzug (siehe Kap. 5), zusammenzuarbeiten, denn deren Berichte hatten die Überprüfung erst ausgelöst.956 Folgenreicher für den Gefängnisleiter war, dass am 31. August 1971 zwei andere Häftlinge erneut den Schornstein erklommen, dort ebenfalls das Wort »Hunger« auf das Mauerwerk schrieben und zwei Tage dort oben ausharrten (siehe Kap. 3.4.5). Da das Ministerium des Innern auch diesen Vorfall auf Versäumnisse Ackermanns zurückführte, monierte man erneut seine »übertriebene Spontanität« und dass er seine Untergebenen zu wenig in die Entscheidungsfindung einbeziehe. Ackermann erhielt schließlich wegen »Vernachlässigung der Kontrolle angewiesener Maßnahmen«, mangelhafter Leitungs- und Führungstätigkeit sowie »unentschlossenem Verhalten« bei der Schornsteinbesetzung einen Verweis.957 954 Ackermann zeigte indes wenig Einsicht und äußerte später zur Erheiterung seiner leitenden Offiziere: »Wenn ich Grünstein wäre und er Ackermann, dann könnte ich auch so schlau reden.« Information des GHI »Heinz« vom 16.3.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, T. II, Bd. I, Bl. 260 f. 955  Zuarbeit der Arbeitsgruppe Strafvollzug für den Chef der BDVP über Mängel und Schwächen im Prozess der Leitungs- und Führungstätigkeit des Leiters der StVA Brandenburg o. D. [1/1970]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/391, Bl. 132–135. 956  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII mit dem IMS »Stein« vom 24.2.1970; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, Teil II, Bd. 1, Bl. 48 f. (MfS-Pag.). 957  Zusammenfassender Bericht an Grünstein vom 6.9.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 20–29; Bericht des Stellv. für polit[ische] Arbeit [der StVA Brandenburg] zum Vorkommnis am 31.8.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/701, Bl. 118–122.

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Weil Ackermann seinen Leitungsstil nicht änderte und weil wichtige Stellenplanveränderungen mit den betroffenen 40 Mitarbeitern nicht besprochen wurden, richteten im Jahre 1973 etliche Aufseher eine anonyme Eingabe an die Abteilung für Sicherheitsfragen des Zentralkomitees der SED.958 Diese hatte bereits im Vorjahr die Eingabe eines ehemaligen Häftlings erhalten und die Verwaltung Strafvollzug daraufhin angewiesen, die Tätigkeit Ackermanns zu untersuchen.959 Zwar blieb dies anscheinend folgenlos, doch bei verschiedenen Kontrolleinsätzen und besonderen Vorkommnissen fiel immer wieder ein Schatten auf BrandenburgGörden. So vernichtende Kritiken wie noch vor Beginn der Sechzigerjahre musste Ackermann allerdings nicht mehr einstecken. Der autokratische Anstaltsleiter verstand es wohl, sich und seine Dienststelle in einem besseren Licht zu präsentieren. So wurde beispielsweise ein Vertragsarzt dahingehend beeinflusst, dass er kranke Aufseher gesundschrieb, wodurch der Krankenstand der Dienststelle besonders niedrig zu sein schien.960 Als es im Herbst 1975 in der Kleiderkammer der Haftanstalt brannte, dies auf Ackermanns Versäumnisse zurückgeführt wurde und er gerügt werden sollte, konnte er die oberste Gefängnisverwaltung durch Übergabe von Gastgeschenken (für eine bevorstehende Auslandsdienstreise) milde stimmen.961 Das starke Selbstbewusstsein Ackermanns wurde abermals deutlich, als er bei einem weiteren Kontrolleinsatz der Verwaltung Strafvollzug im Herbst 1977 nur mittags in der Haftanstalt weilte und am Nachmittag auch die Abwesenheit zweier seiner Stellvertreter duldete.962 Ackermann war bei der obersten Gefängnisverwaltung dafür bekannt, dass er deren Kontrolleinsätze weitgehend ignorierte.963 Ackermann konnte sich dies erlauben, da er über immer bessere Kontakte zur Leitungsebene des Innenministeriums verfügte. Mit viel Geschick verstand er sich besonders bei Friedrich Dickel einzuschmeicheln, der seit 1963 als Minister des Innern amtierte und gegenüber Untergebenen oftmals Strenge,964 aufgrund eigener Hafterfahrungen (in einem japanischen Gefängnis während des Krieges) gegenüber dem Organ Strafvollzug aber auch Nachsicht walten

958  Anonyme Eingabe von Mitarbeitern der StVA Brandenburg an die Abteilung für Sicherheitsfragen vom 26.9.1973; BArch DY 30/IV B 2/12/260. 959  Vgl. Schreiben der Abteilung für Sicherheitsfragen an den Leiter der Verwaltung Strafvollzug Tunnat vom 18.4.1972; BArch DY 30/IV B 2/12/212, Bl. 141. 960  Vgl. u. a. Bericht der Quelle »Zebra« vom 22.8.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1030, Bl. 61. 961  Vgl. Information des IM »G[ünter] Rabe« über Oberst Lustik vom 20.11.1975; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 2, Bl. 266–268 u. 270. 962  Vgl. Weitere Berichterstattung [zum Treffbericht des FIM »Fritz« vom 9.11.1977]; BStU, MfS, AIM, Nr. 1536/87, Bd. 1, Bl. 134–138. 963  Vgl. Information [des IM] »Günter Rabe« vom 14.11.1976; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 2, Bl. 337–343. 964  Vgl. Herbst: Friedrich Dickel, S. 191–208, hier 195.

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ließ.965 Besonders wohlwollend zeigte sich Dickel gegenüber dem Gefängnisleiter von Brandenburg-Görden: So ließ der Minister gleich nach seiner ersten Visite vor Ort insgesamt 4 000 Mark Prämien ausschütten, von denen Ackermann ein Viertel selbst kassierte.966 Bei einem weiteren Besuch zollte der Innenminister dem Gefängnisleiter Anerkennung für dessen »vorbildliche Leitungstätigkeit«, versprach ihm eine Gehaltserhöhung,967 und verlieh ihm im Jahre 1974 den Vaterländischen Verdienstorden in Gold.968 Zusammen unternahmen der Minister und der Gefängnisleiter auch Jagdausflüge, was das freundschaftliche Verhältnis festigte. Ackermann überreichte Dickel zu dessen 67. Geburtstag auch einen von Häftlingen gefertigten Samowar aus Kupfer – und musste, weil dieser großen Anklang fand, wenig später ein weiteres Exemplar für Verteidigungsminister Heinz Hoffmann herstellen lassen. Seinerseits wurde Ackermann vom Minister mit einem Remington-Jagdgewehr beschenkt.969 Bei dem seit 1970 amtierenden Leiter der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, Erich Griebsch, hatte Ackermann indes keinen besseren Stand als bei dessen Vorgänger Heinz Münchow. Auf Kritik stießen immer wieder seine Bemühungen, die Haftanstalt an der Havel durch die Ansiedlung weiterer Betriebe zu einem Wirtschaftskomplex auszubauen. So konstatierte Griebsch in einer Leitungssitzung im Jahre 1975, dass Ackermanns Bauvorhaben mit einem Volumen von 62 Millionen Mark (für die Zeit 1976 bis 1980) so hoch seien, dass dies »nicht in Übereinstimmung mit den Plänen des Zentralkomitees unserer Partei« stehe. Fazit: »Im Interesse gesamtgesellschaftlicher volkswirtschaftlicher Probleme im Bezirk wird es dem Gen. Oberst Ackermann untersagt, weitere Initiativbauten zu errichten.«970 In dieser Weise ausgebremst, legte Ackermann seinen Elan in andere Projekte. So ließ er im Jahre 1978 in der weiteren Umgebung ein Gästehaus errichten, in dem fortan leitende Mitarbeiter des Innenministeriums und der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei ihren Urlaub verbringen konnten. Ackermann hatte einen entsprechenden offiziellen Bauauftrag übernommen und dabei alle Register gezogen. So hatte er den offiziellen Etat von 60 000 Mark unter der Hand um das Zehnfache aufgestockt, indem er die Arbeitsleistung der Häftlinge 965  Vgl. Abschrift eines IM-Berichts vom Band vom 26.2.1988; BStU, MfS, AIM, Nr. 194/89, T. II, Bd. 1, Bl. 307-312. 966  Bericht von »Jonas« zur Leitungstätigkeit des Gen. Ackermann von 1964; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 141–143. 967  Vgl. u. a. Mündlicher Bericht des GI »Klaus« vom 23.1.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 135. 968  Vgl. Schreiben des Leiters der Verwaltung Strafvollzug an den Leiter der Abteilung XI des Stabes: Beitrag für die Chronik des MdI für das Jahr 1974 vom 14.11.1975; BArch DO1 32/278/2. 969  Vgl. Treff bericht des IME »Forelle« vom 3.4.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. I, Bl. 72–75. 970  Protokoll des Chefs der BDVP Potsdam über die Dienstbesprechung am 28.10.1975 vom 30.10.1975; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/45, Bl. 56–62.

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nicht berechnete und die Gewinne hauseigener Werkstätten abzweigte. So war ein prächtiges Gebäude entstanden – nach Einschätzung eines Augenzeugen »selbst für die Ansprüche eines Ministers weit überzogen«. Denn außer einem Hauptgebäude gab es ein zusätzliches Übernachtungshaus, eine eigene Sauna, einen Sportschießstand und einen Karpfenteich. Bei der feucht-fröhlichen Übergabe des Gebäudes fiel Ackermann in angetrunkenem Zustand seinem Minister »um den Hals, küsste ihn ab und sagte: ›Na, Friedrich, habe ich Dir nicht ein schönes Haus gebaut?‹ Alle Anwesenden waren darüber recht schockiert und Genosse Griebsch hat das ›Paar‹ dann getrennt.«971 Dickel gestattete Ackermann – möglicherweise im Gegenzug – auch, sich ein Eigenheim zu errichten. Als der neue Leiter der Verwaltung Strafvollzug Hans Tunnat Ackermann ein anderes Mal zurechtwies, stellte sich Dickel erneut hinter Ackermann und ließ Tunnat über seinen Stellvertreter Günter Giel wissen, »Was mit Oberst Ackermann geschieht, bestimme alleine ich!«972 Und der Minister des Innern begünstigte den eigenwilligen Gefängnisleiter ein weiteres Mal, als dieser im Januar 1977 einen Verkehrsunfall verschuldete. Griebsch entzog Ackermann zunächst für ein Jahr die Fahrerlaubnis, händigte sie dann aber auf Intervention Dickels bereits nach kurzer Zeit wieder aus.973 Im Anschluss an eine weitere Beratung mit Griebsch sowie dessen für Straf­ vollzug zuständigen Stellvertreter, Harry Papenfuß, wollte sich Ackermann im Januar des Folgejahres auch bei diesen Liebkind machen. Deswegen lud er beide ein, die Bowling-Bahn zu besichtigen, die im Keller der Haftanstalt für die Aufseher wie auch für Wettkämpfe mit externen Teilnehmern erbaut worden war.974 Griebsch wusste, dass die Anlage ohne Genehmigung errichtet worden war, und wehrte die Einladung mit den Worten ab »ich will das Ding nicht sehen«, ließ sich aber schließlich doch überreden, »Ackermanns Keller« aufzusuchen. Im Anschluss hagelte es Vorwürfe an Papenfuß, dass er seiner Aufsichtspflicht gegenüber der Haftanstalt nicht nachgekommen sei. »Wenn das jemand erfährt, ein Schwarzbau für 350 000 Mark«, so kritisierte Griebsch. Papenfuß schlug daraufhin eine genaue Untersuchung des Falles vor, doch winkte Griebsch ab – aus Furcht vor der öffentlichen Wirkung und wegen der eigenen, indirekten Verstrickung: »Unterlasse das ja, sonst kannst Du den Ackermann gleich beim Staatsanwalt abliefern.«975 971  Treffbericht des IME »Forelle« vom 12.9.1978; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. I, Bl. 23–26. 972  Bericht der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über den Stellvertreter des Leiters der VSV vom 13.7.1977; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1, Bl. 62. 973  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 36–55, hier 39. 974  Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die 101 wichtigsten Fragen – DDR. München 2009, S. 111. 975  Treffbericht des IME »Forelle« vom 20.1.1978; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. I, Bl. 5–9.

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Der Strafvollzug

Ackermann verstand sich darauf, vorgesetzte Dienststellen durch kleinere Gefälligkeiten positiv zu stimmen. So nahm die Haftanstalt private Aufträge zur Herstellung bestimmter Gegenstände oder für Maßanfertigungen entgegen und ließ diese in den Werkstätten der Haftanstalt durch Insassen ausführen. Selbst leitende Mitarbeiter der obersten Gefängnisverwaltung verschafften sich so persönliche Vorteile – und Brandenburg-Görden stand dabei nicht allein.976 Unter bestimmten Bedingungen war das Erteilen solcher Arbeitsaufträge rechtlich zulässig, doch lag die illegale Vorteilsnahme meist darin, dass sehr niedrige Preise berechnet wurden. Dies betraf besonders arbeitsintensive Produkte, wie beispielsweise auf Maß angefertigte Küchen, bei denen niedrige Materialkosten und zu wenige Arbeitsstunden zugrunde gelegt wurden. In der Souvenirwerkstatt von BrandenburgGörden wurden so Schmuckkästchen, Wandteller mit Ösen, Aschenbecher in Sputnikform, Toaster und die schon erwähnten Samoware gefertigt.977 Diese wurden dann gesellschaftlichen und politischen Funktionsträgern überreicht – angefangen bei hohen Offizieren der Volkspolizei und der sowjetischen Armee bis zu den Leitern der Arbeitseinsatzbetriebe, wie auch einem Förster, in dessen Revier Ackermann zu jagen pflegte. Die Abrechnungen der Souvenirwerkstatt wiederum musste der zuständige Aufseher, zugleich ein Spitzel der Staatssicherheit, auf ausdrückliche Anweisung Ackermanns manipulieren. »Dies kommt einem klaren Betrug der BDVP gleich«,978 stellte die Geheimpolizei fest. Diese Praxis diente freilich nicht nur privaten Interessen, sondern auch der reibungslosen Zusammenarbeit mit den in Brandenburg-Görden produzierenden Betrieben (etwa im Fall von Lieferschwierigkeiten). Es sei vor allem Ackermanns Verdienst, so die Staatssicherheit, wenn die Betriebe »immer Plantreue halten«.979 So konnte der Anstaltsleiter immer wieder sein Organisationstalent unter Beweis stellen. Da Ackermann leidenschaftlicher Jäger war, wurde in der Nähe seines Hauses eine Futterstelle für Wildschweine angelegt, sodass man von einem Hochsitz aus die Tiere erlegen konnte.980 Zur logistischen Unterstützung seines Hobbys wurde in der Hauptwache der Haftanstalt eine »illegale Werkstatt« eingerichtet, in der zwei Insassen Jagdgewehre reparierten, was einen eklatanten Verstoß 976  Vgl. Abschlussbericht der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII zur OPK »Bilanz« vom 4.1.1977; BStU, MfS, AGMS, Nr. 17863/89, Bl. 29–42. 977  Siehe auch Bericht der Quelle 72036 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. IFA vom 17.11.1970 (Stand September 1970), 11 S.; BArch B 137/15761. Ähnliches ereignete sich im Haftarbeitslager Bitterfeld. Vgl. Mühlenberg, Heidi; Kurt, Michael: Panikblüte. Bitterfeld-Report. Leipzig 1991, S. 81. 978  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 36–55, hier 47. 979  Abschlussbericht der Abteilung VII [der BV Potsdam] über die operative Personenkontrolle des Ackermann, Fritz vom 27.10.1981; ebenda, Bl. 109–112. 980  Vgl. Information [des IM] »Liti« vom 16.2.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 2, Bl. 122; Information [des IM] »Heinrich« vom 24.11.1981; ebenda, Bl. 129.

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gegen die Sicherheitsbestimmungen darstellte.981 Ackermann zog auch gerne einen Häftling als Gehilfen für die Jagd heran. Dieser als »Butler mit besonderen Rechten« bezeichnete Insasse zog dann beispielsweise im Garten von Ackermann ein Wildschwein auf. »Da es offensichtlich nicht zu zähmen war, wurde es durch A[ckermann] dann (etwa Mitte 1977) mit der M 9 in seinem Garten erschossen.«982 Außerdem ließ Ackermann für sich und seine leitenden Mitarbeiter Genussund Mangelwaren beschaffen, deren Kosten über die Verkaufsstelle und die Dienstküche abgerechnet wurden. Zu Silvester 1980 beispielsweise ließ er Karpfen und Forellen als »Sonderessen für SG der Handwerksstätten« abbuchen. Allerdings wurden die Fische niemals in der Küche zubereitet und die Insassen BrandenburgGördens niemals so festlich bewirtet.983 In noch größerem Maßstab wurden die Häftlinge betrogen, indem regelmäßig Hunderte von »Verpflegungsbeuteln« für sie abgerechnet wurden, die diese niemals erhielten.984 Der finanzielle Schaden dabei soll mehrere Zehntausend Mark betragen haben.985 Den Häftlingen selbst war nicht bekannt, in welchem Umfang sich der Gefängnisleiter auf ihre Kosten bereicherte. Weil Ackermann einzelnen Insassen, wie seinen Jagdgehilfen, viele Vergünstigungen einräumte, war er unter den Gefangenen sogar vergleichsweise beliebt.986 Zu einigen privilegierten Insassen baute er »eine Art Vertrauensverhältnis« auf und plauderte mitunter auch über dienstliche Angelegenheiten. So zeigte sich, dass »Strafgefangene, die eng mit dem Genossen Ackermann zu tun haben, besser informiert sind, als weitere leitende Kader« der Haftanstalt. Ackermann instruierte in bestimmten Fällen sogar seine Vertrauensleute unter den Insassen, ihrerseits Aufseher zu beobachten und ihm auffälliges Verhalten zu melden, was deren Autorität zwangsläufig untergrub. Die für Sonderaufgaben abgestellten Häftlinge konnten deswegen vielfach Sonderrechte für sich geltend machen – so durfte sich einmal ein Gefangener im Dienstzimmer des Gefängnisleiters sogar an dessen Stelle am Telefon melden.987 Belohnt wurden die Häftlinge meist mit Zigaretten, Sonderessen oder anderen

981  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 36–55, hier 48. 982  Ergänzende Informationen der Abteilung VII der BV Potsdam zum Oberst des SV Ackermann vom 11.6.1981; ebenda, Bl. 82 f. Auch ein Insasse des Haftarbeitslagers Bitterfeld fungierte als Gärtner lokaler Funktionäre. Vgl. Mühlenberg; Kurt: Panikblüte, S. 81. 983  Information [des IM] »Axel Berger« o. D. [1981]; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 2, Bl. 76. 984  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 36–55, hier 52. 985  BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 90. 986  Vgl. u. a. Schmidt, Andreas: Leerjahre. Leben und Überleben im DDR-Gulag. Böblingen 1986, S. 512 f. 987  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 36–55, hier 52.

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Vergünstigungen, später zunehmend auch mit Sonderprämien. In Einzelfällen soll Ackermann auch Strafrabatt in Aussicht gestellt haben.988 2.6.9 Die Ablösung von Ackermann Endgültig überspannte Ackermann den Bogen, als er Häftlinge Ende der Sieb­ zigerjahre zehn Eigenheime bauen ließ. Ein Teil sollte von leitenden Offi­ zieren der Haftanstalt bezogen werden, ein anderer Teil der Häuser sollte Eigentum mehrerer Betriebe werden, die sich dafür in einer sogenannten »Interessengemeinschaft« mit der Haftanstalt zusammenschlossen und die nötigen Investitionsmittel bereitstellten. Der Gefängnisleiter selbst ging dabei ebenfalls nicht leer aus und ließ sich ein »Haus im Wald«, wie es genannt wurde, errichten. Die luxuriöse Sonderausstattung wurde dem Baustab der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei indes nicht gemeldet. Letztere war zwar formal Eigentümer dieses Hauses, vermietete es jedoch auf Lebenszeit an Ackermann, was mit dessen besonderen Verdiensten begründet wurde. Durch Manipulationen unterschiedlicher Konten, den Arbeitseinsatz Gefangener und das Heranziehen von Baumaterialien aus dem Fundus der Haftanstalt konnte Ackermann kostengünstig arbeiten: Obwohl der tatsächliche Wert des Hauses seinerzeit bei etwa 500 000 Mark lag, brauchte er, nur einmalig für die Sonderausstattung 34 000 Mark zu bezahlen und fortan einen Mietzins von monatlich 300 Mark zu entrichten. Beim Bau des Hauses verstieß Ackermann zudem gegen grundlegende Sicherheitsregeln, weil er Häftlinge ganz ohne Aufsicht oder nur durch seinen Sohn bewacht arbeiten ließ. Gebaut wurde sogar an bestimmten Jahrestagen, wenn der Arbeitseinsatz außerhalb der Gefängnisse streng verboten war.989 Weil Ackermann sein Häuschen möglichst schnell beziehen wollte, kamen außerdem Insassen mit lebenslangen Freiheitsstrafen zum Einsatz, was ebenfalls gegen bestehende Weisungen verstieß.990 Weil Ackermann durch den Bau seines Eigenheims arg in Anspruch genommen war, vernachlässigte er zunehmend seine dienstlichen Pflichten; so soll er im Jahr 1977 »recht selten« in der Haftanstalt angetroffen worden sein. »War er anwesend,

988  »Er [Ackermann] geht so weit dabei, dass er den Gefangenen für gute saubere ausgeführte Arbeit eine vorzeitige Entlassung versprochen hat.« Befragung [des ehemaligen Aufsehers] Helmut Siodlaczek [durch die Operativgruppe der Abteilung VII der BV Potsdam] vom 3.9.1964; ebenda, Bl. 117–119. 989  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; ebenda, Bl. 36–55, hier 46. 990  BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 87. Siehe auch Schmidt, Helmuth; Weischer, Heinz: Zorn und Trauer. Als politischer Gefangener in Zuchthäusern der DDR. Essen 2006, S. 206.

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so standen oftmals auch nur seine persönlichen Probleme im Vordergrund.«991 Sein »ausgeprägtes Besitzstreben« sowie »Rachsucht, Egoismus [und] kleinbürgerliche Ansichten« riefen zunehmend Kritik hervor. Seine Art der Leitungstätigkeit grenze an »Personenkult«, wie die ostdeutsche Geheimpolizei konstatierte.992 Ackermann habe »an seinem autoritären Führungsstil nicht allzu viel geändert«, schneide jedoch seinen Offizieren nicht mehr ganz so häufig das Wort ab und sei auch »davon abgegangen, alle Genossen als ›Idioten‹ zu bezeichnen«.993 Gegenüber einfachen Aufsehern sei er indes immer noch »sehr unduldsam« und schieße bei Kritik »oft über das Ziel hinaus«. Dann werde er »immer mehr unsachlich, oftmals sogar zutiefst beleidigend« und gehe soweit, Personen »die ihm im Wege stehen, zu ver­ un­glimpfen, um deren Ausscheiden« aus dem Strafvollzug »zu provozieren«.994 Viele Aufseher würden daher am liebsten um ihre Entpflichtung nachsuchen, doch stand dem die Sorge um ihre berufliche Existenz entgegen.995 Freilich können auch Unzu­ friedenheit oder Neid der Untergebenen solche Einschätzungen beeinflusst haben. Weitere Unregelmäßigkeiten kamen hinzu. Die Kontrollgruppen des Innen­ ministeriums und der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei monierten immer wieder finanzielle Unstimmigkeiten.996 Doch das wirkliche Ausmaß der Betrügereien blieb lange Jahre unentdeckt bzw. wurde aus Rücksicht auf den Eindruck in der Öffentlichkeit nicht thematisiert. Dass Ackermann bei der erwähnten Errichtung der Privathäuser manipuliert hatte, konnte die Minis­ teriumsspitze zumindest vermuten, da er schon bei regulären Bauvorhaben »immer wieder die Fähigkeit unter Beweis stellte, billiger zu bauen, als es irgendwelchen regulären Baufirmen jemals möglich gewesen wäre«.997 Und sogar unter den Bürgern der Stadt Brandenburg verbreitete sich zunehmend die Auffassung, dass sich »ein Ackermann alles erlauben dürfe«.998 Um dessen Defizite wissend, liebäugelte Dickel wohl spätestens im Juni 1979 mit dem Gedanken, ihn zu berenten und seinen Politstellvertreter als neuen Gefängnisleiter einzusetzen.999 991  Auskunftsbericht der Abteilung VII/5 der BV Potsdam zu Fritz Ackermann vom 2.6.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 77–80. 992  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; ebenda, Bl. 36–55, hier 52. 993  Treff bericht der Abteilung VII/5 mit dem IMS »Stein« vom 3.2.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, Teil II, Bd. 1, Bl. 95 f. (MfS-Pag.). 994  Eröffnungsbericht der Abteilung VII/3 der BV Potsdam zum OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 27–31. 995  Vgl. Treffbericht des IMK »Rose« vom 14.12.1977; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 2, Bl. 136–138. 996  Vgl. Kontrollberichte in: BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/764; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/392. 997  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 36–55, hier 40. 998  Eröffnungsbericht der Abteilung VII/3 der BV Potsdam zum OV »Rentner« vom 1.10.1981; ebenda, Bl. 27–31. 999  Treffbericht des IMS »Forelle« vom 19.6.1979; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. I, Bl. 46–48.

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Abb. 7: Lageplan von Brandenburg-Görden, 1977

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Für Ackermann verkomplizierte sich die Lage erheblich, als im Jahre 1980 Wilfried Lustik zum neuen Leiter der Verwaltung Strafvollzug aufstieg (siehe Kap. 2.1.1). Anders als sein Vorgänger wollte er keine Nachsicht üben, wenn sich Gefängnisleiter illegal bereicherten.1000 Daher war der neue Chef der obersten Strafvollzugsverwaltung wohl auch nicht bereit, den eigensinnigen Gefängnisleiter von Brandenburg-Görden zu decken. So bemerkte Ackermann gegenüber leitenden Offizieren, »dass sich die Verwaltung Strafvollzug jetzt langsam auf ihn einschießt, weil der Genosse Lustik jetzt Leiter dieser Verwaltung ist«. Ackermann war bekannt, dass die Staatssicherheit Berichte über die Zustände in seiner Haftanstalt verfasste und diese auch Lustik inhaltlich bekannt wurden.1001 Gegen Ackermann sprach ferner, dass seine Verfehlungen und die um sich greifende Korruption durch freigekaufte Häftlinge auch im Westen bekannt wurden.1002 Doch erst als die Staatssicherheit im Mai 1981 Innenminister Friedrich Dickel schriftlich über die Manipulationen bei Ackermanns Hausbau unterrichtete, war der autokratische Gefängnisleiter nicht mehr zu halten. Dickel ließ Ackermann umgehend von einem Lehrgang abberufen und beauftragte den Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei in Potsdam, Erich Griebsch, sich sofort in Zivil von der Ausstattung des Hauses zu überzeugen. Als sich der MfSBericht bestätigte, verfügte Dickel die Ablösung von Ackermann sowie drei seiner Abteilungsleiter. Ein Mitarbeiter Griebschs schätzte ein, dass sein Chef durchaus »froh sei, Ackermann los zu werden, weil er ihm teilweise über den Kopf gewachsen ist und ihm auch die direkten Verbindungen zum Minister des Innern nicht behagten«.1003 In der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei hielt man Ackermann zu dieser Zeit für völlig korrupt – als beispielsweise ein Leitungskader der Haftanstalt einen zweimonatigen Lehrgang in Moskau besuchen sollte, bemerkte Griebsch zur Auswahl der Kader ironisch: »Gen. Ackermann können wir sowieso nicht nach Moskau schicken, da fehlt Breschnew anschließend die halbe Wohnungseinrichtung.«1004 Um die Ablösung Ackermanns vorzubereiten und offiziell begründen zu können, kündigte das Ministerium des Innern im Juli 1981 einen Kontrolleinsatz in der Haftanstalt an der Havel an. Dies bereitete der Gefängnisleitung erhebliches Kopfzerbrechen, waren in den Werkstätten doch über Jahre hinweg im Auftrag 1000  Vgl. u. a. Niederschrift über eine Aussprache beim Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom 15.4.1986; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 1, Bl. 95–97; Information über Mängel, Missstände und Weisungsverstöße sowie grobe Verletzungen der Sicherheit und Ordnung in der StVE Bitterfeld vom März 1986; BStU, MfS, HA VII, Nr. 1359, Bl. 289–294. 1001  Information des IMS »Weegend« [richtig: »Weekend«] vom 23.7.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 2, Bl. 134. 1002  Vgl. u. a. Bericht der Quelle 72036 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. IFA vom 17.11.1970 (Stand September 1970), 11 S.; BArch B 137/15761. 1003  Treffbericht des IME »Forelle« vom 4.6.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. I, Bl. 76–78. 1004  Treffbericht des IMS »Forelle« vom 19.6.1979; ebenda, Bl. 46–48.

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Ackermanns verschiedenste Gegenstände (unter anderem im Zusammenhang mit seinem Hausbau) angefertigt worden. Nun wurden über Wochen hinweg neue Ein- und Ausgangslisten für Materialien geschrieben und Rechnungen fingiert. Die Spezialwerkstatt, in der Häftlinge Ackermanns Jagdwaffen präpariert hatten, wurde ausgelagert, und deren Leiter mit der Behauptung unter Druck gesetzt, er selbst habe manipuliert. Als dieser sich gegen den Vorwurf wehrte und darauf hinwies, er habe stets im Auftrag Ackermanns gehandelt, wurde ihm entgegnet, dass er sich ja beizeiten bei der vorgesetzten Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei hätte beschweren können.1005 Die Kontrolle selbst verlief dann glimpflich; nur ein Häftling in der Souvenirwerkstatt weigerte sich (vermut­ lich aus guten Gründen), einen bestimmten Werkzeugschrank zu öffnen und begründete dies damit, »in diesem Raum hat keiner was zu sagen, außer unser Oberst«. Auf diese Befehlsverweigerung hin wollte der Leiter der eingesetzten Kontrollgruppe den Inhaftierten von seiner Funktion ablösen und disziplinarisch bestrafen lassen, was Ackermann später jedoch zu verhindern wusste.1006 Nachdem die Kontrollgruppe abgezogen war, wurde die Souvenirwerkstatt umgehend wieder eingerichtet.1007 Im Kollegium des Innenministeriums forderte Dickel nun von der obersten Gefängnisverwaltung, der Haftanstalt Brandenburg-Görden die »ihrer Bedeutung entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen. Es ist Einfluss zu nehmen und zu sichern, dass – auch im ökonomischen Bereich – streng und korrekt nach den festgelegten Weisungen und Ordnungen gearbeitet und verfahren wird. Der gesamte Strafvollzug muss ständig ›fest im Griff‹ sein.«1008 Im April 1982 musste Ackermann dann Lustik versprechen, bis zu seiner Berentung alle Missstände zu beseitigen – und auch die Staatssicherheit stellte ihm nun ein besseres Zeugnis aus.1009 Schließlich wurde Ackermann noch als »Verdienter Volkspolizist« ausgezeichnet und von Griebsch im Beisein des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung feierlich verabschiedet. Am Ende seiner Dienstjahre blickte Ackermann auf die rege, wenngleich großteils nicht genehmigte Bautätigkeit seiner Haftanstalt mit Stolz zurück. Er hielt seine Vorgehensweise, möglicherweise zu Recht, unter den Bedingungen der Planwirtschaft für die einzige Möglichkeit effektiv zu arbeiten. Dies habe lange Jahre auch Anerkennung gefunden, sei nun aber nicht länger praktikabel. Trotzdem warf er seinen Vorgesetzten Undankbarkeit vor.

1005  Vgl. Information des IMS »Axel Berger« zu Manipulationen durch die Leitung der StVE vom 22.6.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 2, Bl. 50 f. 1006  Information des [FIM] »Heinz« vom 23.7.1981; ebenda, Bl. 56. 1007  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 36–55, Bl. 40. 1008 Ebenda. 1009  Vgl. Vermerk der Verwaltung Strafvollzug vom 6.4.1982; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 3, Bl. 317.

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Alle haben damals mit der Leitung der StVE die Feste gefeiert. Selbst der Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats war in der Einrichtung und der Bauminister, Genosse [Wolfgang] Junker, waren hier und haben sich über die Bautätigkeit in der StVE lobend ausgesprochen. Heute gibt es einige Kläffer und sicherlich auch ein bestimmter Neid und nun ziehen sich einige Funktionäre zurück. Mit dem Genossen Generalmajor Griebsch hat er [Ackermann] ein gutes Verhältnis, das besteht auch heute noch, aber auch er, der Genosse Generalmajor, muss jetzt Weisungen erteilen, die ihm all diese Baumöglichkeiten verbieten. Er muss sich auch von ihm distanzieren, weil er sonst Ärger bekommt. Wörtlich sagte er: ›Der General [Dickel] muss, ob er will oder nicht, mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.‹ Ich bin ihm nicht böse, ich weiß, dass ihm nichts weiter übrig bleibt, wenn er nicht selbst in Schwierigkeiten geraten will. Der neue Leiter wird es in der Einrichtung nicht einfach haben, ich gehe nächstes Jahr in Rente und es wird nicht lange dauern, dann wird in dieser Einrichtung kein Schloss mehr in Ordnung sein, wenn der Leiter der StVE alle Einrichtungen in der BDVP beantragen und sich genehmigen lassen muss.1010

Auf diese Weise verabschiedete sich Ackermann mit einem lachenden und einem weinenden Auge von seinem Posten. Nach einem weiteren Kontrolleinsatz kam der Stellvertreter des Ministers des Innern Günter Giel zu der Einschätzung, dass die Gefängnisleitung »mit großen Anstrengungen jederzeit politisch zuverlässig und mit hoher Einsatzbereitschaft« gearbeitet, Ackermann jedoch »ausgeprägte autoritäre Züge« entwickelt habe. Angeblich aufgrund seines Gesundheitszustandes seien personelle Veränderungen absehbar.1011 In der Folgezeit fungierte Ackermann noch als »persönlicher Beauftragter« des Ministers des Innern, wie er es nannte, und leitete als Zivilbeschäftigter beim Baustab der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei den Weiterbau des Gästehauskomplexes in Rauchfangwerder in der Nähe der Haftanstalt.1012 Ackermann sollte nur mehr 500 Mark monatlich für 16 Wochenarbeitsstunden beziehen und hielt sich deswegen, nicht zu Unrecht, für den »billigsten« Baumeister der ganzen Republik.1013 Der Minister des Innern verfügte dann jedoch, dass Ackermann das Bauleitergehalt parallel zur Vollrente beziehen sollte, obwohl dies den gesetzlichen Regelungen widersprach.1014 So verfügte er sogar über etwas mehr Geld als vor der Pensionierung, hatte jedoch weniger Untergebene, die ihm in Brandenburg-Görden noch die meiste 1010  Absprache [der Operativgruppe des MfS in der StVE Brandenburg] mit dem Genossen Ackermann vom 13.11.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 96. 1011  Schreiben des Stellvertreters des Ministers des Innern Giel an den Stellvertreter des Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei [Potsdam] vom 2.12.1981; ebenda, Bl. 97 f. 1012  Abschlussbericht der Abteilung VII/5 der BV Potsdam zum OV »Rentner« vom 28.2.1983; ebenda, Bl. 58–64. 1013  Auszug aus dem Treffbericht IME »Walter« vom 2.11.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. I, Bl. 89. 1014  Vgl. Treffauswertung IMS »Kellermann« durch Hauptabteilung VII vom 30.3.1983; BStU, MfS, AIM, Nr. 195/89, T. II, Bd. 1, Bl. 146 f.

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Arbeit abgenommen hatten.1015 In alter Verbundenheit besuchte Dickel auch weiterhin den ehemaligen Gefängnisleiter – allerdings in Zivil und ohne Fahrer, gewissermaßen inkognito.1016 2.6.10 Die Achtzigerjahre unter den Gefängnisleitern Papenfuß und Jahn Nach der Pensionierung Ackermanns, die nicht zuletzt der Staatssicherheitsdienst betrieben hatte (siehe auch Kap. 5.3.2.3), wurde im September 1982 Harry Papenfuß mit der Leitung der Haftanstalt Brandenburg-Görden betraut. Im Jahr 1942 geboren, hatte er sich als Vierzehnjähriger von Westberliner Ver­ wandten zur Republikflucht »überreden« lassen, war aber alsbald freiwillig in die DDR zurückgekehrt. Trotz dieses Makels konnte er 1959 in den Dienst der Bereitschaftspolizei treten. Seine politische Linientreue stellte er auch zwei Jahre später unter Beweis, als er an der Abriegelung Westberlins zum Einsatz kam. Nach seiner Dienstzeit bei der Verkehrspolizei sowie einem Fachund Hochschulstudium in Aschersleben wurde er im Jahre 1973 Leiter des Volkspolizeikreisamtes Königs Wusterhausen. Mit seiner Beförderung zum Stellvertreter des Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam im Jahre 1976 wurde er, neben den Bereichen Feuerwehr und Hochschulkader, erstmals für den Strafvollzug zuständig. Recht bald kam Papenfuß als potenzieller Nachfolger Ackermanns ins Gespräch und wurde deswegen, als Vorbereitung auf diesen Einsatz, eigens in die Bezirksparteischule delegiert. Zwar wurden seine mangelnden Erfahrungen im ökonomischen Bereich beanstandet,1017 doch qualifizierte ihn für die Stelle des Gefängnisleiters, dass er seit 1974 inoffiziell für das Ministerium für Staatssicherheit arbeitete, weswegen sich die Geheimpolizei auch für seine Ernennung stark machte (siehe Kap. 5.3.3). In der obersten Gefängnisverwaltung notierte man zu den weiteren Gründen seiner Versetzung nach Brandenburg-Görden, dass er sich mit Griebsch »nicht verstanden« habe.1018 In der Haftanstalt an der Havel betonte Papenfuß die »Sicherheitserfordernisse« stär­ker als sein Vorgänger und verlieh damit den Interessen des Mielke-Mi­nis­te­ 1015  Vgl. Information des FIM »Heinz« vom 19.10.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, T. II, Bd. III, Bl. 320 f. 1016  Vgl. Information der Operativgruppe der Abteilung VII vom 3.10.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 110. Ackermann verstarb im September 2014. 1017  Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam: Bestätigung von Angehörigen des Organs SV für das Kaderreserveprogramm der StVE Brandenburg vom 21.10.1981; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 861/81, Bl. 37–39. 1018  Treffbericht des IME »Hans Görlich«: Einschätzung der einzelnen Teilnehmer am Weiterbildungslehrgang in der SU vom 27.1.1984; BStU, MfS, AIM, Nr. 12527/88, Bd. 2, Bl. 233–238.

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riums größeres Gewicht. So ließ Papenfuß umgehend die Si­cher­heits­stan­dards erhöhen, als am 28. Februar 1983, erstmals seit Jahren, wie­der ein Insasse aus einem Außenarbeitskommando fliehen konnte.1019 Es wur­den an mehreren Stel­ len die Sperrzonen erweitert, neue Stacheldrahtzäune ge­zogen und vier Kom­ mandos mittelfristig aufgelöst. Außerdem wurde geprüft, ob bestimmte Häft­ linge weiterhin im Außenarbeitseinsatz verbleiben durf­ten.1020 Vermutlich mit Blick auf die Verfehlungen und Eigenmächtigkeiten sei­nes Vorgängers spra­chen Papenfuß’ Vorgesetzte anerkennend davon, dass durch dessen Einsatz »die ge­ samte Leitungstätigkeit qualifiziert wurde und auch die Sicherheit immer im Vor­dergrund steht«.1021 Kritisiert wurde hingegen, dass Papenfuß seinen Stellvertretern zu viel Spielraum lasse. Weil die leitenden Mitarbeiter ihre Freiheiten zu schätzen wussten, deckten sie jedoch offenbar ihrerseits mit einem gewissen Korpsgeist Unzulänglichkeiten ihres Chefs. Insbesondere machte Papenfuß keine gute Figur, als der Leiter der Verwaltung Strafvollzug, Wilfried Lustik, am 17. Dezember 1982 zu einer unangemeldeten Alarmübung erschien. Wenige Wochen nach seinem Dienstantritt sollte die Aktion wohl Fehler aufdecken und Papenfuß so zur Loyalität gegenüber der obersten Gefängnisverwaltung verpflichten. Bei seiner überraschenden Visite bemängelte Lustik als erstes, dass sein Wagen von der Wache durchgewunken wurde, da dieser als Legitimation genügte, dass offenbar »höhere Offiziere« in dem Fahrzeug saßen. Dann wurde die Gefängnisleitung erst mit halbstündiger Verspätung von dem fiktiven Vorfall – einer Geiselnahme von Aufsehern durch bewaffnete Häftlinge – informiert. Als der Stellvertreter Operativ, Udo Jahn, eintraf, zog er es vor, auf den Gefängnisleiter zu warten und keine weiteren Schritte zu unternehmen. Papenfuß legte dann fest, durch Scheinverhandlungen mit den Geiselnehmern Zeit zu gewinnen. Außerdem sollten zwei Einsatzgruppen Aufstellung nehmen und auf seinen Befehl hin den Raum der Geiselnehmer stürmen. Doch in diesem Raum lagen sich die beiden Türen, durch die eingedrungen werden sollte, einander gegenüber: »Bei dem befohlenen Einsatz hätten sich die Einsatzkräfte gegenseitig erschossen«, analysierte die Staatssicherheit später. Papenfuß konnte dann jedoch durch rasches Handeln viele Punkte sammeln.1022

1019  Vgl. Abteilung VII/5: Einschätzung der Außenarbeitskommandos der StVE Brandenburg vom 1.3.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 2, Bl. 20. 1020  Vgl. Langfristige Konzeption der StVE Brandenburg zur Gewährleistung und weiteren Erhöhung der Sicherheit der Außenarbeitseinsatzbereiche vom 8.3.1983; ebenda, Bl. 15–17. 1021  Diskussionsbeitrag [eines Mitarbeiters der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam oder der Verwaltung Strafvollzug Berlin] o. D. [24.2.1984]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/190. 1022  Vgl. Bericht der Abteilung VII/5 [der Bezirksverwaltung Potsdam] über die durchgeführte Alarmübung vom 22.12.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 3, Bl. 617–619.

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Papenfuß ließ die Bestimmungen zur Nutzung der Arbeitskraft von Gefange­ nen für private Zwecke erheblich verschärfen.1023 Deren Missbrauch erreichte nicht mehr Dimensionen wie unter seinem Vorgänger, doch ließ sich auch Papenfuß beispielsweise Tisch und Stühle für seine Datsche anfertigen und empfing offenbar den inhaftierten Tischler nach dessen Haftentlassung auf seinem Wochenendgrundstück zum Kaffeetrinken1024 – einerseits eine freundliche Geste, andererseits eine dienstlicherseits streng untersagte Kontaktaufnahme, die Inhaber unterer Dienstgrade den Job hätte kosten können. Größere Fehltritte erlaubte sich Papenfuß, wenn er unter Alkoholeinfluss stand. Der Gefängnisleiter traf sich nämlich gerne mit dem Oberbürgermeister der Stadt Brandenburg, dem Leiter der Kreisdienstelle der Staatssicherheit und dem Leiter des Volkspolizeikreisamtes in der Kellerbar der Haftanstalt. Seine leitenden Offiziere, denen teilweise gar nicht der Sinn nach exzessiven Feiern stand, wurden dann aus ihren nahegelegenen Wohnungen herbeizitiert. Wenn sie zögerlich reagierten, zeigte sich Papenfuß »etwas ungehalten« darüber, dass seine »Befehle« nicht befolgt wurden.1025 In einem anderen Fall demonstrierte Papenfuß einem Offizier der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei in angetrunkenem Zustand das Sicherheitssystem. Zu diesem Zweck löste er zu nächtlicher Stunde siebenmal probeweise Alarm in seinem Dienstzimmer aus und führte den herbeigeeilten Wachleuten mit einer – allerdings nicht geladenen – Waffe vor, wie er sich das Absichern seines Dienstzimmers im Alarmfall vorstellte.1026 Ein aus Sicht der Dienststelle wichtiges Ereignis in dieser Zeit war der Besuch des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am 27. April 1985. Um den Wohnbezirk un­mittelbar neben der Haftanstalt auf ein würdiges Niveau zu bringen, leisteten die Aufseher im Vorfeld 30 unbezahlte sowie 1 850 bezahlte Zusatzschichten.1027 Um den Jahrestag der Befreiung »seines« Zuchthauses zu feiern, erschien Honecker plan­mäßig um 11.15 Uhr am Eingang der Haftanstalt, wo Papenfuß ihm Mel­ dung erstattete. Der Generalsekretär wurde dabei von »ausgewählten Gäs­ten« begleitet, darunter dem Chef der Staatssicherheit, Erich Mielke, und den Po­lit­ büromitgliedern Günter Mittag, Egon Krenz sowie Alfred Neumann, der wie der Staatsratsvorsitzende zu NS-Zeiten selbst in Brandenburg-Görden in­haf­ tiert gewesen war. Die Rolle der sowjetischen Armee bei der Befreiung der Haft­ 1023  Vgl. Anweisung 3/84 des Leiters der StVE Brandenburg o. D.; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 2, Bl. 24–28. 1024  Vgl. Information der Abteilung 13 der Hauptabteilung VII vom 19.8.1987; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 305/82, Bl. 13. 1025  Information der OPG der Abteilung VII zum Leiter der StVE vom 26.1.1986; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 129/89, S. 176. 1026  Vgl. Auszug aus der Information der Quelle »Achim« vom 26.3.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, 1983/89, Bd. I, Bl. 285–287. 1027  Berichterstattung des Leiters der StVE Brandenburg über die schöpferische Initiative der StVE Brandenburg vom 6.6.1985; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/524.

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anstalt wurde durch die Anwesenheit des sowjetischen Botschafters in Ost­ber­lin Wjatscheslaw Kotschemassow und des Oberkommandierenden der sow­je­tischen Streitkräfte in Deutschland Michail M. Saizew gewürdigt. Ge­mein­sam gingen sie zur ehemaligen Hinrichtungsstätte, wo zwei Offiziere des Or­gans Straf­ vollzug als »Ehrenposten« eingesetzt waren. Für die nachfolgende Groß­kund­ gebung am Marienberg wurden 5 000 FDJler versammelt, insgesamt in der Stadt Brandenburg angeblich sogar rund 100 000 Werktätige aufgeboten.1028 Die Kos­ ten der Veranstaltung beliefen sich auf mindestens 200 000 Mark.1029 Nicht mit­ ge­rechnet wurden die Personalkosten für mehrere Tausend Volkspolizisten und Hun­derte Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, die an diesem Tag im Ein­ satz waren.1030 Später bekundete Papenfuß, dass der Festakt »Aufgabe und Mo­ ti­vation« für alle Aufseher bedeute. Dass die Veranstaltung später vom Minister des Innern Friedrich Dickel besonders gelobt wurde, so berichtete Papenfuß un­ ter­würfig, »erfüllt meine Genossen mit Stolz und hat sie stimuliert, noch hö­he­re Leis­tungen [...] zu bringen«.1031 Im Februar 1987 fand ein weiterer »Komplexeinsatz« der obersten Strafvollzugsleitung in der Haftanstalt an der Havel statt. Anlass hierfür war vermutlich der unmittelbar vorangegangene Besuch westlicher Journalisten (siehe Kap. 5.6.4.1). Dabei wurden Papenfuß »große Fortschritte und wesentliche Veränderungen in der Führungs- und Leitungstätigkeit« attestiert. Es herrsche ein allgemein »gutes Klima«, weil es »keine Spannungen innerhalb der Leitung mehr gibt«. Lustik kritisierte zwar vor Ort beispielsweise den verschlissenen Zustand von Decken, Bettwäsche und Bekleidung. Doch hatte er kein Interesse, diese Missstände an die große Glocke zu hängen und nahm sie daher nicht in den schriftlichen Kontrollbericht an den Minister des Innern auf. Er gab sich mit der Zusicherung Papenfuß’ zufrieden, die Mängel würden im Jahresverlauf abgestellt.1032 Aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit – und der besonderen Arbeitsbelastung bei der Durchführung der Amnestie von 19871033 – musste 1028  Vgl. Neues Deutschland vom 29.4.1985, S. 1–3. 1029  Vgl. BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/400. 1030  So waren bei einer ähnlichen Veranstaltung im April 1980 4 523 Volkspolizisten und 868 hauptamtliche MfS-Mitarbeiter aufgeboten worden. Durch »Sondertreffprämien« war außerdem eine nicht genannte Zahl von inoffiziellen Mitarbeitern zur Teilnahme und zur verdeckten Absicherung der Veranstaltung motiviert worden. Vgl. Einsatzplan des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam vom 1.4.1980; BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. 911, Bl. 49–62; KD Brandenburg: Aktion »II« vom 24.4.1986; ebenda, Bl. 88. 1031  Berichterstattung des Leiters der StVE Brandenburg über die schöpferische Initiative der StVE Brandenburg vom 6.6.1985; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/524. 1032  Vgl. Protokoll über die mündliche Auswertung des Komplexeinsatzes der Verwaltung Strafvollzug im Bezirk Potsdam vom 23.2.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1223, Bl. 39–41. 1033  Information der Operativgruppe der Abteilung VII über Stimmungen des Leiters der StVE zur Amnestie vom 17.11.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 389.

Die Haftanstalt Brandenburg-Görden

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Papenfuß jedoch Ende Januar 1988, zwei Monate früher als geplant, berentet werden. Er arbeitete dann noch seinen Nachfolger Udo Jahn ein, den er selbst protegiert hatte.1034 Der 1949 geborene Jahn wollte eigentlich bildender Künstler werden, kam an der Kunsthochschule Weißensee jedoch nicht durch die Endauswahl. Resigniert ließ er sich 1970 nach seiner Tätigkeit bei den Grenztruppen der Nationalen Volksarmee durch den bereits dort tätigen Vater eines Freundes für den Dienst in der Haftanstalt Brandenburg-Görden gewinnen.1035 Innerhalb weniger Jahre stieg er vom Oberwachtmeister zum Leutnant des Strafvollzugs auf. Im November 1976 wurde er zum Leiter der Vollzugsabteilung I befördert und vier Wochen später vom Mielke-Apparat als Inoffizieller Mitarbeiter verpflichtet (siehe Kap. 5.3.3).1036 Er bewarb sich dann um ein zweijähriges Studium an der Hochschule der Deutschen Volkspolizei ab November 1979,1037 das er mit einem Diplom als Staatswissenschaftler abschloss. Weil zu diesem Zeitpunkt in BrandenburgGörden keine geeignete Planstelle frei war, wurde er im Herbst 1981 zum Leiter der Untersuchungshaftanstalt Neuruppin ernannt, damit er praktische Erfahrungen als Leiter sammeln konnte. Nach Brandenburg-Görden zurückversetzt, bekleidete er zunächst die Funktion des Stellvertreters Operativ, dann die des Stellvertreters für Vollzug. Jahn galt als »selbstbewusster, ordentlicher und korrekter Genosse, der eindeutig einen festen Klassenstandpunkt vertritt und als dienstlicher Vorgesetzter die Politik unserer Partei konsequent durchsetzt«. Demgegenüber fiel nicht ins Gewicht, dass er, statt selbst Sprechstunden mit den Häftlingen durchzuführen, diese dienstliche Verpflichtung meist an die Leiter der Vollzugsabteilungen delegierte,1038 was Beschwerden wohl noch aussichtsloser machte. Bereits während seiner Tätigkeit als Stellvertreter Operativ hatte auch er sich von Gefangenen ein Eigenheim errichten lassen, sodass unter den Aufsehern die Auffassung herrschte: »Die Ackermanns kommen und gehen«.1039 Auch ließ Jahn sich ausgerechnet von solchen Häftlingen das Dach seines Privathauses reinigen, die eigentlich nicht außerhalb der Gefängnismauern hätten arbeiten dürfen.1040 Wenngleich er sich 1034  Vgl. Operativgruppe der Abteilung VII: Einschätzung der Leitung der Straf­voll­zugs­ein­ rich­tung vom 21.8.1986; ebenda, Bl. 197 f. 1035 Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen Gefängnisleiter Udo Jahn am 1.3.2016 in Brandenburg, 4 S. 1036  Bericht der Abteilung VII/5 über durchgeführte Werbung vom 29.11.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 297, Bd. 1, Bl. 120–122. 1037  Vgl. Jahn, Udo: o. T. (Interview mit U. Jahn). In: Heyme, Torsten; Schumann, Felix: »Ich kam mir vor wie’n Tier«. Knast in der DDR. Berlin 1991, S. 238–245. 1038  Abteilung VII [der BV Potsdam]/OPG: Information zum Gen. OSL des SV Jahn, Udo vom 20.11.1987; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 85/87, Bd. 2, Bl. 366 f. 1039  Grobeinschätzung der Tätigkeit Hptm. Jahn durch [den IMS] »Liti« o. D. [1/1983]; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 29/89, Bl. 140. 1040  Vgl. Auszug aus Treffbericht [mit dem] FIM »Motor« vom 8.10.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 209/91, Bd. 3, Bl. 49.

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Der Strafvollzug

der Arbeitskraft der Häftlinge weitaus weniger bediente, als dies Ackermann getan hatte, bescheinigte ihm seine vorgesetzte Dienststelle doch, er müsse »weiter an der Profilierung seiner Persönlichkeit und seines Führungsstils arbeiten«.1041 Als Kunstliebhaber stieß Jahn bei seinen Untergeben gar auf Unverständnis; etliche von ihnen waren der Meinung, »eigentlich ist es ja ein Künstler, wenn der nicht Uniform anhätte und diesen Dienstgrad hätte, dann wird er auch mit langen Haaren durch die Gegend gehen«.1042 Auch galt seine Haltung zur SED als immer noch verbesserungswürdig; so äußerte er gelegentlich, wenn er Ansprachen vor den Parteikollektiven halten sollte: »Was soll ich da?«1043 Da außerdem seine Ehefrau nicht der Partei beitreten wollte, wurde hinter vorgehaltener Hand bereits über seine Ablösung spekuliert.1044 Nach der friedlichen Revolution von 1989 vermochte Jahn in der Öffentlichkeit Punkte zu sammeln, indem er sich für einige Häftlinge einsetzte, deren beabsichtigte vorzeitige Entlassung an juristischen Spitzfindigkeiten bzw. bürokratischen Hürden zu scheitern drohte.1045 Während der dramatischen Besetzung vom September 1990 (siehe Kap. 4.1.20) lobten die Häftlinge sogar ausdrücklich die »konstruktive, sachliche und verantwortungsbewusste Haltung« der Gefängnisleitung,1046 was vor allem Jahn galt. Als im Juli 1991 jedoch seine IM-Tätigkeit für die Staatssicherheit ans Tageslicht kam, Vorwürfe gegen Aufseher wegen körperlicher Misshandlungen zu DDR-Zeiten laut wurden und Jahn eine harte Gangart gegenüber den Insassen nicht abstritt,1047 wurde er durch den aus Nordrhein-Westfalen stammenden Juristen Volker Peters abgelöst und übernahm zunächst die Funktion eines Stellvertreters.1048 Peters wurde seinerseits wenig später durch Bernd Richardt ersetzt,1049 dem im Mai 2002 wiederum Hermann Wachter folgte. Als sich im Mai 2004 zwar Vorwürfe gegen »Rollkommandos« von Aufsehern als haltlos erwiesen,1050 fünf 1041  Bericht des Stellv. des Chefs F/SV der BDVP Potsdam über die in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg durchgeführte Komplexkontrolle vom 29.9.1989; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/470. 1042  Tonbandabschrift der Einschätzung des OSL Jahn, Udo vom 10.11.1987; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 130/89, Bl. 370–372. 1043  Vgl. ebenda. 1044  Vgl. Information der Abteilung VII/OPG zum Ltr. der StVE vom 17.4.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 120, Bd. 2, Bl. 15. 1045  Vgl. Die Köppe heiß. Der Justizminister und der Gefängnisdirektor in Brandenburg möchten fünf Häftlinge sofort freilassen – aber sie dürfen nicht. In: Der Spiegel Nr. 28/1991 vom 8.7.1991, S. 64. 1046  Vgl. Dementi vom 21.9.1991; Privatarchiv Johannes Drews. 1047  Vgl. Super! vom 16.7.1991, S. 5. 1048  Vgl. Märkische Allgemeine Zeitung vom 19.7.1991. Zu Peters siehe auch Peters, Volker: Neue Technik für mehr Sicherheit im Justizvollzug. In: NRW. Justiz-intern Nr. (2003) 1, S. 4 f. 1049  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 213. 1050  Nach Ansicht Ansorgs hingegen lag die »Analogie zur DDR-Strafvollzugspraxis […] auf der Hand«. Ansorg, Leonore: Die juristische Aufarbeitung von DDR-Unrecht im Strafvollzug.

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Bedienstete jedoch wegen unterlassener Hilfeleistung gegenüber einem renitenten, herzkranken Insassen vom Dienst suspendiert wurden,1051 erfolgte auch die Ablösung Wachters.1052 Das Gefängnis an der Havel wird als brandenburgische Justiz­vollzugsanstalt weiterhin genutzt; der bauliche Zustand gilt, im Gegensatz etwa zu Potsdam (oder der im Jahr 2002 geschlossenen Haftanstalt Cottbus) als gut.1053 Die Bereicherung der Aufseher durch private Arbeitsaufträge an die Gefan­genen, wie zu DDR-Zeiten üblich (siehe Kap. 2.6.8), setzte sich mindestens bis ins Jahr 2003 fort.1054 Eine grundlegende Reform des Strafvollzugs in Ost­deutschland kam über Jahre nur langsam voran, insbesondere wegen der mangelnden Flexibilität eines Teils des älteren Personals (siehe Kap. 2.5.4) sowie wegen leerer Kassen der öffentlichen Hand.1055

Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Angehörige der Strafvollzugsanstalt Brandenburg nach 1989. In: Deutschland Archiv 38 (2005) 4, S. 589–597, hier 597. 1051  Vgl. Berliner Zeitung vom 11.5.2004, S. 22; Tagesspiegel vom 11.5.2004, S. 14. 1052  Vgl. Bullion, Constanze von: Unselige Tradition. In den vergangenen fünf Jahren 80 Strafanzeigen gegen Gefängnisaufseher in der Stadt Brandenburg. In: Süddeutsche Zeitung vom 11.5.2004, S. 9. 1053  Schreiben des Ministeriums der Justiz und für Bundes- und Europaangelegenheiten vom 23.1.1997; abgedruckt in: Vomberg, Anja: Hinter Schloss und Riegel. Gefangenenzeitungen aus Nordrhein-Westfalen und Brandenburg zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Godesberg 2000, S. 440 f. 1054  Vgl. Probst, Gabi: Schnäppchenjagd im Knast. In: rbb-online vom 5.1.2005; http://www. sfb.de/klartext/beitrag/2005/nachgefragt_was_4.html (letzter Zugriff: 13.11.2009). 1055  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 213.

3. Die Gefangenschaft 3.1 Das politische Konzept des DDR-Strafvollzugs 3.1.1 Die Konzeption des »sozialistischen Strafvollzugs« Sinn und Zweck einer Haftstrafe im SED-Staat sollte es sein, den »Straftäter« büßen zu lassen, ihn durch seine sichere Verwahrung und seine Isolation von der übrigen Gesellschaft fernzuhalten, ihn zu sozial und politisch angepasstem Verhalten zu zwingen, während der Inhaftierung seine Arbeitskraft auszubeuten sowie durch die Strafe des Freiheitsentzugs potenzielle Nachahmer abzuschrecken.1 Indem kriminelle und politische Unruhestifter weggesperrt und diszipliniert wurden, hatte der Strafvollzug auch in der DDR eine in hohem Maße herr­ schaftsstabilisierende Funktion.2 Dies bedeutete hier jedoch die Festigung einer Diktatur und schloss die Disziplinierung politischer Straftäter ein. Die Ver­ büßung einer Freiheitsstrafe zielte in der DDR auch viel stärker darauf, die Persönlichkeit der Gefangenen zu brechen und sie politisch zu beeinflussen. Ebenso war der ökonomische Aspekt der Häftlingsarbeit viel wichtiger als in freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten, während andere Strafzwecke (wie die der Abschreckung, der Sühne und der Gefahrenabwehr) über die Systemgrenzen hinweg eine Entsprechung finden. Die genannten Aufgaben des »sozialistischen Strafvollzugs« standen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Die Gefangenen sicher zu verwahren war bei­ spielsweise mit einem effizienten Arbeitseinsatz meist nicht zu vereinbaren. Den Insassen minimalen Spielraum bei der Gestaltung ihrer Zellen zu gewähren, konnte der Sozialisation förderlich sein, jede Annehmlichkeit jedoch die Funktion der Sühne untergraben. Häftlingsarbeit hätte (etwa in Form eines freiwilligen Ausbildungsangebots) vielleicht tatsächlich erzieherisch nützlich sein können, doch ging es letztlich vor allem um Normerfüllung – und die politischen Häftlinge waren ja in der Regel ohnehin nicht aufgrund mangelnder Arbeitsmotivation straffällig geworden.

1  Vgl. u. a. § 2 des Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz (SVWG) vom 12.1.1968 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestimmung (Strafvollzugsordnung) vom 15.1.1968. Hg. als Arbeitsmaterial von der Verwaltung Strafvollzug des MdI; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10068; Buchholz; Tunnat; Mehner: Hauptaufgaben des sozialistischen Strafvollzugs, S. 37. 2  Vgl. Thesen zum Thema »Ziel und Inhalt der politisch-ideologischen Arbeit im Organ Strafvollzug« [Vortrag von Schmidt-Bock auf der Schulungs- und Arbeitstagung des Leiters der VSV 22.11.–2.12.1965], 32 S.; BArch DO1 32/36357.

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Die Gefangenschaft

Die Prioritäten verschoben sich dabei erheblich: Zu Beginn der Fünfzigerjahre besaß die sichere Verwahrung der Insassen absoluten Vorrang vor allen anderen Aufgaben und hatte bis zuletzt Priorität.3 Doch ab Mitte der Fünfzigerjahre wurde der Arbeitseinsatz generalstabsmäßig organisiert und die ökonomische Ausbeutung der Insassen immer wichtiger. Unter Erziehung der Insassen verstand man seinerzeit das unerbittliche Aufrechterhalten der Disziplin, während echte pädagogische Prinzipien erst in den Sechzigerjahren eine gewisse Bedeutung erlangten. Die Wiedereingliederung der Haftentlassenen gewann ebenfalls erst in dieser Zeit an Gewicht;4 in der Praxis verbarg sich dahinter allerdings mehr die bürokratische Organisation des Entlassungsvorgangs, als dass ein individuelles Hilfsangebot bei der Resozialisierung unterbreitet worden wäre. Diese Grundlinien der Strafvollzugspolitik bestimmte die SED-Führung selbst (siehe Kap. 2.2), doch konnten die Leiter der Verwaltung Strafvollzug in einem engen Rahmen unterschiedliche Prioritäten verfolgen (siehe Kap. 2.1.1) und auch die Gefängnisleiter mitunter eigene Akzente setzen (so wie in der Haftanstalt Brandenburg-Görden, siehe Kap. 2.6.6 bis 2.6.9). Der Strafvollzug der DDR folgte somit einer »ideologisch orientierten, disziplinierenden Erziehungskonzeption«.5 Auf dem Papier kam der »Erziehung« der Insassen, gerade ab den Sechzigerjahren, sogar besondere Bedeutung zu.6 Eine Veränderung von politisch oder sozial unerwünschtem Verhalten sollte erzwungen bzw. etwaiger Widerstand der Häftlinge notfalls gewaltsam gebrochen werden. Jedoch ging das Erziehungskonzept von der falschen Annahme aus, die menschlichen Verhaltensweisen durch Indoktrination und Zwang beliebig verändern zu können. Wie bei Erziehungsversuchen in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch gründete dies auf der festen Überzeugung von der Formbarkeit des Menschen zu einer »sozialistischen Persönlichkeit« und auf dem Glauben, die Häftlinge von der »Sieghaftigkeit des Sozialismus« überzeugen zu können.7 Besonders bei Jugendlichen 3  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 133. 4  Vgl. u. a. Meyer, Alfred; Mehner, Heinrich: Wiedereingliederung aus der Strafhaft entlassener Personen in das gesellschaftliche Leben. Ostberlin 1965. 5  Laubenthal, Klaus: Strafvollzug. Berlin 1998, S. 48. 6  Vgl. u. a. Sonntag, Marcus: DDR-Arbeitslager. Orte der Schaffung eines »neuen Menschen«? In: Deutschland Archiv 44 (2011) 2, S. 208–215. 7  »Die weltverändernde Kraft der sozialistischen Ideen und die Möglichkeiten zur Einwirkung auf die Bewusstseinsentwicklung gilt es auch beim Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug im Interesse der Strafgefangenen selbst, wie im Interesse der sozialistischen Gesellschaft insgesamt, planmäßig und zielgerichtet zu nutzen.« Und weiter hieß es: »Direkter Lehrgegenstand bei der staatsbürgerlichen Schulung ist insbesondere die Ideologie der Arbeiterklasse.« Haubenschild, Hans u. a. (Hg.): Die staatsbürgerliche Erziehung und Bildung der Strafgefangenen. Die Gestaltung der arbeitsfreien Zeit. Ostberlin 1972, S. 22 u. 30. Siehe auch Szkibik, Heinz: Sozialistischer Strafvollzug. Erziehung durch Arbeit. Ostberlin 1969, S. 42 f.; Morré, Jörg: Vom Niedergang des Erziehungsgedankens im Strafvollzug der DDR. In: Klewin, Silke; Reinke, Herbert; Sälter, Gerhard (Hg.): Hinter Gittern. Zur Geschichte der Inhaftierung zwischen Bestrafung, Besserung und politischem Ausschluss vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Leipzig 2010, S. 241–254.

Das politische Konzept des DDR-Strafvollzugs

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galt die Persönlichkeit als formbar und sollte dementsprechend beeinflusst werden.8 Dieses Konzept war indes wegen der mangelnden Attraktivität des sozialistischen Gesellschaftsmodells und wegen der »unbelehrbaren« Grundhaltung vieler politischer Gefangener von vornherein zum Scheitern verurteilt. Auch einige kriminelle Häftlinge waren in ihrer Haltung und in ihrem sozialen Verhalten derartig auffällig, autistisch oder gar aggressiv, dass jegliche Versuche einer Beeinflussung aussichtslos waren und der Strafvollzug sich auf deren sichere Verwahrung beschränken musste.9 Die Umsetzung des Erziehungskonzepts in die Praxis war also in hohem Maße mit Mängeln behaftet – weil die ideologischen Grundannahmen unzutreffend waren, sich die pädagogischen Fähigkeiten der Aufseher als unzulänglich erwiesen und weil die praktische Umsetzung der Erziehungskonzeption nicht etwa bedeutete, dass Gefangene wirkungsvoll in Besserungskonzepte einbezogen wurden, sondern in jeder Hinsicht bevormundet und mit mehr oder weniger sinnlosen Vorschriften gegängelt wurden. »Das Vertrauen [...] in die tätige Selbstveränderung des Menschen blieb«, wie in anderen Bereichen der DDR-Gesellschaft, »alles in allem gering«.10 Ausgehend von der Annahme, die »Straftäter« hätten gegenüber der Gesellschaft etwas »gutzumachen«, waren politischer Konformitätsdruck und Bevormundung hinter den Gefängnismauern noch stärker als in der DDR gemeinhin üblich. Dass bei der »Umerziehung« repressive Mittel entscheidend seien, sprach man Ende der Fünfzigerjahre noch offen aus. Kriminalitätsbekämpfung sei nicht so sehr »durch Überzeugung, sondern vorwiegend durch staatlichen Zwang in den verschiedensten Formen« möglich. »Der Strafvollzug muss sowohl auf den Rechtsbrecher als auch auf die labilen Elemente in der Gesellschaft eine abschreckende Wirkung ausüben. Die Strafe muss als Strafe wirken, und im Strafvollzug darf es – graduell unterschiedlich – an einer bestimmten Härte der Haftbedingungen nicht fehlen. Die Strafvollzugsanstalt ist kein Sanatorium. Die Härte der Haftbedingungen muss in den unterschiedlichen Formen und Methoden des Vollzugs der Strafe zum Ausdruck kommen. Mit unabwendbarer Konsequenz muss gleichzeitig die Einhaltung aller Regeln des Anstalts- bzw. Lagerlebens gefordert werden.« Zwar seien die Haftbedingungen »je nach dem Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit des Verbrechens« zu differenzieren, doch »darf daraus keinesfalls die Schlussfolgerung gezogen werden, dass bei leichten 8  Vgl. u. a. Zimmermann, Verena: Den neuen Menschen schaffen. Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945–1990). Köln 2004, S. 188; Gatzemann: Erziehung zum »Neuen Menschen«, S. 25. 9  Vgl. u. a. Bericht der OPG zum Treff mit dem IMS »Subeck« vom 31.5.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1212/86, Teil II, Bd. 1, Bl. 227–234 (MfS-Pag.). 10 Geißler, Gert; Wiegmann, Ulrich: »Das Sein verstimmt das Bewußtsein«. Zur gesellschaftspolitischen Funktionalisierung der Erziehung in der DDR-Gesellschaft. In: Benner, Dietrich; Schriewer, Jürgen; Tenroth, Heinz-Elmar (Hg.): Erziehungsstaaten. Historischvergleichende Analysen ihrer Denktraditionen und nationaler Gestalten. Weinheim 1998, S. 225–247, hier 239.

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Die Gefangenschaft

Verbrechen der staatliche Zwang keine Berechtigung mehr habe«.11 Diese übermäßige Betonung einer strengen Disziplin verriet ein eklatantes Defizit an modernen, pädagogischen Konzepten im Strafvollzug der DDR.12 Der Glaube an die Formbarkeit der »sozialistischen Persönlichkeit« koinzidierte mit der vulgärpsychologischen Maxime, dass die »Umerziehung« letztlich doch nur zum Besten der Betroffenen sei. »Unter Humanismus im Strafvollzug ist nicht zu verstehen, den Rechtsbrechern während der Haftzeit möglichst viele Vergünstigungen zu gewähren und den Haftbedingungen ihre Härte zu nehmen. Damit würde kein nennenswerter Erfolg bei der Bekämpfung der Kriminalität erreicht werden«,13 wie es Ende der Fünfzigerjahre hieß. Solange die Häftlinge sich nicht konform verhielten, standen ihnen auch keine Vergünstigungen oder auch nur eine gerechte Behandlung zu. »Die Rechte der Strfg. [Strafgefangenen] werden erst gewährt, wenn diese ihren Pflichten allseitig nachkommen.« Oberste Pflicht der Häftlinge war nun mal der blinde Gehorsam, der mit dem bisherigen Fehlverhalten begründet wurde. »Die erste Aufgabe, die die Rechtsverletzer im Strafvollzug kennenlernen müssen, ist die Einhaltung der Ordnung, sich unterzuordnen, und sie müssen arbeiten lernen. Denn diese Fakten sind es doch, die wirkten, als sie sich gegen unsere Gesetze auflehnten und straffällig wurden.« Deshalb sei der Strafvollzug »in erster Linie ein Zwangsapparat«.14 Unter Resozialisierung im Strafvollzug verstand man in der DDR also im Wesentlichen, die Persönlichkeit der Häftlinge zu brechen, gleich ob ihr unerwünschtes Verhalten nun kriminell oder politisch motiviert gewesen war. Als probates Mittel zum Zwecke der »Erziehung« galt das unbedingte Aufrechterhalten von Disziplin, Sauberkeit und penibler Ordnung. Nicht umsonst war daher der militärische Drill in den Fünfzigerjahren das favorisierte erzieherische Leitbild der Gefängnisverwaltung.15 11  Themenplan der Verwaltung Strafvollzug für die Lektionen an der Schule des MdI vom 6.6.1958; BArch DO 1 11/1489, Bl. 206–220. 12  Wie wenig pädagogisch das Konzept des DDR-Strafvollzugs ausgerichtet war, stellte im Juni 1956 sogar eine polnische Delegation der Abteilung für Jugendfragen beim Ministerium für Justiz fest, als sie das Jugendhaus Dessau besichtigte. Es war dann von einer »Dressur« und »barbarisch harten« Arreststrafen im Jugendstrafvollzug der DDR die Rede; Wachtürme, Hundestreifen etc. seien in Polen nicht üblich. Bericht der Verwaltung Strafvollzug vom 12.6.1956; BArch DO1 11/1604, Bl. 15 f.; Bericht des Referats Jugendstrafvollzug der Verwaltung Strafvollzug vom 9.6.1956; ebenda, Bl. 18. 13  Themenplan der Verwaltung Strafvollzug für die Lektionen an der Schule des MdI vom 6.6.1958; BArch DO1 11/1489, Bl. 206–220. 14  Vgl. [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des Polit-Stellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 189–211. 15  Folglich mussten die Häftlinge in Brandenburg-Görden bis in die 70er-Jahre ihre Freistunde im durch Kalfaktoren vorgegebenen Gleichschritt, schweigend und hintereinander im Kreis gehend absolvieren. Dabei gingen die Anweisungen so weit, dass die Häftlinge ihre Mütze nur in einer der beiden Hände halten durften und die offene Seite der Mütze nach außen, in Richtung der Aufseher,

Das politische Konzept des DDR-Strafvollzugs

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Die Formen dieser [in einer Haftanstalt waltenden] Ordnung können sich von der in Militäranstalten notwendigen Ordnung nicht wesentlich unterscheiden, da sich die Formen des Zusammenlebens auch nicht wesentlich unterscheiden. [...] Die Notwendigkeit dieser Ordnung ergibt sich jedoch nicht nur aus dem Zusammenleben einer mehr oder weniger großen Anzahl von Strafgefangenen auf engem Raum, sondern auch aus den besonderen Bedingungen des Strafvollzugs überhaupt. Die Offiziere und Wachtmeister des Strafvollzugs müssen die Möglichkeit haben, jede Bewegung des einzelnen Strafgefangenen zu kontrollieren, um die Sicherheit ihrer eigenen Person und des Strafvollzugs garantieren zu können. Aus diesem Grunde ist es notwendig, dass a) alle Verrichtungen der Strafgefangenen – so weit es möglich und zweckmäßig ist – durch eine einheitliche Kommandosprache angeordnet werden; b) die Strafgefangenen eine einheitliche Kleidung tragen; c) die Strafgefangenen sich außerhalb der Verwahrräume in geschlossenen Formationen bewegen; d) der einzelne Strafgefangene bzw. der Verantwortliche einer Gruppe von Strafgefangenen den Offizieren und Wachtmeistern des Strafvollzugs Meldung über die gegenwärtige Verrichtung erstattet, so oft das notwendig ist; e) in den Verwahrräumen eine einheitliche Ordnung herrscht (Zellenordnung). [...] Die militärische Disziplin ist auch für den Strafvollzug sowohl Mittel bei der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in den Objekten als auch Mittel für die Erziehung der Strafgefangenen zur unbedingten Unterordnung unter die vom Strafvollzug (vom Staat) bestimmte Ordnung. [...] Natürlich ist die militärische Disziplin für den Strafgefangenen so lange Zwang, bis ihm die Notwendigkeit der strengen Ordnung bewusst wird und der Zwang durch freiwillige oder bewusste Unterordnung abgelöst wird. Die militärische Disziplin ist ein Mittel, um den Widerstand der Strafgefangenen gegen die Arbeiter- und Bauernmacht und ihre Vertreter, die Offiziere und Wachtmeister des Strafvollzuges, zu brechen. Die Erziehung zur militärischen Disziplin ist deshalb ein Teil des Erziehungsprozesses, der an den Strafgefangenen vollzogen werden muss. Dieser Erziehungsprozess vollzieht sich nicht spontan, sondern er muss von den Offizieren und Wachtmeistern des Strafvollzugs bewusst und entschlossen durchgeführt werden. Was die Durchsetzung der militärischen Disziplin betrifft, so ist sie die erste Voraussetzung für die Durchführung aller weiteren Erziehungsmaßnahmen gegenüber den Strafgefangenen (Berufsausbildung, Arbeitseinsatz, kulturelle Betreuung usw.).16

Die Betroffenen sahen in den vielfältigen Zwängen und der militärischen Dis­ ziplin, denen man sie unterwarf, zu Recht eine vorsätzliche Demütigung und sinnlose Gängelung. Aus Sicht der Verwaltung Strafvollzug sollten die Misse­ täter zunächst bei ihrer Verurteilung die ganze Härte des Gesetzes zu spüren zeigen musste. Dies wurde förmlich damit begründet, dass der so unterbundene Austausch von Gegenständen einen Zugewinn an Sicherheit bedeute, doch diente diese Vorschrift – wie viele andere – in Wirklichkeit fast ausschließlich zur Drangsalierung der Insassen. Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling R. L. am 24.7.2001 in Berlin, 5 S. Und bereits in den Jugendwerkhöfen wurde militärische Disziplin favorisiert. Vgl. Gatzemann: Erziehung zum »Neuen Menschen«, S. 39. 16  Entwurf einiger Bemerkungen der Verwaltung Strafvollzug zur militärischen Disziplin vom 19.12.1955; BArch DO1 11/1493, Bl. 94–96.

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Die Gefangenschaft

bekommen und anschließend unter harten Haftbedingungen leiden. »Der humanitäre Gehalt liegt gerade darin, dass der Strafvollzug als Klasseninstrument der Arbeiterklasse deren Willen vollstreckt, den Widerstand der Feinde des Volkes mit aller Konsequenz bricht, mit den Mitteln des staatlichen Zwanges die sich im Verbrechen widerspiegelnde Erscheinung der Zersetzung, der Fäulnis und des Parasitentums als Ausdruck der kapitalistischen Unmoral bekämpft und sich die Umerziehung der Rechtsbrecher zu brauchbaren Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft zum Ziele setzt.«17 Die politischen Gegner des SED-Regimes auszuschalten, weltanschaulich umzuerziehen und zu konformem Verhalten zu zwingen, machte den »sozialistischen Strafvollzug« zu einer wichtigen Waffe in den Händen der SED-Diktatur. Die Wirksamkeit, die Spürbarkeit der Strafe mit ihrem Zweck wird aber vor allem erst vornehmlich durch ihren Vollzug, durch die Tätigkeit der Angehörigen des Organs SV gegenüber dem Staatsverbrecher gesichert. Es muss versucht werden, bei Einsatz aller Mittel, vor allem auch der politisch-kulturellen Einwirkung, die politisch-ideologische Abkehr dieser Strafgefangenen vom Imperialismus, Militarismus, Revanchismus zu erreichen. Es entspricht der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR und der nationalen Lage, dass unser Staat die Strafe differenziert anwendet und die Strafe[n] in ihren Funktionen und Strafzweck Unterschiede aufweisen. Demzufolge kann auch die Strafe bei Staatsverbrechen nicht den gleichen Zweck verfolgen wie bei Verbrechen der allgemeinen Kriminalität.18

Dabei wurde gemäß fundamentaler ideologischer Glaubenssätze zwischen dem Strafvollzug in sozialistischen und westlichen Systemen unterschieden. So sei Disziplin, wie die oberste Gefängnisleitung im Jahre 1955 ausführte, in allen Staatsund Gesellschaftsordnungen gefordert, doch diene Ordnung »im kapitalistischen Staat dem Kapitalismus und im sozialistischen Staat dem Sozialismus«. Im »Kapitalismus« könne die Ordnung »nur durch Zwang und Drill durchgesetzt und aufrechterhalten werden, weil die Interessen des Staates nicht übereinstimmen mit denen der Mehrheit der Bevölkerung«. Im Sozialismus hingegen werde der Zwang abgelöst »durch die freiwillige, bewusste Unterordnung. Das ist möglich, weil im Sozialismus die Interessen des Staates übereinstimmen mit denen der Mehrheit der Bevölkerung.« Bei der Kriminalität handle es sich ohnehin um ein Phänomen der untergehenden kapitalistischen Gesellschaft, für die im Sozialismus

17  Themenplan der Verwaltung Strafvollzug für die Lektionen an der Schule des MdI vom 6.6.1958; BArch DO1 11/1489, Bl. 206–220. 18  Vgl. Thesen zum Thema »Ziel und Inhalt der politisch-ideologischen Arbeit im Organ Strafvollzug« [Vortrag von Schmidt-Bock auf der Schulungs- und Arbeitstagung des Leiters der VSV 22.11.–2.12.1965], 32 S.; BArch DO1 32/36357.

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kein Platz mehr sei.19 Dies entsprach der klassisch marxistischen Lehre von der sozialistischen Übergangsphase zur kommunistischen Gesellschaftsordnung, betrachtet aus der spezifischen Warte des Strafvollzugs. Die »Erziehung der Menschen der sozialistischen Epoche« erklärte der VI. SED-Parteitag von 1963 zu einer »Hauptfrage«.20 In der Folge maß auch das ostdeutsche Gefängniswesen der Erziehung und Resozialisierung der »Straftäter« einen höheren Stellenwert bei (siehe Kap. 3.1.2). Die Häftlinge galt es jetzt »so umzuerziehen, dass sie sich künftig bewusst in die sozialistische Gesellschaftsordnung einordnen, verantwortungsbewusst einer geregelten Arbeit nachgehen, ihren Pflichten gegenüber unserem Staat und ihrer Familie gerecht werden und am gesellschaftlichen Leben aktiv Anteil nehmen«.21 Dass dabei mit harten Haftbedingungen allein nicht viel zu erreichen war (und ein Versiegen der Kriminalität sich nicht absehen ließ), erkannte in diesem Zeitraum auch die Verwaltung Strafvollzug. Stärker als zuvor sollten nun differenzierte Behandlung, Überzeugungsarbeit und verstärkte Bildungsanstrengungen das Phänomen der Kriminalität an seinen Wurzeln bekämpfen. So führte der Stellvertreter des Innenministers, Herbert Grünstein, aus, dass »wenn wir die Wiederstraffälligkeit vom Kern her beseitigen wollen, dann müssen wir auch den Strafgefangenen ein höheres Bildungsniveau beibringen, weil ohne dieses höhere Bildungsniveau sie ihre Aufgaben als Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik nicht einschätzen und nicht erkennen können«. Auch aus diesen Worten sprach indes mehr die Überzeugung von der Sieghaftigkeit des Sozialismus als die Bereitschaft, Bildung als Befähigungsgrundlage einer selbstverantwortlichen Lebensgestaltung zu begreifen. Immerhin erkannte Grünstein, dass der sozialistische Strafvollzug mit einer allein auf Zwang basierenden Erziehungskonzeption keine großen Erfolge erzielen würde, dass viele Gefangene »wegen ihrer Bildungsschwäche« straffällig geworden waren und dass hier »sehr komplizierte Probleme auftreten können«. Zukünftig gelte es, sich »noch stärker« mit Problemen der Pädagogik, der Psychologie und der Psychiatrie auseinanderzusetzen.22 Mag die oberste Gefängnisverwaltung auch neue Ansätze ins Spiel gebracht haben, verweigerten viele Insassen trotzdem ihre »Wiedereingliederung« in die sozialistische Gesellschaft und zogen es vor, sich vom Westen freikaufen zu lassen (siehe Kap. 5.6.5). Dass 19  Entwurf einiger Bemerkungen der Verwaltung Strafvollzug zur militärischen Disziplin vom 19.12.1955; BArch DO1 11/1493, Bl. 94–96. 20  Ulbricht, Walter: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: Protokoll des VI. Parteitages der SED, Bd. I. Ostberlin 1963, S. 28–250, hier 29. 21  Referat des Ministers des Innern und Chefs der DVP Dickel auf der Arbeitstagung zu Problemen des Strafvollzugs vom 11.8.1965, 51 S.; BArch DO1 32/36357. 22  Vgl. Referat des Generalleutnants Grünstein auf der Tagung mit den Leitern der selbstständigen Vollzugseinrichtungen und den Abteilungsleitern SV der BDVP in der StVA Brandenburg am 28.6.1967, 38 S.; ebenda.

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sich die Gefängnisleitungen Illusionen hingaben, was die Läuterung der Insassen betrifft,23 zeigte auch die hohe Rückfallquote nach der Haftentlassung (siehe Kap. 4.1). 3.1.2 Die politische Beeinflussung der Gefangenen Das Gefängniswesen der DDR wollte nicht nur die kriminellen Häftlinge auf den »rechten Weg« zurückführen, sondern gerade auch die politischen Gefangenen »umerziehen«. Als noch die Justiz für den Strafvollzug in Brandenburg-Görden zuständig war, sollten in den Jahren 1949/50 wöchentliche »Informationsabende« sowie Filmvorführungen die Häftlinge beeinflussen. In Schulungen wurden die Grundlagen des Marxismus-Leninismus gelehrt oder die Übergangsprozesse zur sozialistischen Gesellschaft diskutiert. Die »Neofaschisten« unter den Häft­ lingen wurden dabei in eigenen Gruppen zusammengefasst, wo sie »zu ihren Straftaten selbst Stellung nehmen« mussten und dann »von politisch geschulten Angestellten über die politischen Folgen ihrer falschen Handlungen belehrt« wurden. Insassen, die zur Entlassung anstanden, mussten sich darüber hinaus noch einer zehntägigen Intensivschulung unterziehen, in der sie über die aktuelle politische Entwicklung in den beiden deutschen Staaten informiert wurden und am Ende eine mündliche und schriftliche Prüfung ablegen mussten. Von den regelmäßigen Schulungen verschont blieben nur die Häftlinge mit längeren Haftstrafen sowie einem Lebensalter von über 65 Jahren, vermutlich weil man sie für nicht mehr besserungsfähig hielt.24 Als die Volkspolizei den Strafvollzug übernahm, konzentrierte sie sich dem­ gegenüber zunächst jahrelang auf die sichere Verwahrung der Gefangenen und versuchte erst später, auch weltanschaulich auf diese einzuwirken. Nach Über­ nahme der Haftanstalt an der Havel im Sommer 1950 wurden die geschilderten Anstrengungen für beendet erklärt und die neuen Hausherren beschränkten sich darauf, die Gefangenenbibliothek von weniger »fortschrittlicher« Literatur zu bereinigen.25 Überhaupt wurden Bücher an die Insassen erstmalig im De­ zember 1951 wieder ausgeliehen,26 jedoch gestand man den Lesern eine Aus­

23  Für die Haftanstalt Schwedt/Oder siehe auch Lenz: Lebensweg eines Justizvollzugsbeamten, S. 164. Zum Selbstbetrug neigten Insassen und Bewacher auch in den Jugendwerkhöfen. Vgl. Jörns, Gerhard: Der Jugendwerkhof im Jugendhilfesystem der DDR. Göttingen 1995, S. 179 u. 185. 24  Bericht [vermutlich eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Haftanstalt Brandenburg-Görden o. D. [1950], 13 S.; BArch B 137/1809. 25  Vgl. [Bericht des ehemaligen Häftlings Georg Oehmichen] betr. Zuchthaus BrandenburgGörden vom 21.3.1952; BArch B 289/SA 171/22–01/2. 26  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812.

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wahlmöglichkeit dabei nicht zu.27 Ausgegeben wurden jetzt »in geringen Mengen Goethe, Schiller und Gottfried Keller«,28 überwiegend jedoch sowjeti­ sche Schriftsteller sowie sozialistische »Weltliteratur«.29 Die Klassiker des Marxismus-Leninismus, so berichten andere Insassen, wurden indes selbst dann nicht ausgeliehen, wenn Häftlinge ausdrücklich darum ersuchten; über Ausnahmen entschied der Gefängnisleiter persönlich.30 Denn der »Gegner«, so die dahinterstehende Überlegung, könne sich dieses Gedankengut aneignen und sich damit tarnen. Erst Mitte der Sechzigerjahre durften grundsätzlich alle Häftlinge in der DDR die marxistisch-leninistischen Klassiker studieren – sofern sie sich dafür interessierten. Ausnahmen bestanden lediglich für Häftlinge im Arrest und in Isolationshaft oder wenn angebliche »Sicherheitsbelange« der Haftanstalt einer Ausleihe entgegenstanden.31 War es gewöhnlichen Aufsehern bis Mitte der Fünfzigerjahre regelrecht ver­ boten, sich mit den Insassen »über politische Themen zu unterhalten«, unternahmen die Politabteilungen in der Folgezeit neue Anstrengungen zur weltanschaulichen Beeinflussung der Insassen.32 Regelmäßige politische Schulungen, bei denen Anwesenheit Pflicht war, wurden in der Haftanstalt an der Havel 1957 einge­ führt,33 in etwa zeitgleich auch in verschiedenen Haftarbeitslagern.34 Obwohl der Staatsanwaltschaft einige politische Gefangene mit einer »fanatischen gegnerischen Einstellung« weiterhin für unbelehrbar hielt,35 glaubte man jetzt die meisten Insassen durch die selektive Weitergabe von Informationen in »politisch-aktuellen Gruppengesprächen« von der Sieghaftigkeit des Sozialismus überzeugen zu können. Hierbei mussten die Insassen eine Stunde lang die Ausführungen und Belehrungen der Politoffiziere oder das Vorlesen eines Zeitungsartikels aus dem »Neuen Deutschland« durch einen ausgewählten Mitinsassen über sich ergehen lassen. Im Häftlingsjargon wurden diese Versuche politischer Indoktrination

27  Vgl. [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Brandenburg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968. 28  [Bericht eines ehemaligen Häftlings über die] Verhältnisse im Zuchthaus (Strafvollzugs­ anstalt) Brandenburg vom 18.9.1952; BArch B 285/201. 29  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 30  Vgl. u. a. Bericht der Abteilung XIII/2 über das Bekanntwerden mit der Person vom 9.2.1961; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Stendal, ZMA, Nr. 1280, Bl. 9 f. 31  Vgl. Protokoll der Arbeitstagung der Verwaltung Strafvollzug vom 1.11.1965; BArch DO1 32/36357. 32  Vgl. u. a. Stellungnahme des Gen. Sachbearbeiter in der StVA Brandenburg vom 26.6.1956; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 307/58, Bd. I, Bl. 10 f. 33  Vgl. Brundert, Willi: Es begann im Theater ... Volksjustiz hinter dem Eisernen Vorhang. Berlin 1958, S. 78. 34  Vgl. Sonntag: Arbeitslager in der DDR, S. 304–326. 35  Kern, Herbert: Die Erziehung im Strafvollzug. Berlin (Ost) 1958, S. 86.

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spöttisch »Rotlichtbestrahlung« genannt.36 In späteren Jahren wurden binnen sechs Monaten bis zu 325 solcher »Gespräche« geführt sowie 37 Vorträge vor durchschnittlich 288 Häftlingen arrangiert, wobei Rückfalltäter besonders häufig vorgeladen wurden.37 Als Richtschnur galt seinerzeit, dass jeder Insasse monatlich mindestens zweimal an »politisch-aktuellen Gesprächen« teilnehmen sollte.38 Aus Sicht der Gefängnisleitung war es jedoch stets problematisch, die Teilnehmer solcher Schulungen zu bestimmen und deren Interesse zu wecken. »Wer seinen Protest dadurch zum Ausdruck brachte, dass er schlief oder sich schlafend stellte, wurde von den umherwieselnden Wärtern herausgezerrt und vor dem Saal verprügelt«, berichtete ein ehemaliger Insasse über die späten Sechzigerjahre.39 Die Beeinflussung der renitenten und politischen Gefangenen schien zwar am dringlichsten zu sein, doch konnten diese die »Offiziere für massenpolitische Arbeit« durch Zwischenrufe leicht aus der Fassung bringen. Politische Häftlinge waren »nicht generell von der Teilnahme auszuschließen«, doch galt es, »zu verhindern, dass sie den Erfolg von gruppenweisen Gesprächen und Diskussionen gefährden können«.40 Mit der weltanschaulichen Beeinflussung der Insassen durch Vorträge und andere Schulungsmaßnahmen war eigentlich die Politabteilung der Haftanstalt betraut. Doch vor der Vielzahl der politischen Gefangenen habe diese teilweise kapituliert, »zumal der Intelligenzgrad der Gefangenen bei Weitem höher liegt als bei den Mitarbeitern der Polit-Abteilung«,41 wie ein in den Westen geflüchteter Aufseher Mitte der Fünfzigerjahre bekannte. Inwieweit den weltanschaulichen Beeinflussungsversuchen überhaupt Erfolg beschieden sein konnte, erscheint tatsächlich fraglich. Denn manche politische Häftlinge ließen diese »politischaktuellen Gespräche« nur über sich ergehen oder suggerierten gar politische Läuterung, weil sie nicht die Chance einer vorzeitigen Haftentlassung verspielen wollten. Andere mochten sich keinesfalls der ihnen unerträglichen ideologischen Phrasendrescherei aussetzen, blieben also den Schulungsmaßnahmen fern und nahmen dafür den Entzug von Vergünstigungen (wie etwa des Kinobesuchs) auf sich. Die meisten politischen Gefangenen ließen sich ihre eigene Meinung ungern verbieten und schenkten den Erfolgsmeldungen des SED-Regimes 36  Vgl. Welsch, Wolfgang: Ich war Staatsfeind Nr. 1. Fluchthelfer auf der Todesliste der Stasi. Frankfurt/M. 2001, S. 162. 37  1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung der Arbeitsergebnisse im 1. Halbjahr 1971 vom 6.7.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 39–60. 38  Vgl. Direktive 51/71 des Ministers des Innern über Führung und Organisation der staatsbürgerlichen Erziehung und Bildung Strafgefangener vom 1.8.1971; BStU, MfS, BdL/ Dok., Nr. 11094. 39  Welsch: Staatsfeind Nr. 1, S. 163. 40  Erziehungsprogramm 1967 des Leiters der StVA Brandenburg vom 28.4.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 99–108. 41  [Bericht des geflüchteten Aufsehers Horst Bock] über die Strafvollzugsanstalt BrandenburgGörden vom 28.7.1954; BArch B 285/201.

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prinzipiell keinen Glauben. Von der Ungerechtigkeit ihrer Verurteilung überzeugt, nahm ihre Abneigung gegen das sozialistische Gesellschaftsmodell in der Haft vermutlich eher noch zu. Nur nach außen hin mussten sie teilweise politische Läuterung heucheln – und die Gefängnisleitung nahm die Lippenbekenntnisse der Insassen gerne für bare Münze,42 um dies als »Erziehungserfolg« ausweisen zu können. Als trügerische Indizien des vermeintlichen Sinneswandels der Insassen galten nämlich so oberflächliche Kriterien wie Bezug des »Neuen Deutschlands« oder gute Arbeitsleistungen. Wer diesen Anforderungen genügte, hatte seine »Fortschrittlichkeit« unter Beweis gestellt und blieb dann, je nach Konjunktur der politischen Erziehung, von weitergehender weltanschaulicher Gängelung in der Regel verschont. So wird gerade der ökonomisch ehrgeizige Fritz Ackermann von Insassen mit den Worten zitiert: »Was Sie denken, ist mir völlig gleichgültig, Hauptsache, Sie arbeiten richtig.«43 Als sich nach dem Rechtspflegeerlass von 1963 das innere Regime insgesamt mäßigte (siehe Kap. 3.2.5), wurden die Versuche weltanschaulicher Beeinflussung intensiviert. Dass der Strafvollzug sich jetzt stärker am »Erziehungsgedanken« orientierte, brachte es als Kehrseite mit sich, dass über die Wahrung der Disziplin und überdurchschnittliche Planerfüllung hinaus die Ansprüche an das politische Wohlverhalten wuchsen. »Die ideologische Arbeit mit den Strafgefangenen wurde in der Vergangenheit zugunsten der Produktion unterschätzt«, wie der seinerzeitige Stellvertreter des Innenministers Herbert Grünstein im November 1965 feststellte. Deswegen sei eine auf die speziellen Bedürfnisse des Strafvollzugs zugeschnittene »Art staatsbürgerlicher Unterricht« einzurichten bzw. zu intensivieren.44 Im Juli 1966 sollten daher auch in der Haftanstalt an der Havel »Pflichtvorträge« für die politischen Gefangenen eingeführt werden.45 Doch auch diese Initiative versandete teilweise, wie ein ehemaliger Insasse berichtete: »Mit der politischen Beeinflussung der Häftlinge ist in Intervallen immer wieder begonnen worden, aber alle Versuche in dieser Richtung blieben nach kurzer Zeit stecken. So wurden im Sommer und Herbst 1967 Lehrgänge in den verschiedenen Fächern und insbesondere in Staatsbürgerkunde eingerichtet, deren Besuch freiwillig war, die aber bald scheiterten. Dann wurde die Herstellung einer Wandzeitung propagiert, die aber nach kürzester Zeit einging. [...] Pflicht ist hingegen der Besuch der angesetzten Vorträge, auf denen Mitarbeiter der ›Urania‹ über politische Themen, wie Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung, [referieren] 42  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 43  Stellungnahme zu meiner Tat und deren Motive vom 31.7.1963; BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 2056/63, Bl. 43–71. 44  Protokoll der Arbeitstagung der Verwaltung Strafvollzug vom 1.11.1965; BArch DO1 32/36357. 45  [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des PolitStellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 189–211.

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oder spezifisch aktuelle Referate halten.«46 In dieser Phase sollten die Aufseher zudem sogenannte Leseaufträge verteilen und den Häftlingen »helfen, persönliche Schlussfolgerungen aus dem Gelesenen zu ziehen«. Dabei hatten »fortschrittliche« Bücher Priorität, doch auch »schöngeistige Literatur« sollte verstärkt eingesetzt werden.47 Binnen sechs Monaten wurden den Gefangenen von BrandenburgGörden Anfang der Siebzigerjahre angeblich 1 294 »Leseaufträge« erteilt48 – bei seinerzeit rund 2 000 Insassen. Dafür entfielen jetzt die »politisch-aktuellen Gespräche« für die Bundesbürger, damit diese nicht länger durch entsprechende Zwischenrufe und Wortmeldungen alle Anstrengungen zur politischen Erziehung der ostdeutschen Gefangenen zunichtemachen konnten.49 Selbst in Schwedt widersprachen Militärstrafgefangene jetzt offen ihrer »Rotlichtbestrahlung«.50 In mehreren Haftanstalten versandeten deswegen Anfang der Siebzigerjahre Versuche der weltanschaulichen Umerziehung.51 Eine neue Initiative rief das Politbüro im Jahre 1977 ins Leben, nachdem zuletzt die Bereitschaft der Häftlinge zur Selbstbehauptung deutlich gestiegen war (siehe Kap. 3.3.7.1). Die (politische) Erziehungsarbeit, so mahnte das oberste Parteigremium seinerzeit, entspräche »noch nicht den Erfordernissen und Möglichkeiten«. Die »staatsbürgerliche Erziehung« werde »noch nicht genügend als offensive politische Arbeit mit dem Strafgefangenen durchgeführt« – die waren daran freilich auch kaum interessiert.52 Auch in den Achtzigerjahren war die Teilnahme an politischen Schulungen grund­sätzlich Pflicht,53 doch wurde das Fernbleiben in der Regel nicht mehr be­straft. So fanden sich eher kriminelle als politische Häftlinge zur Teilnahme be­reit, weil sie sich hiervon eine günstige Beurteilung und letztlich eine vor­ zei­tige Entlassung versprachen.54 Die Vorträge in vierzehntägigem Abstand be­trafen jetzt beispielsweise das »demokratische Bündnis gegen die Ra­ke­ten­ 46  Bericht der Quelle 71464 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. Tischlerei vom 4.11.1968 (Stand Mitte September 1968), 16 S.; BArch B 137/15761. 47  Vgl. Erziehungsprogramm 1966 des Vollzugsdienstes der StVA Brandenburg vom 14.4.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 91–98. 48  1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung der Arbeitsergebnisse im 1. Halbjahr 1971 vom 6.7.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 39–60. 49  Vgl. Lolland, Jörg; Rödiger, Frank S. (Hg.): Gesicht zur Wand. Berichte und Protokolle politischer Häftlinge in der DDR. Stuttgart 1977, S. 148. 50  Vgl. Irmen: Stasi und DDR-Militärjustiz, S. 292. 51  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 310; Rummel, Dietmar: Die (Zellen-) Tür schlägt zu. Dich kriegen wir auch noch! Leipzig 2014, S. 337. 52  Bericht über die Arbeit des Organs Strafvollzug (Anlage Nr. 24 zum Protokoll Nr. 11/77 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 15.3.1977); BArch DY 30 J IV 2/2–1663, Bl. 379–394. 53  Vgl. u. a. Bericht der Quelle 72036 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. IFA vom 17.11.1970 (Stand September 1970), 11 S.; BArch B 137/15761. 54  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Walter Müller am 8.4.2001 in Chemnitz, 4 S.

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sta­tionierung«, den »Bruderbund mit dem Lande Lenins«, die Re­gie­rungs­er­ klä­rungen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl oder die Ta­gungen der Außenminister des Warschauer Pakts. Diese Vorträge ließen bin­nen eines Mo­ nats insgesamt 5 278 Gefangene über sich ergehen – bei einer Ge­samtzahl von seinerzeit 2 845 Insassen.55 Dennoch dürfte kaum ein Insasse den DDR-Straf­ voll­zug »als glühender Kommunist verlassen haben«,56 wie auch dem Chef der obers­ten Gefängnisverwaltung schwante.57 3.1.3 Tageszeitungen und Filmvorführungen Eine »aufklärerische« Wirkung erhoffte sich die Gefängnisleitung nicht nur von Schulungen, sondern auch von der Lektüre ostdeutscher Tageszeitungen und Zeitschriften. Selbst die linientreue DDR-Presse wurde allerdings vor der Ausgabe durch die Aufseher kontrolliert oder gar einbehalten, sobald bestimmte Meldungen die Sicherheit der Haftanstalt zu berühren schienen. In Brandenburg-Görden wurden erstmalig im Dezember 1952 die »Deutschsowjetische Freundschaft« sowie im Folgemonat die »Tägliche Rundschau« und die ostdeutsche »Berliner Zeitung« ausgegeben.58 Der Erhalt solcher Druckzeugnisse galt in den Fünfzigerjahren als individuelle Vergünstigung und wurde deswegen nur denjenigen gestattet, die überdurchschnittlich viel arbeiteten, mustergültig die Disziplin wahrten und gewillt waren, diese Druckerzeugnisse von ihrem kargen Lohn zu bezahlen.59 Einige Aufseher gestatteten pro Zelle mit mehreren Insassen jedoch nur eine Zeitung und wählten diese auch noch selbst aus.60 Den in Isolationshaft befindlichen politischen Gefangenen wurde jedoch keinerlei Lesestoff gegönnt.61

55  Lageeinschätzung des Stellv. Operativ der StVE Brandenburg für den Monat Oktober vom 10.11.1982; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/764. 56  Sonntag: Orte der Schaffung eines »neuen Menschen«, S. 215. 57  Mündlich formulierte Lustik 1986 das Eingeständnis, politische Gefangene zu Wohlverhalten zwingen, jedoch weltanschaulich kaum beeinflussen zu können: »Wollen A[usreiser] nicht zu Sozialisten erziehen, vielmehr [zu] Ordnung und Dis[ziplin].« [Protokoll der] Dienstbesprechung mit dem Leiter VSV vom 13.3.1986; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1748, Bl. 20–25. 58  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 59  Vgl. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 60  [Bericht des in den Westen geflüchteten ehemaligen Aufsehers Horst Bock] betr. Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden (Eigen-Fortsetzungsbericht) vom 3.8.1954, 116 S.; BArch B 289/SA 171/22–01/14. 61  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling R. L. am 24.7.2001 in Berlin, 5 S.

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Fernsehsendungen zu verfolgen war den Gefangenen seinerzeit ebenfalls generell verboten,62 wenngleich immerhin monatlich ein Kinofilm vorgeführt wurde. Bei diesen Streifen handelte es sich meist um sowjetische Propagandafilme, doch auch der respektable DEFA-Film »Die Mörder sind unter uns« (1946) war zu sehen.63 Sogar ein seichter Unterhaltungsfilm aus westlicher Produktion konnte mal gezeigt werden (»Verliebt in Kopenhagen« 1961).64 Wie der Bezug der Tagespresse galt auch die Teilnahme an der Kinoveranstaltung als individuelle Vergünstigung und wurde nur den Häftlingen zugestanden, die ihre Arbeitsnormen zuverlässig erfüllten – womit viele politische Gefangene außen vor blieben, weil sie die geforderte Leistung mangels einschlägiger Ausbildung nicht erbringen konnten oder aus prinzipiellen Gründen absichtlich unterschritten.65 Radiosendungen konnten alle Insassen hören, wenn diese in den Jahren 1952/53 gelegentlich an Sonntagen mittels der Lautsprecher in die Gänge übertragen wurden, was jedoch zunächst keine Fortsetzung fand. Im August 1954 wurde dann, so wie in mancher anderen Haftanstalt, auch in Brandenburg-Görden das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft live übertragen – mit dem nahe liegenden Hintergedanken, den Sieg des favorisierten Mannschaftskollektivs aus dem sozialistischen Ungarn feiern zu können. Als wider Erwarten die bundesdeutsche Mannschaft gewann, sangen viele der Häftlinge gemeinsam die erste Strophe des Deutschlandliedes,66 was fraglos nicht in der Absicht der Gefängnisleitung gelegen hatte. Mit der Milderung des politischen Klimas wurde 1956 dann gelegentlich Schlagermusik übertragen, durch die schlechte Akustik des Gebäudes aber grässlich verzerrt.67 Im Jahre 1960 etwa durften Rundfunkprogramme lediglich sonntags von 10 bis 12 Uhr übertragen werden und Übertragungen von Sport oder Unterhaltungsmusik waren verboten,68 weil dies eine unerwünschte 62  Vgl. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 63  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 64  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. Der dänische Film »Foreslsket i København« wurde im Januar 1961 in der Bundesrepublik und sechs Monate später auch in der DDR uraufgeführt. Vgl. Lexikon des internationalen Films. Das komplette Angebot in Kino und Fernsehen seit 1945. Red. Klaus Brüne, Bd. V–Z. Reinbek 1987. 65  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 66  Vgl. Kreutzer, Hermann: In Deutschland für Freiheit. Aufschlüsse über politische Ereignisse und Personen in sechs Jahrzehnten. Berlin 2002, S. 183. 67  So sah sich Karl Wilhelm Fricke bereits am Tag seiner Einlieferung im Juli 1956 um seinen Schlaf gebracht. Vgl. Fricke, Karl Wilhelm: Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 2). Berlin 1995, S. 154. 68  Vgl. [Abteilung PA der VSV]: Die politisch-kulturelle Erziehungsarbeit unter den Strafgefangenen o. D. [1959/60]; BArch DO1 11/1567, Bl. 99–106.

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Annehmlichkeit bedeutet hätte und die Gefängnisleitung mit Sportübertragungen schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Erst im weiteren Verlauf der Sechzigerjahre setzte man stärker auf den erzieherischen Aspekt von Vergünstigungen kultureller Art. Jetzt begrüßte die oberste Strafvollzugsleitung auch ausdrücklich den Bezug von Fachzeitschriften, nicht zuletzt um die Häftlinge später in der Volkswirtschaft besser einsetzen zu können.69 Ein entsprechendes Ansinnen eines Gefangenen wäre zuvor in der Praxis wohl meist abgelehnt worden. Ab Mitte der Sechzigerjahre war der Bezug politisch »fortschrittlicher« Lektüre zunehmend erwünscht, wurde aber oft zur Strafe vorenthalten. Grundsätzlich sollten immer mehr Insassen das »Neue Deutschland« abonnieren,70 galt dies nun doch unzutreffenderweise als Ausdruck wirksamer »politisch-ideologischer Schulung«. In Wirklichkeit fand das Parteiorgan vor allem dann Beachtung, wenn die Häftlinge aufgrund eines näher rückenden Jahrestages der Staatsgründung auf eine Amnestie hofften und »zwischen den Zeilen« nach einem Hinweis suchten.71 Doch während im Jahre 1958 erst 210 Insassen BrandenburgGördens das Zentralorgan der SED abonniert hatten,72 bezogen acht Jahre später schon 403 Häftlinge die »Junge Welt«, 285 das »Neue Deutschland«, 182 das »Bauernecho«, 159 die »Freie Welt«, 19 die »Neue Zeit«, 17 die ND»Bauernzeitung«, elf die »Urania«, jeweils sechs »Die Einheit« und das »Deutsche Sportecho« und drei »Kunst und Literatur«.73 Im Zuge der 1966 angeordneten Verschärfung der Haftbedingungen (siehe Kap. 3.2.6) wurden die Filmvorführungen auf einen Sechs-Wochen-Rhythmus (bzw. für Bestarbeiter drei Wochen) ausgedünnt.74 Im Folgejahr wurden für je 415 Häftlinge 17 Filme vorgeführt, womit rein rechnerisch 78 Prozent der Gefangenen in den Genuss eines Filmes kamen, doch dürften gerade Kalfaktoren mehrfach bevorzugt worden sein. Außerdem durften rund 55 Prozent der Insassen einmal fernsehen, wobei der gleiche Vorbehalt galt.75 Denn über die Teilnahme entschieden die Aufseher auf Vorschlag der kriminellen oder 69  Vgl. Bericht der Verwaltung Strafvollzug über die Lage im Strafvollzug, insbesondere über den Stand der Erziehungsarbeit vor dem Kollegium des Ministeriums für Staatssicherheit vom 17.8.1959; BArch DO1 11/1476, Bl. 91–120, hier 120. 70  Vgl. Erziehungsprogramm 1966 des Vollzugsdienstes der StVA Brandenburg vom 14.4.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 91–98. 71  Vgl. u. a. [Bericht des GI] »Stockhaus« vom 10.10.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2140/81, T. II, Bd. 2, TB IV, Bl. 185 f. (MfS-Pag.). 72  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/117, Bl. 76. 73  Vgl. Jahresbericht des Vollzugsdienstes 1966 der StVE Brandenburg vom 10.1.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 44–67. 74  Vgl. [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des Polit-Stellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 189–211. 75  Vgl. Jahresbericht des Vollzugsdienstes 1966 der StVE Brandenburg vom 10.1.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 44–67.

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politisch »fortschrittlichen« Kalfaktoren und Brigadiere, sodass die politischen Gefangenen schlechte Karten besaßen. So wird ein Aufseher von einem ehemaligen Häftling mit den Worten zitiert: »Wer hier wegen krimineller, staatsfeindlicher Verbrechen einsitzt, hat nur ein Recht und eine Pflicht: zu arbeiten. Fernsehen, Kulturveranstaltungen und persönliche Vergünstigungen sind in erster Linie für diejenigen Strafgefangenen bestimmt, die eine positive Einstellung zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat haben.«76 So mussten sich die Gefangenen die seltene Zerstreuung durch ihr Wohlverhalten erst erkaufen.77 Im Einzelnen durfte der Betreffende nicht die Teilnahme am »politisch-aktuellen Gespräch« verweigert haben, im Arrest sitzen, krank sein, durch den Arbeitseinsatz verhindert sein oder dem Plansoll hinterherhinken. Im Endeffekt konnte dies darauf hinauslaufen, dass ein politischer Häftling nur ein einziges Mal in vier Jahren in den Genuss eines Kinobesuchs oder einer Fernsehsendung kam.78 Auch der Bezug von Fachliteratur sollte 1966 »schnellstens reduziert werden«. Fortan durften nur noch diejenigen spezielle Tages- und Wochenzeitschriften beziehen, die zusätzlich das Zentralorgan der SED abonnierten; an Regionalzeitungen wurde nur noch die »Märkische Volksstimme« zugelassen.79 Im Jahr 1967, so war es nun vorgesehen, sollte möglichst jeder vierte Insasse das »Neue Deutschland« beziehen.80 Doch viele Insassen waren am Bezug der von Partei und Staat kontrollierten Medien nicht interessiert.81 Im Jahre 1969 »lasen« jedenfalls 22,9 Prozent der Gefangenen das »Neue Deutschland«, und von den nun wieder zugelassenen Medien 25,6 Prozent die »Junge Welt«, 7,5 Prozent die »Freie Welt«, 4,1 Prozent das »Bauernecho« und 2,3 Prozent die »Neue Zeit«.82 Mitte der Siebzigerjahre konnten zumindest prominente Insassen auch wieder Fachzeitschriften wie »Bildende Kunst« oder »Kunst und Literatur« beziehen.83 Selbstredend waren westliche Tageszeitungen untersagt, mit Ausnahme von »Unsere Zeit«, Organ der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), 76  [Augenzeugenbericht des ehemaligen Insassen der StVA Brandenburg] Lothar Lienicke. In: 15 Jahre Mauer. Menschenrechtsverletzungen der DDR seit dem 13.8.1961. Hg. von der Arbeitsgemeinschaft 13. August am 12.8.1976; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 272/79, Bl. 39–70. 77  Für Bautzen II vgl. Sälter, Gerhard: Überwachen und Strafen in einem Gefängnis der DDR. Das besondere Beispiel Bautzen II in den achtziger Jahren. In: Ammerer, Gerhard u. a. (Hg.): Orte der Verwahrung. Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospitälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter. Leipzig 2010, S. 149–166, hier 176. 78  So z. B. H.-J. L. in der ersten Hälfte der 60er-Jahre. Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 79  Vgl. [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des Polit-Stellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 189–211. 80  Erziehungsprogramm 1967 des Leiters der StVA Brandenburg vom 28.4.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 99–108. 81  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 151. 82  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704. 83  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 1744/77, Bl. 229.

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und des Zentralblattes der österreichischen Kommunisten. Der geringe Nachrichtenwert dieser Zeitschriften wurde noch weiter dadurch gemindert, dass strafvollzugsrelevante Artikel ausgeschnitten wurden, bevor die Gefangenen die Zeitung zu lesen bekamen. Immerhin waren ab dem Jahre 1977 das »Neue Deutschland« und die »Junge Welt« kostenlos erhältlich,84 was zugleich das Interesse an dem Bezug weiterer Zeitungen und Zeitschriften verringerte. Als im Jahre 1980 Ackermann ausnahmsweise sechs Exemplare dänischer Zeitungen passieren ließ, die ein dänischer Diplomat einem inhaftierten Landsmann bei einem offiziellen Besuch in Brandenburg-Görden überreichte, wurde der Gefängnisleiter für seine großzügige Geste von der obersten Gefängnisverwaltung gerügt.85 Nachdem ausgewählte Gefangene schon 1972 einzelne Übertragungen der Olym­ pischen Spiele in München live hatten verfolgen können,86 durften die Häft­linge in den Achtzigerjahren grundsätzlich in den Voll­zugs­ab­tei­lun­gen am frühen Abend auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Gerät fern­sehen. Un­ab­hän­gig von der tatsächlichen Länge des Films wurden die Sen­dungen dann für beendet erklärt, wenn die Häftlinge gegen 22 Uhr wieder ein­ge­schlossen werden sollten. Nicht gezeigt wurden Krimis, hätten die Häftlinge die Darstellung von Verbrechen doch als Anregung missverstehen können.87 Die Auswahl der Kinofilme blieb auch in dieser Zeit auf politisch »ein­wand­freie« Erzeugnisse beschränkt. Gelegentlich durfte immerhin mal ein »hei­terer sowjetischer Gegenwartsfilm« gezeigt werden, so im Oktober 1982 »Hokus­po­kus mit Alexander«.88 Gut drei Dutzend handverlesene Häftlinge durften dann im Dezember 1984 gar einem Fernsehfilm folgen, der ihre »Aufsässigkeit« durch­aus hätte nähren können: »Meuterei auf der Bounty«.89 Die Gefängnisleitung sah in dem Zusammenkommen so vieler Häftlinge bei Filmvorführungen und Fern­ seh­sendungen ohnehin ein Sicherheitsrisiko. Überwachten die Aufseher die Sen­ dun­gen einmal weniger streng, wurden sie heftig kritisiert: »Wie kann es denn dazu kommen, dass Strafgef[angene] das Fernsehgerät ausschalten, wenn K[arl] E[duard] von Schnitzler spricht.«90 In diesem Ausnahmefall hatten es die Häftlinge vor­ge­ zogen, lieber gar nicht fernzusehen als sich der »Rotlichtbestrahlung« auszu­setzen. 84  Vgl. Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestim­ mung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 85  Vgl. Schreiben von Ackermann an Tunnat vom 10.6.1980; BA, DO1 3554, o. Pag. Der in der DDR wohnhafte dänische Bürger war wegen Diebstahl zu neun Jahren Haft verurteilt worden, wurde nach sechs Jahren jedoch vorzeitig entlassen. 86  Vgl. Fritzsch: »Gesicht zur Wand«, S. 133. 87  Vgl. Richter, Alexander: Helmhöltzer sind Edelhölzer. Geschichten aus dem (un) sozialistischen Meinleben. Emsdetten 2000, S. 120. 88  Lageeinschätzung des Stellv. Operativ der StVE Brandenburg für den Monat Oktober vom 10.11.1982; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/764. 89  Vgl. Bericht des [IMS] »Dreher« vom 2.1.1985; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 100/88, Bl. 33. 90  Vgl. [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des Polit-Stellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep.

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3.1.4 Politisches Meinungsklima Trotz aller Anstrengungen zur ideologischen Indoktrination der Gefangenen wurde innerhalb der Gefängnismauern, ebenso wie außerhalb, hinter vorgehaltener Hand über Weltanschauung und Tagespolitik diskutiert. Da viele Häftlinge Opfer der politischen Justiz geworden waren und alle Insassen den Repressionen des Strafvollzugs unterlagen, herrschte in den ostdeutschen Gefängnissen zweifellos sogar eine besonders kritische Haltung gegenüber dem SED-Staat.91 Waren politische Gefangene (besonders in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre) gemeinsam inhaftiert (siehe Kap. 4.1.6), bestärkten sie sich oft gegenseitig in ihren Ansichten. »Die Stimmung«, so berichtete ein ehemaliger Insasse im Jahre 1951 auch über Brandenburg-Görden, »ist außerordentlich erbittert, fast alle Häftlinge fühlen sich zu Unrecht verurteilt und erwarten und erhoffen ihre Befreiung durch den Westen«.92 Viele Häftlinge hofften wohl tatsächlich, durch amerikanische Truppen oder po­litischen Druck Washingtons ihre Freiheit wiedererlangen zu können.93 Ob ih­rer aussichtslosen Lage ließen sich die Insassen dabei weniger von nüchternem Kal­kül als von Revanchegelüsten leiten.94 Selbst zur Tatenlosigkeit verdammt, be­deutete die Hoffnung auf Befreiung wohl eine wichtige mentale Kompen­sa­ tion. Ei­nen konkreten Anlass hierfür bot beispielsweise der Juni-Aufstand von 1953, als viele Insassen auf den Zusammenbruch des Systems und ihre Befreiung durch ame­rikanische Truppen hofften.95 Weil ihnen jedes Mittel recht sein musste, sehn­ten viele Insassen sogar eine militärische Konfrontation der beiden Su­per­ mäch­te regelrecht herbei, etwa während des Koreakrieges.96 Und sogar der ehe­ ma­lige DDR-Außenminister Georg Dertinger spekulierte im Jahre 1956 auf ei­ nen militärischen Schlagabtausch zwischen den Blöcken.97 Selbst die Konflikte zwi­schen der Volksrepublik China und Formosa um einige küstennahe Inseln, so hoff­ten die Häftlinge im August 1958, könnten zu einem Krieg der Supermächte 404/15.1/693, Bl. 189–211. 91  Vgl. u. a. Der Spiegel Nr. 34/1978 vom 21.8.1978, S. 83–86. 92  [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 10.7.1951; BArch B 137/1809. 93  Vgl. Lagebericht der Abteilung Strafvollzug der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam vom 4.3.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/117, Bl. 127–130. 94  Vgl. Lagebericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an das Referat Vollzug der Abt. Strafvollzug der BDVP Potsdam o. D. [1959]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 89. 95  Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. 96  Vgl. Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Strafvollzugs o. D. [1952]; BArch DO1 11/1508, Bl. 101–142. 97  So wird er mit den Worten zitiert: »Uns kann nur ein Krieg retten […] der wird wohl hart, aber doch noch besser als hier im Zuchthaus verrecken.« Beurteilung des Strafgefangenen Dertinger, Georg vom 31.8.1956; BStU, MfS, AU, Nr. 449/54, Bd. 11, HA/GA, Bl. 51.

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und letztlich zu einer Niederlage der Sowjetmacht führen und ihnen in der Kon­ se­quenz die Freiheit bringen.98 Erneute Hoffnungen nährte die Kuba-Krise, wo­ rauf­hin die Gefängnisleitung durch »eine sofortige Presseinformation« an Auf­se­ her, Kalfaktoren und die »progressiven Kräfte« unter den Gefangenen »un­k la­re Auf­fassungen und auch bewusste feindliche Meinungen zu zerschlagen« hoffte.99 Doch auch Phasen der Entspannung beflügelten die Hoffnungen der Ge­fan­genen, so etwa als Bonn und Moskau im April 1958 ein Handelsabkommen ver­einbarten. Da die von den Sowjetischen Militärtribunalen Verurteilten ihr Schick­sal nach wie vor in Moskauer Hand wähnten, erwarteten sie nun ihre bal­di­ge Freilassung.100 Doch auch die DDR-Innenpolitik verfolgten die Gefangenen im Hinblick auf ihr eigenes Schicksal. Zumindest bei einer Gelegenheit zeigten sich die Inhaf­tier­ ten in­des innerlich gespalten. So wurde hinsichtlich der Volkskammerwahlen von 1958 »der demokratische Charakter unserer Wahlen infrage gestellt und die Be­ haup­tung verbreitet, [dass] das Wahlergebnis von 99 bzw. 100 Prozent von vorn­ herein feststehe«. Auf der anderen Seite hofften die Häftlinge aber, ein für die SED günstiges »Wahlergebnis« könne die Parteiführung zu einem Gnadenerlass be­wegen.101 Noch zu Jahresbeginn 1958 hatten die Häftlinge die SED-Führung nach der Entmachtung von Karl Schirdewan und Ernst Wollweber schwer an­ge­ schla­gen gewähnt. »Bald wird es nicht mehr lange dauern, dann bricht der gan­ze La­den zusammen; es ist nur eigenartig, dass Walter Ulbricht sich noch hält, der wird bald dran sein.«102 Ihr Zweckoptimismus verstellte den Ge­fan­ge­nen offenbar den Blick dafür, dass der Ausschluss seiner Rivalen aus dem Zen­tralkomitee den Par­teichef in Wirklichkeit gestärkt hatte. Die Abriegelung der Sektorengrenze am 13. August 1961 löste überall in der DDR Unmut aus, denn eine Wiedervereinigung Deutschlands schien jetzt in noch größere Ferne zu rücken; ehemalige Grenzgänger wurden in ihrer täglichen Lebensführung enorm beeinträchtigt.103 So legten in der gesamten DDR in 36 Betrieben etliche hundert Werktätige teilweise mehrfach die Arbeit nieder.104 Und auch im Reichsbahnausbesserungswerk Kirchmöser bei Brandenburg

98  Vgl. Bericht des GI »Schwantes« vom 8.9.1958; BStU, MfS, AIM, Nr. 87/62, Bd. 2, Bl. 130 f. 99  Quartalsbericht des Politstellvertreters der StVA Brandenburg für das IV. Quartal 1962 vom 29.12.1962; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/698, Bl. 90–97. 100  Vgl. u. a. Bericht des GI »Schwantes« vom 16.4.1958; BStU, MfS, AIM, Nr. 87/62, Bd. 2, Bl. 69. 101  Lagebericht der Abteilung Strafvollzug der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam vom 5.12.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/117, Bl. 102 f. 102  Bericht des GI »Schwantes« vom 18.2.1958; BStU, MfS, AIM, Nr. 87/62, Bd. 2, Bl. 46–48. 103  Vgl. Major, Patrick: »Mit Panzern kann man doch nicht für den Frieden sein«. Die Stimmung der DDR-Bevölkerung zum Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 im Spiegel der Parteiberichte der SED. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (1995), S. 208–223. 104  Vgl. Otto, Wilfriede: Spannungsfeld 13. August 1961 (Hefte zur DDR-Geschichte, 71). Berlin 2001, S. 26.

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diskutierten die Arbeiter »negativ« über den »antifaschistischen Schutzwall«,105 was auf die dort zur Arbeit eingesetzten Gefangenen überschwappte. Zudem unterrichtete ein für die Burger Holzverarbeitungsbetriebe tätiger Kraftfahrer die Insassen »in hetzerischer Form« über die politische Entwicklung. Er sagte zu den Gefangenen, »dass die Lage gegenwärtig sehr ernst sei« und starke Truppenverbände an den Grenzen zusammengezogen worden seien. Die Bevölkerung sei daher »sehr unruhig« und würde über die Maßnahmen anders denken als dargestellt.106 Andere Insassen erfuhren wiederum über ihre Familienangehörigen von dem Geschehen in Berlin, denn auch am 13. August konnten einige von ihnen ihre einsitzenden Verwandten besuchen und entsprechend unterrichten, sofern die anwesenden Aufseher unaufmerksam waren.107 Einige Häftlinge reagierten, indem sie in ihrem Arbeitseinsatzbetrieb heimlich aus Eisenteilen ein Ritterkreuz zusammenschweißten.108 Die Insassen hofften abermals auf eine militärische Intervention des Westens; »einige Elemente«, so heißt es in den Berichten, witterten »Morgenluft«. Ein Häftling malte denn auch auf seine Essensschüssel einen weißen Stern, setzte sich diese auf den Kopf und gab sich gegenüber Mitinsassen und Aufsehern als amerikanischer Militärpolizist aus. Seine offen geäußerte Erwartung war: »Jetzt dauert es nicht mehr lange und wir sind frei.« Für sein aufrührerisches Verhalten wurde der Häftling mit einer »harten Hausstrafe zur Verantwortung gezogen«.109 Was die Gefangenen in Wirklichkeit dachten, geht aus den Niederschriften ihrer Bewacher in den späteren Jahren immer weniger hervor. Gelegentlich wird immerhin angedeutet, dass »die Situation in den Gefangenenkollektiven [...] oft noch nicht beherrscht« und das Meinungsklima »von negativen Kräften bestimmt« werde.110 Der zunehmend schablonenhafte-bürokratische Berichtsstil ließ jedoch meist nicht mal mehr eine indirekte oder verklausulierte Wiedergabe der eigentlichen Auffassungen der Insassen zu, wie das in den frühen Jahren noch der Fall gewesen war. Insgesamt war die Haftanstalt Brandenburg105  Abschlussbericht des Kommandeurs der bewaffneten Kräfte des Kreises Brandenburg Passenheim zum Einsatz 13.8.–31.8.1961 vom 25.9.1961; BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/429, Bl. 1–19. 106  Vgl. Situationsbericht der StVA Brandenburg vom 17.8.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 5 f. Die weiteren Ermittlungen gegen den Kraftfahrer übernahm die Staatssicherheit. 107  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Heinz Kühn am 6.6.2001 in Berlin, 7 S. 108  Vgl. Situationsbericht der StVA Brandenburg vom 17.8.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 5 f. 109  Vgl. Einschätzung der bewaffneten Kräfte der StVA Brandenburg in der Zeit vom 13.8. bis 31.8.1961 vom 5.9.1961; ebenda, Bl. 16–22. 110  Vgl. Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienstbesprechung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA 129/79, Bl. 11–73.

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Görden vom politischen Weltgeschehen immer weniger abgeschottet, weil mehr Familienangehörige zu Besuch kamen und Mitarbeiter der Ständigen Vertretung inhaftierten Bundesbürgern ab den Siebzigerjahren bisweilen eine Visite abstatten durften (siehe Kap. 4.1.14). Im Jahre 1985 gestattete Gefängnisleiter Papenfuß einem Funktionshäftling sogar offiziell ein Radio, wenngleich der zuständige Aufseher ihm keines aushändigte, da ihm keine Weisung vorlag.111 Der illegale Empfang westlicher Radiosender wurde jetzt gang und gäbe (siehe Kap. 3.4.8), überwiegend mit selbstgebastelten Transistorradios. So konnten die Gefangenen jetzt etwa im RIAS Übertragungen von Anhörungen im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen verfolgen – und wünschten sich eine noch ausführlichere Berichterstattung.112 Denn stets blieben die politischen Häftlinge auf den Westen fixiert, hofften sie doch von der Bundesregierung freigekauft zu werden. Letztlich machten in Brandenburg-Görden die gleichen Themen die Runde, die auch außerhalb der Gefängnismauern diskutiert wurden. So wurde der Sechs-TageKrieg im Nahen Osten im Jahre 1967113 ebenso debattiert wie der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag in den Siebzigerjahren oder die NATO-Nachrüstungsdebatte und die Führungswechsel in der Sowjetunion zu Beginn der Achtzigerjahre. Die hauseigene Gerüchteküche deutete das Weltgeschehen indes stets in Abhängigkeit von der eigenen Notlage und den spezifischen Interessen der Häftlinge. So rechneten sie fest mit vorzeitigen Entlassungen als Gegenleistung der DDR für den von Franz Josef Strauß vermittelten Milliardenkredit.114 Ferner hofften die Insassen, wie bei anderen Konflikten auch, im Winter 1980/81 auf eine Eskalation der Entwicklung in Polen. Ihrer Meinung nach war das Vorgehen der freien polnischen Gewerkschaft Solidarnosc »viel zu human«; ein Eingreifen der sowjetischen Truppen würde der aus Polen stammende Papst »nicht so einfach hinnehmen« und die NATO müsste dann handeln.115 Die Niederschlagung der Gewerkschaftsbewegung bedauerten die Gefangenen; selbst den offiziellen Berichten zufolge legte nur ein Drittel der Insassen die gewünschte »fortschrittliche« Haltung an den Tag (bzw. erweckte diesen Anschein) und »begrüßte« angeblich die Verhängung des Kriegsrechts.116 Einmal mehr zeigte sich, dass alle Bemühungen zur politischen Indoktrination an den Insassen Brandenburg-Gördens überwiegend abgeprallt waren. 111  Vgl. Bericht des IM »Haus« vom 18.11.1985; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 101/88, Bd. 1, Bl. 288. 112  Vgl. Kassiber vom 20.9.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 240, Bd. 1, Bl. 114. 113  Vgl. [Bericht des GI] »Stockhaus« betr. Diskussionen um die Israeli-Aggression vom 21.6.1967; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2140/81, T. II, Bd. 1, TB 4, Bl. 34 f. (MfS-Pag.). 114  Vgl. Koop, Volker: Zehn Jahre mit dem »gelben Streifen«. Karl-Heinz Rutsch: Vom Offizier der NVA zum Deserteur. Berlin 1996, S. 115. 115  Vgl. Bericht des [IM] »Hose« über auftretende Diskussionsrunden zu den Geschehnissen in Polen o. D. [24.12.1980]; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 199/86, Bd. I, Bl. 53 f. 116  Informationsbericht Nr. 7 der Abteilung VII [der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam] vom 19.12.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. 2610, Bl. 64–66.

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3.2 Die Strafvollzugspolitik des SED-Regimes und die Haftbedingungen 3.2.1 Einflussfaktoren und Variabilität der Haftbedingungen Die Haftbedingungen in den Gefängnissen der DDR waren bis 1989 außerordentlich hart, obwohl sie sich im Laufe der Jahre insgesamt besserten.117 So reduzierten sich die Übergriffe durch Aufseher, Kontakte zu den Familienangehörigen wurden häufiger gestattet und die materielle Ausstattung vieler Gefängnisse war zuletzt nicht mehr ganz so katastrophal wie in der Nachkriegszeit. Dennoch hat sich die Bevormundung der Insassen und die Diskriminierung der politischen Häftlinge im Laufe der Jahre nicht grundsätzlich verändert, und die Ausbeutung der Arbeitskraft wurde sogar immer weiter perfektioniert (siehe Kap. 3.5). Die prinzipielle Milderung der Haftbedingungen verlief zudem keineswegs linear, denn neben schrittweisen Erleichterungen kam es periodisch auch zu Verschärfungen. Mal gereichten die Veränderungen sämtlichen Insassen zum Vor- oder Nachteil, mal waren speziell die politischen Gefangenen betroffen. Solche Entwicklungen wurden mitunter durch die SED-Führung explizit angeordnet, ergaben sich teilweise aber auch aus einer gewandelten Großwetterlage in der Politik ohne ausdrückliche Weisung »von oben«. So bekamen die Häftlinge beispielsweise die Fluchtversuche oder andere widerständige Handlungen von Mitinsassen unangenehm zu spüren.118 Aussagen über Haftbedingungen bedürfen also stets besonderer Differenzierung – auch weil die Zustände von Gefängnis zu Gefängnis variierten, teils mit der Person des Gefängnisleiters zusammenhingen und vom jeweils diensttuenden Aufseher abhängig waren. Eine ungleiche Behandlung der Gefangenen war teilweise ausdrücklich erwünscht, etwa durch ihre Einordnung in verschiedene Vollzugskategorien (siehe Kap. 3.2.6). Hinzu kommt, dass die individuelle Wahrnehmung der Haftbedingungen durch die Betroffenen stark divergierte, schon weil ihre jeweilige physische und psychische Konstitution es ihnen in unterschiedlichem Maße erlaubte, Entbehrungen und Drangsalierungen zu ertragen. Im Vergleich zum Strafvollzug waren die Haftbedingungen in den Un­ter­ suchungshaftanstalten strenger, insbesondere bei der Staatssicherheit. Hier wur­ den Häftlinge häufig unter Druck gesetzt und bis etwa 1955 systematisch durch folterähnliche Methoden gefügig gemacht, da es im Zuge der Er­mitt­lungs­ verfahren aus politischen Gründen Geständnisse zu erpressen galt.119 Sei­ner­ 117  Vgl. Müller: Haftbedingungen für politische Häftlinge, S. 7–129, hier 18. 118  Ein Beispiel aus Brandenburg-Görden ist das schon erwähnte Anbringen einer Hetzlosung nach dem Amtsantritt Ackermanns, was zu einer kollektiven Bestrafung sämtlicher Insassen führte (siehe Kapitel 2.1.6). 119  Vgl. u. a. Knabe, Hubertus (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen. Stasi-Häftlinge berichten. Berlin 2007; Weinke; Hacke: U-Haft am Elbhang, S. 8; Pingel-Schliemann, Sandra:

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zeit wurden erkrankte Untersuchungshäftlinge von der Geheimpolizei auch zu spät in Haftkrankenhäuser überstellt, sodass manche dort verstarben.120 Vie­le Häftlinge litten während der Untersuchungshaft besonders bei der Staats­si­ cherheit unter systematischem Schlafentzug, Beschimpfungen, Dro­hun­gen und anderen Spielarten demütigender Behandlung (wie z. B. der Ver­wei­gerung aus­ reichender Waschgelegenheiten).121 Mit dem Eingeständnis ihrer Schuld soll­ten die Untersuchungshäftlinge nicht nur vor einer erdrückenden Be­weislast ka­ pitulieren und den Abschluss des Ermittlungsverfahren erleichtern und be­schleu­ nigen, sondern auch ihre Unterwerfung signalisieren und ihre Rolle als Ob­jekt der Umerziehung akzeptieren,122 die im Strafvollzug dann ihre Fort­set­zung fand. Im Vergleich dazu waren die Haftbedingungen in den Strafvollzugsanstalten des Innenministeriums (wie Brandenburg-Görden) in der Regel etwas weniger belastend, weil die Insassen dort nicht von Vernehmern unter Druck gesetzt wurden. Außerdem war Isolationshaft in der Untersuchungshaft üblich, weil Absprachen zwischen den Beschuldigten vermieden werden sollten, während nach der Überstellung in den Strafvollzug die gemeinschaftliche Unterbringung mit anderen Häftlingen die Regel war (mit Ausnahmen für besonders prominente oder renitente Häftlinge sowie Geheimnisträger; siehe Kap. 3.3.7). In anderer Hinsicht, etwa was die Überfüllung der Zellen, die materielle Ausstattung, den harten Arbeitseinsatz, die Verpflegung oder die Übergriffe durch Mitinsassen (besonders in den späten Jahren) betrifft, war der Strafvollzug gegenüber der Untersuchungshaft hingegen oftmals schwerer zu ertragen.123 Für politische Häftlinge und Kriminelle galten unterschiedliche Haft­be­din­ gungen, weil das SED-Regime seine Gegner besonders streng be­han­delt wis­sen wollte. Begründet wurde dies absurderweise damit, dass die po­litischen Häft­

Zersetzen. Strategie einer Diktatur. Berlin 2002, S. 83–85 u. 270–276; Zahn, Hans-Eberhard: Haftbedingungen und Geständnisproduktion in den Untersuchungshaftanstalten des MfS (Schriftenreihe des Berliner LStU, Bd. 5). Berlin 1997; Zilli, Timo: Folterzelle 36 Berlin-Pankow. Erlebnisbericht einer Stasi-Haft. Berlin 1993. 120  Sogar amtlicherseits wurde im Oktober 1951 der Tod von neun Untersuchungshäftlingen allein im Land Mecklenburg registriert, die »zu spät« in das Haftkrankenhaus von Bützow-Dreibergen eingeliefert worden waren. Bericht über die Überprüfung der Gerichte und Staatsanwaltschaften Abt. I gemäß Politbürobeschluss vom 11.12.1951 vom 2.4.1952; BStU, MfS, AS, Nr. 24/55, Bl. 197–223. 121  Vgl. u. a. Beleites, »Feinde bearbeiten wir!«; Zahn: Haftbedingungen und Geständnis­ produktion; Erler, Peter: Die deutsche »Lubjanka« in Hohenschönhausen. Das zentrale Unter­ suchungs­gefängnis des MGB in Berlin. Ein Exkurs über Insassen, Hafträume und Verhörmethoden. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2004) 15, S. 93–106; Stenzel, Mike: Die Untersuchungshaft im MfS. Bedingungen und Vollzug im Selbstverständnis der Staatssicherheit. Magisterarbeit. Berlin 2005, S. 25–44. 122  Vgl. Bastian: Repression, Haft und Geschlecht, S. 43. 123  Zum analogen Ergebnis kommt Greiner bei ihrem Vergleich von sowjetischer Untersuchungsund Lagerhaft in Ostdeutschland. Vgl. Greiner: Verdrängter Terror, S. 162.

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linge weitaus gefährlicher als ihre kriminellen Mitinsassen sei­en.124 So wur­den die politischen Gefangenen ab Mitte der Fünfzigerjahre,125 ver­stärkt ab Be­ ginn der Sechzigerjahre, von den Kalfaktorenstellen ferngehalten, durch die sie stärkeren Einfluss auf die Häftlingsgesellschaft hätten gewinnen kön­nen. Et­liche Funktionäre des SED-Regimes kannten schließlich aus eigener An­ schau­ung die Bedeutung der »Funktionshäftlinge« unter dem NS-Regime und woll­ten ihren politischen Gegnern diesen Spielraum nehmen. Zugleich be­rich­ ten ehemalige politische Gefangene aus den Fünfzigerjahren, dass sie von ei­ni­ gen, zumeist älteren Aufsehern korrekter behandelt wurden als ihre kri­mi­nel­len Mitinsassen.126 Offenbar waren seinerzeit einige Volkspolizisten we­niger stark von Feindbildern geprägt als in den späteren Jahren. Hier mag eine Rolle ge­ spielt haben, dass einige selbst über Hafterfahrungen aus der Zeit vor 1945 ver­ fügten (siehe Kap. 2.2). Weil politische Gefangene insgesamt jedoch be­son­ders unnachgiebig behandelt werden sollten, wurden sie offenbar auch häu­figer miss­ han­delt als ihre kriminellen Mitinsassen.127 Nachfolgend soll erörtert werden, welche Richtungsentscheidungen Parteiund Staatsführung in der Strafvollzugspolitik trafen und wie sich dies auf die Haftbedingungen, etwa in Brandenburg-Görden, auswirkte. Wie bereits ausgeführt, sind Unschärfen und Verallgemeinerungen dabei unvermeidlich, denn trotz militärischer Befehlsstrukturen des Organs Strafvollzug wurden neue Richtlinien zur Behandlung der Inhaftierten mitnichten in allen Haftanstalten zum gleichen Zeitpunkt und gleichermaßen konsequent umgesetzt, insbesondere was Erleichterungen betrifft. Offene Willkür und Über­griffe der Aufseher wiederum gingen weniger auf ausdrückliche Weisungen »von oben« zurück, sondern resultierten meist aus dem jeweiligen situativen Kon­text (siehe Kap. 3.3.7) – und waren von daher auch von Fall zu Fall (und von Gefängnis zu Gefängnis) verschieden.

124  Diese bekamen aus dem Munde von Fritz Ackermann häufiger zu hören: »Ihr seid nicht so verachtenswert wie die sogenannten ›politischen‹. Ihr habt nur einen Menschen getötet, aber diese kriminellen Staatsfeinde [die politischen Gefangenen] wollten uns alle umbringen, indem sie dem Imperialismus Vorschub leisten und der Entfesselung eines Dritten Weltkrieges.« [Augenzeugenbericht des ehemaligen Insassen der StVA Brandenburg] Lothar Lienicke. In: 15 Jahre Mauer. Menschenrechtsverletzungen der DDR seit dem 13.8.1961. Hg. von der Arbeitsgemeinschaft 13. August am 12.8.1976; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 272/79, Bl. 39–70. Ganz ähnlich äußerte sich Papenfuß. Vgl. Proksch, Michael: Der Pianist. In: Kaiser, (Hg.): Nur raus hier! 18 Geschichten von der Flucht aus der DDR. 18 Geschichten gegen das Vergessen. Hollenstedt 2014, S. 120–127, hier 125. 125  Vgl. Mitteilung 1/56 der Verwaltung Strafvollzug vom 7.2.1956; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 14756. 126  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Werner Adolph am 22.6.2001 in Kirchheim, 3 S. 127  So waren politische Gefangene von mindestens 80 % der nach 1989 gerichtlich verfolgten Gefangenenmisshandlungen betroffen. Pfarr: Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen, S. 209.

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Abb. 8: Zellengang in der Vollzugsabteilung I, Flügel C, 1975

Offene Willkür und Über­griffe der Aufseher wiederum gingen weniger auf ausdrückliche Weisungen »von oben« zurück, sondern resultierten meist aus dem jeweiligen situativen Kon­text (siehe Kap. 3.3.7) – und waren von daher auch von Fall zu Fall (und von Gefängnis zu Gefängnis) verschieden. Auch haben sich viele atmosphärische Ver­änderungen kaum in den Akten niedergeschlagen und lassen sich, aufgrund des wachsenden zeitlichen Abstandes, selbst mithilfe von Augenzeugenberichten nicht immer nachzeichnen. Das Hauptaugenmerk liegt jedenfalls zunächst auf der normativen Seite, also auf der Befehlslage, während die konkrete Haft­wirk­lich­keit weiter unten beschrieben wird (siehe Kap. 3.3); die Amnestien wer­den im Zusammenhang mit den Häftlingszahlen in Kap. 4.1 erläutert.

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3.2.2 Die stalinistische Phase (1948–1953) Besonders strenge Haftbedingungen galten in der Sowjetischen Besatzungszone für die nach Befehl 201 Inhaftierten, soweit sie in den Haftanstalten der Volks­ polizei einsaßen.128 Gegen sie ermittelten, wie bereits erwähnt, die Kommissariate bzw. Dezernate 5 der Kriminalpolizei (K 5). Als »Staatsfeinde« sollten sie dem strengsten Regime unterliegen: Da man ihnen grundsätzlich Fluchtabsichten unterstellte, überwachte man sie besonders scharf. Erkrankten unter ihnen wurde selbst dann keine Haftverschonung gewährt, wenn eine ärztliche Anweisung vorlag. Selbst »Halbtote rennen nämlich weg nach dem Westen«, wie der da­ malige stellvertretende Leiter der Deutschen Verwaltung des Innern (und spä­ tere Chef der Staatssicherheit), Erich Mielke, Ende 1947 feststellte. Bei den Ermittlungen nach Befehl 201, so erklärte er scheinheilig, dürften »in Zukunft keine Gestapomethoden mehr angewandt werden [...]. Das heißt aber nicht, dass man nun die Untersuchungen ohne die notwendige Härte führt«,129 womit brutalen Vernehmungsmethoden kaum etwas im Wege stand. Die Justizverwaltung immerhin, der die gewöhnlichen Untersuchungshaftund Strafvollzugsanstalten unterstanden, war seinerzeit um eine Liberalisierung des Haftregimes bemüht (siehe Kap. 2.3.1). Deswegen intervenierte sie damals auch »ergebnislos« bei der Volkspolizei, den nach Befehl 201 Verhafteten in den Po­lizeihaftanstalten – wie allen anderen Häftlingen – den Empfang zusätzlicher Le­bensmittel von Familienangehörigen zu gestatten. Denn die Häftlinge wurden »aus der polizeilichen Untersuchungshaft in stark reduziertem körperlichen Zu­ stand« in den Strafvollzug der Justiz überstellt, wie dieser monierte. Dadurch falle es dann sehr schwer, »ihren Körperzustand soweit zu kräftigen, dass sie ar­beits­fähig werden«.130 Auch die sächsische Staatsanwaltschaft kritisierte, dass die Essens­ rationen in den Haftanstalten der Volkspolizei nicht ausreichten, um die Häft­linge auf Dauer verhandlungsfähig zu halten, »ausgedehnte Hungerödeme« sei­en mitunter die Folge.131 Doch Mielke verwehrte den Häftlingen eine bessere Ver­pflegung mit der zynischen Begründung, dass »wir alle nach Rationen leben« müss­ten.132 128  Vgl. Sonderanweisung zur Polizeihaftanstaltsordnung – gilt nur für den Personenkreis, der in Ausführung des Befehls 201 der SMAD festgenommen ist o. D. [Ende 1947]; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, Bl. 7 f. Für die übrigen Insassen der Polizeihaftanstalten galten mildere Haftbedingungen. Vgl. Deutsche Verwaltung des Innern: Polizeihaftanstaltsordnung für die sowjetische Besatzungszone (Dienstvorschrift Nr. 15) vom 20.1.1949; BArch DO1/2.2./55613. 129  Protokoll der Tagung über den Befehl 201 mit den stellv. Innenministern und den Leitern der Landesuntersuchungsorgane o. D. [12/1947]; BArch DY 30/IV 2/13/4, Bl. 254. 130  Deutsche Justizverwaltung: [Belegung des] Strafvollzug[s] vom 13.7.1949; BArch DP 1–46. 131  Vertrauliches Schreiben des Generalstaatsanwalts im Lande Sachsen [unter Bezugnahme auf die polizeiliche Anweisung Nr. 107 zur erschwerten Untersuchungshaft in Verfahren nach Befehl 201] vom 11.6.1949; BStU, MfS, AU, Nr. 307/55, Bd. 5a, Bl. 163 f. 132  Protokoll der Tagung über den Befehl 201 mit den stellv. Innenministern und den Leitern der Landesuntersuchungsorgane o. D. [12/1947]; BArch DY 30/IV 2/13/4, Bl. 254.

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In jeglicher Hinsicht waren die Haftbedingungen für die nach Befehl 201 Inhaftierten durch besondere Härte geprägt. Alle Wertgegenstände, ja sogar Eheringe wurden den Häftlingen abgenommen, um ihnen keine Möglichkeit zum Bestechen der Aufseher zu geben.133 Während der Ermittlungsverfahren waren Besuche nur durch Familienangehörige in absoluten Ausnahmefällen erlaubt, wurden in jedem Fall streng überwacht und durften nicht länger als 15 Minuten dauern. Zwar war es den Gefangenen angeblich gestattet, jede Woche einen Brief zu schreiben, doch war dies vom Wohlverhalten des Betreffenden abhängig – und die Briefe wurden natürlich zensiert. Widerstandshandlungen, insbesondere »Toben und Schreien«, sollte durch Fesselung begegnet werden.134 Tatsächlich waren den Häftlingen nach Befehl 201 buchstäblich die Hände gebunden, denn für sie waren Haftbeschwerden »nicht zulässig«.135 Zwar wurde verschiedentlich eine »gerechte Behandlung« der Insassen angewiesen, doch war die Praxis von Willkür und Schikane geprägt. Und sogar als Haftentlassene wurden die nach Befehl 201 Verurteilten benachteiligt, denn ihnen wurde beispielsweise ein Schwerbeschädigtenausweis prinzipiell verwehrt.136 Vor Wiederinbetriebnahme von Brandenburg-Görden wurden die nach Befehl 201 Verurteilten in das Haftarbeitslager Rüdersdorf (siehe Kap. 2.6.1) eingewiesen, wo ein besonders strenges Regime herrschte. Jeder zweite Häftling musste im örtlichen Kalk-, Zement- und Betonwerk harte körperliche Arbeit leisten. »Infolge hohen Alters und der ungenügenden Ernährung« waren die Arbeitsergebnisse »nicht allzu hoch«, wie es in den Berichten hieß. Ein Teil der Gefangenen litt bereits nach einigen Wochen unter »Wasser in den Füßen«137 und im Winter 1948/49 starben 16 Insassen.138 Baden konnten die Häftlinge alle acht Tage, alle vier Wochen durften sie einen maximal vierseitigen Brief schreiben und angeblich alle zwei Wochen einen empfangen. Die Besuchszeit lag hier bei maximal einer halben Stunde und wurde im günstigsten Fall alle sechs Wochen gewährt. Der Paketempfang konnte, allerdings nur bei guter Führung, einmal monatlich erfolgen.139 133  Schreiben der deutschen Justizverwaltung vom 13.12.1947; zit. nach: Kappelt, Olaf: Die Entnazifizierung in der SBZ sowie die Rolle und der Einfluß ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR als ein soziologisches Phänomen. Hamburg 1997, S. 401. 134  Vgl. Sonderanweisung zur Polizeihaftanstaltsordnung – gilt nur für den Personenkreis, der in Ausführung des Befehls 201 der SMAD festgenommen ist o. D. [Ende 1947]; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, Bl. 7 f. 135  Vgl. Anweisung der K 5/201 des Landeskriminalamtes Brandenburg (Potsdam) an alle Einsatzstellen betr. Befehl 201 vom 17.11.1947; ebenda, Bl. 1–3. 136  Vgl. Wille, Manfred: Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1948. Magdeburg 1993, S. 199. 137  Vgl. Bericht des Lagers 201 Rüdersdorf bei Berlin vom 3.4.1948; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, Bl. 182 f. 138  Zeitraum Ende September 1948 bis März 1949. Vgl. Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 104. 139  Vgl. BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133.

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Abb. 9: Nach Befehl 201 verurteilte Gefangene im Steinbruch des Haftarbeitslagers Rü­ ders­dorf. Um ihre Sühne zu dokumentieren, wurde das Foto 1949 im »Neu­en Deutsch­land« veröffentlicht. (BArch, Bild 183-1983-0426-313, Foto: Otto Donath)

Als Grundlage für den Umgang mit den Insassen des gewöhnlichen Strafvollzugs dienten seinerzeit formal noch Rechtsvorschriften aus der nationalsozialistischen Zeit, denn »die Behandlung der Gefangenen soll nach der von den Nazis für ihre Gefangenen erlassenen Dienst- und Vollzugsordnung von 1940 erfolgen«.140 Ebenso wie die Untersuchungshaftvollzugsordnung (UHVO) von 1942141 galt diese in der gesamten Sowjetischen Besatzungszone fort, war jedoch von allen nationalsozialistischen Bestimmungen bereinigt worden;142 ein neues Straf­ vollzugsgesetz konnte die Justizverwaltung gegen das Innenressort nicht durch­ setzen. Gleichwohl wirkten sich die Reformansätze der Justiz (siehe Kap. 2.3.1) zum Vorteil der Insassen aus, als zwischen September 1948 und Juli 1950 140  Ergebnisprotokoll einer Besprechung in der Deutschen Justizverwaltung vom 2.11.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 4–6. 141  Vgl. Alisch: Beispiel Cottbus, S. 18. 142  Vgl. Oleschinski: Abteilung Strafvollzug, S. 83–90, hier 87. Dementgegen Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 88. Auch in einigen westlichen Bundesländern galt die modifizierte Strafvollzugsordnung bis 1961 fort. Vgl. Baumann, Imanuel: Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980. Göttingen 2006, S. 121.

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Brandenburg-Görden der Justiz unterstand. So führte Gefängnisleiter Paul Locherer, zugleich Hauptreferent in der Deutschen Justizverwaltung, im Juli 1949 eine Gefangenenselbstverwaltung ein und erstellte für diese sogar einen »Arbeitsplan«.143 Die Gefangenen sollten demzufolge »demokratische Regeln« erlernen sowie »Selbstdisziplin und Selbstvertrauen« gewinnen. »In persönlichen, kulturellen und sozialen Angelegenheiten hat die Gefangenen-Selbstverwaltung das Recht mitzuentscheiden.« Als Bindeglied zwischen Gefängnisleitung und Insassen habe sie ein »Vorschlags- und Beratungsrecht« in allen die Häftlinge betreffenden Angelegenheiten. Mitwirken durfte sie sogar bei Gnadengesuchen, Verpflegungsfragen und beim Aussprechen von Disziplinarstrafen. Die Häftlinge sollten ihre Vertrauensleute in geheimen Wahlen bestimmen, die allerdings noch der Zustimmung der Gefängnisleitung bedurften.144 Die Gefangenenselbstverwaltung durfte sogar überwachen, ob die vorgesehenen Essensrationen auch tatsächlich ausgegeben wurden.145 Ein inhaftierter Ingenieur durfte unter Locherer zudem einen Fachartikel (zu Hochöfentechnik) verfassen und publizieren,146 was wohl der Resozialisation dienen sollte. Schon auf seinem vorherigen Posten als Leiter der Haftanstalt Zwickau hatte er ein liberales Regime geführt und Arreststrafen lediglich bei Fluchtversuchen verhängt.147 Im Verlauf des Jahres 1950 änderten sich die Haftbedingungen im ostdeutschen Strafvollzug erheblich. Mitte März durften die aus den sowjetischen Speziallagern übernommenen Insassen, die besonders streng behandelt wurden, erstmals ihren Familienangehörigen schreiben und Mitte April von diesen ein Lebensmittelpaket empfangen.148 Hinter dieser Vergünstigung stand freilich keine humanitäre Erwägung, sondern die bittere Notwendigkeit, angesichts knapper Essensrationen das schiere Überleben der Häftlinge zu ermöglichen. Bereits im Mai 1950 erließ die Hauptabteilung Haftsachen des Ministeriums des Innern außerdem eine »Richtlinie zur Sicherung der Strafanstalten«, in der das Kahlscheren des Kopfhaares angewiesen wurde. Diese zusätzliche Demütigung, die manchem Insassen noch aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern in böser Erinnerung war, sollte den Betroffenen gegenüber als Präventivmaßnahme gegen Ungeziefer dargestellt werden.149 143  Protokoll über die Feierstunde der Gefangenenselbstverwaltung [der Haftanstalt Zwickau] vom 1.8.1949; BArch DP 1–262, Bl. 120–124. 144  Vgl. Locherer, Paul: Richtlinien für die Gefangenenselbstverwaltung o. D.; ebenda, Bl. 113–119. Die Gefangenenselbstverwaltung wurde auch in anderen Haftanstalten praktiziert, so etwa in Coswig. Vgl. Ahrberg: Zuchthaus Coswig, S. 62–64. 145  Vgl. [Bericht des ehemaligen Häftlings Georg Oehmichen] betr. Zuchthaus BrandenburgGörden vom 21.3.1952; BArch B 289/SA 171/22–01/2. 146  Vgl. Bericht vom 4.1.1952; BStU, MfS, AS, Nr. 161/58, Bl. 75–79. 147  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 48. 148  Vgl. Schreiben von Fischer an Steinhoff vom 17.4.1950; BArch DO1 11/1563, Bl. 19 f. 149  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung HS an den Chef der DVP Kurt Fischer vom 25.5.1950; BArch DO1 11/1573, Bl. 15.

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Speziell für Brandenburg-Görden bedeutete die Übernahme durch die Volkspolizei im Sommer 1950 eine tiefe Zäsur. Mit der reformorientierten Justiz verschwanden alle Ansätze zu einem humanen Strafvollzug. Als die Volkspolizei die neuen Häftlinge aus Bautzen und Waldheim einlieferte, wurde rasch deutlich, dass fortan ein anderer Wind wehen würde, wie auch ein Aufseher berichtete, der wenige Monate später in den Westen flüchtete. »Noch im Laufe des Monats Juni rollten die Transporte der zu langjährigem Zuchthaus Verurteilten per Bahn an. Alle Menschen, die da ankamen und die ich sah, waren unterernährt. Man sah es ihnen an, dass sie schon schwer gelitten hatten.« Die körperlich Stärkeren mussten den Schwächeren beim Aussteigen helfen: »Man hatte aber nicht viel Zeit [...], sodass es nicht ein Tragen in die Zelle, sondern mehr ein Schleifen war.«150 Insbesondere »Verpflegung und Behandlung« verschlechterten sich jetzt »wesentlich«, wie die Betroffenen berichteten.151 Einige bekundeten gar, das Gefängnis habe sich in »wenigen Tagen zur Hölle« verwandelt.152 Während die Justiz als schärfste Disziplinarstrafe Einzelhaft angeordnet hatte, verhängte die neue Gefängnisleitung nun offenbar sogar Dunkelarrest, und auch die Misshandlungen wurden offenbar zahlreicher. Den Häftlingen wurde jetzt das Kopfhaar kahl geschoren (was bei der Justiz nicht üblich gewesen war), und der Hofgang erfolgte von nun an in Marschordnung.153 Die Gefangenenselbstverwaltung wurde ebenso aufgelöst wie das Häftlingsorchester,154 das unter der Ägide der Justiz zum Geburtstag Stalins im Dezember 1949 noch hatte aufspielen dürfen.155 Auch wurde das höchstzulässige Gewicht der Lebensmittelpakete von acht auf drei Kilogramm reduziert (siehe Kap. 3.3.2). Im August wurden sämtliche Spielkarten eingezogen, da dies aus Sicht der neuen Gefängnisleitung ebenfalls eine überflüssige Vergünstigung bedeutete. Da Häftlinge im Arbeitseinsatz sich von ihrem Eigengeld nunmehr Tabakwaren selbst kaufen konnten, wurde deren Zusendung durch Familienangehörige umgehend verboten. Dies benachteiligte aber all jene, die aus körperlichen Gründen nicht arbeiten konnten (oder durften). Während der Freistunde waren auch nur noch Gymnastikübungen zulässig, 150  Bericht [eines ehemaligen Aufsehers] über meine Erlebnisse während meiner Tätigkeit im Zuchthaus Brandenburg vom 1.11.1949 bis 28.11.1950; BArch B 289/SA 171/22–119/1. 151  [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Strafvollzugsanstalt BrandenburgGörden/Havel vom 22.11.1951; BArch B 137/1809. 152 Vgl. Sopade-Informationsdienst des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: Die Straflager und Zuchthauser der Sowjetzone. Gesundheitszustand und Lebensbedingungen der politischen Gefangenen (Denkschriften, 55). In: Greve, Uwe: Lager des Grauens. Sowjetische KZs in der DDR nach 1945. Kiel 1990, S. 106–215, hier 202. 153  Vgl. [Bericht des ehemaligen Häftlings Georg Oehmichen] betr. Zuchthaus BrandenburgGörden vom 21.3.1952; BArch B 289/SA 171/22–01/2. 154  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] Nr. 1847 betr. Haft-Anstalt Brandenburg-Görden o. D. [Herbst 1950]; BArch B 289/VA 171/22–16. 155  Bericht [vermutlich eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Haftanstalt Brandenburg-Görden o. D. [1950], 13 Bl.; BArch B 137/1809.

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wohingegen »sämtliche Muskelübungen« zu unterbleiben hatten – um die Chancen der Insassen zum Aufbegehren zu minimieren. Die hygienische Lage war seinerzeit ebenfalls katastrophal, da »ein großer Teil der Gefangenen« wegen einer ausstehenden Lieferung »mehrere Wochen ohne saubere Unterwäsche« war.156 Zu allem Überfluss wurden auch noch die Häftlingsärzte, die sich unter der Justiz im Rahmen ihrer Möglichkeiten für ihre Leidensgenossen eingesetzt hatten, in ihren Kompetenzen eingeschränkt oder gar abgelöst.157 Die Haftbedingungen wurden keinesfalls besser, als Ende 1950 Heinz Marquardt die Leitung Brandenburg-Gördens übernahm. Die Insassen emp­ fan­den ihn als »üblen Menschenschinder«,158 der Häftlinge wegen Be­lang­lo­sig­ keiten mit 21 Tagen Arrest bestrafte.159 Tatsächlich grenzte sich Marquardt ge­ gen­über dem »humanen Strafvollzug« der Justiz ausdrücklich ab und schuf von An­fang an ein Klima, das Übergriffen zuträglich war. »Wir müs­sen lernen, die Ge­fangenen zu hassen«, eröffnete er den beiwohnenden Auf­se­hern anlässlich sei­ ner Amtseinführung. »Wir wollen wieder aus diesem Haus ein Zuchthaus ma­ chen und kein Sanatorium.«160 So galt der Ton seiner Auf­seher, verglichen mit an­deren Haftanstalten, als besonders streng.161 Ein kla­res Feindbild forderte die SED-Führung von den Aufsehern – und wollte klar­gestellt wissen, dass »nicht arme bedauernswerte Menschen in Haft sitzen. Da­rum müsse mit der Hu­ma­ni­ tätsduselei Schluss gemacht werden.«162 Erst im April hatte sich die SED-Füh­ rung in Moskau eine schärfere justizpolitische Li­nie absegnen lassen.163 Die physischen Übergriffe auf die Gefangenen waren wohl das drängendste Problem in dieser Zeit. Immerhin wollte sich der Leiter der obersten Gefängnisverwaltung, August Mayer, vom Strafvollzug der Nationalsozialisten abgrenzen und erklärte: »Die Durchführung der demokratischen Gesetzlichkeit steht bei uns an erster Stelle«, weswegen Gefangenenmisshandlung unzulässig sei und strafrechtlich verfolgt werde. Der Strafvollzug solle »in kurzer Zeit 156  Vgl. Niederschrift über die Dienstbesprechung [in der Haftanstalt Brandenburg] vom 9.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 45 f. 157  Vgl. Sopade-Informationsdienst: Straflager und Zuchthäuser, S. 106–215, hier 204–207. 158  [Bericht des ehemaligen Häftlings Georg Oehmichen] betr. Zuchthaus BrandenburgGörden vom 21.3.1952; BArch B 289/SA 171/22–01/2. 159  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Personal des Zuchthauses BrandenburgGörden und Zustände in demselben vom 1.12.1951; BArch B 289/SA 171/22–01/6. 160  Aussage von Heinz Marquardt bei Übernahme der Haftanstalt Brandenburg-Görden Ende 1950; zit. nach: Finn: Die politischen Häftlinge der Sowjetzone, S. 170. Finn wiederum zitiert: Bericht [eines ehemaligen Aufsehers] über meine Erlebnisse während meiner Tätigkeit im Zuchthaus Brandenburg vom 1.11.1949 bis 28.11.1950; BArch B 289/SA 171/22–119/1, konnte oder wollte aber seine Quelle nicht offenlegen. 161  Vgl. u. a. Pfeiffer, Werner: Abgeholt. Chronik einer geraubten Jugend. Gütersloh 2000, S. 165. 162  So die Aussage Anton Plenikowskis auf einer Arbeitstagung des Gefängniswesens. Protokoll der Arbeitstagung vom 6.5.1952; BArch DP 1–295, Bl. 18–21. 163  Vgl. Bonwetsch; Kudrjašov: Stalin und die II. Parteikonferenz, S. 189 f.

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eine vollkommene Änderung erfahren«, hieß es auf einer Leitungsberatung der ostdeutschen Gefängnisverwaltung im August 1952. »Arreststrafen sollen möglichst nicht mehr angewandt werden«, stattdessen sollten Vergünstigungen gestrichen werden (wie der Paketempfang oder die Besuchserlaubnis). »Die Strafgefangenen sind, ohne versöhnlerisch zu sein, korrekt zu behandeln. Der Gebrauch von Schimpfwörtern ist unzulässig.«164 Entgegen solchen moderaten Tönen kamen Übergriffe und Schikanen aber weiterhin vor165 und eine Differenzierung der Sanktionen wurde erst Jahre später in die Praxis umgesetzt. 3.2.3 Die Veränderungen nach dem Juni-Aufstand (1953–1956) Der Tod Stalins im März 1953 brachte für die Insassen der sowjetischen Lager »eine spürbare Lockerung des Regimes«, insbesondere eine Mäßigung der vielfach waltenden Willkür.166 Die schwere politische Krise des Systems zwang auch die SED-Führung zu flexibleren Herrschaftsmethoden und das partielle Zurückschrauben der Repression in Ostdeutschland wirkte sich auch auf das Gefängniswesen aus.167 Weil sich Moskau das letzte Wort hinsichtlich der Behandlung der ehemaligen Speziallagerinsassen vorbehalten hatte, erfolgten die Veränderungen im Haftregime in der DDR teilweise mit expliziter 164  Protokoll über die am 18. August stattgefundene Besprechung mit den Leitern der Abteilung SV bei den Bezirksbehörden vom 18.8.1952; BArch DO1 11/1493, Bl. 36–49. 165  So berichtet etwa Karl Heinz Reuter über seine Aufnahme in der Haftanstalt an der Havel: »Am 9. November 1952 wurde ich und noch andere NKWD-Inhaftierte mit einem Gefangenentransporter vom KZ Bautzen nach Brandenburg-Görden überstellt. [...] In Brandenburg wurden wir unter treten und stoßen aus dem Transporter in den Hof gejagt. Es empfing uns ein Komitee von roten Bastarden im schlimmsten Ton der alten Nazimörder, ›hier werdet ihr Hunde zu halbwegs tragbaren Lebewesen erzogen‹. Nach der Ausstellung im Hof wurden unsere Namen verlesen, dann mussten wir trotz unserer steifen Knochen durch den langen und eingepferchten Transport in einer Reihe und im Laufschritt in die Haupteingangstür laufen. Der Mitinhaftierte [...] war besonders groß und Träger einer sehr starken Brille. Dieser Mann bekam sofort die Hinterhältigkeit dieser roten Bluthunde zu spüren. Im Eingang wurde er mit einem Gummiknüppel von hinten in die Kniekehle geschlagen, als er einknickte, kam von vorn ein Knüppel von unten nach oben gezogen unter sein Kinn, dabei verlor er seine Brille, wobei ein Glas zerbrochen wurde. Unter viel Lärm unserer Holzschuhe mussten wir dann im Gebäude durch einen Flur laufen, dann wieder links bis auf einen größeren Flur in einem Zellenbau. Auf diesem Flur mussten wir uns nackt ausziehen, wurden dann mit sauberer Häftlingskleidung eingekleidet und namentlich auf verschiedene Zellen verteilt.« Bericht des ehemaligen Häftlings Karl Heinz Reuter über das »KZ Lager Zuchthaus Brandenburg/Havel« o. D. [1991] (im Besitz des Autors). Meist kam noch das demütigende Kahlscheren des Kopfhaares hinzu, soweit dies nicht schon in anderen Haftanstalten geschehen war. 166  Bährens, Kurt: Deutsche in Straflagern und Gefängnissen der Sowjetunion, Bd. 1–3 (Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges, V/1–V/3). München 1965, S. 208. 167  Vgl. Weber: Geschichte der DDR, S. 169 f.

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Billigung der sowjetischen Verwaltung. So hatte sich schon im Februar 1953 die Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei um die Zustimmung der Sowjetischen Kontrollkommission bemüht, zumindest die zum Tatzeitpunkt unter 21-jährigen SMT-Verurteilten vom strikten Besuchsverbot auszunehmen.168 Ende März bat August Mayer dann Oberst Fjodor Titow darum, den SMTVerurteilten auch den Besuch westdeutscher Familienangehöriger zu gestatten.169 Auch in Brandenburg-Görden besserte sich jetzt einiges; ab Mai 1953 wurden die einzelnen Zellen des jeweiligen Traktes tagsüber nicht mehr streng verschlossen (»Umschluss«).170 Und während der Freistunde wurden nun gelegentlich Ballspiele gestattet,171 was seit der Übernahme des Gefängnisses durch die Volkspolizei nicht mehr vorgekommen war. Während am 17. Juni aufgebrachte Bürger insgesamt 27 Haftorte stürmten und etwa 1 440 Häftlinge befreiten (siehe Kap. 2.6.4), riskierten die Gefangenen – auch angesichts angekündigter Haftentlassungen – keine Revolte; lediglich in sechs Haftanstalten kam es zu »Kundgebungen« der Insassen.172 So herrschte etwa in Cottbus eine aufrührerische Stimmung173 und in Bautzen I wurde die Leitung der Haftanstalt angewiesen, »alles zu unterlassen, was die Stimmung der Strafgefangenen negativ beeinflussen konnte«.174 Um sie zu isolieren, wurden deswegen auch in einigen Gefängnissen die politischen Häftlinge in bestimmten Zellen konzentriert,175 was ihnen zumindest den Gedankenaustausch untereinander erleichterte. Auch innerhalb der Gefängnisse verschoben sich für kurze Zeit die Gewichte, weil sich die Aufseher nicht mehr so hart durchzugreifen trauten. In Waldheim etwa wunderten sich die Häftlinge sehr, dass ihre Bewacher

168  Vgl. Schreiben des Generalinspekteurs der VP Maron an den Chef der Präsidialkanzlei des Präsidenten der DDR, Staatssekretär Winzer vom 18.2.1953; BArch DO1 11/1577, Bl. 11. 169  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung SV vom 25.3.1953; BArch DO1 32/39821. 170  Diese Erleichterung wurde erst wieder im Jahre 1977, also fast 25 Jahre später, in den Haftanstalten mit sogenannter erleichterter Vollzugsart gestattet. Vgl. Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz (SVWG) vom 12.1.1968 in der Fassung vom 19.12.1974. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern; Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestimmung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 171  Vgl. [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Brandenburg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968. 172  Jahresbericht der Hauptabteilung Strafvollzug für das Jahr 1953 vom 15.2.1954; BArch DO1 11/1468, Bl. 106–122. 173  Vgl. u. a. Informationsbericht [des Notaufnahmelagers Marienfelde] beruhend auf den Aussagen der geflüchteten Aufseherin Elly Kupsch über die Strafvollzugsanstalt Cottbus vom 29.7.1953; BArch B 137/1810. 174  Bericht der Leitung der Vollzugsanstalt Bautzen an die Hauptabteilung SV vom 3.7.1953; BArch DO1 11/75391, Bl. 1228. 175  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Heinz Kühn am 6.6.2001 in Berlin, 7 S.

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die Befehle jetzt mit dem Wort »Bitte« schmückten.176 Auch in BrandenburgGörden »brodelte« während des Volksaufstandes die Gerüchteküche,177 denn verlässliche Informationen über das Geschehen waren rar.178 Die Aufseher agierten jedenfalls mit bislang unbekannter Umsicht gegenüber den Gefangenen (siehe Kap. 2.6.4). Im Zuge des »neuen Kurses« verpflichtete Staatspräsident Otto Grotewohl den Staatsapparat im Juli 1953 zur »strengen Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit«. Dies sollte auch für den Strafvollzug gelten, weswegen gewisse Lockerungen auch nach der Niederschlagung des Volksaufstandes ihre Gültigkeit behielten. So verzichteten beispielsweise die Aufseher in Torgau ab Juli 1953 auf den Gummiknüppel; die Häftlinge hatten hier jetzt täglich Umschluss, durften sich während der Freistunde frei bewegen und konnten sogar eine Gefangenenselbstverwaltung mit beschränkten Befugnissen einrichten.179 Auch in Brandenburg-Görden blieben manche der Hafterleichterungen noch für Monate erhalten und einige besonders brutal auftretende Aufseher wurden in die Verwaltung versetzt.180 »Es wurde allgemein humaner, höflicher im Ton, das Schlagen mit Schlagstöcken nahm ab«, wie ein anderer Insasse bestätigte.181 Anfang September wurde dann in der gesamten DDR das stark eingeschränkte Besuchsrecht der SMT-Verurteilten dem der übrigen Häftlinge angeglichen.182 Doch zugleich versuchte die SED-Führung, »die Grundstrukturen ihres stalinistischen Systems in der DDR zu konservieren«.183 Ab Herbst 1953 kehrten daher im Strafvollzug nach und nach die alten Zustände wieder ein; in Brandenburg-Görden etwa galten für die politischen Häftlinge jetzt wieder die strengeren Regeln, während die Häftlinge im Arbeitseinsatz weiterhin von

176  Vgl. Pfeiffer: Abgeholt, S. 201. 177  Vgl. Führungsbericht über den Strafgefangenen Georg Stupperich vom 17.6.1953; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 488/62, Bd. 3, S. 24 f. 178  So die Aussage des seinerzeitigen Insassen Max Pelke. Vgl. Märkische Allgemeine vom 24./25.5.2003, S. 15. 179  Vgl. [Bericht des ehemaligen Häftlings] Rudolf Jahn [an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen] über die Gefangenenselbstverwaltung in der Strafvollzugsanstalt Torgau o. D.; BArch B 137/1715. Auch im Haftarbeitslager Volkstedt bestand seinerzeit eine Gefangenenselbstverwaltung, die nach einem Kontrolleinsatz im April 1954 wieder abgeschafft wurde. Vgl. Eberle: Ökonomische Aspekte des Strafvollzuges, S. 111–140, hier 119. 180  Vgl. u. a. [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. VP-Meister Helmut Töppich vom 26.4.1956; BArch B 289/SA 171/22–30/12. 181  Brief an das ZDF vom 9.2.1983; Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Bestand Dieter Zimmer; zit. nach: Kowalczuk: 17. Juni 1953, S. 186. 182  Vgl. Dienstanweisung 35/53 der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei betr. Besuchserlaubnis für Strafgefangene vom 9.9.1953; BArch DO1/2.2./57311; Aktenvermerk der Hauptabteilung SV vom 2.9.1953; ebenda. 183  Vgl. Weber: Geschichte der DDR, S. 169 f.

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einigen Erleichterungen profitierten.184 Etliche Aufseher verhielten sich weiterhin etwas moderater, doch andere gebärdeten sich wieder deutlich strenger.185 Volkspolizeichef Maron monierte bereits Ende Juli 1953 ein »Nachlassen der Disziplin der Strafgefangenen«, dem »energisch entgegengetreten« werden müsse.186 Hinsichtlich der Haftbedingungen in Berlin-Rummelsburg etwa kritisierte Mayer im November, die Insassen würden hier »ein sehr schönes Leben führen. Kein freier Arbeiter kann sich das erlauben, was den Gefangenen an Vergünstigungen in dieser Anstalt zusteht.« In einem Gefängnis müsse eine spartanische Einfachheit herrschen. »Die Gefangenen dürfen hier kein leichteres Leben führen als in der DDR.«187 Entsprechend dieser Vorgaben wurden auch in den sächsischen Haftanstalten zwischenzeitliche Lockerungen des Haftregimes Ende 1953 rückgängig gemacht.188 Zu dem schärferen Wind, der nun in den DDR-Haftanstalten wehte, trug wohl auch eine Inspektion durch sowjetische Offiziere bei. Diese kritisierten im Januar 1954, die Außenkommandos würden »völlig ungenügend bewacht«, weswegen Häftlinge in »größerer Zahl« fliehen könnten. Da die sowjetischen Berater zudem »freundschaftliche Beziehungen« zwischen den Insassen und ihren Bewachern konstatierten,189 forderte das Politbüro im Mai 1954, »Erscheinungen des Versöhnlertums und des Paktierens mit den Gefangenen sind scharf zu bekämpfen«.190 Im August des gleichen Jahres besuchten Mitarbeiter der Sowjetischen Kontrollkommission dann auch die Haftanstalt an der Havel.191 Hier waren bereits in der zweiten Jahreshälfte 1953 zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen umgesetzt worden, ausgehend von den Erfahrungen beim Volksaufstand. So sollten die Aufseher größere Wachsamkeit an den Tag legen, einige bauliche 184  Vgl. [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Brandenburg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968. 185  Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. 186  Befehl 61/53 des Ministeriums des Innern betr. Verbesserung der Sicherheit in den Dienststellen des Strafvollzuges vom 26.8.1953 (und Dienstanweisung 1–4 zum Befehl 61/53); BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 50831. 187  Vgl. Protokoll der Untersuchungshaft- und Vollzugsanstalt Berlin I [Rummelsburg] zur Auswertung des Kontrolleinsatzes der Brigade der HA SV der HVDVP vom 7.11.1953; BArch DO1 11/1485, Bl. 144–159. 188  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 176 f.; [Bericht des ehemaligen Häftlings] Rudolf Jahn [an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen] über die Gefangenenselbstverwaltung in der Strafvollzugsanstalt Torgau o. D.; BArch B 137/1715. 189  Aktennotiz über eine Besprechung bei Walter Ulbricht am 8.1.1954; BArch DY 30/IV 2/12/119, Bl. 1–9; abgedruckt in: Hoffmann; Schmidt; Skyba (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau, S. 197–203. 190  Anlage 1 zum Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 11.5.1954; BArch DY 30 J IV 2/2–360. 191  Dort sprachen sie offenbar gezielt mit ehemaligen SMT-Verurteilten. Vgl. Stimmungsbericht [des GI] »Uschi« vom 7.8.1954; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 113/60, Bd. I, Bl. 106.

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Veränderungen vornehmen und in den landwirtschaftlichen Außenkommandos wieder strengere Saiten aufziehen.192 Die Folge waren strengere Haftbedingungen und eine kontinuierliche Reduzierung der Außenkommandos, wo Gefangene noch die größten Spielräume gehabt hatten. Nach der Entlassung der meisten SMT-Verurteilten beschloss die oberste Strafvollzugsleitung im Frühjahr 1954 zahlreiche Verlegungen.193 In den meisten Haftanstalten wurden jetzt politische Gefangene sowie politisch Verfolgte zusammen mit Kriminellen untergebracht und sogar, in deutlicher Abkehr von der bisherigen Linie, durch Verlegungen innerhalb der Haftanstalten regelrecht durcheinander »gewürfelt«.194 Auch in Brandenburg-Görden wurden zu Jahresbeginn 1954 kriminelle und politische Häftlinge zusammengelegt.195 Weil somit weniger Haftanstalten allein politischen Häftlingen vorbehalten blieben, fiel es dem SEDRegime nun leichter, den Umstand politischer Inhaftierung in der DDR in Abrede zu stellen. Die Vermischung hatte auch eine disziplinierende Funktion, weil Kriminelle und politische Gefangenen gegeneinander ausgespielt werden konnten. Mitte 1954 entschied das Zentralkomitee zudem, dass auch Erst- und Rückfalltäter stärker voneinander zu trennen seien, was ihrer Resozialisierung förderlich sein sollte. Im August 1954 präzisierte die SED-Führung, dass die sogenannten Langstrafer sowie die renitenten Häftlinge in speziellen festen Strafvollzugsanstalten zu konzentrieren seien, wo sie »schwere körperliche Arbeit« leisten mussten.196 Und ab November 1955 sollte auch auf die gesonderte Unterbringung Jugendlicher strenger geachtet werden,197 weswegen in Bautzen I, Bützow-Dreibergen und Gräfentonna gesonderte Jugendabteilungen entstanden.198 192  Vgl. Befehl 61/53 des Ministeriums des Innern betr. Verbesserung der Sicherheit in den Dienststellen des Strafvollzuges vom 26.8.1953 (und Dienstanweisung 1–4 zum Befehl 61/53); BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 50831. 193  So wurden aus Brandenburg-Görden verbliebene SMT-Verurteilte nach Bautzen I ver­legt und in der Gegenrichtung etwa 200 nach Artikel 6 Verurteilte übernommen. Vgl. u. a. Häft­ lings­bericht von Horst Wieczorek aus Brandenburg und Bautzen vom 31.8.1954; BArch B 289/ VA 171/22–19/13. 194  Vgl. Verlegungsplan der Abteilung AKE [Arbeitskräfteeinsatz] der Hauptabteilung SV vom 1.3.1954; BArch DO1 11/1562, Bl. 135; Transportbefehl der Hauptabteilung SV vom 17.3.1954; BArch DO1 11/1562, Bl. 136 f. Unter anderem wurden seinerzeit auch in der Haftanstalt Waldheim rund 60 politische Gefangene, die zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt und bis dahin weitgehend unter sich geblieben waren, nun auf Zellen mit Kriminellen verteilt. Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S. 195  Vgl. u. a. Häftlingsbericht von Horst Wieczorek aus Brandenburg und Bautzen vom 31.8.1954; BArch B 289/VA 171/22–19/13. 196  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung SV vom 9.8.1954; BArch DO1 11/1589, Bl. 172. 197  Vgl. Mitteilung 3/56 der Verwaltung Strafvollzug vom 25.8.1956; BStU, MfS, BdL/ Dok., Nr. 14758. 198  Vgl. Mitteilung 2/56 der Verwaltung Strafvollzug vom 11.5.1956; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 14757.

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Weil seinerzeit besonders die angebliche Verbrüderung von Aufsehern und Insassen in der Kritik stand, war es verhängnisvoll, dass im Juli 1954 ein Aufseher und ein Häftling aus Brandenburg-Görden gemeinsam in den Westen flüchteten (siehe Kap. 3.4.6). Acht Mitinsassen, die angeblich seine Flucht unterstützt hatten, wurden nun vier Monate lang isoliert und sämtliche Insassen strenger behandelt; eine Verletzung des Schweigegebots beim Hofgang beispielsweise wurde jetzt drakonisch mit 21 Tagen Arrest bestraft.199 Der spektakuläre Vorfall trug wohl zur Ablösung von Anstaltsleiter Marquardt im September 1954 bei (siehe Kap. 2.6.5), sein Nachfolger Robert Schroetter verschärfte das Regime und ließ beispielsweise die regelmäßigen Radioübertragungen einstellen.200 Eine Reihe von Erleichterungen bekamen die Gefangenen indes im Jahre 1955 zu spüren, noch bevor die Entstalinisierung das politische Klima in der DDR beeinflusste. So wurden Arreststrafen gemäß einer neuen Dienstvor­schrift201 angeblich ab Jahresbeginn differenzierter eingesetzt und sel­te­ner ausgesprochen.202 Gleichzeitig wurde in Brandenburg-Görden das völlige Kahlscheren des Kopfhaares beendet, was den Insassen etwas mehr Würde be­ließ; Anfang 1955 durften sich die Kalfaktoren ihre Haare drei Zentimeter lang wach­sen lassen, im Folgejahr auch die anderen Insassen, mit Ausnahme der zu le­bens­länglich Verurteilten.203 Eine neue Strafvollzugsordnung von April 1955 räum­te den Häftlingen zwar gewisse Rechte ein, gab ihren Bewachern jedoch einen weiten Ermessensspielraum.204 Anfang 1955 wurden zudem eine neue Kom­mandosprache und eine einheitliche Bekleidungsordnung eingeführt.205 Dass im August der Paketempfang untersagt wurde, bedeutete wiederum eine er­hebliche Schlechterstellung der Gefangenen (Kap. 3.3.2 und 5.6.1.4).

199  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Situationsbericht SVA Brandenburg-Görden vom 21.12.1954; BArch B 289/VA 171/22–19/25. 200  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 201  Vgl. Disziplinarvorschrift 119 des Chefs der Deutschen Volkspolizei für die in den SV-Dienststellen der HVDVP einsitzenden Straf- und Untersuchungsgefangenen vom 9.12.1954; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15462. 202  Vgl. Quartalsbericht der Polit-Abtlg. der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das I. Quartal 1955 vom 2.4.1955; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, Bl. 323–330. Siehe auch Bericht der Kontrollgruppe der Verwaltung Strafvollzug über die Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit betr. die StVA Untermaßfeld vom 9.7.1956; BArch DO1 11/1488, Bl. 188–192. 203  Vgl. u. a. Brundert: Es begann im Theater, S. 69. 204  So durften die Gefangenen »innerhalb eines bestimmten [doch nicht näher genannten] Zeitraumes Briefe« erhalten und Besucher empfangen und der Bezug von Zeitungen konnte gestattet werden, »wenn keine besonderen Gründe« dagegen sprachen, die freilich leicht zu finden waren. Dienstvorschrift 128 für die Durchführung des Strafvollzuges (Strafvollzugsordnung) vom 20.4.1955; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15591. 205  Quartalsbericht der Polit-Abtlg. der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das I. Quartal 1955 vom 2.4.1955; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, Bl. 323–330.

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Im Oktober 1955 diskutierte das Zentralkomitee auf seiner 25. Tagung über Defizite und Mängel im Staatsapparat, insbesondere den Bürokratismus, sowie über oppositionelle Stimmungen in der Bevölkerung. Die SED-Führung nahm die vielfältigen Schwierigkeiten im Lande intern zwar zur Kenntnis, sah sich aber zu deren Überwindung außerstande.206 Zwischen der Diagnose von Missständen und Reformstau bewegte sich seinerzeit auch die Strafvollzugspolitik. So wurden auf höchster Ebene nach sowjetischem Vorbild neue Konzepte entwickelt, jedoch lediglich am grünen Tisch debattiert und nicht umgesetzt. Der neue Innenminister, Karl Maron, wies nämlich angesichts der ungenügenden Resozialisation im DDRStrafvollzug im November 1955 darauf hin, dass in der Sowjetunion »Gefangene auch mit ihren Frauen zusammen sein konnten, und schlug vor, sich Gedanken darüber zu machen, wie man die Voraussetzungen schaffen kann, auch in unseren HAL [Haftarbeitslagern] für die besten Arbeiter die Möglichkeit zu finden, dass sie ein bis zwei Tage mit ihren Frauen innerhalb des Lagers zusammen sein können«.207 Doch dabei handelte es sich um ein Luftschloss des Ministers, das mit der Haftwirklichkeit in der DDR kaum zu vereinbaren gewesen wäre. Wenn überhaupt wären wohl auch nur »fortschrittliche« Kalfaktoren und Brigadiere in den Genuss dieser Regelung gekommen, nicht aber die politischen Gefangenen, auch weil sie meist in festen Strafvollzugsanstalten inhaftiert waren. Weitere Reformüberlegungen gingen auf die Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) zurück. Auf ihrer 3. Parteikonferenz vom März 1956 wandte sich auch die SED gegen den Stalinismus, versuchte aber, »Fehlerdiskussionen« zu vermeiden, da eine Debatte über »Rechtsverletzungen« und »Führerkult« die Position Ulbrichts hätte gefährden können. Was die politische Justiz betraf, wurde Staatssicherheitschef Ernst Wollweber jetzt in einer Sitzung des Zentralkomitees mit den Verhörmethoden seines Apparates konfrontiert, verteidigte diese aber. Es gebe »keinerlei physischen Druck, um irgendein Geständnis zu erzwingen«, allenfalls »vor Jahren« sei es vorgekommen, dass ein Aufseher »einem frech auftretenden Provokateur eine gelangt hat«, bagatellisierte der Staatssicherheitschef die rauen Vernehmungsmethoden.208 Die Parteiführung war jedoch um Korrekturen in der Justizpolitik bemüht und sorgte dafür, dass in den folgenden Monaten mehr als 30 000 Häftlinge aus der Haft entlassen sowie viele weitere Urteile und Parteistrafen überprüft wurden (siehe Kap. 4.1.6). Die oberste Gefängnisverwaltung untersagte jetzt ausdrücklich

206  Vgl. Weber: Geschichte der DDR, S. 182. 207  Vgl. Aktenvermerk des Leiters der Verwaltung Strafvollzug zur Rücksprache mit dem Minister des Innern vom 4.11.1955; BArch DO1 11/1493, Bl. 92. 208  [Diskussionsbeitrag von] Ernst Wollweber auf der 26. Tagung des Zentralkomitees der SED vom 22.3.1956; BArch DY 30 IV 2/1/156, Bl. 59 f.; abgedruckt in: Hoffmann; Schmidt; Skyba (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau, S. 239 f.

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die »entehrende Behandlung und Misshandlung« von Häftlingen.209 Tatsächlich haben die systematischen körperlichen Misshandlungen in diesem Zeitraum »so gut wie aufgehört«.210 Waren sie zuvor »die Regel«, wurden sie jetzt zur »Ausnahme«, wie ehemalige Häftlinge berichten.211 In der neuen politischen Atmosphäre betonten führende Intellektuelle der Partei, dass der Sozialismus »durch Erziehung und nicht durch Zwang« herbeigeführt werden müsse,212 was in Maßen auch die Strafvollzugspolitik beeinflusste. So waren die Aufseher nun gehalten, das Beschwerderecht der Insas­sen zu respektieren und beispielsweise deren Familienangehörigen im Falle schwerster Erkrankungen zu informieren.213 Dennoch blieb der Alltag in den Gefängnissen des SED-Regimes insgesamt hart. »Es wird sehr viel vom humanen Strafvollzug geschrieben, aber wie sieht es der Strafgefangene. In einer Zelle 5 Mann, 4 Sitze, dünne Strohsäcke, die auf der Erde liegen, und in der Ecke ein stinkender Kübel«, so sahen es die Insassen von Brandenburg-Görden seinerzeit.214 3.2.4 Die Verschärfung der Haftbedingungen (1957–1961) Das kurze »Tauwetter« in der DDR endete, als der ungarische Volksaufstand im Oktober 1956 den SED-Oberen die ungewollten Konsequenzen wachsender Systemkritik und nachlassender Repression bewusst werden ließ. Bereits im gleichen Monat bekannte sich Justizministerin Hilde Benjamin zu einem harten Kurs und bestritt in einer öffentlichen Fragestunde, dass in den Haftanstalten jemals Geständnisse erpresst worden seien.215 Ulbricht hatte zwar im Mai 1956 »Überspitzungen« in der Verfolgungspraxis der Staatssicherheit kritisiert,216 doch 209  Dienstvorschrift Nr. 5 der Verwaltung Strafvollzug für den Aufsichtsdienst im Straf- und U-Haftvollzug vom 15.4.1956; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15493. 210  Finn: Die politischen Häftlinge der Sowjetzone, S. 111. 211  Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 108. 212  Güpping, Stefan: Die Bedeutung der ›Babelsberger Konferenz‹ für die Verfassungs- und Wissenschaftsgeschichte in der DDR. Berlin 1997, S. 114. 213  Vgl. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 214  [Bericht des GI »Karl Heinz«] betr. Meinungen der Strafgef. nach ihrer Entlassung aus der Strafanstalt vom 5.6.1956; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 307/58, Bd. I, Bl. 8 f. Der zuständige MfS-Mitarbeiter Karl Veit bezog dazu folgende Stellung: »Anfang 1956 war es so, wie aus diesem Punkt zu ersehen ist.« Zur Jahresmitte hin sei aber Besserung eingetreten. »Mit dem stinkenden Kübel verhält es sich so, dass er täglich dreimal geleert wird« – was durchaus als indirekte Bestätigung der beklagten Missstände verstanden werden kann. Stellungnahme des Gen. Sachbearbeiter in der StVA Brandenburg vom 26.6.1956; ebenda, Bl. 10 f. 215  Der Tagesspiegel vom 18.10.1956, S. 1. 216  Vgl. Engelmann, Roger: Lehren aus Polen und Ungarn 1956. Die Neuorientierung der DDR-Staatssicherheit als Resultat der Entstalinisierungskrise. In: ders.; Großbölting, Thomas; Wentker, Hermann (Hg.): Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die

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im Frühjahr 1957 rechnete er auf dem 30. Plenum der SED mit »revisionistisch« und »opportunistisch« genannten Reformvorstellungen ab und beschwörte die Gefahren ideologischer Aufweichung und Duldsamkeit gegenüber dem politischen Gegner. Entsprechend diesen Vorzeichen endete jetzt die kurze Phase einer etwas liberaleren Haftpraxis. Hatte man die Insassen zwischenzeitlich vielleicht etwas würdevoller behandelt, sah die Spitze der Partei darin nun ein Zurückweichen vor dem Gegner und kritisierte »die wieder stark eingerissene Kumpelhaftigkeit, das Versöhnlertum, die Sorglosigkeit«.217 Der Leiter der obersten Gefängnisverwaltung August Mayer ging noch weiter und erklärte wortwörtlich: »Man hat viel von den ›Rechten‹ der Strafgefangenen gesprochen, ja sogar davon, dass sie gesetzlich festgehalten seien. Das ist aber nicht so.« Mitunter würden die Haftanstalten Sanatorien gleichen, weswegen »so schnell wie möglich« Erscheinungen der Liberalisierung »zu beseitigen« seien. Die Häftlinge »müssen spüren, dass sie sich in einer Strafvollzugsanstalt befinden«.218 Auch in Brandenburg-Görden verschärften sich nun wieder die Haftbedingungen, nachdem die Aufseher während des Ungarn-Aufstandes etwas vorsichtiger agiert hatten.219 Und ein Vertreter der obersten Strafvollzugsverwaltung riet den Gefängnisleitern im Bezirk Erfurt, bei »Meuterei und Widerstand« den Missetätern vor allen Mitgefangenen Glatzen zu schneiden, sie sämtlicher Vergünstigungen zu berauben und dann zu verlegen.220 Im November 1957 kritisierte Honecker erneut »liberales und kumpelhaftes Verhalten« der Aufseher gegenüber den politischen Gefangenen, die mitunter sogar als Kalfaktoren eingesetzt würden. Zwar seien »solche Erscheinungen, wie sie früher möglich waren«, wie Bestechung oder gemeinsame Flucht, inzwischen weitgehend ausgeschlossen. Doch seien in sämtlichen Haftanstalten »durch übertriebene Betonung seiner erzieherischen Funktion« die eigentlichen Aufgaben des Strafvollzuges »entstellt worden«.221 So mussten die Gefangenen die zuletzt vergleichsweise liberal durchgeführte Freistunde wieder schweigend und in Reih und Glied absolvieren.222 In dieser neuerlichen »harten Repressionsphase« trat im Februar 1958 auch das Strafrechtsergänzungsgesetz in Kraft,223 das zunächst Folgen (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 32). Göttingen 2008, S. 281–296, hier 285. 217  Rede Erich Honeckers in Auswertung der 33. Tagung des ZK der SED im Bereich des Ministeriums des Innern vom 1.11.1957; BArch DY 30/2512, Bl. 2–36. 218  Protokoll der Tagung der Polit-Stellvertreter der BVSV vom 10.5.1957; BArch DO1 11/1484, Bl. 328–341. 219  Aussage von Hans-Eberhard Zahn; abgedruckt in: Über Grenzen und Zeiten, S. 113. 220  Arbeitsberatung in der BVSV Erfurt vom 14.6.1957; ThHStAW, BDVP Erfurt 20, Nr. 191, Bl. 116–127; zit. nach: Sonntag: Arbeitslager in der DDR, S. 208. 221  Rede Erich Honeckers in Auswertung der 33. Tagung des ZK der SED im Bereich des Ministeriums des Innern vom 1.11.1957; BArch DY 30/2512, Bl. 2–36. 222  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 130. 223  Vgl. Engelmann, Roger: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau. Zur Entwicklung geheim­ polizeilicher und justitieller Strukturen im Bereich der politischen Strafverfolgung. In: ders.;

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besonders streng angewendet wurde.224 Da die Parteispitze offenkundig eine härtere Linie wünschte, schlug August Mayer im Januar 1958 dem Kollegium des Innenministeriums vor, dreifach vorbestrafte Häftlinge fortan in Steinbrüchen schwere körperliche Arbeit leisten zu lassen. Häftlinge, die vorzeitig freigelassen worden waren, dann jedoch rückfällig wurden, sollten ebenfalls in einem speziellen Haftarbeitslager konzentriert werden. Zudem sollten alle jugendlichen Ersttäter in einem gesonderten Gefängnis untergebracht werden, was mit pädagogischen Konzepten noch am ehesten in Einklang zu bringen war.225 Ausdruck der härteren Linie war auch, dass Mayer bei einer Dienstversammlung in Brandenburg-Görden die Aufseher zur Unversöhnlichkeit gegenüber den Insassen aufforderte.226 Der Chef der obersten Gefängnisverwaltung wies zudem an, hier die zwischenzeitlich geduldeten Blumenbeete in den Gefängnishöfen einzustampfen.227 Die zitierten Ausführungen Honeckers von November 1957 waren nur die Spitze der Kritik, der sich das Gefängniswesen am Ende der Fünfzigerjahre ausgesetzt sah. So kontrollierte die Adjutantur des Innenministeriums im Sommer 1959 mehrere Haftanstalten und bemängelte abermals, dass die Trennung der Häftlinge nach der Schwere ihrer Delikte nicht eingehalten werde. Auch seien die Vergünstigungen für die politischen Gefangenen in den anstaltseigenen Konstruktionsbüros zu groß. Insgesamt herrsche in den Haftanstalten ein strenges, aber uneinheitliches Regime. Das »untaktische Verhalten« der Aufseher löse Disziplinarvergehen mitunter erst aus, und die Praxis der Bestrafungen sei willkürlich.228 Im Ergebnis reflektierte die oberste Gefängnisverwaltung ihre bisherige Tätigkeit und konstatierte, dass bislang ökonomische Interessen eindeutig Vorrang gehabt hätten vor der »Erziehung«. Letztere müsse aber unbedingt verbessert werden, beispielsweise durch Trennung von Ersttätern, Mehrfachtätern sowie den gemeingefährlichen Kriminellen. »Es ist eine Tatsache, dass die Mehrzahl der bisher bestehenden Haftarbeitslager, Stand- und Außenkommandos nach rein ökonomischen Gesichtspunkten eröffnet wurde, ohne dass berücksichtigt blieb, ob unter diesen Voraussetzungen eine systematische Erziehungsarbeit möglich ist. Das geschah aber nur deswegen«, Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 16). Berlin 1999, S. 133–164, hier 157–160. 224  Vgl. Wolff, Friedrich: Verlorene Prozesse. Meine Verteidigungen in politischen Verfahren 1952–2003. Berlin 2009, S. 79 f. 225  Vgl. Auszug aus der Kollegiumsvorlage des Gen. Generalmajor Mayer vom 9.1.1958 über das Problem der Vorbestraften im Strafvollzug vom 21.2.1958; BArch DO1 11/1584, Bl. 222. 226  Vgl. Protokoll über die durchgeführte Dienstversammlung [in der StVA Brandenburg] am 21.10.1957 vom 23.10.1957; BArch DO1 11/1493, Bl. 99–114. 227  Bei diesem (oder einem anderen) Besuch wies Mayer auch an, alle Schwalbennester unter dem Dach zu entfernen, denen die Gefangenen gerne zugeschaut hatten. Vgl. Juretzko: Die Nacht begann am Morgen, S. 258. 228  Vgl. Bericht der Adjutantur des Ministeriums des Innern über eine Überprüfung im Strafvollzug vom 15.8.1959; BArch DO1 11/1489, Bl. 299–320.

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so rechtfertigte sich die oberste Gefängnisverwaltung, »weil wir glaubten, nicht verantworten zu können, dass Hunderte von Strafgefangenen beschäftigungslos in den Zellen herumsitzen«.229 Diese Einschätzung korrespondierte mit den von Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 erhobenen Forderungen nach verstärkter politischer Erziehung und einer weiteren Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins der Menschen.230 So musste die oberste Gefängnisverwaltung im Folgemonat erneut Selbstkritik üben und konstatieren, dass das Haftregime immer noch auf die (inzwischen überwiegend entlassenen) SMT-Verurteilten zugeschnitten sei. Wenn jetzt andere Regeln Einzug hielten, bedeute dies nicht, dass Sicherheit, Ordnung und Strenge keine Gültigkeit mehr haben. Die Isolierung oder der Rahmen, der einem Häftling vorschreibt, wie er sich zu bewegen hat, was er zu tun und zu unterlassen hat, soll und muss bestehen bleiben, jedoch in einer Form der Abstufung, die der Kategorie der einsitzenden Häftlinge entspricht, das heißt ein strenges Regime für die Feinde unserer Ordnung, für Unverbesserliche und für Gewaltverbrecher und ein davon abgestuftes Regime für solche Gefangene, die aus mangelnder gesellschaftlicher Disziplin, aus Rückständigkeit oder schlechten Gewohnheiten der kapitalistischen Vergangenheit straffällig wurden.231

Diese gewünschte Differenzierung in der Behandlung nahm also die politi­schen Häftlinge von einer Besserstellung ausdrücklich aus. Die oberste Gefängnis­ verwaltung sorgte sogar für deren andauernde Diskriminierung, indem sie die »Blindheit« einzelner Gefängnisleiter gegenüber den politischen Gefangenen thematisierte. Durch den nicht differenzierten Arbeitseinsatz der Strafgefangenen, der den ausgesprochenen Feind mit dem weniger gefährlichen Menschen am Arbeitsplatz zusammenführte, war es fast unmöglich, entsprechend der Kategorie der Strafgefangenen differenzierte Formen der Behandlung oder des Verhaltens desselben festzulegen. Das führte zwangsläufig dazu, dass als Maßstab für die Beurteilung eines Strafgefangenen vorwiegend die Arbeitsleistung herangezogen wurde und bei gleicher Arbeitsleistung z. B. der Agent den gleichen Bedingungen unterlag wie der Fahrlässigkeitstäter. Ja, man muss sogar feststellen, dass durch ein unklassenmäßiges Verhalten der Dienststellenleitungen die gefährlichsten Verbrecher es in einigen Haftanstalten verstanden haben, sich in zentrale Positionen, wie z. B. in Küchen, Büchereien, Bekleidungskammern oder als Brigadiere, die ihnen gegenüber der Masse der übrigen Strafgefangenen Vorteile bieten, festzusetzen. 229  Vgl. Bericht der Verwaltung Strafvollzug über die Lage im Strafvollzug, insbesondere über den Stand der Erziehungsarbeit vor dem Kollegium des Ministeriums für Staatssicherheit vom 17.8.1959; BArch DO1 11/1476, Bl. 91–120, hier 101. 230  Vgl. Hoffmann; Schmidt; Skyba (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau, S. 277. 231  Vgl. Bericht der Verwaltung Strafvollzug über die Lage im Strafvollzug, insbesondere über den Stand der Erziehungsarbeit vor dem Kollegium des Ministeriums für Staatssicherheit vom 17.8.1959; BArch DO1 11/1476, Bl. 91–120, hier 101.

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Die strikte Trennung der oberste Ge­fäng­nis­lei­tung weiter, dürfe sich nicht auf die Unterbringung in den Zellen be­schrän­ken, sondern müsse auch während des täglichen Arbeitseinsatzes gelten.232 Eine dif­ferenziertere Behandlung und eine stärkere Trennung der Insassen wies dann die Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei ausdrücklich an.233 Und auch im Jugendstrafvollzug wurde bei der Einweisung ab März 1960 offenbar stär­ker auf die Schwere der Delikte und die Rückfallneigung geachtet.234 Die Kritik der Parteispitze führte ferner zu personellen Konsequenzen: Damit der »Klassenstandpunkt« stärkere Beachtung fand, wurde nun mit Alfred Schönherr ein Angehöriger der Staatssicherheit Chef der obersten Gefängnisverwaltung (siehe Kap. 2.1.1).235 Zu einer liberaleren Linie in der Strafvollzugspolitik trug dies nicht bei; bei der Unterbringung der Häftlinge hatten Sicherheitsaspekte von nun an wieder den Vorrang vor der Planerfüllung beim Arbeitseinsatz.236 Veränderungen gab es insbesondere bei der Benachteiligung der politischen Gefangenen. So behauptete die oberste Gefängnisverwaltung im September 1960, einen »gewissen Durchbruch« bei der Besetzung der Hausarbeiterstellen erzielt zu haben, was jetzt »grundsätzlich vom Klassenstandpunkt« her entschieden werde. »So darf z. B. kein Strafgefangener, der wegen staatsfeindlicher Handlungen einsitzt, in eine verantwortliche Position gelangen.« Dadurch würden die Haftanstalten sicherer und die Erziehungsbemühungen erleichtert.237 Die politischen Gefangenen von bestimmten Funktionen auszuschließen, war eine der Hauptforderungen der Parteispitze gewesen, vermutlich vor dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrungen einiger ihrer Repräsentanten, die selbst Funktionshäftlinge in nationalsozialistischen Lagern waren und als solche einen beträchtlichen Einfluss ausgeübt hatten.238 Von nun an war es ein ungeschriebenes Gesetz, politische Gefangene in Haftanstalten nicht mehr als Kalfaktoren einzusetzen oder sie in den Betrieben zu konzentrieren.239 Nachteilig für die Insassen Brandenburg-Gördens wirkte sich insbesondere der Amtsantritt von Fritz Ackermann im Oktober 1958 aus. Unter dem »streng­ 232  Vgl. ebenda, Bl. 91–120, hier 99. 233  Vgl. Befehl 11/60 des Leiters der HVDVP betr. Einweisung, Aufnahme und Differenzierung Strafgefangener vom 21.9.1960; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15515. 234  Vgl. Wunschik: Hinter doppelten Mauern, S. 557–574. 235  Vgl. Grundsätze zur Herbeiführung einer einheitlichen Struktur im Dienstzweig Strafvollzug vom 24.6.1960; BArch DO1 11/1454, Bl. 323–328. 236  Vgl. Aktenvermerk über die am 9.2.1960 durchgeführte Besprechung beim Stellv. des Ministers, Gen. Generalmajor der VP Wenzel vom 15.2.1960; BArch DO1 11/1584, Bl. 232. 237  Vgl. Schreiben des Referates I der Abteilung II [der Verwaltung Strafvollzug] vom 30.9.1960; BArch DO1 11/1476, Bl. 122–125. 238  Vgl. Niethammer: Der »gesäuberte Antifaschismus«. 239  In Brandenburg-Görden etwa galt seinerzeit die Regel, dass in keiner Schicht mehr als etwa fünf politische Häftlinge zusammenkommen sollten. Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen Häftling politischen Walter Müller am 8.4.2001 in Chemnitz, 4 S.

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sten Anstaltsleiter in der DDR«, wie er sich selbst gerne rühmte,240 wur­den »sämtliche Erleichterungen für die Gefangenen abgeschafft«, die Ar­beits­ normen »rigoros erhöht«,241 Arbeitsverweigerungen fortan auch mit Nah­rungs­ entzug bestraft, was allgemein »Verbitterung« auslöste, wie ein Be­trof­fener re­ sü­mierte.242 Neuangekommene Häftlinge pflegte Ackermann zu be­schimpfen und laut anzuschreien – die einzige Gelegenheit, bei der mancher In­sasse ihn über­haupt zu Gesicht bekam.243 Unklar ist, ob Ackermann auch die leib­liche Versorgung der Insassen einschränken ließ; während die westdeutsche Pres­se seinerzeit berichtete, die Essensrationen seien in zwei Schritten reduziert wor­ den,244 bestreiten dies ehemalige Insassen heute ausdrücklich.245 Um den Ver­ fas­ser einer Hetzlosung zu ermitteln, ließ Ackermann jedenfalls sämtliche In­ sas­sen kollektiv bestrafen, indem er ihnen alle Brettspiele entzog. Ebenso ließ er als Disziplinarstrafe, kurz nach seinem Amtsantritt, etwa 20 Häftlingen das Kopf­haar kahl scheren. Zellenkontrollen ordnete er ausgerechnet für Hei­lig­ abend 1958 an,246 ließ sich dabei sogar Kämme, Bürsten und Schuhe der Ge­fan­ genen vorzeigen, beschlagnahmte schwer erhältliche Nahrungsmittel247 und ließ dann 140 Inhaftierte wegen geringfügiger Verfehlungen von der Weih­nachts­feier ausschließen. Einen Insassen ließ Ackermann sogar mit vier Wo­chen schwe­rer Arbeit unter freiem Himmel bestrafen.248 Nicht die prinzipiell stren­ge Dis­zi­pli­

240  Stimmungsbericht des GI »Ilse Wenzel« [aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom 1.8.1953; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 118. 241  Telegraf vom 14.12.1958; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 488/62, Bd. 1, Bl. 144. 242  Stellungnahme zu meiner Tat und deren Motive vom 31.7.1963; BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 2056/63, Bl. 43–71. 243  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Heinz Kühn am 6.6.2001 in Berlin, 7 S. 244  Da sich angeblich auch die medizinische Versorgung verschlechterte, weil weniger Häftlinge als Ärzte eingesetzt wurden, fand Ackermanns Drohung: »Wegen mir können alle verrecken!« bei den Insassen Glauben. Und gegenüber vier politischen Gefangenen auf der Krankenstation soll er seinerzeit geäußert haben: »Ausfälle haben wir eingeplant. Bis jetzt waren wir noch human, aber die Zeit ist da, dass wir euch ein anderes Gesicht zeigen.« Außerdem ließ der neue Anstaltsleiter offenbar Geldstrafen als Disziplinarstrafe einführen, wobei maximal fünf Mark für eine schlecht erstatte Meldung angesichts der geringen Löhne einen sehr schmerzhaften Aderlass darstellten. Vgl. Welt der Arbeit Nr. 22 vom 27. Mai 1960, S. 1. 245  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. 246  Protokoll der BDVP Potsdam über die Besprechung in der BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 178–187. Zehn Jahre später fand erneut eine Großfilzung genau an Heiligabend statt. 247  Vgl. Gartenschläger, Michael: »Ich höre die Sirene und denke, na ja«. In: Der Spiegel Nr. 16/1976 vom 12.4.1976, S. 122. 248  Protokoll der BDVP Potsdam über die Besprechung in der BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7.1.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 178–187.

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narpraxis Ackermanns, wohl aber die letztgenannten Über­trei­bun­gen rügte so­ gar die oberste Strafvollzugsleitung (siehe Kap. 2.1.6). Der »Beschluss des Staatsrates über die weitere Entwicklung der sozialistischen Rechtspflege« von Januar 1961 bedeutete eine vorsichtige Milderung der Strafjustiz.249 So sprachen untere Gerichtsinstanzen in der ersten Jahreshälfte 1961 relativ milde Urteile aus, eine Tendenz, die sich nach dem Mauerbau wieder umkehrte und auch auf den Strafvollzug auswirkte.250 Informationen über die Abriegelung der Sektorengrenze sickerten bis in die Haftanstalt an der Havel durch – und die Gefangenen sehnten eine militärische Konfrontation zwischen den Blöcken geradezu herbei, hofften sie doch auf diese Weise befreit zu werden (siehe Kap. 3.1.4). Gegen Disziplinverstöße griff die Gefängnisleitung in dieser Phase hart durch und setzte auf Abschreckung. Mit aufsässigen Gefangenen werde »ohne viel Federlesen […] verfahren, und sie erhielten ihre Bestrafung, wie es Provokateuren zukommt«. Das »energische Auftreten« von Kriminalpolizei, Staatssicherheit und Gefängnisverwaltung »machte den Strafgefangenen sehr schnell klar, mit welchem Maß auch ihnen gegenüber gemessen wird«.251 So erhielt ein wegen Spionage zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilter Häftling ein Jahr »Nachschlag«, weil er angeblich am 17. August 1961 eine »Hetzlosung« an einer Wand angebracht hatte. Er selbst bezichtigte aber die Gefängnisleitung der Urheberschaft, die härtere Maßnahmen gegen die Insassen rechtfertigen wolle.252 Ein anderer Insasse wurde am 21. August 1961 wegen Staatsverleumdung sogar zu eineinhalb Jahren zusätzlichem Freiheitsentzug verurteilt.253 Insgesamt wurden binnen einer Woche, etwa wegen dem Verbreiten von Gerüchten, neun Gefangene disziplinarisch bestraft.254 Einer anderen Statistik zufolge wurden bis Ende August 1961 allein vier Häftlinge wegen Verleumdung, zwei wegen Sabotage und zwei wegen renitentem Auftreten bestraft sowie neun weitere Insassen wegen »Sabotagehandlungen« isoliert, womit sich die Gesamtzahl aller

249  Vgl. Entwurf eines Berichtes von Streit zur Durchsetzung des Beschlusses des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die weitere Entwicklung der sozialistischen Rechtspflege in der DDR vom 30.1.1961 o. D.; BArch DC 20/I/4 170 (Film 75693), Bl. 40–57. 250  Vgl. Wunschik: Hinter doppelten Mauern, S. 557–574. 251  Vgl. Einschätzung der bewaffneten Kräfte der StVA Brandenburg in der Zeit vom 13.8. bis 31.8.1961 vom 5.9.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 16–22. 252  Vgl. Schreiben der StVA Brandenburg an den Kommandeur der bewaffneten Kräfte des Kreises Brandenburg vom 22.8.1961; ebenda, Bl. 13–15. 253  Zusammen mit einer Teilstrafe von acht Monaten wegen des Delikts der widernatürlichen Unzucht (§ 175 StGB) ergab sich daraus sogar eine Gesamtstrafe von zwei Jahren. Vgl. Urteil des Kreisgerichts Brandenburg-Stadt gegen den Strafgefangenen vom 19.8.1961; BStU, MfS, BV Suhl, AU, Nr. 46/53, Bd. Gefangenenakte, Bl. 210–214. 254  Vgl. Schreiben der StVA Brandenburg an den Kommandeur der bewaffneten Kräfte des Kreises Brandenburg vom 22.8.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 13–15.

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Disziplinarvergehen gegenüber dem Monat des Vorjahres verdoppelte.255 Eine weitere Statistik sagt aus, dass die Zahl der besonderen Vorfälle von zwei im ersten Halbjahr auf 17 im zweiten Halbjahr 1961 stieg.256 Im Sommer 1961 vollzog das SED-Regime somit einen »abrupten Kurs­ wech­sel« in der Justiz- und Strafvollzugspolitik und führte unter anderem für sogenannte Bummelanten eine unbefristete Arbeitserziehung in Lagern ein.257 Auch die Staatssicherheit konnte diese Form der Inhaftierung aus­lö­ sen, wenn ihre Untersuchungstätigkeit keine ausreichenden Beweise für eine Ver­urteilung erbrachte,258 und schon revanchistische Sprüche wollte Ulbricht jetzt mit Arbeitslager bestraft wissen.259 Hintergrund war, dass die Ar­beits­ pro­duktivität in der DDR in dieser Phase enorm gesunken war, in der in­ner­ deutschen Systemkonkurrenz Ostberlin immer mehr ins Hintertreffen zu ge­ raten drohte und gegen das zunehmende Aufbegehren der Bürger ein zu­sätz­lich­es Instrument zur Disziplinierung gerade recht kam.260 Eigentlich soll­ten in den Arbeitserziehungslagern bessere Bedingungen als im Strafvollzug herr­schen, doch in der Praxis waren die Lebensumstände ebenfalls hart und die Ent­loh­ nung sogar schlechter.261 Auch im politischen Strafvollzug verschärften sich sei­nerzeit die Bedingungen;262 in der Haftanstalt an der Havel wurden jetzt bei­ 255  So gab es jetzt 64 statt 33 Hausstrafen. Vgl. Einschätzung der bewaffneten Kräfte der StVA Brandenburg in der Zeit vom 13.8. bis 31.8.1961 vom 5.9.1961; ebenda, Bl. 16–22. Insgesamt sollen im Jahr des Mauerbaus 132 Gefangene bestraft worden sein – im Vergleich zu nur 79 im Folgejahr. Vgl. Analyse des Leiters der StVA Brandenburg über die allgemeine Situation in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg nach Einführung neuer Arbeitsmethoden vom 15.12.1962; ebenda, Bl. 23–41. 256  Teilbericht der Abteilung Strafvollzug der BDVP Potsdam für das 2. Halbjahr 1961 [von 1962]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/12, Bl. 60–69. 257  Vgl. Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung vom 24.8.1961; GBl. der DDR Nr. 55 vom 25.8.1961, S. 343; Erste Durchführungsbestimmung zur Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung vom 24.8.1961; ebenda, S. 344. Siehe auch Eberle: Ökonomische Aspekte des Strafvollzuges, S. 111–140, hier 133–136; Raschka, Johannes: Soziale Einordnung durch Rechtsetzung? Die Verfolgung von »Arbeitsscheuen« in der Sowjetunion und der DDR. In: Eimermacher, Karl; Volpert, Astrid (Hg.): Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche nach 1945. München 2006, S. 747–777, hier 762 f. 258  Arbeitshinweise der Hauptabteilung VII des Ministeriums für Staatssicherheit zur Anwen­ dung der Aufenthaltsbeschränkung und Arbeitserziehung gemäß Verordnung des Ministerrats vom 24.8.1961; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 7760, Bl. 3–26. 259  Gespräch Chruschtschows mit Ulbricht am 1.8.1961; RGANI [Russisches Staatsarchiv für zeitgenössische Geschichte], fond 52, opis‘ 1, delo 557, Bl. 129–147; abgedruckt bei: Wettig: Chruschtschows Westpolitik 1955–1964, S. 295–313. 260  Vgl. Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten«, S. 260 f. u. 265; Windmüller: »Asoziale« in der DDR, S. 67 u. 71. 261  Vgl. Wunschik: Hinter doppelten Mauern, S. 557–574, hier 566–568. 262  Vgl. Brey: Menschenrechtsverletzungen der Deutschen Volkspolizei, S. 164–167. Die These Breys, dass 1961 ein Befehl zur Unterbindung der Gefangenenmisshandlungen ausdrücklich aufgehoben worden sei, ist bislang allerdings ohne Beleg.

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spiels­weise als zusätzliche Disziplinarmaßnahmen sogenannte freiwillige Nor­men­ erhöhungen sowie das Tragen von Holzschuhen eingeführt.263 Die fort­schrei­tende Entstalinisierung in der Sowjetunion auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 begrüßte die SED-Führung zwar förmlich, blieb selbst zunächst »aber real auf stalinistischen Positionen«.264 Zum Vorteil der Ge­fan­genen folgte auf diese strengere Linie jedoch erneut eine Milderung der Haft­bedingungen. 3.2.5 Liberalisierung und Modernisierung (1962–1964) Gerade weil der Mauerbau die SED-Herrschaft festigte, konnte auf die Verschär­ fung der Repression eine Phase deutlicher Entspannung folgen. In einer allge­ meinen Tauwetterphase nach dem XXII. Parteitag der KPdSU gelangte auch das Politbüro der SED zu der Einsicht, »dass der große Repressionsakt, die mit dem Mauerbau ausgesprochene kollektive Haftstrafe, es nun wieder zuließ, die politi­ sche Repression im Einzelfall zurückzuschrauben.«265 So konnte die Parteiführung im April 1962 Haftentlassungen zustimmen (siehe Kap. 4.1.11)266 und im Winter 1962 signalisieren, dass die Festigung des Sozialismus es erlaube, unter bestimmten Bedingungen systemkritische Äußerungen nicht länger als Straftat zu verfolgen.267 Die Staatssicherheit beabsichtigte fortan nicht mehr vorschnell zu verhaften und mehr Ermittlungsverfahren ohne Inhaftierung durchzuführen.268 Weihnachtspakete sollten in den Strafvollzugsanstalten 1962 wieder gestattet werden, lediglich Brandenburg-Görden machte dabei eine Ausnahme.269 Doch auch hier empfanden die politischen Häftlinge die Haftbedingungen seit Frühjahr 1962 als nicht mehr so »streng und stur«.270 Hierbei handelte sich wohl um eine atmosphärische Veränderung, zurückzuführen auf die allmähliche Beruhigung der politischen Lage. 263  Vgl. Schreiben von Dietrich Hübner an den Autor vom 5.10.2003. 264  Weber: Geschichte der DDR, S. 228. 265  Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 385. 266  Vgl. Verwaltung Strafvollzug: Die Entwicklung der Arbeit im Strafvollzug in der Anwendung des § 346 StPO vom 15.5.1962; BArch DO1 11/1477, Bl. 166–171. 267  Vgl. Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz nach dem 13. August 1961. »Jedes Urteil ist eine politische Tat«. In: Buschfort, Wolfgang; Wachs, Philipp-Christian; Werkentin, Falco: Vorträge zur deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte (Schriftenreihe des Berliner LStU, Bd. 14). Berlin 2001, S. 56–82, hier 81. 268  Vgl. Befehl 264/62 des Ministers für Staatssicherheit vom 18.5.1962; BStU, MfS, BdL/ Dok., Nr. 740. 269  [Bericht des] GI »G[ünter] Rabe« vom 19.12.1962; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 1, Bl. 16; Treffauswertung der Hauptabteilung VII mit dem GI »Günter Rabe« vom 27.12.1962; ebenda, Bl. 18 f. 270  Bericht des IM »Rainer Borgmann« vom 11.10.1962; BStU, MfS, AOP, Nr. 10402/66, Bd. 1, Bl. 53–56.

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Das justizpolitische Tauwetter dieser Jahre war noch etwas weitreichender als das von 1956.271 In vielen Politikbereichen kam es nun zu Veränderungen, so etwa zu begrenzten wirtschaftlichen Reformen und zu einer etwas liberaleren Jugend- und Kulturpolitik.272 Der VI. Parteitag der SED im Januar 1963 erklärte dementsprechend die »Erziehung der Menschen der sozialistischen Epoche« zur zweiten Hauptfrage neben materiell-technischen bzw. ökonomischen Fragen.273 Auf älteren Erziehungskonzeptionen beruhend, wurde jetzt der Bildungsgrad der Menschen betont und ihnen tendenziell eine höhere Eigenverantwortlichkeit zugesprochen.274 Dies brachte auch Lockerungen im Haftregime mit sich; so betonte der Staatsratserlass über die Rechtspflege vom 4. April 1963275 die differenzierte Erziehung im Strafvollzug.276 Der Grundsatz des Rechtspflegeerlasses, »dass Überzeugung und Erziehung immer mehr zur Hauptmethode der gesamten staatlichen Tätigkeit« würden, gelte »in vollem Umfang« für das Gefängniswesen, wie einer der Verantwortlichen seinerzeit ausführte.277 Dies sollte insbesondere durch »eine vom Strafzweck bestimmte Differenzierung der Ordnung und Verhaltensregeln« und eine striktere Trennung der verschiedenen Gruppen von Häftlingen in unterschiedlichen Haftanstalten erreicht werden.278 Tatsächlich waren die Häftlinge bereits seit dem Beschluss des Staatsrates von Januar 1961 immer stärker »in Staatsfeinde und andere besonders schwere Verbrecher« sowie in Wiederholungstäter und Ersttäter sowie Personen mit kurzen Freiheitsstrafen getrennt worden.279 Innenminister Friedrich Dickel beabsichtigte ebenfalls »die Fahrlässigkeitstäter zu isolieren, um die Beeinflussung durch ausgesprochen kriminelle Elemente zu verhindern«. Dass 271  Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau. In: ders.; Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 133–164, S. 161. 272  Vgl. u. a. Kaiser: Machtwechsel, S. 38 f.; Hoffmann, Dierk: Die DDR unter Ulbricht. Gewaltsame Neuordnung und gescheiterte Modernisierung. Zürich 2003, S. 98–111. 273  Ulbricht, Walter: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: Protokoll des VI. Parteitages der SED, Bd. I. Ostberlin 1963, S. 28–250, hier 29. 274  Vgl. Kaiser: Machtwechsel, S. 133 f. 275  Vgl. Erlass des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege vom 4. April 1963 (Drucksache der Volkskammer Nr. 189); BArch DA 5/2236, Bl. 23–56. 276  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 22. Zum Rechtspflegeerlass siehe auch Howe: Karl Polak, S. 254–263. 277  Mehner, Heinrich: Die Aufgaben des sozialistischen Strafvollzugs bei der Umerziehung von Rechtsbrechern. In: Neue Justiz (1963) 17, S. 545–548. 278  Vgl. Mehner, Heinrich: Der Vollzug der Freiheitsstrafe und die Wiedereingliederung aus der Strafhaft entlassener Personen in das gesellschaftliche Leben (Grundwissen des Volkspolizisten, 3). Ostberlin 1966, S. 5. 279  Entwurf eines Berichtes von Streit zur Durchsetzung des Beschlusses des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die weitere Entwicklung der sozialistischen Rechtspflege in der DDR vom 30.1.1961; BArch DC 20/I/4 170 (Film 75693), Bl. 40–57.

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der Strafvollzug um effizienten Arbeitseinsatz bemüht sei, »ist selbstverständlich. Garantieren wir aber außerdem die Frage der Umerziehung und Erziehung der Gefangenen?«280 Deswegen sollten jetzt auch Haftentlassene strenger überwacht werden.281 Die Erziehung der Häftlinge in den Haftanstalten, so kritisierte auch die Justiz, sei noch »nicht zielstrebig« genug und lasse den Betroffenen keine Möglichkeit der Mitgestaltung. Dass die »individuelle Erziehungsarbeit« vernachlässigt und »ungeeignete Erziehungsmethoden« angewendet würden, wirke sich »in einigen Fällen hemmend auf den Umerziehungsprozess aus«, wie im typischen Sprachduktus festgestellt wurde.282 In die gleiche Kerbe schlug der Staatssicherheitsdienst, der die »notwendige politische und pädagogische Qualifikation« der Strafvollzugsbediensteten bezweifelte. »Schikanöse Maßnahmen und unqualifizierte Äußerungen« einzelner Aufseher würden pädagogische Erfolge mancher Kollegen zunichtemachen. Politische Häftlinge (wie beispielsweise jugendliche Grenzverletzer) könnten vielfach ihre Mitinsassen negativ beeinflussen. Deswegen seien die politischen Gefangenen konzentriert unterzubringen oder mit Bedacht so auf die Zellen zu verteilen, dass sie keinen Anklang unter den Mitinsassen finden würden. Auch inhaftierte Bundesbürger wollte die Geheimpolizei nun, aus Gründen des Geheimnisschutzes, nur in ausgewählte Haftanstalten sperren. Differenzierte Behandlung, geschickte politische Beeinflussung und eine vorausschauende Wiedereingliederung seien Voraussetzungen für eine Bekämpfung politischer Delikte.283 Ergebnis der verschobenen Prioritäten war vor allem eine neue vorläufige Strafvollzugsordnung, die im März 1965 in Kraft trat.284 Sie ersetzte eine Reihe interner Dienstvorschriften und -anweisungen, die bis dahin den Strafvollzug geregelt hatten.285 Mit der neuen Bestimmung wurden »erstmalig [...] die Pflichten und Rechte der Strafgefangenen umfassend und konkret formuliert«. In Brandenburg-Görden wurde jetzt die Parole ausgegeben, »ein sehr bedeutender Grundsatz« des Rechtspflegeerlasses sei es, »die Persönlichkeit der Strafgefangenen

280  Protokoll der Arbeitstagung der Verwaltung Strafvollzug vom 1.11.1965; BArch DO1 32/36357. 281  Verordnung über die Wiedereingliederung aus der Strafhaft entlassener Personen in das gesellschaftliche Leben vom 11.7.1963; GBl. der DDR Nr. 71 vom 8.8.1963, S. 561–563. Siehe auch Meyer; Mehner: Wiedereingliederung. 282  Vgl. Bericht von Streit und Toeplitz über die hauptsächlichen Erfahrungen bei der Durchführung des Rechtspflegeerlasses vom 31.1.1964; BArch DA 5/329, Bl. 1–46. 283  Bericht der Hauptabteilung IX über festgestellte Mängel in der Organisation und Wirksamkeit des Strafvollzugs vom 19.10.1965; BStU, MfS, HA IX, MF, Nr. 11957, o. Pag. Siehe auch Auswertungsbericht über die Mängel in der Erziehungsarbeit von Strafgefangenen in der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 30.6.1965; BStU, MfS, AS, Nr. 138/69, S. 395–402. 284  Vgl. Strafvollzugsordnung des Ministers des Innern vom 25.1.1965; BStU, MfS, BdL/ Dok., Nr. 10065. 285  Vgl. Fricke: Strafvollzug in Bautzen, S. 118–186, S. 125.

280

Die Gefangenschaft

zu achten und die Menschenwürde zu wahren«.286 Aus seiner Warte fügte Ackermann indes hinzu: »Jawohl, wir haben eine neue Strafvollzugsordnung. Aber es gibt nicht wenige Genossen [Aufseher], die nicht einmal die alte Strafvollzugsordnung richtig kennen.«287 Im Sinne der etwas großzügigeren Bestimmungen wurde jetzt in der Haftanstalt an der Havel beispielsweise die Bettruhe um eine Stunde verlängert und die Sondergenehmigung, derer es bedurfte, um sich auch tagsüber auf die Betten zu legen, etwas großzügiger erteilt. Die tägliche »Freistunde« wurde auf eine Stunde verlängert,288 gleichwohl immer ein Vorwand zu finden war, um diese willkürlich zu kürzen. Auch die sportlichen Interessen der Häftlinge sollten jetzt »als Hebel zur allseitigen Erziehung« dienen und Volleyballfelder angelegt werden; Häftlinge der strengen Vollzugsart blieben hiervon jedoch ausgeschlossen.289 Die räumliche Enge ließ in der Praxis sportliche Aktivitäten aber kaum zu.290 Ferner wurden kulturelle Aktivitäten jetzt eher geduldet und beispielsweise vermehrt Schallplatten vorgespielt und Rundfunksendungen übertragen. Jede Station erhielt jetzt einen eigenen Diaprojektor, und es wurden sogar Arbeitsruheräume mit Aquarien ausgestattet.291 Erstmals war es bestimmten Gefangenen gestattet, unter Aufsicht zu malen, zu modellieren oder zu basteln. Der Bezug von Fachzeitschriften, bisher nur in Ausnahmefällen gestattet, wurde erleichtert. Auch das gemeinschaftliche Musizieren wurde ermöglicht, doch mussten die Programme der Instrumental- und Gesangsgruppen »die Erziehungsarbeit des Strafvollzuges wirkungsvoll unterstützen«. Der Anteil von Tanzmusik darf bei gemischten Programmen 40 Prozent nicht übersteigen«, und vor allem die Volksmusik wurde hochgehalten. Individuelles Musizieren 286  Disposition des 1. Stellvertreters der StVA Brandenburg zur Durchsetzung der neuen vorläufigen SVO vom 6.12.1965; BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 5–27. 287  Bericht der SED-Grundorganisation der StVA Brandenburg über die Wahlberichts­ versammlung der Leitung der Grundorganisation der StVA Brandenburg vom 25.3.1965; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/699, Bl. 168–189. 288  Vgl. Vollzugsabteilung der StVA Brandenburg: Organisation und Gestaltung der Arbeitsruhe für Strafgefangene vom 27.12.1965; BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 34–37. 289  Vgl. Erziehungsprogramm 1966 des Vollzugsdienstes der StVA Brandenburg vom 14.4.1966; ebenda, Bl. 91–98; Erziehungsprogramm 1967 des Leiters der StVA Brandenburg vom 28.4.1967; ebenda, Bl. 99–108. 290  »Die körperliche Ertüchtigung der Strafgefangenen ist stark eingeengt. Sie besteht hauptsächlich in der Teilnahme an gymnastischen Übungen während der Freistunde. Auch diese werden nicht immer konsequent durchgeführt. In das Volleyballspiel können nur relativ wenige Strafgefangene einbezogen werden, da die Höfe vorwiegend zur Durchführung der Freistunde benutzt werden und die vorhandenen Platzkapazitäten in einem sehr ungünstigen Verhältnis zu den Belegungsstärken der Vollzugsabteilungen stehen. Letzteres trifft auch auf die Sportart Tischtennis zu.« Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-Anweisung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33. 291  Vgl. Vollzugsabteilung der StVA Brandenburg: Organisation und Gestaltung der Arbeitsruhe für Strafgefangene vom 27.12.1965; BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 34–37.

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in den Zellen war hingegen prinzipiell verboten.292 Immerhin ließ Ackermann Musikinstrumente für eine Kapelle anschaffen, die – unter der Leitung eines Mörders – beispielsweise dann auf aufspielen durfte, wenn die Offiziere der in der Nähe stationierten Einheiten der Sowjetarmee zusammen mit ihren Frauen zum Kulturabend in der Haftanstalt erschienen.293 Eine zusätzliche Hafterleichterung, die seitens des SED-Regime freilich nicht als solche konzipiert war, bedeutete der Häftlingsfreikauf ab 1963 (siehe Kap. 5.6.5). Politische Gefangene vorzeitig und gegebenenfalls auch ohne Reuebekenntnis in den Westen zu entlassen, bedeutete eine partielle »Aufgabe des Anspruchs, den Häftling zum ›sozialistischen Staatsbürger‹ zu erziehen«.294 In der Praxis mussten die Aufseher nun wieder eher damit rechnen, dass ihre Missetaten im Westen bekannt würden, so wie es schon vor dem Mauerbau möglich gewesen war. Dies bot in der Folgezeit einen gewissen Schutz gegen Übergriffe, zumal die Aufseher nun den »Wert« der politischen Gefangenen für die DDR-Regierung erkannten und daher ihren Umgangston etwas mäßigten, wie die Betroffenen teilweise glaubten.295 Vermutlich stärkte die Perspektive, dem verhassten SED-Regime endgültig und womöglich sogar frühzeitig zu entkommen, manchem politischen Häftling den Rücken. Dem Differenzierungsprinzip des Staatsratsbeschlusses von 1961 und dem Rechtspflegeerlass von 1963 folgend, wurden ab Januar 1964 die Häftlinge durch die Gerichte in drei verschiedene Vollzugskategorien eingestuft. Die sogenannte Kategorie I mit den härtesten Haftbedingungen war jenen zugedacht, »die wegen der Schwere ihrer friedens- und staatsfeindlichen Handlung« zu Haftstrafen von drei Jahren und mehr verurteilt worden waren, was auf die Mehrzahl der politischen Gefangenen zutraf. Teilweise zählten diese aber auch zur Kategorie II, die außer für Kriminelle mit zwei- bis fünfjährigen Freiheitsstrafen auch für solche Insassen galt, »die aus einer feindlichen Einstellung Straftaten gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht, ihre Organe und Funktionäre begangen haben« und maximal drei Jahre hinter Gittern verbringen sollten. Die Kategorie III war allen übrigen Verurteilten mit einem geringeren Strafmaß zugedacht.296 Seinerzeit war im Durchschnitt aller Strafvollzugsanstalten etwa jeder vierte Insasse den Kategorien I und II zugeordnet, jeder zweite war in die Kategorie III eingestuft; die Justiz ordnete also nicht automatisch die strengste Form der Haft 292  Vgl. Erziehungsprogramm 1966 des Vollzugsdienstes der StVA Brandenburg vom 14.4.1966; ebenda, Bl. 91–98. 293  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S. Im Häftlingsjargon hieß sie »Killerband«. Schmidt; Weischer: Zorn und Trauer, S. 193. 294  Vgl. Wölbern: Häftlingsfreikauf 1962/63–1989, S. 15. 295  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 296  Zit. nach: Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 23.

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an. Entsprechend seinem Einweisungsprofil kamen in Brandenburg-Görden hingegen im Jahre 1969 fast ausschließlich Gefangene der strengen Vollzugsart zusammen (siehe Tabelle 1 und Kap. 4.1.13). Jahr

1964

1969

1974

Raum

DDR

DDR

Vollzugsart

absolut in %

absolut in %

BrandenburgGörden absolut in %

DDR absolut in %

erleichtert/III

k. A.

22,3

1 375

8,4

21

0,9

605

2,9

allgemein/II

k. A.

29,7

8 038

49,5

60

2,7

5 470

27,0

streng/I

k. A.

48,0

6 816

42,0

2 129

96,6

14 175

70,0

gesamt

k. A.

100,0

16 229 ~100,0

2 210 ~100,0

20 250 ~100,0

Tab. 1: Zahl und Anteil der Häftlinge in Abhängigkeit der Haftbedingungen in der gesamten DDR (1964/1969/1974)297

3.2.6 Differenzierung und Verschärfung (1965–1967) Durch die differenziertere Unterbringung, so erklärte im November 1965 der Stellvertreter des Innenministers, Herbert Grünstein, sollten die unterschiedlich »anfälligen« Häftlinge voneinander getrennt werden. Die Gefängnisse müssten sich in ihrem inneren Regime deutlich unterscheiden, sodass eine Verlegung eine deutliche Erleichterung oder aber Verschärfung der Haftbedingungen mit sich bringe. Bei bestimmten Arbeitseinsätzen sei es denkbar, die Bewachung zu reduzieren. Grünstein schlug sogar vor, den Strafvollzug der westlichen Staaten als Anregung für das eigene Gefängniswesen zu verstehen. Dies bedeute aber nicht, gegenüber den Häftlingen »weicher zu werden, nachzugeben, die Ordnung und Sicherheit zu lockern [...]. Ich bin gegen die Formulierung, die erste Aufgabe im Strafvollzug ist die Überzeugung. Nein, die erste Aufgabe ist der Zwang. Der ganze Strafvollzug ist der Beweis, dass heute noch der Zwang notwendig ist. In erster Linie muss der Gefangene merken, er hat ein Verbrechen begangen gegen 297  Vgl. Bericht von Streit und Toeplitz über die hauptsächlichen Erfahrungen bei der Durchführung des Rechtspflegeerlasses vom 31.1.1964; BArch DA 5/329, Bl. 1–46; Entwicklung des Inhaftiertenbestandes von 1969 bis 1975 o. D.; BArch DO1 32/54128. Die hier genannte Gesamtzahl der Häftlinge liegt unter der tatsächlichen Gesamtzahl der Insassen des DDR-Strafvollzugs, weil offenbar nicht in allen Fällen die Vollzugsart erhoben worden war und vor 1964 verurteilte Häftlinge noch nicht einer Kategorie zugeordnet werden konnten. Für Brandenburg-Görden vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-Anweisung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33.

Die Strafvollzugspolitik

283

unseren Staat.« In wenig verklausulierten Worten redete die Führungsebene des Innenministeriums somit im November 1965 einem autoritären Erziehungskonzept das Wort, das auf der vulgär-pädagogischen Maxime »wer nicht hören will, muss fühlen« basierte. Grünstein machte sich sehr genaue Gedanken darüber, wie »aufsässige Gefangene« zu disziplinieren seien – durch zweimonatigen Entzug der Einkaufsberechtigung, die Verweigerung des Paketempfanges, erschwerten Arbeitseinsatz und Wiedereinführung des strengen Arrests. Dies sollte speziell die renitenten und wahrscheinlich auch die politischen Gefangenen betreffen.298 Tatsächlich hatte die Liberalisierung des Haftregimes nach dem Mauerbau nicht lange Bestand, wie sich auch das politische Klima in der gesamten DDR wieder wandelte. Schon seit März 1964 zielte das von Erich Honecker geleitete Sekretariat auf Rücknahme einiger Reformen:299 Neben der zwischenzeitlich liberaleren Jugendpolitik war vor allem die Kulturpolitik Stein des Anstoßes. Zum Schrittmacher dieser Entwicklung wurde das 11. Plenum der SED, das im Dezember 1965 insbesondere für einen kulturpolitischen »Kahlschlag« sorgte und die »Kulturschaffenden« in ihre Schranken wies.300 Auch die Freiräume, die das Organ Strafvollzug zuletzt den Gefangenen gewährt hatte, sollten auf Wunsch der Parteiführung wieder eingeengt werden. Insbesondere drängte die Abteilung Sicherheitsfragen auf eine Änderung der erst im Januar 1965 erlassenen Strafvollzugsordnung, »um Erscheinungen der Liberalisierung zu überwinden«. Das Verhältnis von »Überzeugung und Zwang« sei »kein richtiges« mehr, so hieß es jetzt, die Rechte der Insassen würden »überbetont«. Die Gefangenen benähmen sich disziplinlos, arbeiteten zu langsam und würden durch entsprechendes Verhalten ihre Spielräume Schritt für Schritt erweitern. Außerdem würden die Gerichte vielfach zu günstige Vollzugskategorien festlegen.301 Im Februar 1966 legte Generalstaatsanwalt Josef Streit eine »Konzeption zur Erhöhung der Wirksamkeit des Strafvollzugs« vor.302 Darin diagnostizierte er zwar Reformbedarf im Gefängniswesen, wollte aber noch nicht auf eine strengere Linie bei der Behandlung der Insassen einschwenken und problematisierte deswegen die ungenügende Resozialisation. Entsprechend dem Rechtspflegeerlass von 1963 sei »die Gesetzlichkeit streng einzuhalten« sowie »die Menschenwürde und die Persönlichkeit der Strafgefangenen« zu achten, weswegen ein »genügend beweglicher und differenzierter Erziehungsstrafvollzug« entstehen müsse. Die Menschenwürde müsse von den Aufsehern »streng beachtet werden, weil nur 298  Protokoll der Arbeitstagung der Verwaltung Strafvollzug vom 1.11.1965; BArch DO1 32/36357. 299  Vgl. Kaiser: Machtwechsel, S. 47 u. 200–231. 300  Vgl. ebenda; Frank: Walter Ulbricht, S. 363–365. 301  Vgl. Vorlage der Abteilung für Sicherheitsfragen für das Sekretariat des Zentralkomitees über die Lage im Strafvollzug (mit Anlage 1–5) vom 26.10.1966; BArch DY 30 J IV 2/3 A–1390. 302  Vgl. Schreiben des Generalstaatsanwaltes an den Vorsitzenden des Staatsrates vom 28.2.1966; BArch DA 5/506, Bl. 61.

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Die Gefangenschaft

auf dieser Basis das notwendige Vertrauen erzielt werden kann und eine echte Erziehung sowie eine wirksame Wiedereingliederung in die Gesellschaft erreichbar sind«. Deswegen gelte es auch, die rechtliche Stellung der Häftlinge gesetzlich zu regeln. Eine stärkere Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit (entsprechend dem Rechtspflegeerlass) verlange nicht nur eine Trennung der Insassen nach Geschlecht, Alter und Kategorie, sondern eine weitergehende »Differenzierung und Individualisierung«. Noch stärker als bisher sollten die Häftlinge daher nach Alter auf die Gefängnisse verteilt werden (in Gruppen bis 18, bis 25 Jahre sowie ältere Häftlinge). Alkoholikern und psychisch kranken Gefangenen solle mit therapeutischen Möglichkeiten und erleichterten Haftbedingungen begegnet werden. Nicht die Gerichte, sondern die persönliche Entwicklung der Häftlinge solle bei der Einstufung in eine bestimmte Kategorie den Ausschlag geben; für Erst- und Fahrlässigkeitstäter sei ein offener Strafvollzug denkbar. Als Disziplinarstrafen seien Verschärfungen der Arbeitsbedingungen, dunkle Zellen und Kostschmälerung nicht geeignet. Stattdessen solle der Paketempfang gesperrt oder der Einkauf untersagt werden, was seinerzeit noch selten angewendet wurde. Auch befürwortete die Justizverwaltung positive Anreize wie eine mehrtägige Pause beim Arbeitseinsatz oder gar Urlaub am Wohnort der Familie.303 Auf einer Staatsratssitzung vom April 1966 setzte sich dann aber die härtere Linie endgültig durch.304 Grünstein äußerte seine Überzeugung, dass bei Rück­ falltätern die herkömmlichen Methoden nicht fruchten würden und »konse­ quentere Maßnahmen erforderlich« seien, insbesondere eine strengere Kontrolle der Wiedereingliederung.305 Der Präsident des Obersten Gerichts, Heinrich Toeplitz, votierte weiterhin für »Überzeugung und Erziehung«, konzedierte jedoch, dass dadurch »NATO-Spione« und »bewaffnete Provokateure« nicht zu »Friedensengeln« würden.306 Staatssicherheitsminister Erich Mielke assistierte mit der Feststellung, der Rechtspflegeerlass sei noch nicht richtig umgesetzt worden, denn bei einigen Aufsehern würden »die pädagogischen Fähigkeiten, das psychologische Einfühlungsvermögen und auch oft die Liebe zur Sache nicht ausreichen, um die Menschen zu verändern«. Zugleich war der Staatssicherheitschef überzeugt: »Unser Strafvollzug ist dem Westdeutschlands um vieles voraus.«307 Die Kritik der Parteiführung an der Umsetzung des Rechtspflegerlasses im Strafvollzug betrachtete Innenminister Friedrich Dickel als Aufforderung zu härterem Durchgreifen. Auf einer Tagung wies er drei Monate später die Gefängnisleiter persönlich an, den Häftlingen mit mehr Härte zu begegnen. »Es muss systematisch, ohne Überstürzung geprüft werden, wo Stück um Stück und 303  [Generalstaatsanwalt u. a.]: Konzeption für die Ausarbeitung von Maßnahmen zur Erhöhung der Wirksamkeit des Strafvollzugs in der DDR o. D. [2/1966]; ebenda, Bl. 62–87. 304  Streit: Durchführung des Rechtspflegeerlasses, S. 353–361, hier 355. 305  Grünstein: Kampf gegen Kriminalität, S. 378. 306  Toeplitz: Die DDR ist der wahre deutsche Rechtsstaat, S. 375. 307  Mielke: Die sozialistische Gesetzlichkeit, S. 377.

Die Strafvollzugspolitik

285

Schritt um Schritt die Schraube angezogen werden muss, sodass eine feste Disziplin und eiserne Ordnung in die SVE [Strafvollzugseinrichtung] hineinkommt, und wenn ich das nochmals höre, dass leitende Genossen in die Anstalten kommen und die Strafgefangenen liegen auf den Pritschen und fangen an zu pfeifen und zu johlen, werde ich mich selbst darum kümmern. Sollte der ein oder andere mit dieser Aufgabe nicht fertigwerden«, solle er sich an die oberste Gefängnisverwaltung wenden. Noch dazu würde »eine ganze Reihe« von Häftlingen »sämtliche Organe« mit Eingaben beschäftigen. »Dagegen muss energisch eingeschritten werden.«308 So wurden die möglichen Disziplinarmaßnahmen mit dem neu eingeführten strengen Einzelarrest erheblich verschärft, denn dieser bedeutete weder Decke noch Hocker für den Gefangenen in seiner maximal dreiwöchigen Isolationshaft unter Ausschluss von der Freistunde.309 Auch in Brandenburg-Görden wurden dementsprechend die Schrauben wie­ der angezogen. Hier kam noch hinzu, dass am 5. und 17. Juni 1966 mehreren Gefangenen die Flucht gelungen war (siehe Kap. 3.4.6), was stets eine Verschärfung des Klimas oder gar Vergeltung durch die Aufseher nach sich zog. In der Haftanstalt an der Havel sei »ab sofort Schluss zu machen mit den liberalen Erziehungsmaßnahmen«.310 So hatte die auf dreißig Minuten reduzierte Freistunde fortan wieder im Gleichschritt, schweigend und hintereinander zu erfolgen, wie es in den Fünfzigerjahren üblich gewesen war. Wenn Aufseher die Zellen öffneten, mussten die Insassen ihre Meldung nun wieder in militärischer Manier, unter dem Zellenfenster stehend, erstatten. Alles Private in den Zellen, wie Bilder und Blumenvasen, die zuletzt geduldet worden waren, sollte verschwinden, und der Bezug von Fachzeitschriften sowie das Vorführen von Filmen wurden stark eingeschränkt. Der Paketempfang, zuletzt vielen Gefangenen ohnehin nur zweimal jährlich gestattet, sollte ebenfalls reduziert werden. Tabak durfte nun auch nicht mehr in Paketen zugesandt, geschweige denn persönlich übergeben werden.311 Die Arreststrafen, so hieß es auf einer Dienstversammlung, müssten wieder stärker abgestuft werden. Im strengen Arrest werde dem Betroffenen fortan »nur ein geringer Verpflegungssatz ausgegeben«, zudem galt: »Hartes Lager, keine Freistunde, kein Lesematerial, zeitiges Wecken, keine Bindungen zu den Angehörigen.« Selbst im Winter wurde nur eine Decke zum Schutz gegen die Kälte gewährt, Hunger und Kälte wurden demnach wieder gezielt zur 308  Ausführungen des Ministers des Innern auf der Arbeitstagung der Verwaltung Strafvollzug am 27.7.1966; BArch DO1 32/36357. 309  Vgl. 1. Änderung zur vorläufigen Strafvollzugsordnung vom 20.1.1965 vom 20.7.1966; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10066; zit. nach: Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 262. 310  Sonderinformation des Politstellvertreters der StVA Brandenburg über Probleme der politisch-ideologischen Arbeit vom 15.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/700, Bl. 57–61. 311  Vgl. [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des Polit-Stellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 189–211.

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Disziplinierung eingesetzt. Um die Arrestanten zusätzlich zu demütigen, sollten sie außerdem »zu den schmutzigsten Reinigungsarbeiten innerhalb der Anstalt« herangezogen werden. Verglichen damit war der normale Einzelarrest geradezu komfortabel – mit Freistunde, Bezug der Tagespresse und »nur« vierwöchigem Entzug der Einkaufsberechtigung.312 3.2.7 Das Strafvollzugsgesetz von 1968 und seine Umsetzung Im Jahre 1968 wurden eine neue Verfassung, ein neues Strafgesetzbuch, eine neue Strafprozessordnung sowie erstmalig ein Strafvollzugs- und Wiederein­ gliederungsgesetz verabschiedet. Gerade mit der neuen Verfassung, über die die Bürger abstimmen konnten, versuchte das SED-Regime, seine inter­ nationale Reputation aufzubessern.313 Im Verfassungstext war von einer »sozia­ listischen Menschengemeinschaft« die Rede, in der sich die Individuen durch »Hilfsbereitschaft, Güte, Brüderlichkeit« auszeichnen sollten. Dies setzte eine entsprechende Beeinflussung der Menschen voraus, und so liefen auch die Reformüberlegungen im Strafrecht auf die Betonung des erzieherischen Aspekts des Rechts hinaus.314 Folglich wurde eine »Vielzahl abgestufter Reak­ tionsmöglichkeiten« in das Strafgesetzbuch eingefügt und beispielsweise die Strafaussetzung auf Bewährung gestärkt sowie die Zuchthausstrafe als Sanktionsform abgeschafft.315 Da Kriminalität jetzt nicht länger als Produkt 312  Vgl. ebenda. 313  Vgl. Schroeder: Der SED-Staat, S. 187 f. 314  Vgl. Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 44. 315  Über die Unterscheidung zwischen Zuchthaus- und Gefängnisstrafe war es Jahre zuvor zu einem Disput zwischen dem Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht und seinem Stellvertreter Johannes Dieckmann gekommen. Dieser hatte im Zusammenhang mit dem Gnadenerweis von 1960 in einer Staatsratssitzung zur Gesetzesvorlage angemerkt: »Es wird hier kein Unterschied zwischen Gefängnis und Zuchthaus gemacht. Ich stelle das nur fest. Ob jemand drei Jahre Zuchthaus oder drei Jahre Gefängnis kriegt, das ist doch ein wesentlicher Unterschied. Das wird aber hier auf die gleiche Linie gestellt.« Ulbricht daraufhin: »Ich kann das jetzt nicht beurteilen, welche Konsequenzen das hat, wenn wir das differenzieren.« Dieckmann daraufhin: »Eine Zuchthausstrafe hat bestimmte gesellschaftliche Folgen.« Daraufhin schaltete sich der stellvertretende Vorsitzende des Staatsrates Otto Grotewohl ein und erklärte: »Ich möchte darauf verweisen, dass die Präambel zu diesem Beschluss sagt, dass sich durch die Erfolge der DDR und durch die Leistungen der Werktätigen unserer Republik die sozialistische Gesellschaftsordnung so [sehr] gefestigt hat, dass sie das und das machen kann. Wir machen das also nur vom Standpunkt des Staates und seines Bestandes, aber nicht vom Standpunkt des einzelnen Verurteilten, der im Gefängnis oder im Zuchthaus sitzt. Das ist völlig uninteressant.« Dieckmann entgegnete daraufhin noch einmal wenig später: »Ich muss sagen, dass mich das nicht überzeugt hat. [...] Zwischen Gefängnis und Zuchthaus besteht ein wesentlicher Unterschied. Zuchthaus hat Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung usw. des Einzelnen, was bei Gefängnis nicht der Fall ist.« Unkorrigierte stenographische Niederschrift der 2. Tagung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik am 1.10.1960; BArch DA 5/75686, Bl. 58–113, hier 103–106.

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eines Klassenantagonismus galt, konnte erstmalig oder fahrlässig begangenen Straftaten verstärkt erzieherisch begegnet werden – wohingegen Staatsverbrechen so repressiv wie zuvor zu ahnden waren.316 Bestimmte Straftatbestände wurden auch neu eingeführt bzw. neu gefasst wie asoziales Verhalten und Rowdytum. Das neue Strafgesetzbuch stellte auch erstmals das Entweichen aus der Haft unter Strafe (mit einem Strafmaß von bis zu zwei Jahren Freiheitsentzug).317 Diese Regelung hatte die oberste Gefängnisverwaltung angesichts hoher Entweichungszahlen gegen den Willen der vormaligen Justizministerin Hilde Benjamin durchgesetzt.318 Über das neue Strafvollzugsgesetz war schon seit 1961 beraten worden, wobei die zuständige Kommission in Brandenburg-Görden getagt hatte.319 Im Gesetzestext festgeschrieben wurde die Trennung der Insassen nach Geschlecht, Verhalten während der Haft und Alter (in Jugend- bzw. Erwachsenenvollzug), was in der Praxis bereits seit Beginn der Sechzigerjahre immer stärker berücksichtigt wurde. Die drei Vollzugskategorien wurden in erleichterte, allgemeine und strenge Vollzugsart umbenannt.320 Die Einstufung des einzelnen Häftlings nahm nur noch in Ausnahmefällen das verurteilende Gericht vor, im Allgemeinen jedoch die Leiter der jeweiligen Untersuchungshaftanstalt.321 In der gesamten DDR stieg so von 1968 bis 1970 der Anteil der Gefangenen in der strengen Vollzugskategorie von 12,2 auf 50,4 Prozent, während der Anteil in der erleichterten Vollzugsart von 57,4 auf 5,2 Prozent sank (und in der allgemeinen Vollzugsart mit 30,4 bzw. 44,4 Prozent leicht wuchs).322 In Abhängigkeit von der Vollzugsart wurden jetzt die Haftbedingungen noch stärker variiert, was die Entlohnung der Arbeit, die Arrestbedingungen, die Dauer der Freistunde, die Art der Verwahrung (bis hin zu nicht ständig verschlossenen Zellen), die Intensität der Beaufsichtigung beim Außenarbeitseinsatz und den Besuchs- sowie Postempfang betraf.323 Das Gesetz

316  Vgl. Lindenberger: »Asoziale Lebensweise«, S. 248. 317  Vgl. § 237 des Strafgesetzbuches für die Deutsche Demokratische Republik. Ostberlin 1968, S. 86. 318  Schreiben von Dickel an die Ministerin für Justiz Benjamin vom 4.1.1965; BArch DO1 32/47966. 319  Vgl. Protokoll der 1. Sitzung der Grundkommission zur Schaffung eines Gesetztes über den Strafvollzug vom 30.11.1961; BArch DO1 32/47966. 320  Vgl. Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz (SVWG) vom 12.1.1968 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestimmung (Strafvollzugsordnung) vom 15.1.1968. Hg. als Arbeitsmaterial von der Verwaltung Strafvollzug des MdI; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10068. 321  Buchholz; Tunnat; Mehner: Hauptaufgaben des sozialistischen Strafvollzugs, S. 55 f. 322  Stichtage 30.6.1968 und 30.4.1970. Vgl. Zusammensetzung des Strafgefangenen­bestandes – Freiheitsstrafe Erwachsene o. D. [30.4.1970]; BArch DO1/10063, o. Pag. Siehe auch Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 267. 323  Vgl. Haubenschild, Hans; Krizek, Bruno; Mehner, Heinrich: Die Differenzierung im sozialistischen Strafvollzug der Deutschen Demokratischen Republik. Ostberlin 1970.

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Die Gefangenschaft

bedeutete somit eine »Differenzierung des Strafvollzugs, die eine seit Jahren üblich Praxis präzisierte und konkretisierte«, wie westliche Beobachter konstatierten.324 Die etwas differenziertere Behandlung der Insassen wirkte sich in BrandenburgGörden insgesamt eher zum Nachteil der Häftlinge aus. Da hier fast ausschließlich Gefangene der Kategorie I bzw. der strengen Vollzugsart einsaßen, galten für sie nun sogar vielfach striktere Regeln. So durften die Häftlinge ab Juli 1968 nicht mehr regelmäßig Pakete empfangen, denn jeder Empfang von Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs galt als besondere Vergünstigung, für die hohe Arbeitsleistung und vorbildliches Betragen Voraussetzung waren. Wollten Familienangehörige bei ihren Besuchen Geschenke überreichen, durften diese den Wert von drei Mark nicht überschreiten.325 Entsprechend den neuen gesetzlichen Bestimmungen sollten der erzieherische Aspekt stärker beachtet und mehr positive Anreize für konformes Verhalten geboten werden.326 Bestrafungen sollten im »richtigen« Verhältnis zu den Belobigungen stehen.327 Einige Aufseher gingen jetzt dazu über, Disziplinarstrafen wie auch Belobigungen vor den Mitinsassen offiziell bekannt zu geben, was sich angeblich als »wirkungsvoll« erwies, wie der stellvertretende Gefängnisleiter behauptete.328 Entsprechend der gewünschten Einhaltung der »sozialistischen Gesetzlichkeit« wurde Ende der Sechzigerjahre die Willkür der Aufseher eher thematisiert. So räumte die Gefängnisverwaltung jetzt Defizite in der bisherigen Disziplinarpraxis ein, war aber nur in sehr engen Grenzen zum Umdenken bereit. Bei immer noch sehr strengen Maßstäben wurde in Brandenburg-Görden jetzt zumindest die formale Einhaltung der selbst auferlegten Regeln analysiert. Dabei stellte sich heraus, dass allein im Mai 1968 bei insgesamt 52 Disziplinarmaßnahmen in 22 Fällen der »Sachverhalt oberflächlich bearbeitet« worden war, in 15 Fällen kein Befragungsprotokoll gefertigt worden war und in sieben Fällen die vorangegangenen Strafen nicht notiert worden waren.329 Da offenbar nur Formfehler gerügt wurden, ist unklar, ob die Bestrafungen zu Recht erfolgten und ob die Menschenwürde der Betroffenen dabei gewahrt worden war. Gegen 324  Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 23. Ansorg kommt indes zu dem Urteil, das Strafvollzugsgesetz habe »prinzipiell nichts« geändert. Ansorg: Brandenburg, S. 171. 325  Vgl. Bericht der Quelle 71464 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. Tischlerei vom 4.11.1968 (Stand Mitte September 1968), 16 S.; BArch B 137/15761. 326  Vgl. Erziehungsprogramm 1967 des Leiters der StVA Brandenburg vom 28.4.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 99–108. 327  Vgl. 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Auswertung der Konzeption des Leiters der StVA Brandenburg für das Jahr 1970 vom 1.12.1970; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704, Bl. 127–149. 328  1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung der Arbeitsergebnisse im 1. Halbjahr 1971 vom 6.7.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 39–60. 329  Vgl. Schreiben des Offiziers für Psych./Pädagogik an den Leiter der StVA Brandenburg Ackermann betreff Überprüfung der Disziplinarvorgänge Mai 1968 vom 10.6.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704, Bl. 49–56.

Die Strafvollzugspolitik

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Arreststrafen sprachen schließlich auch ökonomische Interessen: Es sollte nämlich »erreicht werden, dass die Disziplinarmaßnahme ›Arrest‹ weiter zurückgeht, damit keine zusätzlichen Ausfallstunden in der Produktion durch das Vollziehen der Arreststrafe hervorgerufen werden«,330 wie die Vorgabe in der Haftanstalt an der Havel seinerzeit lautete. In der Praxis blieb jedoch der strenge Einzelarrest bis Mitte der Siebzigerjahre die am häufigsten angewandte Disziplinarmaßnahme (siehe die Tabelle 5 in Kap. 3.3.7.1). 3.2.8 Erneute Verschärfungen (1971–1973) Die Reformbemühungen der Sechzigerjahre endeten endgültig mit der Wahl Erich Honeckers zum neuen Generalsekretär der SED im Mai 1971. Honecker bemühte sich zwar, durch einen höheren Lebensstandard mehr Rückhalt bei den Bürgern zu finden. Doch in einer Art »Doppelstrategie« sagte er zugleich den kapitalistischen Überbleibseln in der Volkswirtschaft den Kampf an und predigte eine höhere revolutionäre Wachsamkeit.331 Eher strengere Saiten wurden jetzt in der Justizpolitik aufgezogen und viele Reformversuche beendet. Der zuständige Leiter der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen, Klaus Sorgenicht, gab daher Generalstaatsanwalt Josef Streit in einem persönlichen Gespräch im Jahre 1971 den neuen Kurs vor. Die Justizorgane sollten nicht auf eine Verschärfung der Strafgesetze warten, sondern müssten umgehend Maßnahmen zur härteren Verfolgung und strengeren Ahndung von Straftaten einleiten und den »staatlichen Zwang« intensivieren.332 Als erzieherisch besonders wirksam galt vielen Gerichten jetzt der Ausspruch sehr strenger Strafen, wie es den politischen Vorgaben entsprach.333 Die Staatssicherheit, die sich zwischenzeitlich etwas zurückgehalten hatte, eröffnete 1973 (sowie 1975) besonders viele Ermittlungsverfahren.334 So wurden auch für noch mehr Verurteilte die härtesten Haftbedingungen angeordnet (durch Einweisung in die sogenannte strenge Vollzugsart; siehe Tabelle 1). Neben der strengeren justizpolitischen Linie wurde dies wohl auch dadurch befördert, dass seit 1969 die Leiter der Untersuchungshaftanstalten anstelle der Gerichte über die Einstufung entschieden. Die Kriminalitätsrate in der DDR stieg von 1968 bis 1972 um 36 Prozent, was das Politbüro auch als Versagen des Strafvollzugs deutete, weil dessen 330  [Redemanuskript zur] Vollzugskonferenz der StVA Brandenburg vom 1.12.1970; ebenda, Bl. 160–174. 331  Vgl. Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. Berlin 1998, S. 45. 332  Information über eine Beratung bei Genossen Sorgenicht vom 27.10.1971; BArch DP 3 I, 329; zit. nach: Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 49. 333  Vgl. Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 57. 334  Vgl. Passens: MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung, S. 129.

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Die Gefangenschaft

mangelnde Resozialisationsleistung zur hohen Rückfallquote beitrage. Der Umgang mit den Gefangenen sei »zu undifferenziert« und das Verhalten der Aufseher »nicht immer konsequent«.335 Diese Kritik des Politbüros führte jedenfalls unmittelbar zur Einführung von Strafvollzugspsychologen336 sowie zu einer Neufassung des Strafvollzugsgesetzes.337 Entsprechend den Vorgaben wurden die Kategorien der strengen, allgemeinen und erleichterten Vollzugsart per Änderungsgesetz zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz im Jahre 1974 um eine sogenannte verschärfte Vollzugsart erweitert. Für die Insassen der verschiedenen Kategorien galten weiterhin unterschiedliche Haftbedingungen, wie auch ihre Arbeitsleistungen nach wie vor ungleich vergütet und Kontakte zu den Familienangehörigen abgestuft möglich waren.338 In die verschärfte Vollzugsart wurden jene Häftlinge eingestuft, die mindestens zweimal nach den speziellen Rückfallbestimmungen des besonderen Teils des Strafgesetzbuches oder entsprechend der allgemeinen Strafverschärfungsregelung für Rückfallstraftäter (§ 44 Strafgesetzbuch) verurteilt worden waren. Ihr Verhalten sollte im Gefängnis »streng reglementiert« werden und »durch hohe Anforderungen an die Erfüllung der Pflichten« bestimmt sein.339 Als Kriterium für die Einweisung in die strenge Vollzugsart galt jetzt nur noch eine Strafhöhe von mehr als zwei Jahren, was viele der politischen Gefangenen betraf. Sie mussten nun in vielen Haftanstalten nicht länger zusammen mit kriminellen Rückfalltätern einsitzen, da für diese oft die verschärfte Vollzugsart galt.340 »Allerdings schien sich die Verschärfung der Strafvollzugsbedingungen in der Hauptsache im Kampf gegen Asoziale und Rückfalltäter zu motivieren«,341 wie westliche Beobachter konstatierten.

335  Bericht über die Entwicklung der Kriminalität in den Jahren 1971/72 (Anlage Nr. 3 zum Protokoll Nr. 17/73 zur Sitzung des Politbüros vom 24.4.1973); BArch DY 30 J IV 2/2–1445, Bl. 51–73. Auf diesen kurzen Zeitraum bezogen entspricht diese Einschätzung den internen Kriminalitätsstatistiken, doch auf lange Sicht ist die Kriminalität in der DDR ab 1952, spätestens ab 1960 bis 1989 nicht gestiegen. Vgl. Schröder; Wilke: Politische Strafgefangene. Versuch einer statistischen Beschreibung, S. 3–78, hier 50 f. 336  Vgl. Verwaltung Strafvollzug: Schwerpunkte der Ausführungen auf der Dienstbesprechung vom 4.11.1975; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 2, Bl. 246–263. Siehe auch Kapitel 5.1.4. 337  Vgl. Anlage zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug o. D.; BArch DC 20/I/3 1167 (Film 75900). 338  Vgl. Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz (SVWG) vom 12.1.1968 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestimmung (Strafvollzugsordnung) vom 15.1.1968. Hg. als Arbeitsmaterial von der Verwaltung Strafvollzug des MdI; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10068, Bl. 10–14; Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz (SVWG) vom 12.1.1968 in der Fassung vom 19.12.1974. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern, S. 16. 339  Anlage zum Protokoll Nr. 19/74 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 7.5.1974 zu Top 9: Änderung des Strafgesetzbuchs; BArch DY 30 J IV 2/2–1505, Bl. 102–108. 340  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 281. 341  Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 24.

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Die Ausdifferenzierung der Haftbedingungen in jetzt vier Vollzugsarten be­ deu­tete für die Insassen Brandenburg-Gördens keine Lockerung,342 weil die mei­ sten Häftlinge der »strengen« Vollzugsart zugeordnet waren (siehe Tabelle 1). Be­ reits im Vorfeld der neuen gesetzlichen Regelung war in der Haftanstalt an der Havel Anfang 1974 im Gebäude der Vollzugsabteilung IV eine Sonderabteilung mit besonders strengen Haftbedingungen eingerichtet worden. In diese »be­son­ de­re Vollzugsabteilung« sollten nach Zustimmung der Arbeitsrichtung I/4, des Staats­anwalts für Strafvollzugsaufsicht sowie des Strafvollzugspsychologen jene Ge­fangenen der »strengen« Vollzugsart gebracht werden, die sich aus Sicht der Ge­fängnisleitungen renitent gebärdeten bzw. von denen besondere Gefahren aus­ zu­gehen schienen. Auch »Rädelsführer«, »Anstifter«, »Aufwiegler« und Aus­bre­cher sollten hier einem besonders strengen Regime unterliegen.343 So sollten die Zel­len wö­chentlich »gefilzt werden« und deren Insassen bei Transport oder Ar­beits­einsatz be­sonders streng überwacht werden.344 Insgesamt wurden in fünf ver­schiedenen Haft­anstalten solche Sonderabteilungen eingerichtet, was mit der vor­genannten Kri­tik der Parteiführung an der mangelnden Resozialisationsleistung des Straf­ voll­zugs begründet wurde.345 Einer der prominentesten Häftlinge in der »Be­son­ de­ren Vollzugsabteilung« von Brandenburg-Görden war im Jahre 1976 für sechs Mo­nate Wolfgang Defort. Dieser verhielt sich gar nicht renitent, jedoch wollte die Staatssicherheit ihn aus »politisch-operativen Gründen« isoliert wissen.346 Tat­ säch­lich wurde in die Sonderabteilung aber auch ein 19-jähriger Häftling der all­ ge­meinen Vollzugsgart mit »psychischen Problemen« verlegt, der sich aus Angst wäh­rend der Freistunde selbst Verletzungen zufügte; auch die Aufseher ver­mu­ te­ten, die Leitungen anderer Gefängnisse würden lediglich die Möglichkeit nut­ zen, schwierige Gefangene in eine der besagten fünf Strafvollzugsanstalten ab­ zu­schie­ben.347

342  Vgl. Berichterstattung [der Abt. SV der BDVP Potsdam] zum Stand der Durchsetzung der gesetzlichen Vorschriften und Weisungen im Organ Strafvollzug o. D. [8/1975]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/45, Bl. 221–228. 343  Ausführungen des Leiters der StVA Brandenburg zur Dienstversammlung am 13.6.1974 vom 7.6.1974; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/696, Bl. 157–179. 344  Vgl. Instruktion 51/74 des Leiters der Verwaltung Strafvollzug über die Unterbringung und Maßnahmen zur Vollzugsgestaltung gegenüber Strafgefangenen, von denen besondere Gefahren ausgehen vom 7.3.1974; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10583. 345  Vgl. Bericht des Leiters der VSV für die Aussprache vor dem Minister des Innern von Oktober 1975; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 2, Bl. 200–222. 346  Vgl. Ermittlungsbericht der Abteilung VII/5 zum Strafgefangenen Defort, Wolfgang vom 28.12.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 1744/77, Bl. 283–286. 347  Information des FIM »Heinz« o. D. [Spätsommer 1974]; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, T. II, Bd. 2, Bl. 274.

292

Die Gefangenschaft

Abb. 10: Zellentrakt in der Vollzugsabteilung I, 1975

3.2.9 Die Strafvollzugsordnung von 1974 und das Strafvollzugsgesetz von 1977 Nach der geschilderten Änderung des Strafvollzugs- und Wiedereinglie­derungs­­ ge­setzes wurde auf höchster Ebene bereits der Entwurf einer neuen Straf­voll­zugs­ ord­nung348 diskutiert, den die oberste Gefängnisverwaltung aus­ge­ar­bei­tet hatte. Die dienstlichen Bestimmungen zum Umgang mit Häftlingen wur­den jetzt, ob­ wohl in der Praxis oft missachtet, zwischen der Parteiführung und ver­schiedenen Mi­nisterien kontrovers diskutiert, was einer Spiegelfechterei na­he­kommt. Keine Ein­wände gegen die Vorlage der obersten Gefängnisverwaltung er­hob etwa der Mi­nister für Auswärtige Angelegenheiten, Oskar Fischer,349 der im Hin­blick auf die konsularische Betreuung inhaftierter Bundesbürger seine Stimme hätte er­he­ ben können. Der hinsichtlich der arbeitsrechtlichen Bestimmungen für Häft­lin­ge

348  Vgl. Ordnung 107/75 des Ministers des Innern über die Durchführung des Vollzuges der Strafen mit Freiheitsentzug (Strafvollzugsordnung) vom 25.3.1975; BArch DO1 2.2./60944. 349 Vgl. Schreiben des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten zum Entwurf der 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz vom 6.3.1975; BArch DO1 2.2./60945.

Die Strafvollzugspolitik

293

konsultierte Freie Deutsche Gewerkschaftsbund stimmte ebenso zu350 wie die Hauptabteilung Innere Angelegenheiten, deren nachgeordneten Behörden für die Wiedereingliederung Haftentlassener verantwortlich waren.351 Andere Ressorts bzw. Abteilungen schlugen zumindest marginale Veränderungen vor. So hatte der Mi­nister für Gesundheitswesen, Ludwig Mecklinger, hinsichtlich der vorgesehenen »zwangs­weisen medizinischen Betreuung« von Gefangenen Skrupel, da er hier »un­ mit­telbar Persönlichkeitsrechte berührt« sah.352 Die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, hielt die vorgesehene Weiterbildung der Jugendlichen im Ju­ gend­strafvollzug für unzureichend.353 Auch die Justizorgane erhoben etliche Ein­ wän­de – so schlug Justizminister Hans-Joachim Heusinger vor, die Höchstdauer des Freizeitarrestes um eine Woche zu senken und zu präzisieren, wann diese Strafe aus­gesprochen werden durfte.354 Generalstaatsanwalt Josef Streit sprach sich ge­zielt dafür aus, einige Regelungen aufzunehmen, die der Aufrechterhaltung der »so­zia­ listischen Gesetzlichkeit« dienen sollten – wie beispielsweise die Begrenzung der Iso­lationshaft auf maximal drei Jahre. Dass der Chefankläger im SED-Staat da­ rü­ber hinaus das Beschwerderecht gegen Disziplinarmaßnahmen im Gesetzestext wie auch in der Strafvollzugsordnung verankern wollte, stieß bei der obersten Ge­fäng­nis­verwaltung nicht auf Gegenliebe.355 Diese wollte lieber den Ermessensspielraum der Gefängnisleitungen und der Aufseher erweitern sowie »positives« Verhalten der Insassen durch zusätzliche Vergünstigungen honorieren. Dies gefiel der SED-Führung jedoch nicht, denn die Abteilung für Sicherheitsfragen und die Abteilung für Staats- und Rechtsfragen bemängelten gerade die »zu großzügige Auslegung der Anerkennung von guten Verhaltensweisen« der Häftlinge in den Entwürfen zur neuen Strafvollzugsordnung. 350  Vgl. Schreiben des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Entwurf der 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz vom 25.2.1975; ebenda. 351  Sie wollte lediglich sichergestellt wissen, dass die Abteilungen Innere Angelegenheiten über die Absichten wiedereinzugliedernder Haftentlassener möglichst frühzeitig informiert würden, was die Hauptabteilung Strafvollzug aus administrativen Gründen zurückwies. Vgl. Schreiben des Leiters der HA Innere Angelegenheiten zum Entwurf der 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsordnung) vom 31.1.1975; ebenda. 352  Vgl. Schreiben des Ministers für Gesundheitswesen zum Entwurf der 1. Durchfüh­ rungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz vom 20.3.1975; ebenda. 353 Vgl. Schreiben des Ministers für Volksbildung [zum Entwurf der 1. Durchfüh­ rungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsordnung)] vom 5.3.1975; ebenda. 354  Vgl. Schreiben des Ministers der Justiz zum Entwurf der 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsord­ nung) vom 10.3.1975; ebenda. 355  Vgl. Schreiben des Generalstaatsanwalts zum Entwurf der 1. Durchführungs­bestim­mung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsordnung) vom 5.3.1975; ebenda.

294

Die Gefangenschaft

Die Machthaber kritisierten den (in Ausnahmefällen für Jugendliche im erleichterten Vollzug vorgesehenen) Hafturlaub von bis zu acht Tagen und den Besuch von Sportveranstaltungen.356 Die oberste Gefängnisverwaltung entgegnete, dass der Generalstaatsanwalt Hafturlaub sogar für erwachsene Strafgefangene der erleichterten Vollzugsart vorgeschlagen habe; die »Prinzipien des Strafvollzugs« würden dabei »nicht verletzt«.357 Den Wünschen der Parteiführung gehorchend wurden dann gleichwohl einige Bestimmungen »ersatzlos gestrichen«, die der Entwurf der obersten Gefängnisverwaltung noch enthalten hatte (wie die Möglichkeit zum Besuch von Sport- und Kulturveranstaltungen sowie der maximal achttägige Hafturlaub). Übrig blieb lediglich die Möglichkeit von Exkursionen, womit der Besuch von Betrieben, Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten, nicht aber von Sportveranstaltungen gemeint war. Doch immerhin folgten die Abteilung für Sicherheitsfragen des ZK und die Verwaltung Strafvollzug des Ministeriums des Innern dem Vorschlag des Generalstaatsanwalts, die Isolationshaft auf drei Jahre zu begrenzen358 – was immer noch einen weiten Rahmen darstellte. Auch der Staatssicherheitsdienst und die Kriminalpolizei wandten sich gegen eine Liberalisierung der Haftpraxis. Allerdings wusste auch die Staatssicherheit, dass die Behandlung der Insassen vielfach ungerecht war und sie von den Aufsehern oft unnötig provoziert wurden. Deswegen drängte der Mielke-Apparat in seiner Stellungnahme darauf, dass die Aufseher »klug differenziert und anknüpfend an die Persönlichkeitsmerkmale« mit den Insassen umgehen sollten, damit die Resozialisierung unterstützt werde. Die Staatssicherheit, besonders an der Bekämpfung der Flucht- und Ausreisebewegung interessiert, hoffte auf diese Weise zu verhindern, »dass negative Einflüsse unverbesserlicher Kräfte [gemeint waren die politischen Gefangenen] wirksam und erneut Aktivitäten entwickelt werden, die darauf gerichtet sind, die DDR ungesetzlich zu verlassen«.359 Die Kriminalpolizei konnte darüber hinaus durchsetzen, dass die Mitarbeiter ihrer geheimpolizeilichen Arbeitsrichtung I/4 besser in die Informationsprozesse innerhalb der Haftanstalten einbezogen werden sollten (siehe Kap. 5.2).360 356  Schreiben der Abteilung für Sicherheitsfragen zum Entwurf der 1. Durchführungsbestim­ mung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugs­ ordnung) vom 4.3.1975; ebenda. 357  Bemerkungen der Verwaltung Strafvollzug zu den von der Abteilung für Sicherheitsfragen aufgeworfenen Problemen vom 6.3.1975; ebenda. 358  Vermerk [zu einer Besprechung der Abteilung für Sicherheitsfragen und der Verwaltung Strafvollzug zum Entwurf der 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiederein­ glie­derungs­gesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsordnung)] vom 10.3.1975; ebenda. 359  Schreiben des Stellvertreters des Ministers für Staatssicherheit Beater [zum Entwurf der 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsordnung)] vom 25.3.1975; BArch DO1 2.2./60949. 360  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung Kriminalpolizei zum Entwurf der 1. Durchfüh­ rungsbestimmung zum Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz und zur Ordnung 107/75 (Strafvollzugsordnung) vom 6.2.1975; BArch DO1 2.2./60945.

Die Strafvollzugspolitik

295

In der Praxis wurden viele Gefangene trotz der neuen gesetzlichen Bestim­mun­ gen und Durchführungsanweisungen systematisch schikaniert (siehe Kap. 3.3.8). So stell­te sogar die der Haftanstalt Brandenburg-Görden vorgesetzte Abteilung Straf­voll­zug im Jahre 1975 fest, dass im Bezirk Potsdam »einige Überspitzungen in den Vollzugseinrichtungen auftraten, die als Willkürhandlungen gegenüber In­haftierten zu werten sind«, wie der »unberechtigte Essensentzug für Strafge­ fan­gene, die die Arbeit verweigerten«.361 Den Häftlingen zum Nachteil gereichte auch, dass der stellvertretende Innenminister Günter Giel im Juli 1974 eine Über­ be­legung von Zellen gestattete, auch wenn dabei die zulässigen Grenzwerte um bis zu einem Kubikmeter Luft pro Gefangenen unterschritten wurden.362 Ei­ne suk­zessive Besserung der Verpflegung aller Insassen wurde ebenfalls teilweise wie­ der zurückgenommen (siehe Kap. 3.3.4). Und Dickel sowie das Kollegium seines Mi­nisteriums kritisierten, dass die Gefängnisleitungen gegenüber Problemen wie Über­belegung, mangelnder Disziplin der Insassen und Lücken beim Arbeitseinsatz ge­radezu kapitulierten,363 was in der Konsequenz wohl ebenfalls zu Lasten der Ge­fangenen ging. Die erwähnte Einführung von vier Vollzugskategorien mit unterschiedlich harten Haftbedingungen im Jahre 1974 brachte offenbar nicht den gewünschten pädagogischen Effekt. Dickel musste drei Jahre später in der Volkskammer eingestehen, dass die »bisherige starke Differenzierung« sich »nicht bewährt« habe.364 Deswegen wurden jetzt mittels einer Neufassung des Strafvollzugsgesetzes die strenge und die verschärfte Vollzugsart förmlich aufgehoben, sodass nur mehr ein allgemeiner und ein erleichterter Vollzug existierten – »wobei dem politischen Häftling der erleichterte Vollzug wie gehabt verschlossen blieb«.365 Dabei profitierten drei von vier inhaftierten Frauen, aber nur 56 Prozent der Männer vom erleichterten Vollzug (Stand 1977),366 was auf traditionelle Rücksichtnahme auf das »schwache Geschlecht« oder patriarchalische Rollenzuschreibung (der Frauen als Mittäterinnen) schließen lässt. Anders als bei den starken Verschiebungen in den Sechzigerjahren (siehe Tabelle 1) blieb der Anteil der verschiedenen Vollzugsarten nun weitgehend stabil, wenn man von den unmittelbaren Auswirkungen der Amnestie von 1979 sowie dem leicht wachsenden Anteil von Vorbestraften absieht (siehe Tabelle 2). 361  Vgl. Berichterstattung [der Abt. SV der BDVP Potsdam] zum Stand der Durchsetzung der gesetzlichen Vorschriften und Weisungen im Organ Strafvollzug o. D. [8/1975]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/45, Bl. 221–228. 362  Vgl. Bericht über den Besuch des Gen. Oberst Giel vom 4.7.1974; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. 1, Bl. 310–320. 363  Vgl. Vermerk über ein Gespräch vom 19.3.1975; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. 2, Bl. 250–253. 364  Zit. nach: Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 24. 365  Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 24. 366  Vgl. Bestand am 20.10.1977; BArch DO1/3698, o. Pag.

296 Jahr

Die Gefangenschaft

allgemeiner Vollzug absolut

erleichterter Vollzug

in %

absolut

in %

Gesamtzahl der Straf­ gefangenen

davon vorbestraft absolut

in %

1977

10 577

39,8

15 951

60,2

26 528

16 778

58,3

1978

11 148

38,9

17 470

61,1

28 618

16 538

52,8

1979

9 601

49,8

9 674

50,2

19 275

17 314

84,5

1980

12 375

37,6

20 479

62,4

32 854

21 287

59,8

1981

12 711

38,2

20 501

61,8

33 212

21 543

59,9

1982

12 913

39,2

19 969

60,8

32 882

19 371

54,9

1983

13 121

41,1

18 771

58,9

31 892

20 064

58,9

1984

13 057

42,2

17 840

57,8

30 897

20 125

61,6

1985

12 369

45,4

14 850

54,6

27 219

18 563

64,8

1986

12 509

46,9

14 155

53,1

26 664

17 966

64,1

1987

12 880

47,5

14 231

52,5

27 111

18 178

64,2

Tab. 2: Zahl der erwachsenen Strafgefangenen, ihre Vollzugsart und Vorbestrafte in der gesamten DDR (1977–1987)367

Die Anweisung zur Ausarbeitung des neuen Strafvollzugsgesetzes von 1977 ging »ohne Zweifel [...] von Honecker selbst« aus.368 Der Generalsekretär hatte auch hand­schriftlich einen ihm vorgelegten Gesetzesentwurf korrigiert, wodurch ei­nige Bestimmungen sogar etwas großzügiger gefasst wurden.369 Außerdem wur­de durch das 2. Strafrechtsergänzungsgesetz im gleichen Jahre die 1961 ein­ ge­führte (und 1968 in Freiheitsstrafen mit Arbeitserziehung auf der Grundlage von § 246 StGB umgewandelte) Arbeitserziehung als gesonderte Sanktionsform auf­gehoben, weil auch beim Vollzug von Freiheitsstrafen der Arbeitseinsatz mit sei­ner angeblich resozialisierenden Wirkung die Regel war. Ebenfalls abgeschafft wur­de die Strafart Einweisung in ein Jugendhaus, weil im Jugendstrafvollzug an­geblich »generell pädagogische Maßnahmen« angewendet wurden.370 Mit der 367  Vgl. 1. Entwurf des Berichts [des Generalstaatsanwalts] über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug in der Deutschen Demokratischen Republik (mit Anlagen) o. D. [1987]; BArch DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 78–95. 368  Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 118 f. 369  So strich Honecker einen Absatz, der Ausnahmen bei der Haftunterbrechung für Schwangere gestattet hätte, was erst 1974 eingeführt worden war. Vgl. Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 119. 370  Diskussionsbeitrag Gen. Rothe/Rechtsstelle [des Ministeriums für Staatssicherheit] auf Dienstkonferenz 28.4.1977; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 13698, Bl. 1–22. Waren zur Arbeitserziehung anfänglich vor allem politisch missliebige Personen eingewiesen worden, wurden dann sozial Schwächere und schließlich echte Kriminelle zu den Leidtragenden. Vgl. Windmüller: »Asoziale« in der DDR, S. 79, 88 u. 120.

Die Strafvollzugspolitik

297

bis­her stark differenzierten Unterbringung, so ließ sich das Politbüro informieren, sei »ein hoher Organisations- und Kraftaufwand verbunden [gewesen], der mit den erzieherischen Einflussmöglichkeiten nicht in Übereinstimmung steht«. Zu­ gleich erkannte das Politbüro Reserven in »einer noch differenzierteren per­sön­ lich­keitsbezogenen Arbeit« mit den einzelnen Häftlingen371 – ein Eu­phe­mis­ mus angesichts des ziemlich grobschlächtigen Umgangs der Aufseher mit den Gefangenen. Mit dem neuen Strafvollzugsgesetz wurde die Stellung der Gefangenen formal ge­stärkt. »Dass 7 Pflichten 10 Rechten [im Gesetzestext] gegenüberstehen«, so ar­gumentierte der Staatssicherheitsdienst intern, »ist optisch gewollt«.372 Aus Rück­sichtnahme auf die westliche Öffentlichkeit orientierte sich das Gesetz in­ halt­lich an den Standard-Mindestregeln der Völkergemeinschaft für die Be­ hand­lung Strafgefangener von 1955.373 Das neue Gesetz »trägt diesen Min­dest­ re­geln unter bewusster Nutzung der Vorzüge der sozialistischen Ge­sell­schaft noch besser Rechnung und geht in wesentlichen Fragen über sie hi­naus«, be­ haup­tete die Gefängnisverwaltung.374 In der Haftwirklichkeit brachte das neue Strafvollzugsgesetz nach Auffassung der meisten Autoren »tatsächlich ge­wisse Erleichterungen«,375 nahmen die Gefangenen selbst doch gewisse Ver­bes­se­run­gen wahr.376 Insbesondere wurde der strenge Arrest abgeschafft und die Höchst­dauer einer Arreststrafe im erleichterten Vollzug auf 18 Tage begrenzt, wäh­rend es in der Praxis im allgemeinen Vollzug bei 21 Tagen blieb, und so etwa in BrandenburgGörden die Häftlinge weiterhin drei Wochen (und unter Um­stän­den sogar noch länger, siehe Kap. 3.3.7) im Arrest verbringen mussten.377 Die Frei­stun­de dauerte nun in der Regel tatsächlich eine volle Stunde, was bislang nicht gän­gige Praxis gewesen war,378 und musste zumindest zeitweise nicht länger im Gleich­schritt vollzogen werden.379 Jedoch herrschte dabei unverändert ein Sprech­ver­bot – 371  Bericht über die Arbeit des Organs Strafvollzug (Anlage Nr. 24 zum Protokoll Nr. 11/77 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 15.3.1977); BArch DY 30 J IV 2/2–1663, Bl. 379–394. 372  [Hauptabteilung IX]: Einführung in die neuen gesetzlichen Bestimmungen o. D. [1977]; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 13698, Bl. 58–124. 373  Vgl. Diskussionsbeitrag Gen. Rothe/Rechtsstelle [des Ministeriums für Staatssicherheit] auf Dienstkonferenz 28.4.1977; ebenda, Bl. 1–22. 374  Bericht über die Arbeit des Organs Strafvollzug (Anlage Nr. 24 zum Protokoll Nr. 11/77 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 15.3.1977); BArch DY 30 J IV 2/2–1663, Bl. 379–394. 375  Vgl. Müller: Haftbedingungen für politische Häftlinge, S. 7–129, hier 61. 376  Für Hoheneck vgl. etwa Thiemann: Wo sind die Toten von Hoheneck?, S. 201. 377  Vgl. Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz (SVWG) vom 12.1.1968 in der Fassung vom 19.12.1974. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern; Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestimmung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 378  Vgl. Müller: Haftbedingungen für politische Häftlinge, S. 7–129, hier 61. 379  Vgl. Aussage von Karl-Heinz Rutsch; abgedruckt in: Über Grenzen und Zeiten, S. 114.

298

Die Gefangenschaft

anders als bei der Arbeit oder in den Zellen.380 Deutlich verbesserte sich die Besuchsregelung – statt alle drei Monate für 30 Minuten konnten die Fa­mi­lien­ an­gehörigen nun im erleichterten Vollzug jeden Monat für eine Stunde mit den Häft­lingen sprechen, im allgemeinen Vollzug indes nur alle zwei Monate. Auch durf­ten viele Inhaftierte nun alle zehn Tage – statt einmal monatlich – einen Brief an ihre Angehörigen schreiben. Selbstverständlich blieb dabei die Zensur Jahr

Urlaub

Besuch außerhalb des Gefängnisses

geneh- in % migt aller SG

Nicht­ rückkehr abs.

in %

geneh- in % migt aller SG

vorzeitige Entlassungen

Nicht­ rückkehr abs.

in %

abs.

in %

1977

266

0,92

6

2,2

965

3,3

0

0,00

8 624

40,8

1978

703

2,24

4

0,5

2 645

8,4

0

0,00

6 069

34,8

1979

537

2,62

8

1,4

2 175

10,6

1

0,04

5 664

14,2

1980

244

0,68

2

0,8

1 127

3,1

0

0,00

2 856

19,5

1981

297

0,82

9

3,0

1 179

3,2

1

0,08

5 807

20,2

1982

284

0,80

0

0,0

1 150

3,2

0

0,00

5 926

18,5

1983

327

0,95

1

0,3

1 122

3,2

0

0,00

5 394

17,4

1984

316

0,96

1

0,3

1 237

3,7

0

0,00

5 073

16,3

1985

375

1,30

3

0,8

1 541

5,3

3

0,19

4 610

16,1

1986

350

1,24

0

0,0

1 405

5,0

1

0,07

3 977

15,4

Ø

370

1,19

3,4

0,9

1 455

4,6

0,6

0,04

5 403

18,2

Tab. 3: Urlaub, Besuche außerhalb des Gefängnisses und vorzeitige Entlassungen in der DDR (1977–1986)381

be­stehen, was häufig zu Verzögerungen oder gar zu Unterbrechungen der pos­tali­ schen Kontakte führte. Bei guter Führung konnte außerdem vierteljährlich der Er­halt eines Pakets gestattet werden, was bislang nur einmal jährlich möglich ge­we­sen war. Allerdings handelte es sich hierbei, ähnlich dem Briefempfang, um

380  Vgl. Koop: Karl-Heinz Rutsch, S. 137. 381  Der prozentual hohe Anteil vorzeitiger Haftentlassungen in den Jahren 1977 und 1978 ergibt sich aus der Beendigung des Freiheitsentzugs für die zu »Arbeitseinsatz« und zur »Einweisung in ein Jugendhaus« Verurteilten. Vgl. 1. Entwurf des Berichts [des Generalstaatsanwalts] über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug in der Deutschen Demokratischen Republik (mit Anlagen) o. D. [1987]; BArch DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 78–95; Anlage 8: Entwicklung bei der Anwendung besonderer Stimuli 1977–1986; BArch DO1/10101, o. Pag.

Die Strafvollzugspolitik

299

eine Kannbestimmung ohne Rechtsanspruch der Betroffenen.382 Und viele Ge­ fäng­nisleiter erklärten von vornherein, dass sie nicht über genügend Aufseher ver­fügten, um längere Freistunden, häufigere Besuche sowie zahlreichere Briefe zu überwachen.383 Zudem eröffnete das Strafvollzugsgesetz von 1977 die Möglichkeit eines Hafturlaubes.384 Dies war sehr selten bereits zu Beginn der Sechzigerjahre prak­ tiziert worden;385 eine Ausweitung dieser Regelung hatte die SED-Führung zwei Jahre zuvor noch abgelehnt, trotz Befürwortung durch Gefängnisverwaltung und Generalstaatsanwaltschaft. Von der jetzt eingeführten Regelung profitierten im Jahr 1978 in der gesamten DDR bereits mehr als 700 Gefangene, und mehr als 2 500 Mal wurden Besuche außerhalb der Gefängnismauern gestattet, wobei nur wenige Gefangene nicht zurückkehrten (siehe Tabelle 3).386 In BrandenburgGörden kamen im ersten Jahr jedoch nur acht Häftlinge in den Genuss von Ausgang oder Hafturlaub, weil die Gefangenen hier meist sehr hohe Strafen zu verbüßen hatten, was einer solchen Vergünstigung entgegenstand.387 In allen Gefängnissen profitierten auch eher die »fortschrittlichen« Häftlinge sowie die Kal­faktoren und Brigadiere als die politischen Gefangenen von den neuen Mög­ lichkeiten.388 Ferner verbesserte sich mit dem neuen Strafvollzugsgesetz auch die Verpflegung etwas und der Konsum von Musik, Fernsehen und Büchern wurde erleichtert. Allerdings wurde bereits Anfang 1978 ein Teil der Verbesserungen 382  Vgl. [Arbeitsmaterialien zur] 37. Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft 13. August am 8.7.1977; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 272/79, Bl. 1–17. 383  Abschrift des Berichts des IM »Günter Rabe« vom 29.4.1977; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 5, Bl. 162 f. 384  Vgl. Erklärung des IM »Schwarz« zum SVWG vom 20.4.1977; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 255/79, Bd. 2, Bl. 38. 385  So führte sich in Brandenburg-Görden ein Häftling angeblich so gut und leistete fachlich so gute Arbeit, dass er mit Sonderurlaub der Haftanstalt für zwei Tage verlassen durfte. Die vorgesehene Bewachung durch einen Aufseher war wohl nicht allzu streng, denn in dieser Zeit konnte er mit seiner Verlobten ein Kind zeugen. Vgl. Ermittlungsbericht der Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig vom 5.10.1965; BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP, Nr. 413/68, Bd. 4, Bl. 34–37. 386  Vgl. 1. Entwurf des Berichts [des Generalstaatsanwalts] über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug in der Deutschen Demokratischen Republik (mit Anlagen) o. D. [1987]; BArch DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 78–95. Auf Leitungsebene wurde indes behauptet, kein einziger Gefangener sei geflüchtet. Vgl. Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienstbesprechung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8 ZMA, Nr. 129/79, Bl. 11–73. Die Zahl von Beurlaubungen im bundesdeutschen Strafvollzug liegt etwa 1 000 Mal höher. Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 80. 387  Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129. 388  Vgl. Berichterstattung der VA II der StVE Brandenburg [über] Stimmungen und Meinungen zum StVG vom 25.5.1977; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 85/87, Bd. 1, Bl. 113.

300

Die Gefangenschaft

wieder rückgängig gemacht und das Essen war nun wieder so wenig genießbar wie vorher.389 Durch diese Lockerung der Haftbedingungen möglicherweise mit befördert, wuchs in dieser Phase die Neigung der Häftlinge zu Verweigerungs- und Protest­ handlungen. So legten beispielsweise immer mehr Gefangene die Arbeit nieder390 oder stellten Anträge auf Übersiedlung (siehe Kap. 3.4.2).391 Vermutlich auch weil sie es nun häufiger mit »aufsässigen« Gefangenen zu tun hatten, waren die Aufseher indes mit der Lockerung der Haftbedingungen nicht einverstanden, da sie ihre Autorität beeinträchtigt sahen und sich jetzt angeblich »Beleidigungen gefallen lassen« mussten.392 Einige vertraten die Auffassung, unter dem »humanen Charakter des Strafvollzugs im Sozialismus leidet die Disziplin«. Die Häftlinge würden den strengen Arrest als Strafe nicht mehr ernst nehmen, weil sie dort ge­ nau­so verpflegt würden wie die arbeitenden Insassen – »könnte da nicht wenigs­tens in der Qualität ein Unterschied gemacht werden?«, meinte ein Auf­seher.393 Auch einige seiner Kollegen hatten »noch keine volle Klarheit über das Grund­anliegen des Strafvollzugsgesetz«, wie die vorgesetzte Bezirksbehörde der Deutschen Volks­ polizei etwas kryptisch formulierte. Nach Meinung der Aufseher erhielten die Häftlinge jetzt »zu viele Rechte« und sie selbst könnten, statt zu strafen, »nur einen Bericht fertigen«. Bei einigen Insassen sei »Erziehungsarbeit zwecklos, die müssen ›Härte‹ spüren«.394 Den Aufsehern fiel es augenscheinlich schwer, die wenigen Rechte der Inhaftierten zu respektieren; die periodisch angeordneten Hafterleichterungen wurden auf diese Weise wohl immer wieder unterlaufen oder verzögert. Sogar die oberste Gefängnisverwaltung befürchtete, dass gerade ältere Aufseher das Grundanliegen des neuen Strafvollzugsgesetzes »nicht oder nicht sofort begreifen« würden.395 Auch die Staatssicherheit kritisierte, viele 389  Vgl. Abschrift [des Berichts eines zuvor entwichenen Häftlings] über Mängel und Miss­ stände in der StVE Brandenburg vom 2.4.1982; BStU, MfS, HA IX, Nr. 12060, Bl. 97–102. 390  Vgl. Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienstbesprechung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 129/79, Bl. 11–73; Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129. 391  Abschlussbericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zum Kontrollgruppen­einsatz der Politischen Abteilung in der StVE vom 14.4.1977; BLHA, Bez. Pdm. 404/15.2/184, Bl. 27–42. 392  Information des FIM »Schiffer« vom 10.8.1977; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 9, Bd. 2, Bl. 22 f. 393  Abschlussbericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zum Kontrollgruppen­ein ­satz der Politischen Abteilung in der StVE vom 14.4.1977; BLHA, Bez. Pdm. 404/15.2/184, Bl. 27–42. 394  Teilbericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zur Kontrolle im Rahmen des Brigadeeinsatzes der ZKG des Chefs in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 29.3.1978; ebenda, 7 S. 395  Abschrift des Berichts des IM »Günter Rabe« vom 29.4.1977; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 5, Bl. 162 f.

Die Strafvollzugspolitik

301

Aufseher in Brandenburg-Görden hätten das »politische Anliegen« der neuen Bestimmungen noch nicht richtig »verstanden«, denn es käme zu »Verletzungen von gesetzlichen Bestimmungen«, insbesondere die Unterbringung betreffend.396 Doch andere Aufseher versuchten in dieser Zeit tatsächlich, Disziplinarstrafen nicht über Gebühr zu verhängen und die Gefangenen einigermaßen gerecht zu behandeln.397 Aufgrund der gemeinsamen Unterbringung mit (Schwer)Kriminellen empfan­ den viele politische Häftlinge das »Klima« in Brandenburg-Görden als besonders rau, verglichen etwa mit Cottbus.398 Aufgrund seiner etwas besseren materiellen Ausstattung galt die Haftanstalt an der Havel jedoch zugleich auch als »Edelknast« bzw. »Knastparadies«.399 So befanden sich in den Zellen neben Toiletten oftmals auch Lichtschalter und Steckdosen, sodass die Insassen mit Tauchsiedern der Marke Eigenbau unerlaubterweise Tee kochen konnten. Allerdings waren meist nur die Zellen arbeitswilliger Häftlinge entsprechend ausgestattet, während man jenen, die – teilweise aus politischen Gründen – die Arbeit verweigerten, solche Annehmlichkeiten nicht gönnte.400 Auch eröffnete die enorme Größe der Haftanstalt an der Havel gerade in den unübersichtlichen Arbeitseinsatzbetrieben gewisse »Freiräume«, was die Häftlinge etwa zur Anfertigung von Miniaturradios nutzten (siehe Kap. 3.4.8). Auf die Einhaltung bestimmter Regeln (wie das Liegeverbot tagsüber) wurde seinerzeit in Brandenburg-Görden weniger geachtet als in anderen Haftanstalten,401 und im Jahre 1977 wurde das – bis dahin illegal betriebene – Skatspiel offiziell gestattet.402 Dies macht abermals deutlich, dass die Haftbedingungen von Gefängnis zu Gefängnis variierten und neue Anweisungen der Verwaltung Strafvollzug nicht überall konsequent umgesetzt wurden.

396  Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129. 397  Vgl. u. a. Erklärung des IM »Schwarz« o. D. [23.5.1978]; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 255/79, Bd. 2, Bl. 79 f. 398  So berichtete ein Häftling nach seiner Verlegung von Cottbus nach Brandenburg während eines »Sprechers«: »Er sagte mir, dass Brandenburg mit Cottbus überhaupt nicht zu vergleichen sei, denn in Cottbus war wenigstens ein bisschen Zusammenhalt und Solidarität untereinander, aber hier in Brandenburg seien so viele Krimis und jeder ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht.« Bericht des IMF »Klaus Schulz« vom 18.10.1978; BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP, Nr. 43/83. 399  Vgl. Schmidt: Leerjahre, S. 433, 439 u. 470. 400  Vgl. u. a. Hiller, Horst: Sturz in die Freiheit. Von Deutschland nach Deutschland. München 1986, S. 313 f. 401  Vgl. Koop: Karl-Heinz Rutsch, S. 110 f. 402  Vgl. Schmidt: Leerjahre, S. 433, 439 u. 470.

302

Die Gefangenschaft

3.2.10 Der Wandel der Haftbedingungen in den Achtzigerjahren In der Justizpolitik der DDR kam es 1979 mit dem 3. Strafrechtsergänzungsgesetz zu »innenpolitischen Verschärfungen«.403 Eine höhere Strafandrohung bei Flucht­ versuchen sowie eine umfassendere Ahndung von Kontaktaufnahmen mit dem Westen sollten die Regimegegner einschüchtern.404 Auch die Haftbedingungen wurden teilweise wieder härter; immer weniger Insassen wurde beispielsweise der kurzzeitige Aufenthalt außerhalb der Gefängnismauern gestattet (siehe Tabelle 3), wie sich auch in den Haftarbeitslagern der Haftalltag »zunehmend verschärfte«.405 Am Einspruch Honeckers scheiterte im Jahre 1983 auch der Plan, sozial und psychisch extrem auffällige Gefangene aus dem Strafvollzug auszugliedern und in gesonderten Einrichtungen unterzubringen; offenbar leitete den Generalsekretär dabei eine irrationale Angst vor einer Konzentration dieser Personen.406 Auch in der Haftanstalt an der Havel wurden jetzt strengere Saiten aufgezogen; so wurde etwa die Zusammenkunft der Häftlinge im Speisesaal unterbunden, um die Kommunikation zwischen den Insassen verschiedener Vollzugsabteilungen zu erschweren und den »Schwarzmarkt« einzuschränken. Auch Schwarztee und Kaffee(ersatz) zu den Mahlzeiten wurden jetzt rationiert, was die Preise für die gleichen illegal gehandelten Produkte in die Höhe trieb. Qualität und Quantität der Mahlzeiten ließen zu dieser Zeit offenbar ebenfalls nach.407 Eine Zäsur bedeutete die Ablösung von Gefängnisleiter Ackermann im Jahre 1982: Dieser hatte zwar in den Anfangsjahren despotisch über »seine« Haft­anstalt geherrscht (siehe Kap. 2.6.9). Zunehmend hatten die Insassen von seinem egozentrischen Leitungsstil aber auch profitiert – beispielsweise indem sie bestimmte Vergünstigungen erhielten, weil sie illegale Arbeitsaufträge korrupter Aufseher oder von Ackermann selbst ausführten.408 Und schon am Tag des ersten erfolgreichen sowjetischen Satellitenstarts hatte Ackerman in überschwänglicher Siegeszuversicht jedem Insassen eine Packung Zigaretten genehmigt.409 Einige Insas­sen bezeichneten Ackermann als »gerecht und kumpelhaft«, weil er sich bisweilen damit profilierte, allzu ungerechte Disziplinarmaßnahmen seiner Unter­ 403  Raschka, Johannes: Paragraphen für den Ausnahmezustand. Die Militarisierung der Strafgesetzgebung in der DDR. In: Ehlert, Hans; Rogg, Matthias (Hg.): Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven (Militärgeschichte der DDR, 8). Berlin 2004, S. 424. 404  Vgl. Passens: MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung, S. 112. 405  Sonntag: Arbeitslager in der DDR, S. 222. 406  Vgl. Windmüller: »Asoziale« in der DDR, S. 435 u. 443. 407  Vgl. Schmidt: Leerjahre, S. 489–500; Hiller: Sturz in die Freiheit, S. 278. 408  Ein Häftling beispielsweise, der einmal eine antike Standuhr Ackermanns hatte reparieren können, durfte in der Folgezeit ungestört Uhren anfertigen, obwohl dies eigentlich illegal war. Vgl. Befragungsprotokoll eines ehemaligen Insassen der Haftanstalt Brandenburg vom 27.6.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 27–37. 409  Vgl. Juretzko: Die Nacht begann am Morgen, S. 278.

Die Strafvollzugspolitik

303

ge­benen umzustoßen. In solchen Fällen kassierte er mitunter sogar Applaus der Gefangenen auf offener Szene. Von Ackermann »schwärmte [...] ein Großteil der Häftlinge [...] wie hörige Bauern von ihrem Feudalherren«.410 Damit verklärten die Insassen allerdings die Rolle ihres Gefängnisleiters, denn dieser selbst war schließlich für die zahlreichen Missstände in Brandenburg-Görden letztlich verantwortlich. Unter seinem Nachfolger Harry Papenfuß ging den Häftlingen ein Teil dieses Freiraums verloren. Der neue Chef galt ohnehin als Befürworter einer här­ teren Gangart gegenüber den Insassen und kritisierte bei Gelegenheit sogar den vorgesetzten Leiter der Verwaltung Strafvollzug als »Vertreter ›unbedingter Humanität‹«.411 Daher war er »bei den Gefangenen verhasst«, die sich für »jedes kleine Vergehen hart [...] bestraft« sahen.412 Den Teeverkauf in BrandenburgGörden liberalisierte er zwar wieder,413 doch stellte dies nicht wirklich ein Ent­ gegen­kommen dar, sondern sollte den Spekulationsgeschäften der Häftlinge mit diesem Produkt entgegenwirken.414 Außerdem sei insgesamt, so monierten die Betroffenen, das Essen unter seiner Regie noch schlechter geworden, was sie damit quittierten, dass sie ihre Arbeitsleistung drosselten.415 Dass sich das innere Regime seinerzeit verschärfte, ist teils auch auf den Einfluss der Staats­ sicherheit zurückzuführen, die Papenfuß als inoffiziellen Mitarbeiter führte und ihn beispielsweise dazu veranlasste, die angeblich nachlässig gewordene Durch­suchungsgruppe neu zu formieren. Die Geheimpolizei unterstützte auch die Bemü­hungen der Gefängnisleitung, die illegalen Arbeitsaufträge der Auf­ seher an die Insassen einzuschränken. In eigener Regie wollte die Geheimpolizei jetzt ferner dafür sorgen, dass alle Besuche von Familienangehörigen bei den Häft­lingen gleichzeitig abgehört werden konnten.416 Letztlich habe sich in den Haftbedingungen, so schrieb ein Gefangener im Jahre 1984, »nicht viel geän­ dert. Im Gegenteil.«417 Obwohl unter Papenfuß besondere Vorfälle nicht mehr unter den Teppich gekehrt, sondern weisungsgemäß »nach oben« gemeldet wur­ 410  Schmidt: Leerjahre, S. 512 f. 411  Information der Operativgruppe der Abteilung VII zur Errichtung einer Sonderstation in der StVE Brandenburg vom 21.8.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 192. 412  Vgl. Befragungsprotokoll eines ehemaligen Insassen der Haftanstalt Brandenburg vom 27.6.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 27–37. 413  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 356, Bd. 2, Bl. 306. 414  Bericht der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam vom 18.9.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. 272, Bl. 52–64. 415  Vgl. Befragungsprotokoll eines ehemaligen Insassen der Haftanstalt Brandenburg vom 27.6.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 27–37. 416  Bericht der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam über die Ergebnisse der Prüfung der Um- und Durchsetzung durch die HA VII und BV Potsdam festgelegter Maßnahmen zur Überwindung festgestellter Mängel und Schwächen in der StVE Brandenburg vom 18.9.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. 272, Bl. 52–64. 417  Vgl. Kassiber vom 16.3.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 240, Bd. 1, Bl. 226 f.

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den,418 registrierte die Gefängnisleitung jetzt deutlich weniger Hungerstreiks und Arbeitsniederlegungen, möglicherweise auch durch die härtere Linie des neuen Gefängnisleiters bedingt.419 Gravierende Zwischenfälle blieben stets ein Grund bzw. ein willkommener Anlass zur Verschärfung der Regimes. Dies zeigen Planungen zum Ausbau der sogenannten Sonderstation in der Haftanstalt Brandenburg-Görden im Jahre 1985, nachdem ein Insasse angeblich mithilfe eines Schussgerätes hatte ausbrechen wollen (siehe Kap. 3.4.6). In der Folge wollte man nun die »renitenten« Gefangenen in dieser Sonderstation konzentrieren, sie dort besonders strenger Isolationshaft unterwerfen und ihnen jegliche Möglichkeit zur Flucht nehmen. »In diesem Bereich werden auf der Grundlage der geltenden gesetzlichen Bestimmungen nur die Rechte gewährt, die an der unteren Grenze des Zulässigen liegen«, wie es in den Planungsunterlagen hieß und was nichts Gutes für die Betroffenen erwarten ließ. Die Insassen sollten hier auch ausschließlich Zellenarbeit verrichten, was in Branden­burg-Görden unüblich war, sowie die Freistunde alleine verbringen, also voll­kommen isoliert werden. »Ein Verlassen dieses Bereiches wäre im Prinzip be­reits eine Auszeichnung« und sollte einzig und allein bei einem medizinischen Notfall mög­lich sein,420 was Versuche der Selbstbeschädigung oder gar des Suizids auslösen konnte. Obwohl die Staatssicherheit das Vorhaben befürwortete, scheiterte es zu­ nächst, weil Papenfuß es nicht vorbehaltlos unterstützte, die Haftanstalt Bautzen bereits über entsprechenden Haftraum verfügte und Brandenburg-Görden auch ohne zusätzliche Vorkehrungen als außerordentlich sicher galt.421 Im Folgejahr wurde der Umbau einer offenbar ähnlich konzipierten Sonder­ station dann doch in Angriff genommen. Seinerzeit war die Gesamtbelegung mit rund 2 500 Insassen etwas geringer, sodass ein gewisser Spielraum zum Umbau eines Zellentraktes bestand. Denn die Sonderstation hätte auf gleicher Grundfläche weniger Häftlinge als andere Zellentrakte aufnehmen können. Der 418  »Die letzten Vorkommnisse in der StVE Brandenburg wurden im Gegensatz zur Amtszeit des Gen. Ackermann bis zum MdI gemeldet. Im Einzelnen werden bereits Stimmen [unter Aufsehern] laut, dass zur Amtszeit des Gen. Oberst Ackermann weniger Vorkommnisse in der StVE Brandenburg vorhanden waren.« Indes wusste auch die Staatssicherheit, dass in Wirklichkeit von einem Anstieg besonderer Vorfälle nicht die Rede sein konnte, sondern es nur eine Veränderung in der Art und Weise der Berichterstattung gab. Vgl. Monatsbericht der Abteilung VII/5 [der Bezirksverwaltung Potsdam] von Juni 1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 3, Bl. 573–575. 419  So ereigneten sich 1983 (1.–3. Quartal) vier Hungerstreiks und 67 Streiks, während es im Vorjahr elf bzw. 155 und im Jahr 1981 sogar 24 bzw. 289 Ereignisse dieser Art gewesen waren. Vgl. Vorlage zur Leitungssitzung in der Abteilung vom 10.10.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 1–10. 420  Abteilung 8 der Hauptabteilung VII: Bericht über die vorbeugende Verhinderung eines schweren Vorkommnisses in der StVE Brandenburg vom 4.2.1985; BStU, MfS, Arbeitsbereich Neiber, Nr. 635, Bl. 123–131. 421  Vgl. Operativgruppe der Abteilung VII: Allgemeine Probleme der Erhöhung der Ordnung vom 3.10.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 105.

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Leiter der Verwaltung Strafvollzug, Wilfried Lustik, wies zur Vorbereitung des Projekts zunächst Papenfuß mündlich an, eine Gruppe besonders zuverlässiger Aufseher speziell für den Dienst in der Sonderstation auszuwählen. Da jedoch auch bauliche Veränderungen vorgenommen werden mussten (deren genaue Natur den Akten nicht zu entnehmen ist), wollte Papenfuß sich absichern und bat um ausdrückliche Genehmigung des Projekts durch den Innenminister oder dessen Stellvertreter. Denn die Häftlinge müssten in der Sonderstation »am Rande des Minimums der Gerechte [Rechte] gehalten werden und dazu reicht«, wie Papenfuß kritisch vermerkte, »eine mündliche Genehmigung« nicht aus. Durch freigekaufte Insassen werde die Sonderstation auch im Westen publik, und den zu erwartenden »politischen Kampagnen« müsse man »dann auch standhalten«. Vermutlich aus Sorge um genau diese Folgen mochte die Ministeriumsspitze des Innern eine entsprechende Weisung jedoch nicht erteilen. Die Staatssicherheit »orientierte« ihren inoffiziellen Mitarbeiter Papenfuß dann dahingehend, er möge im Folgejahr erneut um eine schriftliche Weisung ersuchen, doch befürchtete der Gefängnisleiter, dass Lustik »sich hier um eine konkrete Festlegung drücken möchte«.422 Auch in den Dienstbesprechungen der obersten Gefängnisverwaltung warnte Lustik vor »Ungesetzlichkeiten« und »Willkürmaßnahmen«, befürwortete aber zugleich ein »schroffes Regime«, das die Gefangenen schon zur Einhaltung von Ordnung und Disziplin erziehen würde. Jeder Verstoß hiergegen müsse »geahndet werden – kein ›humanitäres‹ Gefas[e]le.«423 Ende 1986 wies die oberste Gefängnisverwaltung wiederum eine geringfügige Lockerung der Haftbedingungen an; wahrscheinlich war die SED-Führung in Anbetracht des geplanten Besuches von Erich Honecker in der Bundesrepublik um Gesten des guten Willens bemüht. So verfügte Lustik auf einer Dienst­ konferenz, dass die Gefangenen etwas besser zu versorgen wie auch ihre Einkaufs­ möglichkeiten zu erweitern seien. Außerdem gelte es, alle dreistöckigen Betten zu demontieren. Grundsätzlich, so führte der Leiter der Verwaltung Strafvollzug des Weiteren aus, sollten die Aufseher von der Resozialisierbarkeit der »Straftäter« aus­gehen und nicht vom »hoffnungslosen Fall«. Entgegen dieser weicheren Linie pries Lustik aber zugleich eine neu entwickelte »Sicherungszelle« an. Die bei Außen­arbeitseinsätzen der Haftanstalt Schwarze Pumpe verwendete Zelle be­ stand allseits aus Gittern, zwischen denen nur Platz zum Stehen war, und sollte offenkundig zur Disziplinierung dienen. Da die mobile Zelle aus allen Rich­ tungen und auch für die Mitarbeiter der Arbeitseinsatzbetriebe einsehbar war, glich sie einem mittelalterlichen Pranger. Obwohl die Haftanstalt an der Havel nicht gerade im besten Ruf stand, kamen sogar ihre leitenden Mitarbeiter bei 422  Information der Operativgruppe der Abteilung VII zur Errichtung einer Sonderstation in der StVE Brandenburg vom 21.8.1986; ebenda, Bl. 192. 423  [Protokoll der] Dienstbesprechung mit dem Leiter VSV vom 13.3.1986; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1748, Bl. 20–25.

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der Inaugenscheinnahme der Stehzelle zu dem Schluss, dass diese »nichts mit humanitärer Behandlung der SG zu tun hat und Angriffen gegen den Strafvollzug Wasser auf die Mühle des Feindes gibt«.424 Im Folgejahr 1987 wurde die Todesstrafe formal abgeschafft,425 die schon seit 1981 nicht mehr vollzogen worden war, und eine umfassende Amnestie verkündet (siehe Kap. 4.1.18). Die geringere Belegung konnte die Spannungen zwischen den verbleibenden Inhaftierten mildern, und in den neu zusammengewürfelten Arbeitskommandos mussten sich erst neue soziale Strukturen etablieren. Die Aufseher hatten jetzt mehr Zeit für eine strengere Zensur der Post, aber auch für längere Gespräche mit den Familienangehörigen der Inhaftierten, was der Erziehung der Gefangenen ebenfalls dienlich sein sollte.426 Denn das Polit­ büro verlangte im gleichen Jahr wieder einmal, das Strafvollzugsgesetz »mit höherer gesellschaftlicher Wirksamkeit und Komplexität« durchzusetzen.427 So wurde Dickel beauftragt, »die gegenwärtigen Regelungen in Bezug auf die Relationen Erzieher – Strafgefangenen zu überprüfen«, was wohl auf eine Milde­ rung des strengen Regimes zielte.428 Die oberste Gefängnisverwaltung wies jedenfalls (erneut) an, die »sozialistische Gesetzlichkeit« streng einzuhalten, den Gefangenen (sowie deren Familienangehörigen) höflicher zu begegnen und sie nicht von vornherein als »Feinde« abzustempeln.429 Entsprechend der neuen Linie befahl Lustik bei einem Kontrolleinsatz im Februar 1987, verschlissene Decken, Bettbezüge und Kleidungsstücke in Brandenburg-Görden auszubessern sowie die Zellen für Bundesbürger in der Untersuchungshaftanstalt Potsdam binnen Jahresfrist zu renovieren.430 Ebenfalls mit einem Blick auf die westliche Öffentlichkeit thematisierte der Chef der ostdeutschen Gefängnisverwaltung

424  Information der Abteilung VII/OPG über die Dienstkonferenz beim Leiter der VSV in der Schwarzen Pumpe vom 19.12.1986; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 131/89, Bl. 92 f. 425  Vgl. Beschluss des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 17.7.1987; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 7862, Bl. 37; Protokoll Nr. 28 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 14.7.1987; BArch DY 30 J IV 2/2–2230. 426  Vgl. Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 1. Halbjahr 1988 vom 13.7.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 427  Bericht des Generalstaatsanwalts der Deutschen Demokratischen Republik und des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug o. D. [1987]; BArch DY 30 J IV 2/2–2233; Vorlage für das Politbüro des ZK betreff Verwirklichung des Gesetzes über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug (Strafvollzugsgesetz) vom 28.7.1987; BArch DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 130–134. 428  Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 31 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 4.8.1987; BArch DY 30 J IV 2/2–2233. 429  Niederschrift der Dienstbesprechung des Leiters der VSV vom 22.6.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/1724; zit. nach: Ansorg: Brandenburg, S. 297. 430  Vgl. Protokoll über die mündliche Auswertung des Komplexeinsatzes der Verwaltung Strafvollzug im Bezirk Potsdam vom 23.2.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1223, Bl. 39–41.

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auf einer Dienstkonferenz im gleichen Jahr die Gewalt unter Häftlingen (siehe Kap. 3.4.10) und forderte das rasche Einschreiten der Aufseher. Ich unterstreiche noch einmal die politische Tragweite solcher Misshandlungen Strafgefangener bzw. auch Verhafteter untereinander, die immer wieder die Frage aufwerfen, wieso so etwas unter staatlicher Aufsicht, unter den Augen unserer SV-Angehörigen geschehen kann. Diese Fragen sind schon an sich für uns peinlich, weil wir als Schutzund Sicherheitsorgan entsprechend dem StVG bzw. der UHVO für das Leben und die Gesundheit der Strafgefangenen und Verhafteten eine besondere Verantwortung tragen. Sie sind aber von besonderer Auswirkung, wenn sie vom Klassengegner ebenso wie schwere Arbeitsunfälle und Suizide zur Diskriminierung unserer Arbeit und zur Verleumdung der Staats- und Rechtsordnung der DDR genutzt werden können.431

Ebenso wie bei der Planung einer Sonderstation in Brandenburg-Görden war die oberste Gefängnisverwaltung zunehmend politisch sensibilisiert, was wohl aus wachsender Rücksichtnahme auf das Erscheinungsbild des DDR-Strafvollzugs im Westen (und weniger aus später Einsicht) resultierte. Was die erwähnten Übergriffe von Gefangenen untereinander betrifft, fehlten den Aufsehern in der Praxis oft der Wille und die Fähigkeit zum wirkungsvollen Einschreiten. Anfang 1989 plante die ostdeutsche Gefängnisverwaltung in der Haftanstalt an der Havel ein »Vorzeigeobjekt für eventuelle Besichtigungen im Rahmen der UNO-Menschenrechtskommissionen« zu schaffen. Zu diesem Zweck sollte die Vollzugsabteilung II baulich verändert, geringer belegt und ansprechender her­ gerichtet werden – ganz im Gegensatz also zu der zuletzt geplanten Sonderstation. Der Bau dieses Potemkinschen Dorfes hätte allerdings bedeutet, dass die Belegung der übrigen Zellentrakte überdurchschnittlich hoch ausgefallen wäre und die vorgeschriebene Mindestfläche von 3,8 qm pro Häftling erst recht nicht mehr hätte eingehalten werden können. Außerdem hätte sich so die »Normalkapazität« der Haftanstalt von 1 934 auf 1 646 Plätze verringert. Die Gefängnisleitung von Brandenburg-Görden empfand es daher als Zumutung, dass die oberste Strafvollzugsleitung nach der Amnestie von 1987 einen »humaneren« Strafvollzug erwarte, die Produktionsnormen jedoch nicht senke und – trotz Kürzung der Investitionsmittel – auf baulichen Verbesserungen beharre. Papenfuß wollte lieber die Kapazität reduzieren und vermutete zu Recht, die oberste Gefängnisverwaltung in Ostberlin habe eine erneute Überbelegung der anderen Gefängnistrakte ins­ geheim bereits einkalkuliert. Damit werde aber, so argumentierte er weiter, die Nicht­einhaltung der Mindestgrundfläche zur Regel. Schließlich einigte man sich darauf, dass die Höchstgrenze der Belegung weiterhin bei 2 100 Insassen liege, was als »operative Kapazität« bezeichnet wurde. Dreistöckige Betten und das Über­ schreiten der m²-Norm könnten allerdings »gegenwärtig aufgrund ökono­mischer 431  Referat des Leiters der Verwaltung Strafvollzug zur Dienstbesprechung am 5.8.1987; BStU, MfS, HA VII, Nr. 898, Bl. 1–31.

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Zwänge nicht ausgeschlossen werden«.432 Im Zweifelsfall waren also öko­no­mische Interessen wichtiger als eine bessere Unterbringung der Gefangenen, selbst wenn die Rücksichtnahme auf die Weltöffentlichkeit eigentlich etwas ande­res nahe­legte. Zugleich wuchsen die Anforderungen an Ordnung und Sauberkeit – so wollte Lustik den Insassen beispielsweise das Bügeln ihrer Kleidung auferlegen433 – was aus Sicherheitsgründen eigentlich kaum praktikabel war. Auf Harry Papenfuß folgte Anfang 1988 Udo Jahn als Gefängnisleiter Bran­ den­burg-Gördens (siehe Kap. 2.1.1 und 5.3.3). Trotz der ebenfalls bestehenden inoffi­ziellen Verbindung zum Ministerium für Staatssicherheit galt er, verglichen mit seinem Vorgänger, als Befürworter einer »weicheren« Linie. So ließ er einen Son­der­besuchsraum (für längere Treffen mit Familienangehörigen) sowie einen geson­derten Wiedereingliederungsbereich (für kurz vor der Entlassung stehende Gefan­gene) einrichten.434 Außerdem sagte man ihm nach, dass er sich bei »Erzie­ hungs­gesprächen« von einzelnen Häftlingen beeinflussen ließ und danach Ent­ schei­dungen der unmittelbar zuständigen Erzieher revidierte.435 Ein Gefangener em­p­fand Jahn im Vergleich mit den Aufsehern sogar als »freundlich und höflich«.436 In Anbetracht der hohen Rückfallquoten im DDR-Strafvollzug entwickelte er außer­dem eine Konzeption zur Wiedereingliederung von »Langstrafern«, bei der die Interessen der Betroffenen stärker berücksichtigt werden sollten – was einem modernen, offenen Vollzug westlicher Art für Entlassungskandidaten nahe­ge­ kommen wäre.437 Deswegen ist auch seine rückblickende Selbsteinschätzung nicht ganz falsch, dass er um »Reformierung und Humanisierung« des Strafvollzugs be­müht gewesen sei.438 Auch der letzte katholische Gefängnisseelsorger Johannes Drews registrierte bei Jahn »Träume von einem menschlichen Strafvollzug«,439 die er unter den gegebenen Bedingungen allerdings kaum umsetzen konnte. Zu einer deutlichen Milderung der Haftbedingungen trug auch bei, dass im September 432  Vgl. Information der OPG der Abteilung VII [in der StVE Brandenburg] über Vorstellungen der Perspektive der StVE Brandenburg vom 6.1.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 151; Schreiben der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII an den Leiter der Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam vom 16.2.1989; ebenda, Bl. 154 f. 433  Information der Abteilung VII/OPG über die Dienstkonferenz beim Leiter der VSV in der Schwarzen Pumpe vom 19.12.1986; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 131/89, Bl. 92 f. 434 Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen Gefängnisleiter Udo Jahn am 1.3.2016 in Brandenburg, 4 S. 435  Vgl. Abteilung VII [der BV Potsdam]/OPG: Information zum Gen. OSL des SV Jahn, Udo vom 20.11.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 297, Bd. 2, Bl. 118 f. 436  Interview mit dem Häftling Karl-Heinz Lange. In: Heyme; Schumann: Knast in der DDR, S. 186–192, hier 192. 437  Vgl. Stellv. für Vollzug der StVE Brandenburg: Erste konzeptionelle Gedanken zur Erhö­ hung der Wirksamkeit der Vorbereitung und Durchführungsmaßnahmen der Wiedereingliederung vom 9.12.1987; BStU, MfS, HA VII, Nr. 911, S 408–419. 438  Jahn: Interview, S. 238–245. 439  Vgl. Aktennotiz von Johannes Drews zur Entlastung des Anstaltsleiters vom 18.7.1991; Privatarchiv Drews.

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1988 die Sonderhaftbedingungen für Skinheads in der gesamten DDR aufgehoben wurden; allerdings gaben hierbei operative Interessen der Staatssicherheit den Ausschlag (siehe Kap. 5.4.3.3).440 Aufgrund zahlloser Verhaftungen von Demonstranten in der Anfangsphase der friedlichen Revolution von 1989 waren viele Untersuchungshaftanstalten bald völlig überfüllt. In Dresden etwa wurden normalerweise nicht mehr als 250 Personen aufgenommen, doch am 20. September saßen hier 572 Häftlinge ein, die teilweise auf Luftmatratzen schlafen mussten.441 Auch die Haftanstalten Bautzen I sowie Berlin-Rummelsburg waren (anders als Brandenburg-Görden) von den Verhaftungen betroffen, entsprechend den geographischen Schwerpunkten gewaltsam aufgelöster Demonstrationen. Zwischen dem 7. und 12. Oktober wurden Teile von Bautzen I und Berlin-Rummelsburg als »Zuführungspunkte« für Verhaftete genutzt; bei dramatischer Überbelegung kam es zu zahlreichen Über­ griffen durch überforderte Aufseher, bis die meisten Gefangenen am 12. Oktober wieder entlassen wurden.442 Entsprechend dem raschen Wandel der politischen Verhältnisse eröffneten sich im Strafvollzug bald Freiräume. Unter dem Druck streikender Häftlinge (siehe Kap. 3.4.11) sowie angesichts der Forderungen von Öffentlichkeit und Kirchen­vertretern trafen viele Gefängnisleiter Regelungen, die wesentlich groß­ zügiger waren als die Strafvollzugsordnung es eigentlich gestattete – auch ohne Rückendeckung »von oben«.443 So setzte Jahn bereits Ende November Erleichte­ rungen in Kraft, ohne dies mit der obersten Gefängnisverwaltung abzusprechen.444 Allen Insassen wurde jetzt ein Sonderpaket von zehn Kilogramm Gewicht zu­ gestanden, Familienangehörige durften bei ihren Besuchen von nun an auch Obst überreichen, was bis dahin nur bei bundesdeutschen Häftlingen gestattet war, und es wurden jetzt Trainingsanzüge toleriert. Radios in den Zellen wurden offiziell erlaubt, und am 27. November wurde der Fernsehempfang von ARD, ZDF und Sat.1 genehmigt. Jahn musste nun auch versprechen, zukünftig vierzehntägig eine Delegation von Häftlingen zu empfangen sowie wöchentlich eine Sprechstunde ab­zu­halten, bei der die Insassen ihre individuellen Probleme zur Sprache bringen konnten.445 Aus Sicht der Verantwortlichen war die Lage im gesamten ostdeut­ schen Straf­vollzug jetzt »sehr ernst«. Um eine Massenrevolte zu verhindern, beschloss die oberste Gefängnisverwaltung in Windeseile weitere Erleichterungen. 440  Vgl. Information der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über die Ergebnisse der durch­ geführten Untersuchungen vom 9.11.1988; BStU, MfS, HA VII, Nr. 2738, S, 79–87. 441  Information der KD Dresden über die gegenwärtige Lage in der UHA des VPKA Dresden vom 20.9.1989; BStU, MfS, BV Dresden, Abt. VII, Nr. 7380, Bl. 324 f. 442  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 158–162. 443  Vgl. ebenda, S. 237–239 u. 310. 444  Vgl. ebenda, S. 186. 445  Vgl. u. a. Informationsblatt Nr. 1 des Leiters der StVE Brandenburg o. D. [Ende 11/1989]; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 826, Bl. 12.

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Anfang Dezember 1989 wurde der Arrest abgeschafft und Fesselung nur mehr »im Notfall« zugelassen.446 Die Gefangenen wurden jetzt auch erstmalig mit »Herr« statt mit »Strafgefangener« angesprochen. Zu ihrer Verpflegung durften nun 3,50 statt der bisherigen 2,49 Mark ausgegeben werden.447 Auch konnten nun quantitativ unbegrenzt und inhaltlich weniger stark zensierte Briefe empfangen werden.448 Weil ihnen diese Veränderungen nicht weit genug gingen und sie vor allem auf eine Überprüfung ihrer Urteile drängten, verweigerten ab 30. November Hunderte Gefangene die Arbeit (siehe Kap. 3.4.11). Bei einer Pressekonferenz in Brandenburg-Görden am 5. Dezember 1989 versuchte Gefängnisleiter Jahn Boden gutzumachen, indem er jegliche Beschränkungen für die seelsorgerische Tätigkeit aufhob.449 Bei dieser Veranstaltung war auch Lustik zugegen und behauptete, das Strafvollzugsgesetz von 1977 habe sich als »gut« erwiesen. Es werde alles getan, um einen menschenwürdigen Strafvollzug zu garantieren.450 Von vielen Seiten wurde jetzt eine Unterstellung des Strafvollzugs unter die Justiz gefordert, doch war diese gar nicht darauf erpicht – weswegen es bis zur Wiedervereinigung nicht zu einer Verlagerung der Zuständigkeiten kam.451 Unter dem Druck der öffentlichen Meinung geriet die Gefängnisverwaltung zu Beginn des Jahres 1990 völlig in die Defensive und traute sich kaum noch, Forderungen der Bürger­ initiativen nach Liberalisierung der Haftbedingungen zu widersprechen.452 Die unübersichtliche Lage und die Verunsicherung der Aufseher trugen dazu bei, dass den noch nicht amnestierten Häftlingen (siehe Kap. 4.1.20) teilweise mehr Freiräume gewährt wurden als den Insassen bundesdeutscher Haftanstalten. So wurden jetzt kleinere Haustiere in den Zellen geduldet und selbst Insassen mit lebenslänglichen Freiheitsstrafen erhielten anstandslos Ausgang.453 Sogenannte freiwillige Mitarbeiter, also ehrenamtliche Kräfte, die einzelnen Häftlingen als Ansprechpartner zur Verfügung stehen sollten, wurden im Juni zugelassen.454 Am 1. Juli 1990 schließlich wurde eine Änderung der Strafvollzugsordnung beschlossen, die sich bereits an der absehbaren Übernahme des bundesdeutschen 446  Handschriftliche Aufzeichnungen eines leitenden Mitarbeiters der Haftanstalt Brandenburg vom 30.11. und 7.12.1989; ebenda, Bl. 13–16. 447  Vgl. Handschriftliche Mitschrift der Pressekonferenz in der StVE Brandenburg o. D. [ca. 6.12.1989]; Privatarchiv Drews. 448  Handschriftliche Aufzeichnungen eines leitenden Mitarbeiters der Haftanstalt Brandenburg vom 30.11. und 7.12.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 826, Bl. 13–16. 449  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 184 u. 190. 450  Vgl. Handschriftliche Mitschrift der Pressekonferenz in der StVE Brandenburg o. D. [ca. 6.12.1989]; Privatarchiv Drews. 451  Vgl. Schmalfuß: 30 Jahre im Ministerium des Innern, S. 136. 452  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 274. 453  Vgl. Unsere Zeitung Nr. 11/2000, S. 22. 454  Vgl. Vorläufige Festlegung des Leiters der StVE Brandenburg zur Einbeziehung gesell­ schaftlicher Kräfte vom 18.6.1990; Privatarchiv Drews.

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Abb. 11: Dreistockbetten in den Zellen, 1989/90

Straf­voll­zugsgesetzes orientierte.455 In der Praxis bedeutete dies weiterhin keine Beschränkungen im Briefverkehr, monatlichen Besuchsempfang in allen Voll­ zugsarten und das Recht auf eigene Rundfunk- und Fernsehgeräte;456 Jahn informierte die Gefangenen nun persönlich über die neuen Bestimmungen.457 Ange­sichts völlig gewandelter Rahmenbedingungen nach der friedlichen Revo­ lution hatten die Häftlinge somit Verbesserungen erwirken können, die das SED-Regime ihnen über Jahrzehnte nicht hatte zugestehen wollen. Manche Sonderrechte wurden allerdings wieder abgeschafft, als die Haftbedingungen endgültig dem bundesdeutschen Strafvollzugsrecht angeglichen wurden.458

455  Vgl. Berckhauer, Friedhelm: Aufbau eines rechtsstaatlichen Justizvollzuges in den neuen Bundesländern. Eindrücke und Erfahrungen. In: Kriminalpädagogische Praxis 19 (1991) 32, S. 15–17. 456  Vgl. 1. Durchführungsbestimmung zum Strafvollzugsgesetz vom 3.7.1990; GBl. der DDR Nr. 55 vom 27.8.1990, S. 1241–1251. Siehe auch Borchert, Jens: Revolution im Gefängnis. Die Wende 1989/90 in den sächsischen Strafvollzugseinrichtungen. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe (2003) 2, S. 94–105, hier 102. 457  Vgl. Wagner, Georg: Die »Unwirklichkeit« in der real existierenden Haftanstalt. In: Süddeutsche Zeitung vom 11./12.8.1990, S. 10. 458  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 198 u. 209.

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Abb. 12: Gefangener am Zellenfenster, 1990

3.3 Die Haftbedingungen im Einzelnen 3.3.1 Besuchsregelung Inwieweit die Häftlinge ihre Familienangehörigen zu sogenannten »Sprechern« empfangen durften, war im Osten Deutschlands Ende der Vierzigerjahre noch sehr unterschiedlich geregelt. So durften die nach Befehl 201 Verhafteten in den Polizeihaftanstalten zunächst nur in seltenen Ausnahmefällen für lediglich 15 Minuten Besuch erhalten.459 Die auf der gleichen Rechtsgrundlage bereits verurteilten Insassen der Justizhaftanstalt Brandenburg-Görden indes konnten alle vier Wochen ihre Angehörigen sprechen.460 Die großzügigere Regelung resultierte aus dem reformorientierten Strafvollzugskonzept der Justiz – und fand ein abruptes Ende, als die Volkspolizei im Juli 1950 die Haftanstalt übernahm. Den aus sowjetischen Speziallagern übernommenen Insassen erging es nicht besser; die neuen 459  Vgl. Sonderanweisung zur Polizeihaftanstaltsordnung – gilt nur für den Personenkreis, der in Ausführung des Befehls 201 der SMAD festgenommen ist o. D. [Ende 1947]; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, Bl. 7 f. 460  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 23.12.1949; BArch B 289/VA 171/22–2.

Die Haftbedingungen im Einzelnen

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Hausherren verweigerten ihnen zunächst »jeglichen Besuchsempfang«.461 Sie durften ihre Angehörigen nur sehen, wenn die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) ausdrücklich zustimmte. Ab Oktober 1950 durfte die Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei solche Genehmigungen selbst erteilen, doch wollte die sowjetische Seite nachträglich darüber unterrichtet werden und behielt sich ein eigenes Urteil vor.462 So blieb die Praxis restriktiv, wenngleich die oberste Polizeibehörde Ostdeutschlands im Februar 1953 Karlshorst darum bat, jenen SMT-Verurteilten großzügigere Besuchsrechte einzuräumen, die zum Tatzeitpunkt jünger als 21 Jahre gewesen waren.463 Sie (wie auch die in den Waldheimer Prozessen Verurteilten) durften zudem keine Familienangehörigen aus Westberlin oder der Bundesrepublik sehen.464 Manche Häftlinge blieben so über Jahre hinweg gänzlich ohne Kontakt zu ihren Familien.465 Nachdem die sowjetische Seite »grünes Licht« gegeben hatte, wurden den ehemaligen Insassen der Speziallager im September 1953 schließlich die gleichen Möglichkeiten zum Empfang von Besuch eingeräumt wie den übrigen Häftlingen.466 Ohne persönlichen Kontakt zu ihren Familien blieben weiterhin diejenigen, die wegen »Spionage und Sabotage« verurteilt worden waren.467 Die besonders prominenten unter ihnen litten unter extremen Einschränkungen – so hatte beispielsweise der Vater Willi Brunderts nach mehr als zweijähriger Haft seines Sohnes immer noch nicht erfahren, in welcher Haftanstalt sich dieser befand,468 womit dessen Besuchsrecht gleichsam gegenstandslos war. Bei Häftlingen wie Max Fechner und Bruno Goldhammer, gegen die der Staatssicherheitsdienst ermittelt hatte, reiste zur Überwachung der Sprechstunde sogar eigens ein Mitarbeiter 461  Vgl. Niederschrift über die Dienstbesprechung [in der Haftanstalt Brandenburg] vom 9.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 45 f. 462  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung HS betr. Besprechung bei Oberstleutnant Wlassow vom 13.10.1950; BArch DO1 11/1577, Bl. 1 f. 463  Vgl. Schreiben des Generalinspekteurs der VP Maron an den Chef der Präsidialkanzlei des Präsidenten der DDR, Staatssekretär Winzer, vom 18.2.1953; BArch DO1 11/1577, Bl. 11. 464  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung SV vom 25.3.1953; BArch DO1 32/39821. 465  Vgl. u. a. BStU, MfS, AU, Nr. 1075/58, GfA, Bd. 2, Bl. 33. 466  In der entsprechenden Dienstanweisung hieß es: »Die bisher noch bestehenden Ein­ schrän­kun­gen in der Besuchserlaubnis für bestimmte Kategorien von Strafgefangenen werden auf­geboben.« Dies sollte nach dem Willen der obersten Strafvollzugsverwaltung auch den Besuch von Fa­milienangehörigen aus dem Westen einschließen. Allerdings wurde dies in der Dienstanweisung nicht eindeutig so formuliert und dürfte in der Praxis auch selten großzügig gehandhabt worden sein, zumal die dazugehörige Erteilung von Aufent­haltsgenehmigungen für Bundesbürger in der DDR bürokratisch und unzuverlässig funk­tionierte. Vgl. Dienstanweisung 35/53 der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei betr. Besuchserlaubnis für Strafgefangene vom 9.9.1953; BArch DO1/2.2./57311; Aktenvermerk der Hauptabteilung SV vom 2.9.1953; ebenda. 467  Vgl. Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Straf­ vollzugs o. D. [1952]; BArch DO1 11/1508, Bl. 101–142. 468  Vgl. Schreiben von Wilhelm Brundert an Grotewohl vom 20.2.1952; BArch NY 4090/440, Bl. 464.

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der Untersuchungsabteilung der Geheimpolizei nach Brandenburg-Görden.469 Damit sollte wohl die Weitergabe von Informationen verhindert oder sogar noch Belastungsmaterial gewonnen werden.470 Erst 1956 konnten wegen Spionage oder Sabotage verurteilte Häftlinge prinzipiell auch mit Familienangehörigen aus dem Westen sprechen.471 Doch wenn inhaftierte Bundesbürger überhaupt einmal Besuch aus dem anderen Teil Deutschlands erhielten, nutzten die Aufseher dies, um die Besucher nach Möglichkeit politisch zu beeinflussen.472 Grundsätzlich wollte man die Zahl westlicher Besucher »weiter vermindern«.473 So sollte der Rückfluss von Informationen in den Westen verhindert werden. Ab Mitte der Fünfzigerjahre konnten die Häftlinge grundsätzlich alle drei Mo­nate Besuch empfangen. Dies lag letztlich jedoch im Ermessen der Ge­fäng­ nis­leitung, was die Gefangenen zu wohlgefälligem Verhalten veranlassen soll­te. Die Strafvollzugsverwaltung konnte auch von vornherein die Be­suchs­mög­lich­ keiten beispielsweise unter dem Vorwand einschränken, dass die Sicherheit der Haftanstalt oder der »Erziehungszweck« gefährdet seien. In die­sem Fall wur­den Gespräche entweder gar nicht genehmigt oder hinter einer Trenn­schei­be aus Glas durchgeführt. Nur bei besonders guter Führung und ho­hen Ar­beitsleistungen war in dieser Zeit ein »Sprecher« häufiger als alle drei Mo­na­te möglich oder durfte statt dreißig Minuten mitunter sogar eine volle Stun­de dau­ern.474 So wurden die politischen Gefangenen in der Praxis meist be­nach­teiligt, wo­hingegen ihre kriminellen Mitinsassen im günstigsten Fall so­gar alle sechs Wochen ihre Angehörigen sehen durften.475 Die äußeren Umstände bei diesen Gesprächen waren überaus bedrückend. So wurde ein simpler Handschlag zur Begrüßung in Brandenburg-Görden erst­malig 1955 gestattet476 und blieb ein »Privileg« der kriminellen Häftlinge. Vielen Geg­ nern des SED-Regimes wurde auch nur einmal im Jahr Besuch zugestanden.477 Die Familienangehörigen wurden dabei als Bittsteller betrachtet und derart 469  Vgl. Bericht über die Beaufsichtigung der Sprecherlaubnis vom 22.11.1955; BStU, MfS, AU, Nr. 169/54, Bd. 2, Bl. 148 f. 470  Vgl. Handschriftlicher Brief Max Fechners vom November 1955; BStU, MfS, AU, Nr. 307/55, Bd. 2, Bl. 149. 471  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 472  Dies wurde dann als »Aufklärungsgespräch« bezeichnet. Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344. 473  Bericht der Vollzugsabteilung der Verwaltung Strafvollzug über das III. Quartal 1956 vom 14.10.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 88–90. 474  Vgl. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 475  Vgl. BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133. 476  Vgl. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 477  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S.

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unfreundlich behandelt, dass sich sogar Gefängnisleiter Ackermann im Jahre 1961 genötigt sah, die Aufseher »auf das höfliche und korrekte Verhalten gegenüber den Besuchern der Strafgefangenen hinzuweisen«.478 Die Gespräche selbst wurden von Aufsehern streng überwacht; oft blieben Angehörige und Inhaftierte durch eine Glas­scheibe getrennt. Der Gefangene durfte auch nur seine persönlichen Belange an­sprechen, während das Gespräch abgebrochen wurde, sobald sogenannte an­ stalts­interne Informationen oder das Strafverfahren zur Sprache kamen oder der Häftling einem Rechtsanwalt eine Mitteilung zukommen lassen wollte.479 Auch die eigene Schuld teilweise zu leugnen, konnte in Brandenburg-Görden zum Abbruch eines Besuchs führen – was sogar der obersten Gefängnisverwaltung zu weit ging.480 Der Gefangene durfte in der Praxis noch nicht mal erwähnen, ob er krank war, operiert worden war oder sich in medizinischer Behandlung befand.481 Und selbstverständlich belauschte die Staatssicherheit zusätzlich be­ stimmte »Sprecher« und zeichnete diese auf Tonband auf.482 Spätestens 1960 ließ die Geheimpolizei in Sprechräumen entsprechende Technik einbauen.483 Das Strafvollzugsgesetz von 1977 ermöglichte den Insassen im allgemeinen Vollzug, alle zwei Monate für eine ganze Stunde Besuch zu empfangen; im erleich­ terten Vollzug waren solche »Sprecher« gar im monatlichen Abstand gestattet, doch saßen Gefangene dieser Kategorie in Brandenburg-Görden kaum ein.484 Weiterhin konnten die Aufseher Besuche ganz untersagen, wenn dies »im Interesse der Sicherheit« geboten schien oder angeblich das »Erreichen des Erziehungszieles« gefährdet wurde.485 Als Besucher waren jetzt Ehegatten, Verlobte, Lebensgefährten und Eltern zugelassen. Kinder und Geschwister durften die Häftlinge aufsuchen, sofern sie älter als 16 Jahre waren und die Verantwortlichen dies nicht unter­ sagten.486 Zudem gestattete das neue Strafvollzugsgesetz als besondere Ver­ günstigung die Besuchsdurchführung außerhalb der Gefängnismauern sowie 478  Vgl. Maßnahmenplan des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das I. Halbjahr 1961 zur Durchsetzung des Befehls 1/61 der Leiters der HVDVP vom 18.1.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/691, Bl. 1–10. 479  Vgl. Fricke: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener, S. 76. 480  Möglicherweise intervenierte die Verwaltung Strafvollzug nur, weil der Besucher sich in der Folge bei der Obersten Staatsanwaltschaft beschwert und diese wiederum die Gefängnis­verwaltung kritisiert hatte. Vgl. Mitteilung 3/56 der Verwaltung Strafvollzug vom 25.8.1956; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 14758. 481  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 482  Vgl. u. a. Aktenvermerk der Operativgruppe der Abteilung VII vom 10.5.1986; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 100/88, Bl. 147–149. 483  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1369/63, Bl. 38. 484  Vgl. Kaiser, Günther: Strafvollzug im europäischen Vergleich. Darmstadt 1983, S. 142. 485  Vgl. Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungs­ bestimmung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 486  Hausordnung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg o. D. [1966/67]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 109–117.

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kurzzeitigen Hafturlaub (siehe Kap. 3.2.9). Von der erstgenannten Regelung profitierte jedoch nur jeder fünfundzwanzigste und von der zweitgenannten jeder hundertste Häftling; lediglich im Vorfeld einer Amnestie wurde diese Vergünstigung etwa doppelt so häufig gewährt (siehe Tabelle 3). Vermutlich kamen jedoch nur besonders zuverlässige Gefangene (wie Kalfaktoren) mit kurzen Freiheitsstrafen in den Genuss dieser Regelung – und nicht so sehr die politischen Gefangenen und politisch Verfolgten. In den Achtzigerjahren durften die Gefangenen im allgemeinen Vollzug jeden zwei­ten Monat maximal zwei ihrer Angehörigen empfangen.487 In der Praxis kam oft aber nur alle sechs Monate Besuch,488 weil angesichts der äußeren Umstände ein entspanntes und offenes Gespräch ohnehin nicht möglich war oder der weite An­fahrts­weg bzw. familiäre Unstimmigkeiten dem entgegenstanden. Vor und nach dem »Sprecher« wurden die Insassen akribisch durchsucht, um den Aus­ tausch von Kassibern oder Gegenständen zu unterbinden. Der Häftling selbst erhielt für die Dauer des Besuchs neue Kleidung, da die üblicherweise zerschlissene Häft­lingsmontur den »sozialistischen Strafvollzug« in ein allzu schlechtes Licht gerückt hätte. »Die Angehörigen erhielten zweifellos den gewünschten Eindruck«, wie ein ehemaliger Insasse notierte.489 Verstöße gegen die Vorschriften wurden bis zuletzt unbarmherzig geahndet – so etwa als im Frühjahr 1989 ein politischer Häftling es wagte, seine 18-jährige Tochter und seinen 17-jährigen Sohn zum Abschied kurz an sich zu drücken. Der anwesende Aufseher schlug daraufhin mit seinem Schlüsselbund auf den Häftling ein, und der nächste Besuch musste hinter einer Trennscheibe stattfinden.490 War die Ehefrau ebenfalls inhaftiert, was etwa bei gescheiterter Republikflucht regelmäßig vorkam, wurde jetzt alle sechs Monate eine Stunde Besuchszeit gewährt – nicht jedoch wenn »das Erziehungsziel« oder »die Sicherheit« als gefährdet galten.491 Offenbar gaben solche Vorwände den Ausschlag dafür, dass unzählige Besuche ausfielen und manche Paare sich während ihrer Haftzeit nur ein einziges Mal zu sehen bekamen.492 Da die weiblichen Häftlinge überwiegend in Hoheneck einsaßen, wurden die Männer aus Brandenburg-Görden meistens im Herbst mit einem Gefangenentransportwagen auf die »Burg« gebracht, während jeweils im 487  Vgl. u. a. Helmecke, Hilmar: Strafvollzugseinrichtung Brandenburg. In: Politische Haft in der DDR. Befragung ehemaliger politischer Gefangener aus der DDR, Stand 1986. Hg. von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Frankfurt/M. 1986, S. 32–39. 488  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Walter Müller am 8.4.2001 in Chemnitz, 4 S. 489  Hiller: Sturz in die Freiheit, S. 196. 490  Vgl. u. a. Information der OPG zum Verhalten des SG [...] vom 21.4.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 632, Bl. 188–191. 491  Vgl. Ordnung 107/77 des Ministers des Innern über die Durchführung des Vollzugs der Stra­fen mit Freiheitsentzug (Strafvollzugsordnung) vom 7.4.1977; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 9263, Bl. 23. 492  Vgl. Lolland; Rödiger (Hg.): Gesicht zur Wand, S. 86.

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Frühjahr die Frauen in die Haftanstalt an der Havel geschafft wurden.493 Den betreffenden Gefangenen wurden dabei Kosten in Höhe einer Bahnfahrkarte in Rechnung gestellt.494 3.3.2 Briefverkehr und Paketempfang Mitte März 1950 durften die aus den Speziallagern übernommenen Häftlinge erstmals ihren Familienangehörigen eine schriftliche Nachricht zukommen lassen. Davon ausgenommen blieben allerdings wichtige politische Häftlinge, da ihre völlige Isolation Priorität hatte.495 Erlaubt war zunächst das Senden und Empfangen von Briefen im Abstand von jeweils acht, später vier Wochen. Ganze 15 Zeilen durften die Häftlinge seinerzeit handschriftlich auf einem DIN A5-Bogen zu Papier bringen. Dabei mussten sie zu den Hintergründen ihrer Verurteilung sowie den Haftumständen schweigen und sich jeglicher Kritik am sozialistischen Staat enthalten. So war es letztlich verboten, »über den eigenen Zustand zu schreiben oder Klagen zu äußern«, wie es ein ehemaliger Insasse zusammenfasste.496 Beispielsweise wurde ein Brief nur deswegen einbehalten, weil der Verfasser seine Enttäuschung über seine Nichtberücksichtigung bei einer Amnestie artikuliert hatte497 – weder ein Staatsgeheimnis noch eine offene Kritik am SED-Regime. Im Ergebnis durften die Briefe daher kaum mehr als aufmunternde Worte an die sehnsüchtig vermissten Angehörigen, schöngefärbte Andeutungen zur eigenen Lage und Grüße zu Geburtstagen und Familienfesten beinhalten.498 Ab Oktober 1953 durften die Insassen Brandenburg-Gördens dann immerhin Briefe im DIN A4-Format mit 20 Zeilen verfassen.499 Scharf kontrolliert wurden auch die Briefe der Angehörigen, bevor sie an die Häftlinge ausgehändigt wurden. Selbst die Briefmarken wurden meist aus­ 493  Vgl. Messerschmidt, Beate: Hinter doppelten Mauern. Eine deutsche Geschichte. Frankfurt/M. 1999, S. 125. 494  Vgl. Ordnung 107/77 des Ministers des Innern über die Durchführung des Vollzugs von Strafen mit Freiheitsentzug – Strafvollzugsordnung – vom 7.4.1977 in der Fassung vom 30.8.1988; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 12003. 495  Ein Beispiel hierfür aus Brandenburg-Görden ist Fritz Sperling, der erst viereinhalb Jahre nach seiner Verhaftung im November 1955 den ersten Brief schreiben durfte. Vgl. Jahnke, Karl Heinz: »... ich bin nie Parteifeind gewesen«. Der tragische Weg der Kommunisten Fritz und Lydia Sperling. Bonn 1993, S. 86–88. 496  [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 10.7.1951; BArch B 137/1809. 497  Vgl. Sonderbrief vom 22.7.1955; BStU, MfS, Abt. XII, RF, Nr. 379, o. Pag. 498  Vgl. Schmidt, Heidemarie; Wagner, Paul Werner: »… man muß doch mal zu seinem Recht kommen«. Paul Othma – Streikführer am 17. Juni 1953 in Bitterfeld (LStU in Sachsen-Anhalt. Sachbeiträge, 17). Naumburg 2001, S. 85–120. 499  [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Brandenburg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968.

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geschnitten, weil auf der Rückseite heimlich Nachrichten hätten übermittelt werden können.500 Und wenn die Aufseher »zwischen den Zeilen« versteckte Informationen vermuteten, wurden die beanstandeten Passagen geschwärzt bzw. ausgeschnitten oder gar nicht ausgehändigt. »Strengste Zensur verstümmelte die Briefe oft zu Scherenschnitten«, wie ein Häftling seinerzeit erfahren musste. Der sogenannte Monatsbrief wurde auch immer erst dann ausgehändigt, wenn der Häftling den vorangegangenen zurückgab, sodass sich nicht mehr als ein Brief pro Häftling in den Zellen befand.501 Viele Briefe wurden nicht ausgehändigt, weil die Aufseher sie für unleserlich erklärten – für die Betroffenen eine besondere Schi­kane.502 Und gerade bei prominenten politischen Häftlingen war die Zen­ sur minutiös. So lag etwa ein Brief Fechners an seine Ehefrau Erich Mielke persönlich zur Genehmigung vor und dieser wiederum suchte gar Rücksprache beim Zentralkomitee der SED, bevor er entschied, diesen Brief anzuhalten.503 Der ehemalige Außenminister Georg Dertinger wiederum durfte überhaupt erst neun Monate nach dem Urteilsspruch und seiner Einlieferung nach BrandenburgGörden seinen Angehörigen schreiben.504 Die Bestimmungen für den Empfang von Paketen veränderten sich in den Fünf­ zigerjahren mehrfach. Mitte April 1950 durften die aus den Speziallagern über­ nommenen Häftlinge bei »guter Führung« erstmals Pakete (mit einem Ge­wicht von maximal drei Kilogramm) empfangen.505 Weil Brandenburg-Görden damals noch der reformorientierten Justizverwaltung unterstand, lag das zu­lässige Höchstgewicht hier bei sieben Kilogramm und unterlag an Festtagen keinen Beschränkungen.506 Als Inhalt gestattet waren Gemüse, Obst und ge­kochte Kartoffeln (von zusammen vier Kilogramm), zwei Kilogramm Brot, ferner Marmelade, Brotaufstrich oder Zucker (von zusammen 300 Gramm) sowie 250 Gramm Fleisch oder Wurst sowie 50 Gramm Tabak. Zu schwere Sendungen wurden nicht etwa zurückgesendet (wie bei der Volkspolizei üblich), sondern an kranke und bedürftige Mitinsassen

500  Für die Haftanstalt Schwedt/Oder vgl. Lenz: Lebensweg eines Justizvollzugsbeamten, S. 138. 501  [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Brandenburg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968. 502  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 114. 503  Vgl. Handschriftlicher Brief Max Fechners vom November 1955; BStU, MfS, AU, Nr. 307/55, Bd. 2, Bl. 149. 504  Aktenvermerk der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 20.11.1954; BStU, MfS, AU, Nr. 449/54, Bd. 11, HA/GA, Bl. 21; [Brief der Familie an Dertinger] vom 20.3.1955; ebenda, Bl. 31. 505  Vgl. Strafvollzugsordnung für die Durchführung des Strafvollzugs in Strafanstalten unter polizeilicher Führung vom 1.4.1950; BArch DO1 11/1446, Bl. 200–258; Schreiben von Fischer an Steinhoff vom 17.4.1950; BArch DO1 11/1563, Bl. 19 f.; Vorläufige Strafvollzugsordnung der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei für die Durchführung des Strafvollzugs in Strafvollzugsanstalten unter polizeilicher Verwaltung vom 14.12.1950; BArch DO1/2.2./56784. 506  Vgl. [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings über das] Zonenzuchthaus Branden­ burg-Görden, Anton-Saefkow-Allee 22 vom 8.12.1950; BArch B 137/1809.

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verteilt.507 Als jedoch im Juli 1950 die Volkspolizei die Regie in der Haftanstalt an der Havel übernahm, gestat­tete diese nur noch maximal drei Kilogramm schwere Sendungen im Monat (mit zwei Kilogramm Brot und je ein Pfund Fett und Fleisch bzw. Wurst).508 Die Pakete wurden natürlich von den Aufsehern geöffnet, genauestens kon­trol­liert und die Waren dabei oftmals zerstört oder teilweise einbehalten. Sehr sel­ten drückten Aufseher ein Auge zu und ließen nicht genehmigte Waren (wie Zigaretten) durchgehen.509 Den Paketempfang überhaupt zu gestatten, war frei­lich nicht humanitären Erwägungen geschuldet, sondern »seinerzeit er­for­ derlich, um die Gesundheit der Gefangenen aufrechtzuerhalten«, wie die ober­ste Gefängnisverwaltung im Rückblick eingestand.510 Anderenfalls wären die Häftlinge nämlich angesichts knapper Essensrationen (siehe Kap. 3.3.4) regelrecht verhungert. Deshalb stellte der Entzug der Empfangsberechtigung für diese Pakete in jener Zeit auch eine verhängnisvolle Disziplinarmaßnahme dar. Bereits ab Oktober 1950 wollte die Gefängnisleitung Brandenburg-Gördens Pa­kete ganz untersagen, setzte dies aber doch nicht um.511 Ende des Jahres 1951 war erneut beabsichtigt, den Paketempfang abzuschaffen, weil »diese Form der Vergünstigung«, wie es hieß, zum Einschmuggeln von Gegenständen ge­ nutzt werde.512 Indes ließ die unverändert schwierige Versorgungslage eine Ein­ schränkung noch nicht zu, sodass es vorerst bei der alten Regelung blieb. Mitte der Fünfzigerjahre versuchte man dann durch eine »Kampagne«, also mehr oder weniger starken Druck, die Insassen dazu zu bewegen, zumindest auf Westpakete freiwillig zu verzichten.513 Dies fügte sich in die restriktive Politik der DDRFührung, die durch Einführung einer »Geschenkverordnung« im August 1954 den Zustrom sämtlicher Warensendungen aus dem Westen drosseln wollte.514 Wären mit der Kampagne tatsächlich »gute Erfolge« erzielt worden, wie die Strafvollzugsleitung später behauptete,515 hätte man allerdings nicht wenig später den Paketempfang untersagen müssen. 507  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 23.12.1949; BArch B 289/SA 171/22–2. 508  Vgl. u. a. BStU, MfS, Abt. XII, RF, Nr. 348. 509  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Heinz Kühn am 6.6.2001 in Berlin, 7 S. 510  Vgl. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 511  Vgl. BStU, MfS, Abt. XII, RF, Nr. 388, Bl. 6 u. 8 (MfS-Pag.). 512  Vgl. Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Straf­ vollzugs o. D. [1952]; BArch DO1 11/1508, Bl. 101–142. 513  Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptabteilung Strafvollzug an den Generalstaatsanwalt Melsheimer vom 11.6.1955; BArch DO1 32/34540. 514  Vgl. Lindner, Bernd: »Dein Päcken nach drüben«. Der deutsch-deutsche Paketversand und seine Rahmenbedingungen. In: Härtel, Christian; Kabus, Petra (Hg.): Das Westpaket. Geschenksendung, keine Handelsware. Berlin 2000, S. 25–45, hier 25. 515  Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptabteilung Strafvollzug an den Generalstaatsanwalt Melsheimer vom 11.6.1955; BArch DO1 32/34540.

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Seit Ende 1954 versuchte die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit geheime Kommunikationswege zu politischen Häftlingen in der DDR aufzubauen (siehe Kap. 5.6.1). Unabsichtlich beförderte diese Aktion vermutlich, dass Anfang 1955 zunächst in Haftarbeitslagern und Jugendhäusern sowie in den Berliner Haft­ anstalten der Paketempfang in der bisherigen Form untersagt wurde. Im April wur­den dann auch in Bautzen, Torgau und Brandenburg-Görden Westpakete un­ter­sagt. Die betroffenen Familienangehörigen in der Bundesrepublik gin­ gen dann dazu über, die Pakete an Verwandte im Osten Deutschlands zu schi­ cken, und baten diese um Weiterleitung. Als Gegenmaßnahme wies die ober­ste Gefängnisverwaltung daraufhin an, Waren aus westlicher Produktion aus­zu­ sortieren. Die Angehörigen wiederum versuchten dies dadurch zu umgehen, dass sie Verpackungsmaterial der Handelsorganisation (HO) verwendeten.516 Auch Sicht der Verantwortlichen konnte die »Lösung« daher nur lauten, den Paketempfang gänzlich zu unterbinden. Nachdem Willi Stoph als stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates zugestimmt hatte,517 mussten von August 1955 an alle Inhaftierten auf ihr monatliches Paket verzichten.518 Teilweise musste die Staatssicherheit darauf drängen, dass die Gefängnisleitungen dieses Verbot auch umsetzten.519 Von nun an durfte nur noch einmal jährlich, meist zum Geburtstag, eine Sendung mit einem Gewicht von maximal drei Kilogramm in Empfang genommen werden. Gerade politische und renitente Häftlinge blieben selbst davon oft ausgeschlossen.520 Auf Lebensmittelpakete als regelmäßigen Bestandteil ihrer Verpflegung konnten die Gefangenen nun nicht mehr zählen.521 Den Familienangehörigen wurde als Begründung für das Verbot des Paket­ empfanges mitgeteilt, die Waren seien bei ihrer Ankunft oft verdorben gewesen. In Wahrheit sollte die Neuregelung das Einschmuggeln von Kassibern unterbinden sowie »den Weg für eine weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität freimachen«. Denn von da an konnten die Insassen zusätzliche Lebensmittel nur innerhalb der Haftanstalt kaufen – sofern sie ihre Arbeitsnormen erfüllten, während sie bis dahin Lebensmittel durch ihre Angehörigen oder »andere Wohltäter« erhal­ ten hatten. »Es ist ganz klar, dass dadurch der aus bourgeoisen Verhältnissen stammende Strafgefangene begünstigt wurde, da er es ja nicht nötig hatte, fleißig

516  Vgl. u. a. BArch B 137/257. 517  Vgl. Schreiben des Oberstaatsanwalts der Volkspolizei an den Leiter der Hauptabteilung SV Mayer vom 13.7.1955; BArch DO1 32/34540. 518  Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptabteilung SV an den Oberstaatsanwalt der Volkspolizei Berger vom 12.6.1955; ebenda. 519  Ausführungen des Genossen vom SfS auf der Arbeitstagung der SV- und UHA-Dienst­ stellenleiter im Bezirk Leipzig vom 23.9.1955; Sächsisches Staatsarchiv Leipzig 24/151 Bl. 151; zit. nach: Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 151. 520  Vgl. u. a. Lienicke; Bludau: Todesautomatik, S. 74. 521  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 90.

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zu arbeiten.«522 Einige Inhaftierte hätten, so die ideologiegeleitete Interpretation, von ihren Familienangehörigen derart »hochwertige Lebensmittel« bekommen, dass sie besser als die Aufseher versorgt worden seien.523 So wurden nun in der Folge innerhalb der Haftanstalten Verkaufsstellen eingerichtet, sogenannte Stützpunkte der Handelsorganisation, an denen die Insassen für ihren kargen Lohn zu überhöhten Preisen minderwertige Lebensmittel und Drogerieartikel erwerben konnten.524 Grundsätzlich wurde dies aber nur den arbeitenden Ge­ fangenen gestattet, während alle anderen Häftlinge ausgeschlossen blieben (mit Ausnahme inhaftierter Bundesbürger sowie etwa 500 weiteren Häftlingen, die Mitte der Fünfzigerjahre DDR-weit als arbeitsunfähig galten).525 Der Empfang von Weihnachtspaketen wurde im Jahr 1962 in den Straf­ voll­zugsanstalten zwar grundsätzlich gestattet, doch aufgrund unklarer Be­ fehls­lage ließ Ackermann dies in seinem Gefängnis untersagen.526 Auch bei genehmigten Sendungen waren in Brandenburg-Görden Genussmittel wie Scho­ ko­lade oder Tabak und selbst Konserven verboten.527 Unter dem Vorwand, das Maximalgewicht sei überschritten, wurden seinerzeit in vielen Haftanstalten besonders begehrte Waren (wie Schokolade und Zigaretten) entnommen und dem Gefangenen eine entsprechende »Verzichtserklärung« zur Unterschrift vorgelegt, doch wollte die oberste Gefängnisverwaltung geringfügige Überschreitungen der Gewichtsgrenze fortan durchgehen lassen.528 Mitte der Sechzigerjahre wurden Pakete jedoch weiterhin ausschließlich zu Geburtstagen oder anderen besonderen Anlässen und nur »bei positivem Verhalten« genehmigt.529 Außen vor blieben daher oftmals die politischen und renitenten Häftlinge. Als 1968 die strenge 522  Schreiben der Verwaltung Strafvollzug betr. die Durchsetzung des Leistungsprinzips beim Arbeitseinsatz der Strafgefangenen vom 16.10.1955; BArch DO1 11/1584, Bl. 25–27. 523  Vgl. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzugs bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 524  Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptabteilung SV an den Generalstaatsanwalt Melsheimer vom 11.6.1955; BArch DO1 32/34540. Siehe auch Hiekel, Frank: Das Gefängnisgeld der DDR. »Wertgutscheine« als Ersatzzahlungsmittel im Strafvollzug des Ministeriums des Innern von 1975– 1990. In: Klewin, Silke; Reinke, Herbert; Sälter, Gerhard (Hg.): Hinter Gittern. Zur Geschichte der Inhaftierung zwischen Bestrafung, Besserung und politischem Ausschluss vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Leipzig 2010, S. 255–268; Lindman, Kai: Die Behelfszahlungsmittel und Marken der Strafvollzugseinrichtungen der DDR. Sassenburg 2004. 525  Vgl. Statistik des Referates Statistik und Berichtswesen der Hauptabteilung Strafvollzug vom 5.3.1956; BArch DO1 32/34540. 526  Vgl. [Bericht des] GI »G[ünter] Rabe« vom 19.12.1962; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 1, Bl. 16 f.; Treffauswertung der Hauptabteilung VII mit dem GI »Günter Rabe« vom 27.12.1962; ebenda, Bl. 18 f. 527  Vgl. u. a. BStU, MfS, AU, Nr. 962/58, Bd. Gefangenenakte. 528  Vgl. Information der Verwaltung Strafvollzug zum Paketempfang vom 6.12.1963; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 69, Bl. 45 f. 529  Hausordnung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg o. D. [1966/67]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 109–117.

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Vollzugsart eingeführt wurde, durften die Häftlinge maximal ein Paket jährlich als besondere Vergünstigung erhalten, wenn sie hohe Arbeitsleistungen erbrachten und sich vorbildlich verhielten. Insassen der Kategorie I, die in BrandenburgGörden bei Weitem überwogen, blieb daher in der Praxis der Paketempfang oft gänzlich verwehrt.530 Die oberste Gefängnisverwaltung zeigte sich auch hartherzig, als das Deutsche Rote Kreuz der DDR die Strafvollzugsleitung 1969 bat, zumindest Pakete der eigenen Organisation wieder zuzulassen. Aus der angeblich guten »Gesamtlage der Versorgung«, so wurde behauptet, ergebe »sich keine Notwendigkeit anderweitiger Unterstützung«.531 Gemäß Hausordnung durften die Insassen Brandenburg-Gördens in den Sech­zigerjahren monatlich einen Brief an ihre Familienangehörigen richten so­wie weitere Sonderbriefe »bei positivem Verhalten« schreiben.532 Ab Mitte der Sechzigerjahre durften die Aufseher dabei bestimmte ausgehende Briefe, wie etwa Eingaben an die Justizbehörden, eigentlich nicht mehr öffnen. In der Praxis wurde dies allerdings permanent unterlaufen, weil die Aufseher ihre All­ macht und Autorität gegenüber den Inhaftierten untergraben sahen.533 Auch Ein­gaben an das Zentralkomitee der SED wurden oft einbehalten, bis die ober­ste Gefängnisverwaltung Ende der Sechzigerjahre entschied, dass solche Schrei­ben weiterzuleiten seien.534 Tatsächlich wurde auch diese Regelung unter einem Vorwand oft unterlaufen.535 Ein Aufseher beispielweise hielt noch 1984 einen Brief an einen Staatsanwalt ein, doch war stattdessen ein Kollege zum Schmuggel des Briefes bereit – wie nachträglich die Staatssicherheit erfuhr.536 Diese wollte auch verhindern, dass illegale (weil nicht genehmigte) Briefe den

530  Die seltenen Ausnahmen galten als »besondere Auszeichnung«. Vgl. u. a. [Schreiben der] Vollzugsabteilung [der StVE Brandenburg-Görden] vom 12.5.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 1146/69, Bd. 2, Bl. 60; Bericht der Quelle 71464 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. Tischlerei vom 4.11.1968 (Stand Mitte September 1968), 16 S.; BArch B 137/15761. 531  Vgl. Schreiben des Leiters der Verwaltung Strafvollzug an Zentralen Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes vom 1.9.1969; BArch DO1 32/34540. 532  Hausordnung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg o. D. [1966/67]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 109–117. 533  Vgl. Diskussionsbeitrag des Leiters der Abt. SV der BDVP Neubrandenburg Major Jungen auf der Tagung der Verwaltung Strafvollzug am 12.8.1965; BArch DO1 32/36357; Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 254. 534  Vgl. BArch DO1 32/34543. 535  So wurde beispielsweise einem Häftling, als dieser einen politisch prononcierten Brief an seine Familie richtete, »abverlangt, künftig derartige Briefe nicht mehr zu schreiben«. Als der Gefangene erklärte, in diesem Fall seine Briefe als Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden zu deklarieren, wurde dem Inhaftierten »klar gesagt, dass er seine Schreibereien künftig unterlassen soll und kann, da ohnehin bekannt ist, welche politische Grundhaltung er vertritt. Deutlich wurde dem SG mitgeteilt, dass er mit derartigen Briefen nichts« erreicht. Information des [FIM] »Holz« vom 11.8.1978; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 85/87, Bd. 1, Bl. 192. 536  Vgl. Auszug aus dem Treffbericht des IM »Haus« vom 21.12.1984; ebenda, Bl. 181.

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Staatsrat erreichten.537 Verknüpften Häftlinge mit ihren Eingaben politischen Protest gegen ihre Inhaftierung oder Behandlung in der Haft, leiteten die Aufseher die Schreiben ohnehin oftmals an den Staatssicherheitsdienst weiter – dieser ließ dann beispielsweise die Verfasser vorführen und setzte sie unter Druck, die Briefe zurückzuziehen.538 Besonders heikel war stets der Empfang von Post aus der Bundesrepublik, der nur inhaftierten Bundesbürgern prinzipiell seit 1957 gestattet war.539 So erhielten beispielsweise im ersten Halbjahr 1967 die Insassen BrandenburgGördens insgesamt 277 Briefe aus dem Westen, die angeblich alle und unzensiert die Empfänger erreichten.540 Wenn dem tatsächlich so gewesen sein sollte (was äußerst zweifelhaft erscheint), wäre dies allenfalls darauf zurückzuführen, dass die Verfasser sich von vornherein jeglicher Aussage enthielten, die Anstoß hätte erregen können. Denn für den Schriftverkehr galten die gleichen Regeln wie beim »Sprecher«, das heißt Äußerungen zu den Haftbedingungen waren verboten und führten zu Schwärzungen – oder aber der Brief wurde nicht ausgehändigt bzw. zurückgesendet.541 Unter dem Vorwand, das »Erreichen des Erziehungszieles« sei gefährdet, wurde aus disziplinarischen Gründen vielfach für Monate jede Schreibverbindung untersagt; manchmal war schon die Nichtteilnahme am Polit­ unterricht Anlass genug dafür.542 Oft wurden auch Schreiben einbehalten, ohne dass die Betroffenen die Briefe, unter Weglassung der beanstandeten Passagen, neu schreiben konnten, was eigentlich ihr Recht gewesen wäre.543 Besonders den politischen Gefangenen wurde auf diese Weise das Leben erschwert. Doch das Ausbleiben jeglicher Nachricht alarmierte die Familienangehörigen meist erst recht, sodass Ackermann seine Aufseher in dieser Frage zu mehr taktischem Geschick anhielt.544 Mindestens ein Aufseher jedoch war einfach zu bequem, die Briefe zu zensieren – und verbrannte diese deswegen unauffällig im Kesselhaus.545 Schon aus diesem Grunde stehen die Statistiken der Gefängnisverwaltung über den Postverkehr unter Vorbehalt. 19 549 Brie­fe gingen diesen Zahlen zufolge beispielsweise 1974 im Jahres­ verlauf aus allen Himmelsrichtungen in Brandenburg-Görden ein, während 537  Vgl. Auszug aus dem Treffbericht des IMS »Haus« vom 10.4.1986; ebenda, Bl. 406 f. 538  Vgl. Hiller: Sturz in die Freiheit, S. 288–295. 539  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 312. 540  Schreiben des Politstellvertreters der StVA Brandenburg vom 15.6.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/700, Bl. 129. 541  Vgl. u. a. BStU, MfS, AU, Nr. 962/58, Bd. Gefangenenakte. 542  Vgl. Fricke: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener, S. 75. 543  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S. 544  Vgl. Protokoll Nr. 9/59 von der Leitungsberatung in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 18.4.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 107. 545  Vgl. Abschlussbericht der Abteilung VII/OPG zur operativen Personenkontrolle »Schänke« vom 15.6.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 705, Bl. 525–529.

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15 432 Schreiben die Haftanstalt verließen.546 Auf seinerzeit 3 231 Gefangene umge­rechnet (und unter Vernachlässigung der vergleichsweise geringen Fluktua­ tion) bedeutet dies im Jahr durchschnittlich weniger als fünf Briefe für jeden Inhaftierten. Ein Häftling beispielsweise erhielt sogar über 17 Jahre hinweg keine Post und schrieb zwölf Jahre lang keinen Brief.547 Offenbar schöpften die Gefangenen ihre Kommunikationsmöglichkeiten nicht immer aus – sei es, dass einige ihre Verbindungen gar nicht pflegen mochten (weil sie ohnehin nicht schreiben durften, was ihnen wirklich auf der Seele lag), sei es, dass ihnen der Schriftverkehr untersagt worden war. Denn nach wie vor konnten die Aufseher die Verbindungen jederzeit unterbrechen, wenn die »Sicherheit« oder das »Erreichen des Erziehungszieles« gefährdet erschienen. Nach den Bestimmungen durften die Insassen jetzt nicht nur an ihre Familienangehörigen, sondern an alle Personen aus »ehemaligen oder künftigen Wirkungs- und Lebensbereichen« schreiben.548 Allerdings mussten diese von den Gefangenen vorweg als Schreibadresse benannt werden und viele Briefe und Pakete wurden nach wie vor aus disziplinarischen Grün­den oder willkürlich angehalten.549 Zudem unterlagen, über die übliche Zen­ sur hinaus, beispielsweise im Jahre 1987 62 Gefangene einer gezielten, besonders strengen Post- und Paketkontrolle.550 Mit dem neuen Strafvollzugsgesetz von 1977 wurden den Inhaftierten im allgemeinen Vollzug, die in Brandenburg-Görden zu diesem Zeitpunkt über­ wogen, bis zu vier Pakete im Jahr gestattet. Das zulässige Höchstgewicht und der Inhalt waren jetzt nicht mehr einheitlich geregelt, sondern lagen im Ermessen des jeweiligen Gefängnisleiters.551 Zwar stand dem Paketempfang aus Sicht der Verantwortlichen weiterhin entgegen, dass darunter die Arbeitsmotivation der Insassen hätte leiden können. Doch erschienen angesichts wachsender Rück­ sichtnahme auf die Meinung der Weltöffentlichkeit gewisse Erleichterungen im Strafvollzug geboten. In der allgemeinen Vollzugsart wurden jetzt monatlich bis zu drei Briefe gestattet, im erleichterten Vollzug vier.552 Einige Insassen in der verschärften Vollzugsart wie etwa Wolfgang Defort, der bis dahin nur einen

546  Vgl. Einschätzung der Arbeitsergebnisse 1974 durch den Leiter der StVA Brandenburg vom 3.1.1975; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/696, Bl. 186–210. 547  Vgl. Vermerk der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII vom 18.6.1984; BStU, MfS, HA IX, Nr. 19185, Bl. 222. 548  Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbe­stimmung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 549  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 266 f. 550  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 703, Bd. 3, Bl. 642–645. 551  Vgl. Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbe­ stimmung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. Im erleichterten Vollzug waren jährlich bis zu sechs Pakete gestattet. 552  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 90. Im erleichterten Vollzug wurden jetzt bis zu vier Briefe im Monat gestattet.

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Brief monatlich hatte schreiben und empfangen dürfen,553 profitierten von der Neuregelung im Jahre 1977. Wohl aufgrund seiner Prominenz durfte Defort jetzt sogar an ehemalige Mitinsassen in der Bundesrepublik schreiben und von diesen Pakete empfangen sowie im Schriftverkehr mit seinem Rechtsanwalt Wolfgang Vogel in allgemeiner Form die Haftbedingungen kritisieren.554 In der Gegenrichtung ließ der Staatssicherheitsdienst indes nur ein einziges Schreiben Vogels passieren, in dem der Rechtsanwalt mitteilte, das Mandat des Betreffenden nicht zu übernehmen.555 Weniger prominente Mitinsassen durften im gleichen Zeitraum aber nur an Westverwandte ersten Grades schreiben.556 Um eingehende Paketsendungen sowie von Besuchern mitgebrachte »kleine Geschenke« genau kontrollieren zu können, sollte Mitte der Achtzigerjahre sogar ein Röntgengerät zum Einsatz kommen. Da die Staatssicherheit ein geeignetes Röntgengerät seinerzeit entbehren konnte, wurde dieses 1984 der Haftanstalt Brandenburg-Görden »überschrieben«. Weil die vorhandenen Räumlichkeiten aber zu wenig gegen die abgegebene Strahlung schützten, kam stattdessen ab Oktober des gleichen Jahres ein Tischröntgengerät zum Einsatz, dass die Gefängnis­ verwaltung in eigener Regie beschafft hatte; das andere Gerät verblieb trotz Sicherheitsbedenken »zur Reserve« in Brandenburg-Görden.557 Wurden mit dem Röntgengerät verbotene Gegenstände aufgespürt, wurde dies auf die reguläre Postkontrolle zurückgeführt, da den Häftlingen die neue Technik nicht bekannt werden sollte. Von 6 369 Paketen, die beispielsweise im Jahr 1985 eingingen, wurden 174 »verdächtige« Sendungen geröntgt.558 Auf diese Weise wurden etwa in Pralinen eingearbeitete Transistoren aufgespürt, die als Bauteile für Radios hatten Verwendung finden sollen und andernfalls sicherlich unentdeckt geblieben wären.559 Insgesamt, das heißt einschließlich klassischer Kontrollen, wurden in diesem Jahr 477 Pakete (7,5 Prozent) beanstandet.560 Hinter diesen statistischen Größen verbergen sich viele enttäuschte Hoffnungen der Insassen.

553  Vgl. Ermittlungsbericht der Abteilung VII/5 zum Strafgefangenen Defort, Wolfgang vom 28.12.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 1744/77, Bl. 283–286. 554  Vgl. Brief des ehemaligen Mitinsassen an Wolfgang Defort vom 20.6.1977; ebenda, Bl. 196–198; Brief von Wolfgang Defort an Wolfgang Vogel vom 15.2.1977; ebenda, Bl. 194 f. 555  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 46, Bd. 2, Bl. 27. 556  Vgl. Bericht des IMF »Klaus Schulz« vom 18.10.1978; BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP, Nr. 43/83. 557  Vgl. Bericht der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Bezirksverwaltung für Staatssicher­ heit Potsdam vom 18.9.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. 272, Bl. 52–64. 558  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 2. Halbjahr 1987 vom 14.1.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 559  Monatsbericht der OPG der Abteilung VII von April 1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 1, Bl. 76–85. 560  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 2. Halbjahr 1987 vom 14.1.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459.

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Abb. 13: Monatsbrief für November 1975 auf dem Tisch von Zelle 147 in der Vollzugs­ abteilung I, Flügel C

3.3.3 Gefangenenseelsorge Aus weltanschaulichen und machtpolitischen Gründen war die Zielvorstellung der SED-Machthaber stets die »systematische Verdrängung von Christentum und Kirche samt ihrer kulturellen Prägekraft aus der Mitte der Gesellschaft«.561 Dies schlug sich in vielen Politikfeldern und in wechselnden Strategien nieder, etwa im stark repressiven Kampf gegen die Junge Gemeinde in den Fünfziger­ jahren. Als einzige Institutionen von Größe und Gewicht, die in der DDR nicht der SED untergeordnet war, blieben die Kirchen immer ein Fremdkörper in der sozialistischen Gesellschaft, der streng kontrolliert und geheimpolizei­lich über­wacht wurde.562 Vor diesem Hintergrund wurde natürlich auch die Glau­ bensausübung im Strafvollzug besonders misstrauisch beobachtet und behin­ dert.563 Konnte die Kirche außerhalb der Gefängnismauern einer gesell­schaftlichen Gegenöffentlichkeit einen gewissen Schutzraum bieten, war dies im Straf­vollzug kaum möglich. Immerhin durften Geistliche der evangelischen und katho­lischen Kirche in den Haftanstalten Gottesdienste abhalten und mitunter Gefangene 561  Lepp, Claudia: Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche. In: dies.; Nowak, Kurt (Hg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland. 1945–1989/90. Göttingen 2001, S. 46–93, hier 52. 562  Vgl. Vollnhals, Clemens: Die kirchenpolitische Abteilung des Ministeriums für Staats­ sicherheit (BStU, BF informiert; 16). Berlin 1997. 563  Siehe auch Wunschik, Tobias: Die Gefängnisseelsorge in Brandenburg-Görden (1949–89). In: Jahresbericht des Historischen Vereins Brandenburg (Havel) (Jahresbericht, 15). Brandenburg an der Havel 2006, S. 11–26.

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einzeln zu Sprechstunden empfangen. Dass in diesen engen Grenzen reli­giöse Betätigung innerhalb der Gefängnismauern überhaupt gestattet wurde, lag wohl an der realpolitisch gebotenen Rücksichtnahme auf die Evangelische Kir­che und die (westdeutsche) Öffentlichkeit. Obwohl »religiöse Handlungen« der Kirchen in den Haftanstalten ver­ fas­sungs­rechtlich garantiert waren,564 wurde ihre seelsorgerische Arbeit dort strengstens reglementiert und minutiös überwacht. Beschränkungen erga­ben sich insbesondere daraus, dass die Geistlichen von der ostdeutschen Gefäng­nis­ verwaltung angestellt wurden und in ihrem Wirken stets vom Wohlwollen der jeweiligen Gefängnisleitung abhängig blieben. Selbst eine individuelle Aus­sprache oder Beichte der Insassen unter vier Augen konnte so nur höchst selten stattfinden. Einige Geistliche hatten sich darüber hinaus dem Staats­sicherheitsdienst inoffiziell verpflichtet bzw. verpflichten müssen, worauf weiter unten noch näher eingegangen wird. Den Häftlingen seelsorgerisch beizustehen, war den eingesetzten Geistlichen daher insgesamt nur bedingt möglich. In den Jahren 1949/50 kam es zu einer ersten Phase des »Kirchenkampfes« zwischen der Evangelischen Kirche und der SED-Führung, die den Einfluss der Religionsgemeinschaft ohnehin zurückdrängen wollte und deswegen einen Hirtenbrief des Bischofs für Berlin-Brandenburg, Otto Dibelius, zu Pfingsten 1949 als Kampfansage betrachtete.565 Denn der inoffizielle Sprecher der ostdeutschen Bischöfe hatte in seiner Glaubensbotschaft zur politischen Entwicklung in dem geteilten Land Stellung bezogen und die Herrschaftspraxis des Regimes explizit angeprangert. »In der Abteilung K 5 der sogenannten Volkspolizei ist die Gestapo unseligen Andenkens wiedererstanden. Es wird mit denselben Methoden gearbeitet wie damals«, konstatierte er unerschrocken.566 Die Parteispitze reagierte darauf, indem sie eine Kampagne gegen Dibelius inszenierte und ihn politisch ins Abseits zu manövrieren versuchte. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten nahmen sich die beiden großen Kirchen auch der Insassen der sowjetischen Speziallager an. Mehrfach hatten sie sich an die Besatzungsmacht gewandt und um Auflösung der Lager bzw. um Über­ prüfung der SMT-Urteile und Entlassungen gebeten.567 Unmittelbarer Zugang zu den Speziallagern erhielten die Geistlichen jedoch erst an Weihnachten 1949, 564  Vgl. Steinhoff, Karl: Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Ostberlin 1949, S. 32. Art. 46 dieser Verfassung lautet: »Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge in Krankenhäusern, Strafanstalten oder anderen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgemeinschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zugelassen.« 565  Vgl. Besier, Gerhard: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung. München 1993, S. 66. 566  Abgedruckt bei: Dittmann, Wilhelm (Hg.): Otto Dibelius. So habe ich’s erlebt. Selbst­ zeugnisse. Berlin 1980, S. 265–279, hier 266; zit. nach: Gerlach, Stefanie Virginia: Staat und Kirche in der DDR. War die DDR ein totalitäres System? Frankfurt/M. 1999, S. 42. 567  Vgl. Lange, Gerhard; Pruß, Ursula (Hg.): An der Nahtstelle der Systeme. Dokumente und Texte aus dem Bistum Berlin 1945–1990, 1. Halbband: 1945–1961. Leipzig 1996, S. 39, 79, 97 u. 119.

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als die schlimmste Phase bereits vorüber war und die Lager kurz vor der Auf­ lösung standen. So durften beispielsweise Propst Heinrich Grüber, auf den später noch zurückzukommen sein wird, und Dibelius in Sachsenhausen zwei Weihnachtsgottesdienste für die männlichen und weiblichen Insassen abhalten. Grüber gewann dabei den Eindruck, dass die Zustände wesentlich besser seien als in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, die er aus eigener leidvoller Erfahrung kannte: Dem Wachpersonal fehle der Sadismus der SS-Männer und die Häftlinge, so behauptete er weiter, seien »gut angezogen und normal genährt« gewesen. Dass er bei einigen inhaftierten Frauen Lippenstift bemerkt hatte, galt ihm ebenfalls als Indiz für ein weniger strenges Haftregime,568 doch hatte der Geistliche bei seinem kurzen Besuch eben nicht hinter die Kulissen blicken können. So waren in seine Messe vorwiegend Kalfaktoren geschickt worden, die tatsächlich besser genährt und gekleidet waren als andere Insassen. Viele Häftlinge verübelten Grüber daher, dass er sich teils hatte blenden lassen und in DDR-Zeitungen entsprechend zitieren ließ.569 Auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit kritisierte sein mildes Urteil heftig.570 Allerdings hatte er mit seiner Stellungnahme wohl auch die besorgten Familienangehörigen von Speziallagerinsassen beruhigen wollen. Nachträglich rechtfertigte sich Grüber außerdem mit dem Argument, dass bei einer wohlgesinnten Öffentlichkeit die Besatzungsmacht vielleicht eher zur Auflösung der Speziallager bereit sei, wie ihm Vertreter Moskaus vertraulich suggeriert hätten.571 Wenige Wochen später wurden die Speziallager ja tatsächlich geschlossen, doch war dies zum Zeitpunkt seines Besuches bereits beschlossene Sache gewesen (siehe Kap. 2.6.3). Was die Seelsorge in den ostdeutschen Gefängnissen (ohne ehemalige Spezial­ lagerinsassen) betraf, betreuten zunächst die örtlichen Pfarrer die Haftanstalten »nebenbei«.572 Die reformorientierte Justiz gestattete etwa katholischen Seelsorgern bereits im November 1945 den Zugang zu den Berliner Strafvollzugsanstalten, während ihre Amtsbrüder in Sachsen, Mecklenburg und Thüringen etwas spä­ ter zumindest kriminelle Häftlinge betreuen durften.573 Weil BrandenburgGörden eben­falls noch der Justiz unterstand, konnte den dortigen Ostergottes­ dienst des Jahres 1950 Generalsuperintendent Walter Braun leiten.574 Den nach Befehl 201 Inhaftierten in den Polizeihaftanstalten jedoch wurde eine Teilnahme an Gottesdiensten ebenso verwehrt wie individuelle Seelsorge (sofern sie nicht 568  Vgl. Grüber, Heinrich: Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten. Berlin 1968, S. 295–304; Tischner, Wolfgang: Katholische Kirche in SBZ/DDR 1945–1951. Die Formierung einer Sub­ gesellschaft im entstehenden sozialistischen Staat. Paderborn 2001, S. 466. 569  Vgl. u. a. Pfeiffer: Abgeholt, S. 125. 570  Vgl. Rink, Sigurd: Der Bevollmächtigte. Propst Grüber und die Regierung der DDR. Stuttgart 1996, S. 121–123; Merz: Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, S. 91–95. 571  Vgl. Grüber: Erinnerungen, S. 295–304. 572  Vgl. Halbrock, Christian: Evangelische Pfarrer der Kirche Berlin-Brandenburg 1945–1961. Amtsautonomie im vormundschaftlichen Staat? Berlin 2004, S. 85. 573  Vgl. Tischner: Katholische Kirche in SBZ/DDR, S. 435–437. 574  Vgl. Neue Zeit vom 9.4.1950, S. 1.

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im Sterben lagen, katholischen Glaubens waren und ihnen daher die heiligen Sakramente erteilt werden sollten).575 Die ehemaligen Insassen der sowjetischen Speziallager durften dann nach ihrer Übernahme in den ostdeutschen Strafvollzug an Ostern 1950 erstmals an Gottesdiensten beider Konfessionen teilnehmen. Die oberste Gefängnisverwaltung hatte zuvor Heinrich Grüber die Gesamtverantwortung übertragen und ihn beauftragt, »fortschrittliche Pfarrer« zum Abhalten der Gottesdienste aus­zu­ wählen.576 Die Messen selbst stießen bei den Insassen auf reges Interesse, weil ihnen die Geistlichen Zuspruch spendeten, teilweise Nachrichten an Angehörige übermittelten und ihnen Päckchen aushändigten. Aus Sicht der Gefängnisleiter freilich ließen es die Geistlichen an der nötigen Distanz und Geheimhaltung mangeln, weswegen viele Pfarrer die Haftanstalten kein zweites Mal betreten durften.577 Der thüringische Landesbischof Moritz Mitzenheim beispielsweise durfte an Ostern 1950 in Untermaßfeld einen kurzen Gottesdienst für die ehe­ maligen Speziallagerinsassen abhalten. Er war vermutlich ausgewählt worden, weil er sich insgesamt kooperativ zeigte und ihm der Staatssicherheitsdienst deswegen später auch eine »fortschrittliche Haltung« attestierte.578 Dennoch war Mitzenheim nach diesem Besuch »seelisch so erschüttert, dass er seinen Dienstgeschäften kaum nachgehen konnte«. Die Bilder, die er dort gesehen habe, so berichtete er einem Vertrauten, werde er nicht mehr los.579 Vor den Weihnachtsgottesdiensten im gleichen Jahr beauftragte die ober­ste Gefängnisverwaltung dann die Hauptabteilung Kriminalpolizei, die ein­zusetzenden Seelsorger für die Sonderhaftanstalten zu überprüfen. Im Ergebnis wurde fast jeder zweite Geistliche abgelehnt, weil er in Westberlin wohnte oder politisch nicht genehm war (obwohl die meisten als Opfer der NS-Diktatur anerkannt waren).580 575  Vgl. BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133. 576  Vgl. Bericht der Hauptabteilung HS über die Abhaltung von Gottesdiensten und Seel­ sorgestunden in den Haftanstalten Luckau, Bautzen und Hoheneck vom 11.10.1950; BArch DO1 11/1572, Bl. 43 f. 577  Vgl. Bericht des Diakonischen Werkes o. D. [vermutlich 1950/51]; Archiv des Diakonischen Werkes der EKD ADW/BSt 48; zit. nach: Latotzky, Alexander: Kindheit hinter Stacheldraht. Mütter mit Kindern in sowjetischen Speziallagern und DDR-Haft. Leipzig 2001, S. 33. 578  Wohngebietsermittlung der KD Eisenach vom 2.8.1976; BStU, MfS, AP, Nr. 22139/92 Bl. 29 f. Siehe auch Koch-Hallas, Christine: Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen in der SBZ und Frühzeit der DDR (1945–1961). Eine Untersuchung über Kontinuitäten und Diskontinuitäten einer landeskirchlichen Identität. Leipzig 2009, S. 287–347; Remy, Dietmar: Sekt, Pralinen und echte Schildkrötensuppe. Die Versuche der DDR-Staatsorgane, der Kirchenleitung die Fortsetzung des ›Thüringer Weges‹ schmackhaft zu machen. In: Seidel, Thomas A. (Hg.): Gottlose Jahre? Rückblicke auf die Kirche im Sozialismus der DDR. Leipzig 2002, S. 69–83. 579  Vgl. [Bericht eines in den Westen geflüchteten Mitglieds des Strafvollzugsausschusses des thüringischen Landtags] betr. Strafvollzug in Thüringen (Stand September 1950) vom 10.10.1950; BArch B 137/1809. 580  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung K der HV Deutsche Volkspolizei an die Hauptabteilung HS vom 19.12.1950; BArch DO1 11/1572, Bl. 9–13.

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Abgewiesen wurde bei dieser Überprüfung auch Pfarrer Eckart Giebeler, der (während der Zuständigkeit der Justizverwaltung) zwischen Ok­to­ber 1949 und Juni 1950 bereits in Brandenburg-Görden tätig gewesen war. Trotzdem – oder gerade weil die Volkspolizei den Strafvollzug der Justiz so kritisch beäugte – durfte er die Insassen jetzt nicht länger betreuen, galt er doch politisch als »indifferent«. Stattdessen wurde für die Haftanstalt an der Havel der erwähnte Grüber ausgewählt, der über eine hohe moralische Re­pu­tation verfügte.581 Auch aufgrund seiner antifaschistischen Einstellung wurde er 1949 zum Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutsch­land (EKD) bei der DDR-Regierung bestellt.582 Grüber kannte zudem einige Repräsentanten des SED-Regimes aus gemeinsamer Haftzeit – so etwa den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission Heinrich Rau. Aufgrund dieser guten Kontakte appellierte er beispielsweise auch an den ersten Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, die brutalen Vernehmungsmethoden in den Untersuchungshaftanstalten der Geheimpolizei zu beenden.583 Auch mit Ver­tretern der Sowjetischen Militäradministration, wie dem bis 1949 amtierenden Chef der Verwaltung für Propaganda und Information, Sergei Iwanowitsch Tjulpanow, sowie dem Sowjetischen Hochkommissar, Wladimir Semjonow, sprach er regelmäßig.584 Noch häufiger konsultierte er jedoch Otto Grotewohl und einen seiner persönlichen Referenten. Der als launisch bekannte Geistliche war allerdings auch bereit, gegen Otto Dibelius zu intrigieren.585 Grüber hoffte wohl, durch eine politisch unabhängige, den Regierungen beider deutscher Teilstaaten gegenüber kritische Haltung am meisten für die Menschen erreichen zu können.586 Allerdings musste er wegen seiner vergleichsweise »neutralen« Haltung zur DDR auch viel Kritik seiner Glaubensbrüder einstecken.587 Neben Giebeler und Grüber war in den Fünfzigerjahren vor allem HansJoachim Mund in der Gefangenenseelsorge tätig. Im Jahre 1914 in Brandenburg 581  Er hatte bis 1940 als Leiter der »Hilfsstelle für evangelische Nicht-Arier« mehr als 2 000 Juden zur Auswanderung verholfen, bevor er als Mitglied der Bekennenden Kirche in das Kon­zentrationslager Sachsenhausen eingeliefert und später nach Dachau verlegt wurde. Grüber hatte ab 1947 als stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) amtiert, war jedoch wegen der zunehmend kommunistischen Ausrichtung dieser Organisation schon im Folgejahr zurückgetreten. Zugleich hatte er im Jahre 1947 als Zeuge der Anklage gegen 16 Aufseher Sachsenhausens vor einem Sowjetischen Militärtribunal ausgesagt, dessen Legitimität er nicht bezweifelte. »Der Propst unterstützte alles, was zur Aufklärung der nationalsozialistischen Verbrechen beitrug.« Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 41 f. 582  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung K der HV Deutsche Volkspolizei an die Hauptabteilung HS vom 19.12.1950; BArch DO1 11/1572, Bl. 9–13. 583  Vgl. Bericht für SMAD o. D.; BArch P–1, Nr. 2; zit. nach: Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 48. 584  Vgl. ebenda, S. 41. 585  Vgl. Besier: Der Weg in die Anpassung, S. 125. 586  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 37. 587  Vgl. Eigene Niederschrift von Werner Arnold über Dr. Heinrich Grüber vom 12.3.1964; BStU, MfS, AU, Nr. 17115/64, Bd. 4, Bl. 19–28.

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an der Havel geboren, war er nach einem Theologiestudium im Krieg als Funker ein­gesetzt worden. Als Schüler des Neuköllner Pfarrers Arthur Rackwitz zählte er zur Gruppe der Religiösen Sozialisten und erschien der Parteiführung für eine Mittlerrolle geeignet. So wurde im April 1947 für ihn die Stelle des Refe­ renten für Kirche, Christentum und Religion beim Zentralsekretariat der SED geschaffen. Sein »fortschrittlicher« politischer Leumund prädestinierte ihn offen­ bar auch für die Gefangenenseelsorge, weswegen er im Sommer 1950 für alle Sonderhaftanstalten mit den ehemaligen Insassen der sowjetischen Speziallager zuständig wurde. Um ihn besser kontrollieren zu können wurde er, wie später auch seine Kollegen, bei der Hauptabteilung Strafvollzug angestellt und ihm ein Dienstrang der Volkspolizei verliehen. Seine moralischen Bedenken hinsichtlich dieser Vereinnahmung redete ihm Grüber aus und gab ihm zu verstehen, dass er seine Tätigkeit im Rahmen einer »besonderen Vereinbarung« im Auftrag der Kirche ausübe. In deren Auftrag zu handeln, war ihm sehr wichtig, obwohl die Regelung rechtlich keine Bedeutung hatte.588 Mund fungierte nun als Leiter der Gefangenenseelsorge im Organ Strafvollzug und übernahm eine Art Mittlerrolle zwischen den Gefängnispfarrern und der evangelischen Kirchenleitung der DDR. Er genoss das Vertrauen der Hauptabteilung Strafvollzug, durfte daher mit Häft­ lingen in allen Sonderhaftanstalten (siehe Kap. 2.6.2) sogar unter vier Augen sprechen und hatte maßgeblichen Einfluss auf die Auswahl der Gefängnisseel­ sorger. Auch die Staatssicherheit interessierte sich für den Geistlichen, weil er Kontakte nach Westberlin pflegte, verzichtete jedoch auf eine Verpflichtung, weil das von ihm gelieferte Material als weitgehend unbrauchbar galt.589 Trotz der bereits bestehenden Kontrollen beabsichtigte die oberste Gefängnis­ verwaltung, den geringen Spielraum der Gefangenenseelsorge weiter zu beschnei­ den. Nach Übernahme von Brandenburg-Görden durch die Volkspolizei im Sommer 1950 fanden Gottesdienste hier beispielsweise »nur noch ganz un­ regel­mäßig« statt und einige Häftlinge wurden einfach als Kirchgänger ab­ kommandiert.590 Dass solche Gottesdienste einen positiven Einfluss auf die Insassen haben könnten, hielt die Hauptabteilung Strafvollzug für eine »ver­söhn­ lerische« Haltung.591 So wollte sie zum Jahresbeginn 1951 auch die Rundgänge der Geistlichen durch die Krankenstationen verbieten und alle individuellen Gespräche Munds mit Häftlingen durch Aufseher überwachen. Der Geistliche wollte auf Vieraugengespräche jedoch nicht verzichten, da er so maximalen Einfluss auf die Häftlinge ausüben könne und so der Kritik der Kirchenleitung am besten entgegentreten konnte, er könne den Gefangenen seelsorgerisch kaum beistehen. 588  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 64. 589  Vgl. BStU, MfS, AOP, Nr. 14031/63. 590  Vgl. [Bericht des ehemaligen Häftlings Georg Oehmichen] betr. Zuchthaus BrandenburgGörden vom 21.3.1952; BArch B 289/SA 171/22–01/2. 591  Vgl. Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Straf­ vollzugs o. D. [1952]; BArch DO1 11/1508, Bl. 101–142.

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Mund drohte mit Rücktritt von seinem Posten, doch die oberste Gefängnisleitung saß am längeren Hebel und wollte »auch für Herrn Mund [...] keine Ausnahme« zulassen.592 Wohl um Druck auf ihn auszuüben, schlug sie sogar ihrerseits vor, die Seelsorge in Brandenburg-Görden in die Hände anderer Pfarrer zu legen.593 Zwar wurde Mund von seinen Aufgaben in der Haftanstalt an der Havel nicht komplett entbunden, doch wurde er bei der Deutschen Volkspolizei im Frühjahr 1951 entpflichtet.594 Während an Weihnachten 1950 in einigen Haftanstalten (wie Untermaßfeld) gar kein Gottesdienst stattgefunden hatte, wurden an Ostern 1951 wieder Gottes­ dienste erlaubt. Doch die Gefängnisverwaltung ließ Mitzenheim und Grüber dabei unberücksichtigt, die sich dann entsprechend beschwerten. Die oberste Gefängnisverwaltung wollte den Handlungsspielraum der Geistlichen weiter einschränken, und die beiden prominenten Geistlichen galten vermutlich als zu standfest. So sollten den Seelsorgern in den Sonderhaftanstalten jetzt auch je zwei »politisch besonders bewusste« Aufseher auf die Finger schauen, die »Angriffe – auch versteckter Art« durchschauen und unerlaubte Unterredungen zwischen Häftlingen und Pfarrern »sachlich und in unprovozierender Art unter­ binden« könnten. Unter diesen Voraussetzungen, so der Leiter der obersten Gefängnisverwaltung Karl Gertich im April 1951, könne Mitzenheim wieder einen Gottesdienst abhalten.595 Auch die Gefängnisleitungen legten der seelsorgerischen Arbeit in der Praxis von Beginn an Steine in den Weg. In Brandenburg-Görden beispielsweise in­ formierte man die Häftlinge nur unzureichend darüber, dass auch individuelle Zusammenkünfte mit dem Pfarrer möglich waren. Diese Seelsorgerstunden verliefen dann jedoch, angesichts der Überwachung durch Aufseher, selten in vertraulicher Atmosphäre. In einem Fall etwa störten sich die Bewacher an der Formulierung »Russe« statt »Sowjetmensch« und intervenierten, sodass eine offene Aussprache nicht mehr möglich war.596 Nach Aktenlage fanden zwischen Oktober 1950 und Juni 1951 in den Sonderhaftanstalten 74 evangelische und sieben katholische Gottesdienste sowie 352 Seelsorgerstunden statt, was im Vergleich zu den übrigen Haftanstalten relativ wenig war.597 Den wichtigen

592  Vgl. Stellungnahme der Hauptabteilung SV vom 21.2.1951; BArch DO1 11/1572, Bl. 102 f. 593  Vorschlag der Abteilung Organisation der Hauptabteilung SV vom 6.2.1951; BArch DO1 11/1572, Bl. 127. 594  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung SV betr. Gottesdienste vom 9.4.1951; BArch DO1 11/1559, Bl. 75. 595  Vgl. ebenda. 596  Bericht über die Gottesdienste und Seelsorgestunden in den Strafvollzugsanstalten Branden­ burg, Luckau und Torgau vom 20.6.1951; BArch DO1 11/1572, Bl. 123–125. 597  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung SV für Herrn Staatssekretär Warnke vom 2.10.1951; BArch DO1 11/1587, Bl. 84.

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Ostergottesdienst jedenfalls übernahm im Frühjahr 1952 in Brandenburg-Görden wieder Heinrich Grüber.598 Eine wichtige Streitfrage zwischen Kirche und Staat war dabei die (dienst-) recht­liche Stellung der Gefängnispfarrer. Traditionell lag in Deutschland die Seel­sorge in den größeren Haftanstalten in den Händen hauptamtlicher Geist­ li­cher, die zu diesem Zweck vom Staat als Beamte angestellt wurden, während in den kleineren Haftanstalten die örtlichen Pfarrer die Aufgaben nebenbei über­ nahmen. Trotz Einspruchsmöglichkeiten der Kirche bei der Berufung wa­ren die Anstaltsgeistlichen disziplinarrechtlich der Strafvollzugsverwaltung un­ter­stellt, die dementsprechend Loyalität von ihnen erwartete.599 Die Ev­an­ge­lische Kirche in der DDR äußerte jedoch zunehmend Vorbehalte gegen die­ses Prinzip und wollte die Gefangenenseelsorge lieber in die Hände der Lan­deskirchen legen. Außerdem verlangten die Kirchen wöchentliche Got­tes­dienste und wollten den Häftlingen gern die Möglichkeit eröffnet wissen, auch in den Zellen die Bibel zu lesen;600 eine ähnliche Haltung bezog die ka­tho­lische Kirche. So verhandelte im Sommer 1951 das Kommissariat der Ful­daer Bischofskonferenz mit dem Innenministerium der DDR über die seel­sor­ge­rische Arbeit in den ostdeutschen Haftanstalten. In der Folge durfte in den »Straf­a nstalten für politische Gefangene« ein- bis zweimal monatlich eine Mes­se ab­gehalten werden, doch waren Vieraugenbeichten unerwünscht.601 Gegen Jahresende 1951 wurden die Gottesdienste in allen Sonderhaft­a n­ stalten mit ehemaligen Speziallagerinsassen kurzzeitig eingestellt, vermutlich als Druck­mittel gegenüber der Bischofskonferenz. Im Februar 1952 nahm sich dann das Zentralsekretariat der SED der Angelegenheit an und entschied, dass eine regelmäßige Seelsorge in den Gefängnissen zu gestatten sei. Um dies aber bestmöglich kontrollieren zu können, sollten die Geistlichen vom Innen­mi­ nisterium bestätigt und als Behördenangestellte beschäftigt werden.602 Damit war die Gefangenenseelsorge der Kirche endgültig entzogen. Das Innen­ministerium bestand auch darauf, dass die Pfarrer zentral und nicht von den Landes­re­gie­ rungen bestellt wurden.603 Im September des gleichen Jahres präzisierte das Zentralsekretariat der SED dann, dass für die »seelsorgerische Betreuung der Insassen der Strafanstalten 1-7«, also für die Sonderhaftanstalten einschließlich 598  Vgl. Wirth, Günter: Ein Partner der Vernunft. In: Hildebrandt, Jörg: Bevollmächtigt zum Brückenbau. Heinrich Grüber. Judenfreund und Trümmerpropst. Leipzig 1991, S. 180–275, hier 214. 599  Vgl. Brandt, Peter: Die evangelische Strafgefangenenseelsorge. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 1986, S. 100–102. 600  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 76. 601  Schreiben des Bischöflichen Ordinariats Berlin an die Hochw. Herren Häftlingsseelsorger vom 14.8.1951; abgedruckt bei: Lange; Pruß (Hg.): An der Nahtstelle der Systeme, S. 97. 602  Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 14.2.1952; BArch DY 30 J IV 2/3–269. 603  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 84.

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Brandenburg-Gördens, zwei Geistliche fest einzustellen seien. An zwei Sonntagen im Monat sowie an besonderen Feiertagen sollten Gottesdienste stattfinden, doch Vieraugengespräche sowie die Beichte wie bei der katholischen Kirche seien unzulässig. Dies entsprach der seinerzeit bereits üblichen, restriktiven Praxis, die somit von höchster Stelle »abgesegnet« wurde.604 Aus statusrechtlichen Gründen wollte die oberste Gefängnisleitung einen kirchlichen Auftrag für diese beiden Gefängnisseelsorger erwirken, die jedoch von der Kirche »beurlaubt« worden waren. Doch weil beide Pfarrer weiterhin Zutritt zu den Pfarrkonventen erhielten, notierte August Mayer im Juli 1953, könne die Volkspolizei mit dieser Lösung zufrieden sein.605 Die Kirche (mit Heinrich Grüber an der Spitze) ließ sich widerwillig auf diesen Kompromiss ein, damit den Gefangenen überhaupt der Beistand eines Seelsorgers zuteilwurde.606 Zwei Geistliche sollten also nun hauptamtlich vom Ministerium des Innern zur seelsorgerischen Betreuung der Häftlinge in den Sonderhaftanstalten ab­ ge­stellt werden. In der Praxis kamen mindestens drei Pfarrer zum Zug, was wohl mit der großen räumlichen Distanz zwischen den Sonderhaftanstalten zu­ sam­menhing: neben dem erwähnten Hans-Joachim Mund, der im Frühjahr 1951 seinen Dienstausweis der Volkspolizei zurückgegeben hatte und fortan nur noch Bautzen I und Hoheneck betreuen sollte, der »staatstreue Pfarrer« Heinz Bluhm für Waldheim und Luckau und der zunächst abgelehnte Eckart Giebeler für Brandenburg-Görden, Torgau und Halle.607 Der Kreisvorstand der SED in Brandenburg hatte Giebeler nämlich zwischenzeitlich bescheinigt, er ver­trete »seine fortschrittliche Meinung nach außen ohne Zweideutigkeit«.608 Giebeler und Bluhm wurden daher im Februar 1953 von der obersten Ge­fäng­ nisverwaltung angestellt, womit sie der Dienstaufsicht der Kirche weit­ge­hend entzogen waren.609 Die Evangelische Kirche reagierte hierauf mit der »Be­ur­ lau­bung« von Giebeler und Bluhm, um diese nicht in ihrem staatlichen Amt zu legitimieren. Giebeler beschwerte sich nun seinerseits und versuchte, sei­ne Abordnung durch die Evangelische Kirche zu erwirken.610 In dieser Phase hatte sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche erheblich ver­schlechtert; zwischen Sommer 1952 und Sommer 1953 war die staatliche Re­

604  Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK am 18.9.1952; BArch DY 30 J IV 2/3–325. 605  Vgl. BArch DO1 11/1572. 606  Vgl. Halbrock: Evangelische Pfarrer, S. 88. 607  In Untermaßfeld beispielsweise wurde ein nebenamtlicher Anstaltspfarrer zugelassen. Nach einigen Jahren teilte man ihm jedoch mit, es bestehe in der Haftanstalt kein Bedarf an Seelsorge mehr. Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 85. 608  Vgl. BArch DO1 11/1572, Bl. 29. 609  Siehe auch Schalück, Andreas: Eine Agentur der Kirchen im Staatsapparat? Otto Nuschke und die Hauptabteilung »Verbindung zu den Kirchen« 1949–1953. Berlin 1999, S. 267. 610  Vgl. BArch DO1 11/1572, Bl. 142–171.

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pression »besonders kräftig.«611 So hatten die Herrschenden im Dezember 1952 »wohl­organisierte Verfolgungsmaßnahmen« gegen die Junge Gemeinde an­ge­ ordnet612 und frühere Drohungen, wie das »Abschnüren« der Evangelischen Kir­che in der DDR vom Westen, waren noch nicht vom Tisch. Dem stand die Rück­sichtnahme auf die bundesdeutsche Öffentlichkeit entgegen und die Kir­ che profitierte auch von Differenzen zwischen den zuständigen Gremien (Par­ tei­führung, Innenministerium und Hauptabteilung Verbindung zu den Kir­ chen beim stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats Otto Nuschke). Im Juni 1953, unmittelbar vor dem Volksaufstand, mäßigte die SED-Führung ih­re harte Linie gegenüber der Evangelischen Kirche auf entsprechende Vor­ ga­ben Moskaus hin.613 Diese Normalisierung wirkte sich auch auf die Häft­ lings­seelsorge aus. So unterzeichnete Oberkirchenrat Erich Grauheding im Juli 1953 für die Evangelische Kirche eine »Dienstordnung für die Tätigkeit der Geist­lichen in den Strafvollzugsanstalten«, die ab November auch für die ka­ tho­lische Gefängnisseelsorge galt.614 Die oberste Gefängnisverwaltung konnte da­bei ihre Sicherheitsbedenken geltend machen; so musste die Kirche hin­neh­ men, dass den Geistlichen ausdrücklich untersagt wurde, Informationen der An­gehörigen weiterzuleiten, Eingaben der Häftlinge anzunehmen oder Päck­ chen zu überreichen. Vom Wohlwollen der jeweiligen Gefängnisleitung hing die Durchführung von Taufe oder Konfirmation ab. Individuelle Gespräche mit den Insassen konnten »auf Antrag« des Häftlings gestattet werden, wurden je­ doch ausnahmslos überwacht.615 Lediglich den im Strafvollzugsdienst ste­hen­ den, »fortschrittlichen« Geistlichen Giebeler, Bluhm und anfänglich auch Mund wur­den in der Praxis Vieraugengespräche mit Häftlingen zugestanden,616 doch wur­den diese im Falle Munds bald wieder eingeschränkt. Gottesdienste in Un­ ter­suchungshaftanstalten, die gelegentlich toleriert worden waren,617 wurden jetzt untersagt. Diese erste einheitliche Regelung der seelsorgerischen Betreuung, die als Dienstvorschrift bis 1989 gültig blieb, nutzten die Gefängnisleiter je­den­falls zu einer möglichst restriktiven Praxis.618 611  Winter, Friedrich: Die evangelische Kirche der Union und die Deutsche Demokratische Republik. Beziehungen und Wirkungen (Unio und Confessio, 22). Bielefeld 2001, S. 45. 612  Vgl. Besier: Der Weg in die Anpassung, S. 115. 613  Vgl. ebenda, S. 12–134; Boyens, Armin: Ökumenischer Rat der Kirchen und evange­lische Kirche in Deutschland zwischen Ost und West. In: Besier, Gerhard; Boyens, Armin; Lindermann Gerhard: Nationaler Protestantismus und Ökumenische Bewegung. Kirchliches Handeln im Kalten Krieg 1945–1990 (Zeitgeschichtliche Forschungen, 3). Berlin 1999, S. 27–321, hier 60. 614  Vgl. Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Teil DDR; DDR 1951–1957 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte). Bearb. von Kösters, Christoph. Paderborn 2012, S. 418. 615  Vgl. Dienstordnung für die Tätigkeit der Geistlichen in den Strafvollzugsanstalten o. D. [3.7.1953]; BArch DO1 11/1572, Bl. 166. 616  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 95. 617  Vgl. Halbrock: Evangelische Pfarrer, S. 88. 618  Vgl. BArch DO1 11/1572, Bl. 206.

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Die Bedingungen für die Häftlingsseelsorge verschlechterten sich erneut, als die SED im Jahre 1956 im Rahmen innerdeutscher Auseinandersetzun­ gen gegen die EKD vorging, seinerzeit die letzte gesamtdeutsche Institution in dem geteilten Land.619 Die Häftlingsseelsorge diente jetzt als Druckmittel: So wur­den beispielsweise in den Haftarbeitslagern die zwischenzeitlich gestatte­ ten Gottes­dienste zu Beginn des Jahres 1956 wieder eingeschränkt.620 Auch in Branden­burg-Görden fanden im ersten Halbjahr 1956 keine Gottesdienste mehr statt, wie ehemalige Insassen berichten.621 Im November 1956 wurde dann das Staatssekretariat für Kirchenfragen gebildet, das den Kirchen ein offizieller Ansprechpartner sein sollte, aber politisch zunächst kaum Bedeutung erlangte und auch erst im März 1957 mit einem Staatssekretär besetzt wurde.622 Zum Eklat kam es, als im gleichen Monat die Bundesregierung und die EKD einen Militärseelsorgevertrag abschlossen, der die seelsorgerische Betreuung von Bundeswehrsoldaten regelte.623 Die SED-Führung betrieb jetzt die Abspaltung der ostdeutschen Evangelischen Kirche, von der sie eine »Loyalitätserklärung« einforderte.624 Schließlich brach die DDR-Regierung die Kontakte zur EKD ganz ab und erklärte sich im Mai 1958 nur noch zur Kooperation mit der Ost-Kirche bereit.625 Heinrich Grüber, der zusammen mit Bischof Heinrich Wienken von der Katholischen Kirche offiziell mit der obersten Gefängnisverwaltung über die Gefangenenseelsorge verhandelte, legte nach heftigen Angriffen des SED-Regimes sein Amt als Bevollmächtigter bei der DDR-Regierung nieder und wechselte in die Bundesrepublik. Im Mai 1958 wurde ihm die Akkreditierung entzogen und die weitere Einreise in die DDR untersagt.626 In der Bundesrepublik blieb Grüber indes ein unbequemer Zeitgenosse; so engagierte er sich beispielsweise gegen die Wiederbewaffnung und Atomwaffen. 619  Vgl. Lepp, Claudia: Tabu oder Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945–1969) (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte/B, 42). Göttingen 2005, S. 226; Boyens: Ökumenischer Rat, S. 58. 620  Vgl. BArch DO1 11/1572, Bl. 186–215. 621  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 622  Vgl. u. a. Schroeder: Der SED-Staat, S. 476. 623  Gesetz über die Militärseelsorge vom 26.7.1957; BGBl. 1957 vom 26.7.1957, S. 701–705. Gerade die klammheimliche Zustimmung massiv bedrängter ostdeutscher Synodalen hatte die Annahme des Vertrages ermöglicht. Vgl. Greschat, Martin: Der Militärseelsorgevertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Evangelischen Kirche in Deutschland. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte (2008) 1, S. 63–79, hier 77. 624  Vgl. Hanke, Christian: Die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1945 bis 1990. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung unter besonderer Berücksichti­ gung des kirchlichen Demokratie-, Gesellschafts- und Staatsverständnisses. Berlin 1999, S. 120; Stupperich, Robert: Otto Dibelius. Ein evangelischer Bischof im Umbruch der Zeiten. Göttingen 1989, S. 498–503. 625  Vgl. Gerlach: Staat und Kirche in der DDR, S. 54. 626  Vgl. Hanke: Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche, S. 170.

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In den Haftanstalten wurde den Pfarrern in dieser Zeit allseitig die Arbeit erschwert. Teilweise wurde den Seelsorgern sogar an Weihnachten der Zutritt zu den Haftkrankenhäusern verwehrt, wo sie aus Gründen der Geheimhaltung noch weniger gern gesehen waren als in den gewöhnlichen Strafvollzugsanstalten. Wurden Gottesdienste in Haftanstalten überhaupt gestattet, versuchten die Gefängnisleitungen dem großen Interesse der Insassen entgegenzuwirken, indem sie beispielsweise zeitgleich die Freistunde durchführten oder Filme zeigten. Teilweise durften auch nur die Häftlinge teilnehmen, die sich schon bei ihrer Aufnahme in die Haftanstalt zu einer der beiden Konfessionen bekannt hatten. Und die Räume, in denen Gottesdienste abgehalten wurden, blieben im Winter ungeheizt.627 Bibeln und Gesangbücher für den Gottesdienst waren zwar in gewisser Zahl vorhanden, doch mussten die Insassen schon ausdrücklich danach verlangen. »Die Häftlinge machen allerdings nur wenig Gebrauch von dieser Mög­lichkeit, weil die Anforderung eines christlichen Buches Schikanen durch die Wachmannschaften auslöst«,628 wie ein ehemaliger Aufseher eingestand. Auch konnten die Pfarrer noch nicht einmal den Inhalt ihrer Predigt frei bestimmen – als beispielsweise ein katholischer Anstaltsgeistlicher vom Weiterleben gläubiger Chris­ten nach dem Tode sprach und den marxistischen Glauben demgegenüber als »arm­selig« bezeichnete, forderte die Gefängnisleitung umgehend seine Ablö­ sung.629 Ein katholischer Pfarrer, der erstmalig 1954 in Brandenburg-Görden eine Messe ab­halten durfte, war wegen seines rhetorischen Talents bei den Häftlingen beliebt, was auch den beiwohnenden Aufsehern ein wenig Respekt gegenüber seinem Gottes­dienst abverlangte. Doch schon im Folgejahr wurde er nicht mehr zur Predigt zugelassen.630 Sein Nachfolger als katholischer Gefängnispfarrer für die Haftanstalt an der Havel wurde 1960 Theobald Höhle.631 Selbst zum Tode Verurteilte hatten in jener Zeit kein Anrecht auf den Beistand eines Geistlichen,632 auch wenn dies in der Praxis mitunter ermöglicht wurde.633 Wenngleich in den verschiedenen Haftanstalten der DDR unterschiedlich ver­

627  Vgl. beispielsweise für die Strafvollzugsanstalt Hoheneck: Bechler, Margret: Warten auf Antwort. Ein deutsches Schicksal. Frankfurt/M. 1993, S. 375. 628  [Bericht des geflüchteten Aufsehers Horst Bock] über die Strafvollzugsanstalt BrandenburgGörden vom 28.7.1954; BArch B 285/201. 629  Vgl. BArch DO1 11/1572, Bl. 209. 630  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 631  Vgl. Nitschke, Johannes: 150 Jahre Pfarrkirche »Heilige Dreifaltigkeit« Brandenburg an der Havel 1851–2001. Brandenburg an der Havel 2001, S. 36. 632  Vgl. Dienstanweisung des Chefs der Deutschen Volkspolizei betr. die Einleitung der Strafvollstreckung bei Urteilen, in denen auf Todesstrafe erkannt wurde vom 28.8.1954; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 50517. 633  So durfte Hans-Joachim Mund den in den Waldheimer Prozessen zum Tode Verurteilten beistehen. Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 67.

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fahren wurde, kann von einer ausreichenden seelsorgerischen Betreuung der Insassen keine Rede sein. Auch Mund geriet in diesen Jahren immer mehr in die Schusslinie, wollte er doch in den Gottesdiensten »nicht über Politik reden«, aber auch »keinesfalls über den Frieden«, womit die Außenpolitik Moskaus gemeint war. »Er spricht nur darüber, wie es in der Bibel steht.«634 Er verfügte zwar, anders als Giebeler und Bluhm, über ein SED-Parteibuch, doch entfernte er sich weltanschaulich und politisch von der Partei und verteilte, allen Vorgaben zum Trotz, heimlich westliche Medikamente gegen Tbc.635 Zuletzt fand er sogar den Mut, Briefe der Insassen durch die Kontrollen zu schmuggeln.636 Auf diese Weise geriet er jedoch in das Visier der Staatssicherheit, die Belastungsmaterial über ihn zusammentrug.637 Dass die Geheimpolizei ihn noch tolerierte, hing wohl auch mit dem Abschluss einer »Gemeinsamen Erklärung« zwischen Staat und Kirche im Juli 1958 zusammen.638 Von der Central Intelligence Agency (CIA) gewarnt,639 flüchtete Mund dann – auch aus persönlichen Gründen – im Januar 1959 nach Westberlin. Zehn Tage später erklärte er in einem Schreiben an den Magistrat von Ostberlin seine Motive und erklärte dabei seine radikale Abrechnung mit der Strafvollzugspolitik des SED-Regimes. Ich nahm meine Arbeit in der Verwaltung Strafvollzug auf unter der Bedingung, dass ich jeden Gefangenen ohne Aufsicht sprechen könne. Diese Zusage hat man gebrochen mit dem lächerlichen Hinweis auf den Militärseelsorgevertrag. Es war offensichtlich, dass diese Begründung jeder Logik entbehrte. [...] Ich habe damals die Genossen gewarnt, dass der Bruch dieses Versprechens auch für mich Konsequenzen haben wird. Man hat sich darüber hinweggesetzt, die Meinung des Einzelnen, vornehmlich des ›Pfaffen‹, wie Generalmajor Mayer mich zu titulieren beliebte, war uninteressant. Man hat an mich gerichtete Post einfach unterschlagen [...]. In Torgau z. B. wurde die Meldung von Gefangenen zur Sprechstunde unterdrückt und man besaß noch die Geschmacklosigkeit, einem Amtsbruder gegenüber sich dessen zu rühmen. Das letzte Jahr in den Berliner Anstalten hat mir den Rest gegeben. Ein Gespräch mit Oberst [Werner] Jauch [einem leitenden Mitarbeiter der Verwaltung Strafvollzug] machte mir die ganze Unmöglichkeit meiner dortigen Position deutlich. Als ich ihm sagte, es sei mir nicht glaubhaft, dass in den Berliner Anstalten sich kein Gefangener zur Sprechstunde melde, gab er mir zu, dass das auch seine Meinung sei. Auf meinen 634  Bericht der Abteilung VII/2 betreffend Pfarrer Mund aus der Verwaltung Strafvollzug vom 20.11.1956; BStU, MfS, AOP, Nr. 14031/63, Bl. 153. 635  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 67; Raddatz, Fritz J.: Unruhestifter. Er­innerungen. München 2003, S. 56. 636  Auch »in der StVA Luckau betätigte sich der dort tätige katholische Geistliche als Kassiber­ schieber«. Quartalsbericht der Hauptabteilung Strafvollzug für das IV. Quartal 1953 vom 4.2.1954; BArch DO1 11/1468, Bl. 88–105. 637  Vgl. BStU, MfS, AST I, Nr. 23/59. 638  Vgl. Gerlach: Staat und Kirche in der DDR, S. 59. 639  Vgl. Raddatz: Unruhestifter, S. 167.

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Appell hin, dann doch die Anstaltsleiter zur Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit zu bewegen, lehnte er dies ab mit der Begründung, er würde nur noch raffiniertere Methoden den Anstaltsleitern zur Erschwerung meiner Arbeit anraten. […] In der Verwaltung Strafvollzug hat man mir sehr gründlich in den 9 Jahren meines dortigen Dienstes deutlich gemacht, dass die Verfassung und die sog. demokratische Gesetzlichkeit den Genossen einen Pfifferling wert ist. Alles wird nur unter dem Gesichtspunkt von Strategie und Taktik gewertet, und dem werden rücksichtslos Menschen und Gesetze geopfert. Ein Staat aber, der seine eigenen Gesetze nicht ernst nimmt, hat keinen Anspruch mehr darauf, von seinen Bürgern Vertrauen und Gehorsam zu verlangen. Es gibt in der DDR keine Kontrolle der Macht; die sog. Diktatur des Proletariats ist in Wirklichkeit eine Diktatur einer kleinen Gruppe des Politbüros, die rücksichtslos ihre Vorstellungen vom Sozialismus verwirklicht und mit törichtem Hass Andersdenkende verfolgt. Die völlige Rechtsunsicherheit des Einzelnen hat seinen Grund in einem Staatsaufbau, in dem Legislative und Exekutive sich decken. Immer wieder habe ich erleben müssen, wie Wachtmeister und Offiziere sich skrupellos über die Bestimmungen des Strafvollzuges hinwegsetzen. Dieses Verhalten habe ich lange Zeit vor mir selbst zu entschuldigen versucht, mit dem Hinweis auf den Mangel an Kadern, die äußere Bedrohung etc., bis ich einsehen musste, dass es im System selbst liegt.640

Auch andere Anstaltsgeistliche gerieten in dieser Zeit in das Visier der Staats­ sicherheit und mussten flüchten. So hatte der 1903 geborene katholische Pfarrer Rudolf Stromberg eine Zeit lang als Gefängnispfarrer in Berlin-Moabit und in den Frauengefängnissen in der Charlottenburger Kantstraße wie auch in der Friedrichshainer Barnimstraße fungiert. Während er in Westberlin über eigene Schlüssel für den Zellentrakt verfügte und auf vorzeitige Haftentlassungen etwas Einfluss nehmen konnte, wurde seine Tätigkeit im Ostteil der Stadt kritisch beäugt. So wie er im Westen Geschenke an die Insassen jeglicher Konfession verteilte und sich für deren private Belange einsetzte, engagierte er sich nach Möglichkeit auch im Ostteil der Stadt. Die Staatssicherheit unterstellte ihm daher, die Häftlinge illegal zu organisieren. Als ihn die Geheimpolizei sogar der Agententätigkeit für den Bundesnachrichtendienst beschuldigte, musste er etwa 1957 seine Tätigkeit in Ostberlin einstellen.641 Neben ihm oblag die Seelsorge in den Ostberliner Haftanstalten seit 1952 Pfarrer Fritz Sasse.642 Mit einer »Programmatischen Erklärung« des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Jahre 1960 entspannte sich das Verhältnis etwas. Zugleich bemühte sich die SED-Führung, »progressive 640  Schreiben von Hans-Joachim Mund an das Referat Kirchenfragen des Magistrats von Groß-Berlin; BStU, MfS, AOP, Nr. 14031/63, Bl. 176–179. 641  Ab Anfang der 60er-Jahre arbeitete er dann ausschließlich als Mitarbeiter der kirchlichen Beratungsstelle »Offene Tür e.V.« in Westberlin. Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten S[...], M[...] vom 20.9.1963; BStU, MfS, AU, Nr. 12569/64, Bd. 12, Bl. 443–479. 642  Vgl. Lange, Siegfried: Strafvollzugsseelsorge in der ehemaligen DDR. In: Zwiegespräch (1994) 24, S. 1–4.

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Kräfte« innerhalb der Kirche immer mehr auf die eigene Seite zu ziehen.643 Weil durch den Mauerbau die Gremien der Evangelischen Kirche kaum mehr gemeinsam tagen konnten, rückte die von Ostberlin gewünschte Abspaltung der ostdeutschen Kirche näher.644 Die Leitung der Gefangenenseelsorge im Organ Strafvollzug übernahm nach der Flucht von Mund der erwähnte Heinz Bluhm. Anders als sein Vorgänger nahm er für seine Schützlinge keine Risiken auf sich, sondern setzte »in der Gefangenenseelsorge konsequent die Vorschriften und die Interessen der Volkspolizei durch«. Als Bluhm nach siebenjähriger Tätigkeit im Jahre 1966 schwer erkrankte, wurde sein Posten als Leiter der Gefangenenseelsorge nicht neu besetzt. Die Gottesdienste in den Haftanstalten übernahm jetzt Eckart Giebeler, der nun für mehr als zehn Jahre die Gefangenenseelsorge in der DDR dominierte.645 Bei der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei angestellt, war er jetzt für die seelsorgerische Betreuung der Häftlinge insbesondere in Brandenburg-Görden, Luckau, Cottbus, Waldheim, Bautzen, Halle, Hoheneck, Leipzig Klein-Meusdorf, Ichtershausen und Berlin-Rummelsburg zuständig. Als einziger Seelsorger hatte er sogar Zugang zur Haftanstalt Bautzen II,646 obwohl hier seit 1956 die Staatssicher­ heit Regie führte. Denn Giebeler galt als besonders loyal gegenüber den Macht­ habern, ließ die Gefangenen gegebenenfalls mit ihren Forderungen »ablaufen«, meldete bekannt gewordene Mängel hinsichtlich Ordnung und Sicherheit sofort an die Gefängnisleitungen und besaß überhaupt eine »fortschrittliche« Einstellung.647 Giebeler, so attestierte ihm Fritz Ackermann in Brandenburg-Görden, »arbeitet mit uns als Dienststellenleitung sehr gut zusammen und berät alle Fragen, die im beiderseitigen Interesse liegen, gemeinsam«.648 Nur für Außenstehende, so Giebeler, möge es »manchmal so aussehen«, als gehe es ihm darum, Häftlinge »religiös zu erbauen und ihnen dadurch das Leben im Strafvollzug zu erleichtern«. In Wirklichkeit ziele sein ganzes Wirken auf eine »zielstrebige Erziehungsarbeit zu Disziplin und Selbstdisziplin«, weil »die Arbeitskraft jedes Menschen für unser großes sozialistisches Aufbauwerk« gebraucht werde.649 643  Vgl. Krusche, Hans-Martin: Pfarrer in der DDR. Gespräche über Kirche und Politik. Berlin 2002, S. 18. 644  Vgl. Geißel, Ludwig: Der Weg zum DDR-Kirchenbund. In: Seidel, Thomas A. (Hg.): Gottlose Jahre? Rückblicke auf die Kirche im Sozialismus der DDR. Leipzig 2002, S. 101–107, hier 102 f. 645  Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 109 f. 646  Vgl. ebenda, S. 114. 647  Information der Operativgruppe der Abteilung VII zum evangelischen Geistlichen Giebeler vom 6.3.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 33. 648  Mit diesem Schreiben machte sich Ackermann für Giebeler stark, als im Dezember 1961 das Volkspolizeiamt Leipzig wegen eines Personenunfalls mit Todesfolge gegen diesen ermittelte; das Verfahren wurde später eingestellt. Schreiben des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an das Volkspolizeiamt Brandenburg vom 4.11.1962; BStU, MfS, D SKS, Nr. 61803, Bl. 6. 649  Schreiben von Eckart Giebeler an die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staats­si­cher­heit betr. Religionsausübung vom 1.8.1962; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 1, Bl. 45–47.

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Giebeler arbeitete zudem als Zuträger der für die Kirchen zuständigen Unter­ abteilung 4 der Hauptabteilung V (später Hauptabteilung XX) der Staatssicherheit, die ihn im Mai 1959 per Handschlag als Spitzel unter dem Decknamen »Roland« anwarb.650 Der »Seelen-Polizist der Stasi«, wie ihn ein persönlich Betroffener be­ zeichnete,651 ließ sich ab 1962 für seine Spitzeldienste bezahlen, und zwar ab 1982 in Höhe von 250 Mark monatlich zuzüglich Auslagen.652 Im Allgemeinen traf sich IM »Roland« mindestens einmal im Monat mit seinem jeweiligen Füh­ rungs­­offizier. Weil er unmittelbar am »Feind« arbeitete, wurde er 1976 zum In­ offiziellen Mitarbeiter zur Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit ste­hen­den Personen (IMV) umregistriert. Im Jahre 1981 wurde Giebeler der Li­nie VII der Staatssicherheit übergeben, die für die Überwachung aller Zweige der Volkspolizei einschließlich der Gefängnisverwaltung verantwortlich zeich­ne­te (siehe Kap. 5.1.1). Denn Giebelers Einsatzgebiet hatte sich längst von der Evangelischen Kirche, wo er bei den Pfarrkonventen nur mehr geduldet wur­de, zum Strafvollzug hin verlagert. Im Jahr 1981 wurde er zum Inoffiziellen Mit­arbeiter im besonderen Einsatz (IME) und im Jahre 1984 zum Inoffiziellen Mitarbeiter mit Feindverbindung (IMB) »befördert«. Denn der Pfarrer hatte Zugang zu vielen politischen Häftlingen, die der MielkeApparat »kleinkriegen« wollte.653 Giebeler handelte dabei vielfach in vorauseilendem Gehorsam – etwa wenn sich Haftentlassene für den seelischen Beistand schriftlich bedankten. Er übergab dann die Briefe jedoch der Staatssicherheit, statt, wie von den ehemaligen Insassen erbeten, Mitgefangenen Grüße zu bestellen.654 Giebeler bagatellisierte auch gegenüber hohen Kirchenvertretern die Misshandlungen von Häftlingen im DDR-Strafvollzug.655 In der Haftanstalt Halle versuchte er ferner, eine In­haftierte zu überreden, ihr Kind zur Adoption freizugeben.656 Und sogar über Vieraugengespräche mit inhaftierten Glaubensbrüdern berichtete er dem MielkeApparat.657 Außerdem verweigerte er in einigen Fällen politischen Gefangenen ausdrücklich die Teilnahme an Gottesdiensten.658 650  Siehe auch die beschönigende Selbstdarstellung von Giebeler, Eckart: Hinter verschlossenen Türen. Vierzig Jahre als Gefängnisseelsorger in der DDR. Wuppertal 1992. 651  Storck, Matthias: Wanzen unter dem Talar. In: Rheinischer Merkur vom 8.1.1993, S. 22. 652  Vgl. Schreiben des Ministeriums für Staatssicherheit an [Eckart] Giebeler vom 16.4.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 2, Bl. 54. 653  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 111–153. 654  Vgl. Information der Quelle IMB »Roland« vom 13.3.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 746, Bl. 138. 655  Vgl. Bericht des IMB »Roland« vom 20.6.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 15, Bl. 14–18. 656  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 126. 657  Vgl. [Schreiben von Eckart Giebeler] vom 20.11.1967; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 1, Bl. 101 f. 658  Vgl. Jablonski, Marietta: »Verhören bis zum Geständnis«. Der Operativ-Vorgang »Optima« (LStU in Sachsen-Anhalt. Betroffene erinnern sich, 3). Magdeburg 1996, S. 146. Giebeler wird an dieser Stelle zwar nicht namentlich genannt, doch ist aus den Zusammenhängen heraus sehr wahrscheinlich, dass es sich um ihn handelte.

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Indes durchschauten viele Insassen sein doppeltes Spiel und ahnten, dass er ein Zuträger der Staatssicherheit war. Als Indiz hierfür galt ihnen, dass Aufseher ihn verschiedentlich mit »Herr Major« ansprachen, was indes nur seiner Anstellung bei der Strafvollzugsverwaltung geschuldet war. Auch westdeutsche Medien berichteten auf der Grundlage von Häftlingsaussagen über den Verdacht gegen Giebeler, doch erhielt er Rückendeckung von der Evangelischen Kirche – darunter durch solche Repräsentanten, die er ebenfalls ausspionierte.659 Aufgrund seiner vielseitigen Einsatzmöglichkeiten und seiner hohen Einflussposition war Giebeler ein wichtiger Spitzel (siehe Kap. 5.4.3), zeigte allerdings gelegentlich »Starallüren«, weswegen der Mielke-Apparat es für geboten hielt, ihm »von Zeit zu Zeit eine Lektion [zu] halten über Sinn und Ziel der Zusammenarbeit mit dem MfS«.660 Seine Spitzeltätigkeit schloss aber nicht aus, dass er den Insassen mitunter auch manchmal von Nutzen war, etwa wenn er Entlassungskandidaten nach langjähriger Haft bei ihren ersten Gehversuchen in der Freiheit begleitete.661 In seltenen Fällen verstieß auch er gegen die Regeln und bestellte etwa Grüße oder schmuggelte sogar einmal einen Kassiber. Teilweise handelte es sich hier­ bei jedoch um Maßnahmen, die er auf Anweisung oder mit Wissen der Staats­ sicherheit ergriff, um sein Image aufzupolieren. In anderen Fällen waren sol­che Kassiberschmuggel aber nicht abgesprochen, weswegen Giebeler dann sei­ner­ seits durch die Staatssicherheit überwacht und – beispielsweise im Jahre 1963 – der Doppelagententätigkeit verdächtigt wurde.662 Aufgrund solcher »Unzu­ verlässigkeiten« durfte er ab 1967 Einzelgespräche mit Häftlingen nur noch im Beisein eines Aufsehers führen. Doch weil der geheimpolizeiliche Ertrag solcher überwachten Gespräche vermutlich minimal war,663 hob der neue Leiter der Verwaltung Strafvollzug, Hans Tunnat, diese Regelung 1971 wieder auf.664 Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde er von Bischof Gottfried Forck wieder in den Dienst der Kirche übernommen und mit der Seelsorge in BrandenburgGörden betraut. Erst als Vorwürfe hinsichtlich seiner IM-Tätigkeit offenkundig wurden, unterzeichnete er eilends einen Auflösungsvertrag.665 Das SED-Regime schränkte Ende der Sechzigerjahre den Handlungsspielraum der Kirchen weiter ein. Die Evangelische Kirche reagierte darauf mit der Gründung 659  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 140–144. 660  Halbjahreseinschätzung für IM »Roland« vom 30.6.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 1, Bl. 110. 661  Vgl. Bericht von Eckart Giebeler über die Entlassung von Langstrafern vom 25.10.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 297, Bd. 3, Bl. 107–110. 662  Vgl. Einschätzung der Abteilung V/4 [der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit] Potsdam über die Zusammenarbeit mit dem IMS »Roland« vom 29.8.1963; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 1, Bl. 63 f. 663  Vgl. [Schreiben von Eckart Giebeler] vom 20.11.1967; ebenda, Bl. 101 f. 664  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 125. 665  Vgl. [Stellungnahme von Andreas Beckmann und Regina Kusch zu Giebeler]; Privatarchiv Johannes Drews.

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des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Juni 1969. Bischof Albrecht Schönherr, der im gleichen Jahr Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen wurde, wollte eine Konfrontation mit der Staats- und Partei­ führung vermeiden. Diese Linie zeitigte Mitte der Siebzigerjahre auch Erfolge in der Gefangenenseelsorge: So wurde beispielsweise den Häftlingen mit dem neuen Strafvollzugsgesetz im Mai 1977 ein Recht auf »religiöse Betätigung« gewährt.666 Der Ostergottesdienst der Jahre 1977 und 1978 in Brandenburg-Görden oblag anstelle Giebelers einem namentlich in den Quellen nicht genannten Bischof, was die Gefängnisleitung sehr umsichtig überwachte.667 Den Weihnachtsgottesdienst 1977 in Cottbus durfte Albrecht Schönherr selbst abhalten,668 und als er im März 1978 mit Honecker zusammenkam, erreichte die Entspannung zwischen Staat und Kirche ihren Höhepunkt.669 So durften in der Gefangenenseelsorge jetzt auch wieder Häftlinge in Untersuchungshaft sowie in Einzelfällen im Jugendund Militärstrafvollzug seelsorgerisch betreut werden.670 In Brandenburg-Görden durfte Schönherr selbst im Januar 1979 predigen.671 Auch im Haftarbeitslager Ueckermünde beispielsweise konnte jetzt erstmalig ein Pfarrer sprechen – vor allerdings nur drei Gefangenen.672 Für Gottesdienste in den Strafvollzugsanstalten durfte die Kirche jetzt jährlich 150 neue Bibeln bereitstellen – bei allerdings einer Gesamtzahl von über 31 000 Strafgefangenen. Entsprechend den Vereinbarungen zwischen dem Staatsratsvorsitzenden und der Evangelischen Kirchenleitung im März 1978 wies die oberste Gefängnisverwaltung an, allen evangelischen und katholischen Insassen prinzipiell den Besuch eines Gottesdienstes zu ermöglichen. Mit zunehmender Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung wurden die Gefängnisleiter dabei zu großer Umsicht ermahnt.673 666  Vgl. Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbe­ stimmung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 667  Vgl. Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienstbesprechung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 129/79, Bl. 11–73. 668  Vgl. Information des Ministeriums für Staatssicherheit vom 3.1.1978; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 2785, Bl. 1–3. 669  Vgl. Lepp: Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche, S. 65–69; Heinecke, Herbert: Konfession und Politik in der DDR. Das Wechselverhältnis von Kirche und Staat im Vergleich zwischen evangelischer und katholischer Kirche. Leipzig 2002, S. 348–354. 670  Vgl. Radatz, Werner; Winter, Friedrich: Geteilte Einheit. Die evangelische Kirche BerlinBrandenburg 1961 bis 1990. Berlin 2000. Gottesdienste indes blieben hier untersagt – und das sogar im Militärstrafvollzug, obwohl hier, anders als in der Untersuchungshaft, das Zusammenkommen von Insassen die (geheim-)polizeilichen Ermittlungen nicht beeinträchtigen konnte. 671  Vgl. Schönherr, Albrecht: … aber die Zeit war nicht verloren. Erinnerungen eines Alt­ bischofs. Berlin 1993, S. 426. 672  Vgl. Lange: Strafvollzugsseelsorge, S. 1–4. 673  Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienstbesprechung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 129/79, Bl. 11–73.

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Entsprechend den Vereinbarungen zwischen Honecker und Schönherr muss­ ten jetzt für die Haftanstalten weitere Pfarrer abgestellt werden. Mitte der Sieb­ zigerjahre waren neben Giebeler zwölf weitere evangelische sowie elf katho­ lische Geistliche hinter Gefängnismauern aktiv.674 Doch weil viele von ihnen mittlerweile das Pensionsalter erreicht oder überschritten hatten, herrsch­te Per­ so­nal­bedarf: Bis zum Jahr 1977 konnten nur in 14 der etwa 40 Straf­voll­zugs­ anstalten Gefangene überhaupt seelsorgerisch betreut werden. Jetzt sollten die ostdeutschen Landeskirchen für jeweils ein bis zwei Pfarrer eine Zulassung als Gefängnisseelsorger beim Staatssekretariat für Kirchenfragen beantragen; in der Praxis wählten die Abteilungen für Innere Angelegenheiten dann jedoch meist andere Pfarrer aus, die wohl als politisch genehm galten. Die bedeutsamen Haftanstalten Brandenburg-Görden, Hoheneck, Cottbus und Bautzen II blieben ohnehin allein dem linientreuen Giebeler vorbehalten.675 Grundsätzlich fanden nun in diesen Haftanstalten Gottesdienste einmal monatlich sowie teilweise an christlichen Feiertagen statt; allein in Hoheneck wurde in vierzehntägigem Abstand eine Andacht zelebriert. Insgesamt waren zu Beginn der Achtzigerjahre 16 evangelische Pfarrer vorwiegend für den Dienst in den Haftanstalten abge­ stellt. In einigen Gefängnissen, wie der Schwarzen Pumpe oder in Fürstenwalde, waren darüber hinaus Pfarrer aus nahe gelegenen Gemeinden nebenamtlich im Strafvollzug tätig.676 Bestätigt wurden alle Gefängnispfarrer formal durch den Staatssekretär für Kirchenfragen Hans Seigewasser,677 de facto aber wurden sie durch das Ministerium des Innern und die Staatssicherheit ausgewählt. Die als Gefängnispfarrer bestätigten Geistlichen konnten sich gelegentlich darüber austauschen, welche unterschiedlichen Spielräume ihnen in den ver­ schiedenen Haftanstalten zugestanden wurden.678 Einige der Seelsorger han­delten dabei im Sinne der christlichen Nächstenliebe und schmuggelten Lebensmittel in die Haftanstalt oder nahmen Kassiber mit nach draußen. Manche konnten statt der vorgeschriebenen Anrede »Strafgefangener xy« höflicherweise den vollen Namen nennen. Und auch Kontakte zu den Familienangehörigen der Inhaftierten pflegten viele Pfarrer – statt diese zu vermeiden, wozu sie eigentlich gehalten waren.679 Andere Gefängnispfarrer wiederum vertraten derart »fortschrittliche« Einstellungen, dass die Häftlinge lieber auf religiösen Beistand verzichteten – so 674  Vgl. Einschätzung der Lage im Strafvollzug vom 19.11.1974; BArch DO1/10176, o. Pag. 675  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 156–168. 676  Vgl. Meldungen des Evangelischen Pressedienstes vom 11.5.1978, 3.7.1978, 1.12.1978, 3.12.1978; zit. nach: Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 101. 677  Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienstbesprechung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA 129/79, Bl. 11–73. 678  Vgl. [Bericht über den Konvent der evangelischen Gefängnispfarrer] vom 22.10.1980; BStU, MfS, AIM, Nr. 1536/87, Bd. 1, Bl. 182. 679  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 174.

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fand beispielsweise in Untermaßfeld über Jahre hinweg kein Gottesdienst statt.680 Auch in Brandenburg-Görden war einigen Insassen Giebelers Agieren derart zuwider, dass sie noch in der Haft ihren Austritt aus der Kirche erklärten.681 Viele Häftlinge nutzten zumindest die Chancen zur Kommunikation, die sich aus den Gottesdiensten ergaben, und schätzten die Abwechslung vom Haftalltag. In kleineren Haftanstalten wünschte angeblich kein einziger Insasse religiöse Betreuung, wie die Gefängnisverwaltung behauptete. Oft wurde den Gefangenen aber auch gar nicht mitgeteilt, dass Gottesdienste jetzt theoretisch möglich waren. Ein religiöses Interesse gleich welcher Art zu bekunden, trauten sich deswegen gegen Ende der Siebzigerjahre in allen DDR-Haftanstalten zusammen nicht einmal Tausend von insgesamt rund 35 000 Insassen. Dabei waren Gefangene katholischen Glaubens weitaus seltener als evangelische Insassen, wie es der Sozialstruktur der DDR-Bevölkerung entsprach.682 Am Gottesdienst hätten vermutlich mehr Häftlinge teilgenommen, hätten sie dadurch nicht Nachteile oder gar Schikanen der Aufseher riskiert. In Hoheneck beispielsweise ließ man entsprechende Ansinnen der politischen Häftlinge bis in die erste Hälfte der Siebzigerjahre einfach ins Leere laufen.683 In BrandenburgGörden sollten die Gefangenenakten der regelmäßigen Gottesdienstteilnehmer markiert werden.684 Dies setzte den Aufseher darüber ins Bild, ob ein Insasse einen Gottesdienst womöglich eher im Interesse des Informationsaustausches besuchen wollte. »Die religiöse Betätigung der Strafgefangenen darf nicht als ›willkommene Abwechslung‹ […] angesehen werden«, erklärte die oberste Gefängnisverwaltung, die den Häftlingen Annehmlichkeiten grundsätzlich missgönnte. Allein »religions­ verbundene Rechtsverletzer« seien zum Gottesdienst zugelassen,685 allen anderen galt es dies vorzuenthalten. So war die Teilnahme am Gottesdienst bis zuletzt eine gnädiger Weise gewährte Vergünstigung und kein verbrieftes Recht; in Brandenburg-Görden etwa wurden allein im Jahre 1987 mindestens 59 Insassen wegen Sicherheitsbedenken von vornherein ausgeschlossen.686 680  Vgl. Bericht über religiöse Bedürfnisse und deren Befriedigung in Einrichtungen des Strafvollzugs vom 6.3.1978; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 1, Bl. 151–155. In Brandenburg-Görden lag die Zahl der religiös Interessierten mit bis zu 250 Personen angeblich vergleichsweise hoch, doch kann dies auf dem Wirken – oder der Fehleinschätzung – von Eckart Giebeler beruhen, der diesen Bericht mutmaßlich verfasst hat. 681  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. 682  Vgl. Bericht über religiöse Bedürfnisse und deren Befriedigung in Einrichtungen des Strafvollzugs vom 6.3.1978; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 1, Bl. 151–155. 683  Vgl. Thiemann: Wo sind die Toten von Hoheneck?, S. 22. 684  Erziehungsprogramm des Leiters der StVA Brandenburg vom 28.4.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 99–108. 685  Vgl. Faber, Wolfgang u. a.: Die Pflichten und Rechte der Strafgefangenen im sozialistischen Strafvollzug der Deutschen Demokratischen Republik. Ostberlin 1974, S. 65. 686  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 703, Bd. 3, Bl. 633–641.

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Aufgrund solcher Restriktionen konnten oder wollten Mitte der Achtzigerjahre in der Haftanstalt an der Havel lediglich etwa 70 Häftlinge an den evangelischen und etwa 25 Insassen an den katholischen Gottesdiensten teilnehmen. Als so­ genannte Kirchgänger waren 159 Gefangene registriert, und immerhin 148 von ihnen wollten am Pfingstgottesdienst des Jahres 1985 teilnehmen. Etwa jeder dritte Kirchgänger galt als Ausreisewilliger. Diese Gruppe war damit weit überproportional vertreten.687 Rund 20 Häftlinge hielt der Mielke-Apparat für »operativ bedeutsame Kirchgänger«, die er besonders im Visier hatte,688 denn viele politische Gefangene nutzten den Kirchgang zur konspirativen Kontaktaufnahme mit Insassen anderer Vollzugsabteilungen.689 Um die zu verhindern, wurden die Gottesdienste von gewöhnlichen Aufsehern genau überwacht:690 »Die streng nach Bankreihen eingewiesenen Häftlinge wurden von mindestens 10 umher­ schleichenden Offizieren scharf ins Visier genommen. Während der ganzen Predigt gingen sie herum und machten sich Notizen: A hat die Lippen bewegt, B in die Hosentasche gefasst, C hat den Kopf nach links gedreht etc. etc.«691 Den Betroffenen drohte dann im nächsten Monat der Ausschluss vom Gottesdienst. Gerade politische Häftlinge wurden deswegen in etwa drei bis fünf Meter Abstand voneinander und mit mehreren leeren Sitzen zwischen ihnen platziert.692 Dass in der Haftanstalt an der Havel besonders strenge Sitten herrschten, musste im Jahre 1985 auch ein bundesdeutscher Bischof erfahren. Er hatte einen Häftling zwar in der Haftanstalt Cottbus besuchen dürfen, nachdem der Mann nach Brandenburg-Görden verlegt worden war, wurde ihm das gleiche Anliegen jedoch verwehrt.693 Zwar durften hier neben Giebeler und Höhle gelegentlich auch andere ostdeutsche Geistliche Häftlinge besuchen,694 doch hörte die Staatssicherheit dann das Gespräch ab und zeichnete es auf.695 687  Vgl. [Schreiben der Abteilung VII:] Einschätzung der Tätigkeit der in der StVE Brandenburg eingesetzten Seelsorger vom 28.5.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 11–13. 688  Bericht der Abteilung VII zur evangelischen und katholischen Kirche in der StVE Branden­ burg vom 28.5.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 702, Bl. 212–215. 689  Vgl. Welsch: Staatsfeind Nr. 1, S. 163. 690  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Heinz Kühn am 6.6.2001 in Berlin, 7 S. Und sogar zwei maoistisch gesinnte Häftlinge nutzten die Gelegenheit, beim Gottesdienst in Brandenburg-Görden ihren Kontakt zu pflegen. Vgl. [Bericht des] IMB-Vorlaufs »Gerd Friedrich« vom 23.9.1983; BStU, MfS, BV Berlin, AOPK, Nr. 1671/88, Bd. 2, Bl. 40 f. 691  Vgl. Schmidt: Leerjahre, S. 503. 692  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling R. L. am 24.7.2001 in Berlin, 5 S.; Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 693  Vgl. Monatsbericht der OPG der Abteilung VII für den Zeitraum August/September 1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 2, Bl. 335–346. 694  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 311. 695  Vgl. Sprecheraufzeichnung der Abteilung VII der BV Potsdam vom 30.6.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 297, Bl. 343–345.

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Starken Beschränkungen seiner seelsorgerischen Arbeit unterlag auch der erwähnte katholische Geistliche Theobald Höhle, der bis Mitte der Achtzigerjahre in der Haftanstalt an der Havel wirkte. Er hielt »sich strikt an seine geistlichen Pflichten«, wie die Staatssicherheit notierte. Seine Predigten formulierte Höhle schriftlich und überließ sie mehrfach im Vorfeld den zuständigen Aufsehern zur »Begutachtung«. Einzelgespräche lehnte er grundsätzlich ab, jedenfalls ohne das Beisein von Aufsehern, womit die Vertraulichkeit des seelischen Beistandes ab absurdum geführt wurde. Höhle galt der Geheimpolizei als »politisch des­ interessiert«, was dieser jedoch möglicherweise nur vorschob, um weiterhin in der Haftanstalt arbeiten und seine Westreisen zu Verwandten fortsetzen zu können. Andererseits wollte sich Höhle aber auch nicht zum Werkzeug der Obrigkeit degradieren lassen, denn »eine bewusste Unterstützung des SV durch Höhle ist nicht zu erkennen«.696 Höhle versah seinen Dienst bis zu seinem Tod im Jahre 1986.697 Sein Nachfolger, der katholische Pfarrer Paul Berger aus Premnitz, ver­trat eine kritischere Haltung gegenüber dem SED-Regime.698 So fand er eine nach außen hin freundliche, insgeheim jedoch skeptische Aufnahme, als er im Sep­ tem­ber 1986 seinen Dienst antrat. Es »wurde ihm aufgezeigt«, so berichtete der Abteilungsleiter Udo Jahn über das Einführungsgespräch, »dass er hier seine seelsorgerischen Aufgaben zu erfüllen hat und keine Gegenstände oder Infor­ mationen mit reinzubringen bzw. mit rauszunehmen hat«. Berger stellte die mutige Frage, ob es in dieser Haftanstalt »Gewissensgefangene« gebe, »die aufgrund von anderer Ideologie verurteilt sind«. Eine Erklärung für diese – aus Sicht der Gefängnisleitung – »provokative« Frage hatte der inoffizielle Mitarbeiter Jahn sofort zur Hand: »Der Berger hat in der BRD studiert.«699 Trotzdem em­p­ fand der Geistliche das Einführungsgespräch als »ausgesprochen freundlich«, wunderte sich aber über das »hohe Aufgebot an hohen Offizieren anlässlich seines Besuches«.700 Zwar war er aus unbekannten Gründen nicht beizeiten durch den Staatssicherheitsdienst überprüft worden, doch hatte das Staatssekretariat für Kirchenfragen seinem Einsatz zugestimmt.701 Schon vor seinem Antritt bat ihn dann sein evangelischer Kollege Giebeler unter einem Vorwand zu sich, horchte 696  Vgl. [Schreiben der Abteilung VII:] Einschätzung der Tätigkeit der in der StVE Brandenburg eingesetzten Seelsorger vom 28.5.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 11–13; dementgegen Ansorg: Brandenburg, S. 163. 697  Vgl. Nitschke: 150 Jahre Pfarrkirche, S. 36. 698  Information der Abteilung VII (Bericht [des IM] »Roland«) vom 22.8.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1364, Bl. 3–5. 699  Information der Abteilung VII/OPG zum Pfarrer Berger vom 27.9.1986; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 131/89, Bl. 74. 700  Tonbandabschrift [des Berichts des IM] »Roland« vom 29.12.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1364, Bl. 33–35. 701  Vgl. Schreiben der Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam vom 8.10.1986; ebenda, Bl. 12.

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ihn aus und erteilte Ratschläge, die angeblich seinem eigenen Schutz dienten, letztlich aber eine wirksame Seelsorge verhindert hätten. So riet Giebeler ihm, auf Einzelbeichten zu verzichten und stets die allgemeine Sicherheit zu beachten.702 In der Folgezeit versuchte zudem die Staatssicherheit, ihn durch weitere Spitzel (unter den Aufsehern) unter Kontrolle zu halten.703 So hielt sich Berger letztlich weitgehend an die ihm erteilten Auflagen und blieb verschwiegen. Auch Kontakte zwischen einzelnen Insassen und deren Familienangehörigen herzustellen, lehnte er weisungsgemäß ab.704 In der Spätphase der DDR waren insgesamt 17 katholische Priester ne­ben­ amt­lich in verschiedenen Haftanstalten seelsorgerisch tätig.705 In BrandenburgGörden wurde Ende 1988 Berger durch Johannes Drews abgelöst. Die­ser wurde vor seinem Einsatz von der für die Kirchen zuständigen Un­ter­abteilung 4 der Haupt­abteilung XX der Staatssicherheit allerdings über­prüft.706 Etwa vier Mo­ na­te dauerte es bis zur Zustimmung. Da er sich in der Ju­gendarbeit engagiert hat­te und aus systemkritischen Kreisen stammte, hielt ihn der Mielke-Apparat wohl für erpressbar, wie er selbst vermutete.707 In der Haft­anstalt wurde er dann so weit wie möglich in seinen Wirkungsmöglichkeiten ein­geschränkt. Udo Jahn, der inzwischen zum Gefängnisleiter aufgestiegen war und eine ver­gleichsweise moderate Grundhaltung vertrat (siehe Kap. 2.6.10), emp­fing Drews im Dezember 1988 zu einem Antrittsbesuch. Außer ihnen wa­ren noch zwei Offiziere des Strafvollzugs sowie sein evangelisches Pendant Giebeler an­we­send,708 womit einzig und allein Drews in dieser Runde nicht zu­gleich auch inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war. Jahn erklärte bei die­sem Gespräch, dass es ihm »vor allem darauf ankäme, dass Ordnung und Si­cher­heit durch die Religionsausübung gewährleistet bleiben«,709 und fragte ihn, wie er sich die seelsorgerische Arbeit vorstellen würde. Drews war über die­se of­fe­ne Frage sehr erstaunt, wollte weder Beschränkungen hinnehmen noch als Fei­gen­blatt dienen, und antwortete, dass er unter Seelsorge verstehe, Grup­pen­sitz­ungen mit Häftlingen durchzuführen wie 702  Information der Abteilung VII (Bericht [des IM] »Roland«) vom 22.8.1986; ebenda, Bl. 3–5. 703  Information der Abteilung VII/OPG zum Pfarrer Berger vom 27.9.1986; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 131/89, Bl. 74. 704  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem Gefangenenseelsorger Johannes Drews am 7.2.2003 in Premnitz, 2 S. 705  Vgl. Lange, Gerhard; Pruß, Ursula: Caritas in der DDR. In: Gatz, Erwin (Hg.): Caritas und Soziale Dienste (Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 5). Freiburg 1997, S. 343–377, hier 355 f. 706  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 953. 707  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem Gefangenenseelsorger Johannes Drews am 7.2.2003 in Premnitz, 2 S. 708  Möglicherweise waren noch weitere Offiziere anwesend. Vgl. Schreiben von Johannes Drews an den Autor vom 23.6.2006. 709  [Bericht des IM] »Ro[land]« vom 8.12.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 953, Bl. 12 f.

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auch Einzelgespräche zu füh­ren.710 Jahn signalisierte guten Willen und meinte sinngemäß: »Das würde ich mir sehr wünschen, aber ich darf Ihnen das nicht erlauben.«711 Gegenüber dem Staats­sicherheitsdienst stellte Jahn indes später seine Unnachgiebigkeit her­aus und erklärte, dass er dem katholischen Geistlichen »nicht gestattet« habe, »er­zie­herisch wirksam« zu werden. »Er soll seine Messen lesen mit 6–7 SG un­ter Beaufsichtigung eines Erziehers und dann soll er wieder gehen.« Er würde es »gerne sehen, wenn der Pfarrer wieder geht.«712 Einer der anwesenden Of­fi­zie­re meinte denn auch, die bisherigen Gefängnispfarrer hätten lediglich ihre Got­tes­dien­ste abgehalten, Einzelgespräche aber Giebeler überlassen und Drews solle es genauso halten. Dieser entgegnete, dass das, was dreißig Jahre gut ge­wesen sei, nicht immer noch gut sein müsse. Der Offizier wies noch darauf hin, dass »alle« Gefangenen »Verbrecher« seien und es keine politischen Häft­lin­ge gebe. In dieser Frage erhoffte sich Drews später Aufschluss durch Giebeler, doch »den Zahn konnte ich ihm ziehen«, berichtete dieser später der Ge­heimpolizei.713 Giebeler versuchte, die Kontakte zur Gefängnisleitung zu mo­nopolisieren und be­handelte Drews als seinen »Hilfspriester«.714 Der Staatssicherheitsdienst beabsichtigte, Drews unter Kontrolle zu halten und gegebenenfalls weitere inoffizielle Mitarbeiter gegen ihn einzusetzen.715 Er selbst versuchte, seine Spielräume nach und nach zu erweitern – und reichte etwa den Häftlingen zur Begrüßung die Hand (was ausdrücklich verboten war), setzte sich karitativ für die Insassen ein und schmuggelte sogar mehrere Briefe aus der Haftanstalt heraus.716 Zudem wollte er den Bezug katholischer Zeitschriften erleichtern, was bis dahin kaum möglich war und was Gefängnisleitung und Staats­ sicherheit auf die Barrikaden brachte.717 Aufgrund seiner kameradschaftlichen Art war Drews bei den Häftlingen allerdings überaus beliebt und hatte in seinen Messen zumeist mehr als zwanzig Zuhörer. Die Gefangenen empfanden seine Predigten zwar einerseits als ein »Stückchen Erziehungsprozess« (was die ihnen anempfohlene Nächstenliebe betraf), registrierten seine Spitzen gegen den strengen Strafvollzug aber mit großer Genugtuung. »Klatsch ich innerlich auch Beifall«, 710  Vgl. Schreiben von Johannes Drews an den Autor vom 23.6.2006. 711  Interview mit Johannes Drews. In: Unsere Zeitung Nr. 10/2000, S. 10–12. 712  Information der Abteilung VII/OPG über den Einsatz des neuen katholischen Geistlichen vom 6.1.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 297, Bd. 3, Bl. 111. 713  [Bericht des IM] »Ro[land]« vom 8.12.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 953, Bl. 12 f. 714  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem Gefangenenseelsorger Johannes Drews am 7.2.2003 in Premnitz, 2 S. 715  Information der Abteilung VII/OPG über den Einsatz des neuen katholischen Geistlichen vom 6.1.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 297, Bd. 3, Bl. 111. 716  Auszugsweise Mitschrift des Vortrags von Johannes Drews am 19.9.2002 in Brandenburg, Stadtteil Görden. 717  Vgl. Mündliche Information des IMS »Weegend« [richtig: »Weekend«] zum katholischen Pfarrer Drews vom 8.11.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 953, Bl. 25.

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meinte ein Häftling nach einem Gottesdienst.718 Einzelgespräche mit Häftlingen wurden Drews jedoch erst nach der friedlichen Revolution im Dezember 1989 gestattet.719 3.3.4 Ernährung Aufgrund der allgemeinen Versorgungskrise und weil die Ernährung der Ge­ fan­genen als nachrangig galt, mussten viele Häftlinge in den ersten Nach­k riegs­ jah­ren in Ostdeutschland hungern. So starben im Winter 1946/47 95 Häftlinge und im Winter 1947/48 sogar 176 Insassen der Justizhaftanstalten.720 Weil die nach Befehl 201 Verurteilten in den Polizeihaftanstalten besonders streng be­ handelt werden sollten, durften sie noch nicht einmal Lebensmittel von Fa­mi­lien­ an­gehörigen entgegennehmen, was sogar nach offizieller Lesart den Hungertod »zahl­reicher Gefangener« nach sich zog.721 In den sowjetischen Spe­ziallagern war die Versorgung ebenfalls extrem schlecht und wurde im No­vem­ber 1946 vor­übergehend zusätzlich verringert, sodass hier binnen fünf Jah­ren insgesamt etwa 43 000 Insassen an Hunger, Krankheiten oder Erschöpfung ver­starben.722 Nachdem die Insassen aus den Speziallagern Anfang 1950 in die ostdeutschen Sonderhaftanstalten übernommen wurden (siehe Kap. 2.6.3), galten ab Frühjahr 1950 geringere Verpflegungssätze und die Sonderrationen für Tbc-kranke Häft­ linge wurden eingestellt.723 In der Haftanstalt Bautzen I führte dies zu den Hungerrevolten vom März 1950.724 Der Aufstand wurde mit äußerster Brutalität niedergeknüppelt. Eine nachfolgende Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass die Rationen ausreichend seien und vollständig an die Insassen ausgegeben würden.725 In Brandenburg-Görden mussten die Häftlinge im Juli 1950 eine Reduzierung ihrer Verpflegungssätze hinnehmen, als ihre Haftanstalt von der 718  Bericht des IMB »Oheim« vom 28.7.1989; ebenda, Bl. 23 f. 719  Auszugsweise Mitschrift des Vortrags von Johannes Drews am 19.9.2002 in Brandenburg, Stadtteil Görden. 720  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 210. 721  Schreiben der deutschen Justizverwaltung vom 13.12.1947; zit. nach: Kappelt: Ent­nazi­ fizierung in der SBZ, S. 401. 722  Vgl. Mironenko; Niethammer; Plato (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1. 723  Vgl. u. a. Keferstein, Horst G.: Unruhige Jahre. Erlebt und aufgeschrieben. Münster 2001, S. 268–275. 724  Vgl. hierzu den »Brief aus Bautzen« vom 31.3.1950, den Häftlinge nach der Nieder­ schlagung des Aufstandes aus Bautzen I herausschmuggelten; abgedruckt in: Rieke, Dieter (Hg.): Sozialdemokraten als Opfer im Kampf gegen die rote Diktatur. Arbeitsmaterialien zur politischen Bildung. Bonn 1994, S. 37–41; Knaußt, Harald: Der vergessene Aufstand. Briefe, Berichte, Bilder. 13. und 31. März 1950 im »Gelben Elend« in Bautzen. Bautzen 2011. 725  Vgl. Stellungnahme der Hauptabteilung HS vom 7.6.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 35–37.

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vergleichsweise großzügigen Justiz an die Volkspolizei übergeben wurde. Jetzt erhielten die Insassen, nach eigener Aussage, allenfalls die halbe Ration von dem, was einem Normalverbraucher seinerzeit auf Lebensmittelkarte zustand.726 Die tatsächlich ausgegebene, tägliche Ration wurde auf etwa 100 Gramm Brot, einen Liter Eintopf und – einmal wöchentlich – 30 Gramm Fett geschätzt.727 Erst im Herbst 1951 legten die Hauptabteilung Strafvollzug, das Justiz- und das Gesundheitsministeriums einen neuen Verpflegungssatz fest, »den ein Mensch brauch[t], um überhaupt existieren zu können«. Daraus resul­tier­te die mündliche Anweisung der obersten Gefängnisverwaltung, die Tages­sätze auf 550 Gramm Brot, 50 Gramm Nährmittel, 40 Gramm Zucker, 45 Gramm Fleisch, 30 Gramm Fett, 750 Gramm Kartoffeln und 300 Gramm Gemüse zu erhöhen.728 Nach Aussagen ehemaliger Insassen von Brandenburg-Görden wur­de jedoch nur das Brot in ausreichender Menge ausgegeben, während die Ver­sorgung mit Fett und Eiweiß meist hinter den Normen zurückblieb. So waren zwar tatsächlich, wie vorgesehen, 30 Gramm Margarine zu haben, je­ doch in der Praxis nur alle fünf Tage, und die gleiche Menge Butter wurde zusätzlich nur alle 15 Tage verabreicht.729 Bis zu einer erneuten Anhebung der Ver­pflegungssätze (im Jahre 1958) blieben die Häftlinge deswegen vielfach un­ ter­ernährt und wurden einseitig versorgt; insbesondere mangelte es an einer vitaminhaltigen, schmackhaften und abwechslungsreichen Ernährung. »Schwere, durch Fett- und Eiweißmangel hervorgerufene gesundheitliche Schädigungen waren die unvermeidliche Folge«, stellten westliche Beobachter fest.730 Tatsächlich wurden im März 1952 gerade in Brandenburg-Görden 80 Fälle von Dystrophie gezählt, die unter Haftbedingungen meist durch mangelhafte und ungenügende Ernährung hervorgerufen wird.731 Sogar die oberste Strafvollzugsleitung musste im gleichen Jahr die Gefängnisleitungen ermahnen, auf mehr Abwechslung zu achten – vermutlich befürchtete man zu hohe Kosten durch Krankheiten, die 726  Vgl. Sopade-Informationsdienst: Straflager und Zuchthäuser, S. 106–215, hier 202. 727  Vgl. [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Zuchthaus Brandenburg-Görden vom 16.11.1950; BArch B 137/1809. 728  Für arbeitende Gefangene, von denen es in Brandenburg-Görden allerdings seinerzeit noch nicht sehr viele gab, kamen weitere Rationen hinzu. Für eine Tätigkeit unter Tage wurden beispielsweise zusätzlich 53 g Nährmittel, 350 g Brot, 20 g Zucker, 40 g Fleisch und 30 g Fett ausgegeben. Vgl. Bericht des Referates Versorgung der Abteilung Intendantur [der Hauptabteilung Strafvollzug] vom 29.9.1951; BArch DO1 11/1588, Bl. 264–267. Zu den Erkenntnissen des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen hinsichtlich des Verpflegungssatzes im ostdeutschen Strafvollzug vgl. u. a. BArch B 137/1745. 729  Vgl. [Bericht des] Suchdienst[es] Hamburg des Deutschen Roten Kreuzes betr. Entlassungen von Inhaftierten aus Strafvollzugsanstalten der sowjetischen Besatzungszone vom 23.7.1954; BArch B 137/1747. 730  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 89. 731  Stichtag 24.3.1952. Vgl. Aufstellung über den Stand der Gefangenen in den Strafanstalten des MdI am 25.3.1952; BArch DO1 11/1509, Bl. 178.

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Die Gefangenschaft

durch Mangelernährung hervorgerufen werden. Die bereitstehenden Gelder für Nahrungsmittel wurden nämlich – wie bei Überprüfungen ans Tageslicht kam – seinerzeit nicht in Gänze bzw. nicht binnen der vorgesehenen Fristen ausgegeben, da die Verantwortlichen auch bei verdorbenen Lebensmitteln die Meinung vertraten: »Für die Strafgefangenen ist das gut genug!«732 Auch stellte 1956 eine Kontrollgruppe in Brandenburg-Görden fest, dass über die Ausgabe von Lebensmitteln in einigen Fällen »nicht exakt« Buch geführt worden sei. So waren beispielsweise im Lagerraum noch 33 Kilogramm Butter vorhanden, die angeblich bereits mehrere Tage zuvor ausgegeben worden waren.733 Vermutlich handelte es sich hierbei keineswegs um einen Einzelfall; ehemalige Insassen berichten, dass selbst Schwerstarbeiter nur sehr geringe Rationen Fett erhielten.734 Teils waren die Aufseher persönlich dafür verantwortlich, teils ließen sie zu, dass die zur Verteilung des Essens eingesetzten Kalfaktoren viele Portionen »abzweigten«, selbst verspeisten oder weiterverkauften.735 Lebensmittelpakete konnten zunächst diese Defizite teilweise ausgleichen, doch wurde deren Empfang 1955 stark eingeschränkt (siehe Kap. 5.6.1.4); mög­ li­cherweise dadurch mitbedingt starben im Jahresverlauf 1956 148 Personen im Straf­vollzug der DDR.736 Zum Ausgleich konnten jetzt in der gefängniseigenen Ver­kaufsstelle zusätzliche Nahrungsmittel erworben werden, doch war dies nur ar­beitenden Häftlingen gestattet, die 100 Prozent Normerfüllung erreichten.737 Be­reits 1957 wurde dieses Warenangebot in den Verkaufsstellen auf Anweisung der obersten Gefängnisverwaltung wieder eingeschränkt, da angeblich vereinzelt Man­gelwaren angeboten worden waren – und besser als den Bürgern außerhalb der Ge­fängnismauern sollte es den Inhaftierten nach Auffassung der Verantwortlichen nicht ergehen. Jetzt wurden zum Verkauf angeboten: zwei Sorten Wurst, tierische und pflanzliche Fette (aber keine Butter), Zucker, Marmelade, Kunsthonig, an be­stimmten Tagen auch Brötchen und selten Fischhalbmarinaden. In der Realität herrsch­ten freilich leere Regale vor und Salate jeglicher Art waren ohnehin un­ter­ sagt. Obst war, mit Ausnahme von Südfrüchten, je nach Jahreszeit gestattet, de 732  Schwerpunkte der Abteilung Intendantur vom 26.8.1952; BArch DO1 11/1587, Bl. 86–89. 733  Vgl. Bericht der Abteilung Kontrolle des Ministeriums des Innern über die Kontrolle der politischen, operativen und wirtschaftlichen Arbeit in der StVA Brandenburg-Görden vom 6.7.1956; BArch DO1 11/1488, Bl. 170–178. 734  Vgl. Schreiben des Fachgebietsleiters Bachmann der Rechtsabteilung des Staatsrates der DDR vom 4.3.1971; BArch DO1 32/36325. 735  Vgl. u. a. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 356. 736  In 111 Fällen galt Krankheit als Todesursache, es ereigneten sich ferner 18 tödliche Unfälle (vermutlich vorwiegend im Arbeitseinsatz) und es wurden in 19 Fällen »sonstige Gründe« registriert, wohinter sich vermutlich vorwiegend Selbstmorde verbargen. Vgl. Jahresbericht des Referates SV der Hauptabteilung Medizinische Dienste des Ministeriums des Innern vom 15.4.1957; BArch DO1 11/1574, Bl. 29–47. 737  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Heinz Kühn am 6.6.2001 in Berlin, 7 S.

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fac­to aber ebenfalls kaum zu haben. Weiterhin verkauft werden durften Kekse, Zi­garetten, Kautabak, Kernseife, Zahnseife, Zahnbürsten und Kämme. Streich­ höl­zer, die zuletzt vereinzelt in die Hand von Gefangenen gelangt waren, wur­ den aus Sicherheitsgründen wieder eingezogen.738 Der Erwerb von Tee galt als be­sondere Vergünstigung und wurde nur bei guter Führung und hohen Ar­ beits­leistungen ermöglicht.739 Angesichts der schlechten Versorgung war da­her der häufig angewandte Entzug der Einkaufsberechtigung eine gravierende Dis­ zi­plinarstrafe. Ackermanns Amtsantritt in Brandenburg-Görden im Oktober 1958 führte offenbar zu einer deutlich schlechteren Versorgung (siehe Kap. 3.2.4).740 Jeden­ falls waren Kartoffeln über Monate hinweg nicht zu haben und das Mittagessen beschränkte sich auf einen dreiviertel Liter Eintopf bzw. Suppe.741 Dabei unter­ schieden sich die täglichen Rationen an Fleisch, Fett und Wurst für Nichtarbeiter, Schwerstarbeiter und Tbc-Kranke erheblich. Dies bedeutete zugleich eine deutliche Diskriminierung jener politischen Gefangenen, die die Arbeit verweigerten oder (aufgrund ihrer Isolationshaft) nicht arbeiten durften bzw. konnten. Die gewöhnliche Warmverpflegung bestand in Brandenburg-Görden in der zwei­ ten Hälfte der Sechzigerjahre an fünf Tagen in der Woche aus Eintopf und ansonsten aus Kartoffeln mit Fleischsoße. Einmal monatlich wurde jetzt ein kleines Schnitzel ausgegeben. Obst, grünen Salat oder Weißkohl gab es zwei- bis dreimal im Monat.742 Auch einzelne Statistiken der Gefängnisverwaltung zum Körpergewicht der Gefangenen erlauben es, die Defizite nachzuzeichnen. Treffen diese Zahlen zu, nahm seinerzeit jeder zweite Häftling nach seiner Einlieferung ab. Gewichtszunahmen lagen wohl an der wenig ausgewogenen Ernährung sowie der fehlenden Bewegung; Statistiken aus den Fünfzigerjahren hätten vermutlich ein noch düstereres Bild vermittelt.

738  Hinweise der Verwaltung Strafvollzug über die Schwerpunktaufgaben des Strafvollzugs vom 13.5.1957; BArch DO1 11/1489, Bl. 12–14. 739  Vgl. u. a. BStU, MfS, AU, Nr. 962/58, Bd. Gefangenenakte. 740  Vgl. Welt der Arbeit Nr. 22 vom 27. Mai 1960, S. 1. 741  Vgl. Situationsbericht des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen über die Woche vom 21. bis 27. Juni 1962 vom 27.6.1962; BArch B 137/1705. 742  Vgl. Bericht der Quelle 71443 Hm betr. StVA Brandenburg vom 3.10.1968 (Stand Ende Mai 1968), 5 S.; BArch B 137/15761.

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Die Gefangenschaft

unverändertes Gewicht

16 %

Zunahme bis 2 kg

15 %

Abnahme bis 2 kg

21 %

Zunahme 2 bis 5 kg

14 %

Abnahme 2 bis 5 kg

20 %

Zunahme über 5 kg

6 %

Abnahme über 5 kg

8 %

Gesamt

100 %

Tab. 4: Gewichtsveränderung der Häftlinge nach Einlieferung in BrandenburgGörden (1966)743

Im Jahre 1968 wurden zwar die Verpflegungssätze in der gesamten DDR erhöht, doch wurden selbst damit die »entsprechend der Arbeitsschwere notwendigen Mindestwerte [...] nicht erreicht«. Zu diesem Ergebnis kam der Leiter der Ver­ sorgungsdienste im Innenministerium, als er exemplarisch die Verköstigung der Gefangenen in den Bezirken Leipzig und Karl-Marx-Stadt untersuchte. Dieser amtlichen Untersuchung zufolge wurde der tägliche Bedarf des Menschen an Eiweiß und Vitamin C zu lediglich 80 Prozent gedeckt, an Kalzium nur zu 70 Prozent und von dem wichtigen Vitamin A erhielten die Insassen gar nur 50 Prozent der eigentlich notwendigen Ration. Zwar blieb bei der Untersuchung unberücksichtigt, dass zusätzliche Lebensmittel auf eigene Rechnung zugekauft werden konnten, doch hatten ja nicht alle Insassen diese Möglichkeit, und insbesondere den Vitaminmangel zu kompensieren war, wegen des unzureichenden Warenangebotes, kaum möglich. Außerdem ging man sicherlich von einer voll­ ständigen Ausgabe der abgerechneten Nahrungsmittel aus, was in der Praxis nicht der Fall war. In einer besonders unglücklichen Lage befanden sich die erkrankten Häftlinge; im Vergleich zu den im Gesundheitswesen außerhalb der Haftanstalten geltenden Verpflegungssätze erhielten die Tbc-kranken Häftlinge sowie Diabetiker nur 73 Prozent des üblichen Satzes und die »normalkranken« Häftlinge 85 Prozent.744 Angesichts dieses katastrophalen Resultats wurde die Versorgung zwar im Jahre 1971 verbessert.745 Doch auch nach den neuen Sätzen lag eine mangelhafte Versorgung der Insassen von vornherein im Kalkül der Verantwortlichen. So betrugen die nunmehr geltenden Durchschnittswerte im Ver­gleich zum Pro-Kopf-Verbrauch der Bevölkerung bei Fleischerzeugnissen

743  Vgl. Schreiben der Abt. Med[izinische] Dienste der StVA Brandenburg vom 28.12.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/711, Bl. 1–6. Die Gewichtsveränderung bezieht sich auf einen im Dokument nicht genau genannten Zeitraum nach der Einlieferung – vermutlich ein halbes oder ein ganzes Jahr. 744  Schreiben des Leiters der Versorgungsdienste des Ministeriums des Innern an den Minister des Innern Dickel vom 29.6.1971; BArch DO1 2.2./62755. 745  Vgl. Anweisung 166/71 des Ministers des Innern über die Verpflegungsversorgung Straf­ gefangener vom 8.7.1971; ebenda.

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68 Prozent und bei Nahrungsfetten 69 Prozent.746 Eine zweite Etappe der Er­ höhung der Verpflegungsnormen im Jahre 1973 wurde teilweise wieder revi­ diert. Und Innenminister Dickel ließ sich im August 1972 vom Leiter der Ver­ sorgungsdienste versichern, dass – wohl als Ausgleich für die höheren Sätze – »nur relativ billige Nahrungsmittel verwendet« würden;747 der vitaminarmen Kost durch Zukauf entsprechender Präparate zu begegnen, wurde den Gefangenen grundsätzlich verwehrt.748 So entsprach die Ernährung in Brandenburg-Görden auch fünf Jahre später »nicht ernährungswissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnissen«.749 Ein­ topfgerichte waren immer noch die Regel.750 Qualität und Umfang der Mahlzeiten ließen in den Achtzigerjahren angeblich sogar wieder nach, wie auch Schwarztee und Kaffee(ersatz) jetzt nur noch rationiert ausgegeben wurden. Außerdem erfolgte in der Haftanstalt an der Havel die »Ausspeisung« jetzt in den Zellen, um das Zusammenkommen von Insassen verschiedener Vollzugsabteilungen im Speisesaal zu verhindern.751 Zuständig für die Essenszubereitung war die Häftlingsküche, in der bis zu 75 Personen arbeiteten. Auch ein spezieller Nahrungsbrei für die Zwangsernährung hungerstreikender Häftlinge wurde hier produziert. Eine Tätigkeit in der Küche galt als Auszeichnung für Gefangene und wurde den politischen Gefangenen meist verwehrt. Hingegen waren etwa 15 bis 20 Mörder als Küchenkalfaktoren mit der Zubereitung der Speisen betraut.752 Diese jedoch sparten an Zutaten wie Butter oder Tee für die Mahlzeiten der Häftlinge (sowie gelegentlich auch der Aufseher), verkauften diese Lebensmittel weiter und steckten den Erlös in die eigene Tasche, auch weil der zuständige Aufseher geflissentlich darüber hinwegsah.753 Die mangelnde moralische Integrität eines Teils des Küchenpersonals sowie die Tendenz der Verantwortlichen, gravierende Probleme totzuschweigen, trugen offenkundig zu den schweren Mängeln in der Versorgung bei. 746  Vgl. Schreiben des Leiters der Versorgungsdienste des Ministeriums des Innern an den Minister des Innern Dickel vom 29.6.1971; ebenda. 747  Schreiben des Leiters der Versorgungsdienste des Ministeriums des Innern Tittelbach an den Minister des Innern Dickel vom 24.8.1972; BArch DO1 2.2./62800; Anweisung 164/72 des Ministers des Innern betr. Verpflegungsversorgung Strafgefangener vom 5.9.1972; ebenda. 748  Vgl. Kittan: Zuchthaus Cottbus, S 65. 749  Kontrollbericht zur Verpflegung vom 21.3.1978; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/1702; zit. nach: Ansorg: Brandenburg, S. 262. 750  Dies lässt eine Stellungnahme der Staatssicherheit vermuten, der zufolge »Mehrtopfgerichte an den Werktagen keine Seltenheit« seien. Bericht der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII zu Überprüfungen des Manuskripts Finn/Fricke unter dem Titel »Politischer Strafvollzug in der DDR« vom 20.5.1981; BStU, MfS, HA VII, Nr. 676, Bl. 2–87. 751  Vgl. Schmidt: Leerjahre, S. 489–500; Hiller: Sturz in die Freiheit, S. 278. 752  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Walter Müller am 8.4.2001 in Chemnitz, 4 S. 753  Vgl. [Schreiben eines Gefangenen] vom 6.11.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, T. II, Bd. 1, Bl. 345–352.

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Abb. 14: Verkaufsstelle (HO) für Gefangene, 1989/90

Doch der mit Wasser gestreckte Quarkkuchen aus der Häftlingsküche stellte eines der kleineren Probleme dar.754 Denn sogar die Staatssicherheit konstatierte im Jahre 1989 in Brandenburg-Görden »Verstöße gegen hygienische Normative« dergestalt, dass eigentlich die Küche hätte gesperrt werden müssen.755 Schon die angelieferten Lebensmittel waren Häftlingsberichten zufolge durchschnittlich zur Hälfte verdorben und mussten oftmals vernichtet werden. Die ausgegebe­ nen Speisen waren dann vielfach ungenießbar, sodass sich die Häftlinge lieber durch ihren hart erarbeiteten Lohn Lebensmittel kauften und sich teilweise selbst verpflegten. Immerhin existierten jetzt zwei Verkaufsstellen innerhalb der Haftanstalt, die monatlich etwa 200 000 Mark umsetzten, sowie eine Verkaufs­ stelle für Besucher.756 Die Häftlinge sprachen seinerzeit ironisch von »Wahlessen« – »entweder man isst es, oder man isst es nicht«.757 Oftmals gab es über Tage nur Pellkartoffeln

754  BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 356, Bd. 1, Bl. 116. 755  Information der Abteilung VII/OPG über Zustand der hygienischen Bedingungen vom 14.6.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 437, Bd. 2, Bl. 151. 756  Vgl. Auszug aus der Information der Quelle »Wolfgang Kaufmann« vom 22.1.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 709, Bl. 232. Siehe auch Hiekel: Gefängnisgeld der DDR; Lindman: Behelfszahlungsmittel. 757  Helmecke: Strafvollzugseinrichtung Brandenburg, S. 32–39.

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zu essen, und diese sehr oft in verdorbenem Zustand.758 Wegen der miserab­ len Qualität der ausgeteilten Mahlzeiten kam es zu Protesten der Betroffenen und sogar zu Arbeitsniederlegungen.759 Als beispielsweise 1980 Häftlingen »ex­ trem stark gesalzener« Gemüseeintopf gereicht wurde, verweigerten insgesamt 42 Gefangene das Essen. Da sich dieses bei näherer Untersuchung tatsächlich als ungenießbar erwies, wurde ersatzweise Linseneintopf ausgegeben. Diesen empfanden die Gefangenen jedoch als »Wassersuppe« und verweigerten abermals die Nahrung. Über die Berechtigung der erneut vorgetragenen Einwände entschied dann der Leiter der Vollzugsabteilung II in einem Selbstversuch: »Eine durch mich vorgenommene Essensprobe ergab, dass der Linseneintopf geschmacklich gut war.« Auch die Drohung, die weitere Verweigerung von Essen und Arbeit als Meuterei zu werten, konnte nur acht Häftlinge zum Einlenken bewegen. Erst als eine neue Mahlzeit (im Beisein von zwei Häftlingen als »Zeugen«) zubereitet und Gewalt angedroht wurde, ließen sich die Betroffenen umstimmen.760 Ganz ähnlich wurde 160 Gefangenen im Juni 1982 ersatzweise eine Suppe angeboten, nachdem sie wegen der Ungenießbarkeit des eigentlichen Essens den Antritt zur Arbeit in der Spätschicht bei den Elektromotorenwerken verweigert hatten.761 Vielen Häftlingen war die Versorgung mit Zigaretten besonders wichtig. Die Gefängnisleitung nutzte den Entzug der Raucherlaubnis deswegen gerne als Mittel zur Disziplinierung. Der Tabakkonsum galt als »besondere Vergünstigung« und wurde nur bei »überdurchschnittlicher Arbeitsleistung« und »guter Führung gewährt«, wie es im Jahre 1952 unverblümt hieß. Bei »Nachlassen in der Arbeit oder sonstigen Unbotmäßigkeiten, feindlicher Einstellung gegen die DDR, wird die Raucherlaubnis entzogen«. Hierüber zu entscheiden behielt sich Gefängnisleiter Marquardt persönlich vor. Die Begünstigten durften ihrem Verlangen auch nur in sogenannten Rauchpausen außerhalb der Arbeitszeit und in gesonderten Raucherzimmern sowie während der Freistunde nachgehen. Sie bekamen seinerzeit maximal dreimal täglich je eine zwölf Pfennig teure Zigarette ausgehändigt und mussten sie sofort rauchen. Feuer wurde ihnen von den Aufsehern gegeben, weil Häftlinge über Feuerzeug oder Streichhölzer nicht verfügen durften.762 Die überwiegend bis Mitte der Fünfzigerjahre inhaftierten SMT-Verurteilten wurden auch in dieser Hinsicht benachteiligt, denn sie erhielten maximal zwei Zigaretten 758  Vgl. Treffbericht des FIM »Heinz« vom 15.6.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, T. II, Bd. 3, Bl. 27 f. 759  Vgl. Befragungsprotokoll des Strafgefangenen vom 8.4.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 636, Bd. 2, Bl. 32–40. 760  [Bericht des FIM] »Holz« zum Vorkommnis vom 6.8.1980 vom 7.8.1980; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 85/87, Bd. 1, Bl. 312–314. 761  Vgl. [Bericht des] FIM »Heinz« vom 10.6.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, T. II, Bd. 3, S. 290. 762  Vgl. Hausanweisung Nr. 2/52 des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 22.1.1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 7 f.; Instruktion zur Hausanweisung Nr. 2/52 des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 13.3.1952; ebenda, Bl. 9.

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täglich,763 während den »progressiven« Brigadieren bald bis zu acht Zigaretten gestattet wurden.764 Trotz der nur minimalen Gratifikation funktionierte dieses abgestufte Belohnungssystem erstaunlich gut – selbst für eine einzige Zigarette arbeiteten viele kriminelle Insassen »wie verrückt«, wie ehemalige politische Mitgefangene beobachteten.765 3.3.5 Hygiene und Bekleidung Auch mit der Hygiene stand es in Brandenburg-Görden nicht zum Besten, denn Strohsäcke anstelle von Matratzen galten für die Gefangenen zunächst als gut genug.766 Nur teilweise waren noch Stahlmatratzen aus der Zeit vor 1945 vorhanden.767 Über Bettwäsche verfügten die Insassen im Jahre 1952 in Brandenburg-Görden ebenso wenig wie in den anderen Haftanstalten. Zwar hätten die entsprechenden Lagerbestände sehr wohl ausgereicht, doch wurden sie aus »Sicherheitsgründen« nicht ausgegeben,768 weil die Insassen sie auch als Kleidungsstoff bei einer Flucht oder als Transparent bei einer Revolte hätten verwenden können. Stattdessen gab es im Sommer zwei und im Winter drei »zerschlissene, schmutzige alte Decken, die eine Wäsche oder chemische Reinigung nicht überstanden hätten«, wie ein ehemaliger Insasse zu Protokoll gab. Bettwäsche gab es Mitte der Fünfzigerjahre nur auf der anstaltseigenen Krankenstation769 sowie, als zusätzliche Vergünstigung, für Kalfaktoren. Lediglich als das Inter­ nationale Rote Kreuz im Frühjahr 1957 die Haftanstalt an der Havel besuchte (siehe Kap. 5.6.1.6), versorgte die Gefängnisleitung in einem fadenscheinigen Manöver die zur Besichtigung vorgesehenen Teile der Haftanstalt mit weißer Bettwäsche.770 Ab dem Folgejahr wurde Bettwäsche immerhin in größerer Zahl ausgegeben.771 Erst der neue Leiter der Medizinischen Dienste stieß sich dann im Jahre 1972 daran, dass zwar die inzwischen übliche Bettwäsche gelegentlich 763  Vgl. u. a. BStU, MfS, Abt. XII, RF, Nr. 348. 764  Vgl. Entwurf [der Verwaltung Strafvollzug] betr. Maßnahmen zur Steigerung der Arbeits­ produktivität o. D. [1955]; BArch DO1 11/1584, Bl. 37 f. 765  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Kreutzer am 10.7.2001 in Berlin, 9 S. 766  Vgl. ebenda. 767  Aktennotiz für Ministerial-Direktor Staimer betr. Zuchthaus in Görden bei Brandenburg vom 27.2.1948; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 7 f. 768  Vgl. Protokoll der Hauptabteilung SV über die Besprechung betr. Übernahme der Justiz­ haftanstalten am 13.5.1952 vom 15.5.1952; BArch DO1 11/1590, Bl. 155–160. 769  [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Brandenburg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968. 770  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling HansEberhard Zahn am 29.6.2001 in Berlin, 4 S. 771  Vgl. BA, B 289/SA 171/22–19.

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gewechselt wurde, die Bettdecken aber seit mindestens einem Jahr nicht mehr gewaschen worden waren. Auch angesichts unsauber abgewaschenen Geschirrs, so fügte er hinzu, könnten die periodisch auftretenden Massenerkrankungen nicht überraschen.772 Auch die Bekleidung der Häftlinge war Anfang der Fünfzigerjahre oft bemit­ leidenswert. Hieran waren nicht nur die Versorgungsengpässe der Nachkriegszeit schuld, sondern die Verantwortlichen widmeten dieser Frage auch kaum Beach­ tung bzw. hielten abgewetzte Kleidung für gut genug. In dem seinerzeit als Haftkrankenhaus genutzten Gefängnis Ichtershausen beispielsweise bestand die Kleidung der Tbc-Kranken seinerzeit »fast nur noch aus Lumpen«, wie ein später in den Westen geflüchteter Augenzeuge berichtete. Die Gefängnisleitung legte hier sogar »Wert darauf«, dem Insassen »die Schwere seines Vergehens durch eine derartige Kleidung besonders vor Augen zu führen«.773 Was die Haftanstalt an der Havel betraf, durften die Insassen anfänglich noch Zivilkleidung tragen, die von den Familienangehörigen gewaschen und geflickt werden konnte, doch wurde Sträflingskleidung zur Pflicht, als die Volkspolizei im Sommer 1950 die Haftanstalt von der Justizverwaltung übernahm.774 Nach und nach wurde jetzt abgelegte Dienstkleidung der Volkspolizei eingeführt. Die alten Uniformen wurden dann in der gefängniseigenen Wäscherei braun gefärbt, wohingegen »einheitliche Kopfbekleidung« fehlte, weil sich die angelieferten Wintermützen aus technischen Gründen nicht einfärben ließen. Deshalb beabsichtigte die Gefängnisleitung im Jahre 1969, eigene Kopfbedeckungen aus braunem Mantel­ stoff herstellen zu lassen.775 Die Gefängniskleidung wurde »zur Verhinderung von Fluchtversuchen […] mit einem 6 cm breiten, grünen, eingenähten Längsstreifen in den Ho­sen­bei­nen und im Rücken der Jacke« versehen, um geflüchteten Häftlingen ein »Un­tertauchen« zu erschweren.776 In der Praxis diente eine farbliche Kenn­zeich­nung vor allem der Diskriminierung bzw. besseren Unterscheidung der po­litischen Häftlinge mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren, deren Ja­cken und Hemden teilweise mit einem roten Streifen am Ärmel versehen wur­den.777 Ein teilweise identischer 772  Lageeinschätzung des Leiters der Med[izinischen] Dienste der StVA Brandenburg [...] für den Monat August 1972 vom 7.9.1972; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/706, Bl. 97. 773  [Bericht eines in den Westen geflüchteten Mitglieds des Strafvollzugsausschusses des thüringischen Landtags] betr. Strafvollzug in Thüringen (Stand September 1950) vom 10.10.1950; BArch B 137/1809. 774  Vgl. Schreiben der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen betr. Vollzugsanstalt Brandenburg-Goerden vom 31.8.1950; BArch B 137/1810. 775  Vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-Anweisung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33. 776  Strafvollzugsordnung für die Durchführung des Strafvollzugs in Strafanstalten unter polizeilicher Führung vom 1.4.1950; BArch DO1 11/1446, Bl. 200–258. 777  Vgl. u. a. Crüger, Herbert: Ein alter Mann erzählt. Lebensbericht eines Kommunisten. Schkeuditz 1998, S. 345.

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Personenkreis, nämlich die in Isolationshaft be­findlichen politischen Gefangenen, musste auch in den Sechzigerjahren noch sol­che Streifen tragen.778 Die Kleidung war dabei derart abgenutzt und Schuhe wa­ren so sehr abgelaufen, dass sogar die Gefängnisleitung eine unerwünschte Rück­wirkung »auf die Umerziehung« befürchtete.779 Was den Mangel an Un­ter­wäsche betraf, diagnostizierte selbst die Bezirksbehörde der Deutschen Volks­polizei seinerzeit »eine nicht vertretbare Situation«.780 In der Weimarer Zeit hatte die Justiz die Haftanstalt Brandenburg-Görden eigentlich mit einer Wasserspülung für die Toiletten ausstatten wollen. Weil indes noch vor der Fertigstellung des Gebäudes die finanziellen Mittel erschöpft waren, konnten diese nicht mehr beschafft bzw. angeschlossen werden.781 Als nach Kriegsende die Justizverwaltung die Haftanstalt führte, wurden als Toiletten­ papier noch alte Zeitungen ausgegeben, der Volkspolizei hingegen galt dies als Sicherheitsrisiko. Deswegen wurden jetzt herausgerissene Seiten von Bibeln und kirchlichen Gesangsbüchern ausgegeben, entsprechend der antiklerikalen Halt­ ung der neuen Hausherren.782 Weil die Verantwortlichen an einer Besserung der Lebensumstände der Gefangenen kein Interesse hatten, herrschte in weiten Teilen der Haftanstalt noch bis 1966 das Kübelsystem,783 in Haus 2 sogar bis 1970.784 Im Jahr 1959 wurde konstatiert, »Filzläuse und Ungeziefer« seien zuletzt »nur noch selten beobachtet« worden,785 was für die Zeit davor wenig Gutes erahnen lässt. Die Zustände in der anstaltseigenen Fleischerei galten als derart besorg­nis­ erregend, dass 1961 deren Schließung erwogen wurde.786 In der Bäcke­rei wurde beispielsweise 1968 »eine große Anzahl Schaben« festgestellt.787 Eine »Zunahme von Ratten im gesamten Anstaltsbereich« wurde im Februar 1973 notiert und auf »Unsauberkeit im Wohnbereich« sowie nicht abgedeckte Ka­nalisationsschächte 778  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 779  Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden für das 1.­Halbjahr 1960 vom 27.1.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 71–80. 780  BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/108. 781  Vgl. Wald, Ed[uard]: Die Tätigkeit der politischen Gefangenen des Zuchthauses Brandenburg-Görden und ihre Befreiung (im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der ehem. pol. Gefangenen des Zuchthaues Brandenburg) von Juni/Juli 1945, 24 S.; BArch DY 30/IV 2/10.02 62. 782  Vgl. Strafvollzug in der Sowjetzonen-Republik. In: Neue Presse, Passau, vom 28.3.1951; zit. nach: BArch B 137/1810. 783  Vgl. Schreiben der Abt. Med[izinische] Dienste der StVA Brandenburg vom 28.12.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/711, Bl. 1–6. 784  Vgl. u. a. Bericht der Quelle 72036 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. IFA vom 17.11.1970 (Stand September 1970), 11 S.; BArch B 137/15761. 785  Bericht der Abteilung Medizinische Dienste der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 15.12.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 176–179. 786  Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden – 2. Halbjahr 1960 vom 6.7.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 83–89. 787  BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/108, Bl. 17.

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in den Kellern zurückgeführt.788 Und im Dezember des gleichen Jahres war von »neuerdings starkem Mäusebefall im Bereich der Bäckerei« die Rede.789 Zwar war man um »eine kontinuierliche Schädlingsbekämpfung« bemüht,790 doch wurde selbst noch im Jahr 1988 ein »deutlicher Anstieg des Parasitenbefalls (Krätze, Filzläuse)« beobachtet.791 Die katastrophalen hygienischen Bedingungen, durch die enorme Überbelegung erheblich verschärft, spiegelten sich also punktuell sogar in den tendenziell schönfärberischen offiziellen Berichten wider. 3.3.6 Gesundheitszustand und medizinische Versorgung Neben den Haftbedingungen beeinflussten unter anderem auch die individuelle Konstitution, die Dauer der Haftstrafe und das Lebensalter die gesundheitliche Verfassung der Häftlinge. Je höher ihr Alter und je länger der Freiheitsentzug, desto schlechter standen die Chancen, die Inhaftierung unbeschadet zu über­ stehen.792 Wie bereits erwähnt, starben aufgrund der harten Haftbedingungen im Winter 1946/47 95 Häftlinge und im Winter 1947/48 176 Insassen der Justizhaftanstalten.793 Aufgrund der ungenügenden medizinischen Versorgung und der mangelhaften Ernährung waren in den Sonderhaftanstalten (mit den Insassen der ehemaligen sowjetischen Speziallager) Mitte 1950 38,5 Prozent aller Gefangenen erkrankt, wobei einer Krankschreibung strenge Kriterien zugrunde lagen. Ein Jahr später war die Quote angeblich auf 17,4 Prozent gesunken.794 So erscheint ein Anteil von knapp zehn Prozent an Insassen, die an offener und aktiver Tbc erkrankt waren, den ein ehemaliger Häftling für Brandenburg-Görden in den Jahren 1951/52 nannte, durchaus realistisch.795 Die amtliche Statistik 788  Lageeinschätzung des Stellv. des Leiters der StVA Brandenburg für den Monat Februar vom 10.3.1973; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/706, Bl. 112–114. 789  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/706, Bl. 148. 790  Vgl. 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Auswertung der Konzeption des Leiters der StVA Brandenburg für das Jahr 1970 vom 1.12.1970; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704, Bl. 127–149. 791  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 1. Halbjahr 1988 vom 13.7.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 792  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 91. 793  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 210. 794  Für das Jahre 1950 nennt der Bericht den 30.6. als Stichtag. Da Brandenburg-Görden just zu diesem Zeitpunkt von der Justiz an die Volkspolizei übergeben wurde, ist nicht sicher, ob die Haftanstalt an der Havel schon in die Erhebung einbezogen wurde. Vgl. Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Strafvollzugs o. D. [1952]; BArch DO1 11/1508, Bl. 101–142. 795  So berichtet ein seinerzeit in der Küche eingesetzter Kalfaktor, er habe zwischen November 1951 und Mai 1952 täglich durchschnittlich 275 Tbc-Verpflegungen ausgegeben; die Gesamtzahl von über 3 000 Insassen in Rechnung gestellt, ergibt sich daraus der oben genannte Anteil. Vgl. Bericht des ehemaligen Häftlings Wilhelm Grosser; BArch B 137/1811.

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zählte hier im März 1952 tatsächlich fünf Prozent Tbc-Erkrankte (sowie ebenso viele aus anderen Gründen Erkrankte).796 Im Januar 1953 befanden sich in der Haftanstalt an der Havel nachweislich sogar wieder rund 15 Prozent der Insassen im Krankenstand (bzw. 551 Personen).797 Aufgrund der inzwischen verbesserten Ernährung und Hygiene waren 1956 nur noch 2,6 Prozent aller Insassen von DDR-Haft­anstalten (einschließlich Brandenburg-Gördens) an Tuberkulose er­ krankt, davon 0,6 Prozent mit ansteckender aktiver Tbc, 0,8 Prozent mit nicht ansteckender aktiver Tbc und 1,5 Prozent mit inaktiver Tbc. Der gesamte Kran­ ken­bestand betrug nun durchschnittlich 6,8 Prozent der Inhaftierten; im Jahres­ verlauf waren 16,3 Prozent der Insassen einmal krankgeschrieben gewesen. 148 Personen verstarben im Jahr 1956 in den ostdeutschen Haftanstalten, davon 111 durch Krankheit.798 In der Haftanstalt an der Havel wirkte sich die Übernahme durch die Volks­ polizei auch auf die medizinische Versorgung aus. So büßten die bis dahin leidlich frei agierenden Häftlingsärzte einen Großteil ihrer Kompetenzen ein oder wurden ganz abgelöst, damit nicht länger Informationen zwischen den verschiedenen Stationen ausgetauscht werden konnten. Gefängnisleiter Marquardt setzte vielmehr ab Herbst 1950 nur noch einen einzigen hauptamtlichen Mediziner ein. Dessen wöchentliche »Sprechstunden« sahen dann so aus, dass die erkrankten Häftlinge sich in eine Reihe stellen mussten und ihre Beschwerden vorbringen durften. Den meisten soll der Arzt dann entgegnet haben, dass er selbst über die gleichen Leiden verfüge und diese nicht behandlungswürdig seien.799 Erst als im 796  Stichtag 24.3.1952. Im Einzelnen handelte es sich um 122 Fälle von Tbc, 80 Fälle von Dytrophie, 14 Fälle venerische Krankheiten, drei Fälle von Infektionskrankheiten und 41 sonstige Fälle, zusammengenommen 260 (bzw. 10,4 % aller Insassen). Vgl. Aufstellung über den Stand der Gefangenen in den Strafanstalten des MdI am 25.3.1952; BArch DO1 11/1509, S. 178. 797  Stand Januar 1953. Vgl. Quartalsbericht der Hauptabteilung Gesundheitswesen für das II. Quartal 1953 vom 21.7.1953; BArch DO1 11/1573, Bl. 167–177. 798  Ferner ereigneten sich 18 tödliche Unfälle (vermutlich vorwiegend im Arbeitseinsatz) und es wurden in 19 Fällen »sonstige Gründe« registriert, wohinter sich vermutlich vorwiegend Selbstmorde verbargen. Vgl. Jahresbericht des Referates SV der Hauptabteilung Med[izinische] Dienste des Ministeriums des Innern vom 15.4.1957; BArch DO1 11/1574, Bl. 29–47. Dass Häftlinge durch die Übergriffe von Aufsehern oder Mitinsassen möglicherweise in den Tod getrieben wurden, geht aus den offiziellen Berichten natürlich nicht oder nur andeutungsweise hervor. Aktenkundig ist hingegen, dass ärztliche Atteste über Haftunfähigkeit vielfach nicht zum Unterbrechen oder Aussetzen von Reststrafen führten – mit teilweise tödlichen Folgen. So wurden im gesamten Gefängniswesen im Verlauf des Jahres 1956 insgesamt 199 Anträge auf Haftunterbrechung »wegen ärztlich festgestellter Haftunfähigkeit« gestellt. Davon wurden 126 Fälle genehmigt sowie sechs Personen aufgrund einer staatsanwaltschaftlichen Verfügung vorzeitig entlassen, 64 jedoch abgelehnt. Zwei Inhaftierte waren noch während der Bearbeitungszeit verstorben, ein Fall war zum Jahresende noch unentschieden, weil die Staatssicherheit der Freilassung noch nicht zugestimmt hatte. Vgl. Bericht der Vollzugsabteilung der Verwaltung Strafvollzug über die Arbeit der Vollzugsabteilung im Jahre 1956 vom 28.1.1957; BArch DO1 11/1472, Bl. 178–181. 799  Vgl. Bericht [eines ehemaligen Aufsehers] über meine Erlebnisse während meiner Tätigkeit im Zuchthaus Brandenburg vom 1.11.1949 bis 28.11.1950; BArch B 289/SA 171/22–119/1.

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Herbst 1952 das Gesundheitswesen in Brandenburg-Görden überprüft wurde, kam es zu einer Verbesserung; insbesondere wurden die Tbc-Untersuchungen nun gewissenhafter durchgeführt.800 Der Gesundheit der Häftlinge abträglich waren beispielsweise weiterhin die viel zu schwachen Glühbirnen,801 die in den Zellen der Häftlinge in Isolationshaft nur 20 Minuten und bei allen übrigen Insassen nur 60 Minuten am Tag brannten.802 Die Gefängnisverwaltung war auch in den späteren Jahren hauptsächlich an der Arbeitsleistung der Gefangenen interessiert und registrierte deswegen beispielsweise, welche Ärzte der Krankenstation von Brandenburg-Görden bei der Aufnahmeuntersuchung häufig schlechte Tauglichkeitsstufen feststellten, sodass die Häftlinge nicht beliebig zur Arbeit eingeteilt werden konnten.803 Ferner kontrollierte die Gefängnisleitung, ob nicht zu häufig Krankschreibungen erfolgten oder »sorglos hochwertige Medikamente« verordnet wurden.804 Der Chefarzt der Krankenstation wurde 1988 sogar durch den Mielke-Apparat als GMS verpflichtet – so konnten die politischen Häftlinge unauffällig begutachtet, ihre Gesundheitsunterlagen kopiert und »weitere Untersuchungen« konspirativ durchgeführt werden.805 Dies war einer angemessenen Begutachtung der Patienten nicht zuträglich und bedeutete eine Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht. Mitunter beeinflusste die Staatssicherheit sogar gezielt ärztliche Untersuchungen, etwa wenn politisch heikle Fälle im Westen hätten bekannt werden können.806

800  Vgl. Sopade-Informationsdienst: Straflager und Zuchthäuser, S. 106–215, hier 204–207. 801  Um Energie zu sparen, erhielten die Häftlinge »künstliches Licht nur während der Zählung und während des Einschlusses. [...] Größere Glühbirnen als 25 Watt dürfen in den Zellen nicht benutzt werden.« Hausanweisung 7/57 des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 10.12.1957; BLHA, Pdm. Rep. 404/15.1/690, Bl. 26. 802  BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118. 803  Vgl. Mündlicher Bericht der Quelle »Bodo« vom 29.10.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 322, Bd. 2, Bl. 8. 804  Quartalsbericht des Leiters der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg für das II. Quartal 1955 vom 4.7.1955; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 48 f. 805  Vgl. Vorschlag der Abteilung VII/OPG zur Berufung eines GMS aus dem Bereich des Medizinischen Dienstes der StVE Brandenburg vom 16.2.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 437, Bd. 1, Bl. 24–30. Siehe Kapitel 5.5.3. 806  In einem solchen Fall wollte beispielsweise die Staatssicherheit einen der Vertragsärzte im Vorfeld der Untersuchung eines Häftlings konsultieren. Der Internist sollte »zum Sachverhalt [...] eingewiesen werden, um Entscheidungen des Internisten, die politisch negative Auswirkungen haben könnten, zu verhindern«. Aktenvermerk der Abteilung VII/OPG vom 27.8.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 437, Bd. 2, Bl. 5. Der zu untersuchende Häftling wurde von bundesdeutschen Gefangenenhilfsorganisationen betreut und war daher im Westen kein Unbekannter.

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Abb. 15: Sanitäre Ausstattung in Zelle 147 der Vollzugsabteilung I nach einer Ver­ barrikadierung, 1975

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Die medikamentöse Versorgung war zunächst »in jeder Beziehung un­zu­länglich«, bis dann Mitte der Fünfzigerjahre »z. T. erhebliche Ver­bes­se­run­gen« eintraten.807 Doch wurden in der Haftanstalt an der Havel auch dann noch Antibiotika der ersten Generation ausgegeben, als das Präparat in jedem ge­wöhnlichen DDRKrankenhaus schon längst in der zweiten und drit­ten Ge­ne­ra­tion verfügbar war.808 Unerhältlich blieben zu jeder Zeit Me­di­ka­mente aus west­licher Produktion, auch wenn betroffene Bundesbürger die­se Präparate vor ih­rer Verhaftung regelmäßig eingenommen hatten. Die förm­liche Begründung hier­für lautete, dass es in der DDR gute Medikamente gä­be und kein Häftling ei­ne Sonderbehandlung verdient hätte. Besonders pro­blematisch war die Me­di­kamentenversorgung auf der Arreststation von Brandenburg-Görden. Hier wurden beispielsweise suizid­ gefährdeten Insassen, die ausdrücklich um Be­ru­higungstabletten gebeten hatten, in Wirklichkeit nur Pla­cebos verabreicht. Hun­gerstreikenden wurden dagegen Medikamente mit der Begründung ver­wehrt, dass ihr geschwächter körperlicher Zustand deren Ein­nahme nicht er­lau­ben würde. Anderen Insassen wiederum wurde die ärzt­li­cherseits erteilte Lie­geerlaubnis ausgerechnet während des Arrests nicht ge­währt, um sie zu wohl­gefälligem Verhalten zu zwingen,809 wie überhaupt die An­weisungen der Me­diziner über die weitere Behandlung und Pflege der Patienten nach der Ent­las­sung aus der Krankenstation oft ignoriert wurden.810 Selbst vor dem Einsatz von Psychopharmaka, die heimlich unter das Essen gemischt wur­den, schreckte die Staatssicherheit in ihrem Untersuchungsgefängnis in Suhl nicht zurück, um einem psychisch auffälligen Häftling ruhigzustellen.811 In medizinischen Notfällen war es die Gleichgültigkeit mancher Aufseher, die im schlimmsten Fall tödliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte. So wurde am 6. September 1989 die Freistunde im Hof von Brandenburg-Görden durch Aufseher nicht überwacht, sodass nicht schnell genug ärztliche Hilfe herbeigerufen werden konnte, als ein Häftling mit Herzschmerzen röchelnd zu Boden sank. Selbst als die Häftlinge die Alarmanlage betätigten, bequemte sich keiner der Aufseher an den Ort des Geschehens; erst nach etwa 15 Minuten rief ein Volkspolizist einen Sanitäter herbei. Da der Verstorbene nach ersten Beschwerden 807  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 91. 808  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen Vertragsarzt Dr. Ludwig Krafft am 20.2.2001 in Brandenburg/Havel, 5 S. 809  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 23/89, Bl. 382 f. Nach Aussage von Betroffenen wurden außerdem in der Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit verhafteten Frauen bei Verdacht einer Schwangerschaft in sehr frühem Stadium ohne ihr Wissen Abtreibungspillen verordnet. Vgl. Interview mit Edda Schönherz. In: Vu, Franziska: Inhaftiert. Fotografien und Berichte aus der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 11). Berlin 2006, S. 29–34, hier 32. 810  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 92. 811  Vgl. Beleites, Johannes; Huemer, Ulrich: »Seit Verabreichung der Medikamente hat der Verhaftete nicht mehr gegen die Hausordnung verstoßen«. Ein Fall heimlicher Medikamentenab­ gabe in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Suhl. In: Horch und Guck Nr. 4/2008, S. 40–42.

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wenige Stunden vor seinem Tod nur notdürftig behandelt worden war, kam es zu »negativen Äußerungen« der Insassen. Sogar die Staatssicherheit konstatierte einen »groben Verstoß gegen bestehende Befehle und Weisungen«, veranlasste aber keine weiteren Untersuchungen und begnügte sich später damit, dass Gefängnisleiter Jahn für die Zukunft bereits Vorsichtsmaßnahmen veranlasst habe.812 So war es vielfach eine große Hürde für die Insassen, überhaupt zur ärzt­ lichen Untersuchung in die Krankenstation vorgelassen zu werden. Denn die Aufseher befanden in eigener Zuständigkeit darüber, welche Häftlinge an­geb­ lich nur simulierten, wenn diese morgens in den Zellentrakten ihre Be­schwer­ den meldeten. Überstellungen in die Krankenstation unterblieben, wenn die Aufseher beispielsweise vermuteten, dass dies lediglich dem Austausch von In­ for­mationen oder Waren mit anderen Häftlingen diente.813 Ein ehemali­ger Insasse Brandenburg-Gördens berichtete, dass sich die Erzieher ihrer Ent­schei­ dungsgewalt über die Frage der Verlegung in die Krankenstation sogar aus­ drücklich rühmten.814 Misshandelte Gefangene wurden zum Teil erst dann einem Arzt vorgeführt, nachdem sie schriftlich versichert hatten, korrekt behan­ delt worden zu sein.815 Ebenso wurde einem Häftling die Einweisung in ein Haftkrankenhaus verwehrt, weil er eigene Disziplinverstöße in Abrede stellte, die offenbar Übergriffe und entsprechende Blessuren ausgelöst hatten.816 Die Aufseher verletzten ihre Pflichten gegenüber erkrankten Häftlingen häufig, weil sie die geplanten Produktionsziffern einhalten wollten und teilweise einfach phlegmatisch oder willkürlich handelten.817 Auch die Staatssicherheit wusste, dass als Sanitäter eingesetzte Aufseher vielfach »zu bequem bzw. faul« waren, um eine Vorstellung von Häftlingen beim Arzt zu organisieren818 und – trotz ent­ sprechender Anweisungen – aus schierer Unlust in der Spät- und Nachtschicht oftmals keine Medikamente aushändigten.819 Zeitweise delegierten die Aufseher ihre Entscheidungsgewalt über eine Vorführung auf der Krankenstation sogar an 812  Monatsbericht der OPG der Abteilung VII von September 1989 vom 2.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 774, Bl. 189–197; Auszug aus Treffbericht [mit dem] IMB »Eiche« vom 7.9.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 223, Bl. 306. 813  Vgl. Raschka, Johannes: Zwischen Überwachung und Repression – Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989. Teil 5 von: Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestands­ aufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren. Hg. von Kuhrt, Eberhard u. a. Opladen 2001, S. 116. 814  Vgl. Schreiben des Fachgebietsleiters Bachmann der Rechtsabteilung des Staatsrates der DDR vom 4.3.1971; BArch DO1 32/36325. 815  Vgl. Landgericht Potsdam, Urteil vom 24.6.1994 (24 KLs 39/93), S. 12. 816  Welsch: Staatsfeind Nr. 1, S. 167. 817  Vgl. Schreiben des Fachgebietsleiters Bachmann der Rechtsabteilung des Staatsrates der DDR vom 4.3.1971; BArch DO1 32/36325. 818  Vgl. Mündlicher Bericht des FIM »Fuchs« vom 23.8.1988; BStU, MfS, Potsdam, Abt. VII, Nr. 620, Bl. 349. 819  Vgl. Information vom 11.12.1973; BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 1498/86, Bl. 30 f. (MfS-Pag.).

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kriminelle Kalfaktoren, die käuflich waren.820 Auch wurde argumentiert, dass in der Krankenstation für lebenslänglich Inhaftierte nur eine einzige, besonders sichere Zelle bereitstand – weswegen im Falle der Belegung andere Patienten warten müssten.821 So vergingen zwischen der Meldung von Zahnschmerzen und ihrer Behandlung selbst in den Achtzigerjahren noch meist Wochen, bis zum Erhalt einer Brille gar meist ein halbes Jahr. Ausreisewillige hatten es dabei besonders schwer und mussten sich häufig vorhalten lassen, sie würden nur simulieren.822 In Wirklichkeit neigten die meisten Insassen schon deswegen nicht zum Simulieren, weil sie umgehend aller Vergünstigungen der arbeitenden Häftlinge (wie Einkauf zusätzlicher Lebensmittel etc.) verlustig gingen.823 Zudem wurden viele Gefangene zwar als krank eingestuft, vom Arbeitseinsatz aber nicht ver­ schont,824 beispielsweise bei leichter bis mittlerer Diabetes.825 Ebenso wurden zuweilen Insassen mit Grippe und hohem Fieber, trotz ärztlicher Krankschreibung, durch den zuständigen Aufseher zum Arbeiten geschickt.826 Es soll sogar noch in den späten Sechzigerjahren vorgekommen sein, dass kranke Gefangene regel­ recht zur Arbeit geprügelt wurden.827 Gleichwohl soll zuletzt jeder Häftling Brandenburg-Gördens durchschnittlich immerhin acht Mal im Jahr einem Arzt vorgestellt worden sein.828 Zur Behandlung erkrankter Insassen existierte innerhalb von BrandenburgGörden eine Krankenstation mit 100 Betten. Hier wurden auch kleinere Opera­ tionen durchgeführt, unter sehr schlechten hygienischen Bedingungen.829 Es arbeiteten hier, etwa im Jahre 1958, hauptberuflich ein Arzt sowie elf Pfleger

820  Vgl. Meyer: Humanmedizin unter Verschluß, S. 149. 821  Vgl. [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Branden­ burg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968. 822  Vgl. Information des IMS »Wolfgang« vom 3.3.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2334/86, Bl. 4 f. 823  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 91. 824  So galten beispielsweise Ende 1958 in Brandenburg-Görden 2 219 von 2 253 Insassen als arbeitsfähig, obwohl gleichzeitig 109 Personen für krank befunden wurden. Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 27. 825  Vgl. Schreiben des Leiters der Verwaltung Medizinische Dienste an die Verwaltung Strafvollzug betr. Grundsätze für die Nutzung der medizinischen Einrichtungen im Organ Straf­ vollzug vom 12.4.1966; BArch DO1 32/30907. 826  So u. a. der Bericht [des ehemaligen Häftlings] Albert Geißler [betr. Haftanstalt Gera und Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden] vom 14.3.1951; BArch B 289/VA 171/22–8. 827  Vgl. Schreiben des Fachgebietsleiters Bachmann der Rechtsabteilung des Staatsrates der DDR vom 4.3.1971; BArch DO1 32/36325. 828  Vgl. Handschriftliche Mitschrift der Pressekonferenz in der StVE Brandenburg o. D. [ca. 6.12.1989]; Privatarchiv Drews. 829  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812.

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einschließlich Röntgenassistenten.830 Außerdem wurden, trotz der erwähnten Vorbehalte, Häftlinge mit medizinischen Kenntnissen als Ärzte und Pfleger in der Krankenstation eingesetzt. Auf ihren Schultern ruhte zu dieser Zeit der Großteil der medizinischen Betreuung der Insassen.831 Seit 1954 waren die Häftlingsärzte dann befugt, unter Anleitung des Vertragsarztes kleinere chirurgische Eingriffe vorzunehmen.832 In den Siebzigerjahren wurden, neben zwei bis drei hauptamtlich angestellten Medizinern,833 zeitweilig noch 20 bis 30 Häftlinge als Ärzte und Pfleger ein­ gesetzt. Der Gefängnisleitung war dies aus Sicherheitsgründen stets suspekt, weswegen etwa zehn einschlägig geschulte Volkspolizisten die Oberaufsicht über den Krankenhausbetrieb führten. Deren medizinische Ausbildung war freilich dürftig; im Bezirk Erfurt etwa erhielten die meisten lediglich eine zehntägige Einführung.834 Zugleich hatte Brandenburg-Görden Anfang der Siebzigerjahre insgesamt 13 externe Ärzte unter Vertrag,835 die hauptberuflich in Krankenhäusern und Arztpraxen im Raum Brandenburg beschäftigt waren. Diese Spezialisten, darunter ein Chirurg, ein Hals-Nasen-Ohren-, ein Haut- und ein Augenarzt, durften teils monatlich, teils sogar mehrfach in der Woche Sprechstunden inner­ halb der Gefängnismauern abhalten. Trotz der anwesenden Aufseher fühl­ten sie sich nach eigener Aussage frei, Krankschreibungen entsprechend der medi­zi­ nischen Notwendigkeit vorzunehmen,836 konnten aber nur unter größten Schwie­ rig­keiten in dringendsten Fällen medizinisch notwendige Überstellungen in das Haft­k rankenhaus Leipzig-Klein Meusdorf veranlassen.837 Ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Patient und Arzt konnte sich in der Haftsituation allerdings nicht entwickeln. Der SED treu ergebene Mediziner sahen in einigen Patienten zugleich politische Gegner und handelten dementsprechend,838 während andere 830  Bericht der Abteilung Medizinische Dienste der Strafvollzugsanstalt Brandenburg betr. Stellenplan der Abteilung Medizinische Dienste vom 28.5.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, Bl. 165–170. 831  Vgl. [Bericht des] Suchdienst[es] Hamburg des Deutschen Roten Kreuzes betr. Entlassungen von Inhaftierten aus Strafvollzugsanstalten der sowjetischen Besatzungszone vom 23.7.1954; BArch B 137/1747. 832  Vgl. [Bericht des geflüchteten Aufsehers Horst Bock] über die Strafvollzugsanstalt Branden­ burg-Görden vom 28.7.1954; BArch B 285/201. 833  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII/5 mit dem IMK »Stein« vom 28.8.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 101 (MfS-Pag.). 834  Vgl. Sonntag: Arbeitslager in der DDR, S. 192. 835  Vgl. 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Auswertung der Konzeption des Leiters der StVA Brandenburg für das Jahr 1970 vom 1.12.1970; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704, Bl. 127–149. 836  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen Vertragsarzt Dr. Ludwig Krafft am 20.2.2001 in Brandenburg/Havel, 5 S. 837  Vgl. Pfeiffer: Lebenslänglich, S. 160. 838  So stellte ein hauptamtlich beschäftigter Arzt im Haftkrankenhaus im Jahre 1983 zu einem politischen Gefangenen in einem »Gesundheitsbericht« fest, es handle sich um einen

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durchaus Sympathien für bestimmte politische Häftlinge zeigten.839 Auch in Hoheneck bevorzugte ein Gefängnisarzt einige politische Gefangene, wohingegen er anderen offenbar Psychopharmaka verabreichte.840 Da es sich bei den Häftlingsärzten, also Gefangenen mit medizinischer Aus­bil­ dung, »in der Regel [um] Staatsfeinde« handelte,841 arbeiteten sie meist motivierter und zeigten sich rücksichtsvoller gegenüber ihren mitinhaftierten Patienten. Sie waren teilweise auch bereit, politischen Häftlingen eine Krankheit anzudichten, um sie auf der Krankenstation zu behalten, da die Lebensumstände hier besser waren. Ein Häftlingszahnarzt ermöglichte auch den Insassen unterschiedlicher Vollzugsabteilungen den Austausch von Informationen, indem er diese gleichzeitig zu einem Behandlungstermin bestellte.842 Andere Häftlingsärzte hingegen han­ del­ten medizinisch so leichtfertig, dass sie sogar mit Arrest betraft wurden.843 Die meisten arbeiteten jedoch verantwortungsvoll und kamen dafür in den Genuss bestimmter Vergünstigungen (wie etwa häufigeres Fernsehen).844 Natürlich hatten die Häftlingsärzte weniger Handlungsspielraum als die angestellten Mediziner; aufgrund des latenten Misstrauens ihnen gegenüber wurden bis Anfang der Achtzigerjahre immer weniger von ihnen eingesetzt und zum Ausgleich insgesamt 17 Vertragsärzte beschäftigt.845 Als die beiden letzten Häftlingsärzte im Zuge der Amnestie von 1987 freikamen, wurden ihre Stellen nicht neu besetzt und die Zahl der als Pfleger eingesetzten Insassen auf 14 halbiert (bei einer Zahl von rund 1 600 Häftlingen).846 Durch die Entlassungen zahlreicher Häftlingsärzte war nach der Amnestie etwa in der Chirurgie »eine planmäßige Arbeit« nicht

»völlig gesunden, lebendigen, jedoch verbohrten und hinterlistigen Strafgefangenen«, der »banale medizinische Sachverhalte erheblich dramatisiert und sie mit Sicherheit über unerlaubte Kanäle ideologisch auszuschlachten versucht«. Diese Feststellungen dürften aber kaum in der Zuständigkeit und der Kompetenz eines Mediziners gelegen haben. Gesundheitsbericht des Med[izinischen] Dienst[es] der StVE Brandenburg vom 21.4.1983; BStU, MfS, BV Berlin, AOPK, Nr. 1671/88, Bd. 1, Bl. 217 f. Siehe auch Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 92. 839  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen Vertragsarzt Dr. Ludwig Krafft am 20.2.2001 in Brandenburg/Havel, 5 S. 840  Vgl. Thiemann: Wo sind die Toten von Hoheneck?, S. 147. 841  Kurzeinschätzung der Wirksamkeit des Strafvollzuges in der StVE Brandenburg vom 29.11.1984; BStU, MfS, HA KuSch, Abt. Diszi, Nr. 7258/92, o. Pag. 842  Vgl. Aussage des ehemaligen Häftlingsarztes Günter Rein, der Ende der 70er-Jahre in Brandenburg-Görden einsaß; zit. nach: Raschka: Zwischen Überwachung und Repression, S. 116. 843  Vgl. Information der Abteilung VII/OPG zum SG vom 5.6.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 437, Bd. 2, Bl. 139. 844  Vgl. u. a. Hiller: Sturz in die Freiheit, S. 183. 845  Information der Abteilung VII/OPG vom 7.11.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1352, Bl. 9–15. 846  Vgl. Bericht des Generalstaatsanwaltes der Deutschen Demokratischen Republik und des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug o. D. [1987]; BArch DY 30 J IV 2/2–2233.

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mehr möglich.847 Aufgrund der zuletzt wieder wachsenden Häftlingszahlen wurden im Jahr der friedlichen Revolution erneut Häftlingsärzte eingesetzt.848 In der gesamten DDR standen seinerzeit für rund 33 000 Häftlinge 97 haupt­ amtliche Ärzte und mittleres medizinisches Personal sowie 165 Vertrags­ärzte bereit.849 Die meisten Mediziner waren im Haftkrankenhaus Leipzig KleinMeusdorf tätig, wohin etwa aus der Haftanstalt an der Havel im Verlauf des Jahres 1987 60 Häftlinge verlegt wurden,850 da hier die medizinische Versorgung auch nach Ansicht der politischen Gefangenen etwas besser war.851 Dort wurden, etwa im Bereich der Inneren Medizin, weniger dringliche Operationen durchgeführt, während akute Fälle (wie offene Knochenbrüche) in der Krankenstation von Brandenburg-Görden oder der örtlichen Chirurgischen Klinik behandelt wur­ den.852 Solche Verlegungen in öffentliche Krankenhäuser bedeuteten je­doch eine gewisse Fluchtgefahr und die Gefangenen ließen sich dort schwerer abschirmen. Deswegen wurden Überführungen dorthin oft so spät veranlasst, dass es noch zu Beginn der Sechzigerjahre DDR-weit zu »einer Reihe von Todesfällen« kam, an denen die Gefängnisverwaltung sogar nach eigenem Eingeständnis die »Schuld« trug.853 Viele Patienten, deren Operation man in der Haftanstalt an der Havel als zwingend erachtete, schickte Leipzig Klein-Meusdorf zudem mit der Begründung »nicht notwendig« unbehandelt zurück. Selbst einem Patienten, bei dem Krebs­ verdacht bestand, blieb eine Therapie verwehrt, da der Betreffende sich einen Disziplinarverstoß habe zuschulden kommen lassen.854 Andere Häftlinge wurden wiederum nur deswegen nicht nach Klein-Meusdorf verlegt, weil sie dort zu viel Aufsehen erregt hätten – und das Geheimhaltungsinteresse der Staatssicherheit den Ausschlag gab.855 Entsprechend den Prioritäten der Gefängnisverwaltung 847  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 2. Halbjahr 1987 vom 14.1.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 848  Vgl. Information der Abteilung VII/OPG zum SG vom 5.6.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 437, Bd. 2, Bl. 139. 849  Vgl. Bericht des Generalstaatsanwaltes der Deutschen Demokratischen Republik und des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug o. D. [1987]; BArch DY 30 J IV 2/2–2233. 850  Vgl. Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 2. Halbjahr 1987 vom 14.1.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. Zum Haftkrankenhaus Leipzig KleinMeusdorf siehe auch Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 295; Granzow, Joachim: Die Löwengrube. Als Arzt in DDR-Haftanstalten Mitte der fünfziger Jahre. Ein Erlebnisbericht. Hg. von Suckut, Siegfried. Berlin 2005. 851  Vgl. Beer, Kornelia; Weißflog, Gregor: Weiterleben nach politischer Haft in der DDR. Gesundheitliche und soziale Folgen. Göttingen 2011, S. 113. 852  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen Vertragsarzt Dr. Ludwig Krafft am 20.2.2001 in Brandenburg/Havel, 5 S. 853  Zit. nach: Alisch: Beispiel Cottbus, S. 170. 854  Vgl. Information der Operativgruppe der Abteilung VII vom 28.2.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 344, Bd. 2, Bl. 64. 855  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 2015/88.

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wurde auch einem Häftling, dem die Gefängnisleitung von Brandenburg-Görden im elften Jahr seiner Inhaftierung eine »behandlungswürdige« Haftpsychose attestierte, eine Verlegung in die Waldheimer Psychiatrie verwehrt, weil dort die Fluchtgefahr zu groß sei.856 In den Siebziger- und Achtzigerjahren litten die Häftlinge am häufigsten an Magen-Darm-Krankheiten sowie Herz- und Kreislaufbeschwerden.857 Im Juni 1970 zogen sich etwa dreihundert Häftlinge in Brandenburg-Görden eine Le­bens­ mit­telvergiftung zu; verschont blieben nur die, die den Verzehr des ver­dor­benen, »schreck­lich stinkenden Mittagessens« verweigert hatten.858 Auch grassierten Sal­ monellenvergiftungen, wovon beispielsweise im Februar 1988 25 Häftlinge be­ troffen waren.859 Im gesamten Jahresverlauf waren insgesamt 1 404 Insassen er­ krankt, was einem Durchschnitt von 3,8 Prozent entsprach. Im Ver­gleich zu den frü­hen Jahren bedeutete dies eine Besserung, insbesondere unter der Annahme, dass eine Krankschreibung nun insgesamt einfacher zu erreichen war.860 Ein neues Phänomen war indes, dass beispielsweise allein im ersten Halbjahr 1988 in der Haftanstalt an der Havel 1 126 HIV-Untersuchungen durchgeführt wur­ den,861 vermutlich ohne Kenntnis der Betroffenen. Seit November 1987 sollten in allen Haftanstalten neu eingewiesene Häftlinge entsprechend untersucht wer­ den, was bis März 1988 allerdings ohne Befund blieb.862 Im Rückblick empfanden 60 Prozent der ehemaligen politischen Häftlinge die medizinische Betreuung in Brandenburg-Görden als mangelhaft oder un­ zureichend, 35 Prozent als ausreichend oder befriedigend, während sich nur die allerwenigsten gut versorgt fühlten.863 Dabei fallen die Beurteilungen der 856  Vgl. Bericht der OPG der [Abteilung] VII vom 21.8.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 201, Bl. 11. 857  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 91 f. 858  Vgl. u. a. Bericht der Quelle 72036 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. IFA vom 17.11.1970 (Stand September 1970), 11 S.; BArch B 137/15761. 859  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 1. Halbjahr 1988 vom 13.7.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 860  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 2. Halbjahr 1987 vom 14.1.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. Im August 1990 war die Quote der aktuellen Krankschreibungen auf 2,5 % gesunken – obwohl diese jetzt einfacher zu erreichen war, gab jetzt schon die Sorge um den Arbeitsplatz den Ausschlag. Vgl. Wagner, Georg: Die »Unwirklichkeit« in der real existierenden Haftanstalt. In: Süddeutsche Zeitung vom 11./12.8.1990, S. 10. 861  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 1. Halbjahr 1988 vom 13.7.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 862  Vgl. Krause, Bärbel; Mager, Bernd: Untersuchungen zum Risiko und Vorkommen von Infektionen mit dem Humanen Immundefizienzvirus und dem Hepatitis B-Virus bei Strafgefan­ ge­nen und Verhafteten im Strafvollzug der DDR. Dissertation. Berlin 1988, S. 70. Siehe auch Meyer: Humanmedizin unter Verschluß, S. 80–84. 863  Die Zahlen gingen allerdings aus einer Umfrage hervor, die nicht als repräsentativ gelten kann. Vgl. Raschka, Johannes: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung. Zur politischen Repression in der Amtszeit Honeckers (Hannah-Arendt-Institut. Berichte und Studien, 14). Dresden 1998, S. 72.

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Achtzigerjahre schlechter aus als die der Siebzigerjahre, was aus dem allgemeinen Niedergang des ostdeutschen Gesundheitswesens in diesem Zeitraum864 oder veränderten Ansprüchen der Betroffenen resultieren könnte. Ein als Pfleger eingesetzter Häftling konstatierte jedenfalls, dass er »noch nie eine schlechtere med[izinische] Betreuung wie die der StVE Brandenburg kennengelernt habe«.865 3.3.7 Disziplinarstrafen, Arrest und Isolierung 3.3.7.1 Disziplinarpraxis und Häufigkeit von Arreststrafen Den Häftlingen war untersagt zu lärmen, zu singen, auf einen Schemel zu steigen oder sich auch nur am Fenster ihrer Zelle aufzuhalten. »Verboten war praktisch alles, außer dem Besitz der Anstaltskleidung und des letzten Monatsbriefes«, wie ein ehemaliger Insasse über das Jahr 1952 berichtete.866 Lag ein Gefangener tags­ über auf dem Bett bzw. auf der Pritsche, wurde dies ebenfalls sanktioniert – in­ dem zur Strafe zeitweilig der Strohsack bzw. die Matratze entzogen und auf ei­ nen erneuten Verstoß hin sogar das Essen vorenthalten wurde.867 Die häufigste re­guläre Disziplinarstrafe war jedoch die Arreststrafe, im Häftlingsjargon Karzer genannt. Allein der erste Gefängnisleiter in Brandenburg-Görden, Paul Locherer, verzichtete auf deren strenge Anwendung und ließ es bei gewöhnlicher Ein­zel­ haft bewenden,868 wie es der liberalen Strafvollzugspolitik der Jus­tiz­ver­waltung entsprach (siehe Kap. 2.3.1). Sein Nachfolger aus den Reihen der Volks­po­lizei, Heinz Marquardt, verfolgte hingegen eine ungleich strengere Li­nie und be­ strafte Häftlinge beispielsweise allein schon deswegen mit 21 Tagen Ar­rest, weil sie seine Frage nach ihrer persönlichen Schuld verneint hatten,869 sich also »bes­ serungsunwillig« zeigten. Die Disziplinarpraxis in der Haftanstalt an der Havel empfanden die Betroffenen seinerzeit deswegen auch mehrheitlich als noch härter als etwa in Bautzen I.870 864  Vgl. Raschka: Zwischen Überwachung und Repression, S. 116. 865  Vgl. Information des IMS »Wolfgang« vom 3.3.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2334/86, Bl. 4 f. 866  Auskunft des ehemaligen Häftlings Karl-Heinz Fischer von 1968; zit. nach: Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 60. 867  Vgl. Tappenbeck, Kurt: Jenseits von Recht und Menschlichkeit. Erinnerungen eines mecklenburgischen Zeitzeugen. Schwerin 1999, S. 196. 868  Vgl. [Bericht des ehemaligen Häftlings Georg Oehmichen] betr. Zuchthaus BrandenburgGörden vom 21.3.1952; BArch B 289/SA 171/22–01/2. 869  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Personal des Zuchthauses BrandenburgGörden und Zustände in demselben vom 1.12.1951; BArch B 289/SA 171/22–01/6. 870  Vgl. [Bericht des] Suchdienst[es] Hamburg des Deutschen Roten Kreuzes betr. Entlassungen von Inhaftierten aus Strafvollzugsanstalten der sowjetischen Besatzungszone vom 23.7.1954; BArch B 137/1747.

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Gemäß einer neuen Dienstvorschrift871 wur­den ab Jahresbeginn 1955 die Arrest­ strafen zwar angeblich differenzierter ein­gesetzt,872 summieren sich aber dennoch auf 30 Tage im Jahr für einen Ge­fan­genen.873 Oftmals wurden Häftlinge auch, um sie zu bestrafen, in eine an­de­re Haftanstalt verlegt und dort für Monate isoliert,874 was dann keinen Ein­gang in die Disziplinarstatistik Brandenburg-Gördens fand. Anhänger einer strengen Linie war in Brandenburg-Görden insbesondere der 1959 angetretene Gefängnisleiter Fritz Ackermann. Er verhängte einmal persönlich sieben Tage strengen Arrest, weil ein Häftling bei einer Kontrolle der Werkstätten nicht schnell genug aufgestanden war und noch einen Zug an der Zigarette ge­ macht hatte.875 Unter dem autokratischen Gefängnisleiter wurde binnen dreier Monate bis zu 28 Mal strenger Arrest und vier Mal einfacher Arrest verhängt.876 Im Jahr 1961 ordnete er gar 132 Bestrafungen jeglicher Art an, was auch mit wachsender Neigung zu Protesthandlungen nach dem Mauerbau zusammen­ hängen könnte, denn im Folgejahr wurden nur noch 79 Strafen ausgesprochen.877 Im Jahr 1966 betraf dies wiederum 474 Häftlinge,878 was dem in BrandenburgGörden geltenden Grundsatz entsprach, dass »bereits auf kleine Verstöße in der Einhaltung der Disziplin eine erzieherische Reaktion erfolgen« müsse.879 Die gestiegene Zahl von Strafen ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass aufgrund der wachsenden Betonung erzieherischer Methoden jetzt auch minder schwere Disziplinarstrafen (wie der Entzug bestimmter Vergünstigungen) statistisch erfasst wurden. Außerdem gelangten in dieser Zeit immer mehr Schwer­ 871  Vgl. Disziplinarvorschrift 119 des Chefs der Deutschen Volkspolizei für die in den SV-Dienststellen der HVDVP einsitzenden Straf- und Untersuchungsgefangenen vom 9.12.1954; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15462. 872  Vgl. Quartalsbericht der Polit-Abtlg. der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das I. Quartal 1955 vom 2.4.1955; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, Bl. 323–330. Siehe auch Bericht der Kontrollgruppe der Verwaltung Strafvollzug über die Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit betr. die StVA Untermaßfeld vom 9.7.1956; BArch DO1 11/1488, Bl. 188–192. 873  Sopade-Informationsdienst: Straflager und Zuchthäuser, S. 106–215, hier 203. 874  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling HansEberhard Zahn am 29.6.2001 in Berlin, 4 S. Siehe auch BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 558. 875  Vgl. Disziplinarverfügung vom 23.6.1960; BStU, MfS, BV Leipzig, AU, Nr. 3/57, Bd. Gefangenenakte, Bl. 25. 876  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 51. 877  Vgl. Analyse des Leiters der StVA Brandenburg über die allgemeine Situation in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg nach Einführung neuer Arbeitsmethoden vom 15.12.1962; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 23–41. 878  Vgl. Jahresbericht des Vollzugsdienstes 1966 der StVE Brandenburg vom 10.1.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 44–67. In diesem Jahr wurde binnen dreier Monate 37 Mal Einzelarrest und zwölf Mal Freizeitarrest angeordnet (sowie 28 Gefangene vom Kino ausgeschlossen). Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom II. Quartal 1966]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/710, Bl. 58. 879  Vgl. Erziehungsprogramm 1966 des Vollzugsdienstes der StVA Brandenburg vom 14.4.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 91–98.

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kriminelle nach Brandenburg-Görden, die sich vermutlich renitenter gebär­ deten als die bislang dominierenden politischen Häftlinge (siehe Kap. 4.1.13). Zudem könnten Lockerungen im Haftregime, die bis 1965 Einzug erhielten, die Bereitschaft zum Aufbegehren erhöht haben. Im Jahr 1969 sprach ein einziger Aufseher binnen dreier Monate 31 Mal eine strenge Arreststrafe aus, was sogar die oberste Gefängnisverwaltung kritisierte.880 In der Zeit bis 1971 kam es, trotz leicht sinkender Häftlingszahlen, zu einem weiteren Anstieg der Disziplinarstrafen (siehe Tabelle 5). Abgesehen von ir­ regulären Formen der Bestrafung, wie etwa körperlichen Übergriffen (siehe Kap. 3.3.8), stellte die strenge Arreststrafe die schwerste Sanktionsform dar und war in Brandenburg-Görden am häufigsten (siehe Tabelle 5), weil sie selbst bei minimalen Unbotmäßigkeiten ausgesprochen wurde. Moderatere Sank­ tionen, wie Freizeitarrest oder Missbilligung, wurden zwar immer häufiger aus­ gesprochen (oder wurden zumindest zahlreicher statistisch erfasst), lösten die rigideren Sanktionsformen aber keineswegs ab. Dass zumeist die strengste Form der Bestrafung angewandt wurde, spricht jedenfalls nicht für pädagogisches Geschick der Aufseher. Weil die Häftlingszahlen nach der Amnestie von 1972 bis 1974 wieder stark anstiegen (von rund 2 100 zu Beginn der Siebzigerjahre auf 3 200 im Jahr 1974), wurde die Disziplinarpraxis dann wieder etwas moderater, wenngleich sich dies in den absoluten Zahlen nicht ausdrückt. Art der Bestrafung/Jahr

1968

1969

1970 1971

1974

Arreststrafen insgesamt

180

341

565

533

673

davon

102

219

278

284

266

Einzelarrest

22

71

92

55

171

Freizeitarrest

56

51

195

194

236

Missbilligungen

61

223

239

204

177

Einschränkungen von Vergünstigungen

24

k. A.

10

25*

k. A.

strenger Einzelarrest

Tab. 5: Disziplinarmaßnahmen gegen Häftlinge in Brandenburg-Görden (1968– 1974)881 * Zahlenangabe bezieht sich auf das 1. Halbjahr 880  Vgl. Protokoll des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg über die Auswertung des durchgeführten Kontrolleinsatzes einer Kontrollgruppe der Verwaltung Strafvollzug vom 14.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 45–64. 881  Vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-Anwei­ sung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; ebenda, Bl. 1–33; Schreiben des Offiziers für Psych./Pädagogik an den Leiter der StVA Brandenburg Ackermann betreff Überprüfung der Disziplinarvorgänge Mai 1968 vom 10.6.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704, Bl. 49–56; Einschätzung der erreichten Arbeitsergebnisse durch den Leiter der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 2.1.1970; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 80–115; Realisierung der Jahreskonzeption des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg im Jahre 1970 vom 14.1.1971; ebenda, Bl. 186–217; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/695, Bl. 93; 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung

Die Haftbedingungen im Einzelnen

Art der Bestrafung

Zahl

Art der Bestrafung

strenger Einzelarrest 15–21 Tage

137 Freizeitarrest 22–28 Tage

375 Zahl 46

strenger Einzelarrest 8–14 Tage

124 Freizeitarrest 15–21 Tage

43

strenger Einzelarrest 1–7 Tage

23 Freizeitarrest 8–14 Tage

80

Einzelarrest 15–21 Tage

15 Freizeitarrest 1–7 Tage

25

Einzelarrest 8–14 Tage

26 Sicherungsmaßnahmen

Einzelarrest 1–7 Tage

14 gesamt

11 544

Tab. 6: Arreststrafen und Sicherungsmaßnahmen in Brandenburg-Görden nach Art und Dauer (1971)882

Zu Beginn der Achtzigerjahre wurden jährlich 511 Mal Einzelarrest (überwiegend mit einer Länge von 15 bis 21 Tagen) sowie 41 Mal Freizeitarrest verhängt. Darüber hinaus versuchte man, die Häftlinge jetzt mit 568 Einschränkungen des Einkaufs (von bis zu vier Monaten Dauer), 246 Verwarnungen, 131 Missbilligungen und 62 rückgängig gemachten Vergünstigungen zu disziplinieren.883 Somit wurde Arrest ähnlich häufig verhängt wie zehn Jahre zuvor, obwohl die Zahl der Insassen zwischenzeitlich leicht gesunken war. Sogar die Staatssicherheit monierte, der Einzelarrest würde »noch überbetont bzw. als alleiniges Mittel der Disziplinierung« verstanden.884 Die weniger strenge Sanktionsform des Freizeitarrestes wurde seltener als früher ausgesprochen; vermutlich hatte sie mittlerweile ihre abschreckende Wirkung teilweise eingebüßt. Durch die Summe der verhängten Arreststrafen sowie die Isolationshaft (siehe Kap. 3.3.7.3) befanden sich beispielsweise im Februar 1986 gleichzeitig 60 Häftlinge in Isolationshaft und 16 weitere in Arrest.885 Im ersten Halbjahr 1988 wiederum wurden insgesamt 111 Arreststrafen verschiedener Art verhängt, was auf zwölf Monate hochgerechnet

der Arbeitsergebnisse im 1. Halbjahr 1971 vom 6.7.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 39–60; Einschätzung der Arbeitsergebnisse 1974 durch den Leiter der StVA Brandenburg vom 3.1.1975; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/696, Bl. 186–210. 882  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/695, Bl. 93; 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung der Arbeitsergebnisse im 1. Halbjahr 1971 vom 6.7.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 39–60. Unterschiede der Gesamtzahl 1971 in den Tabellen 5 und 6 erklären sich aus 11 Sicherungsmaßnahmen. 883  Vgl. Bericht der AG Strafvollzug der BDVP Potsdam über die durchgeführte Kontrolle der StVE Brandenburg vom 18.6.1982; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/764. 884  Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129. 885  Vgl. Rapport der StVE Brandenburg vom 26.2.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 707, Bl. 297.

376

Die Gefangenschaft

für eine bis zuletzt strenge Disziplinarpraxis spricht,886 denn nach der Ende 1987 abgeschlossenen Amnestie befanden sich in Brandenburg-Görden nur mehr rund 1 000 Insassen. In dieses Bild fügt sich, dass die Arrestzellen im Zeitraum 1987 bis 1989 durchschnittlich mit etwa zehn bis fünfzehn Insassen belegt waren.887 Im Vergleich hierzu wurden selbst im Hochsicherheitsgefängnis Bautzen II zu Beginn der Achtzigerjahre nur etwa 30 Arreststrafen jährlich bei maximal 200 Gefangenen gezählt.888 Weniger Kriminelle, mehr Aufseher und der vorsichtigere Umgang mit den bundesdeutschen Häftlingen (siehe Kap. 4.1.14) mäßigten wohl etwas die Disziplinarpraxis in Bautzen II. 3.3.7.2 Haftbedingungen im Arrest Die Arrestzellen in den Haftanstalten der DDR waren anfänglich ohne Mobiliar, mit Ausnahme eines Betonsockels bzw. einer abklappbaren Holzpritsche. In vielen Haftanstalten befand sich der Teil der Zelle mit dem Kübel hinter einem zusätzlichen Gitter und konnte nur benutzt werden, wenn die Aufseher dies für nötig erachteten und das Gitter aufschlossen. Die besonders kleinen Fenster der Zelle waren mit Gitterstäben sowie meist mit einem zusätzlichen Drahtverhau abgetrennt, damit die Insassen nicht an die Glasscheiben gelangen und wo­ möglich Suizid begehen konnten.889 Dennoch ereigneten sich Selbstmorde auch im Arrest der Haftanstalt Brandenburg-Görden, weil die »Spionkontrollen nur alle Stunde« durchgeführt wurden.890 Die Lebensbedingungen im Arrest waren dabei erbärmlich: Die Karzerzelle war verdunkelt. Es wurde nur einmal täglich gekübelt. Da das Fenster nicht geöffnet werden konnte, herrschte in der dunklen Zelle ständig schlechteste Luft. Es gab nur jeden dritten Tag warmes Essen und sonst zweimal am Tag Kaffee und einmal Brot. Die Karzerhäftlinge wurden mitunter im Winter bei eiskaltem Sturm im Freien ›gefilzt‹ [das heißt durchsucht], wobei sie sich nackt ausziehen mussten.891

In Brandenburg-Görden existierten insgesamt 32 Arrestzellen.892 Zu Beginn der Fünfzigerjahre wurde die Arreststrafe sogar teilweise noch als Dunkelarrest in 886  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 1. Halbjahr 1988 vom 13.7.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 887  So die Schätzung des für die Arrestzellen zuständigen Kalfaktors. Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 223. 888  Vgl. Sälter: Überwachen und Strafen in Bautzen II, S. 182. 889  Vgl. Lienicke; Bludau: Todesautomatik, S. 84 f. 890  Vgl. u. a. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118. 891  Sopade-Informationsdienst: Straflager und Zuchthäuser, S. 106–215, hier 203. 892  Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129.

Die Haftbedingungen im Einzelnen

377

speziellen Kellerräumen vollzogen893. Seinerzeit soll beispielsweise ein Flucht­ versuch mit achtwöchigem Dunkelarrest bei halber Verpflegung bestraft wor­ den sein.894 Die dienstlichen Bestimmungen sahen damals vor, den Arrest »in Einzel­haft in der Strafzelle bei Entzug der Schreib- und Besuchserlaubnis sowie Entzug sämtlicher Vergünstigungen u. a. der Arbeit, dem weichen Nachtlager« zu vollziehen. »In besonders schweren Fällen kann Beschränkung auf Wasser und Brot erfolgen.«895 Gelegentlich ließen dann hilfsbereite Kalfaktoren den Arrestanten Brotscheiben zukommen, die sie mit Klebeband an der Unterseite von Kübelgefäßen befestigten, bevor sie diese in die Zellen brachten.896 Im Winter wurden den Arrestanten Decken und Matratzen ganz oder teilweise vorenthalten. Bis in die zweite Hälfte der Sechzigerjahre war »das Abstellen der Zellenheizung und das Öffnen der Oberfenster der Arrestzellen im Winter« gängige Praxis.897 Sich mit zusätzlicher Kleidung gegen die Kälte zu schützen, war den Betroffenen dabei untersagt.898 Der erwähnte »Entzug [...] des weichen Nachtlagers« bedeutete, dass den Arrestanten nur alle vier Tage für eine Nacht eine Matratze zum Schlafen überlassen wurde. Unter diesen Bedingungen mussten sie dann insgesamt bis zu sechs Wochen ausharren, wobei der Arrest teilweise durch Isolationshaft in gewöhnlichen Einzelzellen (siehe Kap. 3.3.7.3) unterbrochen wurde. Dies galt nicht als Disziplinarstrafe im engeren Sinne, wodurch sich die höchstzulässige Dauer der Arreststrafe von 21 Tagen beliebig verlängern ließ.899 Der sogenannte verschärfte Arrest bedeutete bis Mitte der Sechzigerjahre, dass erst am vierten Tag ein normales Essen gereicht, eine Matratze erlaubt und eine auf 30 Minuten verkürzte Freistunde gewährt wurde; dies wiederholte sich 893  Vgl. u. a. [Bericht eines geflüchteten Aufsehers] betr. Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 19.2.1951, 2 S.; BArch B 289/VA 171/22–7. Zum Dunkelarrest in der Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit vgl. Weinke; Hacke: U-Haft am Elbhang, S. 50. 894  Vgl. Bericht [eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 3.1.1951, 13 Bl.; BArch B 137/1809. Der Leiter der obersten Gefängnis­ verwaltung, August Mayer, ließ beispielsweise auch im Jahre 1956 bei einer Vor-Ort-Inspektion im Haftarbeitslager Rüdersdorf den Arrestraum der Gefangenen umgehend sperren, »weil er eher als eine Dunkelzelle zu betrachten war«. Bericht der Verwaltung Strafvollzug über die Tätigkeit der Haftstaatsanwälte vom 21.9.1956; BArch DO1 11/1589, Bl. 277 f. 895  Strafvollzugsordnung für die Durchführung des Strafvollzugs in Strafanstalten unter polizeilicher Führung vom 1.4.1950; BArch DO1 11/1446, Bl. 200–258. Siehe auch Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Strafvollzugswesens von 1952; BArch DO1 11/1509, S. 34–75. 896  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Heinz Kühn am 6.6.2001 in Berlin, 7 S. 897  Analyse über Widerstandshandlungen von Strafgefangenen vom 19.5.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 118–120. 898  Vgl. u. a. Schacht, Ulrich: Brandenburgische Konzerte. Sechs Erzählungen um einen Menschen. Stuttgart 1989, S. 17. 899  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Karl Heinz Reuter am 8.9.2001 in Dortmund, 5 S.

378

Die Gefangenschaft

im Folgenden alle drei Tage. Dazwischen erhielten die Arrestanten lediglich Kaffee(ersatz) und Brot900 und empfanden die Arreststrafen daher als »im Grunde genommen identisch mit Hunger in Einsamkeit«.901 Denn selbstverständlich waren (im einfachen wie im verschärften Arrest) Besuche ebenso verboten wie Päckchen, Briefe und Hofgang. Selbstredend waren auch das Rauchen, der Einkauf zusätzlicher Lebensmittel902 sowie »das Lesen sämtlicher Zeitungen und Zeitschriften verboten«.903 Zum Waschen im Waschraum billigte man den Arrestanten – wenn überhaupt – nur etwa drei Minuten Zeit zu; warmes Wasser zum Duschen gab es einmal in der Woche.904 Doch selbst die Minimalrechte während des Arrests wurden in der Praxis vielfach verletzt. So ließ man beispielsweise den politischen Gefangenen Dietrich Hübner nach einer Arbeitsniederlegung im Oktober 1962 im Arrest nicht nur elf Tage lang hungern, sondern verweigerte ihm auch das Trinken sowie das Wasser zum Waschen. Gesundheitlich schwer angeschlagen, wurde er dann in das Haftkrankenhaus gebracht, woraufhin ein Häftlingsarzt Protest gegen diese Behandlung einlegte.905 Ein misslungener Fluchtversuch beispielsweise zog meist nicht nur körperliche Übergriffe der Aufseher nach sich, sondern wurde zusätzlich mit Arrest sowie anschließenden zwölf Monaten Einzelhaft und dem Entzug sämtlicher Vergünstigungen (mit Ausnahme des Briefverkehrs) bestraft.906 Gegen Arreststrafen teilweise gefeit waren die Zuträger der Staatssicherheit907 sowie Gefangene, die im Arbeitseinsatz schwer zu ersetzen waren, etwa weil sie komplizierte Maschinen bedienen konnten.908 Wurde die Disziplinarpraxis in Brandenburg-Görden einmal durch vorge­setzte Dienststellen überprüft, wurden, wenn überhaupt, formale Fehler kritisiert – so etwa dass Arreststrafen teilweise erst mit dreimonatiger Ver­spätung vollzogen

900  Vgl. Disziplinarvorschrift 119 des Chefs der Deutschen Volkspolizei für die in den SV-Dienststellen der HVDVP einsitzenden Straf- und Untersuchungsgefangenen vom 9.12.1954; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15462. 901  Brundert: Es begann im Theater, S. 68. 902  Vgl. Disziplinarvorschrift 119 des Chefs der Deutschen Volkspolizei für die in den SV-Dienststellen der HVDVP einsitzenden Straf- und Untersuchungsgefangenen vom 9.12.1954; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15462. 903  [Politische Abteilung der Verwaltung Strafvollzug]: Die politisch-kulturelle Erziehungs­ arbeit unter den Strafgefangenen o. D. [1959/60]; BArch DO1 11/1567, Bl. 99–106. 904  Vgl. Lienicke; Bludau: Todesautomatik, S. 84 f. 905  Vgl. [Kassiber eines Häftlings der StVE Brandenburg-Görden] vom 24.3.1963; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 1841/63, Bl. 131–134; Gesundheitsbericht eines ehemaligen Häftlingsarztes vom 5.6.1965 (im Besitz des Autors); Schreiben von Dietrich Hübner an den Autor vom 5.10.2003. 906  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung SV über eine Besprechung der Haftstaatsanwälte bei der Obersten Staatsanwaltschaft am 16.8.1955 vom 23.8.1955; BArch DO1 11/1589, Bl. 222 f. 907  Siehe Kapitel 5.5.3.3. 908  Vgl. Ammer: Strafvollzugsanstalt Brandenburg, S. 1006–1008, hier 1007.

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wurden.909 Meist wurde jedoch konstatiert, dass der Voll­zug der Arreststrafen den »gesetzlichen Bestimmungen« entspräche, die »ärztliche Kontrolle […] erfolgt« sei und die Zahl der zusätzlich angewandten Sicherungsmaßnahmen »gering« sei.910 Nach Aussagen der Betroffenen wurde indes die höchstzulässige Dauer der Arreststrafen von 21 Tagen im allgemeinen und 18 Tagen im erleichterten Vollzug911 vielfach überschritten, doch fand dies zumeist keinen Niederschlag in den Akten.912 Auch waren die Häftlinge in dieser Zeit besonders häufig Übergrif­ fen der Aufseher ausgesetzt, da diese hier weniger Zeugen fürchten mussten. Außerdem zeigten sich die Betroffenen dem psychischen Druck der Arrestsituation oft nicht gewachsen, sodass sie leicht einen Vorwand zum Einschreiten boten. Die einzige Vorteil der Arrestverbüßung lag darin, dass der Arrestzellentrakt in Brandenburg-Görden durch eine Tür gesichert war, deren geräuschvolles Öffnen den Insassen nicht verborgen blieb, sodass sie sich in der Zwischenzeit relativ ungestört mit den Arrestanten in anderen Zellen unterhalten konnten.913 Gewisse Verbesserungen erbrachte das Strafvollzugsgesetz von 1977, das den strengen Arrest abschaffte, die Höchstdauer im erleichterten Vollzug auf 18 Tage begrenzte sowie die Verpflegung in dieser Zeit verbesserte.914 Zwar waren Bett­ decken während des Arrests nun grundsätzlich vorgesehen, wurden in der Praxis allerdings oftmals weiterhin vorenthalten, was man als »Sicherungsmaßnahme« eigens angewiesen hatte.915 Zu den zulässigen Sicherungsmaßnahmen zählte wei­ ter­hin die Fesselung, die mitunter auch während der Freistunde (von Häft­lin­gen in Isolationshaft oder Freizeitarrest) beibehalten wurde.916 Dies rechtfertigte der letzte Gefängnisleiter Jahn nach 1989 angeblich damit, dass »wegen terroristischer Handlungen« Verurteilte »entsprechend behandelt« worden seien.917 Jahn fühlte 909  Vgl. Bericht der Abteilung Kontrolle des Ministeriums des Innern über die Kontrolle der politischen, operativen und wirtschaftlichen Arbeit in der StVA Brandenburg-Görden vom 6.7.1956; BArch DO1 11/1488, Bl. 170–178. 910  Vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-Anwei­ sung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33. 911  Vgl. Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durch­füh­rungs­be­ stim­mung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 912  »Die seit gestern geltende 21-tägige Arreststrafe (streng-Einzel) wurde aufgrund dieses Vorfalls um weitere 21 Tage verlängert.« Abteilung VII/5: Ergänzung zur OPK »Legionär« vom 4.6.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 255/79, Bl. 41. 913  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. 914  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 63. 915  Vgl. Information über eine Kontrolle der Arrestdurchführung in der StVA Brandenburg vom 20.6.1979; BLHA, Rep. 404/15.2/1701; zit. nach: Ansorg, Strafvollzug an politischen Gefangenen, S. 769–781, hier 779. 916  Vgl. Aktenvermerk des Stellv. des Leiters für Vollzug vom 22.2.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 625, Bl. 266; Rekonstruktion der Rückverlegung des SG [...] vom 8.3.1985; ebenda, Bl. 264 f. 917  Vgl. Super! vom 16.7.1991, S. 5.

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Die Gefangenschaft

sich in dem Interview jedoch falsch wiedergegeben und konnte eine Einstweilige Verfügung erwirken.918 Wie streng gerade mit Arrestanten bis zuletzt verfahren wurde, verdeutlicht das Bei­spiel eines Häftlings, der im April 1986 im Arrest Schreibzeug verlangte, um eine Be­schwerde zu verfassen, und mit Hungerstreik drohte. Der Gefangenenkal­ faktor, der politisch »fortschrittlich« war und den Aufsehern viel »Drecksarbeit« abnahm, erklärte dem Arrestanten daraufhin, dass er erst nach Abbruch des Hungerstreiks Schreibzeug bekommen könne – »ansonsten dreht sich hier über­ haupt nichts«. Nachdem sein Beschwerderecht auf diese Weise ad absurdum geführt wurde, stellte sich der Betroffene erst recht stur und lehnte, trotz Fieber, die Einnahme von Medikamenten ab. Dass er später doch wieder eine Mahlzeit zu sich nahm, führte jedoch nicht dazu, dass er nun seine Beschwerde einreichen durfte. Als er bei Beginn der Nachtruhe auch noch vorschriftswidrig seine Klei­ dung anbehal­ten wollte, wurde der Gefangenenkalfaktor handgreiflich. »Mit ein bisschen Nach­druck musste ich nachhelfen, damit er sich auszieht. Als er merkte, dass er mit seinem provokativen Verhalten nicht durchkam und ich ihm die Sachen ausziehen wollte, wobei mir die Wachtmeister Rückendeckung gaben, fügte er sich.« In den nächsten Tagen war der Arrestant dann angeblich wieder »sehr auffallend frech«, sodass sich der zugleich als Spitzel der Staatssicherheit arbei­tende Gefangenenkalfaktor »richtig zusammenreißen musste, um ihn nicht zu verbläuen«.919 In den früheren Jahren hatte es an dieser Zurückhaltung meist gemangelt. Insgesamt wurden die Arreststrafen, bei weiterhin strenger Diszi­ plinarpraxis, im Laufe der Jahre aber unter etwas besseren Bedingungen vollzogen. 3.3.7.3 Isolationshaft Unabhängig von den Arreststrafen konnte der Leiter einer Haftanstalt »Sicherungs­ maßnahmen« anordnen, die zunächst keiner Befristung unterlagen. Zulässig war dies bei »Gewalttätigkeit, Widerstand, tätlichen Angriffen, Flucht- und Ausbruchsversuchen sowie Toben und Schreien«.920 So hieß es etwa zu einem ehemaligen Kamtschatka-Häftling, er dürfe »mit keinem anderen Gefangenen in Berührung kommen«.921 Besonders streng abgeschottet war beispielsweise 918  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen Gefängnisleiter Udo Jahn am 1.3.2016 in Brandenburg, 4 S. 919  Wochenbericht des [IMS] »Eiche« o. D. [6.4.1986]; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 23/89, Bl. 55–60. 920  Vgl. Disziplinarvorschrift 119 des Chefs der Deutschen Volkspolizei für die in den SV-Dienststellen der HVDVP einsitzenden Straf- und Untersuchungsgefangenen vom 9.12.1954; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15462. 921  Verfügung der SVA Brandenburg vom 6.10.1958; BStU, MfS, Abt. XII, RF, Nr. 376, o. Pag. Ob diese »besonderen Sicherheitsmaßnahmen« umgesetzt wurden, geht aus der Akte nicht sicher hervor.

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Abb. 16: Arrestzellentrakt, 1989/90. (BArch, Bild 183-1989-1202-003, Foto: Bernd Settnik)

der prominente politische Gefangene Fritz Sperling, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der westdeutschen KPD, der zwischen Mai 1954 und November 1955 keinen anderen Häftling zu Gesicht bekam, keinen Besuch empfangen und keinen Brief schreiben durfte.922 Ein anderer Häftling berichtete, er sei in 14 Monaten Isolationshaft in Brandenburg-Görden als einzigem Menschen immer demselben Aufseher »begegnet«. Wenn dieser die Zelle öffnete, musste er sich umdrehen, bis er mit dem Gesicht zum Fenster stand, sodass er auch den Gefangenenkalfaktor nicht sehen konnte, wenn dieser das Essen in die Zelle stellte.923 Einzelhaft bedeutete, ähnlich wie bei Arreststrafen, Isolierung in einer engen Einzelzelle mit Sichtblenden oder Glasbausteinen vor dem Fenster. Anders als im Arrest durften Häftlinge in Isolationshaft prinzipiell einzeln an der Freistunde teilnehmen und hatten zumindest geringe Chancen, Briefe zu empfangen oder Lesestoff zu erhalten. Auch wenn die Umstände der Isolationshaft sich im Laufe der Zeit etwas besserten, konnte und sollte die Einzelhaft die Betroffenen zermürben und ihren Widerstandswillen brechen. 922  Vgl. Jahnke: »... ich bin nie Parteifeind gewesen«, S. 86–88. 923  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Karl Heinz Reuter am 8.9.2001 in Dortmund, 5 S. Karl Heinz Reuter war zwischen November 1952 und Januar 1954 in der Haftanstalt an der Havel inhaftiert und während der gesamten Zeit isoliert.

382

Die Gefangenschaft

Die Verlegung in diese besonderen Einzelzellen bedeutete eine Strafverschärfung. Wir bekamen nicht die üblichen Lederschuhe, sondern schwere Holzschuhe, mit denen man nur unter Lebensgefahr die schmalen Eisentreppen herauf- und heruntergehen konnte. Arbeit gab es nicht, man war zum untätigen Herumsitzen in der Zelle verurteilt. Immerhin wurde einmal in der Woche ein Buch in die Zelle gebracht. Die psychische Folter der strengen Isolierung, des Abschottens von anderen Gefangenen – wie während der Untersuchungshaft in den Gefängnissen der Staatssicherheit üblich – wurde auch in Brandenburg für einen längeren Zeitraum angewandt. [...] Dieses Spürenlassen der ›ganzen Härte des Strafvollzugs‹ soll natürlich die Persönlichkeit des Gefangenen, einen vielleicht noch vorhandenen Widerstandswillen brechen, soll ihn zu Reue und Einsicht zwingen.924

Durch die Isolationshaft sollte widerständiges Verhalten gebrochen und wohl­ge­ fälliges Auftreten der Gefangenen erzwungen werden. Dies betraf etwa Arbeits­ verweigerer, die aus politischen Gründen für den SED-Staat »keinen Finger rühren« wollten. Sie wurden mit sechs Monaten Isolationshaft bestraft, die nur bei Wiederaufnahme der Arbeit vorzeitig beendet wurde;925 bis zuletzt wurden Gefangene vor die Alternative gestellt, entweder fortan körperlich schwere Arbeit (wie im Traktorenwerk) zu verrichten oder weiterhin der Isolation zu unterliegen.926 Zweck der Isolationshaft konnte es ferner sein, Gegner des SED-Regimes mundtot zu machen und ihnen jede Chance zur Kontaktaufnahme mit der Außenwelt zu nehmen. In erster Linie ging es aber wohl darum, insbesondere den politischen Gefangenen »in seiner Persönlichkeit zu zerstören [und] seine Standfestigkeit zu zerbrechen«.927 Dies war anscheinend auch wichtiger als der ökonomische Aspekt, denn Einzelhaft bedeutete – wenn überhaupt – zermürbende Zellenarbeit, wäh­rend der Einsatz in den großen Arbeitseinsatzbetrieben wesentlich effizienter gewe­sen wäre.928 Eine Besonderheit war dabei in den Jahren bis 1953 der Einsatz reni­ten­ ter Häftlinge in einer sogenannten Strafabteilung, wo sie unter strenger Isolation besonders umfangreiche, harte und unbezahlte Arbeit verrichten sollten.929 924  Crüger: Lebensbericht eines Kommunisten, S. 345 f. 925  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Kreutzer am 10.7.2001 in Berlin, 9 S. 926  Vgl. für die 50er-Jahre: Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen Häftling politischen Heinz Kühn am 6.6.2001 in Berlin, 7 S. Für die 80er-Jahre vgl. u. a. Zwischenbericht der OPG der Abt. VII zur OPK »Kanadier« vom 24.8.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 558, Bl. 221–223. 927  Fricke: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener, S. 64. 928  Siehe auch Jahresperspektivplan des Referates Vollzug der BVSV Potsdam vom 28.12.1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/115, Bl. 288–290. 929  Vgl. Vorläufige Strafvollzugsordnung der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei für die Durchführung des Strafvollzuges in Strafvollzugsanstalten unter polizeilicher Verwaltung vom 14.12.1950; BArch DO1/2.2./56788; Entwurf der Vollzugsordnung des Ministeriums des Innern für die Durchführung des Strafvollzuges in der DDR von 1953 mit Instruktionen; BArch DO1/2.2./56789.

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Die permanente Isolationshaft betraf allein in der Haftanstalt an der Havel ei­ne meist zweistellige, stark schwankende Zahl von Insassen, insbesondere in Haus 4. Schon als die Justiz in der gesamten Haftanstalt Regie führte, wa­ ren in einem Stockwerk dieses Gebäudes Anfang 1950 dreißig bis vierzig Un­ tersuchungshäftlinge in Einzelhaft untergebracht und wurden ständig ver­hört.930 Zwischen Januar 1954 und August 1956 wurden dann aber­mals in Haus 4 »besonders gefährliche Gegner des Regimes« eingesperrt, da­runter ehe­malige hohe Partei- und Staatsfunktionäre sowie Opfer von Men­schen­raub­a k­tionen931 (wie etwa Karl Wilhelm Fricke932 oder Alfred Weiland),933 bevor die­se nach Bautzen II verlegt wurden (siehe Kap. 4.1.5). Ge­gen die Insassen in Haus 4 hatte zumeist der Staatssicherheitsdienst ermittelt, der nach Ansicht der In­sassen in Haus 4 auch Regie führte.934 Im Januar 1956 wur­den insgesamt 145 Insassen Brandenburg-Gördens in Einzelzellen gehalten, da­runter offenbar auch sämtliche Zeugen Jehovas.935 Dem Haus 4 kam erneut eine Sonderrolle zu, als im Herbst 1957 29 SMT-Verurteilte eingeliefert und von den anderen Häft­lin­gen streng getrennt wurden (siehe Kap. 4.1.2). Am Ende des Jahres 1960 wurden aufgrund von Verlegungen und Ent­lass­ ungen nur noch sechs unter den insgesamt 1 561 Inhaftierten ständig in Ein­ zelhaft gehalten, wovon vier als »Staatsverbrecher« galten.936 Besonders un­ beugsame politische Gefangene (wie Michael Gartenschläger) sowie ge­walt­be­reite Mörder befanden sich hier.937 Im Verlauf der ersten Jahreshälfte 1967 sa­ßen wiederum insgesamt 45 Häftlinge in der »Absonderungsstation«.938 Al­lein im zweiten Quartal 1969 gelangten 29 Häftlinge in Isolationshaft, wobei ein­mal auch die »Anwendung körperlicher Gewalt« und einmal das »Anlegen von Fesseln« protokolliert wurde.939 Weil die Häftlinge in verschiedenen Iso­la­tions­zellen sich teilweise durch Zuruf untereinander verständigen konnten, war zu­dem der Einbau

930  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Gefängnis Brandenburg-Görden vom 28.4.1950; BArch B 289/SA 171/22–39. 931  Vgl. Muhle: Menschenraub, S. 157, 226 u. 257; Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 35. 932  Vgl. Fricke: Akten-Einsicht. 933  Vgl. [Eingabe von] Alfred Weiland an das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei vom 18.1.958; BStU, MfS, AU, Nr. 258/52, Bd. 2b, Bl. 106–108. 934  Vgl. u. a. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Situationsbericht SVA BrandenburgGörden vom 21.12.1954; BArch B 289/VA 171/22–19/25. 935  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 936  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 51. 937  Aussage von Uwe Rutkowski; zit. nach: Klier: Gartenschläger, S. 75. 938  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707. 939  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom II. Quartal 1966]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/710, Bl. 58.

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einer Abhöranlage geplant.940 Ein Häftling glaubte, in den Sieb­zigerjahren aus der Isolationshaft heraus mit weiteren Mitinsassen per Kas­siber kommunizieren zu können, doch ließ die Staatssicherheit ihn nur aus tak­ti­schen Gründen gewähren, um seine Pläne in Erfahrung zu bringen.941 Auch die Staatssicherheit konnte Isolationshaft anordnen, ohne dass dem ein disziplinarisches Vergehen vorausgehen oder ein besonderer Grund vorliegen musste.942 Im Jahre 1974 wurden dann in fünf Haftanstalten Zellentrakte mit besonders strengen Haftbedingungen eingerichtet, die als »besondere Vollzug­ abteilungen« bezeichnet wurden (siehe Kap. 3.2.8). Nach dem zuletzt gültigen Strafvollzugsgesetz konnte eine Isolierung eigentlich nur »befristet vorgenommen werden, wenn es aus gesundheitlichen Gründen oder für die Erziehung des Strafgefangenen erforderlich ist«. Dabei war die Dauer auf sechs Monate be­ grenzt,943 wurde in der Praxis aber teilweise unter einem fadenscheinigen Vorwand verlängert, im Extremfall auf bis zu zehn Jahre.944 Manche Insassen indes zogen von sich aus die getrennte Unterbringung zeitweilig vor. Letztlich bildeten Einzel­ unterbringung, angebliche Sicherungsmaßnahmen und Arreststrafen ein ganzes Repertoire von Repressalien, die oft willkürlich verhängt wurden und deren Grenzen sowie Anwendungsvoraussetzungen nicht immer eindeutig waren. Sehr häufig ging ihre Anwendung mit dem Einsatz körperlicher Gewalt ein­ her, die freilich meist keinen Niederschlag in den Akten fand.945 Auch noch in den Achtzigerjahren wurden Insassen auf Dauer von der Außenwelt isoliert (»keiner darf [den] SG sprechen außer Leiter [der Haftanstalt] und MfS«).946 Ende 1987 unterlagen in Brandenburg-Görden »nur« 20 Insassen den »besonderen

940  Hierbei handelte es sich um einen Vorschlag des inoffiziellen Mitarbeiters und Stell­ vertretenden Gefängnisleiters an seinen Führungsoffizier. Vgl. Treffbericht der Abteilung VII mit dem IMS »Stein« vom 29.11.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 37 (MfS-Pag.). 941  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 46, Bd. 2, Bl. 40. 942  Vgl. u. a. Bericht der Abteilung VII [der Bezirksverwaltung] Potsdam vom Mai 1963; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 1841/63, Bl. 303–305. 943  Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestimmung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern, S. 79 f.; Ord­ nung 107/77 des Ministers des Innern über die Durchführung des Vollzuges von Strafen mit Freiheitsentzug – Strafvollzugsordnung – vom 7.4.1977 in der Fassung vom 30.8.1988; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 12003. 944  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 74. 945  So hieß es zu den Vorfällen im ersten Halbjahr 1967: »Zur Durchführung der Sicherungs­ maßnahmen kamen dabei in 3 Fällen körperliche Gewalt, in 2 Fällen der Gummiknüppel, in 2 Fällen Hand- und Fußfessel und 1 Fall Handfessel zum Einsatz.« BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 142. 946  Information der Abteilung VII/OPG zum OV »Kanister« vom 21.4.1988; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 131/89, Bl. 322.

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Vollzugsmaßnahmen«,947 vermutlich aufgrund der unmittelbar vorangegangenen Amnestie. Ende November 1989 befanden sich wiederum 74 von 2 212 Häftlingen in sogenannter »Einzelunterbringung«.948 3.3.8 Drangsalierung, Misshandlung und Beschwerden 3.3.8.1 Häufigkeit und Hintergründe der Übergriffe Die systematische Degradierung von Personen zu anonymen Insassen der Haft­ anstalten verletzte grundsätzlich die Menschenwürde der Betroffenen. Denn der Gefängnisalltag war durch das Vorenthalten jeglicher Intimsphäre und ent­ würdigende Behandlung geprägt. Viele ehemalige Insassen hatten deswegen nach ihrer Entlassung jahrelang mit schweren psychischen Folgeschäden zu kämpfen.949 Häufig wurde sogar ihre Gesundheit beeinträchtigt, etwa durch die entbehrungsreichen Arreststrafen oder die mangelhafte Ernährung. Besonders gra­ vierend war jedoch die Anwendung physischer Gewalt durch die Aufseher: Mehr als zehn Prozent aller freigekauften Häftlinge gaben 1985 an, geschlagen worden zu sein;950 später berichteten gar drei Viertel aller ehemaligen politischen Gefangenen von Misshandlungen.951 Aufgrund der Angaben freigekaufter Häftlinge erfasste die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter mehr als 2 500 körperliche Misshandlungen 947  Stellv. für Vollzug der StVE Brandenburg: Beurteilung der Lage nach Abschluss der Amnestie vom 2.12.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 415–417. 948  Rapport der StVE Brandenburg Nr. 327/89 vom 24.11.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 826, Bl. 24 f. 949  Vgl. Beer; Weißflog: Weiterleben nach politischer Haft; Priebe, Stefan; Denis, Doris; Bauer, Michael (Hg.): Eingesperrt und nie mehr frei. Psychisches Leiden nach politischer Haft in der DDR. Darmstadt 1996; Trobisch-Lütge, Stefan: Das späte Gift. Folgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre Behandlung. Gießen 2004; Heilmann-Hawwary, Cornelia: Traumata durch politische Verfolgung in der DDR. Sozialarbeit bei politisch Traumatisierten. Saarbrücken 2008; Bomberg, Karl-Heinz: Traumatisierung durch politische Haft in der DDR. In: Seidler, Christoph; Froese, Michael J. (Hg.): Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland. Gießen 2006, S. 99–106; Maercker, Andreas: Psychische Folgen politischer Inhaftierung in der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (1995) 38, S. 30–38; Freyberger, Harald J. u. a.: Gesundheitliche Folgen politischer Haft in der DDR. Schwerin 2003; Fikentscher, Elke: Denunziation und psychisches Trauma bei stalinistisch Verfolgten in Ostdeutschland nach 1945. In: Jerouschek, Günter; Marßolek, Inge; Röckelein, Hedwig (Hg.): Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte (Forum Psychohistorie, 7). Tübingen 1997, S. 207–223. 950  Dies bezog sich auf eine Befragung von 1 100 Häftlingen, die im ersten Halbjahr 1985 freikamen. Von diesen antworteten 768 nicht auf einen Fragebogen, während 322 diesen aus­ gefüllt zurücksandten. Von diesen erklärten 34 ehemalige Insassen ausdrücklich, während ihrer Inhaftierung von Aufsehern geschlagen worden zu sein. Vgl. Amnesty International (Hg.): Deutsche Demokratische Republik. Rechtsprechung hinter verschlossenen Türen. 2. Aufl., Bonn 1992, S. 98. 951  Vgl. Beer; Weißflog: Weiterleben nach politischer Haft, S. 111.

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in allen DDR-Haftanstalten (für den Zeitraum zwischen 1961 und 1989)952 und registrierte 2 228 Aufseher als »Gewalttäter«.953 Speziell Brandenburg-Görden betreffend nahm Salzgitter seit 1970 mindestens 30 Fälle von Misshandlungen zu Protokoll,954 was wohl nur die Spitze eines Eisberges darstellt, denn allein die Staatssicherheit zählte 1966 acht Übergriffe binnen zweier Monate.955 Bei all diesen Zahlen handelt es sich vermutlich um Mindestgrößen; viele Fälle wurden wohl weder der Geheimpolizei noch den Strafverfolgungsbehörden im Westen jemals bekannt. Die DDR-Seite stellte stets in Abrede, dass Misshandlungen irgendwelcher Art vorkämen – so etwa ein Dementi des »Neuen Deutschlands« im Jahre 1984.956 Doch auch in den internen Berichten wurde dieses Phänomen weitgehend »tot­ ge­schwiegen«. So betrafen von den 5 860 »besonderen Vorkommnissen« in Unter­ suchungs- und Strafvollzugsanstalten, die zwischen 1972 und 1990 notiert wur­ den, nur 18 Fälle eine Gefangenenmisshandlung:957 Aus Sicht des Systems war es wichtiger, Vergehen wie »Schlafen auf den Postentürmen« oder »Alkohol im Dienst« zu ahnden, da diese die Sicherheit beeinträchtigten, während bei Gefangenenmisshandlung »nur« die Insassen die Leidtragenden waren. In aller Regel hieß es in den Berichten, »das Auftreten der Genossen [Aufseher] gegenüber Strafgef[angenen] ist korrekt«, wie etwa der Politstellvertreter von BrandenburgGörden im Jahre 1958 behauptete.958 Auch bei einem Kontrolleinsatz in rund einem Dutzend verschiedener Haftanstalten fanden sich seinerzeit keine Belege für Misshandlungen,959 was freilich mehr für unzureichende Kontrollen als für eine korrekte Behandlung spricht.

952  Grasemann, Hans-Jürgen: Strafvollzug. In: Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staatsund Gesellschaftssystem der DDR. Hg. von Eppelmann, Rainer u. a. (Studien zur Politik, 29). Paderborn 1996, S. 621–623. 953  Vgl. Grasemann, Hans-Jürgen: Reanimation eines Fossils – der Beitrag der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter zur justitiellen Aufarbeitung des SED-Unrechts. In: Stephan, Annegret (Hg.): 1945 bis 2000. Ansichten zur deutschen Geschichte. Zehn Jahre Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg für die Opfer politischer Gewaltherrschaft 1945 bis 1989. Opladen 2002, S. 55–68, hier 61. 954  Vgl. die Berichte ehemaliger Häftlinge gegenüber der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter (u. a. BArch B 285/948; BArch B 285/945; BArch B 285/946; BArch B 285/947). 955  Vgl. Bericht der Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam über die festgestellten Missstände in der StVA Brandenburg vom 26.10.1966; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1326, Bl. 12–30. 956  Vgl. Neues Deutschland vom 16.11.1984, S. 2; BArch DO1 32/50288. 957  Vgl. Der Tagesspiegel vom 18.10.1996, S. 14. 958  Vgl. Lagebericht des Politstellvertreters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an das Referat Vollzug der Abt. SV der BDVP Potsdam vom 27.10.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/346, Bl. 207. 959  Vgl. Bericht der Adjutantur des Ministeriums des Innern über eine Überprüfung im Strafvollzug vom 15.8.1959; BArch DO1 11/1489, Bl. 299–320.

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Die oberste Gefängnisverwaltung äußerte verschiedentlich ihr Missfallen über die ihr inoffiziell sehr wohl bekannten Vorfälle. So erklärte August Mayer, langjähriger Leiter der Hauptabteilung Strafvollzug, im Jahre 1952 ausdrücklich, dass nicht geschlagen werden dürfe. Bei Misshandlungen würden zukünftig sogar die Vorgesetzten »zur Verantwortung gezogen, und zwar auch gerichtlich«.960 Dies ist zugleich als Bestätigung dafür zu verstehen, dass seinerzeit Übergriffe vorkamen und sich die Aufseher davon nicht abbringen lassen wollten; so erfuhren etwa Aufseher der Haftanstalt Bützow-Dreibergen erst am Rande einer Schulung im Jahre 1951 zu ihrer Überraschung, dass das Schlagen der Häftlinge verboten sei.961 Zwar sprach sich Mayer auch bei weiteren Gelegenheiten gegen Übergriffe aus, doch blieben die angekündigten »gerichtlichen« Schritte fast immer aus (siehe Kap. 3.3.8.3). Auch der Leipziger Staatsanwalt für Strafvollzugsaufsicht beobachtete im September 1956 in der Haftanstalt Waldheim »faschistische Methoden« und das Schlagen von Gefangenen.962 Dabei musste eigentlich seit 1950 über jeden Einsatz des Schlagstocks ein Protokoll angefertigt und an den diensthabenden Offizier weitergereicht werden.963 Doch »Befehlslage« und gängige Praxis wichen erheblich voneinander ab, wie etwa hinsichtlich Brandenburg-Gördens ein in den Westen geflüchteter Aufseher 1954 bestätigte: »Schlagen der Strafgefangenen ist streng verboten. Übergriffe in diese Richtung werden allerdings von der Leitung der Strafvollzugsanstalt nicht strafrechtlich verfolgt.«964 Gefängnisleiter Marquardt nahm sogar Aufseher nach Überreaktionen gegenüber Insassen ausdrücklich in Schutz.965 Sein Nachfolger Ackermann hatte schon als Leiter der Haftanstalt Bützow-Dreibergen Übergriffe gedeckt und war keineswegs zur Rechenschaft gezogen worden (siehe Kap. 2.6.6). Auch der Leiter der Abteilung Strafvollzug in Potsdam bekräftigte im Jahre 1958, dass »die Frage des Schlagens [...] verschwinden« müsse. Es gehe nicht an, dass Insassen, weil sie sich dagegen verwahrten, von Aufsehern beschimpft zu werden, 960  Vgl. Protokoll über die am 18. August stattgefundene Besprechung mit den Leitern der Abteilung SV bei den Bezirksbehörden vom 18.8.1952; BArch DO1 11/1493, Bl. 36–49. 961  Vgl. Vernehmungsprotokoll vom 15.5.1953; BStU, MfS, BV Schwerin, AU, Nr. 70/53, Bd. 1, Bl. 284–286. 962  Arbeitstagung der BVSV Leipzig vom 12.9.1957; Sächsisches Staatsarchiv Leipzig 24/151 Bl. 75; zit. nach: Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 203. 963  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung Haftsachen der HVDVP an die Strafvollzugsanstalten, Haftlager und Haftkrankenhäuser der HVDVP vom 11.4.1950; BArch DO1 11/1460, Bl. 247. 964  [Bericht des geflüchteten Aufsehers Horst Bock] über die Strafvollzugsanstalt BrandenburgGörden vom 28.7.1954; BArch B 285/201. 965  So soll der Aufseher Otto Naß zwei scharfe Hunde auf einen Häftling gehetzt haben, der zwei Aufseher niedergeschlagen hatte. Dieses Vorgehen, bei dem der Häftling schwer verletzt wurde, verteidigte Anstaltsleiter Marquardt, als ein besonnenerer Aufseher seinen Kollegen in einer Parteiversammlung deswegen kritisierte. Vgl. [Bericht eines in den Westen geflüchteten Frisörs über die Aufseher] der Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 12.12.1952, 3 S.; BArch B 289/SA 171/22–01/11.

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verprügelt würden. »Wir schikanieren keinen Gefangenen durch Schlagen. Gen. Mayer hat gesagt: ›Wer schlägt, hat im Strafvollzug nichts zu tun‹. Wir wenden uns gegen das willkürliche Schlagen.« Allerdings bezog sich dies nur auf jene Fälle, in denen Gefangene keinen Widerstand geleistet hätten,966 womit immer noch ein weiter Spielraum blieb, Häftlinge unter einem Vorwand zu misshandeln.967 Denn in aller Regel behaupteten die Aufseher, durch die Gefangenen ange­ griffen oder »provoziert« worden zu sein. Doch selbst wenn sich Häftlinge, unter den enormen seelischen Belastungen der Haft bzw. Isolation, einmal Widerworte leisteten, waren Misshandlungen als Reaktion weder legitim noch legal. Es gab natürlich auch verhaltensauffällige Häftlinge, die sich zuweilen körperlich widersetzten. In der Regel gingen Eskalationen jedoch auf die Aufseher zurück, die sich meist eines rüden, aggressiven oder herablassenden Tonfalls bedienten.968 Die Mühe einer vorhergehenden Ermahnung machten sie sich oft nicht und wendeten fast immer als Erste körperliche Gewalt an, etwa durch Stoßen oder Ziehen. Wehrte sich der Häftling dann, war ein Vorwand für die Anwendung massiver Gewalt gefunden.969 Ähnliches folgte auch oft der Weigerung, nach Vorfällen unzutreffende Selbstbezichtigungen bzw. Freibriefe für die Aufseher zu unterzeichnen.970 Die Dresdener Abteilung Strafvollzug gab dann im Juli 1956 auch die Devise aus: »Wenn ein Strafgefangener sich nicht richtig verhält, bekommt er die Behandlung, die er sich verdient, und wenn der Gefangene den VP-Knüppel verdient, so muss er ihn bekommen.«971 Manchmal waren die Übergriffe sogar das Ergebnis einer verabredeten, gemeinschaftlichen Bestrafung eines Insassen. Und als Mitte der Fünfzigerjahre einige Frauen in BrandenburgGörden inhaftiert waren, ließen sich einzelne Aufseher ihnen gegenüber auch sexuelle Übergriffe zuschulden kommen.972 966  Protokoll der Abteilung Strafvollzug der BDVP Potsdam über die am 22.8.1958 statt­ gefundene Arbeitsberatung mit allen Leitern der SV-Dienststellen vom 27.8.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 169–176. 967  Vgl. Brey: Menschenrechtsverletzungen der Deutschen Volkspolizei, S. 156–159; Pfarr: Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen, S. 46. 968  Zu dem unbeherrschten Auftreten eines Aufsehers wurde beispielsweise notiert: »Grund­ sätzlich schreit er und versucht so Probleme zu lösen.« Bericht über den Gen. Olt. des SV o. D. [1973]; BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 1498/86, Bl. 38 f. (MfS-Pag.). 969  Vgl. Zeugenvernehmung des Aufsehers Hans-Georg Häusler vom 30.6.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1524, o. Pag. 970  Vgl. Pfarr: Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen, S. 135. 971  Niederschrift des BVSV Dresden über die Dienstversammlung vom 24.7.1956; Sächsisches Hauptstaatsarchiv 11464 BDVP 23/137, Bl. 17; zit. nach: Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 197. 972  So begab sich in einem Fall ein männlicher Aufseher allein zu einer inhaftierten Frau in die Zelle, »küsste sie und erzählte ihr, dass er mit seiner Frau schlecht lebe, weil sie ständig bei ihrer Mutter sei und ihm ›davonlaufe‹. [...] Auf ihre wiederholte Bitte, doch zu gehen, lachte er nur.« Bericht des GI »Esther« zum Hauptwachtmeister vom 4.1.1956; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1188/62, Bd. I, Bl. 17 f. Berichten ehemaliger Insassen zufolge wurden die weiblichen

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Sofern körperliche Übergriffe überhaupt Niederschlag in den Akten fanden, wur­de das angebliche Provozieren der Häftlinge besonders herausgestellt. »Da­ durch [sic!] treten Gesetzesverletzungen durch SV-Angehörige (wie unberechtigte An­wen­dung von Gewalt [...]) auf«,973 was immerhin ein Eingeständnis von Über­griffen bedeutete. In anderen Berichten ist davon die Rede, dass die »Be­ lei­digungen« der Aufseher »großen Raum« unter den Disziplinarvergehen ein­ nehmen würden. Einige Vorfälle seien, wie es hieß, »auch darin begründet«, dass die Aufseher sich gegenüber den Insassen »nicht immer entsprechend den psychologisch-pädagogischen Prinzipien verhalten«.974 In verklausulierten Worten bedeutete dies das Eingeständnis einer gewissen Mitschuld. Denn obwohl längst nicht alle Aufseher sich zu brutalen Übergriffen hinreißen ließen, hatten viele doch kleinere Schikanen »auf Lager« – wie den Gebrauch von Schimpfwörtern, das absichtliche Stolpernlassen, das willkürliche Benachteiligen, das Abschalten des Lichtes bzw. des Stroms in den Zellen oder das übermäßige Lautstellen der Lautsprecheranlage.975 Im Militärstrafvollzug wurden die Gefangenen besonders gedrillt, etwa mit Gefechtsübungen bei Eiseskälte bis zur körperlichen Erschöpfung oder bis zu sinnlosen Alarmübungen für Entlassungskandidaten.976 Dahinter standen oft Überheblichkeit, Ignoranz oder Sadismus der Aufseher. Hinzu kam die Gewohnheit, zur Einschüchterung Gewalt anzudrohen. So drohte ein Aufseher einmal einer ganzen Arbeitskolonne Gefangener mit dem Galgen, weswegen diese ihn fortan als »Henker von Brandenburg« bezeichneten.977 Der Aufseher nahm diesen Spitznamen auf und versuchte nun etwa, einen neu eingelieferten Häftling mit der Frage zu beeindrucken: »Was, Sie kennen mich nicht? Man nennt mich den Henker von Brandenburg!«978 In ihrer hilflosen Lage erschien den Insassen auch die Drohung der Aufseher glaubhaft, sie würden renitente Häftlinge sogar geschlagen bzw. gar in den Freitod getrieben. Vgl. [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Misshandlungen in der SVA Brandenburg vom 18.7.1958; BArch B 289/ SA 171/22–30/25. Die lückenhaften Angaben zu den Personalien erlauben heute keine Überpüfung des erhobenen Vorwurfs. Und als das Gefängnis zeitweise über eine Untersuchungshaftabteilung verfügte, nutzten Aufseher die »Gelegenheit«, um weibliche Untersuchungshäftlinge »unbefugt [...] bei der Körperpflege« zu beobachten. Schreiben der OPG der Abteilung VII vom 3.7.1986; BStU, MfS, AOP, Nr. 865/89, Bd. 8, Bl. 187 f. 973  Jahresarbeitsplan 1988 der OPG der Abteilung VII der BV Potsdam vom 4.1.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 701, Bl. 10–44. 974  1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung der Arbeitsergebnisse im 1. Halbjahr 1971 vom 6.7.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 39–60. 975  Vgl. u. a. Abschrift – Auszug aus Treffbericht IMB »Löter« vom 13.3.1987 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 120/89, Bd. III, Bl. 204–211 (MfS-Pag.); Bericht des [IMS] »Dreher« vom 2.1.1985; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 100/88, Bl. 33. 976  Vgl. Lenz: Lebensweg eines Justizvollzugsbeamten, S. 166 f. 977  Vgl. Juretzko: Die Nacht begann am Morgen, S. 262 f. 978  Diese Entgleisung allerdings trug dem Aufseher dann doch einen Verweis ein. Vgl. Informa­tions­bericht des Stellvertreters für Polit-Arbeit der StVA Brandenburg vom 14.8.1963; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/698, Bl. 127 f.

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Häftlinge für »verrückt« erklären lassen.979 Die seelische Belastung, die durch solche Äußerungen hervorgerufen wurde – und ausgelöst werden sollte –, war immens.980 Beobachtungen ehemaliger Häftlinge zufolge haben zumindest die systema­ tischen »physischen Misshandlungen« etwa Mitte der Fünfzigerjahre »so gut wie aufgehört«.981 Auch in der Untersuchungshaft der Staatssicherheit wollte der seinerzeitige Staatssekretär Ernst Wollweber im August 1955 physische Über­ griffe abgestellt wissen.982 Dass Willkür immer weniger geduldet wurde, zeigt auch die Bestrafung von fünf Aufsehern der Haftanstalt Magdeburg im Sommer 1959, die einen entwichenen Häftling nach dem Wiederergreifen miss­handelt hatten. Da dies öffentlich bekannt geworden war, kam es zu einem Gerichts­ verfahren und zwei Entlassungen. Als der Vorfall bzw. die Bestrafung der Täter im ganzen Organ Strafvollzug bekannt gegeben werden sollte,983 kam auch Ackermann in einer Leitungssitzung darauf zu sprechen. »Auch bei uns ist die Haltung einiger Genossen nicht immer richtig«, stellte er fest. Es gebe Fälle, die »man ebenfalls als Übergriff bezeichnen muss«, zudem würden einige Aufseher regelmäßig Schläge androhen. Entsprechende Vorkommnisse aufzudecken und strafrechtlich zu verfolgen, kam dem Gefängnisleiter indes nicht in den Sinn. Stattdessen artikulierten die versammelten Vollzugsabteilungsleiter ihre Hoffnung auf Besserung der namentlich genannten Missetäter.984 Ein Aufseher konnte seinerzeit sogar, offenbar ohne zurechtgewiesen zu werden, »mehr Freiheit für den Gummiknüppel« fordern,985 was wohl symptomatisch für die Grundhaltung vieler seiner Kollegen war. 979  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Walter Müller am 8.4.2001 in Chemnitz, 4 S. 980  Schikanöse Züge trugen ferner die häufigen Durchsuchungen der Zellen, die meist in einer weitgehenden Verwüstung der Zelle mündeten. Vgl. u. a. Leiter der VA IV der StVA Brandenburg: Einschätzung der gegenwärtigen Lage in der VA IV vom 4.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag.; [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. VP-Meister Helmut Töppich vom 26.4.1956; BArch B 289/SA 171/22–30/12. Im Hochsicherheitsgefängnis Bautzen II wurden Ende der 70er-Jahre die Zellen durchschnittlich zwei Mal monatlich durchsucht. Vgl. Sälter: Überwachen und Strafen in Bautzen II, S. 172. 981  Finn: Die politischen Häftlinge der Sowjetzone, S. 111. 982  Engelmann, Roger: Ernst Wollweber (1898–1967). Chefsaboteur der Sowjets und Zucht­ meister der Stasi. In: Krüger, Dieter; Wagner, Armin (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 179–206, hier 202. Siehe auch Martin: Wärter und Vernehmer, S. 242 u. 260. 983  Vgl. Befehl 2/59 des Leiters der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei betr. Verstoß gegen die Gesetzlichkeit im Strafvollzug vom 4.7.1959; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 50336. 984  Protokoll der Abteilungsleiterbesprechung in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 13.7.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 128–130. 985  Vgl. Lagebericht des Politstellvertreters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an das Referat Vollzug der Abt. SV der BDVP Potsdam vom 27.11.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/346, Bl. 208–210.

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Im Mai 1961 wurden im Westen die Übergriffe auf einen Brandenburger Häft­ ling bekannt, der sich während seiner Haft unbeugsam gezeigt hatte und deswegen sieben Mal verprügelt worden sein soll.986 Überprüfungen der Staatssicherheit bestätigten, dass er die bis dahin neun Jahre Haft »überwiegend« in Isolationshaft verbracht und insgesamt mehr als 100 Tage strengen Arrest verbüßt habe; auch für die häufigen Übergriffe fand die Geheimpolizei Indizien, sah die Schuld aber allein in den »Provokationen des Gefangenen«.987 Der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen und das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen hielten diesen Fall jedoch nicht für typisch und befanden, dass die Behandlung der Insassen in der Haftanstalt an der Havel zuletzt besser geworden sei.988 Dass Übergriffe nicht prinzipiell der Vergangenheit angehörten,989 war auch dem 1963 ernannten Innenminister Friedrich Dickel bekannt. Seine Kritik daran wurde allerdings weniger durch humanistische Beweggründe getragen, sondern folgte der Einsicht, dass Willkür der Disziplin der Häftlinge abträglich war.990 Wirksame Gegenmaßnahmen ergriff Dickel nicht, verschärfte jedoch im Jahr 1966 die allgemeinen Haftbedingungen (siehe Kap. 3.2.6) und schuf damit ein Klima, das Übergriffen förderlich war. Immerhin musste ab 1967, neben den Vorgesetzten, auch der Haftstätten­ staatsanwalt über jeden Schlagstockeinsatz unterrichtet werden,991 und neu eingestellte Aufseher wurden über den »korrekten Umgang mit Strafgefangenen« belehrt.992 Die Aufseher glaubten aber weiterhin, sich nur mit körperlicher Gewalt durchsetzen zu können. So wurde in einem Fall in Brandenburg-Görden ein »seit seiner Kindheit psychopathisch« veranlagter Mann, als er nicht korrekt Meldung erstattete, geschlagen und nackt »an der Führungskette auf den Hof« geschleift, um dort seine Kleidungsstücke aufzusammeln. Dies sei, so hieß es nun, »in keiner Weise vertretbar«, doch wurde den Verantwortlichen zugutegehalten, dass sie sich »mit bestimmten Disziplinlosigkeiten der Strafgefangenen nicht abfinden« wollten. 986  Vgl. Telegraf vom 5.5.1961, S. 18; BArch B 137/1714. 987  Schreiben der Hauptabteilung VII/1/B betr. Überprüfung einer Meldung im Telegraf vom 6.5.1961; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8872, Bd. 3, Bl. 14 f. 988  Vgl. Schreiben des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen an das Bun­des­mi­nis­ te­rium für gesamtdeutsche Fragen betr. Strafvollzug in der Sowjetzone bei politischen Häftlingen vom 25.5.1961; BArch B 137/1714; Schreiben des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen an das Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes betr. Strafvollzug in der Sowjetzone bei politischen Häftlingen vom 16.6.1961; ebenda. 989  Im Jugendhaus Torgau etwa wurde seinerzeit »ein entwichener jugendlicher Strafgefangener [...] bei der Wiederergreifung misshandelt«. Vgl. Analyse des Schuljahres 1963/64 vom Jugendhaus Torgau vom 13.6.1964; BArch DO1 32/29705. 990  Referat des Ministers des Innern und Chefs der DVP Dickel auf der Arbeitstagung zu Problemen des Strafvollzugs vom 11.8.1965, 51 S.; BArch DO1 32/36357. 991  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 142. 992  Vgl. Einstellungsprotokoll der StVE Brandenburg [von 1967]; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 118, Bd. 1, Bl. 73–76.

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Zwei Aufseher hatten zudem beim Dienstsport darüber gesprochen, »welcher Strafgefangener als nächstes ›dran‹ ist«. Zur Rede gestellt, entgegnete einer der beiden: »›Was sollen wir denn sonst machen, um mit solchen Strafgefangenen fertig zu werden?‹ Hier zeigt sich, dass es aus einer gewissen Ratlosigkeit in Erziehungsfragen zu falschen ›Erziehungsmaßnahmen‹ kommt.«993 Weil ein Haftentlassener über Misshandlungen berichtet und so Untersuchun­ gen ausgelöst hatte, musste auch der Leiter des Jugendhauses Halle im Jahre 1972 eingestehen, dass »Vorkommnisse wie Schlagen von Strafgefange­nen noch nicht restlos überwunden« seien.994 Im Folgejahr attestierte sogar das Kol­le­ gi­um des Innenministeriums, vielenorts würden sich Aufseher im Um­gang mit den Insassen »gesetzwidriger Mittel« bedienen, was »streng« und gegebe­nen­ falls auch mit Entlassung zu ahnden sei.995 Nachdem im Jahre 1979 in der Untersuchungshaftanstalt Cottbus ebenfalls »Verhaftete unter Einsatz eines Diensthundes« durch das Gefängnis gejagt worden waren, kritisierte die ober­ ste Gefängnisverwaltung erneut, dass Insassen »schikaniert oder so­gar drang­sa­ liert« würden. Dadurch würde »lediglich Widerstand erzeugt, der auch an­dere Strafgefangene bzw. Verhaftete erfasst und uns zusätzliche Erziehungs­schwie­rig­ keiten bereitet«.996 Die entsprechende Ermahnung der versammelten Ge­fäng­nis­ leiter resultierte also vor allem aus taktisch bedingten Bedenken hin­sichtlich der Disziplin – und nicht aus Sorge um das Wohl der Betroffenen. Auch in Brandenburg-Görden wurden Häftlinge noch in den Siebziger- und Achtzigerjahren mitunter von mehreren, eigens hinzu gerufenen Aufsehern ver­ prügelt, weil sie sich widersetzt hatten.997 Ehemalige Insassen berichteten auch aus diesem Zeitraum mehrfach über ausgeschlagene Zähne und vereinzelt über »Spießrutenlaufen«.998 Ein Insasse versuchte etwa, bei einer Zellenkontrolle Gegenstände zu verbergen und widersetzte sich einer rabiaten Leibesvisitation, was ihm ebenfalls schwerste Verletzungen einbrachte.999 Wie immer behaupteten die Aufseher auch in diesem Fall, der Gefangene selbst hätte ihnen Anlass zum Einschreiten gegeben, was sich hier bei näherer Untersuchung als Umkehrung der

993  Analyse über Widerstandshandlungen von Strafgefangenen vom 19.5.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 118–120. 994  Vgl. Schreiben des Leiters des JH Halle Fittke an den Leiter der Verwaltung Strafvollzug vom 15.12.1972; BArch DO1 32/38699. 995  Vgl. ebenda. 996  Vgl. Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienstbesprechung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 129/79, Bl. 11–73. 997  Vgl. u. a. Aussage des ehemaligen Häftlings W[...], B[...] in Salzgitter vom 26.8.1976; BArch B 285/945; Aussage des ehemaligen Häftlings F[...], K[...] o. D. [nach 1984]; BArch B 285/947. 998  Vgl. die Berichte ehemaliger Häftlinge gegenüber der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter (u. a. BArch B 285/948; BArch B 285/945; BArch B 285/946; BArch B 285/947). 999  Vgl. Welsch: Staatsfeind Nr. 1, S. 164–169.

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Tatsachen erwies.1000 Oft wurden absurde Interpretationen zu Protokoll ge­nom­ men, die fast immer der Darstellung der Aufseher folgten. Als etwa einer von ihnen mit roher Gewalt verhinderte, dass ein politischer Häftling bei einem Be­such sei­ne Kinder kurz an sich drücken konnte, hieß es in den Be­richten: »Dabei stieß der SG [...] mit dem Kopf gegen den Schlüsselbund des Oltn. Wittenberg.«1001 Auch in einem anderen Fall blieb nicht verborgen, dass ein Aufseher eine »begange­ne Tät­lich­keit als Brechung des Widerstandes des Strafgefangenen gegen staat­liche Maß­nahmen abzutun« versucht hatte.1002 Der Gefangenenmisshandlung war auch deswegen Tür und Tor geöffnet, weil selbst das Strafvollzugsgesetz von 1977 Sicherungsmaßnahmen erlaubte, was die »Anwendung körperlicher Gewalt« und des Polizeiknüppels mit einschloss. Diesen durften die Aufseher einsetzen, wenn »auf andere Weise ein Angriff auf Leben und Gesundheit oder ein Fluchtversuch nicht verhindert oder Widerstand gegen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit« nicht anders beseitigt werden konnte. Dabei sollte eigentlich die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt bleiben, wie auch jede Zwangsmaßnahme nicht länger als der Anlass dauern durfte.1003 Dass bei »Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs« der Gefängnisleiter und die Staatsanwaltschaft zu informieren seien, wies die oberste Gefängnisverwaltung mittels einer Operativinformation noch einmal an.1004 Viele dieser Grundsätze wurden in der Praxis missachtet, Fluchtversuche etwa zogen vielfach eine Art Spießrutenlauf nach sich, obwohl zu diesem Zeitpunkt keine (Flucht-)Gefahr mehr bestand.1005 Immerhin wurden in den Achtzigerjahren Schlagstockeinsätze teilweise tatsächlich protokolliert. So stellte die vorgesetzte Abteilung Strafvollzug in Potsdam beispielsweise im Jahre 1982 fest, dass die Aufseher in BrandenburgGörden binnen vier Monaten mindestens 27 Mal den Schlagstock benutzt und neun Mal Häftlinge gefesselt hatten.1006 Dies würde hochgerechnet auf etwa 100 Fälle im Jahr hinauslaufen, doch dürfte eine beträchtliche Dunkelziffer hinzukommen.

1000  Vgl. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 528/84. 1001  Information der OPG zum Verhalten des SG [...] vom 21.4.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 632, Bl. 188–191. 1002  Sicherungskonzeption der Abteilung VII für die Organisation der politisch-operativen Abwehrarbeit in der StVE Brandenburg von Juli 1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 14–40. 1003  Vgl. § 33 des Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchfüh­ rungs­bestimmung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 1004  Vgl. Abschrift des Berichts des IM »Günter Rabe« vom 29.4.1977; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 5, Bl. 162 f. 1005  Vgl. u. a. Protokoll der Vernehmung eines ehemaligen Häftlings durch die Landgerichts­ präsidentin in Eberswalde Magiera vom 19.5.1952; BArch DO1 11/1481, Bl. 226 f. 1006  Vgl. Bericht der AG Strafvollzug der BDVP Potsdam über die durchgeführte Kontrolle der StVE Brandenburg vom 18.6.1982; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/764.

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Als Schlagstock diente ein etwa 70 Zentimeter langer Stab aus elastischem, schwarzem Kunststoff. Außerdem gab es sogenannte Teleskop-Schlagruten, die sich auf 50 Zentimeter ausziehen ließen und eine harte, kugelförmige Spitze hatten. Zum Schlagen benutzten viele Aufseher außerdem das stets verfüg­bare Schlüsselbund (»Schlüsselknochen«), der mehrere große Schlüssel aus Metall umfasste – was jedoch eigentlich untersagt war. Zu den zulässigen Zwangs­maß­ nahmen gehörte hingegen die Anwendung von Reizstoffsprays gegen Inhaftierte, die »aktiven Widerstand« leisteten. Zwar war der Einsatz des Mittels, einschließlich des Mindestabstandes zum Gesicht des Opfers, genau geregelt,1007 doch war der Umgang in der Praxis sehr fahrlässig. So ließ Ackermann dieses Mittel im Jahre 1968 in Brandenburg-Görden gegen einen renitenten Häftling einsetzen, ohne die genauen Auswirkungen zu kennen. Nach Anwendung des Präparats wirkte der Häftling benommen und presste sich 30 Minuten lang die Hände vor die Augen. »Das Mittel hat eine starke Reizwirkung auf Augen und Atmungsorgane«, stellte die Gefängnisleitung nüchtern fest. Da das Opfer nun keinen Widerstand mehr leisten konnte, hielt man das Präparat für ein »zweckmäßiges Mittel«.1008 3.3.8.2 Die Konsequenzen der Misshandlungen Strafrechtliche Folgen ihrer Missetaten brauchten die Aufseher kaum zu fürch­ ten. So folgte auf die erwähnten 18 Fälle von Gefangenenmisshandlung in den Nachweisbüchern der obersten Gefängnisverwaltung lediglich ein Ermittlungs­ver­ fahren, das auch nicht einen Aufseher, sondern einen Zivilangestellten betraf.1009 Denn der letzte Chef der obersten Gefängnisverwaltung hielt keinen ihm bekannt gewordenen Fall von Gefangenenmisshandlung für strafrechtlich relevant, da »wir Ordnung in unseren Strafvollzugsanstalten hatten«.1010 Die in der DDR häufig zu beobachtende Tendenz, über Mängel einfach hinwegzusehen, war offenkundig in dem politisch neuralgischen Bereich des Strafvollzugs besonders ausgeprägt. Die Täter mussten eine Strafverfolgung »in der Regel« nicht befürchten, »weil eine Aufdeckung der Fälle politisch inopportun war«.1011 Gewalt der Aufseher gegen Gefangene hatte in der DDR eine lange Tradition – schon bei der Übernahme der Insassen aus den sowjetischen Speziallagern wurden die Gefangenen von den Aufsehern der Volkspolizei mit Fußtritten empfangen 1007  Vgl. Anweisung 154/74 des Ministers des Innern betr. Anwendung von Reizstoffspray in Strafvollzugseinrichtungen vom 18.4.1974; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10477. 1008  Handschriftliches Schreiben des Leiters [der StVE Brandenburg] an die Verwaltung Strafvollzug vom 6.11.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 124. 1009  Vgl. Der Tagesspiegel vom 18.10.1996, S. 14. 1010  Zit. nach: dpa-Meldung vom 25.5.1994. 1011  Marxen, Klaus; Werle, Gerhard: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz. Berlin 1999, S. 100.

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– bis Vorgesetzte dies abstellten, nicht jedoch bestraften.1012 Entsprechend ihrer vergleichsweise humanen Linie verwies die oberste Gefängnisverwaltung der Justiz im Juli 1946 indes ausdrücklich auf die Verurteilung eines Justizaufsehers wegen Gefangenenmisshandlung und erklärte, dass Häftlinge auch nicht beschimpft werden dürften.1013 Immerhin unterlagen selbst in der stalinistischen Phase sogar Mitarbeiter der Staatssicherheit in solchen Fällen mitunter einer Strafverfolgung (siehe Kap. 3.3.8.3). Was die Verurteilung von Aufsehern des Organs Strafvollzug betrifft, ist bisher nur der erwähnte Fall eines Aufsehers der Haftanstalt Magdeburg im Jahre 1959 nachgewiesen (siehe Kap. 3.3.8.1). In einem weiteren Fall kam es 1963 tatsächlich zu einer Verhängung von Bewährungsstrafen – was allerdings damit zusammenhing, dass ein geflohener Jugendlicher im Beisein von Passanten verprügelt worden war und sich der Vorfall somit nicht geheim halten ließ. Allerdings handelte es sich um einen Insassen des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau, der nicht dem Organ Strafvollzug unterstand.1014 Was BrandenburgGörden betrifft, versicherte Ackermann nach der friedlichen Revolution als Zeuge vor Gericht, es habe nie­mals ein Strafverfahren gegen einen Aufseher seiner Haftanstalt gegeben.1015 Dies war allerdings auch deswegen kaum möglich, weil er selbst rechtzeitig für die Vertuschung solcher Vorfälle gesorgt hatte, wie noch näher ausgeführt wird.1016 Das Strafgesetzbuch der DDR von 1968 (sowie von 1974) drohte bis zu fünf Jah­ ren Haft an, wer als »Richter, Staatsanwalt oder Mitarbeiter eines Untersuchungs­ organ« Aus­sagen erpresste oder Gefangene misshandelte1017 – was allerdings die Aufseher im Strafvollzugsdienst gar nicht betraf. Diese hatten, wenn überhaupt, meist nur mit disziplinarischen Konsequenzen zu rechnen – wie beispielsweise eine zeitweilige Versetzung vom Aufsichts- in den weniger beliebten Wachdienst, wo sich die Betreffenden dann auf den Wachtürmen »bewähren« mussten. So wurde etwa der gefürchtete Cottbuser Aufseher mit dem Spitznamen »Roter Terror« in die Aufnahmestation versetzt, als 1977 »Hinweise verstärkt auftraten, dass der Genosse [...] die Konfrontation mit SG suchte«, wie die offizielle Umschreibung

1012  Vgl. Bericht an die Landesbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam betr. Transport am 12.2.1950 nach Hoheneck und Buchenwald vom 15.2.1950; abgedruckt bei: Stollberg: Vergittertes Schloss, S. 51. 1013  Vgl. Urteil des Landgerichts Brandenburg vom 13.6.1946; zit. nach: Kittan: Zuchthaus Cottbus, S. 75. 1014  Vgl. Landgericht Potsdam, Urteil vom 24.6.1994 (24 KLs 39/93), S. 37; Pfarr: Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen, S. 186. 1015  Vgl. Landgericht Potsdam, Urteil vom 24.6.1994 (24 KLs 39/93), S. 26; Pfarr: Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen, S. 174. 1016  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII mit dem GI »Stein« vom 3.4.1967; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 8 (MfS-Pag.). 1017  Vgl. § 243 des Strafgesetzbuches für die Deutsche Demokratische Republik. Ostberlin 1968, S. 88.

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für seine Übergriffe lautete.1018 Seiner Ablösung und disziplinarischen Bestrafung sah auch der Leiter der Haftanstalt Berndshof entgegen, nachdem mindestens zwanzig Misshandlungen von Häftlingen durch ihn und seine Untergebenen der obersten Gefängnisverwaltung sowie der Staatsanwaltschaft bekannt geworden waren.1019 In Brandenburg-Görden musste eine Gefangenenmisshandlung Anfang der Siebzigerjahre lediglich im Parteikollektiv besprochen werden.1020 Zwei andere Aufseher erhielten hier einen zwölfmonatigen Beförderungsstopp, weil ein couragierter Arzt Strafanzeige erstattet hatte, nachdem er einen misshandelten Häftling im örtlichen Krankenhaus hatte versorgen müssen.1021 Weitere Übergriffe kamen nur deswegen ans Licht, weil ein Aufseher zwar einige Insassen geschlagen hatte, andere aber wohlwollend behandelte und daraus materielle Vorteile zog. Aufgrund dieser Gefangenenbegünstigung wurde er 1988 entlassen und nicht etwa wegen der Misshandlungen strafrechtlich belangt.1022 Übergriffe wurden in den Fünfzigerjahren meist gar nicht thematisiert, in den Achtzigerjahren verharmloste man das Problem eher und schätzte es gern retrospektiv als beseitigt ein – etwa in dem Sinne, »Unklarheiten« bei der Aus­ legung der dienstlichen Bestimmungen zum Umgang mit den Insassen seien »überwunden«.1023 Ein Grund zum Eingreifen konnte hingegen sein, wenn Unruhe und Auflehnung der Gefangenen (und somit eine Gefährdung der inneren Sicherheit) zu erwarten waren.1024 So wurde beispielsweise ein Aufseher (auf Betreiben der Staatssicherheit) im Jahre 1987 versetzt, weil er für den »sofortigen Schusswaffeneinsatz bei Unzulänglichkeiten« oder Fluchtversuchen plädiert 1018  Vgl. Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Cottbus: Überprüfungen in der StVE Cottbus vom 29.5.1977; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 232/79, Bl. 16 f. Siehe auch Urteil des Landgerichts Cottbus vom 14.5.1997 (64 Js 175/93); abgedruckt in: Marxen; Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 7, S. 51–90; Alisch: Beispiel Cottbus, S. 12 u. 163–165. 1019  Vgl. Tonbandabschrift [des Berichts des IMS »Erwin«] vom 31.8.1979; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 2, Bl. 99–104. 1020  Vgl. Bericht der Politabteilung der BDVP Potsdam über die durchgeführte Kontrolle in der StVE Brandenburg vom 19.5.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/108, Bl. 43–47. 1021  Vgl. Bericht der Quelle 71443 Hm betr. StVA Brandenburg vom 3.10.1968 (Stand Ende Mai 1968), 5 S.; BArch B 137/15761. 1022  Vorschlags-/Unterhaltungsblatt der StVE Brandenburg zu Aussagen zu Ein­ga­ben von Strafgefangenen vom 13.1.1988; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 129/89, Bl. 341 f.; Stellung­ nahme des Obermeisters des SV vom 13.1.1988; ebenda, Bl. 328 f. In dieses Bild passt, dass auch eine Bereicherung an den Geldern der Häftlinge statt zu einer Strafanzeige nur zu einer Umsetzung auf eine andere Position führte. So hatte sich ein Aufseher regelmäßig an den Gefangenen bereichert, indem er bei Zellendurchsuchungen jene Gelder »konfiszierte«, über die die Gefangenen unerlaubt verfügten. Vgl. Information der Operativgruppe der Abteilung VII vom 24.9.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 205 f. 1023  Einschätzung [durch den E-FIM »Schiffer«] vom 9.9.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 9, Bd. 2, Bl. 360; Auszug aus der mündlichen Information der Quelle [IMS] »Schiffer« vom 18.11.1986; ebenda, Bl. 378. 1024  Vgl. u. a. Auszug aus dem Treffbericht mit dem IMS »Dreher« vom 13.5.1986; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 100/88, Bl. 126 f.

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hatte. Im Falle dass ein Ausbrecher durch Streifschüsse lediglich verletzt würde, kündigte er an, diesen »mit Ketten ›durchwalken‹« zu wollen.1025 Besonnenere Aufseher hielten zwar gelegentlich ihre Kollegen von allzu brutalen Übergriffen auf Häftlinge ab.1026 Doch manche Aufseher gefielen sich darin, Angst und Schrecken zu verbreiten – wie etwa jener Aufseher, der nicht um­sonst den Spitznamen »Knochenbrecher« trug.1027 Selbst unter seinen Kollegen genoss er einen denkbar schlechten Ruf, denn er »provozierte« Häftlinge und war »als Schläger bekannt«.1028 Als ein Häftling beispielsweise die Arbeit verweigerte, schlug er mit dem Schlüsselbund so sehr auf ihn ein, dass sich der Betroffene wochenlang nur unter großen Schmerzen bewegen konnte.1029 Auf eine andere Arbeitsniederlegung hin trieb er einen Häftling sogar mit Knüppelschlägen über eine Distanz von 50 Metern im Zellengang vor sich her. Da dieser Insasse den Mut zur Beschwerde fand, wurde der Aufseher tatsächlich mit zweimonatigem Wachdienst auf einem Postenturm »bestraft«.1030 In einem anderen Fall wurde zwar thematisiert, dass es »bei einem gewaltsamen Transport« eines Insassen vom Freistundenhof in die Zelle zur »Anwendung ungerechtfertigter Mittel« gekommen war, »z. B. wurde der Strafgefangene mit einem Schlüsselbund auf den Kopf geschlagen«.1031 Doch auch hier findet sich kein Hinweis auf eine Ahndung der Körperverletzung, die nüchterne Darstellung lässt eher auf eine routinemäßige Gleichgültigkeit schließen.

1025  Monatsbericht der OPG der Abteilung VII von April 1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 1, Bl. 76–85. 1026  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Wachmannschaften in der SVA Branden­ burg-Görden vom 22.10.1954; BArch B 289/SA 171/22–01/22. 1027  Der Betreffende war nach seiner Einberufung zur NVA im Jahre 1959 von der zuständigen Hauptabteilung I der Staatssicherheit als Geheimer Informator »Gerhard Linde« geworben worden. Er berichtete fortan über jene Kollegen, die sich durch die Lektüre von Westzeitschriften verdächtig machten oder Witze politischen Inhalts erzählten. Mit seiner Entlassung aus der NVA wechselte er zum Zoll und wurde von der Abteilung VII der Bezirksverwaltung Berlin übernommen. Da er die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit ab 1966 schleifen ließ, beendete der Mielke-Apparat im Juli 1967 die Zusammenarbeit. Nach einer kurzen Anstellung im Stahl- und Walzwerk Brandenburg wurde er im Folgejahr Aufseher in der Haftanstalt Brandenburg-Görden. Vgl. BStU, MfS, AIM, Nr. 2557/68. 1028  Bericht des FIM »Hubert« vom 25.9.1974; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 28/89, Bl. 22; Vgl. Schreiben der OPG der Abteilung VII vom 7.7.1986; BStU, MfS, AOP, Nr. 865/89, Bd. 8, Bl. 181 f. 1029  Danach verweigerte man dem Gefangenen jegliche ärztliche Hilfe und bestrafte ihn, nachdem er sich erholt hatte, mit 21 Tagen Arrest. Vgl. Landgericht Potsdam, Urteil vom 24.6.1994 (24 KLs 39/93). 1030  Vgl. Landgericht Potsdam, Urteil vom 24.6.1994 (24 KLs 39/93). Der Aufseher schied erst 1992 aus dieser Funktion aus. 1031  Vgl. Schreiben des Offiziers für Psychologie/Pädagogik an den Leiter der StVA Brandenburg Ackermann betreff Überprüfung der Disziplinarvorgänge Mai 1968 vom 10.6.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704, Bl. 49–56.

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Im Zuge der friedlichen Revolution wurden erstmalig ab Ende Oktober 1989 (durch die Gefängnisverwaltung) und ab Ende November 1989 (durch externe Un­tersuchungsausschüsse) die Misshandlungen verhafteter Demonstranten zwi­ schen dem 3. und 12. Oktober in Bautzen I sowie Rummelsburg untersucht.1032 An­fang November befasste sich auch die Staatsanwaltschaft mit den Übergriffen so­­genannter Offiziersschüler der Fachschule des Strafvollzugs in Radebeul am 7. und 8. Oktober gegenüber verhafteten Dresdner Demonstranten.1033 Nach der Deutschen Einheit konnten dann auch länger zurückliegende Übergriffe ge­ ahndet werden. Denn nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs handelte es sich bei den »nicht unerheblichen Misshandlungen« von Häftlingen durch Auf­se­her um sogenannte systemtragende Rechtsbrüche, die seinerzeit nach dem aus­drück­li­ chen Willen der Staats- und Parteiführung nicht verfolgt wurden und de­ren Ver­ jährungsfrist deswegen bis zum 31. Oktober 1990 ruhte.1034 Das erste Ur­teil we­ gen Gefangenenmisshandlung bzw. Körperverletzung erging im Juni 1994 gegen ei­nen ehemaligen Aufseher der Haftanstalt Brandenburg-Görden; er wur­de vom Land­gericht Potsdam wegen Körperverletzung an Inhaftierten in zehn Fäl­len zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.1035 Doch lediglich in Sachsen und Brandenburg wurde Gefangenenmisshandlung als Systemunrecht konsequent ver­folgt.1036 Im letztgenannten Bundesland wurden insgesamt 975 Ermittlungen ge­gen Aufseher verschiedener Haftanstalten eingeleitet, 935 davon jedoch ein­ ge­stellt. Weitere 23 wurden gegen Zahlung von Geldauflagen eingestellt und le­diglich 18 Anklagen führten zu einer Verurteilung von insgesamt zwölf Auf­ se­hern.1037 Insgesamt wurden in den neuen Bundesländern 81 Aufseher wegen Ge­fangenenmisshandlung angeklagt, darunter etwa 20 Prozent Aufseherinnen. Es kam insgesamt zu 16 Einstellungen des Verfahrens, 11 Freisprüchen und 42 rechtskräftigen Strafurteilen und Strafbefehlen, darunter zwei Haftstrafen ohne Be­währung (beide gegen Aufseher der Haftanstalt Cottbus), 14 Freiheitsstrafen auf Bewährung (davon zwei gegen Aufseher aus Brandenburg-Görden) und

1032  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 158–169. 1033  Vgl. Information der Hauptabteilung VII über Einleitung von Ermittlungsverfahren vom 10.11.1989; BStU, MfS, HA VII, Nr. 1046, Bl. 12. 1034  Vgl. Marxen; Werle: Aufarbeitung von DDR-Unrecht, S. 97–100; Verjährungsgesetz vom 26.3.1993; BGBl. Nr. 12 vom 3.4.1993, S. 392. 1035  Vgl. Welt am Sonntag vom 29.9.1996, S. 142; Pfarr: Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen, S. 116–121. 1036  Vgl. Rautenberg, Erardo Cristoforo: Die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-System­ unrechts im Land Brandenburg aus staatsanwaltschaftlicher Sicht. In: Clavée, Klaus-Christoph; Kahl, Wolf; Pisal, Ramona (Hg.): 10 Jahre Brandenburgisches Oberlandesgericht. Festschrift zum 10jährigen Bestehen. Baden-Baden 2003, S. 97–131, hier 109. 1037  Vgl. Ansorg: Ermittlungsverfahren, S. 589–597, hier 595. Die dort genannten Einstellun­ gen und Anklagen ergeben nicht die 40 nicht eingestellten Verfahren.

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26 Geldstrafen, die sozialen Projekten zugutekamen.1038 Von den Gerichten wurden somit zugleich 164 Einzelfälle von Misshandlung rechtskräftig festge­ stellt, da­von 81 Fälle in Cottbus und je 21 Fälle in Brandenburg-Görden sowie Bautzen I.1039 Die geringe Zahl der Verurteilungen resultiert vor allem aus den Schwie­rigkeiten bei der Beweisführung, denn Jahre später konnten sich die Opfer oft nicht mehr genau erinnern – und sollten seinerzeit die Namen der Aufseher auch gar nicht erfahren.1040 Zudem hielten Ermittlungsbehörden mitunter die Aus­sagen von Opfern der Gefangenenmisshandlung für unglaubwürdig.1041 Fer­ ner wurde den Angeklagten oft zugutegehalten, dass keiner von ihnen vor­be­ straft war und die Taten meist viele Jahre zurücklagen – was freilich damit zu­ sam­menhing, dass vor 1989 eine Strafverfolgung nicht möglich gewesen war.1042 Die letztlich Verantwortlichen in der Verwaltung Strafvollzug sowie in Staatsund Parteiführung kamen ohnehin ungeschoren davon. 3.3.8.3 Die aktive Vertuschung der Übergriffe durch Staatsanwaltschaft und Staatssicherheit Die Schwierigkeiten der Strafverfolgung nach 1989 hängen auch damit zusam­ men, dass bei Übergriffen auf Gefangene die Kontrollinstanzen des SED-Staats – Staatsanwaltschaft und Staatssicherheit – regelmäßig versagt hatten. In den frühen Fünfzigerjahren konnte oder wollte die Staatssicherheit der Gefan­ge­ nen­misshandlung im Organ Strafvollzug schon deswegen keinen Riegel vor­ schieben, weil die Geheimpolizei in den eigenen Untersuchungshaftanstalten damals selbst Geständnisse mit dem Einsatz von Gewalt erpresste. Versuche lei­ tender Parteifunktionäre, hier für Abhilfe zu sorgen, waren beim ersten Minis­ ter für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, auf taube Ohren gestoßen.1043 Der 1038  Vgl. Marxen, Klaus; Werle, Gerhard; Schäfer, Petra (Hg.): Die Strafverfolgung von DDRUnrecht. Fakten und Zahlen. Berlin 2007, S. 16 u. 32–48; Pfarr: Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen, S. 105–108; Vortrag von Erardo Cristoforo Rautenberg am 19.9.2002 in Brandenburg, Stadtteil Görden; Eser, Albin; Arnold, Jörg (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse. Freiburg 2000, S. 263; Müller, Uwe; Hartmann, Grit: Vorwärts und vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen. Das gefährliche Erbe der SEDDiktatur. Berlin 2009, S. 69–70 u. 82 f. 1039  Vgl. Pfarr: Aufarbeitung der Misshandlung von Gefangenen, S. 109. 1040  Vgl. Ansorg: Ermittlungsverfahren, S. 589–597. Die dort genannten Einstellungen und Anklagen ergeben nicht die 40 eingestellten Verfahren. 1041  Vgl. Gürtler, Lena: Vergangenheit im Spiegel der Justiz. Eine exemplarische Dokumen­ ta­tion der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht in Mecklenburg-Vorpom­mern. Bremen 2010, S. 134. 1042  Vgl. Marxen; Werle: Aufarbeitung von DDR-Unrecht, S. 100 f.; Knabe: Schönreden der SED-Diktatur, S. 105–107. 1043  Vgl. Otto: Erich Mielke, S. 161.

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Staatssicherheitschef erklärte, »diese Maßnahmen« seien »mehr als einmal ver­ boten« worden, doch die unteren Dienststellen hielten sich nicht daran und würden »von anderer Seite gedeckt«, womit er zweifellos sowjetische Stellen meinte.1044 Nur unter besonderen Umständen kam es daher zur Verurteilung von Vernehmungsoffizieren wegen Gefangenenmisshandlung, in zwei Fällen sogar schon im August 1952.1045 Im Dezember 1952 wurde der Leiter der Unter­ suchungsabteilung des Staatssicherheitsdienstes in Thüringen, Kurt Koch, gar zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er in angetrunkenem Zustand völlig willkürlich Häftlinge geschlagen hatte.1046 Zudem wurde im April 1953, nach Stalins Tod, gegen ehemalige Justizaufseher ermittelt, die gemeinschaftlich Häftlinge misshandelt und massive Übergriffe der Insassen untereinander ge­ fördert hatten.1047 Im Mai 1953 wurde ein Vernehmer der Staatssicherheit in Schwerin wegen brutaler Verhöre, die sich rund ein Jahr zuvor ereignet haben, zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.1048 Im Zuge der weiteren Entstalinisierung diagnostizierte etwa der Leipziger Staatsanwalt für Strafvollzugsaufsicht im September 1956 zwar zahl­rei­che Kör­perverletzungen in der Haftanstalt Waldheim, doch straf­recht­liche Kon­ sequenzen unterblieben offensichtlich.1049 Eine von der Ge­neral­staatsanwaltschaft im Januar 1957 betriebene Untersuchung einer Ge­fan­genenmisshandlung im Jugendhaus Ichtershausen wurde auf Wunsch der SED-Führung offenbar nicht durchgeführt.1050 1044  Vgl. Bericht für SMAD o. D.; BArch P–1, Nr. 2; zit. nach: Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 48. 1045  So ließ der Leiter der Kreisdienststelle der Staatssicherheit Rostock, Hans-Joachim Leus, im Dezember 1951 einen Verhafteten so hart verhören, dass dieser sich nach einem 110-stündigen Verhör (!) durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben zu nehmen versuchte. Leus wurde wegen dieses Vorfalls im August 1952 zu eineinhalb Jahren Jahren Zuchthaus verurteilt, die er im Haus 4 in Brandenburg-Görden verbüßte. Zu seiner Verurteilung trug wohl insbesondere bei, dass eine zuvor vertuschte Misshandlung eines russischen Zwangsarbeiters aus der Zeit vor 1945 bekannt geworden war, was ihm eine zusätzliche Zuchthausstrafe von zweieinhalb Jahren eintrug. Hinzu kam, dass die sowjetischen Berater der Staatssicherheit auf den Vorfall aufmerksam geworden waren. Als der Häftling dann im Jahre 1963 um eine Bescheinigung für den »Unfall« nachfragte, der bei ihm bleibende Schäden hinterlassen hatte, deutete ihm die Staatssicherheit an, dass die eingestandene Misshandlung nicht als Unfall gewertet werden könne. Zwar hätte er Schadenersatzansprüche gegen den Staatssicherheitsdienst geltend machen können, doch wäre dies nur in den ersten drei Jahren nach Eintreten der Beschwerden möglich gewesen. Vgl. BStU, MfS, HA KuSch, Abt. Diszi, Nr. 6590/92, ZA 20570. 1046  Vgl. BStU, MfS, KS II, Nr. 200/61; zit. nach: Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt, S. 150 f. 1047  Vgl. Bericht der Inspektionsgruppe Nr. 27/53 der BVDVP Erfurt betr. Gefangenen­ misshandlung und Duldung von Prügelstrafen der Gefangenen untereinander vom 29.4.1953; BArch DO1 11/1484, Bl. 1–5. 1048  Vgl. BStU, MfS, GH, Nr. 41/55. 1049  Vgl. Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime, S. 203. 1050  Vgl. Alisch: Beispiel Cottbus, S. 160 f.

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Aus Gleichgültigkeit gegenüber den Gefangenen sorgten die zuständigen In­ stan­zen meist jedoch nur halbherzig für Abhilfe, sahen ganz darüber hinweg oder vertuschten diese sogar. Staats- und Parteiführung hatten mehrfach ein stren­ges Haftregime angewiesen und den Aufsehern ein primitives Feindbild ein­geschärft, was Übergriffe auf die Häftlinge wahrscheinlicher machte (siehe Kap. 3.2). Ausdrückliche Anweisungen »von oben« zur Misshandlung wur­den aber entweder nicht oder zumindest nicht schriftlich erteilt und finden sich da­her nicht in den Akten. Grundsätzlich waren strenge Verhörmethoden er­wünscht, ex­zessive körperliche Misshandlungen jedoch unzulässig – und die genaue Gren­ze dazwischen für die Befehlsempfänger des Verfolgungsapparates schwer zu erkennen, zumal wenn sich das politische Klima wandelte und sich dadurch die Maßstäbe verschoben.1051 Da Vernehmer Geständnisse der Untersuchungs­ häft­linge zu erwirken hatten, Aufseher aber »lediglich« die sichere Verwahrung der Strafgefangenen gewährleisten mussten, galten für sie teils unterschiedliche Han­dlungsoptionen. Nach dem Rechtspflegerlass von 1963 wurde eine gerichtliche Bestrafung von Aufsehern wahrscheinlicher. Die Gefängnisleitung in Brandenburg-Görden sträubte sich gegen diese Entwicklung und setzte auf Vertuschung, während die Staatssicherheit in mindestens einem Fall für eine Bestrafung plädierte und einen Stellvertreter Ackermanns entsprechend instruierte, der zugleich Zuträger bzw. Geheimer Informator der Staatssicherheit war: Mit dem GI wurde darüber gesprochen, dass die Schlägereien seitens des Vollzugspersonals wieder zugenommen haben. Die geführten Untersuchungen seitens der Arbeitsgruppe für Gefangenenarbeit und Wiedereingliederung sind auf Weisung des Leiters oberflächlich geführt worden [sic!]. Der Mitarbeit[er] [der Staatssicherheit] hat den GI darauf aufmerksam gemacht, dass eine derartige Praxis gröblichst gegen bestehende Weisungen verstößt und auf die Dauer nicht haltbar ist. Vonseiten des Strafvollzuges wäre unbedingt erforderlich, durch Disziplinarverfahren diesen Zustand zu beseitigen. Der GI hat dabei die Aufgabe, den Leiter [Ackermann] darauf aufmerksam zu machen, dass bei einer weiteren Misshandlung von Strafgefangenen es möglich sein könnte, dass entlassene Personen Anzeige gegen Vollzugsangestellte erstatten und dass in diesem Moment Gerichtsverfahren zu erwarten seien. In diesem Fall würde die gesamte Diensteinheit sich einer erneuten Überprüfung durch die BDVP sowie durch die Hauptabteilung Strafvollzug aussetzen. Der GI versprach, dass er im Monat April in eigener Zuständigkeit alles unternehmen wird, um den Leiter von dieser negativen Entwicklung zu überzeugen und dass er selbst beim nächsten Vorkommnis darauf bestehen wird, dass ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird.1052

1051  Vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt, S. 147 f. 1052  Treffbericht der Abteilung VII mit dem GI »Stein« vom 3.4.1967; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 8 (MfS-Pag.).

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Gefangenenmisshandlung zog sonst nur selten Konsequenzen nach sich; am häufigsten wurden Fälle aufgegriffen, von denen die Öffentlichkeit erfahren hatte oder wenn andere Begleitumstände dies zu erfordern schienen. Wurden Übergriffe sogar im Westen bekannt, konnte dies gezielte Untersuchungen und sogar Sanktionen auslösen, bewirkte aber kein endgültiges Ende der Gewalt. Ein Aufseher Brandenburg-Gördens beispielsweise, von den Gefangenen »Großer Hund« genannt, misshandelte im Juni 1966 einen bundesdeutschen Häftling. Weil dieser den Vorfall nach »draußen« melden konnte, wurde der Übeltäter auf nicht näher genannte Weise zur Verantwortung gezogen, doch »einige Tage danach prügelte er weiterhin auf Strafgefangene ein«, wie die Staatssicherheit feststellte.1053 Westliche Berichterstattung konnte jedoch auch einen Schulterschluss der Verant­ wortlichen bewirken, etwa als im April 1968 dem gleichen Aufseher anonym ein Artikel der Tageszeitung »Salzgitter« zugestellt wurde. Darin wurde er er­neut der schweren Misshandlung zweier Insassen beschuldigt sowie seine Kolle­gen »Schielewipp«, »Knochenkarl«, »schräger Fürst« und »Schweinebacke« schwer belastet. Doch die Gefängnisleitung stellte sich taub; nach Meinung von Acker­ mann, so notierte der Politstellvertreter, »handelt es sich bei dem Brief [...] um eine unerhörte Verleumdung«, die sich »überhaupt [...] gegen die Voll­zugs­ein­ richtungen der DDR wendet«. Bei dem Hauptbeschuldigten handle es sich »um einen korrekten Genossen«, der »straff, ohne Nachsichten die Weisungen durchsetzt und gegenüber den Verurteilten unnachgiebig ist«. Demzufolge sei er bei den Gefangenen »nicht gerade beliebt«. Der Artikel enthalte indes Lügen, die jeder Grundlage entbehrten. Aufgrund der politischen Brisanz übernahm die Staatssicherheit die weiteren Untersuchungen, doch blieb dies offenbar folgen­ los.1054 Als der gleiche Aufseher Anfang der Fünfzigerjahre schon einmal in westlichen Medien der Gefangenenmisshandlung beschuldigt worden war, hatte ihn die Gefängnisleitung noch aus der Schusslinie genommen und für einige Zeit wegversetzt,1055 während jetzt offenbar ein solches Schuldeingeständnis vermieden werden sollte. Ehemalige Insassen berichten jedenfalls, dass der Aufseher auch zu Beginn der Siebzigerjahre noch »jederzeit bereit [gewesen sei], scharf vorzugehen«, sich im Vergleich zu früher aber »etwas ruhiger« benommen habe.1056

1053  Bericht der Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam über die festgestellten Missstände in der StVA Brandenburg vom 26.10.1966; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1326, Bl. 12–30. 1054  Vgl. Schreiben des Politstellvertreters der StVA Brandenburg betreff Hetzsendungen und Versuche der Kontaktaufnahmen im Rahmen der feindlich-ideologischen Diversion vom 20.6.1968; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/700, Bl. 202–204. 1055  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugsund SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 1056  Bericht der Quelle 72036 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. IFA vom 17.11.1970 (Stand September 1970), 11 S.; BArch B 137/15761.

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Bei Bekanntwerden von Übergriffen hätte eigentlich auch die Staatsanwalt­ schaft tätig werden müssen. Ihre Staatsanwälte für Strafvollzugsaufsicht (siehe Kap. 2.3.2) sollten über die »Einhaltung der Gesetzlichkeit bei der Erziehung der Strafgefangenen« wachen und waren daher »berechtigt und verpflichtet«, besondere Vorkommnisse »zu prüfen«, in die einschlägigen Akten Einsicht zu nehmen und die Insassen zu befragen.1057 In der Praxis nahmen sie in Einzelfällen tatsächlich mäßigend Einfluss,1058 sofern die Häftlinge ihnen gegenüber Be­ schwerden vorzubringen wagten.1059 Doch die meisten Gefangenen haben nach ihrer Verurteilung wohl niemals einen Staatsanwalt aus der Nähe gesehen – und wenn, fehlte ihnen in Anwesenheit der Aufseher verständlicherweise der Mut zur Beschwerde. Die Staatsanwälte übernahmen nur selten die Initiative; erst wenn Missstände an die Öffentlichkeit drangen, sahen sie sich mitunter zum Einschreiten veranlasst. Im Allgemeinen galt das Augenmerk der Staatsanwälte mehr formalen Fra­ gen, wie der korrekten Berechnung von verbliebenen Reststrafen durch die Vollzugsstellen der Haftanstalten. Über die eigentlichen Missstände sahen sie bei ihren Routinebesuchen hingegen meist hinweg oder zogen jedenfalls nicht die notwendigen Konsequenzen. Selbst als ein in Bautzen II inhaftierter Bundesbürger im Jahre 1986 »wegen angeblicher Misshandlung Klage erheben wollte«, griff dies der Staatsanwalt bei einem Besuch keineswegs auf. Vielmehr »verdeutlichte« er dem Häftling, »dass derartige Anschuldigungen grundlos« seien, und stimmte der Nichtbeförderung seiner Beschwerdebriefe zu,1060 wodurch die Angelegenheit totgeschwiegen werden konnte. Untätig blieb beispielsweise auch der Staatsanwalt, der 1963 zufälligerweise in Brandenburg-Görden anwesend war, als ein geistig zurückgebliebener Insasse auf der Krankenstation durch einen Aufseher an die Wand gedrückt und mit einer Latte bedroht wurde. Der Staatsanwalt konstatierte zwar, dieses Verhalten sei »in keiner Weise zu billigen«, drängte jedoch weder auf wirksame Abhilfe noch leitete er Maßnahmen zur Strafverfolgung ein.1061 Ein Hallenser Staatsanwalt blieb in den Achtzigerjahren ebenfalls untätig, als ihm nach eigener Aussage eine Gefangenenmisshandlung bekannt wurde, informierte jedoch immerhin »unter der Hand« einen Rechtsanwalt – obwohl er selbst zum 1057  Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz (SVWG) vom 12.1.1968 mit eingear­ beiteter 1. Durchführungsbestimmung (Strafvollzugsordnung) vom 15.1.1968. Hg. als Arbeitsma­ terial von der Verwaltung Strafvollzug des MdI; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10068, Bl. 55. 1058  So kam es etwa vor, dass sie kraft ihres Amtes von der Strafvollzugsverwaltung angestrebte Ermittlungsverfahren gegen Inhaftierte mit dem Hinweis ablehnten, dass die entsprechenden Rechtsgrundlagen nicht vorlägen. Vgl. u. a. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 677/78. 1059  So etwa in Waldheim. Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen poli­ti­ schen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S. 1060  Schreiben des Leiters von Bautzen II an die Verwaltung Strafvollzug vom 5.12.1986; BArch DO1 32/53262. 1061  Bericht des Staatsanwalts für Haftstättenaufsicht Rödel über die Überprüfung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 5.3.1963; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/390, Bl. 51–55.

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Einschreiten verpflichtet gewesen wäre.1062 Dass hier wie in vielen anderen Fällen von Ermittlungen abgesehen wurde, obwohl ein dringender Tatverdacht bestand, gilt nach rechtsstaatlichen Kriterien als Rechtsbeugung.1063 Für die Betroffenen selbst war jedenfalls ausgesprochen riskant, allzu offenherzig auf die Gewaltpraxis im Strafvollzug hinzuweisen. So nahm ein Staatsanwalt die Beschwerde eines Häftlings gegen brutale Vernehmungen bei der Hallenser Staatssicherheit im Jahre 1956 zwar auf. Da Beweise jedoch nicht zu erbringen waren, wollte die Staatssicherheit im Gegenzug wegen Staatsverleumdung gegen den Häftling ermitteln.1064 Auf diese Weise den Spieß umzudrehen, hielten die Untersuchungsorgane auch in den späteren Jahren für ein probates Mittel. So war im Sommer 1972 einem Häftling die Flucht aus Brandenburg-Görden gelungen, doch nach seiner Wiederergreifung misshandelten ihn die Aufseher so sehr, »dass er nicht mehr als Mensch zu erkennen war«,1065 wie ein wenig später aus anderen Gründen entlassener Aufseher sagte. Dieser führte rückblickend ferner aus: »Wenn ein Strafgefangener sich gegen die Wachmannschaft auflehnt, dann gehen drei oder vier Wachtmeister mit dem Strafgefangenen im Haus III in den Keller hinunter. Dort im Haus III ist eine Treppe, diese braucht der Strafgefangene nicht runterzugehen, weil er da runterfliegt. Anschließend nehmen sich die Wachtmeister den Strafgefangenen vor, dass er sich in einer halben Stunde nicht wiedererkennt.«1066 Doch nicht diesen Vorwürfen wurde nachgegangen, sondern das Kommissariats I der Kriminalpolizei eröffnete ein Ermittlungsverfahren wegen »Staatsverleumdung« gegen den Ex-Aufseher. Dieses wurde bald wieder eingestellt, weil seinen »verleumderischen Äußerungen« bereits das Arbeitskollektiv geschlossen entgegengetreten sei und er zudem erkrankt war.1067 Wie offenkundige Fälle von Gefangenenmisshandlung auch noch in den Acht­ zi­gerjahren arbeitsteilig vertuscht wurden, ließ der ehemalige stellvertretende Lei­ ter von Bautzen I erkennen. Er konstatierte im Rückblick, in »seiner« Haftanstalt habe es vor 1989 »unschöne Szenen« gegeben. Von Gefangenenmisshandlung habe er aber nichts gewusst, weil außergewöhnliche Vorkommnisse meist durch die vor Ort tätigen Mitarbeiter der Arbeitsrichtung I/4 der Kriminalpolizei 1062  Vgl. Kampa, Rudi: »Unterschätzen Sie nicht die Rolle der Partei!« In: Hanusch, Rolf (Hg.): Verriegelte Zeiten. Vom Schweigen über die Gefängnisse in der DDR. Tutzing 1993, S. 22 f. 1063  Vgl. Kraut, Gerhard Michael: Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechtsstaates. München 1997, S. 225. 1064  Vgl. [Vermerk der] Hauptabteilung IX betr. Angaben der ehemaligen Strafgefangenen vom 13.4.1962; BStU, MfS, AS, Nr. 604/70 Bd. 2, Bl. 294–297. 1065  Protokoll der Abt. K I des Volkspolizeikreisamtes Brandenburg vom 18.9.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, AOG, Nr. 368/73, Bl. 11. Es ist allerdings nicht ganz sicher, ob die geschilderte Flucht ebenfalls auf den Sommer 1972 oder einen früheren Zeitpunkt datiert. 1066  Befragungsprotokoll der Abteilung Kriminalpolizei des Volkspolizeikreisamtes Branden­ burg vom 5.10.1972; ebenda, Bl. 19–21. 1067  Schlussbericht der Abt. K I des Volkspolizeikreisamtes Brandenburg vom 11.12.1972; ebenda, Bl. 24 f.

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und der Staatssicherheit unter den Teppich gekehrt worden sind. »Die ansässige Staats­anwaltschaft wurde mehr oder weniger ausgeschaltet.« Misshandlungen sei­en prinzipiell kaum registriert worden: »Das passte überhaupt nicht in die ge­ sellschaftliche Vorstellung, dass Uniformträger Übergriffe machen.«1068 Dies bestätigte nach 1989 auch ein vormaliger Leiter der Operativgruppe von Branden­ burg-Görden. Dieser erklärte rückblickend, »es durfte nichts passieren.« Hätte es Übergriffe gegeben und wären diese öffentlich geworden, »hätte es po­li­tischen Schaden angerichtet«.1069 So gab sich die Staatssicherheit hier bei­spiels­wei­se mit einem strengen Verweis als Strafe für einen Aufseher zufrieden, ob­wohl sie hinsichtlich begangener »Tätlichkeiten« einen »Verstoß gegen die ge­setz­lichen Be­stimmungen [für] nachgewiesen« hielt.1070 Solche Übergriffe waren »geeignet [...], die DDR in der internationalen Arena zu diskreditieren«.1071 Aufgrund solcher »staatssicherheitspolitische[n] Risi­ken« griff der Mielke-Apparat in einigen Fällen Missstände im ostdeutschen Straf­ vollzug tatsächlich auf und sorgte für Abhilfe.1072 Zum Beispiel wurde er aktiv, nachdem ein Insasse angekündigt hatte, das Auftreten der Aufseher später bei der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter zur Sprache zu bringen.1073 Wie bereits erwähnt, plädierte die Geheimpolizei zuweilen sogar für die Bestrafung eines besonders brutalen Aufsehers.1074 Auch ihre Spitzel setzte die Staatssicherheit auf solche Aufseher an und sorgte so offenbar für etwas weniger Willkür.1075 Ferner bemühte sich der Mielke-Apparat mitunter, dass Misshandlungen der Insassen untereinander (wie etwa sexuelle Übergriffe) nicht vertuscht, sondern der Kriminalpolizei übergeben wurden.1076 Um Unruhe unter den Gefangenen zu vermeiden, sorgte die Staatssicherheit auch für die Ablösung von Brigadieren, die 1068  Zit. nach: dpa-Meldung vom Mai 1994. 1069  Zit. nach: Der Tagesspiegel vom 26.5.1994, S. 6. 1070  Sicherungskonzeption der Abteilung VII für die Organisation der politisch-operativen Abwehrarbeit in der StVE Brandenburg von Juli 1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 14–40. 1071  Information über Mängel und Missstände bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung in der StVE Unterwellenborn vom 5.3.1986; BStU, MfS, HA VII, Nr. 1359, Bl. 285–288. 1072  Vgl. Information [des MfS] über Veröffentlichungen in der Presse der BRD vom 24.9.1976; abgedruckt in: Finn, Gerhard: Mauern, Gitter, Stacheldraht. Beispiele politischer Verfolgung in der SBZ und in der DDR. Berlin 1996, S. 63–65. 1073  Vgl. Mündliche Information des FIM »Hubert« vom 28.3.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 46, Teil II, Bd. 2, Bl. 512. Siehe auch Kapitel 5.4. 1074  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII mit dem GI »Stein« vom 3.4.1967; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 8 (MfS-Pag.). 1075  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII mit dem GHI »Schiffer« vom 26.4.1967; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 141/77, Bl. 147 f.; Treffbericht der Abteilung VII mit dem GHI »Schiffer« vom 5.10.1967; ebenda, Bl. 155 f. 1076  Vgl. Einschätzung der Abteilung VII der BV Potsdam der Wirksamkeit der politischoperativen Abwehrarbeit in den Untersuchungshaftanstalten vom 15.10.1987; BStU, MfS, HA VII, Nr. 902, Bl. 3–11.

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Mithäftlinge wegen Arbeitsverweigerung schlugen, während die Betroffenen selbst aus Angst vor Repressalien manchmal lieber von einem »Unfall« sprachen.1077 Sofern die Geheimpolizei eingriff, ging es ihr aber nicht um das Schicksal der Betroffenen, sondern um die Reputation des SED-Staates. Dessen Ruf zu wah­ ren, sollte entweder durch eine Beseitigung der Missstände oder aber deren Vertuschung gelingen.1078 Der Mielke-Apparat selbst war mithilfe seiner zahlreichen Spitzel über die wirklichen Zustände im DDR-Strafvollzug weitgehend im Bilde. Im Haftarbeits­ lager Berndshof beispielsweise registrierte die Staatssicherheit binnen sieben Monaten »mindestens« 20 Fälle des »Schlagen[s] mit der Faust und dem Schlag­ stock« durch Aufseher.1079 In der Haftanstalt an der Havel ging der Staats­ sicherheits­­dienst in den Achtzigerjahren davon aus, dass etwa sieben Prozent der Auf­seher sich den Häftlingen gegenüber nicht korrekt verhalten würden. Aller­ dings fasste die Geheimpolizei »schikanöse Behandlung von« und »kumpelhafter Umgang mit Strafgefangenen« in einer Rubrik zusammen,1080 da aus ihrer Warte beides kritikwürdig war. Zudem stellte die Staatssicherheit fest, dass sich in unterschiedlichen Haftanstalten Aufseher gewalttätiger Inhaftierter bedienten, um aufsässige Gefangene zu disziplinieren. »Teilweise aus Angst« würden die Aufseher bei Tumulten in den Zellen gar nicht einschreiten.1081 Auseinandersetzungen zwischen den Insassen würden mit der Begründung abgetan, dass es sich »nur um Ohrfeigen gehandelt« habe. Ein Teil der Aufseher habe gegenüber der mangelnden Disziplin der Inhaftierten bereits resigniert, ein anderer Teil versuche, sich »durch übertriebene Härte Respekt zu verschaffen«.1082 Den Vertuschungsversuchen des Staatssicherheitsdienstes zum Trotz waren die Zustände in den DDR-Gefängnissen in der Bundesrepublik weitgehend bekannt, denn freigekaufte bzw. entlassene und übergesiedelte Häftlinge sowie geflüchtete Aufseher berichteten immer wieder hierüber.1083 Die Staatssicherheit wiederum 1077  Vgl. u. a. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 142, Bl. 69. 1078  Vgl. Schreiben des Ministers an die Leiter der Diensteinheiten: Politisch-operative Bekämpfung feindlicher Angriffe gegen StVE, JH und UHA der DDR vom 17.12.1985; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 8204; Festlegungen der Hauptabteilung VII/8 zur Durchsetzung der Konzeption des Leiters der Abteilung 8 zum Schreiben des Ministers vom 17.12.1985; BStU, MfS, HA VII, Nr. 1311, Bl. 37–40. 1079  Vgl. Anlage 2 zum Entwurf eines Kollegiumsbeschlusses des Ministeriums des Innern von 1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 422/79. 1080  Bericht der Hauptabteilung VII über die Kontrollergebnisse vom 26.3.1984; BStU, MfS, HA VII, Nr. 2047, Bl. 50–86. 1081  Bericht der HA IX/4: Kadermäßiger Zustand in den UHA und SV-Einrichtungen der Organe des MdI, wie er bei den komplexen Überprüfungen angetroffen wurde vom 17.3.1982 (mit Anlage); BStU, MfS, HA IX, Nr. 283, Bl. 31–39. 1082  Vgl. Anlage 2 zum Entwurf eines Kollegiumsbeschlusses des Ministeriums des Innern von 1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 422/79. 1083  So berichtete etwa ein Anfang 1951 geflüchteter Aufseher von einem Arrestanten mit »zerschlagenem Gesicht«. [Bericht eines geflüchteten Aufsehers] betr. Strafanstalt Brandenburg-

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verfolgte westliche Meldungen über Vorkommnisse im DDR-Strafvollzug und überprüfte die erhobenen Vorwürfe.1084 Dabei entsprachen nicht alle im Wes­ ten kolportierten Fälle von Gefangenenmisshandlungen in Gänze der Wahr­ heit.1085 Fehlinformationen rührten beispielsweise manchmal daher, dass vor­mals Inhaftierte einen Vorfall nur vom Hörensagen kannten oder ihn aus Geltungs­ drang heraus dramatisierten.1086 Auch Gefangenenmisshandlung in BrandenburgGörden wurde offenbar gelegentlich übertrieben dargestellt.1087 Viele andere Übergriffe wurden allerdings niemals im Westen bekannt. 3.3.8.4 Das Unterdrücken von Beschwerden Waren Insassen ungerechter Behandlung oder gar Übergriffen ausgesetzt, konnten sie sich zumeist nur schwer dagegen wehren. Denn Beschwerde zu führen war ein zumeist aussichtsloses Unterfangen.1088 Förmlich stand es den Häftlingen zwar zu, »Bittgesuche« bzw. »Eingaben« in »Vollzugsangelegenheiten« bzw. »Be­ schwer­den« gegen »Disziplinar- und Sicherungsmaßnahmen« einzureichen. Das Strafvollzugsgesetz von 1977 sah für diesen Fall vor, dass der Gefängnisleiter dem Einwand abhelfen sollte, die Angelegenheit andernfalls aber »unverzüglich« dem Chef der obersten Gefängnisverwaltung zur Entscheidung vorzulegen sei.1089 Grundsätzlich gab es diese Möglichkeit auch schon zuvor, doch bis Mitte der Sechzigerjahre war damit der Instanzenweg ausgeschöpft, denn die Entscheidung der Verwaltung Strafvollzug war »nicht anfechtbar. Ein weiteres Einspruchsrecht besteht nicht.«1090 Erst die Strafvollzugsordnung von 1965 bestimmte, dass auch Görden vom 19.2.1951, 2 S.; BArch B 289/VA 171/22–7. 1084  Vgl. u. a. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 236/79, sowie Nr. 1055/86. 1085  Vgl. u. a. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 733/78. 1086  Vgl. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 234/79. 1087  So berichtete eine Westberliner Tageszeitung im Juli 1979, einem namentlich genannten Häftling in Brandenburg-Görden seien die Zähne ausgebrochen worden, weil dieser die Nahrung verweigerte und sich gegen seine Zwangsernährung gewehrt habe. Die Staatssicherheit ging diesem Vorfall nach, fand den genannten Gefangenen, konnte aber keinen Hinweis auf Hungerstreik, Zwangsernährung oder zahnärztliche Behandlung finden. Einige freigekaufte Mitinsassen hatten offenbar die Sensationspresse mit Falschmeldungen versorgt oder aber dem Betreffenden zu dessen eigenen Schutz einen anderen Namen verliehen. Vgl. BZ vom 26.7.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 364/79. 1088  Vgl. u. a. Schmidt; Weischer: Zorn und Trauer, S. 200. Für Eingaben außerhalb des Strafvollzugs dagegen die optimistische Interpretation von Mühlberg, Felix: Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR. Berlin 2004. 1089  Strafvollzugsgesetz (StVG) vom 7.4.1977 mit eingearbeiteter 1. Durchführungsbestim­ mung vom 7.4.1977. Hg. von der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern. 1090  Disziplinarvorschrift 119 des Chefs der Deutschen Volkspolizei für die in den SVDienststellen der HVDVP einsitzenden Straf- und Untersuchungsgefangenen vom 9.12.1954; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 15462, Bl. 8. Die Disziplinarvorschrift blieb bis 1965 in Kraft.

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die zuständige Staatsanwaltschaft in Kenntnis zu setzen sei,1091 deren Rolle jedoch – trotz beachtlicher Befugnisse auf dem Papier – in der Praxis meist ausgesprochen passiv blieb (siehe Kap. 2.3.2 und 3.3.8.3). Strafvollstreckungskammern, eine unabhängige Öffentlichkeit und eine freie Presse fehlten im SED-Staat ohnehin. Die Staatssicherheit wiederum verfügte zwar zumeist über den nötigen Einblick und über die Kompetenz, Missständen zu begegnen, wurde aber allenfalls aus geheimpolizeilichem Interesse heraus aktiv (siehe Kap. 3.3.8.3). So gingen in der Praxis alle Einspruchsmöglichkeiten ins Leere, weil es an einem verlässlichen Ansprechpartner mangelte. Um formal den Anforderungen der »sozialistischen Gesetzlichkeit« genüge zu tun, wurde zwar mitunter schon in den frühen Jahren mal ein Aufseher mit einem einfachen Verweis bestraft, weil er die Beschwerde eines ehemaligen Insassen nachlässig behandelt hatte.1092 Meist wurde den Häftlingen aber verwehrt, Ein­ gaben überhaupt vorzubringen. Schon einen Einwand zu erheben, galt in der frühen Zeit als »frech und undiszipliniert« und wurde etwa mit dem Entzug der Einkaufsberechtigung bestraft.1093 In einem Fall wandte sich ein Häftling »unbefugt« an den zuständigen Kommandoleiter – dieser versprach, sich um die Angelegenheit zu kümmern, verhängte aber im gleichen Atemzug 21 Tage Arrest wegen des Ansprechens.1094 Bis in die Siebzigerjahre nahmen die Aufseher in verschiedenen Haftanstalten Beschwerden widersinnigerweise nur entgegen, wenn diese vorher in das »Eingabenbuch« eingetragen, also faktisch genehmigt worden waren.1095 Michael Gartenschläger beispielsweise erhielt, weil er »wütenden Protest« an die Gefängnisleitung gerichtet hatte, eine dreiwöchige Arreststrafe unter verschärften Bedingungen; seinen Strafantritt kommentierte dann ein Aufseher mit den höhnischen Worten: »Wir wünschen dem Herrn Strafgefangenen einen schönen Urlaub!«1096 Sogar auf der Krankenstation von BrandenburgGörden ohrfeigten Aufseher operierte Häftlinge wegen nichtiger Anlässe und 1091  Strafvollzugsordnung des Ministers des Innern vom 25.1.1965; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10065, Bl. 29. 1092  Vgl. Quartalsbericht der Polit-Abteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 4.10.1956; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, Bl. 382–388. 1093  So hatte in einem Fall ein Kalfaktor einen Aufseher geradezu untertänigst gebeten, eine minimale Unbotmäßigkeit eines Häftlings seines Kommandos nicht zu bestrafen. Da der Aufseher darauf nicht einging, musste der Kalfaktor beim nächsten Zählappell ordnungsgemäß »0 Strafgefangene angetreten, 1 Häftling im Karzer« melden, wobei der Aufseher jedoch einen »höhnischen Unterton« in der Stimme des Kalfaktors erkannt haben wollte und ihn deswegen bestrafte. Vgl. Verantwortliche Vernehmung des Häftlings vom 24.8.1955; BStU, MfS, Abt. XII, RF, Nr. 379, o. Pag. 1094  Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. 1095  Stellungnahme eines Mitarbeiters des Referates Vollzugsorganisation [der VSV] zum Schreiben der Rechtsabteilung des Staatsrates vom 16.3.1971; BArch DO1 32/36325. 1096  Lienicke; Bludau: Todesautomatik, S. 83 f.

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erkundigten sich anschließend, ob die Betroffenen etwa eine Beschwerde erheben wollten.1097 Bei ihrer restriktiven Verfahrensweise konnten sich die Verantwortlichen auf Innenminister Friedrich Dickel berufen, der Mitte der Sechzigerjahre erklärt hatte: »Es gibt eine ganze Reihe von Strafgefangenen, die beschäftigen sämtliche Organe mit ihren Eingaben. Dagegen muss energisch eingeschritten werden. Natürlich müssen wir jede Eingabe bearbeiten, aber ständige Querulanten dürfen nicht unterstützt werden.«1098 Entsprechend dieser Direktive wurden etwa Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden nur deswegen zurückgehalten, weil die zuständigen Aufseher diese »unobjektiv und unsachlich« fanden.1099 Denn natürlich war es den Häftlingen nicht gestattet, »unwahre Behauptungen aufzustellen, Tatsachen zu verdrehen oder falsche Beschuldigungen zu erheben« oder sich in der gleichen Angelegenheit an mehrere Institutionen zu wenden.1100 Den Betroffenen stand bis zuletzt auch nicht zu, sich gegen eine Nichtberück­ sichtigung bei den allgemeinen Amnestien zu beschweren, obwohl es in diesem Fall besonders wichtig gewesen wäre.1101 Beschwerdeführern wurde zur Bestrafung ihres »Querulantentums« sogar der Besuch von Familienangehörigen untersagt, wie Betroffene berichten.1102 Wer Mitgefangene ermutigte, Eingaben zu tätigen, musste sogar mit Arrest rechnen,1103 weil dies schon als Aufwiegelung galt. Gemeinsame Beschwerden mehrerer Insassen waren ebenfalls unzulässig, obwohl dies aus dem Strafvollzugsgesetz gar nicht hervorging, jedoch in den dienstlichen Weisungen entsprechend festgelegt war.1104 Wenn ein politischer Häftling in sei­ nen Ge­suchen das ihm widerfahrene Unrecht anprangerte und mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hielt, kam es vor, dass die General­staatsanwaltschaft die Gefängnisleitung von Brandenburg-Görden aufforderte, solche »provokatorischen Eingaben« zukünftig zu unterbinden.1105 Außerdem hielt es die oberste Gefängnis­ verwaltung noch Mitte der Siebzigerjahre für völlig ausreichend, wenn Gefangene 1097  Vgl. Bericht des Häftlings vom 31.3.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1601, o. Pag. 1098  Ausführungen des Ministers des Innern auf der Arbeitstagung der Verwaltung Strafvollzug am 27.7.1966; BArch DO1 32/36357. 1099  BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 774, Bl. 180. 1100  Vgl. Faber; Mehner; Pellmann: Pflichten und Rechte der Strafgefangenen, S. 67 u. 70. 1101  Vgl. Ausführungen [des Ministers für Staatssicherheit] auf der erweiterten Kollegiums­ sitzung vom 27.8.1987; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 7862, Bl. 92–190, hier 168. 1102  Vgl. Schmidt; Weischer: Zorn und Trauer, S. 200. 1103  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 23/89, Bl. 163 u. 342. 1104  Vgl. Budde, Heidrun: Willkür! Die Schattenseite der DDR. Rostock 2002, S. 302. 1105  Dem Häftling Hermann Möhring sei »mitzuteilen, dass weder durch uns noch durch den Staatsrat der DDR Gesuche mit derartigen Provokationen bearbeitet werden. Belehren Sie bitte den Verurteilten über die evtl. strafrechtlichen Folgen seiner fortgesetzten Provokationen, die unsererseits nicht einfach hingenommen werden können.« Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft an den Leiter der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 6.8.1963; BStU, MfS, AU, Nr. 309/52, Bd. Gefangenenakte, Bl. 142.

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alle drei Tage Papier und Gelegenheit zum Einreichen eines Gesuchs erhielten – mit Ausnahme »außergewöhnlicher und unaufschiebbarer Beschwerden«.1106 Ferner wurden mit dem Hinweis auf nicht eingehaltene Formalitäten alle Möglich­ keiten genutzt, um die vorgebrachten Beschwerden in der Sache verwerfen zu können. Ein Schreiben an die Staatsanwaltschaft bei einem »Sprecher« einem Besucher zu übergeben, interpretierte man in Brandenburg-Görden noch in den Achtzigerjahren absurderweise als Kassiberschmuggel und bestrafte dies mit 14 Tagen Einzelarrest.1107 Auf diese Weise ließen sich Beschwerden jederzeit unterbinden. Als Folge dieser repressiven Praxis trauten sich in Brandenburg-Görden An­ fang der Siebzigerjahre innerhalb von sechs Monaten lediglich zehn Häftlinge Be­schwerden vorzubringen. Sämtliche Eingaben wurden als unbegründet zurück­ ge­wiesen.1108 Damit hatten die Brandenburger Insassen offenbar besonders schlech­te Karten, denn in anderen Gefängnissen wurde Ende der Siebzigerjahre offen­bar jeder zweite Fall als berechtigt anerkannt.1109 Diese scheinbar hohe Er­folgs­quote hing wohl damit zusammen, dass die Häftlinge nur solche Ein­ gaben einreichten, die unabweisbar waren. Darüber hinaus ist auffällig, dass sich die Gefangenen zumeist lediglich trauten, Randprobleme wie ausstehende Restlöhne oder das Nichtzubilligen von Brillen zu thematisieren.1110 In den Achtzigerjahren besserten sich die Chancen, Einwände geltend zu machen, etwas – doch blieben die Häftlinge vom Gutdünken der Aufseher abhängig und wurden von ihrem Beschwerderecht meist gar nicht in Kenntnis gesetzt. Im Jahre 1986 wurden im DDR-Strafvollzug rund 10 000 »Eingaben« gezählt,1111 doch nur ein sehr geringer Teil davon erreichte die oberste Gefängnisverwaltung; 1989 waren es lediglich 132 »Eingaben« und zwei förmliche »Beschwerden gegen Disziplinarmaßnahmen«.1112 Allein in Brandenburg-Görden tätigten die Insassen in den Achtzigerjahren durchschnittlich etwa 100 Eingaben jährlich, von denen aber lediglich 8,5 Prozent stattgegeben wurde.1113 Gefängnisleiter Papenfuß behauptete allein im Jahre 1986 insgesamt 660 Eingaben von Häftlingen erhalten 1106  Vgl. Faber; Mehner; Pellmann: Pflichten und Rechte der Strafgefangenen, S. 67 u. 70. 1107  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 3, Bl. 613. 1108  Zeitraum 1.7.–31.12.1972. Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/392. 1109  Vgl. Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienst­be­ sprechung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 129/79, Bl. 11–73. 1110  Vgl. Jahresbericht des Leiters der StVA Brandenburg vom 7.1.1965; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 42–71. 1111  Vgl. 1. Entwurf des Berichts [des Generalstaatsanwalts] über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug in der Deutschen Demokratischen Republik (mit Anlagen) o. D. [1987]; BArch DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 78–95. 1112  Zeitraum Januar bis einschließlich September 1989. Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 100. 1113  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 276.

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und alle »ganz genau« gelesen zu haben.1114 Auch sein Vorgänger Ackermann erklärte, er habe sich sämtliche Schreiben persönlich vorlegen lassen,1115 doch ist nicht bekannt geworden, dass Insassen davon profitiert hätten. So wagten es einige Häftlinge verständlicherweise erst nach ihrer Haftent­ las­sung, Miss­stände zur Sprache zu bringen. Dass auch dann kaum Gehör zu finden war, er­fuhr etwa ein Ex-Insasse Brandenburg-Gördens. In der öf­ fentlichen Sprech­stun­de des Staatsrates trug er nämlich »eine Reihe von Be­ schwerden über die Behandlung im Strafvollzug« vor. Wie anschließend die Rechtsabteilung des Staatsrates dem ober­sten Gefängnischef Hans Tunnat berichtete, werde nach Aussage des Ex-Ge­fan­genen »das Beschwerderecht der Strafgefangenen unterdrückt«. Eingaben an staat­liche Organe würden zurückgehalten, die Insassen geschlagen, misshandelt und mitunter regelrecht zur Arbeit geprügelt. Die Rechtsabteilung befand jedoch, der ehemalige Häftling habe einen »sehr unglaubwürdigen Eindruck gemacht«, wes­wegen die zuständige Strafvollzugsleitung seine Eingabe nicht zu beantworten brauche.1116 Ein Mitarbeiter der obersten Gefängnisverwaltung resümierte nach Akten­lage, der Beschwerdeführer sei eine »gemütsarme, psychopathische Person«, der fast jeden Monat in einer Beschwerde »unwahre Behauptungen« aufgestellt habe, die der zuständige Staatsanwalt gar nicht mehr bearbeitet hätte. Bezeichnend ist, dass die oberste Gefängnisverwaltung im Januar 1971 auf einer zentralen Tagung alle Gefängnisleiter darüber belehren musste, dass Eingaben keiner vorherigen Genehmigung bedürften.1117 Dass dies ausdrücklich klargestellt werden musste, wirft ein Schlaglicht auf die Beschwerdepraxis im ostdeutschen Gefängniswesen. Sehr viel besser wurde die Praxis aber auch später nicht, erst im Spätherbst 1989 kann von einer ernsthaften Bearbeitung von Beschwerden gegen die Strafvollzugspraxis gesprochen werden.1118

1114  Anlage 1 zur Information des Leiters der Hauptabteilung VII über die politisch-operative Sicherung des Pressegesprächs und der Besichtigung vom 16.1.1987; BStU, MfS, Arbeitsbereich Neiber, Nr. 226, Bl. 294–303; BStU, MfS, HA VII, Tb, Nr. 78. 1115  Vgl. Anweisung 1/66 des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg o. D. [1966]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/691, Bl. 79 f. 1116  Vgl. Schreiben des Fachgebietsleiters Bachmann der Rechtsabteilung des Staatsrates der DDR vom 4.3.1971; BArch DO1 32/36325. 1117  Vgl. Stellungnahme eines Mitarbeiters des Referates Vollzugsorganisation [der VSV] zum Schreiben der Rechtsabteilung des Staatsrates vom 16.3.1971; ebenda. 1118  So erhielt ein Dresdener Bürger, der am 19. Oktober 1989 schriftlich gegen die ungenü­ gende Ernährung, die Schikanen der Aufseher und die Duldung der Gewaltanwendung zwischen den Häftlingen in Brandenburg-Görden sowie in Waldheim protestierte, am 27. November 1989 von der obersten Strafvollzugsleitung eine Einladung zum persönlichen Gespräch. Bei dieser Gelegenheit, so hieß es nun, könne er die erhobenen Vorwürfe präzisieren. Vgl. Schreiben der Verwaltung Strafvollzug vom 27.11.1989; BArch DY 30/1083, Bl. 64.

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3.4 Das Verhalten der Gefangenen 3.4.1 Dimensionen widerständigen Verhaltens In den DDR-Haftanstalten herrschte eine Atmosphäre der Einschüchterung und Unterdrückung. Ein rauer Tonfall, Drohungen oder gar körperliche Gewalt der Aufseher gaben den Häftlingen schon bei der Einlieferung zu verstehen, dass von ihnen Unterordnung und blinder Gehorsam erwartet wurde.1119 Den­ noch – oder gerade deswegen – versuchten viele Häftlinge, die bestehen­den Regeln zu unterlaufen. Wer in den Jahren seiner Inhaftierung nicht »zer­brach«, entwickelte häufig Strategien der Selbstbehauptung und versuchte beispiels­ weise, verbotene Gegenstände zu verbergen. Andere verständigten sich bereits in der Untersuchungshaft unerlaubterweise durch Klopfzeichen mit ihren Zellen­ nachbarn. Im Strafvollzug fiel es dann meist leichter, spontan Protest zu arti­ kulieren oder systematisch Widerstand zu organisieren, da die Gefangenen hier meist nicht mehr isoliert waren. Mehr oder weniger geplant war das Aufbegehren beispielsweise anlässlich der Wiederkehr symbolträchtiger Jahres­tage, wenn oft viele Insassen gemeinsam kurzzeitig die Arbeit niederlegten.1120 Im Allgemeinen waren es jedoch konkrete Missstände in einem bestimmten situativen Kontext, die zum Auslöser für Proteste wurden (wie höhere Arbeitsnormen, ungenießbares Essen oder unbearbeitete Eingaben).1121 Oft waren es einzelne Gefangene, deren »Schmerzgrenze« erreicht war und die sich daraufhin spontan widersetzten, doch daneben gab es auch solidarisches Handeln. So schlossen sich beispielsweise im April 1979 in Brandenburg-Görden einige couragierte Häftlinge spontan zusammen, um durch einen »Sicherungsring« einen Mithäftling vor den Über­ griffen eines Aufsehers zu schützen.1122 Entsprechend den hohen Strafmaßen in der Haftanstalt an der Havel gal­ten die politischen Gefangenen hier als besonders regimekritisch und auch vergleichs­ weise renitent gegenüber den Aufsehern.1123 Jeder sechste Häftling hatte hier Mitte der Achtzigerjahre eine lebenslängliche Haftstrafe zu verbüßen (siehe Kap. 4.1.17) – und daher wenig zu verlieren. Für die Haftanstalt an der Havel war ferner kennzeichnend, dass die großen Werkhallen der Arbeitseinsatzbetriebe 1119  Dies spiegelt sich auch noch in einer Losung im Jugendhaus Dessau im Zeitraum 1983–86: »Was Du nicht weißt – lernst Du! Wenn Du lernst, helfen wir! Wenn Du nicht willst, zwingen wir Dich!« BStU, MfS, BV Halle, Arbeitsgruppe des Leiters, Nr. 843, T. II, Bl. 99. 1120  So waren Arbeitsniederlegungen am 17. Juni oder 13. August keine Seltenheit. Von den politischen Jahrestagen abgesehen, ließen es sich die Gefangenen aber auch nicht nehmen, etwa an Silvester aus Streichholzkuppen »Knaller« zu basteln und zu entzünden. Bericht des [IMS] »Dreher« vom 2.1.1985; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 100/88, Bl. 33. 1121  Vgl. u. a. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/826. 1122  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 29/89, Bl. 30. 1123  Vgl. Vorlage zur Leitungssitzung in der Abteilung vom 10.10.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Bl. 1–10.

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unübersichtlich waren und sich deswegen schwer überwachen ließen, sodass sich gewisse »Freiräume« öffneten. Augenzeugen berichten, dass es »typisch für Brandenburg war, dass die Gefangenen über weite Strecken das Sagen hatten«, was freilich nur in Abwesenheit von Aufsehern und Staatssicherheit galt. Politische Häftlinge, die beispielsweise aus Cottbus hierherkamen, glaubten sich daher geradezu in einem »Tollhaus« wiederzufinden.1124 Trotz der allgegenwärtigen Bespitzelung (siehe Kap. 5.5.3) bildeten sich immer wieder Zirkel von Gleichgesinnten, die einander auch praktisch unterstützten. »So werden z. B. neue politische Häftlinge, die noch keinen Einkauf haben, durch Lebensmittel unterstützt, die sich die anderen absparen, oder zu Geburtstagen durch Kleinigkeiten erfreut.«1125 Gelegentlich entwickelten sich daraus illegale Strukturen; so konnten etwa schon 1953 Insassen verschiedener Zellen und Vollzugsabteilungen in den Kulturgruppen zusammenkommen. »Eine starke konspirative Arbeit« soll dabei die Laienschauspielgruppe entwickelt haben; als dies aufflog, wurde allen Gefangenen für drei Monate jegliche kulturelle Betätigung untersagt.1126 Stabilere illegale Strukturen entwickelte die »Widerstandsgruppe«, die zwischen 1951 und 1963 in der Haftanstalt an der Havel existierte und die ein hervorstechendes Beispiel für widerständiges Verhalten im DDR-Strafvollzug überhaupt ist (siehe Kap. 5.5.2.4).1127 Mal widersetzten sich Insassen in hehrer Absicht, mal lediglich aus niederen Beweggründen. Die Motive der politischen Häftlinge unterschieden sich oft erheblich von denen der Kriminellen, und der politische Gehalt nonkonformen Verhaltens in der Haft reichte dementsprechend vom gewöhnlichen Querulan­ ten­tum bis zu hochbrisanten politisch-symbolischen Aktivitäten. Aus eindeutig politischen Motiven heraus beispielsweise beschädigte ein Gefangener in den Bur­ger Bekleidungswerken monatelang heimlich dort produzierte NVAUniformen1128 und der spätere Fluchthelfer Wolfgang Welsch machte über Wo­ chen hinweg Hunderte von Elektromotoren funktionsuntüchtig, weil sie seines Wissens in der Rüstungsindustrie zum Einsatz kommen sollten.1129 Hin­ge­ gen standen persönliche Motive hinter dem Regelverstoß eines Häftlings, der, in einer teilweise unbewachten Putzkolonne eingesetzt, intime Kontakte zu 1124  Schmidt: Leerjahre, S. 444 u. 431. 1125  Vgl. u. a. Bericht der Quelle 72036 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. IFA vom 17.11.1970 (Stand September 1970), 11 S.; BArch B 137/15761. 1126  Vgl. Stellungnahme der Hauptabteilung SV zu der Denkschrift des Genossen [Ernst] Leim über die Arbeit der HA SV zur Umerziehung der Strafgefangenen vom 12.7.1954; BArch DO1 11/1589, Bl. 148–160. 1127  Siehe hierzu auch Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 105. 1128  Ein Häftling etwa zerschnitt 1968/69 Felddienstuniformen der NVA im Wert von 6 000 Mark und plante, mit einer Zündvorrichtung einen Brand zu verursachen, was ihm eine zusätzliche Freiheitsstrafe von sechs Jahren wegen »Diversion« einbrachte. Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 1146/69. 1129  Vgl. Welsch: Staatsfeind Nr. 1, S. 155–160.

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einer Frau knüpfte, die dort als zivilangestellte Reinigungskraft tätig war.1130 Vorfälle fast jeglicher Art galten aber als politisch bedeutsam – so hatte etwa der Außenarbeitseinsatz an Jahrestagen des Volksaufstandes und des Mauerbaus zu unterbleiben, weil eine geglückte Flucht zum Politikum geworden wäre. Auch der Jahrestag der Staatsgründung, so fürchtete die Gefängnisleitung, könnte Anlass für »Demonstrativhandlungen« sein, weil alle Insassen auf eine Amnestie hofften und die Nichtbegünstigten dann ihrer Enttäuschung Ausdruck verleihen könnten, weswegen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen wurden.1131 Besonders als zum 25. Jubiläum der Staatsgründung die erwartete Amnestie ausblieb, breitete sich Unruhe aus.1132 In ihrer weitgehenden Ohnmacht träumten die Häftlinge teilweise von ei­ nem politischen Umsturz; besonders in den Krisenzeiten des »Kalten Krieges« hoff­ten sie auf ein »Rollback« der US-amerikanischen Streitkräfte in Europa (siehe Kap. 3.1.4).1133 Wenn Gefangene zur Tat schritten, wussten sie oft von der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens, wollten jedoch ein Zeichen setzen. Dies gilt auch für die großen Aufstände in Bautzen I (1950),1134 Cottbus und Hoheneck (1953).1135 Das Szenario einer massenhaften Häftlingsrevolte blieb für die Gefängnisverwaltung ein Bedrohungsszenario. Sie hatte deswegen später immer auch entsprechende Alarmpläne in der Schublade.1136 Die Intensität widerständigen Verhaltens lässt sich schwer abschätzen; Nie­ der­schlag in den Akten fand vorwiegend manifester Widerstand, wie etwa Meu­ tereien, Verbarrikadierungen, körperliche Angriffe auf Aufseher, »illegale Gruppen­ bildung«, Sabotagehandlungen und Brandstiftung. So sind beispielsweise in der Haftanstalt an der Havel für das Jahr 1968 elf Fälle von »Widerstand«, 1130  Für den Häftling zog dies eine längere Arreststrafe und für die Reinigungskräfte die Entlassung nach sich. Vgl. Schreiben des Polit-Stellv. [der StVA Brandenburg] betr. Informa­ tionsbericht über besondere Vorkommnisse vom 20.1.1964; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/699, Bl. 1–4. 1131  Vgl. 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Analyse über die Maßnahmen der Sicherung zum 20. Jahrestag der Gründung der DDR vom 24.10.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704, Bl. 70–72. 1132  Vgl. u. a. Schreiben des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam an die Leiter der Operativen Abteilungen vom 5.10.1974; BStU, MfS, BV Potsdam, BdL, Nr. 400278. 1133  Vgl. BArch DO1 32/1490. 1134  Vgl. hierzu den »Brief aus Bautzen« vom 31.3.1950, den Häftlinge nach der Niederschla­ gung des Aufstandes aus Bautzen I herausschmuggelten; abgedruckt in: Rieke (Hg.): Sozialdemokra­ ten als Opfer, S. 37–41. 1135  Vgl. Wunschik, Tobias: Norilsk und Workuta, Cottbus und Hoheneck. Die Proteste der Häftlinge in der Sowjetunion und der DDR nach Stalins Tod im Jahre 1953. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Das war die DDR. DDR-Forschung im Fadenkreuz von Herrschaft, Außenbeziehun­ gen, Kultur und Souveränität. Münster 2004, S. 198–218. 1136  Siehe auch Anweisung 68/77 des Ministers des Innern über Bearbeitung von besonders schweren Vorkommnissen in den Strafvollzugseinrichtungen vom 7.2.1977; BStU, MfS, BdL/ Dok., Nr. 9745.

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32 gezielte Störungen des Produktionsablaufs, sechs Fälle von Anstiftung zu Ordnungswidrigkeiten und ein Fluchtversuch dokumentiert.1137 Zwei Jahre später gab es binnen sechs Monaten angeblich 60 Fälle von Arbeitsbummelei und 31 Streiks. In acht Fällen wurde mutwillig Ausschuss produziert, 31 Mal kam es zu Schlägereien unter den Gefangenen, sechs Mal wurden Schmierereien registriert, zwölf Diebstähle verzeichnet und fünf Mal Vorbereitungen zu einem Ausbruch aufgedeckt.1138 Und im Herbst 1982 wurden in lediglich zwei Monaten insgesamt 17 Arbeitsverweigerungen, sieben Widerstandshandlungen und sieben tätliche Auseinandersetzungen gezählt.1139 Da besondere Vorfälle der obersten Gefängnisverwaltung gemeldet werden mussten und ein schlechtes Licht auf die Haftanstalt warfen, wurden solche Vorfälle wohl nicht immer aufgezeichnet und die genannten Zahlen sind deswegen nur als Mindestangaben zu verstehen. In Anbetracht variabler Maßstäbe und unterschiedlicher Wertung dessen, was genau als disziplinarischer Verstoß zu ahnden sei, vermitteln solche Disziplinarstatistiken ohnehin nur ein vages Bild von Fügsamkeit bzw. Widerständigkeit der Insassen. Zudem lösten viele Aufseher durch Willkürhandlungen oftmals die Proteste der Gefangenen erst aus.1140 Gelegentlich provozierten sogar Spitzel unter den Häftlingen bestimmte Gefangene, um nach Art eines »agent provocateur« einen Vorwand für deren Bestrafung zu liefern.1141 Insofern spiegelt die Disziplinar­ statistik nicht nur die Selbstbehauptung von Gefangenen, sondern ist zu­gleich ein Indikator für unterschiedliche Repressionsstrategien der Aufseher. Die nach­ folgende stark konzentrierte Darstellung (etwa in Kap. 3.4.8) verdichtet das Phänomen künstlich; der Normalfall in den Haftanstalten war aber nicht die nonkonforme Handlung und nicht der offene Widerspruch, sondern der (er­ zwungene) Gehorsam und die vorschriftsmäßig erstattete »Meldung«. Bei allen methodischen und quellenbedingten Schwierigkeiten sind aber durch­aus Konjunkturen der Widerständigkeit zu beobachten. Der Protest ge­gen Schlecht­behandlung und das Pochen auf die wenigen verbrieften Rechte hatte, über die Jahrzehnte, vermutlich wachsende Aussichten auf Erfolg, weil sich das Maß an Repression insgesamt verringerte. Je nach diensthabendem Aufseher und situ­ativem Kontext waren Nachfragen oder gar Widerworte in den späten Jahren

1137  [Übersicht über den Gefangenenbestand der StVA Brandenburg] vom 14.1.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/704, Bl. 92–94. 1138  [Analyse der] StVA Brandenburg vom 2.7.1970; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 11–14. 1139  Lageeinschätzung des Stellv. Operativ der StVE Brandenburg für den Monat Oktober vom 10.11.1982; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/764. 1140  Vgl. Bericht der Adjutantur des Ministeriums des Innern über eine Überprüfung im Strafvollzug vom 15.8.1959; BArch DO1 11/1489, Bl. 299–320. 1141  Information der Operativgruppe MfS [in der StVE Brandenburg] vom 1.5.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 216.

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Die Gefangenschaft

weniger riskant1142 als in der Ulbricht-Ära. Die Unterzeichnung der Schlussakte in Helsinki im Jahre 1975 ermunterte die Häftlinge, bei günstiger Gelegenheit ihre Interessen zu artikulieren und insbesondere einen Übersiedlungsantrag auch unter den Bedingungen des Strafvollzugs zu stellen (siehe Kap. 3.3.7.1).1143 In den ersten vier Monaten des Jahres 1977 verdoppelten sich in der gesamten DDR Meutereien und Fälle körperlichen Widerstandes (auf fast 96 Beteiligte) und gemeinsamer Arbeitsverweigerung (auf 49 Teilnehmer), die Hungerstreiks verdreifachten sich sogar (auf 164 Gefangene).1144 Auch Tätowierungen wurden in dieser Phase immer zahlreicher.1145 Von Bedeutung war dabei vermutlich auch das neue Strafvollzugsgesetz von 1977; der unbekannte Verfasser eines Flugblattes in Brandenburg-Görden riet seinen Mitinsassen sogar explizit, ihr Recht auf Einsichtnahme in den Gesetzestext wahrzunehmen und sich auf die internationale Konvention über bürgerliche und politische Rechte zu berufen.1146 Diese Bezugnahme auf legale Möglichkeiten war für den Protest außerhalb der Gefängnismauern wichtig, doch für Häftlinge von besonderer Bedeutung. Suchten die meisten Insassen eher die individuelle Selbstbehauptung im Stil­ len als die offene Konfrontation, zeigten sich andere partout unbeugsam. Sie versuchten, entweder unentdeckt zu bleiben oder sie agierten, besonders in den späten Jahren, mit selbstverachtender Hartnäckigkeit und trotz aller Repressalien. Die Aussichten auf Erfolg vergrößerten sich, wenn die Vorgänge auch im Westen publik werden konnten.1147 Gerade die Aufmerksamkeit der bundesdeutschen Öffentlichkeit war vielen politischen Häftlingen ein wichtiger Rückhalt, so etwa Wolfgang Defort,1148 dessen vorangegangene Flucht aus der Haftanstalt Cottbus 1142  Vgl. u. a. Information der OPG zum Verhalten des SG [...] vom 21.4.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 632, Bl. 188–191. 1143  Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129. Siehe auch Passens: MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung, S. 147. 1144  Vgl. BArch DO1 32/3698, Bl. 2. Der Autor dankt Tomas Kittan für den Hinweis auf dieses Dokument. 1145  Vgl. Beurteilung über den Genossen Feig, Frieder vom 15.9.1979; BStU, MfS, KS, Nr. 26742/90, S. 98–105. Siehe auch Hartewig, Karin: Botschaften auf der Haut der Geächteten. Die Tätowierungen von Strafgefangenen in Fotografien der Staatssicherheit. In: dies.; Lüdtke, Alf (Hg.): Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat. Göttingen 2004, S. 125–144. 1146  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 707, Bl. 305. 1147  Vgl. u. a. Sachstandsbericht der Abt. VII/2 der BV Dresden zur Anlage einer OPK vom 8.9.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 379/79, Bl. 6 f.; Abschlussbericht der Abt. VII/2 der BV Dresden vom 27.3.1980; ebenda, Bl. 48–50. 1148  Dieser nannte in einem Schreiben an Ackermann als Grund für seine Selbstbehauptung: »Ich nehme den Kampf auch deswegen an, weil ich 100%ig weiß, dass ich von der Bundesrepublik unterstützt werde und diese mich nicht aus den Augen lässt.« Brief von Wolfgang Defort an Herrn Oberst Ackermann o. D. [3/1977]; BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 1744/77, Bl. 291–293.

Das Verhalten der Gefangenen

417

im Westen für Furore gesorgt hatte. Bis zur Selbstverachtung standhaft zeigte sich auch Josef Kneifel, der später nach Bautzen I verlegt wurde (siehe Kap. 4.2.7). Rückgrat bewiesen ferner die später wegen ihrer Aktivitäten gegen die DDR bekannt gewordenen Wolfgang Welsch1149 und Michael Gartenschläger. Letzterer nahm in der Haft zahlreiche Arreststrafen auf sich – und ging später in Freiheit ein noch höheres Risiko ein (siehe Kap. 4.2.6). Den meisten Häftlingen stand aber eher der Sinn nach gemeinsamen und wohl­ do­sierten Regelverletzungen, um die Grenzen des Zulässigen auszuloten, ohne gleich Gefahr zu laufen, extrem streng bestraft (oder gar verprügelt) zu werden. So begegneten die Gefangenen in Brandenburg-Görden der Aufforderung zum Mar­schieren im Gleichschritt schon mal mit Hohngelächter.1150 Auch kam es vor, dass einige weibliche Häftlinge gemeinsam die Weisung einer Aufseherin igno­ rier­ten, ihre Freistunde vorzeitig abzukbrechen.1151 Entgegen den dienstlichen Be­stimmungen wurde mitunter auch geduldet, wenn Häftlinge während der Ar­ beit alte Arbeiterlieder sangen, da im Falle der Bestrafung die Arbeitsleistung zu sinken drohte. Eine spontane, kollektive Aktion zivilen Ungehorsams war auch, dass die Häftlinge gemeinsam die erste Strophe des Deutschlandliedes san­gen, als die Bundesrepublik 1954 die Fußballweltmeisterschaft gegen das so­zia­listische Ungarn gewann.1152 Einen gemeinschaftlichen Aufstand hatte wohl auch ein ausreisewilliger Häftling vor Augen, als er im September 1989 durch das Bei­ mischen von vier Stücken Seife zum Teig die Brotproduktion im Gefängnis lahm­ legen wollte.1153 Ideenreich zeigten sich auch die in der Lackiererei be­schäf­tigten Häftlinge mit der Behauptung, Aufseher hätten bei einer Kontrolle 40 frisch lackierte Holztüren verstaubt, während in Wirklichkeit so weitere Durch­su­ chungen verhindert werden sollten, um ungestört Brotwein produzieren zu kön­ nen.1154 Auch gelang es den Insassen immer wieder, Aufseher zu bestechen, wo­ durch sie sich kleine Vorteile zu verschaffen und das strenge Haftregime teils zu un­terlaufen vermochten (siehe Kap. 3.4.8).1155 1149  Vgl. Welsch: Staatsfeind Nr. 1. 1150  Diskussionsbeitrag des Stellv. für polit. Arbeit der StVE Brandenburg vom 25.2.1984; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/190. 1151  Folge dieses Vorfalls war nicht etwa der Einsatz des Rollkommandos, sondern ein Autori­ täts­verlust der betreffenden Aufseherin. Vgl. Bericht von Veit über den durchgeführten Treff vom 6.1.1955; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1188/62, Bd. 1, Bl. 23. 1152  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Kreutzer am 10.7.2001 in Berlin, 9 S. 1153  Vgl. Eröffnungsbericht der OPG der Abteilung VII zum Operativvorgang »Pankow« vom 15.9.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 703, Bd. 3, Bl. 604–609; Befragungsprotokoll o. D. [1989]; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 628, Bl. 118–120. 1154  Vgl. Situationsbericht der StVA Brandenburg vom 17.8.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 5 f. 1155  Den Aufsehern drohte in solchen Fällen strenger Arrest und fristlose Entlassung. Vgl. u. a. Lagebericht der Abteilung Vollzug der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an das Referat Vollzug der

418

Die Gefangenschaft

Vergleichsweise häufig waren Arbeitsniederlegungen und Hungerstreiks, denn diese konnten die Aufseher letztlich nicht verhindern.1156 In den Siebzigerjahren schätzte man im Westen, dass in den DDR-Haftanstalten etwa fünf bis sieben Prozent der politischen Gefangenen trotz drohender Arreststrafen permanent die Arbeit verweigerten.1157 In Brandenburg-Görden wurden tatsächlich binnen 12 Monaten 265 Arbeitsverweigerungen und 80 Fälle von Arbeitsbummelei gezählt, was einem Anteil von zehn bzw. dreizehn Prozent sämtlicher Insassen entsprach. Als begünstigende Faktoren galten aus Sicht der Machthaber »staats­ feind­liche Einstellung«, »asoziales Verhalten« vor der Inhaftierung und das Durch­ setzen konkreter Forderungen (wie etwa Arbeitsplatzwechsel). »Gleichzeitig bringen sie [die Streikenden] in diesem Zusammenhang zum Ausdruck, ob ich arbeite oder nicht, die Verpflegung ist gesichert.« Meist handelte es sich um Insassen im Lebensalter zwischen 20 und 30 Jahren sowie mit einer begrenzten Strafdauer von fünf bis acht Jahren.1158 Dass auch die strengen Haftbedingungen, die Drangsalierung durch Aufseher und die seinerzeitige Überbelegung der Haftanstalt die Aufsässigkeit nährten, lag außerhalb der Vorstellungskraft der Uniformträger. 3.4.2 Ausreisewillige Eine häufige Form des Aufbegehrens, besonders in den späten Jahren, war das Aufrechterhalten oder Stellen eines Übersiedlungsantrags.1159 Schon in der ersten Hälfte der Sechzigerjahre beantragten einzelne politische Gefangene in Branden­ burg-Görden beim Innenministerium, aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen zu werden1160 – noch bevor diese im Februar 1967 förmlich eingeführt und eine Entlassung aus dieser in Ausnahmefällen im November des gleichen Jahres Abt. Strafvollzug der BDVP Potsdam vom 2.4.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, Bl. 86. 1156  Schon 1959 wurde von Gefangenen berichtet, »die Sonntagsarbeit verweigern oder auch Sabotageakte durchführen, indem sie die Ausschussquote erhöhen«. Lagebericht der Strafvollzugs­ anstalt Brandenburg an das Referat Vollzug der Abt. Strafvollzug der BDVP Potsdam o. D. [1959]; ebenda, Bl. 89. 1157  Vgl. [Arbeitsmaterialien zur] 37. Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft 13. August am 8.7.1977; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 272/79, Bl. 1–17. 1158  Abschlussbericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zum Kontrollgruppen­ einsatz der Politischen Abteilung in der StVE vom 14.4.1977; BLHA, Bez. Pdm. 404/15.2/184, Bl. 27–42. 1159  Natürlich stellten auch gewöhnliche Kriminelle einen Antrag, wenn sie sich beispielsweise aufgrund ihrer nicht mehr lupenreinen Weste in der DDR keine beruflichen Perspektiven mehr versprachen. Vgl. Mündlicher Bericht des FIM »Bodo« vom 4.1.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 322, Bd. 2, Bl. 127. 1160  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S.

Das Verhalten der Gefangenen

419

möglich wurde.1161 Das Stellen eines Antrags in der Haft konnte seinerzeit folgenlos bleiben, wenn der Betreffende sich ansonsten unauffällig verhielt.1162 Wer jedoch »provokant« auftrat, verlor viele Vergünstigungen oder wurde gar körperlich bedroht. Deswegen erforderte ein solcher Schritt noch mehr Mut als außerhalb der Gefängnismauern vonnöten war.1163 Viele Insassen nahmen jedoch bewusst Erschwernisse in Kauf, weil ein Übersiedlungsantrag für sie ein politisches Bekenntnis darstellte. Bei vielen Gefangenen spielte auch die Hoffnung auf den Häftlingsfreikauf oder Empörung über das Strafurteil eine Rolle. Nach Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki im Jahre 1975 stellten allein im ersten Quartal 1976 in Brandenburg-Görden 109 Gefangene einen Übersiedlungsantrag,1164 was im weiteren Jahresverlauf weitere 114 Insassen taten und womit deren Anteil 7,1 Prozent aller Gefangenen betrug. Im Folgejahr waren es immerhin noch 49 Häftlinge, die ihre Übersiedlungabsicht bekundeten.1165 Dass politische Gefangene (sowie Schwerverbrecher) von der Amnestie von 1979 ausdrücklich ausgenommen wurden (siehe Kap. 4.1.17), verlieh den Übersiedlungs­ wünschen neue Nahrung und ließ die Zahl der Antragsteller weiter wachsen. Ab 1984 wollten immer mehr Menschen die DDR verlassen, auch aufgrund der »Sogwirkung« von in diesem Jahr verstärkt genehmigten Anträgen. Auch in den Haftanstalten bekundeten immer mehr Insassen einen entsprechenden Wunsch. Weil allein im ersten Halbjahr 1984 etwa 140 »hartnäckige Über­sied­ lungs­ersuchende« aus anderen Haftanstalten nach Brandenburg-Görden ve­rlegt wur­den,1166 waren hier im Herbst 1984 über 400 Übersiedlungswillige in­haftiert, was 15 Prozent aller Insassen entsprach.1167 Im gesamten DDR-Straf­vollzug wa­ ren es durchschnittlich 6,6 Prozent aller Gefangenen, rund 2 500 Personen.1168 Von den über 400 Ausreisewilligen in Brandenburg-Görden wurden bis zum 19. November 1985 119 Personen freigekauft, während nur 15 Gefangene ihre 1161  Vgl. Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 89 f. 1162  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 1163  Zur Antragstellung außerhalb der Gefängnisse vgl. u. a. Hürtgen, Renate: Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben. Eine Studie über Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 36). Göttingen 2014. 1164  Abschlussbericht der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam zum Kontrollgruppen­ einsatz der Politischen Abteilung in der StVE vom 14.4.1977; BLHA, Bez. Pdm. 404/15.2/184, Bl. 27–42. 1165  Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129. 1166  Vgl. Bericht der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Bezirksverwaltung für Staats­ sicherheit Potsdam vom 18.9.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. 272, Bl. 52–64. 1167  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 3. 1168  Hinweise für eine Amnestie aus Anlass des 35. Jahrestages der Deutschen Demokratischen Republik o. D.; BStU, MfS, HA IX, Nr. 748, Bl. 39–59. Für die Gesamtzahl siehe Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 408.

420

Die Gefangenschaft

An­träge im Jahresverlauf wie von ihnen verlangt zu­rück­zo­gen. Auch durch re­ gu­läre Entlassungen befördert, sank so die Zahl der Über­siedlungsersuchenden auf rund 200 Personen im Dezember 1985, zu denen die Staatssicherheit noch 84 »potenzielle« Ausreisewillige hinzurechnete.1169 Denn offenbar zogen dann vie­le Gefangene aus taktischen Erwägungen ihre An­träge zurück (oder begaben sich gar nicht erst »aus der Deckung«), änderten ihre Absichten jedoch nicht, denn im März 1986 wurden 109 registrierte Über­sied­lungswillige und 236 »po­ ten­zielle Ersucher« gezählt.1170 Größeren Ein­fluss als operative Maßnahmen der Ge­heimpolizei (s. Kap. 5.5.2.2) hatte die Am­nestie von 1987, durch die zeitweilig nur mehr 26 Personen (2,6 %) ausreisen woll­ten.1171 Viele der Antragsteller waren ent­lassen oder freigekauft worden und die verbliebenen Gefangenen rechneten sich nach der Amnestie wohl geringere Chan­cen aus, freigekauft zu werden – wes­wegen sie wohl lieber die nachteiligen Haft­bedingungen vermieden, die ein offen artikulierter Ausreisewunsch meist mit sich brachte. Datum

Zahl

Anteil an Gesamtzahl in %

Datum

Zahl

Anteil an Gesamtzahl in %

30.9.1983

182

5,9

9.4.1987

322

12,2

4.3.1984

247

k. A.

25.9.1987

277

10,8

30.9.1984

418

k. A.

23.3.1988

25

3,1

Herbst 1984

405

15,0

27.6.1988

54

3,6

1.1.1985

385

k. A.

27.9.1988

88

4,9

5.3.1985

374

14,4

28.12.1988

93

4,9

30.6.1985

346

13,5

15.3.1989

123

5,9

19.9.1985

320

12,8

9.6.1989

134

6,0

5.12.1985

208

8,3

27.9.1989

146

6,3

24.9.1986

279

10,9

Ø

235

8,7

23.12.1986

264

10,4

Tab. 7: Zahl und Anteil der ausreisewilligen Häftlinge in Brandenburg-Görden (1983– 1989)1172 1169  Vgl. Abteilung VII der BV Potsdam: Einschätzung der Wirksamkeit der politischoperativen Arbeit vom 5.12.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 2, Bl. 83–87. 1170  Vgl. Schriftlicher Rapport der Abteilung VII in Vorbereitung der Aktion »Kampfkurs XI« vom 10.3.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 702, Bl. 271–273. 1171  Vgl. Monatsbericht der OPG der Abteilung VII von Januar 1988 vom 2.2.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 774, Bl. 1–12. 1172  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 703, Bd. 3; Nr. 744, Bd. 2, Bl. 83–87; Nr. 744, Bd. 3; Nr. 874, Bl. 1–10; Nr. 746, Bl. 26 f.; Nr. 702, Bl. 2–74.

Das Verhalten der Gefangenen

421

Bis zur friedlichen Revolution erhöhte sich die Zahl der Antragsteller in Brandenburg-Görden lediglich wieder auf 146 Personen (sowie 142 potenziell In­teressierte), was einem Anteil von 6,4 Prozent und 6,2 Prozent entsprach.1173 Bei­de Gruppen zusammengerechnet, ging der Anteil der an Freikauf interes­ sier­ten Gefangenen in den Achtzigerjahren in dieser Haftanstalt also leicht zu­ rück – vermutlich auch, weil nicht mehr so viele politische Gefangene neu ein­ geliefert wurden. Weil manche Gefangene unter Druck pro forma ihren An­trag zurückzogen,1174 lag die Zahl der Ausreisewilligen in Wirklichkeit je­doch im­ mer höher als die der Antragsteller. Selbst die Geheimpolizei ging von einer »er­ heblichen Dunkelziffer« aus,1175 auch weil Aufseher Ausreiseanträge mit­un­ter einfach in den Papierkorb beförderten (statt sie entgegenzunehmen).1176 In einigen DDR-Haftanstalten hoffte zuletzt sogar jeder vierte Insasse auf den Frei­kauf.1177 Umso größer war die Frustration der nicht in den Westen Entlassenen. Eini­ge von ihnen behaupteten, in Brandenburg-Görden sogar lieber neue Straf­ taten begehen zu wollen (um vielleicht später freigekauft zu werden), als sich in den verhassten SED-Staat wiedereingliedern zu lassen.1178 Dies war eine un­ beab­sichtigte Nebenfolge der Häftlingsfreikäufe, aus denen das SED-Regime finanziell so großen Nutzen zog (siehe Kap. 5.6.5.2). In den Westen wollten natürlich nicht nur politische Häftlinge im engeren Sinne, sondern auch In­ sassen mit neonazistischer Einstellung, die sich in der Bundesrepublik größere Wirkungsmöglichkeiten erhofften.1179 Und auch Kriminelle spekulierten auf einen »Neuanfang« im Westen.1180

1173  Vgl. Monatsbericht der OPG der Abteilung VII von August 1989 vom 30.8.1989; ebenda, Bl. 181–188. 1174  Vgl. Information der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über wesentliche Aspekte und verallgemeinerungswürdige Erfahrungen der politisch-operativen Arbeit vom 10.4.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 66–71. 1175  Vgl. Vorlage zur Leitungssitzung in der Abteilung vom 10.10.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 1–10. 1176  Vgl. Bericht der Hauptabteilung VII/8 über eine Dienstreise zur Abteilung VII der BV Potsdam vom 17.8.1989; BStU, MfS, HA VII, Nr. 912, Bl. 83–88. 1177  Abteilung VII der BV Halle: Entwicklungstendenzen unter den SG/VH im 1. Halbjahr 1988 (Bezirk Halle) vom 4.7.1988; BStU, MfS, HA VII, Nr. 911, o. Pag. 1178  Vgl. Abschrift eines Schreibens des SG [...] an den Leiter der VA VII vom 10.4.1984; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 85/87, Bd. 2, Bl. 138–140. 1179  Vgl. u. a. Eröffnungsbericht zur Anlage des Operativvorganges »Börde« vom 6.3.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 626, Bl. 5–11. 1180  Vgl. Information der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über wesentliche Aspekte und verallgemeinerungswürdige Erfahrungen der politisch-operativen Arbeit vom 10.4.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 66–71.

422

Die Gefangenschaft

3.4.3 Politische Meinungsäußerung Zu »Staatsfeindlicher Hetze« zählten mündlich oder schriftlich vorgetragene Meinungsäußerungen, die sich gegen das SED-Regime schlechthin oder dessen Repressionsapparat im Besonderen richteten. Ein prononciertes Beispiel hierfür ist die 1958 in der Haftanstalt an der Havel aufgefundene Parole »Volkspolizist – Du Schwein, wir werden mal dein Rächer sein«.1181 Bereits vier Jahre zuvor veranlasste ein sowjetischer Propagandafilm die Häftlinge, den Großbuchstaben »F« (für Freiheit) mehrfach aus Papier auszuschneiden und am Ende der Filmvorführung durch den Kinosaal zu werfen;1182 Pate stand dabei wohl die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, die mit diesem Symbol öffentlichkeitswirksam gegen das SED-Regime kämpfte.1183 Zellenrazzien, scharfe Verhöre und verstärkte Spitzeltätigkeit waren die Folge, bis andere Häftlinge eine zweite Aktion dieser Art unternahmen, um von den Urhebern abzulenken.1184 Wurden die »Drahtzieher« solcher Aktionen ermittelt, konnten Übergriffe, strengste Disziplinarmaßnahmen oder Ermittlungen durch Staatssicherheit bzw. Kriminalpolizei folgen.1185 Doch die Staatsanwaltschaft sah vielfach von einer strafrechtlichen Ahndung ab, wenn der Gefangene an einer Haftpsychose litt1186 oder weil eine Meinungsäußerung angesichts der Haftumstände nicht öffentlichkeitswirksam sei,1187 auch wenn die Kriminalpolizei sich ein härteres Durchgreifen wünschte.1188 Dies erschien dem Bezirksgericht Potsdam jedoch 1964 zwingend geboten, als in einem Flugblatt Ulbricht als Mörder und die SED als verbrecherisch bezeichnet wurde; der 1181  Auszüge aus der Tonbandaufnahme GI »Herbert Klein« vom 4./5.2.1960; BStU, MfS, BV Potsdam, KS, Nr. 103/66, Bd. 2, Bl. 33 f. 1182  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugsund SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 1183  Vgl. Heitzer: Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, S. 50–55. 1184  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugsund SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 1185  Wie bereits erwähnt, fertigte ein Häftling kurz nach dem Mauerbau angeblich eine »Hetzlosung« an. Er selbst behauptete, dies sei in Wirklichkeit eine Provokation der Anstaltsleitung, die unter diesem Vorwand härtere Maßnahmen gegen die Insassen habe rechtfertigen wollen. Just diese Behauptung brachte dem Gefangenen aber eine zusätzliche Freiheitsstrafe von einem Jahr ein. Vgl. Schreiben der StVA Brandenburg an den Kommandeur der bewaffneten Kräfte des Kreises Brandenburg vom 22.8.1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 13–15. 1186  Vgl. Verfügung der Abteilung I der Staatsanwaltschaft Potsdam vom 23.8.963; BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AU, Nr. 70/58, Bd. 5, Bl. 48. 1187  »Diese jetzt [nach dem Ungarn-Aufstand 1956] in verstärktem Maße durchgeführte Hetze von Strafgefangenen kann nur mit disziplinarischen Mitteln verfolgt werden, da nach Angaben des Genossen Staatsanwalt Bauch eine solche Hetze nur dann gerichtlich verfolgt werden kann, wenn sie öffentlichkeitswirksam geschieht.« Vgl. Stellungnahme der Verwaltung Strafvollzug zu einigen Fragen der Entwicklung des Strafvollzuges bis zum heutigen Tage vom 6.12.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 214–251. 1188  Vgl. Information der OPG zu Stimmungen und Meinungen im Bereich der Genossen der K in der StVE Brandenburg vom 26.10.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 335, Bl. 156.

Das Verhalten der Gefangenen

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Urheber, ein bundesdeutscher Fluchthelfer, erhielt deswegen einen »Nachschlag« von zwei Jahren und sechs Monaten.1189 Mit der Begründung fehlender Öffentlichkeitswirksamkeit blieb etwa wie­ derum strafrechtlich folgenlos, dass im Herbst 1967 ein Häftling aus Zei­tungs­ papier insgesamt 52 Flugblätter herstellte, mit schwarzer Schuhcreme Haken­ kreuze darauf schmierte und sie in den Freihof warf.1190 Im selben Jahr wurden auch elf »Hetzschriften« mit dem Text »Kommune verrecke, Deutschland er­ wache, hier herrscht SED-Demokratie« verbreitet. Ein anderer Häftling, mit handwerklichem Geschick und Sinn für Symbolik, fertigte einen Miniaturgalgen und stellte diesen unbemerkt so ab, dass die Aufseher auf ihn stoßen mussten.1191 Die Niederschlagung des »Prager Frühlings« beantworteten die Gefangenen mit Flugblättern des Inhalts »Kampf dem roten Terror in der ČSSR und in Deutschland« und versuchten, in den Burger Bekleidungswerken einen Brand zu legen.1192 Und im März 1973 rief ein Häftling seine Mitinsassen auf Flugblättern gar zur Meuterei aus Protest gegen die schlechte Verpflegung und die geringe Entlohnung auf.1193 »Staatsfeindliche Hetze« konnte auch in den Siebzigerjahren noch drakonische Strafen nach sich ziehen. So fertigten zwei politische Gefangene in BrandenburgGörden eine richtig gehende »Knastzeitung«, was ihnen zusätzliche Freiheitsstrafen von neun bzw. fünf Jahren einbrachte (siehe Kap. 4.2.9).1194 Sie hatten das Recht auf Meinungsfreiheit und unabhängige Gewerkschaften in der DDR gefordert.1195 Im Jahre 1977 verbreiteten zwei andere Häftlinge stattliche 850 Flugschriften mit der Losung »Sklaven! Sabotiert oder legt die Arbeit nieder!«, weswegen sie die Staatssicherheit in einem Operativen Vorgang (OV) bearbeitete.1196 Im Juli 1189  Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik. Hg. vom Bundesministerium des Innern und vom Bundesarchiv. Sonderedition. »Besondere Bemühungen« der Bundesregierung, Bd. 1: 1962 bis 1969. Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch. München 2012, S. 233. 1190  Schreiben des Politstellvertreters der StVA Brandenburg vom 18.10.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/700, Bl. 165–167. 1191  Schreiben des Politstellvertreters der StVA Brandenburg vom 21.12.1967; ebenda, Bl. 183 f. 1192  Vgl. Schreiben des Politstellvertreters der StVA Brandenburg betreff Hetzsendungen und Versuche der Kontaktaufnahmen im Rahmen der feindlich-ideologischen Diversion vom 11.9.1968; ebenda, Bl. 205–207. Siehe auch Bericht der Quelle 71464 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. Tischlerei vom 4.11.1968 (Stand Mitte September 1968), 16 S.; BArch B 137/15761. 1193  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII mit dem IMS »Stein« vom 14.3.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 55 (MfS-Pag.). 1194  Nachdem der Urteilsspruch gefallen war, wurden sie allerdings – auch weil sie einen Hungerstreik begonnen hatten – in den Westen abgeschoben. Vgl. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 543/79. 1195  »Der Brandenburger Hammer«, 1. Jahrgang Nr. 2 vom 28.5.1977; BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 307/78, Bl. 149–152. 1196  Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129.

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1979 notierte ein 21-jähriger Häftling auf 17 DIN A4-Blätter handschriftlich: »Maßhalten, Maulhalten, Durchhalten – und das schon 30 Jahre! Misstrauen und Angst sind die Früchte 30-jähriger SED-Politik! Keine Ruhe für die Diktatur der SED, reih’ Dich ein, kämpfe für ein einiges Deutschland! Havemann, Heym, wer soll der Nächste sein? Ebbe in der Versorgung, Fluten von schönen Worten, das Fa­ zit von 30 Jahren SED-Politik!« Dann folgten die Namen von 40 Ausreisewilligen mit der Notiz: »Diese Genannten wollen in die BRD. Dafür müssen sie jahrelang in den Ker­kern der SED-Diktatur schmachten!« Dieser Hilferuf sollte die Öffentlich­ keit er­reichen, weswegen der Gefangene die Blätter in Paletten versteckte, die von der Haft­anstalt in das Hauptwerk der Elektromotorenwerke (Elmo) Wernigerode trans­portiert wurden, wo sie dann jedoch schnell gefunden wurden.1197 Im Früh­ sommer 1981 fertigte ein Gefangener etwa 30 ähnliche Flugblätter (mit den Namen von 22 ausreisewilligen Mithäftlingen), um sie auszuschleusen, ermuntert durch die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc.1198 Eine dezidiert pazifistische Grundhaltung offenbarte ein Häftling, der 1984 die Parole »Kein Geld für die Rüstung« schriftlich verbreitete.1199 »Staats­ver­ leumderische[n] Inhalts« waren auch 138 Flugblätter, die 1988 in den Frei­ stundenhof geworfen wurden.1200 Neben diesen respektablen Formen der freien Meinungsäußerung zählten zur »Staatsfeindlichen Hetze« aber auch neonazistische Bekundungen, wie beispielsweise Hakenkreuzschmierereien im Duschraum.1201 Eine Abwehrhaltung gegenüber der politischen Indoktrinierung im Strafvoll­ zug, drakonische Strafmaße und die gegenseitige Bestätigung ihrer politischen An­sich­ten durch gleichgesinnte Mitinsassen führten teilweise zu verfestigten rechts­extremen Anschauungen.1202 Einige Gefangene waren überzeugte Rechts­ extremisten1203 (siehe Kap. 5.5.2.3), die beispielsweise ausländische und ver­ meintlich jüdische Mithäftlinge grob beschimpften.1204 Ein Häftling fand sogar Gefallen daran, sich Armbinden mit Hakenkreuzen anzufertigen, um sich je­ dem Mithäftling gegenüber als Neonazi zu präsentieren und dementsprechende

1197  Vgl. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 374/79. Siehe auch Aktenvermerk der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII vom 29.12.1981; BStU, MfS, AIM, Nr. 9024/91, Bd. 3, Bl. 57 f. 1198  Vgl. Befragungsprotokoll des Strafgefangenen vom 22.7.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 644/82, Bd. I, S. 238 f. 1199  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 2, Bl. 50. 1200  Zit. nach: Ansorg: Brandenburg, S. 286. 1201  Bestraft wurden die Urheber von Hakenkreuzschmierereien – wenn sie denn ermittelt werden konnten – umgehend mit der höchstmöglichen Arreststrafe von 21 Tagen. Vgl. u. a. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 335, Bl. 92. 1202  Siehe auch Der Spiegel Nr. 34/1978 vom 21.8.1976, S. 83–86. 1203  Vgl. u. a. Hiller: Sturz in die Freiheit, S. 298 f. 1204  Vgl. Information der Kriminalpolizei der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam vom 13.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 852.

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Auf­merksamkeit einzuheimsen.1205 Aufgrund ihrer SED-kritischen Haltung genossen auch Skinheads ein relativ hohes Prestige unter ihren Mitinsassen.1206 In bestimmten Zellen oder Arbeitsbereichen konnten sie als Meinungsführer ein militant antikommunistisches Klima erzeugen, in dem gemäßigtere Mitinsassen als »Kommunistenschwein« und »rote Sau« beschimpft wurden.1207 Der eigentliche Adressat ihrer Aggressionen waren freilich die Aufseher und die Repräsentanten des SED-Regimes.1208 Andere Gefangene, die zuweilen rechtes Gedankengut äußerten, waren indes wohl keine überzeugten Rechtsextremisten; ihnen lag es vielleicht einfach nahe, sich der Indoktrination durch die Politoffiziere zu entziehen und sich eine alternative politische Identität aufzubauen – was ihnen außerhalb der Gefängnismauern womöglich gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Eine gegen die SED gerichtete Weltsicht half wohl allen Häftlingen, Ohnmachtsgefühle zu kompensieren. 3.4.4 Arbeitsverweigerung Aus Sicht des Systems waren aufgrund ihres schlechten Vorbildes jene Häftlinge besonders »gefährlich«, die auf Dauer und aus politischen Gründen die Arbeit verweigerten. Diese hatten in allen Haftanstalten mit harten Sanktionen zu rech­ nen – vom Besuch der Angehörigen nur hinter Trennscheiben bis zu Isolationshaft und Übergriffen. So wurde Arbeitsverweigerung in den Fünfzigerjahren in Brandenburg-Görden mit zweimonatiger Isolationshaft, gekürzter Verpflegung und dem Entzug der Bettwäsche bestraft.1209 Auch die Arbeitsniederlegung einer ganzen Schicht wegen ausstehender Prämienzahlung (wie im November 1956 in der Schneiderei) zog für den Anführer 21 Tage strengen Arrest nach sich.1210 Selbst geringe Verfehlungen und Nachlässigkeiten beim Arbeitseinsatz wurden als Arbeitsverweigerung interpretiert und streng bestraft. Wer sich beispielsweise 1205  Vgl. Information des Dezernats I/4 der BDVP Potsdam vom 6.1.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 848, Bl. 9. 1206  Blatt 2 der Information des ASG [Auskunftsbereiten Strafgefangenen] 8049/88 o. D. [Ende 1988]; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1359, Bl. 134. 1207  So etwa die Aussage eines ehemaligen Häftlings über die Haftanstalt Cottbus Ende der 70er-Jahre; zit. nach: Ash, Timothy Garton: »Und willst Du nicht mein Bruder sein ...«. Die DDR heute. Reinbek 1981, S. 181. 1208  Vgl. Bericht des IM »Subeck« vom Januar 1984; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1212/86, T. II, Bd. 1, Bl. 149 (MfS-Pag.). 1209  Dies galt selbst für inhaftierte Bundesbürger, die im Allgemeinen vorsichtiger angefasst wurden. Vgl. Protokoll [der polizeilichen Vernehmung in der Bundesrepublik] vom 1.11.1962; BArch B 209/497. 1210  Vgl. BStU, MfS, AU, Nr. 1075/58, Bd. Gefangenenakte, Bd. 2, Bl. 35; [Schreiben] an den Herrn Anstaltsleiter vom 13.12.1956; BStU, MfS, BV Halle, AU, Nr. 3710/63, Bd. Gefangenenakte, Bl. 61–64.

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im Allgemeinen korrekt verhielt und lediglich die Sonntagsarbeit ablehnte, erhielt in Brandenburg-Görden noch Anfang der Siebzigerjahre 14 Tage strengen Einzelarrest.1211 Auch wer sein tägliches Arbeitssoll bereits erfüllt hatte und sich deshalb zum Ausruhen niederlegte, wurde bestraft – mit »Arbeitsentzug« und Verlust aller Vergünstigungen. Im Häftlingsjargon wurde dies auch als »auf Blau setzen« bezeichnet, weil derjenige zu den Nichtarbeitern verlegt wurde, deren Zellentüren mit einem blauen »B« gekennzeichnet waren und die besonders häufig schikaniert wurden, wie ein ehemaliger Insasse berichtete.1212 Im Herbst 1961 wurde den Häftlingen verkündet, dass Streik fortan mit dem Entzug des Essens quittiert werde. Diese Methode fand in der Folgezeit mehrfach Anwendung1213 und sollte potenzielle Nachahmer abschrecken. Drastische Kon­ sequenzen zeitigte auch, dass die Häftlinge in den Burger Beklei­dungswerken Anfang 1968 durch absichtlich langsames Arbeiten ihren Unmut darüber be­ kundeten, dass der Betrieb von Gummi- auf Stoffverarbeitung umgestellt hatte und sie nun binnen 14 Tagen die neuen Normen erfüllen sollten, während den »freien Arbeitern« bis zu drei Monaten Einarbeitungszeit gewährt wurde. Die Häftlinge beschädigten angeblich absichtlich die neuen Maschinen und ließen einen Planrückstand von 170 000 Mark erwachsen. Der zuständige Betriebsleiter schrieb daraufhin an Ackermann, dass zwischen Aufsehern und Insassen »ein Kräftemessen im Gange« sei. »Wer von den Strafgefangenen festgelegte Disziplinen nicht einhält, nicht parieren will, wird in die Gefangenenzange genommen, das heißt durch das Rollkommando nach allen Regeln der Kunst verdroschen.« Als die Arbeitsrichtung I/4 der Kriminalpolizei jedoch die Rädelsführer in Isolationshaft brachte, bewog dies offenbar die übrigen Häftlinge zum Einlenken.1214 Aus an­ deren Gefängnissen berichten ehemalige Gefangene ähnliche Varianten kör­ perlicher Übergriffe (wie Fesselung an Heizungsrohre oder den Einsatz von Wachhunden).1215 Ackermann war stolz auf seine Erfolge bei der Streikbekämpfung, denn auf einer Leitungstagung Anfang 1978 war er deswegen von Friedrich Dickel mit einer Prämie von 1 000 Mark ausgezeichnet worden.1216 Immerhin hatte der Gefängnisleiter die Zahl der Arbeitsniederlegungen in seiner Haftanstalt von 1211  Vgl. u. a. Protokoll der Befragung des SG vom 18.4.1973; BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 1146/69, Bd. 2, Bl. 145. 1212  Bericht der Quelle 71443 Hm betr. StVA Brandenburg vom 3.10.1968 (Stand Ende Mai 1968), 5 S.; BArch B 137/15761. 1213  Stellungnahme zu meiner Tat und deren Motive vom 31.7.1963; BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 2056/63, Bl. 43–71. 1214  Vgl. Mündlicher Bericht des GI »Stein« vom 2.4.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, Teil II, Bd. 1, Bl. 19 (MfS-Pag.); Schreiben des VEB Burger Bekleidungswerke an den Leiter der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 11.3.1968; ebenda, Bl. 21–23 (MfS-Pag.). 1215  Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 71. 1216  Treff bericht des IME »Forelle« vom 25.3.1978; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. I, Bl. 10–13.

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100 im Jahre 1976 auf 52 in der Zeit von Januar 1977 bis Februar 1978 drücken können.1217 Im September 1978 verweigerten noch 40 Gefangene die Arbeit, davon 19 aus politischen Gründen; die Betreffenden wurden dann isoliert und von allen Vergünstigungen ausgenommen.1218 Im ersten Halbjahr 1979 waren es dann nur noch 35 Insassen (bzw. 1,4 %), die die Arbeit verweigerten,1219 was dem allgemeinen Trend zuwiderlief. Denn in der gesamten DDR stieg der Anteil der dauerhaft streikenden Strafgefangenen von 1,3 Prozent im ersten auf etwa zwei Prozent im zweiten Halbjahr 1978.1220 Im ersten Quartal 1979 be­ trug deren Quote im gesamten DDR-Strafvollzug bereits 4,4 Prozent (bzw. 1 367 Strafgefangene) und sank im zweiten Quartal auf etwa 3,5 Prozent,1221 wohl in berechtigter Erwartung der nun folgenden Amnestie. Brandenburg-Görden fiel vermutlich deswegen aus dem Rahmen, weil Ackermann tatsächlich besonders streng reagierte und hier vergleichsweise wenig politische Häftlinge einsaßen. Eher spontan verweigerten hingegen in der Haftanstalt an der Havel im Januar 1981 26 Häftlinge gemeinsam die Arbeit, weil sie Lohnkürzungen befürchte­ ten.1222 Arbeitsniederlegungen häuften sich jetzt – möglicherweise rechneten die Häftlinge damit, dass nach der Amnestie Wohlverhalten auf absehbare Zeit sowieso nicht honoriert werden würde. So wurden in den Jahren 1980 bis 1982 in der Haftanstalt an der Havel 125, 289 und 155 Arbeitsverweigerungen gezählt, während es in den darauffolgenden Jahren nur noch etwa 70 Vorfälle dieser Art im Jahr waren;1223 die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc könnte als Vorbild dabei eine Rolle gespielt haben. Nach Ackermanns Ablösung beharrte die neue Gefängnisleitung dann auch darauf, dass »den unberechtigten Forderungen« der »hartnäckigen Arbeitsverweigerer« nicht nachgegeben wird, um »Erpressung aus­zuschließen«. Diese Linie wurde von der obersten Gefängnisverwaltung auf­ gegriffen und allen anderen Gefängnisleitungen gegenüber als vorbildhaft dar­ 1217  Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII/OPG über die Entwicklung der Lage und Situation in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg vom 10.6.1978 (mit Anlagen); BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 706, Bl. 101–129. 1218  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 282. 1219  Vgl. Arbeitsverweigerungen im II. Quartal 1979; BArch DO1/3698, o. Pag. 1220  Für das zweite Halbjahr 1978 wurde die Quote mit 1,3 % angegeben, lag damit im Vergleich zum ersten Halbjahr jedoch »um etwa die Hälfte« niedriger. Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienstbesprechung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 129/79, Bl. 11–73. Dies entsprach in etwa einem Anteil von fünf bis sieben Prozent Arbeitsverweigerern allein unter den politischen Gefangenen, wie seinerzeit im Westen geschätzt wurde. Vgl. [Arbeitsmaterialien zur] 37. Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft 13. August am 8.7.1977; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 272/79, Bl. 1–17. 1221  Vgl. Arbeitsverweigerungen im II. Quartal 1979; BArch DO1/3698, o. Pag. 1222  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 2070, Bl. 1–18. 1223  Vgl. Vorlage zur Leitungssitzung in der Abteilung vom 10.10.1983; BStU, MfS, BV Pots­ dam Abt. VII, Nr. 874, Bl. 1–10; Bericht der Stellv. des Leiters für Vollzug [der StVE Brandenburg] an die Verwaltung Strafvollzug vom 27.1.1984; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/190.

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gestellt.1224 Allenfalls eine Verlegung in einen anderen Arbeitsbereich, vielfach das Hauptanliegen der (Hunger-) Streikenden, zogen die späteren Gefängnisleiter Papenfuß und Jahn als Zugeständnis in Betracht.1225 3.4.5 Hungerstreik Wer außer der Arbeit auch noch die Nahrung verweigerte, musste mit sofortigem Entzug des Trinkwassers sowie aller Getränke rechnen, was die Durstleidenden zur Aufgabe ihres Unterfangens zwingen sollte. Zum Waschen wurde dann mit Seife durchsetztes Wasser gereicht, was mancher Häftling in seiner Verzweiflung dennoch trank.1226 Als beispielsweise an Weihnachten 1966 fünf Häftlinge gemeinsam für eine bessere Verpflegung streikten, sorgte die Staatssicherheit dafür, dass sie umgehend in Isolationshaft gebracht wurden und man ihnen jegliche Getränke verweigerte – trotzdem hielten zwei der fünf Häftlinge mindestens vier Tage durch.1227 Ehemalige Insassen sagten sogar aus, dass ihnen hochprozentige Kochsalzlösung injiziert worden sei, um sie durch das hervorgerufene Durst­gefühl zur Einnahme einer dargebotenen Suppe zu bewegen.1228 Wenn sie ihren Hun­ ger­streik dann immer noch nicht abbrachen, drohte ihnen eine brutal durch­ geführte Zwangsernährung; dabei stellte man ihnen die entstehenden Kos­ten für den Krankenhausaufenthalt in Rechnung.1229 Hungerstreikende Über­sied­ lungsersuchende wurden in Brandenburg-Görden auch erst dann von der Ge­ fängnisleitung zu einem Gespräch empfangen, wenn sie wieder Nahrung zu sich nahmen, ohne dass es in der Sache selbst Bewegung gab;1230 genauso unnachgiebig zeigte sich die Staatssicherheit.1231 Hungerstreikende Häftlinge wurden Mitte der Siebzigerjahre meist in andere Haftanstalten verlegt – was selbst die hierfür 1224  Diskussionsbeitrag [eines Mitarbeiters der Politischen Abteilung der BDVP Potsdam oder der Verwaltung Strafvollzug Berlin] o. D. [24.2.1984]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/190. 1225  Vgl. u. a. Auszug aus Treffbericht [mit dem] IMB »Eiche« vom 22.3.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 223, Bl. 128. 1226  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 1227  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII mit dem IM »Stein« vom 30.12.1966; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, Teil II, Bd. 1, Bl. 2 f. (MfS-Pag.). 1228  So die Aussage von Rolf Mainz; zit. nach: Ash: »Und willst Du nicht mein Bruder sein ...«, S. 180. 1229  Vgl. [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des Polit-Stellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 189–211. 1230  Vgl. Monatsbericht der OPG der Abteilung VII vom April 1989 vom 2.5.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 774, Bl. 152–163. 1231  Versuchten Gefangene ein Gespräch mit der Staatssicherheit zu erzwingen, stimmte diese ebenfalls erst zu, nachdem der Häftling wieder Nahrung zu sich nahm. Vgl. u. a. Aktenvermerk der OPG der Abteilung VII zum SG [...] vom 8.11.1984; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 129/89.

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verantwortliche oberste Gefängnisverwaltung für problematisch hielt und für den Fall des Bekanntwerdens westliche Kritik befürchtete.1232 Nahrungsverweigerung blieb nur dann ohne Strafe, wenn beispielsweise das Essen offenkundig verdorben war und kein politischer Hintergrund vermutet wurde.1233 Trotzdem waren Hungerstreiks in Brandenburg-Görden zahlreich – in den Jahren 1980 bis 1983 verweigerten mindestens 40 Häftlinge die Nahrung.1234 Gelegentlich standen aber auch rein private Motive dahinter (wie etwa Liebeskummer nach der Trennung von der Lebenspartnerin).1235 Weithin sichtbaren Widerstand leistete auch Michael Gartenschläger, indem er 1969 den Schornstein der Haftanstalt erklomm und das Wort »Hunger« auf das Mauerwerk schrieb (siehe Kap. 4.2.6). Seine Aktion nahmen sich zwei Jahre später wohl zwei andere Gefangene zum Vorbild, einer von ihnen war 1967 bei einem Grenzdurchbruch festgenommen worden,1236 der andere als »Rowdy« verurteilt worden.1237 Mit dem Mut der Verzweiflung kletterten die beiden dann am 31. August 1971 während der Freistunde auf den 48 Meter hohen Schornstein der Haftanstalt. Ihre Absicht war, auf die katastrophalen Haftbedingungen aufmerksam zu machen und eine offizielle Überprüfung an­ zustoßen. Sie verharrten auf dem Laufring des Schornsteins, sechs Meter unterhalb der Oberkante des Schornsteins, und schrieben mit Zahnpasta das Wort »Hunger« auf das Mauerwerk, was weithin gut lesbar war – und natürlich mussten sie dort oben auf jede Versorgung verzichten. Ackermann entschied, dass Aufseher mit Stahlhelmen, Schlagstöcken und Sicherungsgurten den Schornstein besteigen sollten. Mithilfe von Wasserstrahlen aus mehreren Schlauchleitungen hatten sie »den Zutritt zum Laufring freizuspritzen, die Schmiererei am Schornstein abzuwaschen und die Strafgefangenen mit Wasser zu unterkühlen«. Als die Aufseher ihre Attacke vorbereiteten, bewarfen sie die beiden Häftlinge mit los­ gelösten Rostteilen des Laufringes. Erst am 2. September gegen 11 Uhr stiegen sie freiwillig vom Schornstein herab. Von einem Ermittlungsverfahren nahm das Mielke-Ministerium allerdings Abstand – weil vor Gericht die Missstände

1232  Vgl. Treffbericht des IM »Günter Rabe« vom 29.10.1976; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 2, Bl. 327–332. 1233  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S.; Auszug aus Treffbericht [mit dem] IMB »Eiche« vom 22.3.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 223, Bl. 128. 1234  Zeitraum 1.1.1980–30.9.1983. Vgl. Vorlage zur Leitungssitzung in der Abteilung vom 10.10.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 1–10. 1235  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Walter Müller am 8.4.2001 in Chemnitz, 4 S. 1236  Weil im Besitz einer Waffe, hatte er wegen »staatsgefährdender Gewaltakte« eine Strafe von neun Jahren Zuchthaus erhalten. Vgl. BStU, MfS, BV Halle, AU, Nr. 165/66. 1237  BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOG, Nr. 375/66. Zum Verständnis der »Asozialität« in der DDR siehe Zeng: »Asoziale« in der DDR.

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in der Haftanstalt publik geworden wären, wie einer der Beteiligten glaubte.1238 Einer der beiden Männer wurde dann nach Torgau verlegt, wo er seinen neuen Mitinsassen die Missstände in Brandenburg-Görden schilderte und deswegen 21 Tage strengen Arrest erhielt.1239 Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken, beabsichtigten auch im April 1977 zwei Häftlinge, die aus disziplinarischen Gründen vom Arbeitseinsatz ausgeschlossen worden waren. Sie hängten ein Bettlaken aus dem Zellenfenster, auf dem sie ihre Forderungen nach besseren Haftbedingungen artikulierten. Um ihre aufgestauten Aggressionen abzureagieren, zerlegten sie außerdem das Inventar ihrer Zelle. Da das Transparent auch außerhalb der Haftanstalt gut sichtbar war, ließ sich die Gefängnisleitung auf Verhandlungen mit den beiden Gefangenen ein. Ackermann persönlich erschien in ihrer Zelle, nahm sich einen Hocker, setzte sich in die Mitte der Zelle und eröffnete eine Fragerunde. Auch in diesem Fall scheute er sich nicht, vorangegangene Entscheidungen seiner Untergebenen zu revidieren. Ackermann akzeptierte den Wunsch der Gefangenen, wieder zur Arbeit eingesetzt zu werden und wies die Auszahlung ausstehender Löhne an.1240 Dadurch offenbar ermutigt, verbarrikadierten sich bereits im Folgemonat neun weitere, überwiegend politische Häftlinge in zwei Zellen, schrieben Losungen auf das Mauerwerk neben ihren Zellenfenstern und erhoben schriftliche Forderungen. Ackermann fürchtete wohl, dass seine vorangegangene Nachgiebigkeit Schule machen würde, und wollte nun wieder strengere Saiten aufziehen: »Unter dem Schutz von Wasser[kanonen] wurde zunächst der Verwahrraum 82 gewaltsam geöffnet und die Verbarrikadierung [...] beseitigt.« Die aufsässigen Häftlinge, durch einen politischen Gefangenen angestiftet, wurden dann zu neuen Freiheitsstrafen von bis zu sechseinhalb Jahren wegen Gefangenenmeuterei verurteilt.1241 3.4.6 Flucht Als das gesamte ostdeutsche Gefängniswesen noch in den Händen der Justiz­ verwaltung gelegen hatte, war zahlreichen Häftlingen die Flucht gelungen – was maßgeblich dazu beitrug, dass die als zuverlässiger geltende Volkspolizei die 1238  Seinen politischen Überzeugungen blieb er jedoch treu und widersetzte sich bis zu seinem Freikauf den »Erziehungsbemühungen« des »sozialistischen Strafvollzugs«. Befragungsprotokoll des Strafgef. in der StVA Torgau vom 4.4.1972; BStU, MfS, BV Halle, AU, Nr. 165/66, Bd. Vollzugsakte, Bl. 180. 1239  Vgl. BStU, MfS, BV Halle, AU, Nr. 165/66. 1240  Vgl. Erklärung des IM »Schwarz« vom 20.4.1977; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 255/79, Bd. 2, Bl. 36. Zur Leitungstätigkeit Ackermanns siehe auch Kapitel 2.1.8 und 5.3.2. 1241  Urteil des Kreisgerichts Brandenburg-Stadt vom 25.7.1977; BStU, MfS, BV Rostock, AU, Nr. 2989/76, Bd. Vollzugsakte, Bl. 101–113; sowie BArch DO1 32/3698, Bl. 2.

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Verantwortung hatte übernehmen können (siehe Kap. 2.6.3). Allerdings war gerade in Brandenburg-Görden keinem Insassen ein Ausbruch geglückt;1242 die Haftanstalt war relativ modern und durch eine sieben Meter hohe Außen­mauer umgeben, die vier Meter tief in das Erdreich reichte, um auch das Untergraben unmöglich zu machen.1243 Aus der Haftanstalt an der Havel gelang erst im Dezember 1950 einem Insassen die Flucht, kurz nachdem die Volkspolizei die Regie übernommen hatte; er konnte sich sogar bis in den Westen durchschla­ gen.1244 Die größten Chancen zur Flucht eröffnete zumeist ein Außenarbeits­ einsatz, doch dieser war in der Haftanstalt an der Havel wegen der hohen Straf­ maße der Insassen die Ausnahme (siehe Kap. 3.5). So be­durfte es schon einiger Phantasie oder der Mithilfe einzelner Aufseher, um aus Brandenburg-Görden zu entkommen. 1951 konnte beispielsweise ein Häftling einen Wachtmeister dazu bewegen, seine in Westberlin lebende Mutter zu be­suchen. Diese offerierte dem Aufseher dann 1 000 West-Mark, wenn ihr Sohn freikäme. Die Sache flog jedoch auf und der Aufseher wurde bestraft und ent­lassen.1245 Ende des Jahres 1953 konnte ein Gefangener aus einem der wenigen Außenkommandos zwar entkommen, wurde jedoch nach zwei Tagen gefasst.1246 Mehr Glück hatte im Folgejahr der Häftling Alfred Lauterbach. Von einem Sowjetischen Militärtribunal wegen »staatsfeindlicher Umtriebe« zu 25 Jahren Haft verurteilt, war er ab Mai 1952 zum Malen von Propagandaplakaten und Losungen eingesetzt worden. Der Aufseher Horst Bock, der ihn über Monate bewachen sollte, freundete sich mit ihm an und ließ sich schließlich auch politisch beeinflussen. So organisierte Bock im Juli 1954, dass Lauterbach, zwischen Altpapiersäcken versteckt, auf einem Lastkraftwagen die Gefängnistore hinter sich lassen konnte. Die gemeinsame Flucht von Lauterbach und Bock wurde erst nach sieben Stunden bemerkt, als die beiden bereits nach Potsdam gelangt waren, die Havel durchschwommen und Westberlin erreicht hatten.1247 In ei­nem Abschiedsbrief erklärte Bock, dass »er nicht länger mit ansehen kann, dass un­ schuldige Menschen in der DDR eingesperrt werden«.1248 Der Aufseher sorgte 1242  Vgl. Stellungnahme [von Fechner] zu dem Beschluss des Kleinen Sekretariats vom 12. August 1949 betreffend Zustände in den Gefangenenanstalten der SBZ o. D.; BArch DP 1–262, Bl. 97. 1243  Vgl. Auskunftsbericht des Leiters der StVA Brandenburg vom 8.2.1972; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/696, Bl. 1–12. 1244  Vgl. Strafvollzug in der Sowjetzonen-Republik. In: Neue Presse, Passau, vom 28.3.1951; zit. nach: BArch B 137/1810. 1245  Vgl. Informationsbericht der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für den Monat August an die Abteilung PK der Hauptabteilung SV der HVDVP vom 22.8.1951; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 147–150. 1246  Vgl. Vorschlag zur Anwerbung eines GI vom 29.7.1954; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 113/60, Bd. I, Bl. 93–95. 1247  Vgl. Gaedemann; Littell: Flucht aus dem Zuchthaus Brandenburg, S. 403–409. 1248  Vgl. Bericht des GI »Otto« über die VA Brandenburg o. D. [7/1954]; BStU, MfS, AIM, Nr. 4400/59, Bd. 1, Bl. 42–44.

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sogar dafür, dass zwei Aktentaschen mit vertraulichen Unterlagen der Haftanstalt (wie dem Disziplinarstrafnachweisbuch) in den Westen gelangten1249 und gab Hinweise, wer unter seinen ehemaligen Kollegen von westlichen Geheimdien­ sten oder Gefangenenhilfsorganisationen möglicherweise »umgedreht« werden könne.1250 Acht Mitinsassen Lauterbachs, die angeblich seine Flucht unter­stützt hatten (möglicherweise aber gar nicht eingeweiht gewesen waren), wurden dann für vier Monate in Isolationshaft genommen.1251 Vermutlich vor diesem Hinter­ grund leg­te die oberste Gefängnisverwaltung aus Gründen der Abschreckung im Jahre 1955 fest, dass wiederergriffene Häftlinge »ein Jahr in Einzelhaft« gehalten und ihnen »sämtliche Vergünstigungen, bis auf Briefverkehr« entzogen werden sollten.1252 Oft sahen sich die Geflüchteten nach dem Wiederergreifen auch körperlichen Übergriffen der Aufseher ausgesetzt. Angehörige der sogenannten Widerstandsgruppe (siehe Kap. 5.5.2.4) konnten einen Fluchttunnel 15 Meter weit vorantreiben, wurden jedoch entdeckt, lange bevor sie sich unter den Gefängnismauern hindurchgegraben hatten. Den Erd­ aushub hatten sie zusammen mit dem Abfall der metallverarbeitenden Arbeits­ betriebe unauffällig »entsorgt«.1253 Im Jahre 1959 gelang es dann zwei Inhaftierten tatsächlich gemeinsam zu entweichen, doch 40 Kilometer vor der innerdeutschen Grenze wurde angeblich ein Gefangener von der Volkspolizei auf der Flucht er­ schossen, während der andere sich stellte.1254 »Ein großer Teil der Strafgefangenen hat die Entweichung mit offensichtlicher Genugtuung aufgenommen und ver­ suchte, die Aufklärung mit allen Mitteln zu verschleiern«,1255 wie es in den Berichten der Gefängnisleitung hieß. Der Mauerbau von 1961 minderte den Gegenwert für das Risiko, bei einer wag­halsigen Flucht das eigene Leben zu riskieren. Denn die Chancen, bis in den Westen zu fliehen, waren jetzt nur noch minimal.1256 Gleichwohl ent­kam im September 1963 ein Insasse Brandenburg-Gördens, indem er sich in einem 1249  Vgl. [Bericht des ehemaligen Häftlings Alfred Lauterbach über seine] Flucht aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden vom 30.7.1954; BArch B 285/201. 1250  Vgl. [Bericht des in den Westen geflüchteten ehemaligen Aufsehers Horst Bock] betr. Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden (Eigen-Fortsetzungsbericht) vom 3.8.1954, 116 S.; BArch B 289/SA 171/22-01/14. 1251  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Situationsbericht SVA BrandenburgGörden vom 21.12.1954; BArch B 289/VA 171/22-19/25. 1252  Aktenvermerk der Hauptabteilung SV über eine Besprechung der Haftstaatsanwälte bei der Obersten Staatsanwaltschaft am 16.8.1955 vom 23.8.1955; BArch DO1 11/1589, Bl. 222 f. 1253  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Mühlenhaupt am 21.8.2002 in Berlin, 11 S. 1254  Vgl. Juretzko: Die Nacht begann am Morgen, S. 268. 1255  Schreiben des Referates 2 der Abteilung I an den Leiter der Abteilung II vom 9.12.1959; BArch DO1 11/1476, Bl. 201–203. 1256  Dieses Husarenstück gelang indes selbst nach dem Mauerbau noch einer Handvoll Häftlinge. Vgl. u. a. Statistischer Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug 1963 vom 1.2.1964; BArch DO1 32/280/1.

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der rund 90 Kraftfahrzeuge versteckte, die täglich die Torwache passierten;1257 es war die einzige gelungene Flucht aus dieser Haftanstalt zwischen 1960 und 1965.1258 Im Jahre 1965 begann ein anderer Insasse, mittels Tunnel einen Aus­ bruch vorzubereiten, wurde jedoch entdeckt.1259 Im Juni 1966 floh dann ein Häft­ling aus dem Außenarbeitskommando Wusteritz, wenig später ein an­de­rer aus dem Außenarbeitskommando Ludwigsfelde, was eine Abmah­nung Acker­ manns nach sich zog.1260 Auch auf die gesamte DDR bezogen wuchs die Zahl der flüchtigen Häftlinge paradoxerweise bis 1963, vermutlich weil die obers­te Gefängnisverwaltung aufgrund des Mauerbaus häufiger den Arbeits­ein­satz außerhalb der Gefängnismauern gestattete.1261 Offenbar erzwangen auch immer mehr Haftentlassene mit Gewalt oder durch Geiselnahme einen Grenz­über­ tritt,1262 da ihnen andere Wege versperrt waren. Deswegen wurde der Tat­be­ stand der Gefangenenselbstbefreiung in das neue Strafgesetzbuch von 1968 auf­ ge­nommen,1263 während bis dahin eine Flucht von Häftlingen als solche nicht straf­bar gewesen war und, neben disziplinarischen Konsequenzen, stets durch ju­ ristische Hilfskonstruktionen hatte geahndet werden müssen. Bereits 1967 konnte auch ein Insasse Brandenburg-Gördens aus einem Außen­ arbeits­kommando entweichen.1264 Zwei Jahre später gelang hier erneut einem Häftling die Flucht. Ebenfalls im Jahre 1969 versteckte sich der später bekannt gewordene Michael Gartenschläger in den Getriebewerken in einer Kiste, die aus der Haftanstalt heraustransportiert werden sollte; sein Fehlen wurde jedoch beim Zählappell bemerkt (siehe Kap. 4.2.6).1265 Ebenso misslang im Juli 1970 die Flucht eines Mörders, der sich eine Leiter gezimmert und bereits Gitterstäbe auseinandergebogen hatte. Jedoch hatte ihn ein Mitgefangener verraten, sodass sich die Aufseher »auf die Lauer legten« und ihn auf frischer Tat stellten.1266 Sich stundenlang in einer Lüftungsklappe der Arbeitsbetriebe zu verstecken gelang 1257  Vgl. Anlage zum Gesamtbericht der Leitung der BDVP Potsdam für das 2. Halbjahr 1963; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/12, Bl. 175–181. 1258  Vgl. BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 1, Bl. 102. 1259  Vgl. Abteilung VII [der BV Potsdam]: Vorschlag zur Prämierung vom 11.8.1965; BStU, MfS, BV Potsdam, KS II, Nr. 157/87, Bl. 57 f. 1260  Protokoll der Leitungssitzung der BDVP Potsdam am 5.7.1966 vom 15.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/23, Bl. 2–8; Schlussfolgerungen der Abteilung SV der der BDVP Potsdam vom 25.6.1966; ebenda, Bl. 11–17. 1261  Vgl. Wunschik: Hinter doppelten Mauern, S. 557–574. 1262  Vgl. Information der Hauptabteilung IX über Staatsverbrechen, welche durch die Täter im Strafvollzug vorbereitet werden vom 22.12.1964; BStU, MfS, HA IX, MF, Nr. 11924, o. Pag. 1263  Vgl. § 237 des Strafgesetzbuch für die Deutsche Demokratische Republik. Ostberlin 1968. 1264  Vgl. BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/391, Bl. 2. 1265  Vgl. Einschätzung der erreichten Arbeitsergebnisse durch den Leiter der Strafvollzugs­ anstalt Brandenburg vom 2.1.1970; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 80–115; [Bericht des GI] »Stockhaus« betr. besonderes Vorkommnis im Werk IV vom 31.1.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2140/81, T. II, Bd. 2, TB III, Bl. 142–144 (MfS-Pag.). 1266  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 854.

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im Jahre 1971 einem anderen Gefangenen, doch wurde auch er entdeckt, bevor er sich den Weg in die Freiheit bahnen konnte.1267 Nachdem er bereits das Glasdach durchbrochen hatte, musste offenbar im August 1972 ein Häftling seine Flucht abbrechen, weil sich ein mitgeführtes Seil als zu kurz erwies; angeblich misshandelten ihn Aufseher daraufhin schwer.1268 Ein Mithäftling glaubte spä­ ter nach vielen Jahren Haft die Regimeverhältnisse in dem Gefängnis an der Havel so gut zu kennen, dass er eine Flucht für möglich hielt – verzichtete nach eigener Aussage allerdings darauf, weil er sich in Freiheit kaum auf Dauer hätte verbergen können.1269 Angesichts der starken sozialen Kontrolle und polizeilichen Überwachung überall in der DDR war das Wiederergreifen absehbar, weswegen ein Ausbruch eigentlich weitgehend sinnlos war. Die größten Chancen zur Flucht eröffnete im Strafvollzug der (Außen-)Arbeitseinsatz; 57 der insgesamt 88 Ent­ wei­chungen aus allen Strafvollzugsanstalten des Innenministeriums zwi­schen 1970 und 1975 erfolgten in diesem Kontext.1270 Ab den Siebzigerjahren wollten etliche Gefangene Aufseher oder Mitinsassen als Geisel nehmen und sich in die Bundesrepublik ausweisen lassen.1271 Angesichts der restriktiven Ausreisepolitik hielten einige Gefangene diese Gewaltbereitschaft wohl für ihre einzige Chance, sich dem Zugriff des SED-Regimes dauerhaft zu entziehen; möglicherweise dienten dabei die zunehmenden Geiselnahmen in der Bun­des­republik als Vorbild. Eine solche harte Gangart wählten beispielsweise im Januar 1973 zwei Häftlinge: Sie wollten drei Offiziere als Geiseln nehmen und ein Auto oder einen Hubschrauber als Fluchtfahrzeug verlangen. Ihre Pla­ nun­gen wurden indes durch einen anderen Insassen verraten und dann durch die Staatssicherheit untersucht.1272 Zur Tat schritten indes neun teils kri­mi­ nel­le, teils politische Häftlinge im November 1975, als sie gemeinsam eine Gei­ sel­nahme fingierten und sich in ihrer Zelle verbarrikadierten. Sie for­der­ten die Einschaltung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik sowie die Über­gabe von Lebensmitteln und 3 000 Zigaretten.1273 Erfolg versprachen sie sich, weil es sich bei einer der vermeintlichen Geiseln ihres Wissens nach um einen Bun­ 1267  Vgl. Bericht der Politabteilung der BDVP Potsdam über die durchgeführte Kontrolle in der StVE Brandenburg vom 19.5.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/108, Bl. 43–47. 1268  Vgl. Fritzsch: »Gesicht zur Wand«, S. 130. 1269  Vgl. Bericht der OPG zum Treff mit dem IMS »Subeck« vom 31.5.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1212/86, T. II, Bd. 1, Bl. 227–234 (MfS-Pag.). 1270  Zeitraum 1.1.1970–19.11.1974; die Gesamtzahl möglicherweise unter Einschluss der Untersuchungshaftanstalten. Vgl. Einschätzung der Lage im Strafvollzug vom 19.11.1974; BArch DO1/10176, o. Pag. 1271  Vgl. Übersicht der HA IX/AKG zu vorbereiteten, versuchten und vollendeten gewaltsamen Ausbrüchen aus Untersuchungshaftanstalten und Strafvollzugseinrichtungen der DDR seit 1975 vom 17.8.1984; BStU, MfS, HA IX, Nr. 283, Bl. 2–18. 1272  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/684. 1273  Vgl. Information Nr. 1591/75 vom 21.11.1975; BStU, MfS, HA XXII, Nr. 17058, Bd. 9, Bl. 5–10.

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desbürger handelte, was jedoch nicht zutraf. Außerdem wollten sie die Freilassung einiger bundesdeutscher Mithäftlinge fordern,1274 wodurch der Fall im Westen für Furore hätte sorgen können. Auf etliche Zugeständnisse hin bra­chen sie ihr Vorhaben dann ab. Zwar wurde von einer strafrechtlichen Ver­fol­gung tatsächlich abgesehen, der Anführer jedoch nach Bautzen I verlegt. Weil sich entgegen der Zusage sein Ausreisewunsch nicht erfüllte, plante er dort mit Mitinsassen abermals einen gewaltsamen Ausbruch, was ihm eine Ver­urteilung (zu sechs Jahren Freiheitsentzug wegen Gefangenenmeuterei) und die Rückverlegung nach Brandenburg-Görden eintrug. Hier plante er erneut eine Geiselnahme, in diesem Fall die eines Betriebsangehörigen, was ihm nach Aufdeckung seines Vorhabens zusätzliche 15 Jahre Haft bescherte.1275 Nach der Verteilung von 28 Flugblättern wollte im Dezember 1979 ein weiterer Häftling einen Aufseher als Geisel nehmen, um seine Haftentlassung in die Bundesrepublik zu erzwingen – und hatte sich bereits Material zur Fesselung beiseitegelegt.1276 Auf Fluchtabsichten wurde mit zunehmender Härte reagiert. Als im August 1973 einem anderen Gefangenen tatsächlich die Flucht gelang, wurde er nach seiner Wiederergreifung durch die Aufseher so brutal misshandelt, dass sogar die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei in Potsdam den spektakulä­ ren Vor­fall durch einen Kontrolleinsatz untersuchte.1277 Heftige Kritik erntete Acker­mann auch, als 1979 mehrere Häftlinge während der Arbeitszeit durch einen unterirdischen Gang in die Lebensmittelverkaufsstelle einbrechen konn­ ten.1278 Möglicherweise durch solche Vorkommnisse begünstigt, sollten ab März 1976 von (vermutlich vorrangig fluchtwilligen) Insassen Brandenburg-Gördens Geruchsproben genommen werden. Diese sollten dann auf dem Gelände der Transportpolizei im Wildpark-West gelagert werden und bei Bedarf Hundestaffeln zur Verfolgung von Ausbrechern dienen.1279 Anfang der Achtzigerjahre wuchs die Zahl der Entweichungen offenbar erneut, vermutlich auch weil wegen der Amnestie von 1979 mit einer baldigen Entlassung gnadenhalber kaum mehr zu rechnen war. Insgesamt gelang zwischen 1979 und 1983 23 Insassen von Untersuchungshaftanstalten des Innenministeriums die 1274  Vgl. Befragungsprotokoll des Strafgefangenen [...] vom 22.11.1975; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 625, Bl. 14–24. 1275  Einleitungsbericht zur operativen Personenkontrolle »Duell« vom 11.2.1986; ebenda, S. 4–13; Brief von [...] vom 10.7.1978; ebenda, Bl. 145 f. 1276  Vgl. BStU, MfS, HA IX, VSH (KK). 1277  Vgl. BArch DO1 32/53247; BStU, MfS, BV Potsdam, AOG, Nr. 368/73. 1278  Vgl. Referat [vermutlich des Leiters der Verwaltung Strafvollzug auf der] Dienstbespre­ chung mit den Leitern der Abt./AG Strafvollzug und den Leitern der StVE/JH am 28.2.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 129/79, Bl. 11–73. 1279  Verantwortlich hierfür sollte die Arbeitsrichtung I/4 der Kriminalpolizei sein (siehe Kapitel 5.2.2). Vgl. Bericht des IMS »Donald« vom 15.4.1976; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 54, Teil II, Bd. 1, Bl. 38.

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Flucht, weitere 107 Gefangene scheiterten.1280 Der gravierendste Vorfall ereignete sich in der Untersuchungshaftanstalt Frankfurt/O., wo am 20. September 1981 vier Häftlinge gemeinsam flohen. Sie nahmen zwei Aufseher als Geiseln und er­ schossen auf der Flucht – vermutlich ohne Vorsatz – einen Volkspolizisten. Die Flüchtigen verschanzten sich dann in einem nahe gelegenen Wohnhaus, wo sie weitere Geiseln nahmen. Rund sechs Stunden nach ihrem Ausbruch versuchten bewaffnete Kräfte des Staatssicherheitsdienstes sie zu überwältigen; als sich die Ausbrecher der Ausweglosigkeit ihrer Lage bewusst wurden, gaben sie schließlich freiwillig auf.1281 Im Rahmen der nachfolgenden Untersuchungen wurden fünf beteiligten Aufsehern Nachlässigkeiten in der Dienstdurchführung attestiert.1282 Im März 1982 konnten sich in Brandenburg-Görden zwei Häftlinge Leitern bereitlegen, wurden jedoch bei ihrem Fluchtversuch gefasst.1283 Wesentlich weiter kam im Folgejahr ein Häftling des Außenarbeitskommandos Sporthallenbau. Er war zu »Aufräumungsarbeiten« in den Wohnhäusern der Aufseher eingesetzt, wo er Zivilkleidung für seine Flucht hatte sammeln und verstecken können. Da die Bewachung seines Kommandos recht lax war, wurde seine Flucht erst nach viereinhalb Stunden bemerkt, als der Flüchtende bereits die Stadt Burg erreicht hatte.1284 Im gleichen Monat planten sechs Häftlinge gemeinsam einen Ausbruch, und im April versuchten vier Insassen, teilweise erfolgreich, an Metallsägen zu gelangen.1285 Da nach der Amnestie von Oktober 1982 die nicht freigelassenen Häftlinge wohl verstärkt zur Flucht motiviert waren, ließ Papenfuß nun die Bestimmungen für den Außenarbeitseinsatz verschärfen.1286 Im Juni 1983 konnte dennoch ein Häftling in den Getriebewerken Brandenburg das Fundament der Halle durchbrechen und drei Meter Tunnel graben, bevor er entdeckt wurde.1287 Zwei Mitinsassen konnten im gleichen Jahr aus Außenkommandos entkommen, wurden aber ebenso rasch wieder aufgegriffen.1288 Im März 1984 floh ein Häftling, 1280  Vgl. Entweichungen aus Untersuchungshaftanstalten und verhinderte Entweichungen in den Jahren 1979 bis 1983; BArch DO1/10113, o. Pag. 1281  Vgl. Baganz, André: Lebenslänglich Bautzen II. Als Farbiger in der DDR. Berlin 1993, S. 65. 1282  Vgl. Vortrag von Spange vor Offiziershörern vom März 1985; BStU, MfS, HA VII, Nr. 900, Bl. 65–118. 1283  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 636, Bd. 2. 1284  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 3, Bl. 603; Vernehmungsprotokoll vom 15.3.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 707, Bl. 33–35. 1285  Vgl. Vorlage zur Leitungssitzung in der Abteilung vom 10.10.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 1–10. 1286  Vgl. Abteilung VII/5: Einschätzung der Außenarbeitskommandos der StVE Brandenburg vom 1.3.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 2, Bl. 20. 1287  Vgl. Monatsbericht der Abteilung VII/5 [der Bezirksverwaltung Potsdam] von Juni 1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 3, Bl. 573–575; Auswertungs- und Kontrollgruppe der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam: Vorbereitungshandlungen zum Entweichen aus StVE/UHA vom 18.7.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. 1122, Bl. 2 f. 1288  Vgl. Kriminalpolizei der BDVP Potsdam: Information zur Lage beim Außenarbeits­ kommando vom 3.9.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 196–198.

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der zur Reinigung des Kulturhauses eingesetzt war und den sein Bewacher für ein paar Minuten aus den Augen verloren hatte. Sein Motiv lag offenbar darin, dass er seine immer wiederkehrenden Magenschmerzen im Strafvollzug unzulänglich behandelt sah; auch er wurde nach wenigen Stunden wieder aufgegriffen.1289 Im Januar 1985 wurde schließlich bekannt, dass ein wegen mehrfacher Flucht­ versuche über die innerdeutsche Grenze verurteilter Häftling in den Werkhallen der Getriebewerke Brandenburg unbemerkt ein Schussgerät mit Stahlfedern hatte anfertigen können.1290 Da der Mann schon einmal eine Geiselnahme von Mitinsassen fingiert hatte, wurde der Fall jetzt sehr ernst genommen. Das spek­ ta­kuläre Vorkommnis wurde im Staatssicherheitsapparat zunächst als »Spitzen­ meldung« behandelt und sollte schon vom Stellvertreter des Ministers für Staats­ sicherheit Gerhard Neiber gegenüber dem Leiter der Verwaltung Strafvollzug »aus­gewertet« werden.1291 Doch bei weiteren Vernehmungen stellte sich heraus, dass eine Flucht zu keinem Zeitpunkt ernsthaft vorbereitet worden war bzw. der Vorfall strafrechtlich nicht relevant war.1292 Die Fluchtversuche wurden insgesamt wohl auch deswegen militanter, weil das »klassische« Durchsägen der Gitterstäbe und anschließende Überwinden der Gefängnismauern immer aussichtsloser wurde. So sollten in der Haftanstalt an der Havel zuletzt nicht weniger als 90 Wach- und Spürhunde Flucht­ver­ suche unterbinden. Hinzu kamen acht Fernsehkameras, von denen 1971 fünf innerhalb der Umfassungsmauer und drei in den Produktionshallen der Ge­ triebewerke Brandenburg zum Zweck der lückenlosen Überwachung der In­ sassen installiert wurden.1293 In einer weiteren Werkhalle sollten »mög­lichst echt wirkende Kameraattrappen« angebracht werden.1294 Mitte der Acht­zi­ger­ jahre wurden zudem die Zellen mit einem zweiten Riegel ver­se­hen.1295 Die Sicherheitsvorkehrungen wurden dann an Staatsfeiertagen noch einmal verstärkt, weil spektakuläre Fluchten zu diesen Terminen politisch be­sonders brisant gewesen 1289  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 705, Bl. 149–152. 1290  Bericht über die Vorbereitung des gewaltsamen Entweichens aus dem Strafvollzug durch einen Strafgefangenen der StVE Brandenburg vom 24.1.1985; BStU, MfS, Arbeitsbereich Neiber, Nr. 635, Bl. 112–121. 1291  Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptabteilung VII vom 12.2.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 625, Bl. 4. 1292  Abschlussbericht der Untersuchungsabteilung der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam vom 20.3.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 1085/85, Bl. 218–225. 1293  Vgl. Einschätzung der Arbeitsergebnisse durch den Leiter der StVA Brandenburg vom 27.6.1972; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/696, Bl. 32–40. 1294  Abteilung 8 der Hauptabteilung VII: Bericht über die vorbeugende Verhinderung eines schweren Vorkommnisses in der StVE Brandenburg vom 4.2.1985; BStU, MfS, Arbeitsbereich Neiber, Nr. 635, Bl. 123–131. Dies war als Gegenmaßnahme gegen einen möglichen gewaltsamen Ausbruch gedacht. 1295  Kontrollbericht der Abteilung Strafvollzug der BDVP Potsdam betr. StVE Brandenburg vom 15.3.1985; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/524.

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Abb. 17: Eingang zur verbarrikadierten Zelle 147 in der Vollzugsabteilung I, Flügel C, 1975

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Abb. 18: Verwüstete Zelle 147 in der Vollzugsabteilung I, Flügel C, nach der Verbarrika­ dierung, 1975

wären. Zum vierzigsten Jahrestag der Staatsgründung bei­spielsweise wurden zwischen dem 25. September und dem 9. Oktober alle Haft­entlassungen aus­ gesetzt, Ge­fan­ge­nen­transporte zusätzlich bewacht, Vor­füh­rungen vor Gericht auf das Nötigste beschränkt, Urlaub nicht gewährt und ab dem 5. Oktober die Häftlinge auch nicht mehr außerhalb der Ge­fäng­nis­mauern zur Arbeit ein­ gesetzt.1296 Im Jahre 1989 gelang in der ge­sam­ten DDR lediglich 15 Gefangenen aus Haftanstalten des Ministeriums des Innern die Flucht.1297 Brandenburg-Görden galt insgesamt als so sicher, dass sogar vormalige Aus­ brecher aus anderen Haftanstalten hierher verlegt wurden: jeder zwölfte Insasse (bzw. 233 Personen) galt im Jahre 1983 als potenzieller Ausbrecher.1298 Zu den zu­ verlegten Häftlingen zählten beispielsweise auch die Ausbrecher aus Frankfurt/O.; einer der zu »lebenslänglich« Nachverurteilten wurde in der Haftanstalt an der 1296  Vgl. Maßnahmeplan der OPG der Abteilung VII der BV Potsdam zur Aktion »Jubiläum 40« vom 18.9.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag. 1297  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 75. 1298  Vgl. Vorlage zur Leitungssitzung in der Abteilung vom 10.10.1983; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 1–10.

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Havel zwei Jahre lang von den anderen Gefangenen »streng isoliert gehalten«1299 und von der Staatssicherheit in einer Operativen Personenkontrolle »bearbeitet«.1300 Zu den vormaligen Ausbrechern in der Haftanstalt an der Havel zählte auch Wolfgang Defort.1301 Er hatte eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten zu verbüßen, weil er 1973 über die ČSSR hatte flüchten wollen.1302 Im Januar 1975 war er aus der Haftanstalt Cottbus entkommen und hatte sich in 14 Stunden bis zur polnischen Grenze durchgeschlagen, jenseits derer er mithilfe von Freunden bis in des Westen zu gelangen hoffte. Weil Defort dann bei zwei Pfarrern um Asyl bat, ein dritter Geistlicher jedoch die Volkspolizei rief,1303 schlug der Fall im Westen hohe Wellen. Defort erhielt ein zusätzliches Strafmaß von zehn Monaten Freiheitsentzug und musste in Cottbus Monate in einem sogenannten »Tigerkäfig« verbringen, das heißt isoliert in einer engen Kellerzelle. Er verfasste ein politisches Testament und ließ es, unter Mithilfe des Schriftstellers Siegmar Faust, in den Westen schmuggeln. Während ehemalige Mitinsassen über seinen weiteren Verbleib zunächst nichts Genaues erfuhren,1304 wurde er im Februar 1976 in die »verschärfte Vollzugsart« eingestuft und unterlag in Brandenburg-Görden für sechs Monate sogenannten besonderen Vollzugsmaßnahmen.1305 Trotzdem blieb er seiner widerständigen Haltung treu und erfüllte die Arbeitsnormen nur zu einem Drittel.1306 Weil sich politische Mithäftlinge um ihn hätten scharen können oder er selbst Verbindungen in den Westen hätte aufnehmen können, wurde er in einer Operativen Personenkontrolle von der Staatssicherheit bearbeitet.1307 1299  Einschätzung der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII des Standes der Strafverwirklichung zu den Tätern vom 11.9.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 170–175. Siehe auch Baganz: Lebenslänglich Bautzen II. 1300  Vgl. Zwischenbericht zur OPK »Gewalt« vom 27.5.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 845, Bl. 10–19. 1301  Vgl. Winter, Friedrich: Der Fall Defort. Drei Brandenburger Pfarrer im Konflikt. Eine Dokumentation. Berlin 1996, S. 29. 1302  Vgl. BStU, MfS, AU, Nr. 7629/74. 1303  Vgl. BStU, MfS, AP, Nr. 15493/79. 1304  Vgl. Faust, Siegmar: Ich will hier raus. Berlin 1983, S. 208. 1305  Eröffnungsbericht der Abteilung VII/5 zur OPK »Intelligenz« vom 13.4.1977; BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 1744/77, Bl. 5–7. 1306  Brief von Wolfgang Defort an Wolfgang Vogel vom 15.2.1977; ebenda, Bl. 194 f. 1307  Die Staatssicherheit bestimmte seine Haftbedingungen bis ins Detail, kontrollierte zusätzlich seine Post und setzte zwei inoffizielle Mitarbeiter auf ihn an. Außerdem setzte die Geheimpolizei Defort gezielt dem unzutreffenden Vorwurf der Spitzeltätigkeit aus, indem ihm bestimmte Vergünstigungen zuteilwurden (wie Teilnahme an den Kulturveranstaltungen). Außer­ dem wurde er beim Schreiben eines Lebenslaufes »versehentlich« von einem Mitinsassen beobachtet, der annehmen musste, dass Defort gerade einen Spitzelbericht verfasste. Der gleiche Mitinsasse konnte dann »zufällig« beobachten, wie Defort in den Räumen der Operativgruppe eine Tasse Kaffee trinken durfte, was ebenfalls für Häftlings-IM charakteristisch war. Vgl. Abschlussbericht der Abteilung VII/5 zur OPK »Intelligenz« vom 7.11.1977; ebenda, Bl. 9–15; Abteilung VII/5: Realisierung der Vorschläge zur Verunsicherung des Strafgefangenen Defort vom 29.8.1977; ebenda, Bl. 16–18. Dieser Mitinsasse wurde dann, um die Kunde von Deforts angeblicher Spitzeltätigkeit

Das Verhalten der Gefangenen

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3.4.7 Suizid Als letzte Möglichkeit, sich der Haftsituation zu entziehen, wählten viele Häftlinge den Weg des Suizids. So nahmen sich in der gesamten DDR in den Jahren 1953 bis 1989 vermutlich mehr als 500 Gefangene in den Haftanstalten der Volkspolizei (siehe Tabelle 8) sowie mindestens zehn, möglicherweise gar bis zu 80 weitere Insassen der Untersuchungshaftanstalten der Staatssicherheit das Leben.1308 In den Fünfzigerjahren war dies besonders häufig, denn zu dieser Zeit waren die Über­ griffe der Aufseher besonders zahlreich, die allgemeinen Haftbedingungen extrem schlecht und die Strafmaße drakonisch. Ein ehemaliger Insasse BrandenburgGördens berichtete daher, sich »fast täglich« mit Suizidgedanken getragen zu haben.1309 Einen der ersten Suizidfälle in der Haftanstalt an der Havel soll es im Februar 1950 gegeben haben, als die Haftanstalt noch der Justiz unterstand.1310 Insgesamt sollen hier zwischen 1950 und 1956 18 Insassen Selbstmord begangen haben.1311 Allein in den Jahren 1956 und 1957 versuchten dies nachweislich sechs Gefangene, was einem von ihnen auch gelang.1312 In der Zeit zwischen 1964 und Mai 1968 registrierten Insassen dann zwölf Suizidversuche, die in zwei Fällen »erfolgreich« waren,1313 und Michael Gartenschläger wurde zwischen 1964 und 1971 angeblich sieben Suiziden gewahr.1314 Noch in den Siebzigerjahren sollen

im Westen zu verbreiten, eigens zusammen mit Defort in den Westen entlassen, hatte sich doch das Bundeministerium für innerdeutsche Beziehungen intensiv um die Freilassung Deforts bemüht. Vgl. Bericht der Hauptabteilung VII/8 zum Strafgefangenen Defort, Wolfgang vom 10.3.1977; ebenda, Bl. 19–25. Da er im Westen die Praktiken des DDR-Strafvollzugs anprangerte und bei der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter Strafanzeige gegen die drei erwähnten Pfarrer stellte, bearbeitete ihn die Staatssicherheit dann abermals operativ. Weil er allerdings wenige Kontakte zu ehemaligen Mitinsassen pflegte, konnte der Mielke-Apparat kaum seine Spitzel zum Einsatz bringen und beendete 1982 die Bearbeitung. Vgl. Abschlussbericht der KD Schwedt zum OV »Kreis« vom 27.12.1982; BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP, Nr. 43/83, Bd. I, Bl. 219–221. Lediglich zur Beisetzung seines Vaters gestattete Mielke persönlich für einen Tag die Einreise Deforts in die DDR unter operativer Kontrolle, wodurch die Staatssicherheit ihn vermutlich abermals dem Verdacht der Spitzeltätigkeit aussetzen wollte. Vgl. Schreiben der Hauptabteilung IX/2 vom 4.5.1984; BStU, MfS, A, Nr. 127/81, Bl. 160 f. 1308  Vgl. Grashoff, Udo: »In einem Anfall von Depression …«. Selbsttötungen in der DDR. Berlin 2006, S. 70. 1309  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling R. L. am 24.7.2001 in Berlin, 5 S. 1310  Vgl. Hammer, Walter: Die Katastrophe in Brandenburg vom 4.3.1950, 10 S.; IfZ, ED 106 Bd. 1. o. Pag. 1311  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugsund SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 1312  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/120. 1313  Vgl. Bericht der Quelle 71443 Hm betr. StVA Brandenburg vom 3.10.1968 (Stand Ende Mai 1968), 5 S.; BArch B 137/15761. 1314  Aussage von Michael Gartenschläger; zit. nach: Klier: Gartenschläger, S. 140.

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Die Gefangenschaft

Häftlinge durch schlechte Behandlung in den Freitod getrieben worden seien.1315 In den Achtzigerjahren wurden dann drei Schnittverletzungen in suizidaler Absicht binnen zwölf Monaten registriert.1316 Im Jahre 1988 hielten die Aufseher der Haftanstalt an der Havel insgesamt 69 Häftlinge für selbstmordgefährdet.1317 Sofern alle Selbsttötungen Eingang in die Statistik fanden und nicht als natür­ liche Todesfälle vertuscht wurden (bzw. Selbstmordversuche lediglich als Selbst­ beschädigung galten), lag somit die Suizidrate im DDR-Strafvollzug ab den Siebzigerjahren im Normalbereich der gesamten DDR-Bevölkerung, in den früheren Jahren jedoch mehr als doppelt so hoch.1318 Jahr

Zahl

Jahr

Zahl

Jahr

Zahl

Jahr

Zahl

1953

33 1963

17 1973

10 1983

5–7

1954

k. A. 1964

6 1974

8–9 1984

9–12

1955

43 1965

13 1975

10 1985

7–11

1956

15–25 1966

7 1976

10 1986

9–10

1957

15 1967

13 1977

8–9 1987

6–7

1958

18–25 1968

6 1978

15–18 1988

1–7

1959

29 1969

k. A. 1979

6–8 1989

2–3

1960

26 1970

16 1980

1961

22 1971

15 1981

1962

22 1972

7 1982

14 ges. Mindest­ 8 zahl 17

ca. 468–510

Tab. 8: Zahl der Suizide im Strafvollzug und in der Untersuchungshaft der Volkspolizei in der gesamten DDR (1953–1989)1319 1315  Vgl. u. a. Befragungsprotokoll des Strafgef. [...] in der StVA Torgau vom 4.4.1972; BStU, MfS, BV Halle, AU, Nr. 165/66, Bd. Vollzugsakte, Bl. 180. 1316  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 2. Halbjahr 1987 vom 14.1.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 1317  Vgl. Stellv. für Vollzug: Aufstellung über Strafgefangene, von denen besondere Gefahren ausgehen können vom 7.1.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 746, Bl. 90–95. 1318  Vgl. Grashoff: Selbsttötungen in der DDR, S. 56. 1319  Bei den angegebenen Zahlen handelt es sich um Näherungswerte, zumal teilweise diver­ gierende Angaben vorliegen. Aufgrund von Vertuschungsbemühungen der Gefängnis­ver­waltung ist auch eine gewisse Dunkelziffer wahrscheinlich. Nicht enthalten sind die Suizidfälle in den Untersuchungshaftanstalten der Staatssicherheit. Vgl. Jahresbericht der Vollzugsabteilung 1953 vom 8.1.1954; BArch DO1 11/1468, Bl. 77 f.; Entwicklung des Gefangenenbestandes 1958–1962 o. D.; BArch DO1 32/53246; Statistischer Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug 1960 vom 15.3.1961; BArch DO1 32/280/1; Einschätzung der Lage im Strafvollzug durch die Arbeitsgruppe SV der Politischen Verwaltung vom 12.4.1960; BArch DO1 11/1477, Bl. 25–36; Statistischer Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug 1961 vom 5.6.1962; BArch DO1 32/280/1; Statistischer Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug 1962 vom 1.3.1963; ebenda; Statistischer Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug 1963 vom 1.2.1964; ebenda; Statistischer Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug

Das Verhalten der Gefangenen

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Weil besonders in den ersten Jahren hohe »natürliche« Sterberaten herrschten, wurden diese möglichst geheim gehalten.1320 So wurden Familienmitglieder im Westen seinerzeit überhaupt nicht über das Ableben ihrer Angehörigen infor­ miert – was dazu führte, dass sie erst bei einem beabsichtigten Besuch vom Tod des Betreffenden unterrichtet wurden.1321 Beispielsweise wurde in den Ost­ berliner Haftanstalten bei der Erfassung von Suiziden »sehr unterschiedlich verfahren« und erst 1953 angewiesen, dass bei allen Sterbe- oder Suizidfällen ein Arzt hinzuzuziehen sei.1322 Eine etwaige Überprüfung strittiger Sterbefälle war dabei kaum möglich, weil zu jener Zeit die Leichen verstorbener Häftlinge oft den anatomischen Instituten mit der Bemerkung überstellt wurden, die Familienangehörigen hätten die Übernahme des Leichnams verweigert1323 – was nur in seltenen Fällen der Wahrheit entsprochen haben dürfte. Wohl auch um Sterbeziffern zu verschleiern, wurden andere Verstorbene eingeäschert und ihre Urnen erst 1956 auf Friedhöfen beigesetzt oder Angehörigen übergeben, sofern es sich nicht um politisch heikle Fälle (wie die sterblichen Überreste von Waldheim-Häftlingen) handelte.1324 Doch auch in den späteren Jahren wurden Suizidfälle ausgesprochen nachlässig untersucht – so beispielsweise der Fall eines Insassen Brandenburg-Gördens, der wegen Mord zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Nach sieben Jahren Haft hatte er 1978 der Arbeitsrichtung I/4 der Kriminalpolizei 1964 vom 5.2.1964 [1965]; ebenda; Schwerwiegende Vorkommnisse mit Strafgefangenen und Verhafteten 1974/75; BArch DO1/10166, o. Pag.; Lageeinschätzung der Verwaltung Strafvollzug für das Jahr 1988 (mit Anlagen) vom 30.1.1989; BStU, MfS, HA VII, Nr. 2644, Bl. 34–58; sowie weitere Dokumente in BArch DO1 11/1510; DO1 32/53246; DO1 32/53247. Siehe auch Deutsche Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft. Informationsbericht. Bundesministerium für Familie und Senioren, Außenstelle Berlin. Berlin 1991. 1320  Da aufgrund katastrophaler Ernährung und ungenügender medizinischer Betreuung etwa bei Tbc-Erkrankungen in den Frühjahrs- und Herbstmonaten ein »erhebliches Ansteigen der Sterbeziffern« zu beobachten war, wollte die Gefängnisverwaltung die übliche Registrierung der Sterbefälle bei den örtlichen Standesämtern vermeiden, »weil keine Gewähr dafür besteht, dass die registrierten Zahlen so vertraulich behandelt werden, wie es notwendig wäre«. Schreiben Fischers an den Staatssekretär im Ministerium des Innern, Warnke, vom 7.6.1950; BArch DO1 11/1578, Bl. 129. So behalf man sich damit, alle Todesfälle (gleich welcher Ursache) am letzten Wohnort des Häftlings registrieren zu lassen, sodass eine Häufung der Todesnachrichten bei jenem Standesamt, das der Haftanstalt am nächsten lag, vermieden werden konnte. Schreiben des Staatssekretärs im Ministerium des Innern Warnke an die Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei vom 14.7.1950; ebenda, Bl. 146. 1321  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung SV an den Chef der DVP Maron vom 11.4.1951; ebenda, Bl. 154 f. 1322  [Bericht der Abteilung Strafvollzug des Präsidiums der Volkspolizei Berlin o. D. (31.3.1953)]; BArch DO1 11/1468, Bl. 153–167. 1323  Vgl. Dienstanweisung Nr. 49/51 der HV Deutsche Volkspolizei vom 28.8.1951; BArch DO1 32/54128. 1324  Vgl. Blunck, Jürgen: Über den Tod hinaus. Der letzte Weg der Dichterin Edeltraud Eckert. In: Deutschland Archiv 37 (2004) 1, S. 105–110.

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Die Gefangenschaft

(siehe Kap. 5.2) seine Spitzeldienste angeboten, die ihn gern als IKM »Friedrich« verpflichtete, da er gute Verbindungen zu seinen Mitinsassen hatte. Nachdem er gegen seinen Willen innerhalb der Haftanstalt verlegt wurde und verschiedene Zusagen ihm gegenüber unerfüllt blieben, isolierte er sich mehr und mehr, fühlte sich von Mitinsassen verfolgt und kündigte daher seine Spitzeltätigkeit auf. Die Arbeitsrichtung I/4 wollte ihn nun »überzeugen«, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Am 1. März 1980 ersuchte der Häftling Ackermann sowie die Arbeitsrichtung I/4 dringend um eine Aussprache, doch vertröstete man ihn auf den 3. März. Am 2. März fügte der Mann sich dann mit einem Taschenmesser im Halsbereich mehrere Stichwunden zu, an deren Folgen er verblutete. Mit vorgebeugtem Oberkörper fand man ihn nun auf der Toilette. Einer der Aufseher kommentierte den Vorfall mit den Worten: »Diesmal wird er es geschafft haben, es ist nicht das erste Mal, dass [er] es versucht hat.«1325 Die Kriminalpolizei hatte indes keine vorangegangenen Suizidversuche protokolliert. Angesichts der Vorgeschichte liegt nahe, dass er unter großem Druck stand, seine Spitzeldienste fortzusetzen; jedenfalls wurden seine Ersuchen um Gehör auf fahrlässige Weise ignoriert. In dem Abschlussbericht stellte die Arbeitsrichtung I/4 irreführenderweise fest: »Zum Motiv der Selbsttötung konnten keinerlei Hinweise erarbeitet werden, da sich der Strafgefangene [..] bis zuletzt völlig normal verhalten hat.«1326 Mit Messern, Glasscherben oder anderen scharfen Gegenständen sich die Adern zu öffnen, war durch Mitgefangene und Aufseher schwer zu verhindern. Immerhin scheiterte im Juni 1978 der Selbstmordversuch eines Gefangenen, der sich die Adern im linken Unterarm durchtrennt hatte – offenbar weil er vergeblich auf ein deutlich milderes Urteil gehofft hatte.1327 Im Juli 1986 hingegen konnte sich ein Häftling in einem unbeobachteten Augenblick die Halsschlagader öffnen und verblutete.1328 Unmittelbar vor der Amnestie von 1987 nahm sich ein anderer Insasse das Leben, weil er sich von Mitgefangenen bedroht fühlte und nicht freizukommen befürchtete.1329 Ebenfalls aus Verzweiflung angesichts seiner unterbliebenen Freilassung (sowie aus partnerschaftlichen Problemen heraus) unternahm im Februar 1988 ein anderer Häftling einen Suizidversuch mit Tabletten.1330 Im November des gleichen Jahres versuchte wiederum ein Häftling, 1325  Protokoll der Vernehmung des Strafgefangenen vom 2.3.1980; BStU, MfS, BV Potsdam, AOG, Nr. 690/80, Bl. 72–76. 1326  [Bericht des] Dezernats I/4 der Abteilung Kriminalpolizei vom 4.3.1980; ebenda, Bl. 84–87. 1327  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/589. 1328  Vgl. Fernschreiben der BDVP Potsdam vom 6.7.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 707, Bl. 328. 1329  Vgl. Monatsbericht der OPG der Abteilung VII von November 1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 1, Bl. 11–19. 1330  Vgl. Mündlicher Bericht des FIM »Motor« vom 23.2.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 209/91, Bd. 3, Bl. 67.

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sich das Leben zu nehmen.1331 Und im Juni des Wendejahres erhängten sich am gleichen Tage zwei weitere Häftlinge in Brandenburg-Görden.1332 Den vermutlich letzten Suizidversuch vor dem Mauerfall unternahm ein Insasse BrandenburgGördens am 23. Oktober 1989.1333 Nach dem doppelten Suizid im Frühsommer der friedlichen Revolution kriti­ sierte ein Mitinsasse, dass sich die Gefangenen, selbst bei drängenden Proble­men, von den Aufsehern alleingelassen fühlten. Begünstigend wirkte wohl auch, wenn die Betreffenden nicht zur Arbeit eingesetzt wurden und so über Stunden allein in ihren Zellen saßen.1334 Von einem suizidgefährdeten Häftling erwirkten die Aufseher im Mai 1976 absurderweise eine schriftliche Versicherung keinen Selbstmord zu begehen, doch wenige Monate später nahm der Mann sich dennoch das Leben.1335 Politisch bedeutsam sind die Fälle, in denen Häftlinge beispielsweise nur des­wegen selbstmordgefährdet waren, weil sie die Isolationshaft nicht länger er­trugen.1336 Offenbar aus Angst vor einer erneuten Verlegung nach Branden­ burg-Görden tötete sich ein Häftling in der Untersuchungshaftanstalt Pots­ dam.1337 Andere Insassen versuchten, durch Drohung mit Suizid will­kür­li­chen Arreststrafen zu entgehen; auf diese Weise konnte beispielsweise 1986 ein Über­ siedlungsersuchender überraschenderweise ein Gespräch mit dem Gefäng­nis­leiter und die Aufhebung der Arreststrafe erzwingen.1338 Die gegen­teilige Erfahrung musste im Vorjahr ein Häftling machen; er musste trotz Suiziddrohung die volle Arreststrafe absitzen – und zwar an Händen und Füßen gefesselt, bevor er noch sechs weitere Monate in Einzelhaft genommen werden sollte.1339 Strenge Haftbedingungen, Misshandlungen durch Mitinsassen oder Aufseher und Haft­ depressionen lösten Suizidabsichten oftmals erst aus.1340 Meist war die Kombi­ nation mit privaten Motiven folgenreich – etwa wenn Häftlinge nach einer Trennung von der Lebenspartnerin angesichts der zu verbüßenden Strafmaße schier verzweifelten. 1331  Vgl. Auszug aus Treffbericht [mit dem] IMB »Horst Peters« vom 10.3.1988; ebenda, Bl. 272. 1332  Vgl. Fernschreiben der BDVP Potsdam vom 2.6.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 707, Bl. 496 u. 502. 1333  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag. 1334  Treffbericht des IMB »Bole« vom 5.7.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag. 1335  Vgl. Grashoff: Selbsttötungen in der DDR, S. 61 f. 1336  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 201, Bd. 2. 1337  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 113/60. 1338  Dass der Anstaltsleiter dabei mehr Gespür für die politischen Implikationen eines solchen Falles bewies oder operativen Notwendigkeiten des MfS gehorchte, löste bei den Aufsehern der Arreststation allerdings Kopfschütteln, mitunter gar Selbstzweifel aus. Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 23/89, Bl. 339–341. 1339  Vgl. Monatsbericht der OPG der Abteilung VII von Januar 1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 3, Bl. 424–433. 1340  Zur Verantwortung der Aufseher für Suizide in MfS-Untersuchungshaft vgl. Grashoff: Selbsttötungen in der DDR, S. 160–162; Bastian: Repression, Haft und Geschlecht, S. 249.

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3.4.8 Kassiber und illegaler Radioempfang Trotz strenger Zensur verstanden es die Gefangenen, durch Andeutungen, ver­ schlüs­selte Worte oder Geheimschrift bestimmte Botschaften in die Welt außer­ halb der Gefängnismauern zu übermitteln. Hierzu versahen sie beispielsweise einen Brief buchstäblich zwischen den Zeilen mit einer zusätzlichen Zeile, deren Schrift zunächst unsichtbar war und erst durch eine bestimmte Behandlung visualisiert werden konnte. Als Hilfsmittel dienten das DDR-handelsübliche alkoholhaltige Rasierwasser »Pitralon 113«, verdünntes Zuckerwasser, ein Gemisch aus Alkohol und Wasser, Urin,1341 mit Zitronensaft angereicherte Milch1342 sowie, in den späteren Jahren, sogenannte Tintenlöschstifte. Allerdings vermochten die Aufseher durch erwärmen (»bügeln«), bestrahlen mit dem Licht einer Quarzlampe (»quarzen«), Joddampf oder andere Methoden die Geheimschrift sichtbar zu machen. Teilweise gelang es technischen Spezialisten der Staatssicherheit sogar, die Geheim­schrift nur vorübergehend sichtbar zu machen. Dann wurden Abschriften er­stellt, die Schriftstücke selbst aber weitergeleitet, sodass der Empfänger kei­ nen Ver­dacht schöpfen konnte.1343 Die Geheimpolizei fing mitunter sogar an bestimm­te Ge­fangene adressierte Schreiben ab, noch bevor diese BrandenburgGör­den erreichten (durch die Abteilung M der Bezirksverwaltung für Staatssicher­ heit in Potsdam).1344 Ein Gefangener konnte seiner in Hoheneck inhaftierten Ehefrau, in einem regulären Brief, eine verschlüsselte Botschaft übermitteln.1345 Dem politischen Häftling Rolf Mainz gelang es sogar, außerhalb der Gefängnismauern einen Paketerlaubnisschein fälschen zu lassen und so in den Genuss eines zusätzlichen Paketes zu kommen.1346 Und sogar kunstvoll präparierte Walnüsse dienten nach­ weislich als Transportbehältnis für Gegenstände und Kassiber.1347 In politischer Absicht gelang Gefangenen mitunter sogar die Kontaktaufnahme mit westlichen Gefangenenhilfsorganisationen. So vermochten Häftlinge der Arbeitseinsatzbetriebe immer wieder, unter Mithilfe von Beschäftigten dieser

1341  Vgl. u. a. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 631. 1342  Vgl. Information [der K I] über einige Zustände im Strafvollzug Brandenburg vom 20.6.1974; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. 2, Bl. 240 f. 1343  Vgl. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 614/79; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 613/79. 1344  Vgl. Schreiben der Abteilung VII [der BV Potsdam] vom 14.10.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 74 f. Siehe auch Kallinich, Joachim; Pasquale, Sylvia de (Hg.): Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR (Kataloge. Museumsstiftung Post und Telekommunikation, 13). Heidelberg 2002. 1345  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 2015/88. 1346  Siehe Kapitel 4.2.9. 1347  Vgl. Information [der HA VII/8] über unerlaubte Verbindungen von Strafgefangenen vom 19.8.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 390/79, Bl. 2–12.

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Betriebe Post aus der Haftanstalt hinauszuschmuggeln.1348 Andere Insassen konn­ten über Briefe an ostdeutsche Familienangehörige Nachrichten in den Wes­ ten lancieren, sofern die Post nur oberflächlich zensiert wurde.1349 Der spä­tere Fluchthelfer Wolfgang Welsch vermochte Anfang 1970 einen Kassi­ber bis nach England zu Amnesty International zu lotsen.1350 Andere In­sassen hofften, einen der Anstaltspfarrer für das Ausschleusen von Briefen gewinnen zu können1351 oder versteckten Nachrichten in Gegenständen, die in Brandenburg-Görden her­ ge­stellt und in die DDR oder gar in den Westen ausgeliefert wurden.1352 Der sicherste Weg zum Ausschleusen von Infor­ma­tionen bis in den Westen war je­ doch, freigekaufte Häftlinge rechtzeitig zu instruieren. Sie wurden dann oft­ mals beauftragt, Familienmitgliedern oder Freun­den im Westen das wirkliche Befinden der Inhaftierten mitzuteilen, sich für ihre Leidensgefährten öffentlich oder hinter den Kulissen einzusetzen, die Haft­bedingungen anzuprangern oder sogar Psychogramme der Aufseher zu formulieren. Um den Vollzug dieser Auf­ ga­ben mitzuteilen, wurden dann bei­spielsweise Postkarten unverfänglichen In­ halts mit einem Blumenmotiv als Er­kennungsmerkmal an die ehemaligen Haft­ kameraden geschickt, denn un­ver­däch­tige Karten wurden gelegentlich an die Häftlinge ausgehändigt, obwohl sie aus dem Westen kamen.1353 Mit viel Fantasie versuchten Gefangene, auf den unterschiedlichsten Wegen je­ne In­formationen mitzuteilen, die in Briefen zensiert worden wären oder zum Ab­bruch von Besuchen Familienangehöriger geführt hätten (siehe Kap. 3.3.1 und 3.3.2). So wurden Kassiber beispielsweise in Aluminiumfolie gewickelt, am Körper ver­steckt und bei den Besuchen heimlich übergeben, sofern die Überwachung durch die beiwohnenden Aufseher dies zuließ. Wer von den Gefangenen vor den »Spre­chern« besonders intensiv durchsucht wurde, konnte oftmals weniger akri­bisch kon­trol­lierte Mitinsassen zum Transport der Nachrichten überreden.1354 Auch 1348  Vgl. Protokoll des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg über die Auswertung des durchgeführten Kontrolleinsatzes einer Kontrollgruppe der Verwaltung Strafvollzug vom 14.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 45–64. 1349  Vgl. Monatsbericht der OPG der Abteilung VII für den Zeitraum August/September 1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 2, Bl. 335–346. 1350  Vgl. Welsch: Staatsfeind Nr. 1, S. 168. 1351  Vgl. Treffbericht der Abteilung VII mit dem IMS »Stein« vom 12.12.1973; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1824/81, T. II, Bd. 1, Bl. 92–94 (MfS-Pag.). 1352  In einem Fall handelte es sich um einen sehr geschickt formulierten Appell an das Gewissen des Käufers eines Spielwarenartikels. Einer der beiden Verfasser bekam es dann jedoch mit der Angst vor Bestrafung zu tun und offenbarte sich der Staatssicherheit. Vgl. Fernschreiben der BDVP Potsdam vom 30.12.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 707, Bl. 292 f. 1353  Vgl. Information der Abteilung 2 der Hauptabteilung VII vom 14.4.1983; BStU, MfS, AIM, Nr. 9024/91, Beiakte, Bl. 16. 1354  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Walter Müller am 8.4.2001 in Chemnitz, 4 S. Siehe auch Schmidt; Weischer: Zorn und Trauer, S. 191 u. 199.

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Geld­scheine wurden, in Kaugummi versteckt, bei den Besuchen übergeben.1355 Ein namentlich nicht bekannter Insasse Brandenburg-Gördens entwickelte einen be­sonders raffinierten Plan und forderte seine Mutter in einem Kassiber auf, zwei Paar schwarze Schuhe zu kaufen. »Ein Paar sollte sie dem Strafgefange­nen schicken, bei dem zweiten Paar sollte sie die Absätze aushöhlen und Uhren hin­ ein­legen. Dieses Paar sollte die Schwester des Strafgefangenen beim näch­sten ›Spre­cher‹ tragen. Beim ›Sprecher‹ war vorgesehen, die Schuhe [unter dem Tisch] zwi­schen dem Strafgefangenen und der Schwester auszutauschen.«1356 Eine Zeitlang diente ferner der Abfalleimer in der Toilette des Besucherbereichs in Brandenburg-Görden als eine Art Toter Briefkasten. Denn hier konnten tags­ über Familienangehörige Gegenstände deponieren, während abends Kalfaktoren die Abfalleimer leerten, während ihrer Putzarbeiten so kaum überwacht wurden und für die Weitergabe der Objekte an die eigentlichen Empfänger sorgen konn­ ten.1357 Einen sicheren Weg zum Ausschleusen von Informationen fanden im Juli 1977 drei politische Häftlinge, die eine Liste mit 43 ausreisewilligen Häftlingen übermitteln konnten. Dies geschah sowohl durch mündliche Übermittlung an mehrere Familienangehörige bei deren Besuchen sowie durch Kassiber. Letztere wurden teilweise durch einen mit Westgeld bestochenen Aufseher aus der Haft­ anstalt transportiert, teils auf einem besonders ausgeklügelten Wege über die HO-Verkaufsstelle der Haftanstalt. In diesem Fall bat ein Häftling bei einem »Sprecher« seinen Besucher, ihm beim nächsten Besuch eine bestimmte Sorte Schokolade mitzubringen. Der Häftling übergab dann einem in der Verkaufsstelle der Haftanstalt beschäftigten Kalfaktor einen Kassiber und instruierte ihn, das kleine Schriftstück in einer bestimmten Packung Schokolade zwischen Silberfolie und Kartonverpackung zu verstecken. Als dann der Besucher, unmittelbar vor dem Besuch, eine Tafel Schokolade in der Verkaufsstelle verlangte, wurde ihm jene Tafel übergeben, die den Kassiber enthielt. Der Häftling aß während des Besuches einen Teil der Schokolade, und der Besucher nahm den Rest der Packung mitsamt dem Kassiber mit nach Hause. Eine Übergabe solcher kleiner Geschenke (wie Schokolade) bei den »Sprechern« war in den Achtzigerjahren erlaubt; die Aufseher verzichteten weitgehend auf eine Kontrolle, wenn diese Geschenke erst in der Haftanstalt erworben wurden.1358 Aufgrund solcher illegaler Verbindungsaufnahmen wurde 1989 ein krimineller Häftling von der Staatssicherheit in einem Operativen Vorgang bearbeitet. Er hatte einen Kassiber an seine Frau übergeben können, weil er sie beim Besuch ausnahmsweise hatte küssen dürfen. Auch in genehmigten Briefen hatte er sie 1355  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 46, Bd. 2, Bl. 33. 1356  Vgl. Information [der HA VII/8] über unerlaubte Verbindungen von Strafgefangenen vom 19.8.1979; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 390/79, Bl. 2–12. 1357  Vgl. u. a. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 1, Bl. 140. 1358  Vgl. Information der Abteilung 2 der Hauptabteilung VII vom 14.4.1983; BStU, MfS, AIM, Nr. 9024/91, Beiakte, Bl. 16.

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mittels Geheimschrift darüber informiert, wer die Spitzel unter seinen Mitinsassen waren, und sie aufgefordert, ihren Ausreiseantrag aufrechtzuerhalten und den Fall öffentlich zu machen. Auf Veranlassung der Geheimpolizei wurden daraufhin alle freigekauften Insassen vor Verlassen der Haftanstalt besonders intensiv auf Kassiber hin untersucht und die Aufseher instruiert, die Besuche seiner Frau nur dann abzubrechen, wenn tatsächlich ein Kassiber übergeben wurde, um den Häftling in Sicherheit zu wiegen.1359 Die Verfasser solcher politischen Appelle an die »freie Welt« wurden vielfach auch durch die Häftlings-IM an die Staatssicherheit gemeldet.1360 Diese ließ die Gefangenen dann mitunter eben­ falls zunächst gewähren, um sie intensiv beobachten zu können1361 und warb Mitarbeiter der Arbeitseinsatzbetriebe teilweise überhaupt nur deswegen als Spitzel an, um durch sie den Kassiberschmuggel überwachen zu können.1362 Die Gefangenen bemühten sich nicht nur um das Ausschleusen von Informa­ tionen, sondern versuchten auch, ungefilterte Informationen »von draußen« zu erhalten. Haftentlassene präparierten zu diesem Zweck beispielsweise Bild­ postkarten, deren Karton vom Foto getrennt, beschriftet und so unauffällig wieder verschlossen wurde, dass dies bei der Postkontrolle nicht auffiel.1363 Beson­ ders wichtig war den (politischen) Gefangenen jedoch der Zugang zur freien Berichterstattung des Westens. Zu diesem Zweck fertigten einige entsprechend befähigte Insassen aus eingeschmuggelten Bauteilen kleine Transistorradios1364 und verkauften diese gewinnbringend an ihre Mitinsassen. Schon Mitte der Sechzigerjahre wurden regelmäßig »selbst gebaute Radioapparate« sicher­ge­ stellt.1365 Die Geräte, teilweise nur so groß wie eine Streichholzschachtel, kosteten zuletzt je nach Qualität zwischen 80 und 180 Mark. Die benötigten Bauteile und andere verbotene Gegenstände wurden meist über die Arbeitseinsatzbetriebe und 1359  Außerdem setzte der Mielke-Apparat einen Häftlings-IM auf ihn an und instruierte diesen, ebenfalls einen Kassiber an seine eigenen Familienangehörigen zu schreiben, damit der Häftlings-IM das Vertrauen des operativ bearbeiteten Mitinsassen würde gewinnen können. Vgl. Operativplan der Operativgruppe zum OV »Zaun« vom 11.1.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 631, Bl. 250–253. 1360  Vgl. [Handschriftliche] Protestnote gegen die menschenunwürdigen Behandlungen im Strafvollzug der DDR vom 16.3.1987; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 120/89, Bd. 3, Bl. 193–198 (MfS-Pag.). 1361  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 2015/88. 1362  Vorschlag der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII zur Werbung des Kandidaten vom 7.5.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 240, Bd. 1, Bl. 138–144. 1363  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 1364  Natürlich waren nicht nur Nachrichtensendungen beliebt; auch die abendlichen Hörspiele des SFB beispielsweise wurden über Miniaturradios gehört und durch Mund-zu-Mund-Propaganda unter den Gefangenen verbreitet. Vgl. Abschrift aus dem Treffbericht IMB »Löter« vom 16.3.1987; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 120/89, Bd. III, Bl. 191 f. (MfS-Pag.). 1365  Seinerzeit waren es drei Geräte in einem Zeitraum von sechs Monaten. Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, KS II, Nr. 44/66, Bl. 239.

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deren Außenlager auf dem Gelände der Haftanstalt eingeschleust. Denn etwa die Kraftfahrer dieser Betriebe waren gegen Bezahlung gern bereit, die gewünschten Waren einzuführen.1366 Von den Außenlagern wurden die Gegenstände dann in die unübersichtlichen Werkhallen geschmuggelt, in denen die Häftlinge arbeiteten. Zudem hatten die bei den Kontaktbauelementen Luckenwalde (KBL) eingesetzten Häftlinge selbst Zugriff auf elektrotechnische Bauteile. Trotz strengster Kontrollen wurden die Radios sogar in die Zellen transportiert – allerdings waren die Risiken hierbei hoch. Um die Geräte zu verstecken wurden beispielsweise im Fußboden Hohlräume geschaffen, die mit Gipsplatten millimetergenau abgedeckt und mit Bohnerwachs unkenntlich gemacht wurden. Eine andere Möglichkeit war, Regalbretter von hinten auszuhöhlen und mit einer Holzleiste wieder zu ver­ schließen; ähnlich wurde mit Tischplatten oder Waschbecken verfahren.1367 Ferner wurden Löcher im Mauerwerk mit zerkautem Brotteig überdeckt und mit Zahnpasta übermalt.1368 Und sogar die Polsterwatte der Kopfkissen, nach dem Öffnen wieder akkurat zugenäht, diente als Versteck für die Miniaturradios. Mitnichten handelte es sich bei dem Einschmuggeln der Radios um Einzel­ fälle – so wurden 1986 binnen vier Monaten 141 Geräte konfisziert.1369 Weil die Radios ohnehin nicht zu verhindern waren, sahen einige Aufseher über die Geräte sogar gnädig hinweg, wenn sie sie entdeckten.1370 Ein Aufseher erlaubte einem Kalfaktor sogar, bereits konfiszierte Geräte wieder an sich zu nehmen.1371 In der Regel versuchten Aufseher, Kriminalpolizei und Staatssicherheit natür­ lich, die Radiogeräte aufzuspüren und den schwunghaften Handel mit ihnen zu unterbinden, doch blieb dies ohne nachhaltigen Erfolg.1372 Auch der »ver­ stärkte Einsatz« der Durchsuchungsgruppe »in den Nachtstunden und an den Wochenenden«1373 brachte nur kurzzeitige Abhilfe und die groß angelegten Durchsuchungsaktionen verärgerten die Gefangenen, weil die Zellen durch die Aufseher regelrecht verwüstet wurden.1374 Als »Gegenmaßnahme« bastelten Häftlinge eines Arbeitseinsatzbetriebes sogar eine Alarmanlage, mit der die 1366  Vgl. Befragungsprotokoll des Bürgers [betr. seine Hafterfahrungen in BrandenburgGörden] vom 11.9.1980; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 517/80, Bl. 1–14. 1367  Vgl. Befragungsprotokoll des Bürgers [...] [betr. seine Hafterfahrungen in BrandenburgGörden] vom 11.9.1980; ebenda, Bl. 1–14; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag. 1368  Vgl. Befragungsprotokoll eines ehemaligen Insassen der Haftanstalt Brandenburg vom 27.6.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 27–37. 1369  Vgl. Schreiben der Abteilung VII [der BV Potsdam] vom 14.10.1986; ebenda, Bl. 74 f. 1370  Vgl. u. a. Hiller: Sturz in die Freiheit, S. 306. 1371  Vgl. Abschlussbericht der Abteilung VII/OPG zur operativen Personenkontrolle »Start« vom 15.7.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 705, Bl. 424–428. 1372  Vgl. Schmidt: Leerjahre, S. 489–500. 1373  Kontrollbericht der Abteilung Strafvollzug der BDVP Potsdam betr. StVE Brandenburg vom 15.3.1985; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/524. 1374  Vgl. Ergänzungsmeldung der HA VII/8 vom 1.11.1986; BStU, MfS, Arbeitsbereich Neiber, Nr. 226, Bl. 11 f.

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Gefangenen im vorderen Teil der Werkstatt ihre Mitgefangenen im hinteren Teil rechtzeitig vor der Durchsuchungsgruppe warnen konnten.1375 Letztlich waren Bau und Betrieb der Radios kaum zu verhindern, weil Brandenburg-Görden mit seinen riesigen Werkhallen gute Chancen hierfür bot.1376 Filzungen führten daher nie­ mals zum völligen Verschwinden der Radios, sondern allenfalls zu Wucherpreisen auf dem Schwarzmarkt. An dem Handel beteiligte sich in einem Ausnahmefall sogar ein Mitarbeiter der Arbeitsrichtung I/4 der Kriminalpolizei; er überließ seinen Zuträgern konfiszierte Radios zum gewinnbringenden Weiterverkauf, um so deren Spitzeldienste zu honorieren.1377 Der illegale Radioempfang hatte in Brandenburg-Görden eine derartige Eigengesetzlichkeit entwickelt, dass diese in geringem Maße bereits in den Repressionsapparat zurückwirkte und diesem die Aussichtslosigkeit seiner Verfolgungsmaßnahmen in diesem Feld gewahr werden ließ. Aufgrund der mangelhaften Erfolge der Durchsuchungsgruppe hielt die Staats­ sicherheit nach einem »eleganteren« Weg zum Unterbinden des Radio­empfangs Ausschau und wollte in den Jahren 1983/84 eine Art Störsender einrichten. Das Vorhaben scheiterte zunächst, weil drei von der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) im Westen beschaffte Geräte den Rundfunkempfang auch außerhalb der Gefängnismauern beeinträchtigten. Über die nötigen Bauelemente zur Produktion eigener Störsender verfügte die DDR seinerzeit nicht.1378 Erst Ende 1986 bzw. Anfang 1987 unternahm der Mielke-Apparat neue Anstrengungen.1379 Zum Einsatz kam nun der quarzgesteuerte Funktionsgenerator TR 466 aus ungarischer Produktion, der über die Zentralheizung Hochfrequenzimpulse in alle Zellen mit Heizkörpern abgab. Aus einigen erfolgreichen Experimenten zog man den Schluss, dass der Einbau von acht bis zehn Funktionsgeneratoren den Mittelwellenempfang in Brandenburg-Görden unterdrücken könne. Diese technische Maßnahme wollte sich der Mielke-Apparat immerhin die Summe von 150 000 bis 200 000 Mark kosten lassen.1380 Im Sommer 1989 wurde dann die Anlage eingebaut, doch aus technischen Gründen wurde der Radioempfang im Mittelwellen-, nicht

1375  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 282, Bd. 2, Bl. 83. 1376  Ein Gefangener wird mit den Worten zitiert: »Bei der Hektik in Brandenburg ist mehr möglich als in anderen StVE.« Bericht des Leiters der StVE Brandenburg vom 18.3.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 141. 1377  Vgl. Monatsbericht der OPG der Abteilung VII vom Februar 1989 vom 3.3.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 774, Bl. 132–142. 1378  Vgl. Vermerk der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über eine Absprache zu Möglich­ keiten der Störung des Empfangs gegnerischer Rundfunkstationen vom 20.11.1986; BStU, MfS, HA VII, Nr. 911, Bl. 354. 1379  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 1, Bl. 94. 1380  Vgl. Vorschlag des Leiters der Hauptabteilung VII zur Durchführung operativ-technischer Maßnahmen zur Störung des Mittelwellenempfangs von April 1987; BStU, MfS, Arbeitsbereich Neiber, Nr. 635, Bl. 300–302.

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aber im Ultrakurzwellenbereich beeinträchtigt.1381 Da zudem die Stimmung der Häftlinge stark litt (und vermutlich die Arbeitsleistungen sanken), wurde der Funktionsgenerator nicht auf Dauer in Betrieb genommen, verblieb aber in der Haftanstalt.1382 Darüber hinaus gelang es Häftlingen sogar mitunter, westliche Fernseh­ sendungen zu verfolgen, indem sie die vorhandenen Fernsehgeräte entsprechend manipulierten.1383 Einem Spitzel in ihrer Mitte hatten die Häftlinge dann je­ doch das Ende der erweiterten Programmauswahl, ihre Versetzung in andere Arbeitsbetriebe und eine nicht näher genannte Disziplinarstrafe zu verdanken.1384 Einige Gefangene berichten ferner, es habe zeitweise sogar eine Funkanlage gegeben, mit der beim abendlichen Schichtwechsel kurzzeitig in den Westen habe gefunkt werden können,1385 doch konnte die eigens angerückte Funkaufklärung der Staatssicherheit dies nicht bestätigen.1386 Die Häftlinge, die bei den »Spre­ chern« systematisch belauscht wurden, planten in einem Fall sogar, den Spieß umzudrehen und ihrerseits die Aufseher abzuhören. Dazu wollten sie jene Ra­ dios aus den Dienstzimmern der Aufseher entsprechend präparieren, die ihnen gelegentlich zur Reparatur überlassen wurden. Da etliche Gefangene über aus­ge­ zeichnete Kenntnisse der Elektrotechnik verfügten, galten entsprechende Manipu­ lationen als möglich – weswegen die Staatssicherheit das Reparieren von Radios durch die Insassen gänzlich untersagen wollte.1387 3.4.9 Materielle und andere Bedürfnisse Der Konsum von Alkohol oder auch die Befriedigung sexueller Bedürfnisse war im Strafvollzug der DDR selbstverständlich streng untersagt. Entsprechende Regel­ verstöße waren nicht politisch motiviert, ereigneten sich jedoch so zahlreich, dass sie als weitere Variante nonkonformen Verhaltens Erwähnung finden müssen. So gab es beispielsweise die Möglichkeit, in den unübersichtlichen Werk­hal­ len sogenannten Brotwein gären zu lassen und zu konsumieren. Als Grund­ 1381  Vgl. Abschrift des Schreiben des Leiters der StVE Brandenburg an den Leiter der Verwal­ tung Strafvollzug Lustik vom 10.5.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 79, Bl. 298 f. 1382  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 79. 1383  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 2, Bl. 274. 1384  Vgl. Kriminalpolizei der BDVP Potsdam: Information zur Lage beim Außenarbeits­ kommando vom 3.9.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 196–198. 1385  Vgl. Bericht des Leiters der StVE Brandenburg vom 18.3.1988; ebenda, Bl. 141. Siehe auch BStU, MfS, AOP, Nr. 5191/86, Bd. 10, Bl. 3–5. 1386  Vgl. Vorschlag des Leiters der Hauptabteilung VII zur Durchführung operativ-technischer Maßnahmen zur Störung des Mittelwellenempfangs von April 1987; BStU, MfS, Arbeitsbereich Neiber, Nr. 635, Bl. 300–302. 1387  Vgl. Monatsbericht der OPG der Abteilung VII von Oktober 1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 744, Bd. 1, Bl. 149–157.

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lage dienten auch Obstkonserven und Zuckersirup.1388 Teilweise wurde auch »V 19«-Farbverdünner oder Löttinktur getrunken; durch übermäßigen Konsum solcher Farbverdünner starb im Februar 1963 sogar ein Häftling, der wegen Mordes verurteilt war.1389 Zwei Jahre später wurde in der Elektrowerkstatt der Getriebewerke Brandenburg ein Destillierapparat entdeckt,1390 weswegen in Brandenburg-Görden neben »recht primitiven, gegorenen Säften« auch »gebrannter Schnaps« für den »verwöhnten Geschmack« erhältlich war, wie ein Kalfaktor betonte.1391 Einige Häftlinge, die über Einfluss und entsprechende Verbindungen verfügten, konnten sogar gelegentlich »Rex«-Dosenbier, echten Wodka1392 und zweifach gebrannten Schnaps1393 einschmuggeln. Alkohol­konsum wurde streng bestraft, benahmen sich die Gefangenen doch »im Zustand der Trunkenheit […] undiszipliniert und provokatorisch« gegenüber den Aufsehern. In solchen Fällen wurden die Betreffenden »sofort isoliert und nach ihrer Ausnüchterung disziplinarisch zur Verantwortung gezogen«.1394 Die Farbverdünner sollten deshalb präventiv unter sicherem Verschluss gehalten werden.1395 Vier sturztrunkenen Häftlingen verkündete Gefängnisleiter Papenfuß im Herbst 1987 sogar persönlich, dass ihre Amnestierung rückgängig gemacht werde.1396 Trotzdem fand Alkohol bei den Insassen reißenden Absatz, weil im kurzzeitigen Rauschzustand das Schicksal der Inhaftierung leichter zu ertragen war. Bereits im Jahre 1964 wurde ein 25 Liter fassender Ballon mit »Wein« sichergestellt.1397 In den Folgejahren vervielfachte sich die Produktion, sodass an einem einzigen Tag im Oktober 1978 nicht weniger als 600 Liter Obstwein angesetzt wurden.1398 Die wachsende Zahl von Konsumenten führte dazu, dass bei Razzien im Herbst 1982 binnen acht Wochen 1 736 Liter »alkoholähnliche Substanzen« sicher­gestellt wurden. Trotz verstärkter Kontrollen hätten die Häftlinge »immer wieder die Möglichkeit, 1388  Vgl. u. a. Koop: Karl-Heinz Rutsch, S. 115. 1389  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/684. 1390  Disposition des 1. Stellvertreters der StVA Brandenburg zur Durchsetzung der neuen vorläufigen SVO vom 6.12.1965; BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 5–27. 1391  [Bericht des GI] »Stockhaus« betr. Herstellung von alkoholischen Getränken vom 17.5.1965; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2140/81, T. II, Bd. 1, TB IV, Bl. 166 f (MfS-Pag.). 1392  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam Abt. VII, Nr. 318, Bd. 2, Bl. 84. 1393  Vgl. Auszug aus Treffbericht mit dem FIM »Hubert« vom 13.11.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 46, Teil II, Bd. 2, Bl. 353. 1394  1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung der Durchsetzung der §§ 19 und 20 der 1. DB zum SVWG vom 9.12.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 65–69. 1395  Vgl. 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung über den Stand der Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte bei der Lösung der Aufgaben des SV entsprechend der §§ 19 und 20 der 1. DB zum SVWG vom 14.12.1970; ebenda, Bl. 30–36. 1396  Vgl. Auszug aus Treffbericht [mit dem] IMB »Eiche« vom 20.8.1987; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 223, Bl. 39. 1397  Vgl. [Bericht des GI »Stockhaus«] betr. Kontrolle der E-Werkstatt vom 27.7.1964; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2140/81, T. II, Bd. 1, TB II, Bl. 44 (MfS-Pag.). 1398  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 620.

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diese Substanzen anzusetzen«, wie die Gefängnisleitung ein­gestehen musste.1399 Dass 1984 ein speziell ausgebildeter Alkoholsuchhund angeschafft wurde,1400 änderte auch nicht sehr viel, denn die von ihm binnen sechs Monaten aufgespürten 80 Liter machten nur einen kleinen Teil dessen aus, was fortwährend innerhalb der Gefängnismauern produziert wurde.1401 Von Jahresbeginn bis Ende August 1989 wurden jedenfalls auf verschiedene Art und Weise wieder 3 023 Liter entdeckt.1402 Auch ein weiteres Destilliergerät wurde im Juli 1988 sichergestellt.1403 Da es in vielen anderen Haftanstalten ähnlich aussah, konsumierte einer wissenschaftlichen Studie zufolge fast jeder zweite Gefangene in der DDR täglich Alkohol.1404 Die oberste Gefängnisverwaltung vermutete, dass jeder fünfte männliche Häftling sogar alkoholabhängig war.1405 Aus Schwarz­tee ließ sich durch mehrmaliges, starkes Einkochen eine Art Rauschmittel ge­winnen.1406 Selbst Tabletten wie Faustan, im Häftlingsjargon etwas übertrieben als Psychopharmakum bezeichnet, wurden in den Achtzigerjahren in Brandenburg-Görden gehandelt.1407 Teilweise umfassten illegale Lieferungen Hunderte von Tabletten – worunter sich allerdings auch unwirksame, selbst gefertigte Imitate befanden.1408 So florierte besonders in den Achtzigerjahren ein beachtlicher Schwarzmarkt für Genussmittel und Gebrauchsgegenstände. Besonders begehrt waren außer der erwähnten Radios und Alkoholika auch Tee, Bohnenkaffee, Quarzuhren, Bargeld aus beiden deutschen Staaten sowie bundesdeutsche Zeitschriften.1409 Dabei stand Lektüre aus dem Westen bei den Gefangenen besonders hoch im Kurs – vermutlich ebenso wegen ihrer exotischen Herkunft aus der freien Welt wie auch aufgrund der gelegentlich enthaltenen Abbildungen leicht bekleideter Frauen. Durch die ungenügende Kontrolle eines Paketes konnten die Häftlinge 1399  Lageeinschätzung des Stellv. Operativ der StVE Brandenburg für den Monat Oktober vom 10.11.1982; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/764. 1400  Berichterstattung des Leiters der StVE Brandenburg über die schöpferische Initiative der StVE Brandenburg vom 6.6.1985; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/524. 1401  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 2. Halbjahr 1987 vom 14.1.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 1402  Vorlage der Abteilung VII zur Leitungssitzung in der Abteilung vom 11.9.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 818, Bl. 83–100. 1403  Vgl. Abschrift aus Treffbericht IMS »Zahnrad« vom 4.7.1988; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 845, Bl. 44. 1404  Vgl. Krause; Mager: Infektionen mit dem Humanen Immundefizienzvirus bei Straf­ gefangenen, S. 81. 1405  Vgl. Treffbericht des IME »Erwin« vom 25.2.1989; BStU, MfS, AIM, Nr. 12256/89, Bd. 2, Bl. 342–347. 1406  Vgl. für Bautzen I: Heidenreich: Aufruhr, S. 26. 1407  Vgl. [Bericht des] IM »Subeck« vom 8.2.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1212/86, Teil II, Bd. 1, Bl. 94 (MfS-Pag.). 1408  Vgl. Treffbericht des IM »Subeck« vom 11.11.1985; ebenda, Bl. 205–208 (MfS-Pag.). 1409  Vgl. Information über Verstöße gegen die Hausordnung durch Inhaftierte der StVE Brandenburg vom 20.5.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 19–22.

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im März 1988 beispielsweise fünf Exemplare des »Stern-TV-Magazins« lesen.1410 Einige privilegierte Häftlinge konnten sich sogar zu horrenden Preisen mit ein­ geschmuggelter pornographischer Literatur versorgen.1411 Auch schmuggelten auf dem Gelände der Haftanstalt beschäftigte Handwerker Kartenspiele mit »obszö­ nen Bil­dern« ein.1412 Organisiert wurde der Handel oft durch Kriminelle, die in der infor­mellen Häftlingshierarchie weit oben standen und sich auf jene Mitinsassen stützten, die in den Arbeitseinsatzbetrieben regelmäßig mit den Angestellten dieser Betriebe zusammenkamen. Diese Beschäftigten ließen sich dann bezahlen oder nahmen, als Gegenleistung, von den Gefangenen gefertigte Geschenkartikel wie Messingteller, Brieföffner oder Räuchermännchen entgegen.1413 Unter den Bedingungen der Haft war es nicht nur schwierig, sich materielle Wünsche zu erfüllen, sondern insbesondere auch sexuelle Bedürfnisse zu befrie­ digen. Sequentielle Homosexualität, im Häftlingsjargon »knastschwul« bzw. teils »Spannerschaft« genannt, war in der Haftanstalt Brandenburg-Görden wohl besonders häufig, da hier die Strafmaße sehr hoch lagen und Sexualpartner des anderen Geschlechts deswegen lange Jahre nicht zur Verfügung standen. Schon in den Fünfzigerjahren flirteten viele (sequentiell aktive) Homosexuelle regelrecht miteinander und sprachen sich mit Mädchennamen an.1414 Stellten die Aufseher seinerzeit homosexuelle Handlungen fest, wurden den Betreffenden beispielsweise zur Strafe für drei Monate sämtliche Vergünstigungen entzogen.1415 Auch Gefan­ ge­nen­brigadiere versuchten in den Sechzigerjahren, homosexuelle Hand­lungen der Mithäftlinge zu verhindern, was schwere körperliche Auseinander­set­zungen zur Folge haben konnte.1416 Entsprechend dem allgemeinen Wandel der gesellschaftlichen Normen zeig­ ten die Insassen in den späteren Jahren immer weniger Hemmungen, ihren Neigungen nachzugehen; jedenfalls fand sequentielle Homosexualität immer häufiger Niederschlag in den Akten. Die Aufseher waren zwar im Bilde, schauten jetzt aber aus Gleichgültigkeit meist weg.1417 Ehemalige Insassen schätzen gar, 1410  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag. 1411  Vgl. u. a. Auszug aus dem Treffbericht mit dem IMS »Dreher« vom 29.9.1986; BStU, MfS, BV Potsdam Vorl. A, Nr. 100/88, Bl. 202; Aussprachebericht der OPG der Abt. VII vom 9.9.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 1432, Bl. 277. 1412  Vgl. [Bericht des GI] »Stockhaus« betr. Einschleusung pornographischer Bilder vom 2.1.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2140/81, T. II, Bd. 2, TB II, Bl. 88 (MfS-Pag.). 1413  Vgl. Information über Verstöße gegen die Hausordnung durch Inhaftierte der StVE Brandenburg vom 20.5.1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 19–22. 1414  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling HansEberhard Zahn am 29.6.2001 in Berlin, 4 S.; Pfeiffer: Lebenslänglich, S. 126 u. 137. 1415  Vgl. Beurteilung des Strafgefangenen [...] durch die StVA Brandenburg vom 12.10.1960; BStU, MfS, AS, Nr. 137/63, Bd. 1, Bl. 149 f. 1416  Vgl. u. a. Bericht des GI »Erna« vom 7.2.1965; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1636/65, Bl. 19 f. 1417  Vgl. Lolland; Rödiger (Hg.): Gesicht zur Wand, S. 143.

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dass sich zuletzt 30 bis 40 Prozent der männlichen Insassen entsprechend betä­ tigten.1418 Dies konnte im Rahmen regelrechter Prostitution, Vergewaltigung oder aber Liebesbeziehungen geschehen,1419 und sogar »Hochzeiten« wurden gelegentlich gefeiert.1420 Denn teilweise erwuchs echte zwischenmenschliche Zuneigung in dem gemeinsam durchlebten Haftschicksal, während in anderen Fällen Ausbeutung und Abhängigkeit im Spiel waren. Eine wichtige Funktion hatten dabei jene Häftlinge, die für ihre sexuellen Dienstleistungen Honorare kassierten oder mit Lebensmitteln entlohnt wurden. Bezahlen ließen sich auch bestimmte Kalfaktoren, die zwei Häftlingen aus unterschiedlichen Stationen eine ungestörte Zusammenkunft ermöglichten. Lagen die Betreffenden in der gleichen Zelle oder arbeiteten sie im gleichen Betrieb, war die Triebbefriedigung leichter möglich, sofern sie sich durch die Anwesenheit der Mitinsassen nicht stören ließen.1421 Auch in Hoheneck inhaftierte Frauen suchten teils in ähnlicher Weise in stabilen Beziehungen emotionale Stabilität und sexuelle Befriedigung durch gleichgeschlechtliche Partnerinnen.1422 3.4.10 Übergriffe unter den Insassen Von der Drangsalierung durch die Aufseher abgesehen trug zu den harten Haft­ bedingungen bei, dass sich die Häftlinge einander oft nicht mit Samthand­ schuhen anfassten. Schlägereien waren etwa in Brandenburg-Görden »an der Tagesordnung. Es gab tausend Gründe, aufeinander loszugehen«, wie ein ehe­ maliger Insasse konstatierte.1423 Anlass solcher Konflikte waren beispielsweise Beschuldigungen wegen Diebstahl,1424 die gewaltsam gesuchte Befriedigung sexueller Bedürfnisse, Rivalitäten um Positionen in der Häftlingsgesellschaft und Meinungsverschiedenheiten jeglicher Art. Die Häufigkeit und Heftigkeit der Anwendung körperlicher Gewalt variierte unter anderem mit der Belegung der Zellen durch kriminelle oder politische Häftlinge – wobei letztere auch keine homogene Gruppe bildeten. Zwar wurden die politischen Gefangenen schon zu Beginn der Fünfzigerjahre teilweise von

1418  Vgl. u. a. Hiller: Sturz in die Freiheit, S. 209–211. 1419  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 335; Fritzsch: »Gesicht zur Wand«, S. 119. 1420  Vgl. Schmidt; Weischer: Zorn und Trauer, S. 195. 1421  Vgl. u. a. Befragungsprotokoll des Bürgers [...] [betr. seine Hafterfahrungen in Branden­ burg-Görden] vom 11.9.1980; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 517/80, Bl. 1–14. Siehe auch Rüddenklau: Versuch einer Lokalisierung. 1422  Vgl. Schönherz, Edda: Die Solistin. Roman einer Frau, die von Deutschland nach Deutschland wollte. Berlin 2012, S. 183. 1423  Hiller: Sturz in die Freiheit, S. 208. 1424  Vgl. u. a. BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 652/83.

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skrupellosen Kriminellen – »Peiniger übelster Sorte«1425 – attackiert.1426 Doch grund­sätzlich war das Verhältnis der beiden Häftlingsgruppen in den ersten Jahren noch weniger problematisch, da die Insassen einander eher respektierten und sich ihre »Delikte« nicht gegenseitig zum Vorwurf machten1427 – gewissermaßen ein Gentleman’s Agreement zwischen politischen Gefangenen und Kriminellen.1428 In den Siebziger- und Achtzigerjahren wuchsen jedoch die Aversionen der Letztge­ nannten gegen die – wie sie sie zum Teil nannten – »Scheiß-Politischen«, auch weil sie ihnen die Möglichkeit, freigekauft zu werden, missgönnten.1429 Allerdings nahmen auch immer wieder einzelne Kriminelle bestimmte politische Gefangene unter ihre Fittiche und schützten sie vor Übergriffen Dritter1430 – sei es aus Mitleid gegenüber den oftmals jüngeren politischen Häftlingen oder um selbst Anschluss an deren Kreise zu finden. Die bis hin zu körperlichen Attacken reichenden Konflikte zwischen den beiden Häftlingsgruppen waren in Brandenburg-Görden schon deswegen wahr­ scheinlich, weil hier die Kriminellen ab Mitte der Sechzigerjahre in der Überzahl waren.1431 Diese wurden von den Aufsehern auch bevorzugt behandelt, was etwa die Besetzung von Kalfaktorenstellen und Vergünstigungen (wie Fernsehen und Lebensmitteleinkauf) betraf.1432 Weil die Aufseher ihnen eher Glauben schenkten, verfügten sie über großen Einfluss in der Häftlingsgesellschaft und nutzten dies auch aus. Diese »Herrschaftsverhältnisse« lagen sehr wohl im Kal­ kül der obersten Strafvollzugsleitung, die wohl kaum zufällig in der Haft­an­ stalt an der Havel besonders überzeugte Gegner des SED-Regimes mit bru­ talen Mördern und Sexualstraftätern zusammensperren ließ (siehe Kap. 4.1.13). Daraus erwachsende Schlägereien und Misshandlungen gingen so weit, dass Knochen- oder Schädelbrüche1433 stationär behandelt werden und die Opfer nach ihrer Genesung zu ihrem eigenen Schutz verlegt werden mussten.1434 Die 1425  Moeller, Peter: ... sie waren noch Schüler. Repressalien, Widerstand, Verfolgung an der John-Brinckmann-Schule in Güstrow 1945–1955. Rostock 1999, S. 46. 1426  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugsund SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 1427  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S.; Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 1428  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling R. L. am 24.7.2001 in Berlin, 5 S.; Fritzsch: »Gesicht zur Wand«, S. 138. 1429  Bericht des IMF »Klaus Schulz« vom 18.10.1978; BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP, Nr. 43/83. 1430  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 334. 1431  Vgl. u. a. Schmidt: Leerjahre, S. 413. 1432  Vgl. Raschka: Zwischen Überwachung und Repression, S. 120. 1433  Vgl. u. a. Information des Dezernats I/4 Potsdam vom 6.4.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, AOG, Nr. 154/86, Bd. I, Bl. 71 f. 1434  Vgl. Information der Operativgruppe der Abteilung VII vom 18.7.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 344, Bd. 2, Bl. 103.

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zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilten Mörder hatten wenig zu verlieren – und ließen sich auch durch drohende zusätzliche Freiheitsstrafen nicht davon abhalten, ihre Interessen und Bedürfnisse mit Gewalt durchzusetzen.1435 Gerade in Brandenburg-Görden blickten einige Insassen auf lange kriminelle Karrieren zurück, die in Kinderheimen begannen und in verschiedenen Haftanstalten ihre Fortsetzung fanden. Dies führte oftmals zu einem völligen Mangel an Vertrauen in die soziale Umwelt und die gesellschaftlichen Institutionen, was sich wiederum in einer Lebenseinstellung ausdrückte, in der nur das (eigene) Recht des Stärkeren zu zählen schien.1436 Selbst die Aufseher konnten vielfach die körperliche Unversehrtheit der In­ sassen nicht garantieren – sofern sie sich überhaupt darum bemühten. Einige ehe­ma­lige politische Häftlinge vermuten sogar, Aufseher und Staats­sicher­heit hätten die kriminellen Insassen zu ihrer Gewaltanwendung angestiftet.1437 Dass streckenweise Faustrecht herrschte, war sicher zum Teil den Umständen der Haft geschuldet, gaben die Häftlinge doch die Repressionen, denen sie selber ausgesetzt waren, vielfach an Schwächere weiter. Einige der Gefangenen emp­ fan­den aber auch wohl unabhängig von diesem Mechanismus eine gewisse Lust daran, die Mitinsassen zu schikanieren, zu vergewaltigen, zu unterjochen oder zu quälen. Im Extremfall kam es vor, dass sich Gefangene der Übergriffe ihrer Mithäftlinge nur durch Suizid glaubten entziehen zu können.1438 Die Staats­ anwälte für Strafvollzugsaufsicht registrierten diese Gewaltverhältnisse inner­ halb der Häftlingsgesellschaft teilweise mit Befremden – weil dadurch die Sicher­ heit der Haftanstalt gefährdet war und jede Resozialisierung obsolet wurde. Kalfaktoren und Brigadiere, so hieß es im Jahre 1963, nützten ihren Einfluss aus, um Mitgefangene zu schikanieren, für vermutete Zuträger und »Zinker« sei das Leben im Gefängnis »unerträglich«.1439 Insbesondere wer als Spitzel galt, lief Gefahr, misshandelt zu werden.1440 Ähnlich schwer hatten es die sogenannten Normenschinder, deren besonders hohe Arbeitsleistungen indirekt dazu führte, dass auch den Mitinsassen ein höheres Arbeitspensum abverlangt wurde; auch sie wurden offenbar drangsaliert – mitunter so sehr, dass sie den Freitod suchten.1441 1435  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Walter Müller am 8.4.2001 in Chemnitz, 4 S. 1436  Vgl. Bericht der OPG zum Treff mit dem IMS »Subeck« vom 31.5.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1212/86, Teil II, Bd. 1, Bl. 227–234 (MfS-Pag.). 1437  Vgl. Raschka: Zwischen Überwachung und Repression, S. 120. Siehe auch Pfarr: Aufarbei­ tung der Misshandlung von Gefangenen, S. 138–141. 1438  Vgl. Bericht des GI »Schwantes« vom 27.2.1958; BStU, MfS, AIM, Nr. 87/62, Bd. 2, Bl. 52. 1439  Bericht des Staatsanwalts für Haftstättenaufsicht Rödel über die Überprüfung der Straf­ vollzugsanstalt Brandenburg vom 5.3.1963; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/390, Bl. 51–55. 1440  Information der OPG zur Überprüfung des Vorkommnisses vom 25.7.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 335, Bl. 179–181. 1441  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Selbstmord eines Häftlings der SVA Brandenburg-Görden vom 1.7.1955; BArch B 289/SA 171/22–19/29.

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In eini­gen Bereichen sollen in den Achtzigerjahren körperlich überlegene Skin­ heads ihre Mitinsassen (etwa durch Vorschusszahlungen auf ausstehende Arbeits­ löhne) in Abhängigkeiten getrieben und letztlich terrorisiert haben. In anderen Fällen bean­standeten Gefangenenbrigadiere die Arbeitsleistung ihrer Mitinsassen, mani­pu­lierten an deren Normerfüllung und sorgten so dafür, dass diese »auf keinen grünen Zweig« kamen.1442 Einige aggressive Schwerkriminelle fühlten sich schon durch die gepflegtere Wortwahl der politischen Häftlinge provoziert, wes­wegen sich diese als Überlebensstrategie absichtlich grobschlächtig äußerten und benahmen.1443 Alles in allem war es für die Gefangenen ratsam, vorsichtig und misstrauisch zu agieren und sich insbesondere in keinerlei Abhängigkeiten zu begeben. Als 1973 die Gewalttätigkeiten unter den Insassen überhandnahmen, sollten die Geschädigten fortan prinzipiell Anzeige wegen Körperverletzung erstatten. Dies führte tatsächlich mehrfach zu neuen Freiheitsstrafen,1444 doch um ein Vielfaches höher dürfte die Zahl derer gewesen sein, die aus Angst vor Vergeltung lieber schwiegen. Mitte der Siebzigerjahre wurden bestimmten Funktionshäftlingen sogar zusätzliche Kompetenzen gegenüber ihren Mitinsassen zugebilligt,1445 was das Faustrecht noch verschärft haben dürfte. In den Jahren 1985/86 wurde dann abermals eine »Zunahme tätlicher Auseinandersetzungen« registriert, was die Gefängnisleitung auf das »Erzwingen von Schuldforderungen aus unerlaubten Geschäften« sowie das »Abbauverlangen von Aggressionen« schob,1446 wohingegen die katastrophalen Haftbedingungen nicht erwähnt wurden. Im Oktober 1985 verstarb sogar ein Häftling an einem Blutgerinnsel. Er wies Kopfverletzungen auf, die wohl aus den Schlägen Mitgefangener resultierten, während offiziell von einem »Sekundenherztod« die Rede war.1447

1442  Vgl. Information der OPG über Aussagen des SG vom 14.8.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 335, Bl. 185. 1443  Vgl. Proksch: Der Pianist. In: Kaiser: Nur raus hier, S. 120–127, hier 125. 1444  Vgl. Stellvertreter für Vollzug der StVA Brandenburg: Einschätzung der Paragraphen 19 und 20 des SVWG vom 6.12.1973; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 165 f. 1445  Vgl. Bericht des Leiters der VSV für die Aussprache vor dem Minister des Innern von Oktober 1975; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 2, Bl. 200–222. 1446  Vgl. [Handschriftlicher] Komplexrapport vom Ltr. StVE an Chef BDVP vom 5.3.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 162–169. 1447  Vgl. Operativinformation der Abteilung VI vom 28.1.1986; BStU, MfS, BV Berlin, AIM, Nr. 2166/91, T. II, Bd. 1, S. 239–241.

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3.4.11 Die Proteste der Gefangenen im Zeichen der friedlichen Revolution Erst in der Phase der friedlichen Revolution von 1989 konnten die Häftlinge ihre Ansichten und Anliegen offen und gefahrlos artikulieren. Schon in der Zeit davor erreichten Vorboten des politischen Umbruchs mit geringer Verzögerung auch die Haftanstalten. So thematisierten beispielsweise politisch interessierte Häftlinge das »Sputnik-Verbot« genauso wie gewöhnliche DDR-Bürger, als die SED-Führung im November 1988 durch die Einfuhrbeschränkung der sowjetischen Reformzeitschrift das Einsickern von Glasnost und Perestroika zu unterbinden versuchte. Indes glaubten die Gefangenen aufgrund ihrer ein­schlägigen Erfahrungen, dass sich das Verbot der sowjetischen Zeitschrift nur auf den Strafvollzug beziehe.1448 Dass sich die Machtverhältnisse im SED-Staat wandeln könnten, wurde in Brandenburg-Görden bereits zu Beginn des Jahres 1989 deutlich. Es gab Hinweise, dass sich die Insassen aufgrund andauernder Versorgungsengpässe bei Tabak und Zigarettenpapier »mit dem Gedanken der Arbeitsniederlegung bzw. einer Meuterei tragen« und sie ihre Arbeitsleistung bereits gedrosselt hatten. Bei nachfolgenden Überprüfungen stellte die Staatssicherheit fest, dass die Gefängnisleitung »den Versorgungsfragen nur ungenügend Rechnung getragen« habe. Tatsächlich nahm sich die Geheimpolizei nun selbst der Angelegenheit an und instruierte die Ge­ fängnisleitung, »geeignete Sofortmaßnahmen zur vorbeugenden Verhin­de­rung der Gefahren« zu ergreifen, »künftig vorausschauender zu arbeiten« und nötigen­falls sogar »die örtlichen Parteiorgane zur Überwindung sich herauskristallisierender Schwerpunkte mit einzuschalten«.1449 Staatspartei und Staatssicherheit wollten jetzt also tatsächlich den Konsuminteressen der Häftlinge entgegenkommen, um Verbitterung oder gar einen Streik der Insassen zu verhindern. Während außerhalb der Haftanstalten eine Welle von Fluchtwilligen die Botschaftsgebäude der Bundesrepublik in den osteuropäischen Hauptstädten besetzte, verstärkte sich die Erwartungshaltung der (politischen) Häftlinge in den Gefängnissen. Gebannt blickten sie auf die politische Entwicklung und äußerten Genugtuung über die heraufziehende Krise des SED-Regimes.1450 Einige Insassen diagnostizierten zutreffend, dass Moskau nicht länger zur Unterstützung der ostdeutschen Machthaber um jeden Preis bereit war.1451 In Anbetracht der 1448  Vgl. Bericht des IM »Bole« o. D. [1988]; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 243, Bd. 2, Bl. 416 f. 1449  Monatsbericht der OPG der Abteilung VII vom Februar 1989 vom 3.3.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 774, Bl. 132–142. Auch in der Haftanstalt Cottbus war Tabak stets zu haben, hätte doch »ein Engpass zur Revolte geführt«. Vgl. Pieper, Bernd: Roter Terror in Cottbus. 17 Monate in den Gefängnissen der DDR. Berlin 1997, S. 139. 1450  Vgl. Auszug aus Treffbericht FIM »Paul« vom 10.8.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 627, Bl. 284. 1451  Vgl. Mündliche Info des ASG »W«, Reg. Nr. 8049/88 vom 12.9.1989; ebenda, Bl. 295 f.

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politischen Entwicklung wollten etwa zehn politische Häftlinge ihre Mitinsassen gar schon zum Jahrestag des Mauerbaus zu einem eintägigen Streik auffordern. Etliche Maschinen in ihren Arbeitseinsatzbetrieben hatten sie bereits mit dem Großbuchstaben »A« versehen, was für ihr Ausreisebegehren stand. Zu der Arbeits­ niederlegung kam es dann aber doch nicht,1452 weil die Staatssicherheit eingriff und einige Häftlinge innerhalb des Gefängnisses verlegen sowie andere in Arrestzellen isolieren ließ – und mit anderen vorbeugende »Gespräche« führte.1453 Ende August startete ein Häftling indes einen mehr als vierzigtägigen Hungerstreik in Brandenburg-Görden, um seine Übersiedlung zu erreichen.1454 Als den Flüchtlingen in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Ende Sep­tem­ ber die Ausreise gestattet wurde, gelangten die inhaftierten Ausreise­willigen zu der Auffassung, »ihnen stünde jetzt das gleiche Recht zu«.1455 Am 2. Oktober boy­ kottierte einer von ihnen Arbeit und Nahrung, um seine Verlegung in eine andere Haftanstalt zu erwirken, doch konnte die Staatssicherheit ihn um­stimmen.1456 Am Folgetag drohten vier Insassen Brandenburg-Gördens mit Hun­ger­streik und beriefen sich ausdrücklich auf die Botschaftsbesetzer in Prag, denen die Ausreise gestattet worden war, während sie selbst weiter im Gefängnis schmachten sollten; entsprechende Schreiben an den Generalstaatsanwalt sowie das Oberste Gericht brachten ihnen Arreststrafen ein. Noch im Tagesverlauf erklärten weitere neun Häftlinge, ab sofort Nahrung und Arbeit zu verweigern.1457 Am 4. Oktober streikten bereits 26 Häftlinge und wollten zum Teil auch nicht mehr essen.1458 Noch konnte die Staatssicherheit einige von ihnen mit Androhung »härterer Konsequenzen« zum Einlenken bewegen.1459 Beflissen notierte die Geheimpolizei, 1452  Vgl. Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Widerstand« vom 3.8.1989; ebenda, Bl. 8–12; Aktenvermerk zur Aussprache mit dem SG [...] vom 2.8.1989; ebenda, Bl. 262–264; Mündliche Info. des ASG »W«, Reg. Nr. 8049/88, vom 12.9.1989; ebenda, Bl. 295 f. 1453  Abschlussbericht der Operativgruppe des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit zum Operativvorgang »Widerstand« vom 5.12.1989; ebenda, Bl. 318 f. 1454  Vgl. Leiter der VA IV der StVA Brandenburg: Einschätzung der gegenwärtigen Lage in der VA IV vom 4.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag., sowie weitere Dokumente in der gleichen Akte. 1455  Information der Abteilung 8 der Hauptabteilung VII über die gegenwärtige operative Lage im Organ Strafvollzug vom 13.10.1989; BStU, MfS, HA VII, Nr. 423, Bl. 73–78. 1456  Vgl. Aktenvermerk des Leiters der OPG Nützel zur Aussprache mit dem SG vom 7.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag.; Information der Abteilung 8 der Haupt­ abteilung VII über operativ bedeutsame Vorkommnisse vom 5.10.1989; BStU, MfS, HA VII, Nr. 423, Bl. 83 f. 1457  Vgl. Bericht der BVfS Potsdam zu Demonstrativhandlungen von Strafgefangenen in der StVE Brandenburg vom 4.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 837, Bl. 14–22. 1458  Vgl. Aktenvermerk des Leiters der OPG Nützel zur Aussprache mit dem SG vom 7.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag.; Information der Abteilung 8 der Haupt­ abteilung VII über operativ bedeutsame Vorkommnisse vom 5.10.1989; BStU, MfS, HA VII, Nr. 423, Bl. 83 f. 1459  Vgl. Ausspracheprotokoll der OPG der Abteilung VII vom 4.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag.

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wenn sie unpolitische Motive hinter den Forderungen vermutete (wie »Faulheit« oder »Schulden« gegenüber Mitgefangenen).1460 Doch schon zwei Tage später befanden sich wieder 39 Insassen im Hungerstreik und boykottierten die Arbeit, von denen insgesamt 13 auch nach »Aussprachen« nicht einlenkten.1461 Bis zum 11. Oktober gelang es der Staatssicherheit dann, die Zahl der Hungerstreikenden auf drei zu reduzieren.1462 Doch dies blieben Pyrrhussiege, denn längst hatte die lebhafte politische Diskussion der Bürger überall in der DDR auch die Häftlinge erfasst.1463 Am 6. Oktober schüttelten ein oder mehrere Insassen ihre Ohnmacht gegenüber den Aufsehern ab und richteten in einem Schreiben Forderungen an die Ge­ fäng­nis­leitung. Von der sich abzeichnenden Veränderung der politischen Macht­ verhältnisse wollten sie profitieren, indem sie ihre Botschaft mit »Neues Forum« unterzeichneten.1464 Wenige Tage später appellierte denn auch ein Mit­glied der »echten« Organisation gleichen Namens aus Zerbst in einem Brief an den Gefängnisleiter Brandenburg-Gördens, für eine menschenwürdigere Unter­brin­gung und bessere Verpflegung zu sorgen.1465 Obwohl Brandenburg-Görden zu diesem Zeitpunkt wieder über eine Untersuchungshaftabteilung verfügte, wurden die am Staatsfeiertag im Bezirk Potsdam Festgenommenen nicht hierher gebracht,1466 weil die Stimmung der Insassen als besonders explosiv galt. Dass eine Einlieferung von Demonstranten tatsächlich zur Solidarisierung der Ge­fangenen und zum »Überschwappen« der Proteste führen konnte, zeigte sich in der Haftanstalt Bautzen I nach Ankunft der Demonstranten vom Dresdener Hauptbahnhof.1467 1460  Vgl. Aktenvermerk zum Gespräch mit dem SG vom 7.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 837, Bl. 72; Aktenvermerk zur erneuten Aussprache mit dem Strafgefangenen vom 11.10.1989; ebenda, Bl. 65. 1461  Vgl. Information des Dezernats I/4 der Kriminalpolizei der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam vom 6.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 835, o. Pag. 1462  Vgl. Lageeinschätzung der OPG zur StVE Brandenburg vom 12.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 836, o. Pag. 1463  Vgl. Leiter der VA IV der StVA Brandenburg: Einschätzung der gegenwärtigen Lage in der VA IV vom 4.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag., sowie weitere Dokumente in der gleichen Akte. 1464  Das besagte Schreiben hatte folgenden Wortlaut: »An den Leiter der Vollzugsabteilung III. Sehr geehrter Herr Leiter! Wenn es Ihnen nichts ausmachen sollte, so lassen Sie doch die Straf­ gefangenen mal in Ruhe und belästigen Sie sie nicht immer. Am 7.10. wird es zu einer größeren ›Demo‹ kommen und es wird die Losung ›Freiheit für alle‹ erfolgen. Noch eins[:] Wo bleibt eigentlich das Fleisch im Mittagessen, oder ist es für Ihre Genossen bestimmt, für einen Grillnachmittag? Wenn nicht bald Änderungen im positiven Sinne erfolgen für alle Inhaftierten, dann wird es zu Gewaltaktionen kommen! Das war nur ein Hinweis für Sie. gez. Neues Forum 4.10.1989.« Information des Dezernats I/4 der Kriminalpolizei der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam vom 6.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 835, o. Pag. 1465  [Protestschreiben eines Mitglieds des Neuen Forums] vom 11.10.1989; ebenda, o. Pag. 1466  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 257, o. Pag. 1467  Vgl. Heidenreich: Aufruhr, S. 60 f.

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Am 17. Oktober 1989 notierte man in Brandenburg-Görden, der Rücktritt des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, habe unter den Häftlingen »allgemein Freude« ausgelöst.1468 Die Erwartungshaltung hinsichtlich einer Amnestie wuchs mit dem Amtsantritt von Egon Krenz;1469 immer deutlicher trauten sich die Insassen der Haftanstalt an der Havel, nun ihre abweichende politische Meinung zu artikulieren.1470 Einen Zeitungsbericht über 60 angeblich »zum Teil schwer verletzte« Volkspolizisten (vermutlich im Zuge von Demonstrationen) versah ein Häftling mit der Randnotiz »zu wenig« und warf sie in den Briefkasten des Gefängnisleiters.1471 Angesichts der allgemeinen Aufregung unter den Inhaftierten, so notierte ein Häftlings-IM, falle es jetzt »ungemein schwer«, noch ungestört Spitzelberichte zu verfassen.1472 Als Egon Krenz am 24. Oktober eine Amnestie verkündete, brachte diese lediglich 60 Insassen Brandenburg-Gördens die Freiheit (siehe Kap. 4.1.20). Die Gefangenen erzürnte zudem, dass die Gefängnisleitung den Dialog offensichtlich verweigerte. Denn aufgrund der vorangegangenen Proteste hatte sie zwar am 31. Oktober Insassen (insbesondere Kalfaktoren) der Vollzugsabteilung II empfan­ gen, Fragen zur Amnestie beantwortet, eine Umgestaltung des Strafvollzugs ange­kündigt und die Gefangenen aufgefordert, Gesetzesverstöße der Aufseher zu melden. Doch wohl aus Furcht vor der möglichen Dynamik dieser Entwicklung wurden dann die Zusammenkünfte untersagt, in denen die Kalfaktoren die übrigen Gefangenen über die Absprachen unterrichten wollten, und strafrechtliche Sanktionen angedroht.1473 Doch die Gewichte zwischen den Gefangenen und ihren Bewachern verschoben sich immer weiter; am Vortag des Mauerfalls protes­ tierte ein Häftling schriftlich gegen die »Degradierung« von Gefangenen »zu Menschen dritter Klasse«. Er forderte die Beseitigung der vielfachen Missstände und eine »konstruktive Erneuerung« im gesamten Gefängniswesen; als Maßstab diente ihm das (bislang nicht eingehaltene) Strafvollzugsgesetz, doch auch die UN-Menschenrechtscharta.1474 Der 9. November brachte den Bürgern außerhalb der Gefängnismauern dann die lang ersehnte Freiheit, den Insassen der Haftanstalten aber keinen unmittel­ baren Vorteil. Zwar veränderten sich die Atmosphäre und das innere Regime in den Haftanstalten dramatisch, doch ging dies vielen Insassen nicht schnell 1468  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 825, Bl. 8. 1469  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 178. 1470  Vgl. Eingabe eines politischen Häftlings aus der StVE Brandenburg an das Ministerium des Innern vom 21.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 623, o. Pag. 1471  Aktenvermerk der OPG vom 17.10.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 835, o. Pag. 1472  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 825, Bl. 8. 1473  Bericht über eine Beschwerde über eine Bezichtigung zur Anstiftung einer Gefangenen­ meuterei vom 12.11.1989; ebenda, Bl. 15 f. 1474  Protestresolution der Freien Organisation Realistische Umgestaltung und Menschen­recht Forum ’89 o. D. [8.11.1989]; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 835, o. Pag.

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genug. Dass am 10. November eine bereits geplante Verlegung freigekaufter Häftlinge abgesagt wurde,1475 heizte die Stimmung zusätzlich an. Die allenthalben spürbare Notwendigkeit politischer Veränderung und der zögerliche Wandel brachten die Insassen dazu, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. In einer Resolution forderten einige von ihnen am 9. und 14. November unter dem Namen »Forum 89« eine sofortige Überprüfung aller Urteile und eine umfassende Verbesserung der Haftbedingungen. Sie befürworteten einen offenen Dialog mit der Gefängnisleitung und appellierten zum Gewaltverzicht, wie es der angespannten Lage auch außerhalb der Gefängnismauern entsprach.1476 Bis zum 22. November kristallisierte sich so in Brandenburg-Görden eine Gruppe von insgesamt 27 Häftlingen heraus, die die Interessen der Insassen gegenüber den Verantwortlichen vertraten und sich als Gefangenenrat bezeichneten. Gefängnis­ leiter Jahn musste nun versprechen, zukünftig vierzehntägig eine Dele­ga­tion von Häftlingen zu empfangen sowie wöchentlich eine Sprechstunde abzuhalten, bei der die Insassen ihre individuellen Probleme zur Sprache bringen durften.1477 Täglich schöpften die Häftlinge mehr Mut und forderten selbstbewusst die Verbesserung ihrer Haftbedingungen sowie die Überprüfung ihrer Urteile – dabei reagierten sie ungeduldig auf jede Verzögerung. In Brandenburg-Görden herrschte in jenen Tagen besonders in der Vollzugsabteilung I die Meinung vor, dass nur Arbeits- und Nahrungsverweigerung die oberste Gefängnisverwaltung zum Umdenken zwingen könne.1478 So kam es zu weiteren »ganz spontanen Arbeitsniederlegungen«.1479 Dass in der Strafvollzugsabteilung Schkeuditz bereits am 29. November alle Insassen für mehrere Stunden die Arbeit niedergelegt hatten, wurde zum Katalysator, zumal das »Neue Deutschland« am gleichen Tag über Luxusgüter der SED-Prominenz in Wandlitz berichtete, was die Gefangenen mächtig erzürnte.1480 In Bautzen I traten am Folgetag, dem 30. November, zunächst 90 Gefangene in den Streik, begünstigt wohl durch den Besuch eines Fernseh­teams am Vortag, das ihren Aufruf verbreitete.1481 In BrandenburgGörden streikten an diesem Tage bereits 208 Gefangene der Spätschicht der Elektromotorenwerke Wernigerode und des Reichsbahnausbesserungswerks. 1475  Vgl. Aktenvermerk der OPG vom 10.11.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 840, o. Pag.; Bericht der OPG über den gegenwärtigen Stand der Amnestieentlassungen auf der Grundlage des Beschlusses des Staatsrates der DDR vom 9.11.1989; ebenda. 1476  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 361. 1477  Vgl. u. a. Informationsblatt Nr. 1 des Leiters der StVE Brandenburg o. D. [Ende 11/1989]; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 826, Bl. 12. 1478  Handschriftliche Aufzeichnungen eines leitenden Mitarbeiters der Haftanstalt Branden­ burg vom 30.11. und 7.12.1989; ebenda, Bl. 13–16. 1479  Erinnerungen eines Sprechers des seinerzeitigen Gefangenenrates; zit. nach: Vomberg: Gefangenenzeitungen, S. 171. 1480  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 189. 1481  Vgl. Heidenreich: Aufruhr, S. 115 f.; stark überzeichnet bei Aust: Expedition durch die Wendezeit, S. 63 f.

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Sie forderten Pressefreiheit, ungehinderten Zugang zu den Medien sowie eine Generalamnestie, denn bislang war kaum ein Häftling aus Brandenburg-Görden freigekommen (siehe Kap. 4.1.20). Diese Aktion löste einen Massenprotest der Mitinsassen aus; am Morgen des folgenden Tages verweigerten bereits rund 750 von 2 192 Inhaftierten die Arbeit und kündigten für den Folgetag einen Hungerstreik an. Am Nachmittag streikten bereits 993 Häftlinge, jeder Dritte von ihnen verweigerte zudem auch die Nahrung. Die dringlichste Forderung war nun eine sofortige Pressekonferenz, die dann bereits am gleichen Tag, dem 1. Dezember 1989, zwischen 16 und 22 Uhr stattfand.1482 Die Veranstaltung leitete Harald Martens, stellvertretender Leiter der Verwal­ tung Strafvollzug, im Beisein von Jahn. Ihnen standen 100 Häftlinge als Vertre­ ter ihrer Mitinsassen gegenüber. Vonseiten der Medien waren ausschließlich Ver­tre­ter aus Ostdeutschland geladen bzw. anwesend (Allgemeiner Deutscher Nach­richten­dienst (ADN), »Neues Deutschland« (ND), »Der Morgen«, »Neue Zeit«, »Junge Welt«, »National-Zeitung« [der NDPD-Blockpartei], Radio DDR, Stimme der DDR und DT 64). Die Gefangenen legten einen Forderungskatalog mit acht Punkten vor. Demzufolge wünschten sie eine sofortige Überprüfung ihrer Urteile und die Bekanntgabe der Ergebnisse in der Presse (1), weil sie sich öffentlich rehabilitiert sehen wollten und auf Rückhalt in der Bevölkerung hofften. Sie forderten ferner die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen (2) und freien Zugang zu DDR-Massenmedien (3). Über den Verbleib ihrer Löhne wollten sie genau informiert (4) wie auch besser verpflegt werden (5). Des Weiteren bestanden sie auf der schnellstmöglichen Ahndung der »strafbaren Handlungen der ehemaligen Partei- und Staatsfunktionäre« (6). Außerdem protestierten sie gegen eine anhaltende Überbelegung der Haftanstalt (7). Als Gegenleistung für eine baldige Amnestie (8) erklärten sie sich bereit, ihre Nahrungsverweigerung sofort zu beenden. Die Arbeit wollten sie aber, mit Ausnahme logistischer Tä­ tig­keiten für die Versorgung der Haftanstalt, nicht wieder aufnehmen. Aus Sicht der Gefängnisleitung verlief die Pressekonferenz »in einer sachlichen und disziplinierten Atmosphäre«,1483 während ein ehemaliger Insasse die Veranstaltung sehr viel lebendiger in Erinnerung hat: »Der Kinosaal war voll bis zum geht nicht mehr.« Alle teilnehmenden Häftlinge hätten »schon tagelang nicht mehr gegessen [...], um diese Sache durchzusetzen, und alle warteten auf die Presse. Und die kam dann auch. Es war schlimm von der Atmosphäre her.«1484 Besonders erzürnte die Gefangenen, dass Heinrich Toeplitz als Präsident des Obersten Gerichts in 1482  Vgl. Rapport der StVE Brandenburg Nr. 334/89 mit Ergänzungsmeldungen vom 30.11. und 1.12.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 826, Bl. 34–40; Neues Deutschland vom 2./3.12.1989, S. 2. 1483  Fernschreiben der StVE Brandenburg vom 2.12.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 826, Bl. 43 f. 1484  Erinnerungen eines Sprechers des seinerzeitigen Gefangenenrates; zit. nach: Vomberg: Gefangenenzeitungen, S. 171.

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der Volkskammer über Korruption und Amtsmissbrauch berichtete, während sie selbst (wegen ihrer Meinung nach vergleichsweise harmloser Delikte) noch hinter Gittern saßen.1485 So befanden sich in der gesamten DDR am 3. Dezember mehr als 7 000 Häftlinge im (Hunger-)Streik.1486 Am 5. Dezember 1989 fand dann in Brandenburg-Görden erneut eine Presse­ konferenz statt, die zusammen mit einer Führung der Journalisten durch die Haftanstalt neun Stunden dauerte. Die Insassen wiederholten jetzt ihre Forde­ rungen nach einer allgemeinen Amnestie und besseren Haftbedingungen.1487 Die Journalisten, die sich mittlerweile einen eigenen Eindruck von den Zu­ ständen in der Haftanstalt verschafft hatten, trieben den Leiter der obersten Gefängnisverwaltung durch klar formulierte Fragen bald in die Enge. So wollten die Medienvertreter beispielsweise wissen, warum der katholische Anstalts­geist­ liche Johannes Drews keine Sprechstunden mit einzelnen Häftlingen durchführen könne, obwohl das Strafvollzugsgesetz diese Einschränkung gar nicht vorschreibe. Anstaltsleiter Jahn rettete die schwierige Situation, indem er – in Anbetracht der gewandelten politischen Rahmenbedingungen – erklärte, künftig unterliege die seelsorgerische Arbeit in seiner Haftanstalt keinerlei Einschränkungen mehr.1488 Am Ende ihres Besuches gaben die Gefangenen den Journalisten eine Liste mit fast 1 200 Unterschriften unter dem allerdings politisch eher zurückhaltenden Aufruf »Für unser Land« mit auf den Weg.1489 Am 5. Dezember hatte jeder dritte Häftling in der DDR die Arbeit nie­ dergelegt, insbesondere in Brandenburg-Görden, den beiden Bautzener Haft­ anstalten, Waldheim, Rüdersdorf und Berlin-Rummelsburg.1490 Der Chef der Gefängnisverwaltung Lustik rief nun Sondereinheiten der Volkspolizei sowie die Bereitschaftspolizei nach Bautzen I, denn die Insassen planten hier einen nächt­lichen Ausbruch.1491 Zu einer Ent­schärfung der angespannten Lage trugen wiederholte öffentliche Gespräche zwischen der Gefängnisverwaltung und den Streikkomitees unter Hinzuziehung von Rechtsanwälten bei, denn die Anwesen­ heit vieler Medienvertreter schien den Gefangenen eine Gewähr für die Erfüllung ihrer Forderungen zu bieten. Zur Deeskalation führte insbesondere auch die öffentliche Ankündigung einer Amnestie am 6. Dezember, was das wichtigste An­liegen der Gefangenen ge­wesen war (siehe Kap. 4.1.20).1492 Allerdings wa­ ren gerade in Brandenburg-Görden viele Häftlinge aufgrund ihrer hohen Straf­ 1485  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 191. 1486  Vgl. Information des Ministeriums für Innere Angelegenheiten vom 3.12.1989; BArch DY 30 IV 2/2.039/218, Bl. 135–137. 1487  Vgl. Unsere Zeitung Nr. 10/2000, S. 8–15; Neues Deutschland vom 6.12.1989, S. 2. 1488  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 184. 1489  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 192 f. 1490  Vgl. ebenda, S. 196. 1491  Vgl. Heidenreich: Aufruhr, S. 136. 1492  Vgl. ebenda, S. 133–137.

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maße hiervon ausgenommen, sodass hier weiterhin eine aufrührerische Stimmung herrschte. Etwa 70 Insassen be­waffneten sich spontan mit Werkzeugen und Eisenstangen, öffneten gewaltsam Zellentüren und wollten gemeinsam aus­ brechen. Doch in letzter Minute lenk­ten die Gefangenen ein und gingen zu einem Hungerstreik über.1493 Um die Meu­terer zu verlegen, hatte Lustik auch bereits Gefangenentransportwagen nach Brandenburg-Görden beordert und ein straffes Regime angeordnet.1494 Am 7. und 8. Dezember wurden dann brennende Matratzen aus den Zellenfenstern geworfen.1495 Die Haftbedingungen verbesserten sich fortwährend (siehe Kap. 3.2.10), doch die Hauptsorge der verbliebenen Häftlinge galt ihrer Frei­lassung – weswegen in der gesamten DDR zwischen Mitte Dezember rund 2 500 und Anfang Januar 1990 etwa 2 000 Nichtamnestierte streikten.1496 Auch in den folgenden Wochen legten die Insassen vieler Gefängnisse (etwa in Bautzen1497) einschließlich Brandenburg-Gördens wiederholt die Arbeit nieder, meist aus Verärgerung wegen entzogener Vergünstigungen oder schlechtem Essen.1498 Im April befanden sich wieder etwa 100 der noch rund 1 500 Insassen der Haftanstalt an der Havel mit der Forderung nach einer Generalamnestie im Hungerstreik. Trotz besserer Haftbedingungen hatten die Gefangenen vor allem ihre Frei­ lassung vor Augen. Diese schien ihnen auch dadurch gerechtfertigt, dass einige frühere Staatsfunktionäre wegen Korruption, Wahlbetrugs und Untreue zwar verhaftet, aus formalen oder gesundheitlichen Gründen aber bereits wieder frei­gelassen worden waren, während sie sich selbst (aufgrund der harten Straf­ zumessung vor November 1989) weiterhin hinter Gittern befanden. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, und weil sie sich nach der Wieder­ver­ einigung am 3. Oktober 1990 nur noch geringe Chancen für eine Überprüfung ihrer Urteile ausrechneten, besetzten am 19. September 1990 zunächst vier, später etwa 20 Häftlinge das Dach der Haftanstalt Brandenburg-Görden. Bis zu 100 Gefangene begannen in den kommenden Tagen einen Hungerstreik, was bald in Bautzen I, Berlin, Bützow, Frankfurt/O., Gräfentonna, Cottbus, Dresden, Hoheneck, Waldheim und weiteren Gefängnissen nachgeahmt wurde. Insgesamt protestierten seinerzeit 780 von knapp 4 200 Gefangenen in Ost­ deutschland.1499 Die Dachbesetzer begaben sich dabei in eine dramatische und zum Teil lebensgefährliche Lage und forderten, stellvertretend für ihre Mit­ 1493  Vgl. Telegramm [aus der Haftanstalt Brandenburg] vom 6.12.1989, 23.30 Uhr; BStU, MfS, HA VII, Nr. 607, Bl. 54; Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 208. 1494  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 367. 1495  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 190. 1496  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 213. 1497  Vgl. u. a. Richter, Michael: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. 2 Bde. Göttingen 2009, S. 1200–1203. 1498  Vgl. Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 267. 1499  Vgl. ebenda, S. 366–373; Borchert: Revolution im Gefängnis, S. 103.

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insassen, eine großzügige Überprüfung ihrer Urteile, das heißt eine generelle Begrenzung lebenslänglicher Freiheitsstrafen auf 15 Jahre und eine Reduzierung von Zeitstrafen um drei Jahre. Mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Aktion wollten die Insassen Brandenburg-Gördens auch die Medien erreichen und verlangten, Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe sowie Vertreter aller Parteien zu sprechen. Auch der DDR-Innenminister und Spitzenkandidat der CDU im Land Bran­ den­burg, Peter-Michael Diestel, eilte am 21. September nach BrandenburgGörden. Während Stolpe betonte, dass seiner Auffassung nach viele Strafen »unverhältnis­mäßig hoch« ausgefallen seien, erklärte Diestel, selbst keinen Am­ nestie­beschluss fassen zu können, sich in dieser Angelegenheit aber per­sön­ lich für sie verwenden zu wollen.1500 Diestel erschien sogar noch ein zweites Mal zu einem Gespräch, brach dieses aber wutentbrannt ab, als er einem mit­ laufenden Tonbandgerät gewahr wurde, mit dem die Häftlinge die historische Zusammenkunft dokumentieren und gegebene Zusagen nötigenfalls beweisen wollten.1501 Dass Diestel öffentlich erklärt hatte, er habe eine Revolte in Branden­ burg-Görden verhindert, veranlasste die Dachbesetzer jedenfalls prompt zu einem Dementi.1502 Da die Aufseher eine Konfrontation vermeiden wollten und ihre eigene berufliche Zukunft unsicher erschien, setzten auch sie sich in einem offenen Brief an die Volkskammer für ein Amnestiegesetz ein.1503 Ebenso votierte Gefängnisleiter Udo Jahn, in dem völlig gewandelten politischen Klima, für Korrekturen der Strafmaße.1504 Die Anliegen der Insassen zu vermitteln versuchte auch der katholische Gefängnisseelsorger Johannes Drews, als er am 24. September in der letzten, frei gewählten Volkskammer sprechen konnte.1505 Es folgten Konsultationen zwischen Ministerpräsident Lothar de Maizière und dem bundesdeutschen Innenminister Wolfgang Schäuble, der offenbar gegen einen allgemeinen Straferlass votierte.1506 Wenige Tage vor der Wiedervereinigung verabschiedete die Volkskammer dann in ihrer letzten Sitzung am 28. September doch noch ein »Gesetz zum teilweisen Straferlass«,1507 das eine Strafzeitverkürzung von einem Drittel für bestimmte Verurteilte brachte (siehe Kap. 4.1.20). Die Dachbesetzter in Brandenburg-Görden hatten sich jedoch mehr erhofft und 1500  Vgl. Brandenburgische Neueste Nachrichten vom 21.9.1990. 1501  Vgl. Unsere Zeitung Nr. 10/200, S. 9. 1502  Vgl. Dementi vom 21.9.1991; Privatarchiv Johannes Drews. 1503  Vgl. Offener Brief des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands, Landesver­band Brandenburg e.V. vom 25.9.1990; abgedruckt in: Unsere Zeitung Nr. 12/2000, S. 52. 1504  Vgl. Schreiben von Jahn an das Präsidium der Volkskammer vom 27.7.1990; Privatarchiv Johannes Drews; Erklärung des Leiters der StVE Brandenburg zu den Ausführungen des amtierenden Ministers der Justiz vom 22.9.1990; Privatarchiv Johannes Drews. 1505  Vgl. Drews, Johannes: Zur Situation und den Erwartungen der Strafgefangenen der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg, vorgetragen vor dem Präsidium der Volkskammer am 24.9.1990; Privatarchiv Johannes Drews. 1506  Vgl. Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 205. 1507  Vgl. Gesetz zum teilweisen Straferlass vom 28.9.1990; GBl. der DDR Nr. 65 vom 3.10.1990.

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zeigten sich maßlos enttäuscht. Drews und zwei Gefangenensprecher wollten noch einmal in Ostberlin vor der Volkskammer sprechen, kamen aber zu spät; die Gefangenen beendeten daraufhin ihren Protest.

Abb. 19: Forderung der Gefangenen am Zellenfenster, 1990

3.5 Der Arbeitseinsatz 3.5.1 Wirtschaftliche Bedeutung und Rentabilität Der SED-Staat baute ab Mitte der Fünfzigerjahre auf die systematische Ausbeu­ tung der Arbeitskraft von Gefangenen. Bis zu 30 000 Häftlinge gleichzeitig zu beschäftigen, war von erheblicher ökonomischer Bedeutung. »Das Hauptmotiv für den forcierten Arbeitseinsatz der Strafgefangenen war zweifellos wirtschaftlicher, nicht erzieherischer Natur.«1508 Denn pädagogisch sinnvolle Prinzipien der Tren­ nung von Gefangenen (nach Delikten oder Lebensalter) wurden immer wieder ignoriert, sobald der Arbeitseinsatz dies aus ökonomischen Gründen zu erfordern schien.1509 Dass der Haftarbeit Priorität eingeräumt wurde, resultierte letztlich 1508  Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 20. 1509  Vgl. Heitmann, Clemens; Sonntag, Marcus: Soldaten und Strafgefangene als Stützen der DDR-Staatswirtschaft. In: Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 451–458, hier 454.

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aus der desaströsen wirtschaftlichen Lage der DDR.1510 In den Siebzigerjahren lässt sich diese Schwerpunktsetzung auch personell festmachen: Der seinerzeitige Chef der obersten Gefängnisverwaltung Hans Tunnat war als Quereinsteiger auf seinen Posten gelangt und folgte, mangels eigener Fachkenntnisse, fast immer den Entscheidungsvorlagen des langjährigen Leiters der Abteilung Ökonomie der Verwaltung Strafvollzug. So kritisierten sogar Mitarbeiter der obersten Gefängnis­ verwaltung intern, dass in den Gefängnissen der DDR »die Ökonomie den Vollzug bestimmt«.1511 Zugleich galt die »produktive Arbeit«, neben der strikten Einhaltung von Ordnung und Disziplin, als eine wichtige Methode, um die Insassen zu konfor­ mem Verhalten zu zwingen. Der »erzieherische Wert« des Strafvollzugs, so befand das Politbüro, liege in der »kollektiven, gesellschaftlich nützlichen Arbeit«.1512 Die dabei erzielten Leistungen galten »als entscheidende Kriterien der individu­ellen Ent­wicklung« des Gefangenen, so war auch die Devise in Brandenburg-Görden.1513 Da­bei hatte jeder Häftling »die Pflicht, jede ihm zugewiesene Arbeit zu verrichten und seine ganze Kraft im Produktionsprozess entsprechend seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie seines Gesundheitszustandes einzusetzen«.1514 So vergingen nach der Einlieferung in eine Strafvollzugsanstalt oder ein Haftarbeitslager meist nur wenige Tage, bis sich der Betreffende in einem der Betriebe wiederfand; nur sel­ten überstieg die Zahl der Insassen die der verfügbaren Arbeitsplätze, sodass sich der Beschäftigungsbeginn verzögerte.1515 Gefangene in Isolationshaft indes soll­ten abgeschirmt werden und durften deswegen allenfalls (monotone und in­ ef­fi ziente) Zellenarbeit verrichten. Lediglich während der Untersuchungshaft musste meist nicht gearbeitet werden, da die Vernehmungen Priorität hatten und die meist angeordnete Einzelhaft, die Absprachen zwischen etwaigen Mittätern ver­hindern und die Gefangenen zermürben sollte, einem effizienten Arbeitseinsatz ent­gegenstand. Zuletzt mussten sich Untersuchungshäftlinge sogar schriftlich zur Ar­beit bereit erklären, was aus Angst vor Nachteilen jedoch wohl nur selten ver­

1510  Vgl. Sachse: System der Zwangsarbeit. 1511  Information des [IM] »Günter Rabe« über Tunnat, Hans vom 1.7.1973; BStU, MfS, A, Nr. 497/84, Bd. 5, Bl. 48–53. Der Leiter der Abteilung Ökonomie ließ sich ungern in die Karten schauen und pflegte Vereinbarungen mit Betrieben über den Arbeitseinsatz von Häftlingen selbst auszuhandeln, um damit vollendete Tatsachen zu schaffen. Vgl. Treffauswertung der Haupt­ abteilung VII/5/A mit IMS »Petermann« vom 10.7.1975; BStU, MfS, AIM, Nr. 3718/78, Bd. 2, Bl. 11–14. 1512  Vgl. Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 4 der Sitzung des Politbüros vom 24.1.1961; BArch DY 30 J IV 2/2–746. 1513  Erziehungsprogramm 1967 des Leiters der StVA Brandenburg vom 28.4.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 99–108. 1514  Hausordnung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg o. D. [1966/67]; ebenda, Bl. 109–117. 1515  Vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-Anwei­ sung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33.

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wei­gert wurde.1516 Weil indes auch die Leiter der Untersuchungshaftanstalten an produktiver Arbeit der Insassen interessiert waren, wurden diese Bestimmungen mit­unter erheblich strapaziert.1517 Insbesondere wenn nach allgemeinen Amnestien Häftling­sarbeiter fehlten, wurden Hunderte Untersuchungshäftlinge eben doch zur Arbeit eingesetzt.1518 So wie in der Sowjetunion das Lagersystem den Charakter eines »Wirtschafts­ giganten« hatte,1519 wurde auch in Brandenburg-Görden die Arbeitskraft der Häftlinge in großem Stile ausgebeutet. Im Jahre 1986 beispielsweise befanden sich von den 2 498 Insassen nicht weniger als 2 436 im Arbeitseinsatz (97,5 %). Sie produzierten jährlich Waren in einem Wert von 600 Millionen Mark, womit sie die Planziffer um 2,1 Prozent bzw. 13,7 Millionen Mark übererfüllten.1520 Die Wertschöpfung bezogen auf den gesamten DDR-Strafvollzug lag allerdings ein Drittel höher,1521 abhängig wohl vor allem von der Art der Betriebe bzw. der dortigen Wertschöpfung. Die Insassen aller ostdeutschen Haftanstalten, zu Jahresbeginn 1987 rund 28 000 Personen, sollten im Jahresverlauf zusammen sogar eine Wirtschaftsleistung von 12,4 Milliarden Mark erbringen;1522 die jährliche Nettoproduktion der gesamten DDR-Industrie lag seinerzeit bei 174,3 Milliarden Mark.1523 Bastian/Neubert veranschlagen auf der Grundlage abweichender Be­ rech­nungen den Anteil der Häftlingsarbeiter an der Wirtschaftsleistung zwischen 0,2 und 1,0 Prozent.1524 In dieses Bild passt, dass im Jahre 1987 die knapp 30 000 Häftlingsarbeiter 0,3 Prozent der 9,7 Millionen »Werktätigen« stellten.1525 1516  Vgl. Ordnung des Ministers des Innern über die Durchführung der Untersuchungshaft vom 4.7.1980; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10017, Bl. 16. 1517  Vgl. Operativinformation der Verwaltung Strafvollzug Nr. 1/88 vom 11.1.1988; BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. VII, Nr. 681, Bl. 5–9. 1518  Vgl. Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik: Arbeitseinsatz in ausgewählten Betrieben; BArch DO1/3784, o. Pag. 1519  Vgl. Stettner: »Archipel GULag«. 1520  Vgl. [Handschriftlicher] Komplexrapport vom Ltr. StVE an Chef BDVP vom 5.3.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 162–169. 1521  Die Vergleichszahl für Brandenburg-Görden datiert zwar auf das Vorjahr, doch stieg die Warenproduktion in diesem Zeitraum sicherlich nicht in dem Maße an, dass dies den Be­f und relativieren könnte. Hinzu kommt, dass unter der Gesamtzahl der Insassen auch knapp 5 000 Untersuchungshäftlinge waren, die kaum zur Arbeit eingesetzt bzw. nur mit anstaltsinternen Aufgaben betraut werden konnten. Bezieht man die gesamte Wirtschaftsleistung des DDRStrafvollzugs nur auf die 28 038 Strafgefangenen, war die Wertschöpfung in Brandenburg-Görden sogar um etwa die Hälfte geringer. 1522  Vgl. 3. Information des Generalstaatsanwalts über die Durchführung des Beschlusses des Staatsrates vom 9.9.1987; BArch DY 30 vorl. SED 42554; zit. nach: Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 239. 1523  Vgl. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik. Hg. von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik. Ostberlin 1988, S. 101. 1524  Vgl. Bastian; Neubert: Schamlos ausgebeutet, S. 50. 1525  Vgl. Sleifer, Jaap: Planning ahead and falling behind. The East German economy in comparison with West Germany 1936–2002 (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte/Beiheft, 8).

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Entgegen einer weit verbreiteten Einschätzung1526 war der Strafvollzug der DDR dennoch nicht wirklich »lukrativ«. Dies galt besonders zu Beginn der Fünfzigerjahre, als der Arbeitseinsatz noch nicht generalstabsmäßig organisiert war und die Justizverwaltung kaum mehr als jeden zweiten Insassen zur Arbeit ein­set­ zen konnte. Noch dazu mussten damals viele Häftlinge »nichtproduktive Arbeit« leisten, wie etwa »Lumpen sortieren, Tüten kleben usw.«, sodass ihr »Arbeits­po­ten­ zial nicht ausgelastet wurde«. Der Leiter der zuständigen Strafvollzugsverwaltung, Werner Gentz, plante deswegen Außenarbeitseinsätze (wie etwa beim Gleisbau) und wollte Teile von volkseigenen Betrieben in die Haftanstalten verlegen sowie die Zellenarbeit intensivieren. Im Jahre 1950, so rechnete Gentz vor, entstehe nämlich durch »Nichtausnutzung des Arbeitspotenzials« ein jährliches Defizit von 38 bis 40 Millionen Mark. Würden alle Insassen zur Arbeit eingesetzt, ließe sich hingegen ein Überschuss von 30 Millionen erzielen.1527 Gentz’ optimistische Prognose sollte sich, nach heutigem Kenntnisstand, nicht be­wahrheiten bzw. beruhte auf einer unvollständigen Bilanz. Im Jahre 1955 lag je­denfalls der »Staatszuschuss« zum Strafvollzug immer noch bei 43 Prozent (gegenüber 88 % im Jahre 1951),1528 obwohl seinerzeit in der gesamten DDR be­reits 78,7 Prozent der Gefangenen arbeiten mussten. Dass die Ge­fäng­nis­ver­ waltung Anfang 1956 eine größere strukturelle Eigenständigkeit er­hielt, ver­ knüpf­te das vorgesetzte Ministerium des Innern mit der Forderung, dass die Pro­duktion »qualitativ verbessert und in den Haftarbeitslagern die Anzahl der be­schäftigten Strafgefangenen beträchtlich erhöht wird«.1529 Doch obwohl in den spä­teren Jahren tatsächlich fast alle arbeitsfähigen Häftlinge beschäftigt wa­ren und hohe Leistungen erbringen mussten, blieben die Einnahmen aus dem Ar­ beits­einsatz stets hinter den Kosten für die personalintensive Bewachung sowie die (schlechte) Unterbringung und die (miserable) Versorgung zurück. So wurden als tatsächliche Kosten eines Häftlings Anfang der Sechzigerjahre 15 bis 18 Mark täg­lich veranschlagt – darin enthalten etwa 5,10 Mark für Bewachung, 3,70 Mark Berlin 2006, S. 197. 1526  Vgl. u. a. Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 269; Ansorg: Brandenburg, S. 172; Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 22; Eberle: Ökonomische Aspekte des Strafvollzuges, S. 139. Als Quellenbeleg nennt Eberle eine Kostenrechnung für den Bezirk Leipzig zu Beginn der 70er-Jahre, wo die Ausgaben des Strafvollzugs offenbar nur 59 % der Einnahmen verschlangen. Hierbei wurde jedoch offenkundig die Untersuchungshaft nicht berücksichtigt und die Aufschlüsselung der weiteren Kosten bleibt unklar. Ebenfalls eine unvollständige Bilanz legten vor Bastian; Neubert: Schamlos ausgebeutet. Die These mangelnder Rentabilität (ohne eine Ertragsanalyse vorzulegen) teilen indes Heitmann; Sonntag: Soldaten und Strafgefangene, S. 458, sowie Alisch: Beispiel Cottbus, S. 190, und – vorsichtiger im Urteil – Sonntag: Arbeitslager in der DDR, S. 263 f., 289 f. u. 331 f. 1527  [Protokoll der] Arbeitsbesprechung im Ministerium der Justiz am 9.6.1950 vom 10.6.1950; BArch NY 4090/440, Bl. 58 f. 1528  Vgl. Eberle: Ökonomische Aspekte des Strafvollzuges, S. 111–140, hier 121 f. 1529  Befehl 53/55 des Ministers des Innern betr. Reorganisation des Strafvollzuges vom 13.12.1955; BArch DO1 2.2./58020.

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für Verpflegung und der Rest für Ausrüstung und Versorgung der Aufseher. Die Häft­linge erhielten zwar der Form halber vom Betrieb den gesamten Lohn ver­ gü­tet, doch zweigte die Gefängnisverwaltung hiervon den größten Teil ab (siehe Kap. 3.5.4) – was jedoch wiederum nicht reichte, um die tatsächlichen Kosten zu decken. »Der vom Nettolohn einbehaltene Anteil deckt bei Weitem nicht die staat­lichen Ausgaben für den Strafvollzug«, wie die oberste Gefängnisverwaltung im Jahre 1961 eingestand.1530 So wurden den Häftlingen bei der neu eingeführten Straf­form der Arbeitserziehung diese echten Kosten in Rechnung gestellt, die je­ doch so hoch lagen, dass die Insassen mit Schulden in die Freiheit entlassen wor­ den wären, hätten sie die Ausgaben tatsächlich tragen müssen.1531 Dabei muss­ ten im Herbst 1961 bereits 85,6 Prozent der Häftlinge tatsächlich arbeiten (siehe Kap. 3.5.2). Nach Abzug aller Kosten, so errechnete die oberste Strafvollzugsleitung Mitte der Sechzigerjahre, erwirtschaftete das ostdeutsche Gefängniswesen auf diese Weise einen Verlust von etwa 40 Millionen Mark jährlich.1532 Innenminister Dickel wies deswegen an, »jegliche Zersplitterung im Arbeitseinsatz der Inhaf­ tierten zu vermeiden«.1533 Das Zentralsekretariat der SED beauftragte die oberste Gefängnisverwaltung jetzt sogar ausdrücklich, die Gefangenenarbeit so weit zu optimieren, »dass der Strafvollzug sich finanziell nach Möglichkeit selbst trägt«.1534 Die Parteiführung kritisierte im Einzelnen, der Arbeitseinsatz sei zu zersplittert, die Ausschussquote zu hoch, die Zusammenarbeit mit den Betrieben zu »formal« und die Gefangenen würden teils immer noch mit ineffektiven Zellen­arbeiten beschäftigt. Die Abteilung Sicherheitsfragen forderte daher »ein klares Produktionsprofil, das weitgehend die vom Strafzweck und dem volks­ wirtschaftlichen Nutzen bestimmte Produktion sowie den planmäßigen Ein­ satz der Strafgefangenen gewährleistet«.1535 Doch Mitte der Sechzigerjahre er­ folgte der Arbeitseinsatz der Häftlinge bereits in großem Stile und nach der Schließung kleiner, personalintensiver Untersuchungshaftanstalten ließen sich die Kosten kaum noch senken. Ferner wurde bei Krankheit oder Gebrechlichkeit nun seltener Haftverschonung gewährt, was zusätzliche Kosten verursachte, jedoch im repressiven Strafvollzugskonzept begründet war. Dass viele »billige« Häftlingsärzte in der Folgezeit aus Sicherheitsgründen durch haupt- oder neben­ 1530  Informationsmaterial über den Dienstzweig Strafvollzug vom 9.10.1961; BArch DO1 11/1477, Bl. 109–114. 1531  Vgl. Wunschik: Hinter doppelten Mauern, S. 557–574. 1532  Vgl. Schreiben des Leiters der Verwaltung Strafvollzug Kohoutek an den Minister des Innern Dickel betr. Analyse über die Kosten des Strafvollzuges vom 4.8.1964; BArch DO1 32/54128. 1533  Referat des Ministers des Innern und Chefs der DVP Dickel auf der Arbeitstagung zu Problemen des Strafvollzugs vom 11.8.1965, 51 S.; BArch DO1 32/36357. 1534  Protokoll Nr. 98/66 der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 9.11.1966; BArch DY 30 J IV 2/3 A–1390. 1535  Vorlage der Abteilung für Sicherheitsfragen für das Sekretariat des Zentralkomitees über die Lage im Strafvollzug (mit Anlage 1–5) vom 26.10.1966; ebenda.

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amtliche Mediziner ersetzt wurden,1536 erhöhte noch die (Personal-)Kosten. Um diese in den Griff zu bekommen, schlug der stellvertretende Innenminister Grünstein vor, trotz des Risikos vermehrter Entweichungen »bewachungsfreie« Außenkommandos einzurichten.1537 Außer durch Begrenzung der Kosten sollte die Bilanz auch durch vermehrte Leistungsanreize verbessert werden, weswegen die Einkaufsmöglichkeiten der Häftlinge verbessert wurden.1538 In den Achtzigerjahren hat die oberste Gefängnisverwaltung ähnlich scho­ nungslose Bilanzen wie in den Sechzigerjahren nicht mehr vorgelegt und sich stattdessen an dem Selbstbetrug des SED-Regimes hinsichtlich der eigenen ökonomischen Prosperität beteiligt. Um ein günstiges Erscheinungsbild bemüht, mel­deten beispielsweise die Haftanstalten oftmals »nach oben«, dass alle Gefange­ nen zur Arbeit eingesetzt seien – obwohl dies gar nicht zutraf.1539 Zwar nahm die Ge­fängnis­verwaltung im Jahre 1986 aus dem Arbeitseinsatz von Strafgefangenen und Verhafteten 257,1 Millionen Mark ein, was einer durchschnittlichen Wert­ schöpfung eines Strafgefangenen von 992 Mark monatlich entsprach. Doch bei den angeblich angefallenen Kosten von 118,3 Millionen Mark wurden zwar Löhne und Verpflegungskosten der Häftlinge gegengerechnet, jedoch die Gehälter der Aufseher gar nicht und die Sachkosten für den Betrieb der Gefängnisse offenbar nur teilweise,1540 was die Bilanz völlig verfälschte. Im Sommer 1990 bezifferte die oberste Gefängnisverwaltung ihre Ausgaben für das Jahr 1989 sogar auf 430 Millionen Mark (davon 155 Millionen Mark für Personal), denen Einnahmen in Höhe von lediglich 245 Millionen Mark gegenüberstanden.1541 Mögliche Gewinne konnten auch bei den Arbeitseinsatzbetrieben anfallen, doch ist deren Bilanz schwer zu überblicken. Teilweise mussten diese, um überhaupt Häftlinge einsetzen zu können, neue Werkhallen errichten und Sicherheitsmaßnahmen ergreifen und tragen,1542 waren aufgrund des allgemeinen Arbeitskräftemangels aber dennoch an der Haftarbeit interessiert. Im Jahre 1988 benannte die Verwaltung Strafvollzug, unter Bezugnahme auf Beschlüsse des Politbüros, sogar selbst die Hemmnisse für eine Kosten­

1536  Siehe Kapitel 3.3.6. 1537  Vgl. Referat des Generalleutnants Grünstein auf der Tagung mit den Leitern der selbst­ ständigen Vollzugseinrichtungen und den Abteilungsleitern SV der BDVP in der StVA Brandenburg am 28.6.1967, 38 S.; BArch DO1 32/36357. 1538  Siehe das Kapitel 3.3.2. 1539  Vgl. Bericht über den Besuch des Gen. Oberst Giel vom 4.7.1974; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. 1, Bl. 310–320. 1540  Vgl. Einnahmen und Ausgaben des Organs Strafvollzug 1986 (Zuarbeit für Pb [Politbüro] im Rahmen der Amnestie 1987) o. D.; BStU, MfS, HA VII, Nr. 550, Bl. 95–98. 1541  Bericht über die Lage im Strafvollzug o. D. [8/1990]; BArch DO1/3706, Bl. 17; zit. nach: Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung, S. 77, sowie Alisch: Beispiel Cottbus, S. 191. 1542  Vgl. Heitmann; Sonntag: Soldaten und Strafgefangene, S. 451–458, hier 458.

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senkung1543. Demzufolge wurden in vielen Haftanstalten mehr Häftlinge be­ nötigt, als (aufgrund der immer strengeren Trennungsgrundsätze) angesichts Alter, Vorstrafen und Vollzugsart dorthin eingewiesen werden konnten. Das SüdNord-Gefälle bei der Kriminalität erlaubte ebenfalls keine beliebig disponible Verteilung der Gefangenen auf die Haftanstalten, wenn den zu Besuch anreisenden Familienangehörigen nicht zu lange Wege zugemutet werden sollten. Auch dass bei der Zuweisung von Tätigkeiten die bisherige berufliche Qualifikation, persönliche Präferenzen und die damit zusammenhängende Motivation kaum berücksichtigt wurden, war letztlich kontraproduktiv. Da viele Haftstrafen von kurzer Dauer waren, standen Anlern- und Einarbeitungsphase oft in einem ungünstigen Ver­ hältnis zur nachfolgenden produktiven Arbeitsphase. Aufgrund wachsender Vorstrafenregister krimineller Häftlinge und strengerer Sicherheitsbestimmungen war auch ein Außenarbeitseinsatz immer seltener möglich, der vergleichsweise gewinnbringend hätte sein können. Der gesundheitliche Zustand der Häftlinge bei der Einlieferung wurde oft ignoriert, erlaubte aber dennoch bei fünf bis zehn Prozent der Betroffenen nur einen stark eingeschränkten Arbeitseinsatz, und bei weiteren 30 Prozent wünschte sich die Gefängnisverwaltung zumindest eine höhere Tauglichkeitsstufe.1544 Bei neu eingelieferten Häftlingen meldeten die Gefängnisse zudem oft falsche Berufe »nach oben«, da die Betreffenden andernfalls womöglich dorthin verlegt worden wären, wo ihre Fachkenntnisse sinnvoller hätten eingesetzt werden können – was jedoch den Eigeninteressen der aufnehmenden Haftanstalt zuwiderlief.1545 Auch angesichts zahlreicher Missstände und konzeptioneller Fehler ist nicht anzunehmen, dass die sozialistische Planwirtschaft ausgerechnet »hinter Gittern« lukrativ zu haushalten verstand – trotz teilweise hoher Arbeitsmotivation und geringer Entlohnung der Gefangenen.1546 Missmanagement, logistische Probleme, Rohproduktmangel und defekte oder überalterte Geräte verursachten in den Haftanstalten ebenso wie außerhalb erheblichen Leerlauf in den Produktionsprozessen.1547 Der »hohe administrative Aufwand« bei der Verwaltung des Ar­beits­einsatzes und der bauliche Zustand vieler überalterter Gefängnis­se 1543  Vgl. Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 31 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 4.8.1987; BArch DY 30 J IV 2/2–2233. 1544  Studie der Verwaltung Strafvollzug zur effektiven Gestaltung des Arbeitseinsatzes Straf­ gefangener (mit Anlagen) vom 15.4.1988; BStU, MfS, HA VII, Nr. 550, Bl. 43–73. 1545  Vgl. Bericht über den Besuch des Gen. Oberst Giel vom 4.7.1974; BStU, MfS, AIM, Nr. 22060/80, Bd. 1, Bl. 310–320. 1546  Siehe auch Alisch, Steffen: Der Mythos vom Goldesel Strafvollzug. Anmerkungen zur Rentabilität der Haftzwangsarbeit in der DDR und deren Entlohnung. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2013) 33, S. 73–86, hier 81. 1547  So berichteten einige Gefangene, dass sie aus den genannten Gründen mitunter nur zwei Stunden pro Schicht gearbeitet hätten und die restliche Zeit mit Kartenspielen und Lesen verbrachten. Vgl. Befragungsprotokoll eines ehemaligen Insassen der Haftanstalt Brandenburg vom 18.8.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 1, Bl. 166–169.

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ver­ursachte ebenso hohe Kosten1548 wie die zahlreichen aufwendigen Ge­fan­ ge­nentransporte.1549 Hinzu kamen ineffiziente Sonderaufträge1550 sowie der Miss­brauch der Arbeitskraft Gefangener für private Zwecke der Aufseher (siehe Kap. 2.6.9). Allerdings machte der Arbeitseinsatz aus Sicht der Machthaber in­so­ fern Sinn, als die Bewachungskosten ja ohnehin anfielen und die Arbeitskraft der In­sassen andernfalls ungenutzt geblieben wäre – bei einem chronischen Mangel an Arbeitskräften in der DDR-Volkswirtschaft. Außerdem waren Häft­linge als »Ar­beitssklaven« in der Planwirtschaft vergleichsweise disponibel und konnten auch zu schweren, unangenehmen und gesundheitsschädlichen Tä­tigkeiten her­ an­gezogen werden, für die gewöhnliche »Werktätige« kaum zu gewinnen gewe­sen wä­ren. Profitabel war der Strafvollzug wohl allenfalls un­ter Berücksichtigung des in­ner­deutschen Handels, denn manche der von Häft­lingen gefertigten Produkte wur­den für teure Devisen in den Westen verkauft (wie wohl auch Küchenmöbel aus Brandenburg-Görden; siehe Kap. 3.5.2) – zusammengenommen ein Umsatz von mindestens 156 Millionen Valutamark im Jahr.1551 Hinzu kamen die Ein­ nah­men aus dem Freikaufsgeschäft (siehe Kap. 5.6.5.2), doch war dies keine »Ei­gen­leistung« des ostdeutschen Gefängniswesens. Dass die Haftanstalt an der Havel ihre Insassen möglichst effizient zur Ar­beit ein­setzte, geht wesentlich auf ihren langjährigen Leiter zurück.1552 »Im Vorder­ grund steht bei Ackermann die Rentabilität der Dienststelle, Erhöhung der Produk­ tion un­ter Aufbietung aller Kräfte.«1553 So drängte er nach seinem Amts­antritt in Bran­den­burg-Görden auf die Abschaffung unrentabler und gefährli­cher Ar­beits­ be­rei­che (wie der Schreinerei) und die Errichtung neuer, »zukunftsweisender« Be­ trie­be (wie der Elektrowerkstätten).1554 Folglich konnte Ackermann im ersten Jahr auf einen Produktivitätszuwachs von 35 Prozent verweisen, während der DDR1548  Studie der Verwaltung Strafvollzug zur effektiven Gestaltung des Arbeitseinsatzes Straf­ gefangener (mit Anlagen) vom 15.4.1988; BStU, MfS, HA VII, Nr. 550, Bl. 43–73. 1549  Statistisch betrachtet wurden im Jahre 1989 täglich durchschnittlich 157 Inhaftierte vor Gericht vorgeführt, 109 Häftlinge verlegt und 49 Gefangene in gewöhnliche Krankenhäuser gebracht und dort bewacht. Vgl. Kollegiumsvorlage des Ministeriums des Innern betr. Stand der Gewährleistung der Sicherheit im Organ Strafvollzug vom 14.11.1989; BArch DO1 32/53234. Siehe auch Kuhlmann: Deutsche Reichsbahn geheim, S. 166–175. 1550  So forderte beispielsweise der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei täglich 30 Häftlinge zu Arbeiten an seinem Dienstgebäude in Potsdam an. Durch schlechte Organisation waren indes nachmittags etliche Häftlinge beschäftigungslos, weswegen man sie dann lieber in einen Bauwagen sperrte, damit sie den Blicken des Polizeichefs entzogen waren und die logistische Panne nicht aufflog. Vgl. Bericht des IMS »Liti« vom 27.4.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 118, Bd. 2, Bl. 107. 1551  Vgl. Wunschik: Knastware für den Klassenfeind, S. 225. 1552  Telegraf vom 14.12.1958; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 488/62, Bd. 1, Bl. 144. 1553  Beurteilung des VP-Oberrat Ackermann, Fritz durch den GI »Fritz Schulz« der Strafvoll­ zugs­a nstalt Bützow-Dreibergen vom 24.12.1954; BStU, MfS, BV Potsdam, AP, Nr. 77/61, Bl. 169 f. 1554  Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden – 2. Halbjahr 1960 vom 6.7.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 83–89.

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Straf­vollzug insgesamt nur um halb so viele Prozentpunkte zulegen konnte.1555 Bei Bauvorhaben stellte Ackermann »immer wieder die Fähigkeit unter Beweis [...], billiger zu bauen, als es irgendwelchen regulären Baufirmen jemals möglich ge­wesen wäre«,1556 was letztlich auf Ausbeutung der arbeitenden Häftlinge so­ wie seinem eigenwilligen Geschäftsgebaren beruhte. Dass Ackermann der öko­ no­mischen Seite einen derartigen Stellenwert beimaß, war im ostdeutschen Gefängniswesen unüblich und trug ihm die Kritik seiner Vorgesetzten ein. So attestierte ihm der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam, Erich Griebsch, im Jahre 1975, dass seine Bauvorhaben mit einem Volumen von 62 Millionen Mark in den folgenden fünf Jahren »nicht in Übereinstimmung mit den Plänen des Zentralkomitees unserer Partei« stünden. Ackermann musste sogar hinnehmen, dass eine geplante Produktionshalle für 300 Häftlinge sowie zwei weitere Vorhaben ersatzlos gestrichen wurden, und es wurde ihm ausdrücklich »untersagt, weitere Initiativbauten zu errichten«.1557 Zum Vorwurf machte man ihm die illegale Finanzierung, obwohl diese nur teilweise bekannt wurde (siehe Kap. 2.6.9), und die Bestechung der Leiter verschiedener Institutionen durch Geschenke und Gefälligkeiten. Dass sich seine Umtriebigkeit im ökonomischen Bereich vom üblichen Schlendrian in der Planwirtschaft abhob, rief wohl auch den Neid anderer hervor. Dass Ackermann ferner vorgehalten wurde, durch den Außenarbeitseinsatz die Sicherheit der Haftanstalt gefährdet zu haben, war wohl eher vorgeschoben. Der Arbeitseinsatz der Gefangenen erfolgte in drei unterschiedlichen Kate­ go­rien von »Betrieben«. Bei den sogenannten A-Betrieben handelte es sich vor­ wiegend um Einrichtungen innerhalb der Gefängnismauern, aber auch um Außenarbeitskommandos und Standkommandos: »Betrieb stellt Maschinen sowie Ma­terial und bezahlt an Strafvollzug die Arbeitsleistungen der Strafgefangenen wie ei­ge­ne Betriebsarbeiter (Hauptform).« Angeleitet wurde die Arbeit der Häftlinge von Be­triebsangehörigen, die zu diesem Zweck Zutritt zu Teilen des Anstalts­ geländes er­hielten. In B-Betrieben hingegen »wird mit anstaltseigenen Maschinen für Dritte gearbeitet«. Auch in diesem Fall stellte die Strafvollzugseinrichtung die geleistete Arbeit in Rechnung, »verkaufte« also die Arbeitskraft der Insassen. Schon in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre wurden die meisten B-Betriebe allerdings wieder geschlossen,1558 vermutlich um Verantwortlichkeiten und Risiken auf die Betriebe abzuwälzen; auch in Brandenburg-Görden existierte 1957 mit der 1555  Vgl. Einschätzung der Lage im Strafvollzug durch die Arbeitsgruppe SV der Politischen Verwaltung vom 12.4.1960; BArch DO1 11/1477, Bl. 25–36. 1556  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 36–55, hier 40. 1557  Protokoll des Chefs der BDVP Potsdam über die Dienstbesprechung am 28.10.1975 vom 30.10.1975; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/45, Bl. 56–62. 1558  Vgl. Quartalsbericht III/56 der Abt. Produktion der Verwaltung Strafvollzug vom 16.10.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 94–96.

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Wäscherei nur noch ein Unternehmen dieser Kategorie. Sogenannte C-Betriebe schließlich dienten der Versorgung der Haftanstalt und führten intern Reparaturen aus.1559 Weil diese Hausarbeiter am einfachsten zu kontrollieren waren und den geringsten Lohn erhielten, wurden neu eingewiesene Häftlinge oft zuerst zu solchen Tätigkeiten herangezogen und später in A-Betrieben eingesetzt.1560 3.5.2 Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes Der enorme Bedarf an Arbeitskräften im SED-Staat führte dazu, dass auch die Häftlinge systematisch in den Produktionsprozess einbezogen wurden. Da jedoch anfänglich Auftraggeber, Maschinen, Material und Werkhallen fehlten und außerhalb der Gefängnismauern nur Gefangene mit geringen Reststrafen ein­gesetzt werden sollten, blieb der Arbeitseinsatz bis 1947 unsystematisch.1561 Die Sowjetische Militäradministration, deren lokalen Stellen seinerzeit häu­ fig Ge­fangene aus Justizhaftanstalten als Arbeitskommandos anforderten,1562 dräng­te deswegen ab 1948 verstärkt auf einen groß angelegten Arbeits­ein­satz. Die ostdeutsche Justizverwaltung stellte daraufhin ihr Hauptanliegen in der Straf­ vollzugspolitik, die Resozialisierung der Straftäter, zurück und versuchte, in dem Arbeitseinsatz einen erzieherischen Aspekt zu sehen.1563 Statt tagein, tagaus zur Untätigkeit in den Zellen verdammt zu sein, waren viele Insassen aus Gründen der Abwechslung und des Verdienstes sogar auf Arbeit erpicht. Diese galt deswegen als Vergünstigung, die politischen Häftlingen sowie Insassen mit hohen Strafmaßen oft versagt blieb; manche Gefängnisleiter nutzten das Vorenthalten der Arbeit sogar als Mittel, um die Insassen zu disziplinieren und zu zermürben.1564 In Brandenburg-Görden wurde 1948 die Gefangenenarbeit bereits geplant, noch be­vor die ersten Häftlinge eingewiesen wurden. Die Arbeitssäle der Haft­ anstalt, so die Überlegung, würden die Ansiedlung eines volkseigenen Betriebs innerhalb der Gefängnismauern gestatten, »wenn möglich« ein platzsparender Metallbetrieb. Dann könnten an den Maschinen etwa 500 Gefangene beschäftigt 1559  Auskunftsbericht der AG Strafvollzug der BDVP Potsdam über Struktur und Funktion sowie Hauptaufgaben und Arbeitsweise des Strafvollzugs im Bezirk vom 19.5.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/250, Bl. 190–199. 1560  Schreiben der Abt. Produktion der Verwaltung Strafvollzug an die Bezirksverwaltung Strafvollzug Erfurt betr. Arbeitsbelohnung Strafgefangener o. D. [9/1956]; BArch DO1 11/1585, Bl. 132. 1561  Vgl. Hoffmann, Dierk: Aufbau und Krise der Planwirtschaft. Die Arbeitskräftelenkung in der SBZ/DDR 1945 bis 1963. München 2002 S. 242–248. 1562  Vgl. Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 78. 1563  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 371 f. 1564  [Bericht eines in den Westen geflüchteten Mitglieds des Strafvollzugsausschusses des thüringischen Landtags] betr. Strafvollzug in Thüringen (Stand September 1950) vom 10.10.1950; BArch B 137/1809.

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werden, während die Feinarbeit in den Zellen etwa 1 000 Gefangene erledigen sollten.1565 Als dann wenig später die nach Befehl 201 Verurteilten eingewiesen wurden, konnten diese aufgrund ihrer vergleichsweise kurzen Freiheitsstrafen auch zur Außenarbeit eingesetzt werden; mindestens 650 Personen mit einer Reststrafe von weniger als drei Jahren sollte dies betreffen.1566 Weil die Wiederinbetrieb­ nahme der Betriebe in dem kriegsgeschädigten Land, auch angesichts hoher Reparationen, aber nicht richtig vorankam, mussten in der Praxis im August 1950 zunächst nur etwa 600 von rund 1 700 Häftlingen arbeiten (etwa 35 %), davon rund 400 ständig (als Standkommando) oder tagsüber (als Tageskommando) außerhalb der Gefängnismauern.1567 Von dem Arbeitseinsatz ausgeschlossen blieben allerdings die in Einzelhaft befindlichen politischen Gefangenen.1568 Nach der Übernahme des Strafvollzugs durch die Volkspolizei wurde eine Verordnung zum Arbeitseinsatz der Häftlinge erlassen1569 und der Bau von Haftarbeitslagern dort erwogen, wo die Industrie entsprechenden Bedarf mel­ dete.1570 Denn Infrastrukturmaßnahmen sowie Verkehrswegebau verlangten nach befristetem Arbeitseinsatz an variierenden Standorten, sodass es zu einem »wilden Wuchern« von Außenkommandos und Haftarbeitslagern kam.1571 In den größeren Strafvollzugsanstalten der gesamten DDR waren aber lediglich 44 Prozent der Insassen seinerzeit im Arbeitseinsatz,1572 was aus der katastrophalen Überbelegung, schlechter Organisation und fehlendem Wachpersonal resultierte; in Brandenburg-Görden waren es im Sommer 1952 gar erst 30 Prozent.1573 Auch im Folgejahr waren es noch deutlich unter 40 Prozent bzw. 1 354 Insassen, von denen beispielsweise 721 Häftlinge sowjetische Uniformen für die Burger Bekleidungswerkstätten fertigten und 126 Inhaftierte Küchenmöbel für den

1565  Ergebnisprotokoll einer Besprechung in der Deutschen Justizverwaltung vom 2.11.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 4–6. 1566  Vgl. Arbeitsplan der Hauptabteilung HS für die Übernahme der Strafanstalten aus der Regie der Justiz vom 24.11.1950; BArch DO1 11/1479, Bl. 113–119. 1567  Vgl. Monatlicher Informationsbericht des PK-Leiters Bergelt an Abteilung PK der Haupt­ abteilung HS der HVDVP vom 29.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 90–96. 1568  Vgl. Brundert, Willi: Fronarbeit für das SED-Regime. Die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft in den sowjetzonalen Haftanstalten. In: SBZ-Archiv Nr. (1957) 22, S. 347 f.; Bericht [eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 3.1.1951, 13 Bl.; BArch B 137/1809. 1569  Vgl. Verordnung über die Beschäftigung von Strafgefangenen (Anlage Nr. 2 zum Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 28.2.1952); BArch DY 30 J IV 2/3–272; GBl. der DDR Nr. 43 vom 8.4.1952, S. 275 f. 1570  Vgl. Hoffmann: Aufbau und Krise der Planwirtschaft, S. 422–429. 1571  Eberle: Ökonomische Aspekte des Strafvollzuges, S. 111–140, hier 116. 1572  Vgl. Bericht der Vollzugsabteilung der Hauptabteilung SV über die Auswertung der Statistiken des Monats Juli 1952; BArch DO1 11/1578, Bl. 110–112. 1573  Vgl. Kampf-Perspektivplan der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1953; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 20–29. Siehe auch Brundert: Fronarbeit für das SED-Regime.

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Export produzierten.1574 99 Insassen erledigten für den VEB Präzisionsfabrik Magdeburg Schlosserarbeiten, 106 Insassen mussten im Außenkommando für die Bau-Union Schächte ausheben und beachtliche 201 Kalfaktoren waren für Hausreinigung, Krankenpflege, Essensausgabe, Frisieren, Schweinemast und Gartenarbeiten zuständig.1575 Mit der Möbelproduktion und dem Stahl- und Walzwerk waren die wichtigsten Wirtschaftsbetriebe der folgenden Jahrzehnte bereits mit im Boot, und im Frühjahr 1953 wurde um eine benachbarte Arbeits­ halle eine Mauer gezogen, sodass dort weitere 600 Gefangene in zwei Schichten Getriebeteile für Traktoren produzieren konnten.1576 Dem Ziel, möglichst alle Gefangene zu beschäftigen, wurden Sicherheits­ aspekte teilweise untergeordnet. So genehmigte das Zentralsekretariat der SED im Februar 1952, dass fortan Gefangene mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zum Außenarbeitseinsatz eingeteilt werden durften, während das zulässi­ge Höchstmaß bis dahin bei drei Jahren gelegen hatte.1577 Entsprechend einer wenig später erlassenen Verordnung1578 sollte die Meldung der Insassen zu einem schwe­ren (Außen-)Arbeitseinsatz freiwillig erfolgen,1579 doch erklärte sich nur jeder dritte Häftling hierzu bereit.1580 Schon im Juli des Folgejahres rückte man daher vom Prinzip der Freiwilligkeit wieder ab,1581 zumal vor allem fluchtwillige Häftlinge außerhalb der Gefängnismauern hatten arbeiten wollen.1582 Diese Entwicklung war auch eine Konsequenz des Juni-Aufstandes,1583 denn jetzt sollten aus Sicherheitsgründen keine politischen Häftlinge mehr zum Außenarbeitseinsatz gelangen.1584 Im Januar 1954 kritisierte Volkspolizeichef Karl Maron, dass der 1574  Vgl. BArch DO1 11/1581, Bl. 43–70; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/120. Die Küchen­ möbel gingen angeblich auch in den Westexport. Vgl. Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 218; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.8.1982; Schmidt; Weischer: Zorn und Trauer, S. 195; Pfeiffer: Lebenslänglich, S. 132. 1575  Vgl. BArch DO1 11/1581, Bl. 43–70; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/120. 1576  Vgl. Kampf-Perspektivplan der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1953; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, Bl. 20–29. 1577  Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 28.2.1952; BArch DY 30 J IV 2/3-272. 1578  Vgl. BArch DO1 11/1581. 1579  Vgl. Verordnung über die Beschäftigung von Strafgefangenen vom 3.4.1952; GBl. der DDR Nr. 43 vom 8.4.1952, S. 275 f. 1580  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung SV an den Chef der DVP Maron betr. Arbeitseinsatz von Strafgefangenen [mit Randnotizen Marons] vom 8.3.1951; BArch DO1 11/1581, Bl. 10 f. 1581  Vgl. Grundsätze der HA Strafvollzug für eine Änderung der Regierungsverordnung über die Beschäftigung von Strafgefangenen vom 3.4.1952 vom 1.7.1953; BArch DO1 11/1585, Bl. 28–30. 1582  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung SV an den Chef der DVP Maron betr. Arbeitseinsatz von Strafgefangenen [mit Randnotizen Marons] vom 8.3.1951; BArch DO1 11/1581, Bl. 10 f. 1583  Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptabteilung Strafvollzug an die Politabteilung der HV Deutsche Volkspolizei VP-Inspekteur Breitfeld betr. Hauptaufgaben der Hauptabteilung Strafvollzug zur Durchführung des neuen Kurses vom 9.7.1953; BArch DO1 11/1468, Bl. 185. 1584  Vgl. Quartalsbericht der Hauptabteilung Strafvollzug für das IV. Quartal 1953 vom 4.2.1954; BArch DO1 11/1468, Bl. 88–105.

Der Arbeitseinsatz

481

Arbeitseinsatz »oft noch auf Kosten der Sicherheit« erfolge. Zwar sollten neue A-Betriebe gebildet und mehr Häftlinge zur Arbeit eingesetzt werden, doch gelte es, Zersplitterung zu vermeiden.1585 Weil der Arbeitseinsatz systematischer organisiert wurde und dementsprechend der Personalbedarf wuchs, wurde auf Gesundheit und Alter der Gefangenen immer weniger Rücksicht genommen. Aus angeblich »erzieherischen« Gründen sollten sogar solche Häftlinge beschäftigt werden, »die aufgrund ihres Gesundheits­ zustandes […] nicht in den allgemeinen Arbeitsbetrieb eingeschaltet werden können«. Der Leiter der Verwaltung Strafvollzug, August Mayer, regte gar eine »Arbeitstherapie bei Tbc-Kranken« an.1586 Das Ausbleiben der Arbeitskräfte nach Massenentlassungen und Amnestien brach­te etliche Betriebe zum Kollabieren; in Brandenburg-Görden etwa ließ sich dann oftmals nur in den wichtigsten A-Betrieben eine Teilproduktion auf­ rechterhalten.1587 Indes war die Haftanstalt an der Havel wegen ihrer zahlreichen »Langstrafer« amnestiebedingten Veränderungen der Häft­lings­zah­len weniger unterworfen als viele andere Gefängnisse. Die oberste Ge­fäng­nis­ver­waltung sah immerhin den Vorteil verringerter Häftlingszahlen da­rin, dass nach zahl­ reichen Entlassungen Mitte der Fünfzigerjahre (siehe Kap. 4.1.6) »zum 1. Mal die reale Möglichkeit gegeben [war], alle arbeitsfähigen Straf­ge­fan­genen zu beschäftigen«.1588 So sank die absolute Zahl arbeitender Häft­lin­ge in der gesamten DDR im Jahresverlauf 1956 von 20 611 auf 14 751, doch ihr prozentualer Anteil an allen Strafgefangenen stieg zugleich von 49 auf 73 Prozent,1589 anderen Angaben zufolge gar auf 78,7 Prozent.1590 Trotz sin­ken­der Häftlingszahlen wurden die Anforderungskriterien für den Ar­beits­ein­satz verschärft,1591 da die Gesundheit der Betroffenen kaum eine Rol­le spiel­te. Zumindest konnten nun wieder politische Gefangene unter be­stimm­ten Bedingungen jenseits der Gefängnistore arbeiten, das heißt jene, die nach Ar­ti­kel 6 der DDR-Verfassung bzw. Kontrollratsdirektive 38 sowie we­gen anderer staats­gefährdender Delikte verurteilt worden waren. Auch 1585  Vgl. Befehl 1/54 des Chefs der Deutschen Volkspolizei betr. Beschäftigung von Straf­ gefangenen vom 5.1.1954; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 14819. 1586  Vgl. Schreiben des Leiters der Abteilung Strafvollzug des Präsidium der Volkspolizei Berlin an den Leiter der Hauptabteilung SV Mayer vom 22.5.1954; BArch DO1 11/1589, Bl. 146 f. 1587  Vgl. Zusammenstellung [der VSV] vom 3.5.1956; BArch DO1 11/1581, Bl. 95–97; Schreiben der Verwaltung Strafvollzug an die Bezirksverwaltungen SV vom Herbst/Winter 1956; ebenda, Bl. 149–158. 1588  Vgl. Quartalsbericht III/56 der Abt. Produktion der Verwaltung Strafvollzug vom 16.10.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 94–96. 1589  Vgl. Jahresbericht 1956 der Abt. Produktion der Verwaltung Strafvollzug vom 2.2.1957; ebenda, Bl. 202–206; Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 409. 1590  Vgl. Quartalsbericht IV/56 der Abt. Produktion der Verwaltung Strafvollzug vom 15.1.1957; BArch DO1 11/1472, Bl. 129 f. 1591  Vgl. Entwurf einer Arbeitsrichtlinie zur einmaligen Erfassung aller Strafgefangener am 28.2.1957 vom 8.2.1957; BArch DO1 11/1581, Bl. 193–195.

482

Die Gefangenschaft

wer vor­mals (als Ge­heim­nisträger) in der Volkspolizei gedient hatte, aus dem Westen stamm­te oder eine Reststrafe von unter drei Jahren verbüßte, konnte nun in Haft­arbeitslagern und Standkommandos eingesetzt werden; ausdrücklich aus­ge­nommen blieben SMT- und Waldheim-Verurteilte.1592 Kriminelle durften hin­gegen bis zu einer Rest­strafe von fünf Jahren außerhalb der Gefängnismauern ar­beiten. Auch in Brandenburg-Görden wurde nun verstärkt die Arbeitskraft der po­litischen Ge­fan­genen genutzt, sodass im Jahre 1958 von 1 726 beschäftigten Häft­lin­gen 1 003 (bzw. 58,1 %) wegen »staatsgefährdender Delikte« einsaßen (sie­he Kap. 4.1.8).1593 Besonders wichtige politische Gefangene blieben indes wei­ terhin iso­liert und waren zu zermürbender Untätigkeit oder Zellenarbeit ge­zwun­ gen,1594 die noch nicht mal in der Logik der Herrschenden erzieherisch wir­ken konn­te, da sie nicht im Kollektiv geleistet wurde.1595 Besonders wichtig waren Brigadier- und Kalfaktorenstellen, die nicht mit politischen Gefangenen besetzt werden sollten; einige SED-Funktionäre wussten schließlich aus eigener Erfahrung, dass »Funktionshäftlinge« durchaus illegale Strukturen aufzubauen vermochten. In den frühen Jahren wurde dieser Grund­ satz aller­dings weniger streng befolgt, da viele Stellen (etwa in der Bibliothek) bestimm­te Qualifikationen verlangten, über die am ehesten politische Gefangene verfüg­ten. Zu­dem ließ die Verwaltung Strafvollzug auch erzieherische Gründe gel­ten: »Wo kämen wir hin, wenn wir als Hausarbeiter und Kalfaktoren nur Mitglie­der der SED oder von Massenorganisationen einsetzen wollten? Es kommt doch vornehmlich darauf an, die Strafgefangenen erzieherisch zu entwickeln, und das müssen wir erst recht mit staatsfeindlichen Elementen.«1596 In BrandenburgGörden indes sorgte Fritz Ackermann Anfang 1960 dafür, dass die politi­schen Gefangenen von wichtigen Brigadier- und Kalfaktorenstellen entfernt wur­den, da im Vorjahr eine illegale »Widerstandsgruppe« von politischen Gefange­nen aufgeflogen war, die es nun zu zerschlagen galt (siehe Kap. 5.5.2.4). Statt der politischen Gefangenen wurden nun vorwiegend wegen Mord oder Tot­schlag Verurteilte als Brigadiere und Kalfaktoren eingesetzt.1597 1592  Vgl. Ergänzung der Verwaltung Strafvollzug zur Dienstanweisung 2, Teil B des Chefs der DVP zum Befehl 4/55 des Chefs der DVP betr. Durchführung der zentralen Arbeitskräftelenkung für HAL und Standkommandos vom 9.3.1956; BArch DO1 32/54128. 1593  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 27. 1594  Vgl. Jahresperspektivplan des Referates Vollzug der BVSV Potsdam vom 28.12.1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/115, Bl. 288–290. 1595  Vgl. Schmidt: Zur Frage der Zwangsarbeit, S. 180. 1596  Schreiben der Abt. Produktion der Verwaltung Strafvollzug an die Bezirksverwaltung Straf­ vollzug Erfurt betr. Arbeitsbelohnung Strafgefangener o. D. [9/1956]; BArch DO1 11/1585, Bl. 132. 1597  Vgl. [Arbeitsmaterialien zur] 37. Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft 13. August am 8.7.1977; BStU, MfS, HA VII/8, ZMA, Nr. 272/79, Bl. 1–17; [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des Polit-Stellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 189–211.

Der Arbeitseinsatz

483

Weil die Gefangenen immer stärker nach Erst- und Rückfalltätern, Delikten und Alter voneinander getrennt wurden, waren im Herbst 1960 in BrandenburgGörden, Bautzen, Torgau, Waldheim und Cottbus insgesamt 1 400 Gefangene oh­ne Arbeit, während in einigen Haftarbeitslagern, insbesondere in Ze­ment­ wer­ken und im Bergbau, Arbeitskräfte fehlten.1598 Mit dem Gnadenakt von 1960 sanken die Häftlingszahlen (siehe Kap. 4.1.9), während die Quote der Ge­ fangenen im Arbeitseinsatz wieder stieg; im Herbst 1961 mussten so in der ge­ samten DDR bereits 85,6 Prozent aller Strafgefangenen bzw. 92,6 Prozent aller für arbeitsfähig befundenen Häftlinge arbeiten.1599 Die Nichtamnestierten konn­ ten sich schlechter als zuvor dem Arbeitseinsatz entziehen und es sollten jetzt sogar »bedingt arbeitsfähige Strafgefangene« eingesetzt werden.1600 Ab 1961 durften die Insassen von Haftarbeitslagern sich nicht länger durch über­mä­ ßige Normerfüllung Strafrabatt erarbeiten (siehe Kap. 4.1.11), weswegen ih­re Leitungsbereitschaft vermutlich abnahm. Priorität beim Arbeitseinsatz hatte stets die »Landesverteidigung«, was etwa in Branden­burg-Görden die Produktion von Uniformen und Bauteilen für Panzer be­traf. Dies hatte stets Vorrang, selbst wenn dem Produktionsverträge mit anderen Be­trieben entgegenstanden bzw. die Arbeitskraft der Gefangenen auf andere Weise lu­k rativer hätte eingesetzt werden können.1601 Zwar existierten Anfang der Sech­ ziger­jahre nur noch zwei Arbeitskommandos außerhalb der Gefängnismauern von Brandenburg-Görden,1602 doch befanden sich im Spätsommer 1962 fast 1 900 Gefangene sukzessive im Ernteeinsatz, bewacht von fast 400 Aufsehern.1603 Trotz Mahnungen zur Konzentration der Gefangenen1604 kam es bei wichtigen Bau­projekten weiterhin zum befristeten Arbeitseinsatz außerhalb der Gefängnis­ mau­ern. So beteiligten sich etwa im Sommer 1967 150 Häftlinge aus BrandenburgGörden in der Nähe Magdeburgs am Ausbau der Transitstrecke Berlin – Sten­ dal;1605 zwei Jahre später arbeiteten sogar insgesamt 266 Gefangene außerhalb 1598  Vgl. Bericht der Verwaltung Strafvollzug über die Lage im Dienstzweig Strafvollzug vom 4.10.1960; BArch DO1 11/1476, Bl. 150–169. 1599  Vgl. Verwaltung Strafvollzug: Stand der Erfüllung der ökonomischen Aufgaben und die Perspektive für 1962 vom 18.10.1961; BArch DO1 11/1477, Bl. 123–128. 1600  Vgl. Quartalsbericht III/56 der Abt. Produktion der Verwaltung Strafvollzug vom 16.10.1956; BArch DO1 11/1472, Bl. 94–96. 1601  Vgl. Vorlage des Leiters der HVDVP für das Kollegium [des MdI] betr. die Einschätzung der weiteren Entwicklung im Dienstzweig Strafvollzug unter besonderer Berücksichtigung der Arbeitserziehung vom 1.12.1961; BArch DO1 11/1477, Bl. 129–137. 1602  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 51. 1603  Vgl. Schreiben des Leiters der StVA Brandenburg vom 24.9.1962; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/698, Bl. 79. 1604  Vgl. Referat des Ministers des Innern und Chefs der DVP Dickel auf der Arbeitstagung zu Problemen des Strafvollzugs vom 11.8.1965, 51 S.; BArch DO1 32/36357. 1605  Vgl. Schreiben des Politstellvertreters der StVA Brandenburg vom 30.6.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/700, Bl. 137–140; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/391.

484

Die Gefangenschaft

der Gefängnismauern.1606 Die Umprofilierung der Haftanstalt am Ende der Sechzigerjahre erschwerte den Außenarbeitseinsatz, denn dieser war für Gefangene der Kategorie I tabu, die jetzt die Mehrheit in Brandenburg-Görden stellten.1607 Ausgeschlossen blieben weiterhin zur Flucht bereite oder befähigte Insassen – etwa solche mit Kenntnissen im Zweikampf, renitentem Gebaren, mehrmals Vor­bestrafte und Häftlinge mit Ortskenntnissen. Weil ihr Entweichen zu einem Politikum hätte werden können, mussten Bundesbürger sowie politische Ge­ fangene ab jetzt wieder auf dem Gelände der Haftanstalt verbleiben.1608 In den Sechzigerjahren betrachtete die oberste Gefängnisverwaltung den Arbeitseinsatz stärker aus dem Blickwinkel seines vermeintlichen pädagogischen Effekts heraus (siehe Kap. 3.1.1). Die Gefangenenarbeit dürfe »nicht nur vom ökonomischen Nutzen her betrachtet werden«, im Vordergrund müsse »der straffällig gewordene Mensch, also der umzuerziehende Rechtsbrecher, und nicht schlechtweg die Arbeitskraft stehen«. Deswegen müsse »mit der falschen Auffassung, alle Maßnahmen der Einnahmeerfüllung unterzuordnen, endgültig Schluss gemacht werden«. Sollten die Betriebe die »Umerziehung« vernachlässigen, sollte die Zusammenarbeit gekündigt werden; auch an die Beendigung der Nacht­ arbeit und die Beseitigung der »Splitterkommandos« wurde gedacht.1609 Ganz ähnlich forderte das neue Strafvollzugsgesetz von 1968, unterschiedliche Häft­ lings­gruppen sogar während des Arbeitseinsatzes konsequenter zu separieren; so herrschte im Jahre 1969 in Brandenburg-Görden in 36 Arbeitskommandos einheitlich die strenge, in zweien die allgemeine und in einem die erleichterte Vollzugsart, doch kamen bei insgesamt 14 Arbeitskommandos Inhaftierte aus unterschiedlichen Gruppen zusammen.1610 Im Zuge der stärkeren Betonung der Resozialisation wurde im Jahre 1961 zudem der allgemeinbildende Unterricht aufgenommen. Zunächst war es ein Gefangener, der elf Mithäftlinge in den Fächern Deutsch und Mathematik 1606  Vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-An­ weisung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33. 1607  Vgl. [Aufstellung der Arbeitsbetriebe der] Strafvollzugsanstalt Brandenburg o. D. [7/1967]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 140 f. Siehe auch Instruktion 11/68 des Leiters der Verwaltung Strafvollzug über den Arbeitseinsatz Strafgefangener außerhalb der Straf­voll­zugs­ einrichtungen vom 21.6.1968; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 11030. 1608  Vgl. Ausschlusskriterien für AAE [Außenarbeitseinsatz] o. D. [etwa 1980]; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 2, Bl. 4. Dabei wird Bezug genommen auf die Ordnung 107/77 des Ministers des Innern über die Durchführung des Vollzuges von Strafen mit Freiheitsentzug – Strafvollzugsordnung – vom 7.4.1977; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 12003. 1609  Disposition der Abteilung II/2 der Verwaltung Strafvollzug vom 8.7.1960; BArch DO1 11/1460, Bl. 286–289. 1610  Vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der VVS-An­ weisung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33.

Der Arbeitseinsatz

485

mit dem Ziel des 8.-Klasse-Abschlusses unterrichten durfte. Zehn Jahre später wurden dann sechs 8. Klassen, zwei 9. Klassen und eine »Abrundungsklasse« mit insgesamt 178 Teilnehmern durch Volkshochschullehrer in Deutsch, Geschichte, Staatsbürgerkunde und Mathematik unterrichtet. Die berufliche Qualifikation der Gefangenen erschien indes wichtiger, weswegen schon 1956 eine Lehrwerkstatt zur Facharbeiterausbildung eingerichtet worden war. Aus Sicht des Systems versprach die berufliche Ausbildung der Gefangenen einen größeren volkswirtschaftlichen Nutzen als die Verbesserung ihrer Allgemeinbildung.1611 Etwa 85 Prozent aller Häftlinge waren zum Jahresbeginn 1967 waren in der Haftanstalt an der Havel im Arbeitseinsatz, fünf Prozent galten als krank bzw. ar­ beitsunfähig,1612 während etwa zehn Prozent zur Arbeit hätten einge­setzt wer­den können, es jedoch an entsprechenden Möglichkeiten mangelte.1613 Den Schwerpunkt bildete dabei das Getriebewerk Brandenburg (GWB), wo 640 Insassen in neu errichteten Produktionshallen auf dem Anstaltsgelände Traktorenteile herstellten sowie Getriebe für Lastkraftwagen und Panzerbauteile fer­tigten. 221 Inhaftierte zimmerten im Holzverarbeitungswerk Burg (HVB) Kü­chenmöbel für den Export. In den Burger Bekleidungswerken (BBW) pro­du­zierten 161 Gefangene Uniformen für die Kampfgruppen der Arbeiterklasse, Atom­schutzumhänge und Winteruniformen für die Nationale Volksarmee sowie Ar­beitsschutzkleidung.1614 Gerade die Pro­ duktion der Atomschutzumhänge stock­te, weil das Produkt nicht ausgereift war, die Planziffern jedoch 8 000 bis 10 000 Exemplare pro Vierteljahr vorsahen.1615 Zeitweise wurden auch Uni­for­men für die sowjetische Armee produziert, wobei pro Zentimeter Naht zehn Na­delstiche gesetzt werden mussten.1616 Außerdem sollten 110 Häftlinge für das Elektromotorenwerk Wernigerode Elektromotoren 1611  Vgl. 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung über den Stand der Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte bei der Lösung der Aufgaben des SV entsprechend der §§ 19 und 20 der 1. DB zum SVWG vom 14.12.1970; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 30–36. Im Verlauf des Jahres 1968 wurde beispielsweise 50 Gefangenen eine »Prüfbescheinigung für Brenner« ausgestellt, 22 Häftlinge wurden als Möbeltischler ausgebildet und zwölf Gefangene wurden ermächtigt, Schweißerarbeiten zu verrichten. Vgl. Gesamtanalyse der Strafvollzugsanstalt Branden­ burg entsprechend der VVS-Anweisung 37/68 des Ministers des Innern vom 13.2.1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/694, Bl. 1–33. 1612  Vgl. Jahresbericht des Vollzugsdienstes 1966 der StVE Brandenburg vom 10.1.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 44–67. 1613  Schreiben der AG Bildung/Erziehung der StVA Brandenburg an den Leiter der Dienststelle vom 14.9.1967; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/700, Bl. 154–160. 1614  Vgl. [Aufstellung der Arbeitsbetriebe der] Strafvollzugsanstalt Brandenburg o. D. [7/1967]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 140 f. 1615  Vgl. Bericht der Quelle 71467 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. Schneiderei vom 4.11.1968 (Stand Mitte September 1968); BArch B 137/15761. Siehe auch Bericht der Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam über die festgestellten Missstände in der StVA Brandenburg vom 26.10.1966; BStU, MfS, Abt. XIV, Nr. 1326, Bl. 12–30. 1616  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S.

486

Die Gefangenschaft

aufwickeln. Aufgrund der hohen Belegung der Haftanstalt wurden auch wieder Außenkommandos ge­bildet – etwa für den Gleisbau der Reichsbahn (RB) (154 Ge­ fangene), das Reichs­bahnausbesserungswerk Potsdam (RAW) (68), die Ziegelei (Z) (13), die Land­wirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) in Plaue und in Rogäsen (10) sowie das Stahl- und Walzwerk Brandenburg (SWB) (9).1617 In der gesamten DDR lag der Anteil der arbeitenden Gefangenen in den Siebziger­ jahren durchschnittlich bei 80 Prozent, schwankte indes in Abhängigkeit von Amnestien und Verurteilungszahlen. Mitte der Siebzigerjahre übermittelte die ober­ste Gefängnisverwaltung dann dem Politbüro die Erfolgsmeldung, dass »der Arbeitseinsatz aller arbeitsfähigen Strafgefangenen […] gesichert« sei.1618 Ob­wohl de­ren Anteil gestiegen war, ging diese Einschätzung dann doch an der Re­alität vor­bei (siehe Tabelle 9). Die Produktion in Brandenburg-Görden wurde im Laufe der Jahre stark ausgeweitet; ab 1971 ließ beispielsweise auch der VEB Kontaktbauele­men­te Lucken­walde (KBL) in der Haftanstalt an der Havel produzieren.1619 Über die Schwerpunkte beim Arbeitseinsatz entschied seinerzeit die Staatliche Plan­kom­ mission in Abstimmung mit den zuständigen Ministerien.1620 Dann for­der­ten auf der untersten Ebene die Betriebsdirektoren von den Gefängnissen Häftlings­ arbeiter an, was Interessenkonflikte auslösen musste: Sahen die Betriebe in den Gefangenen vor allem disponible und billige Arbeitskräfte und verwiesen auf die Planerfüllung, drängte die Gefängnisverwaltung auf Sicherheitsvorkehrungen gegen Fluchtversuche und konnte meist gar nicht genügend qualifizierte Häftlings­ arbeiter abstellen.1621 Zu Beginn der Achtzigerjahre mussten in Brandenburg-Görden 95,9 Prozent der Gefangenen arbeiten;1622 sogar ein 81-jähriger Insasse wurde jetzt, angeblich auf eigenen Wunsch, vier Stunden täglich mit »leichter körperlicher Arbeit« betraut.1623 Die Quote der beschäftigten Insassen stieg dann bis 1986 leicht auf

1617  Vgl. [Aufstellung der Arbeitsbetriebe der] Strafvollzugsanstalt Brandenburg o. D. [7/1967]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 140 f. 1618  Bericht über die Arbeit des Organs Strafvollzug (Anlage Nr. 24 zum Protokoll Nr. 11/77 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 15.3.1977); BArch DY 30 J IV 2/2–1663, Bl. 379–394. 1619  Vgl. Information der KD Luckenwalde vom 27.2.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 356/83, Bl. 59 f. 1620  Vgl. Beschluss des Präsidiums des Ministerrats vom 22.7.1976; BArch DC 20/I/4 3601, Bl. 93–98. 1621  Vgl. Sonntag: Arbeitslager in der DDR, S. 255–259; Vesting: Zwangsarbeit im Chemie­ dreieck, S. 90 f. 1622  Lageeinschätzung des Stellv. Operativ der StVE Brandenburg für den Monat Oktober vom 10.11.1982; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/764. 1623  Gesundheitsbericht des Med[izinischen] Dienstes der Strafvollzugseinrichtung Branden­burg über den Strafgefangenen Bartfeldt, Paul vom 10.9.1983; BStU, MfS, HA IX, Nr. 19185, Bl. 221.

487

Der Arbeitseinsatz

1971

1972

1973

1974

1975

20 080

3 634

22 925

31 197

29 891

2 518

887

3 137

3 807

3 609

335

403

988

1 360

1 518

Arbeitseinsatz gesamt

22 933

4 924

27 050

36 364

35 018

Zahl aller SG

30 248

6 074

35 960

43 053

40 397

75,8

81,0

75,2

84,4

86,6

Arbeitseinsatz in Betrieben Hausarbeiter Sonstige

Anteil der arbeitenden SG in %

1976

1977

1978

1979

Ø

24 247

19 778

18 818

20 943

23 484

Hausarbeiter

3 450

3 400

2 614

2 843

3 172

Sonstige

1 490

1 093

1 119

1 080

1 122

Arbeitseinsatz gesamt

29 187

24 271

22 551

24 866

27 778

Zahl aller SG

33 738

28 760

31 832

32 810

34 599

86,5

84,3

70,8

75,7

80,2

Arbeitseinsatz in Betrieben

Anteil der arbeitenden SG in %

Tab. 9: Zahl und Anteil der Häftlinge im Arbeitseinsatz in der gesamten DDR (1971– 1979)1624

97,5 Prozent,1625 sank jedoch dann wegen der Amnestie auf 96,41626 (1987) bzw. 96,71627 Prozent (1988). Aufgrund der hier üblichen hohen Strafmaße war die Amnestie des Jahres 1987 in Brandenburg-Görden jedoch weniger folgenreich als im gesamten DDR-Strafvollzug, wo der Anteil der arbeitenden Gefangenen von 94,6 (1986) sogar auf 85,7 Prozent (1987) zurückging und schließlich auf 93,0 Prozent anstieg (1988).1628 Gegenständlich ausgedrückt, wurden binnen eines halben Jahres beispiels­ weise in der Schuhmacherei Brandenburg-Gördens 1 101 Paar Schuhe und Stie­ fel pro­duziert sowie 6 974 Paar repariert. In der Schneiderei wurden im glei­ 1624  Ausschließlich Strafgefangene; Stichtag jeweils 31.12., für 1979 20.4., für 1972 31.1.1973 (nach Abschluss der Amnestie). Durchschnitt (letzte Spalte) aus den Jahren 1971 und 1973–1979. Vgl. Anlage 1 zur Information der Hauptabteilung VII über die Entwicklung des Gefangenenbestan des im Strafvollzug der DDR vom 19.5.1979; BStU, MfS, HA VII, Nr. 1386, Bl. 456. 1625  Vgl. [Handschriftlicher] Komplexrapport vom Ltr. StVE an Chef BDVP vom 5.3.1986; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1983/89, Bd. II, Bl. 162–169. 1626  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 2. Halbjahr 1987 vom 14.1.1988; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/459. 1627  Komplexe Lageeinschätzung des Leiters der StVE Brandenburg für das 1. Halbjahr 1988 vom 13.7.1988; ebenda. 1628  Stichtage Januar 1987 (für 1986) sowie Dezember 1987 und 1988. Vgl. Raschka: Justiz­ politik im SED-Staat, S. 341.

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chen Zeit­raum 1 444 Handschuhe, 332 Unterjacken sowie 194 Jacken genäht und 6 310 Jacken, 5 422 Paar Socken, 5 230 Unterhosen, 4 742 Unterhemden, 3 667 Hosen sowie 15 Mäntel geflickt.1629 Die Schreinerei produzierte an je­dem Ar­beits­tag 48 Küchen, die großteils nach Osteuropa und zum kleineren Teil in den Westen exportiert wurden.1630 Mitte der Achtzigerjahre stellten für das Ge­ trie­bewerk Brandenburg 480 Häftlinge Getriebeteile für den (auch als Ge­fan­ge­ nen­trans­portwagen genutzten) Lkw W 50 sowie die Personenkraftwagen Tra­bant und Wartburg her. Für die Elektromotorenwerke Wernigerode fertigten sei­nerzeit 460 Häftlinge Elektromotoren und technische Anlagen für Volks­wirt­schaft und NVA. Für das Holzverarbeitungswerk Burg produzierten jetzt 384 Häftlinge haupt­sächlich Küchen und für das Burger Bekleidungswerk nähten 300 Häft­ lin­ge militärische Schutzanzüge. Für das Reichsbahnausbesserungswerk Potsdam re­parierten 297 Insassen Eisenbahnwaggons, und für die Werkstätten des Mi­ nis­teriums des Innern waren etwa 260 Häftlinge mit Konstruktionsplänen, Son­ de­raufträgen sowie Computerkabinen befasst, in denen das Ministerium sei­ne Com­puter abhörsicher betreiben wollte.1631 Sogar die Auslandsspionage der Haupt­verwaltung Aufklärung fand Gefallen an diesen Anlagen, doch waren die Pro­duktionskapazitäten viel zu gering für eine Nutzung durch die Staats­si­cher­ heit.1632 Für den VEB Kontaktbauelemente Luckenwalde fertigten zu­dem 170 Ge­fangene elektrotechnische Bauteile für Fern­seh­geräte.1633 3.5.3 Die Arbeitsbedingungen Im DDR-Strafvollzug herrschte grundsätzlich Arbeitspflicht; auf eine Weige­ rung folgten meist schwere Sanktionen oder gar körperliche Übergriffe (siehe Kap. 3.4.4). Schon zu Beginn der Fünfzigerjahre, als es noch vergleichsweise wenig zu tun gab, wollte man die Häftlinge täglich acht Stunden »zu intensiver Arbeit« anhalten, wobei Aufräumarbeiten etc. noch nicht eingeschlossen waren und eine Sechstagewoche offenbar die Regel war. In der Schneiderei von BrandenburgGörden etwa wurde damals von Montag bis Freitag 9,5 Stunden sowie am Samstag

1629  1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Einschätzung der Arbeitsergebnisse im 1. Halbjahr 1971 vom 6.7.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/708, Bl. 39–60. 1630  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S. Siehe auch Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 218. 1631  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 747, Bd. 2, Bl. 127 f. u. 190. 1632  Vgl. Schreiben des Leiters der Hauptabteilung VII vom 14.4.1988; BStU, MfS, HA VII, Nr. 114, Bl. 138. 1633  Vgl. Sicherungskonzeption der Abteilung VII für die Organisation der politisch-operativen Abwehrarbeit in der StVE Brandenburg von Juli 1985; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 874, Bl. 14–40.

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bis 16 Uhr und am Sonntag bis 12 Uhr gearbeitet.1634 In der Gefangenenküche wiederum betrug die tägliche Arbeitszeit Ende der Fünfzigerjahre zwischen zwölf und 15 Stunden,1635 womit die Häftlinge deutlich länger arbeiten mussten als die meisten anderen DDR-Bürger. Der Arbeitseinsatz in den Strafvollzugsanstalten trug bis zum Untergang der DDR »speziell für politische Gefangene [...] schikanöse Züge«.1636 Denn die Gegner des SED-Staates sollten den härtesten Haftbedingungen unterliegen – was die Einhaltung von Ordnung und Disziplin, aber auch was die Arbeitsbedingun­ gen betraf. Kategorie I, zu denen Rückfalltäter, aber auch politische Gefangene zählten, bürdete man aus prinzipiellen Gründen gerne zusätzliche Aufgaben auf. »Bei den Strfg. der Kat. I ist die 45-Stundenwoche und der arbeitsfreie Sonnabend unzweckmäßig. Diese Strafgefangenen haben in erster Linie gegenüber unserem Staat etwas gutzumachen, das heißt wir werden sie zu anderen Arbeiten mehr denn je heranziehen«, wie es im Jahre 1966 in Brandenburg-Görden hieß.1637 Seinerzeit mussten die Häftlinge beispielsweise in den Getriebewerken Brandenburg1638 und in den Burger Bekleidungswerken1639 im Drei-Schicht-Betrieb arbeiten, was viele Häftlinge dazu zwang, gesundheitsschädliche Nachtarbeit zu verrichten. Auch in der Tischlerei begann die erste Schicht um 4.45 Uhr, während das Arbeitsende der dritten (und letzten) Schicht erst um 22.45 Uhr war.1640 Trotzdem mussten die Angehörigen der letzten Schicht, die sich teilweise sogar bis 1 Uhr hinzog, früh morgens wieder zum Zählappell antreten – bevor sie sich wieder hinlegen konnten.1641 Als 1966/67 landesweit die Fünftagewoche eingeführt wurde, zog der Strafvollzug erst im Folgejahr nach. Während außerhalb der Gefängnismauern jetzt die 45-Stunden-Woche galt, wurde die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Strafvollzug auf 48 Stunden begrenzt – wenn die Aufseher dies für angemessen hielten: »Es gibt keine 5-Tage-Arbeitswoche, wenn 48 Std. nicht[s] geleistet wird«,

1634  Niederschrift über die Dienstbesprechung [in der Haftanstalt Brandenburg] vom 30.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 45 f. Der Arbeitsbeginn geht aus dem Dokument nicht sicher hervor. 1635  Vgl. u. a. Bericht des GI »Schwantes« vom 15.12.1958; BStU, MfS, AIM, Nr. 87/62, Bd. 2, Bl. 150. 1636  Fricke: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener, S. 66. 1637  Vgl. [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des Polit-Stellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 189–211. 1638  Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 1639  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S. 1640  Vgl. Bericht der Quelle 71464 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. Tischlerei vom 4.11.1968 (Stand Mitte September 1968), 16 S.; BArch B 137/15761. 1641  Vgl. Brundert: Fronarbeit für das SED-Regime.

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lautete die Devise der Gefängnisleitung.1642 So mussten jetzt 20 Gefangene mehr als die vorgesehenen 48 Stunden arbeiten, während die Arbeitszeit für 1 757 Häftlinge angeblich im vorgesehenen Rahmen lag, und für 159 Inhaftierte weniger als 45 Stunden betragen haben soll.1643 Selbst als 1975 erneut die 5-TageWoche im Strafvollzug proklamiert wurde, war diese durch angeblich »freiwillige« Wochenendarbeit leicht zu umgehen.1644 Andererseits kam es durch Fehlplanung, Materialmangel und defekte Geräte mitunter auch zu erheblichem »Leerlauf«.1645 Bei der Einteilung zur Arbeit wurde auf die Ausbildung, geschweige denn auf persönliche Wünsche der Betroffenen keinerlei Rücksicht genommen, sodass die meisten Gefangenen »berufsfremd« eingesetzt wurden. Ausreisewillige wur­ den sogar gezielt zu besonders primitiven oder gefährlichen Tätigkeiten heran­ gezogen, weil angesichts ihres absehbaren Freikaufs die Gefängnisverwaltung »bildungsseitige Aufwendungen [...] vermeiden« wollte.1646 Politische Gefangene wurden unter anderem im Haftarbeitslager Bitterfeld möglicherweise gerade deswegen konzentriert, weil die Arbeit hier besonders gefährlich war.1647 Dabei konnte ein Häftling, nach mindestens einjährigem Arbeitseinsatz und unter bestimmten Voraussetzungen, in den Genuss einer sogenannten Arbeitsruhe gelangen. Während dieser Zeit durfte er dann auch länger als üblich Besuch empfangen und mehr als sonst einkaufen.1648 Was in den Haftarbeitslagern von der Theorie her bereits Mitte der Fünfzigerjahre möglich war, konnte ab 1965 auch in den Strafvollzugsanstalten gestattet werden. Der Häftling musste allerdings ein Jahr lang ununterbrochen eine hundertprozentige Normerfüllung nachweisen und durfte sich keinerlei Arrest- oder Disziplinarstrafe zuschulden kommen lassen.1649 Anders als bei dem ab 1977 möglichen Hafturlaub (siehe Kap. 3.2.9) blieb der Betreffende in der Zeit der Arbeitsruhe aber weiter inhaftiert. Da diese auch nur gnadenhalber gewährt wurde (und der Häftling keinen Rechtsanspruch darauf hatte), kamen die politischen Gefangenen kaum jemals in deren Genuss. 1642  Vgl. 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg: Analyse der durch die SVE in Durchsetzung des SVWG zu erfüllenden Aufgaben vom 6.9.1968; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 170– 200. Sonntag bestimmt demgegenüber als Beginn einer 45-Stunden-Woche in den Haftarbeitslagern bereits den Mai 1963. Vgl. Sonntag: Arbeitslager in der DDR, S. 260. 1643  Vgl. [Statistik zum Arbeitseinsatz in der StVA Brandenburg] vom 3.4.1968; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 216–225. 1644  Vgl. Koop: Karl-Heinz Rutsch, S. 128–131. 1645  Vgl. [Bericht des GI] »Stockhaus« betr. besonderes Vorkommnis im Werk IV vom 31.1.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2140/81, T. II, Bd. 2, TB III, Bl. 142–144 (MfS-Pag.). 1646  Problemdarstellung der Abt. Ökonomie der Verwaltung Strafvollzug vom 8.5.1988; BStU, MfS, HA VII, Nr. 550, Bl. 34–38. 1647  Vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedreieck, S. 63. 1648  Vgl. Richtlinie der Verwaltung Strafvollzug zur Durchführung der Anordnung über den Arbeitseinsatz von Strafgefangenen vom 28.5.1957; BArch DO1 11/1584, Bl. 181–188. 1649  Vgl. [Redemanuskript eines leitenden Mitarbeiters der StVA Brandenburg, vermutlich des Polit-Stellvertreters] auf der Dienstversammlung vom 14.7.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 189–211.

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Abb. 20: Werkhalle der Elektromotorenwerke für Gefangene in Brandenburg-Görden, 1989/90

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Die Arbeitsschutzbestimmungen wurden im Strafvollzug außerordentlich lax gehandhabt; an der Gesundheit der Häftlinge wurde gleichsam »Raubbau be­ trieben«.1650 Folglich lag die Unfallquote von Häftlingsarbeitern beispielsweise Anfang der Sechzigerjahre um 20 Prozent1651 und Mitte der Achtzigerjahre gar um 45 Prozent über dem Durchschnitt der gewöhnlichen Industriearbeiter.1652 Auch hinsichtlich Brandenburg-Gördens wusste die oberste Gefängnisverwaltung, dass in den Sechzigerjahren die Unfallquote in den entsprechenden Werkstätten deutlich über dem Republikdurchschnitt der metallverarbeitenden Betriebe lag.1653 Tatsächlich wurden in den Werkhallen der Getriebewerke Brandenburg im Jahr über 550 Gefangene bei Unfällen verletzt, darunter die Hälfte so sehr, dass sie mehr als drei Tage krankgeschrieben wurden.1654 Ehemalige Insassen schätzen, dass in diesem Betrieb jährlich etwa 20 Prozent der eingesetzten Häftlinge dauerhaft Schaden erlitten.1655 Besonders folgenreich waren die Verstümmelungen; selbst wer schwere Kopfverletzungen erlitt, blieb mitunter über viele Stunden unversorgt.1656 Beinahe tödlich endete etwa ein Arbeitsunfall in den Getriebewerken im Juli 1984, der »krasse Mängel des Arbeitsschutzes« offenlegte – wie Staatssicherheit und Kriminalpolizei wussten.1657 Doch die Gefängnisverwaltung machte zu­ meist angeblichen Leichtsinn der Häftlinge für die Unfälle verantwortlich – und nicht die zu hohen Arbeitsnormen oder die völlig veralteten Geräte, die zu wenig Schutz boten. Auch wurde in Brandenburg-Görden beispielsweise niemals beanstandet, dass die Insassen in mehreren Betrieben in Kellerräumen arbeiten mussten.1658 Verlangten Inhaftierte nach Schutzhandschuhen für die Arbeit, wurde ihnen verschiedentlich Arrest angedroht.1659 Besonders hoch war die Verletzungsgefahr in dem Haftarbeitslager Rüdersdorf, das als unmittelbarer Vorläufer von Brandenburg-Görden gelten kann. In dem dortigen Kalk-, Zementund Betonwerk waren, wie ein ehemaliger Insasse glaubhaft berichtete, Arm- und 1650  Bastian; Neubert: Schamlos ausgebeutet, S. 89. 1651  Je nach Berechnung ist auch eine dreifach höhere Unfallzahl möglich. Vgl. Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 284 f. 1652  Vgl. Stand der Durchsetzungen der Festlegungen beim Arbeitseinsatz Strafgefangener vom 25.11.1987; BArch DO1/10110, o. Pag. 1653  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/389, Bl. 8. 1654  Vgl. [Bericht des GI] »Stockhaus« betr. Unfallgeschehen im Werk IV vom 15.10.1968; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2140/81, T. II, Bd. 2, TB III, Bl. 121–124 (MfS-Pag.); [Bericht des GI] »Stockhaus« betr. Situation im Werk IV der GWB vom 19.1.1969; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 2140/81, T. II, Bd. 2, TB III, Bl. 138–140 (MfS-Pag.). 1655  Vgl. Bericht der Quelle 71443 Hm betr. StVA Brandenburg vom 3.10.1968 (Stand Ende Mai 1968), 5 S.; BArch B 137/15761. 1656  Vgl. Jablonski: »Verhören bis zum Geständnis«, S. 143. 1657  Vgl. BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 707; zit. nach: Sachse: System der Zwangs­ arbeit, S. 303. 1658  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/695, Bl. 54. 1659  Vgl. Schmidt: Leerjahre, S. 455. Für Bitterfeld vgl. Vesting: Zwangsarbeit im Chemiedrei­ eck, S. 124.

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Beinbrüche »an der Tagesordnung«. Weil der zuständige Betriebsleiter Häft­linge für frei verfügbare Arbeitskräfte hielt, verzichtete er weitgehend auf Sicherheits­ vorkehrungen. Schuldhaft verursachte er so einen Unfall, bei dem einem Häftling ein Bein abgetrennt wurde, weswegen der Betriebsleiter im September 1953 sogar rechtskräftig verurteilt wurde – zu einer Geldstrafe von 600 Mark.1660 Zwar existierten gesetzliche Bestimmungen zum Arbeitsschutz, doch wurden diese Regeln kaum beachtet. Erst der neu zuversetzte Leiter der Medizinischen Dienste in Brandenburg-Görden machte beispielsweise im August 1972 darauf aufmerksam, dass die Arbeitseinsatzbetriebe »die wichtigsten Auflagen [...] bisher nicht erfüllt« hätten. Besonders die Luftverhältnisse in der Lackiererei seien unzumutbar. »Aufgrund der dort verwendeten Lackstoffe und Lösungsmittel werden die SG gesundheitlich derart geschädigt, sodass das Ausmaß der später auf­ tretenden Erkrankungen noch gar nicht einzuschätzen ist.« Unter Bezugnahme auf das Strafvollzugsgesetz empfahl der Mediziner »die sofortige Einstellung der Ar­ beit« in der Lackiererei.1661 Zwar monierte sogar Gefängnisleiter Ackermann, dass durch das Fehlen der Frischluftzufuhr die Luftverhältnisse »unzumutbar« sei­en.1662 Doch selbst diese Fürsprache blieb ohne Konsequenzen, denn auch zwei Monate nach der Initiative des gewissenhaften Mediziners hatte sich an den Zuständen »noch nichts geändert«,1663 wie auch fast ein Jahr später noch alles beim Alten war.1664 Nach Einschätzung der Gefangenen war es vor allem das krebserregende Formaldehyd des Holzleims, das in der Schreinerei des Holz­verarbeitungswerkes Burg für gesundheitliche Beeinträchtigungen sorg­te.1665 Auch in Hoheneck kritisierte in den Siebzigerjahren ein Gefängnisarzt Arbeitsbedingungen sowie die hygienischen Zustände, erreichte jedoch kaum Verbesserungen.1666 In den Achtzigerjahren wurden in Brandenburg-Görden jährlich mehr als 40 schwere, »meldepflichtige« Unfälle gezählt, bei denen Gefangene oftmals ganze Gliedmaßen einbüßten.1667 Noch katastrophaler waren die Arbeitsbedingungen im Chemiekombinat Bitterfeld (mit dem Haftarbeitslager gleichen Namens), wo durch die wissentliche Vernachlässigung von Arbeitsschutzbestimmungen bei der Chlorelektrolyse im April 1980 ein Gefangener an einer Quecksilbervergiftung starb. Erst als auch in Buna im März sowie erneut im Juli 1981 ein Gefangener 1660  Vgl. Besucherliste [des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen mit der Befragung des ehemaligen politischen Häftlings] Eberhard Klinke vom 17.12.1953, 2 S.; BArch B 209/1020. 1661  Lageeinschätzung des Leiters der Med[izinischen] Dienste der StVA Brandenburg [...] für den Monat August 1972 vom 7.9.1972; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/706, Bl. 97. 1662  Vgl. Schreiben des Leiters der StVE Brandenburg an den Werkleiter HVB Gen. [...] vom 21.6.1972; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/711, Bl. 12. 1663  Lageeinschätzung des 1. Stellvertreter der StVA Brandenburg für den Monat Oktober vom 10.11.1972; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/706, Bl. 101–103. 1664  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/706, Bl. 130. 1665  Vgl. Pfeiffer: Lebenslänglich, S. 133. 1666  Vgl. Thiemann: Wo sind die Toten von Hoheneck?, S. 142. 1667  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 305.

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durch Quecksilber ums Leben kam und durch freigekaufte Häftlinge die bundes­ deutsche Presse vom ersten Fall erfuhr,1668 wurden in Buna die Ge­fan­ge­nen (aus dem Haftarbeitslager Raßnitz) mittelfristig abgezogen. In Bitterfeld wurden jetzt in einer Produktionsanlage zur Chlorelektrolyse die Arbeitsbedingungen verbessert und fortan zivile Kräfte eingesetzt, in der anderen Anlage jedoch weiterhin Gefangene. So mussten auch in der Folge jährlich Dutzende von Häft­lingen verlegt werden, weil der Quecksilbergehalt in ihren Körpern ober­ halb der offiziellen Grenzwerte lag, die wiederum zehn Mal höher waren als jene Konzentration, die nach heutigen Erkenntnissen zur Schädigung der Nie­ ren führen kann.1669 Bessere Sicherheitsvorkehrungen wären möglich ge­we­ sen, wurden »aufgrund des unvertretbar hohen Aufwandes« aber nicht vor­ genommen.1670 Auch in der Haftanstalt an der Havel wurde bei den Burger Bekleidungswerken bis 1989 mit einem asbesthaltigen Füllstoff gearbeitet. Der Staubgehalt in der Luft soll hier immerhin regelmäßig kontrolliert worden sein. Trotzdem war eine gesundheitliche Schädigung der Häftlinge wohl einkalkuliert, denn sie erhielten eine Erschwerniszulage von stündlich zwölf Pfennig.1671 Und zu den holzverarbeitenden Betrieben hieß es seinerzeit lakonisch, dass durch die Lärmentwicklung der Sägen der Lärmpegel »oberhalb der gesetzlichen Maximal­ werte« liege.1672 Die Gefängnisverwaltung konnte oder wollte also noch nicht einmal die selbst auferlegten Regeln einhalten, die die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit der Gefangenen ohnehin kaum gewährleistet hätten. 3.5.4 Die Vergütung der Gefangenenarbeit Im September 1950 wurde angewiesen, die Gefangenen in (erst später so be­ zeich­neten) A-und B-Betrieben rückwirkend ab Mai mit 20 bis 50 Pfennig täg­ lich zu entlohnen. Die Hausarbeiter in den Haftanstalten der Volkspolizei er­ hielten hingegen erst ab Oktober eine Vergütung, dem geringeren Stel­len­wert

1668  Vgl. Die Welt vom 19.8.1983, S. 1. 1669  Vgl. Vesting, Justus: »Mit dem Mut zum gesunden Risiko«. Die Arbeitsbedingungen von Strafgefangenen und Bausoldaten in den Betrieben der Region Bitterfeld, Buna und Leuna unter besonderer Berücksichtigung des VEB Chemiekombinat Bitterfeld (LStU in Sachsen-Anhalt. Sachbeiträge, 30). Magdeburg 2003. 1670  Information der Hauptabteilung VII und IX vom 16.6.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Nr. 1, Bl. 52–55; zit. nach: Sauer, Stefan: Der missglückte Versuch, aus mir einen brauchbaren Menschen zu formen (LStU in Sachsen-Anhalt. Betroffene erinnern sich, 16). Magdeburg 2002, S. 59–62. 1671  Vgl. Mündlicher Bericht des IMS »Förster« vom 28.9.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 627, Bl. 310. 1672  Vgl. Schreiben des Leiters der StVE Brandenburg an den Werkleiter HVB vom 21.6.1972; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/711, Bl. 12.

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entsprechend, der ihrer Tätigkeit beigemessen wurde1673. Im August 1951 be­ kräftigte das Zentralkomitee der SED, dass Gefangenenarbeit grundsätzlich zu entlohnen sei,1674 woraufhin im April 1952 ein neues Arbeitsentlohnungs- und Leistungssystem eingeführt wurde. Zwar erhöhte sich jetzt der Bruttolohn, doch stellte man den Häftlingen zugleich die Kosten für ihre Bewachung und Ver­ köstigung in Rechnung. Sogar die Spritkosten der Polizeiwagen und die Be­k lei­ dungskosten der Aufseher wurden ermittelt und auf den einzelnen Ge­fan­ge­nen umgelegt. Von dem verbliebenen Teil konnte der Häftling ein Viertel »für sei­ nen persönlichen Bedarf« verwenden, ein weiteres Viertel wurde ihm bei der Haft­entlassung ausgezahlt. Der restliche Teil war für den Unterhalt der Fa­mi­ lien­angehörigen gedacht; wenn diese keine Ansprüche besaßen, wurde die ent­ spre­chende Summe bei der Entlassung ausgezahlt.1675 So wurden beispielswei­se An­fang 1953 monatlich 180 Mark als Verwaltungskosten abgezogen. Hatte ein Häft­ling – im glücklichsten Fall – also einen Monatslohn von 300 Mark, wurden ihm letztendlich 120 Mark gutgeschrieben, wovon er lediglich 30 Mark selbst ver­brauchen durfte.1676 Die festen Kosten belasteten die unteren Einkommen je­ doch besonders.1677 Bei geringer bezahlten Tätigkeiten kam es sogar vor, dass die Ab­züge die Einkünfte der Gefangenen überstiegen, diese also mittellos oder sogar mit Schulden in die Freiheit entlassen wurden.1678 Besonders fleißigen Insassen die Haftkosten zu erlassen, wie es die Justizverwaltung in ihren Haftarbeitslager prak­tiziert hatte,1679 lag der Volkspolizei fern. Um dennoch einen Anreiz zur Ar­ beit zu bieten, wurde der Tabakkonsum gestattet, und zwar beginnend bei einer Zi­garette für fünfzigprozentige Normerfüllung bis hin zu acht Zigaretten für Bri­gadiere. Außerdem wurde arbeitsfähigen, aber nicht zur Arbeit eingesetzten Ge­fangenen der Einkauf von Lebensmitteln verwehrt.1680 Gerade in den frühen Jahren war es zugleich üblich, dass sich die Aufseher persönlich der Arbeitskraft der Inhaftierten bedienten. Anfänglich wurden sogar Gutscheine an die Aufseher verteilt, die zum Haareschneiden durch »Straf­ gefangenenfrisöre« berechtigten. Diese Praxis wurde zwar im August 1950 we­

1673  Vgl. Tätigkeitsbericht der Abteilung TV der Hauptabteilung HS für das II. Quartal vom 3.10.1950; BArch DO1 11/1583, Bl. 1–5. 1674  Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK am 20.8.1951; BArch DY 30 J IV 2/3–225. 1675  Vgl. Verordnung über die Beschäftigung von Strafgefangenen (Anlage Nr. 2 zum Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 28.2.1952); BArch DY 30 J IV 2/3–272. 1676  Vgl. Plan der Abteilung AV [Arbeitsverwaltung] der Hauptabteilung SV zur 100 % Beschäftigung von Strafgefangenen vom 19.12.1952; BArch DO1 11/1583, Bl. 6 f. 1677  Vgl. Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 242. 1678  Vgl. Grundsätze der HA Strafvollzug für eine Änderung der Regierungsverordnung über die Beschäftigung von Strafgefangenen vom 3.4.1952 vom 1.7.1953; BArch DO1 11/1585, Bl. 28–30. 1679  Kampfrad: Erfahrungen mit dem produktiven Arbeitseinsatz, S. 58 f. 1680  Vgl. Entwurf [der Verwaltung Strafvollzug] betr. Maßnahmen zur Steigerung der Arbeits­ produktivität o. D. [1955]; BArch DO1 11/1584, Bl. 37 f.

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gen Sicherheitsbedenken eingestellt,1681 doch konnten die Aufseher auch da­ nach besonders begabte Gefangene bei minimaler Bezahlung mit bestimmten handwerklichen Aufgaben betrauen. Von dieser Praxis profitierten die Insassen zwar, indem sie verschiedene Vergünstigungen erhielten, doch letztlich wurde ihre Arbeitskraft so zusätzlich ausgebeutet, weil sie keinen angemessenen Lohn er­hielten und nur aufgrund der Besonderheit der Haftsituation zu solchen Ge­ schäften bereit waren. Den größeren Nutzen hatten die Auftraggeber, die ledig­lich geringe Löhne und niedrig angesetzte Materialkosten zu »bezahlen« hatten. Wacht­ meister und Offiziere aller Hierarchieebenen bereicherten sich an solchen ille­ galen Arbeitsaufträgen, bis hin zu Gefängnisleiter Ackermann (siehe Kap. 2.6.9). Im April 1953 wiesen die »sowjetischen Freunde« die DDR-Gefängnisverwal­ tung darauf hin, dass Gefangene an der Gesellschaft etwas »gutzumachen« hätten, weswegen hohe und flexible Einkünfte unangemessen seien.1682 Daraufhin wurde im Juli 1953 ein »völlig neues Entlohnungssystem« mit festen, aber sehr niedrigen Löhnen ersonnen.1683 Förmlich wurde in Brandenburg-Görden nun Tariflohn gezahlt, doch ist äußerst fraglich, ob eine gleiche Tätigkeit von »freien« und inhaftierten Arbeitern auch gleich bewertet und entlohnt wurde.1684 Die fragliche Summe erhielten die Betroffenen wegen verschiedener Abzüge auch niemals ausbezahlt, denn etwa sechs Mark wurden täglich als »Haftkosten« in Rechnung gestellt.1685 15 Prozent des Verdienstes wurden in eine Rücklage überführt, die dem Häftling bei seiner Entlassung zur Verfügung stehen sollte. 35 Prozent waren für den unmittelbaren, persönlichen Bedarf des Inhaftierten vorgesehen. Der größte Teil, nämlich die Hälfte der Einkünfte, sollte der Unterstützung der Familienangehörigen dienen. Waren keine Unterhaltsberechtigten vorhanden, wurde der entsprechende Betrag zurückgelegt. Sinn und Zweck des neuen Ent­ lohnungssystems war, dass der Häftling »mehr als bisher in den unmittelbaren Genuss des ihm verbleibenden Restes seines Arbeitslohnes kommen« sollte – dies sollte die Arbeitsmotivation steigern und damit die Erträge der Gefangenenarbeit erhöhen. Außerdem galten die arbeitenden Häftlinge nun als Arbeitskräfte ihres jeweiligen Betriebes und waren ihren Kollegen gegenüber arbeitsrechtlich förmlich gleichgestellt.1686 Dass sich Häftlinge hierauf berufen konnten und irgendwelche Rechte abzuleiten vermochten, ist den überlieferten Unterlagen indes nicht zu 1681  Niederschrift über die Dienstbesprechung [in der Haftanstalt Brandenburg] vom 30.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 45 f. 1682  Bericht über die Tagung der HA SV vom 9./10.4.1953; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/119, Bl. 1; zit. nach: Ansorg: Brandenburg, S. 138. 1683  Vgl. Grundsätze der HA Strafvollzug für eine Änderung der Regierungsverordnung über die Beschäftigung von Strafgefangenen vom 3.4.1952 vom 1.7.1953; BArch DO1 11/1585, Bl. 28–30. 1684  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 84. 1685  Vgl. [Bericht des geflüchteten Aufsehers Horst Bock] über die Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden vom 28.7.1954; BArch B 285/201. 1686  Vgl. Grundsätze der HA Strafvollzug für eine Änderung der Regierungsverordnung über die Beschäftigung von Strafgefangenen vom 3.4.1952 vom 1.7.1953; BArch DO1 11/1585, Bl. 28–30.

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entnehmen und ist angesichts der politischen Verhältnisse in der SED-Diktatur auch nicht zu erwarten. In der Praxis lag jetzt beispielsweise der durchschnittliche Verdienst in der Schneiderei von Brandenburg-Görden bei 180 Mark, wovon die Häftlinge aber lediglich 28 Mark gutgeschrieben bekamen – und hiervon sechs Mark für ihre Familienangehörigen abgeben sowie sieben Mark als Rücklage überweisen mussten, sodass ihnen nur 15 Mark für den Einkauf zur Verfügung standen. Hohe Normerfüllung wurde dabei mit Prämien von halbjährlich mit bis zu 50 Mark, einem Sonderpaket und doppelter Sprechzeit belohnt.1687 Um die Arbeitsmotivation möglichst noch weiter zu erhöhen, wurde Anfang 1955 abermals ein neues Entlohnungssystem eingeführt. Durch eine progressive Steigerung der Arbeitsentlohnung »verdiente« ein Gefangener in einem A-Betrieb bei einem Nettolohn von 100 Mark nun eine Arbeitsbelohnung von lediglich zehn Mark. Der prozentuale Anteil am Nettolohn, den er tatsächlich erhielt, erhöhte sich aber mit dem Nettolohn auf bis zu 50 Prozent, wodurch einem Gefangenen mit einem Nettolohn von 500 Mark immerhin 250 Mark als Arbeitsbelohnung zur Verfügung standen. Jedoch wurde ihm in diesem Fall mehr abgezogen, als tatsächlich an Haftkosten anfielen, wobei es sich angeblich um 180 Mark handelte. An diesem Entlohnungssystem war ferner von Nachteil, dass die Ge­fangenen von den branchenüblichen Löhnen abhingen. Bei den nicht im Straf­vollzug beschäftigten Arbeitern der gleichen Betriebe wuchs allerdings die steuer­liche Belastung progressiv, während sich bei den Gefangenen die Abzüge regres­ siv entwickelten, was bei den Erstgenannten erheblichen Unmut hervorrief. Die Hausarbeiter (C-Beschäftigte) wiederum erhielten nur einen sehr geringen Monatslohn zwischen 5 und 13 Mark, wovon 20 Prozent für die Rücklage draufgingen, sodass sie ihre Familien praktisch nicht unterstützen konnten.1688 Deshalb wurde schon 1956/57 abermals ein neues System der Arbeitsentloh­ nung ersonnen, das in seinen Grundzügen bis Ende der Siebzigerjahre unverändert blieb. Nun wurde grundsätzlich ein Viertel des Nettolohns als Arbeitsbelohnung verwendet, drei Viertel aber behielt der Strafvollzug ein. Von der Arbeitsbelohnung konnte der Häftling für den Eigenverbrauch 35 Prozent verwenden, woraus sich im Normalfall kaum Veränderungen für das reale Einkaufsbudget ergaben. Nur fünf Prozent des Betrages wurden jetzt noch als Rücklage betrachtet, wo­ durch 60 Prozent als Unterstützung für Kinder und Ehefrauen zur Verfügung standen.1689 So verdienten die Häftlinge im Holzverarbeitungswerk Burg offiziell 256 Mark, die Gefangenen in den Burger Bekleidungswerken 226 Mark und 1687  Vgl. u. a. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugs- und SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 1688  Vgl. Schreiben des Leiters der Abt. Produktion an den Leiter der Verw. SV vom 8.8.1957; BArch DO1 11/1585, Bl. 188–192. 1689  Vgl. ebenda. Siehe auch Dienstanweisung 1/58 des Leiters der Verwaltung Strafvollzug betr. Arbeitsentlohnung und Prämien für Strafgefangene vom 20.11.1957; BArch DO1 2.2./57934. Nach westlichen Angaben waren je 25 % für Eigenbedarf und als Rücklage sowie 50 % Familien­

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die Häftlingsarbeiter im Traktorenwerk Brandenburg 288 Mark.1690 Doch auf­ grund den geschilderten Abzüge blieben für den Eigenverbrauch meist nur 15 bis 16 Mark,1691 im günstigsten Falle etwa 25 Mark übrig. Ebenfalls nur einen Bruchteil des eigentlichen Lohns erhielt, wer beispielsweise im Jahre 1964 für das Dienstleitungskombinat Brandenburg Schuhe reparieren musste (was no­ minell mit 235 Mark entlohnt wurde) oder wer in der Landwirtschaft Getreide, Gemüse oder Hackfrüchte erntete, wofür sogar nur 150 bis 200 Mark gezahlt wurden. Höhere Grundlöhne erhielten nur einige Spezialisten – so wurden fünf Gefangene für technische Zeichnungen und Übersetzungen im Auftrag der NVA mit 535 Mark entlohnt. Für ähnliche Aufgaben gab es beim Amt für Standardisierung sogar maximal 807 Mark zu verdienen,1692 doch waren dann die geschilderten Abzüge entsprechend höher. Seinerzeit konnte sich ein Häftling glücklich schätzen, wenn er nach zehn Jahren Haftarbeit mit einer Rücklage von 800 Mark entlassen wurde.1693 In der schlechtesten Ausgangslage befanden sich die 413 Kalfaktoren, die in der Praxis einen monatlichen Durchschnittslohn von rund 17 Mark erhielten.1694 Und in Arbeitserziehungslagern sowie Jugendhäusern wurde die Arbeit meist noch geringer vergütet als in Strafvollzugsanstalten.1695 Durch eigene Arbeit Geld zu verdienen, war jetzt umso wichtiger, wo doch Ende 1955 der Empfang von Lebensmittelpaketen gedrosselt worden war (siehe Kap. 3.3.2). Im Jahre 1966 wies die Abteilung für Sicherheitsfragen an, die Gefangenenar­ beit un­bedingt effizienter zu gestalten. Entlohnung und Prämierung seien ge­gen­ wär­tig »sche­matisch und undifferenziert«. Der materielle Anreiz »stimuliert nicht ge­nü­gend die Einstellung des Strafgefangenen zur Arbeit, zur Bewährung und Wie­der­gutmachung«.1696 Auch Generalstaatsanwalt Josef Streit hielt die Ent­loh­ nung für »nicht mehr vertretbar«.1697 Die Strafvollzugsverwaltung dachte aber kei­nes­falls an eine einfache Lohnerhöhung, sondern ersann eine ganze Reihe von unterstützung gedacht. Vgl. Amnesty International: Politische Gefangene in der DDR. London 1967, S. 46. 1690  Vgl. Arbeitskräfteplan 1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/120, Bl. 62 f. 1691  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hermann Kreutzer am 10.7.2001 in Berlin, 9 S. 1692  Vgl. Meldungen der AEB [Arbeitseinsatzbetrieb] über in metallverarbeitenden Betrieben eingesetzte SG aus Brandenburg-Görden; BArch DO1 32/28711; Meldungen der AEB über in der Möbelproduktion, Landwirtschaft, Konstruktionsbüros, Reparaturwerkstätten etc. eingesetzte SG aus Brandenburg-Görden; BArch DO1 32/28712. Siehe auch BArch DO1 32/28709. 1693  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Rolf Starke am 21.6.2001 in Wurzen, 6 S. 1694  Vgl. Arbeitskräfteplan 1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/120, Bl. 62 f. 1695  Vgl. Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 255. 1696  Vgl. Vorlage der Abteilung für Sicherheitsfragen für das Sekretariat des Zentralkomitees über die Lage im Strafvollzug (mit Anlage 1–5) vom 26.10.1966; BArch DY 30 J IV 2/3 A–1390. 1697  Vgl. [Generalstaatsanwalt u. a.]: Konzeption für die Ausarbeitung von Maßnahmen zur Erhöhung der Wirksamkeit des Strafvollzugs in der DDR o. D. [2/1966]; BArch DA 5/506, Bl. 62–87.

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Ver­änderungen, die auf eine höhere Arbeitsmotivation der Häftlinge zielten. So wur­den beispielsweise die Einkaufmöglichkeiten der Insassen noch stärker re­gle­ men­tiert. Die anfallende Summe für den Eigenverbrauch, so hieß es nun, wer­de »nicht allen Strafgefangenen in gleicher Weise als Einkaufssumme gewährt«. In­haftierten mit schlechter Arbeitsleistung und mangelnder Disziplin blieb der Ein­kauf zusätzlicher Lebensmittel verwehrt, jenen, »die ihre Arbeitspflichten so­ e­ben erfüllen und auch in der Disziplin zwischen schlecht und gut liegen«, konn­ ten lediglich aus einem stark eingeschränkten Warensortiment wählen. So­weit mög­lich frei bedienen durften sich nur »progressive Strafgefangene«, also Meis­ ter, Brigadiere und Häftlinge mit Arbeitsleistungen »zwischen 105 und 120 %« und guter Disziplin. Entsprechend abgestuft war auch die Zahl der ma­xi­mal zu erwerbenden Zigaretten. Dieser differenzierte Einkauf hatte angeblich »sehr star­ke Auswirkungen auf das Verhalten« der Insassen. Wurden zunächst nur 212 Häftlinge als progressiv eingestuft, waren es im Folgemonat später bereits 427 Insassen.1698 Möglicherweise handelt es sich bei dieser Einschätzung aber um eine Selbsttäuschung der Gefängnisleitung bzw. um reines Zweckverhalten der Be­ trof­fenen, denn zumindest die politischen Grundüberzeugungen der Gefangenen dürf­ten sich so rasch kaum geändert haben. Im Holzverarbeitungswerk Burg je­ den­falls sank jetzt die Arbeitsmotivation, weil Überstundenzuschläge den Ge­fan­ gen­en nicht mehr in voller Höhe für den Einkauf gutgeschrieben wurden, son­ dern in den Nettolohn eingingen, also viel höhere Abzüge erfolgten.1699 Im Jahre 1968 wollte die Gefängnisverwaltung die anzurechnenden Haftkosten zudem an die Vollzugsart koppeln. Die Verantwortlichen erkannten indes die daraus resultierende »Strafverschärfung«, insbesondere für Gefangene der strengen Vollzugsart, und wollten die Generalstaatsanwaltschaft um Klärung bitten.1700 Der Betrag, der gerade den politischen Häftlingen für ihren Einkauf zur Verfügung stand, ist jedenfalls in der Praxis ab 1966 leicht gesunken.1701 Möglicherweise war dies eine Folge der gleichzeitigen Maßgabe der SED-Führung, der zufolge der Strafvollzug unbedingt rentabel zu gestalten sei.1702 Die Arbeitsnormen für Häftlinge lagen nach deren Aussage teilweise drei Mal höher als die der »freien« Arbeiter in den gleichen Betrieben.1703 Allerdings variieren die Anforderungen je nach Tätigkeit selbst innerhalb eines Betriebes – war es in einem Fall kaum machbar, die vorgesehene Norm zu 100 Prozent zu 1698  Konzeption einer Biographie der StVA Brandenburg vom 21.9.1966; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/693, Bl. 212–225. 1699  Vgl. Protokoll [der Produktionsberatung im VEB Holzverarbeitungswerk Burg] vom 22.8.1967; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1167/70, T. II, Bd. I, S. 67–70. 1700  Vgl. Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 258; dort ohne Beleg. 1701  Vgl. Bastian; Neubert: Schamlos ausgebeutet, S. 97. 1702  Protokoll Nr. 98/66 der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 9.11.1966; BArch DY 30 J IV 2/3 A–1390. Siehe Kapitel 3.4.1. 1703  Vgl. Schmidt: Leerjahre, S. 455.

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erfüllen, lagen in einem anderen Fall auch 200 Prozent ohne besondere An­ strengungen im Bereich des Möglichen.1704 Bei Planrückständen sowie bei dro­ hendem Arbeitskräftemangel durch allgemeine Amnestien wurde außerdem erwartet, dass die Häftlinge sogenannte freiwillige Sonderschichten leisteten. Weil die Gefangenen jedenfalls ständig gehalten waren, die vorgegebenen Normen zu überbieten, erbrachte beispielsweise von den 1 557 Insassen, die in BrandenburgGörden im Jahre 1968 im Akkord arbeiteten, jeder Dritte eine Arbeitsleistung von mehr als 100 Prozent, jeder Siebte sogar mehr als 120 Prozent. Weitere 440 Gefangene durften nach Zeitlohn arbeiten, was vorwiegend den Fahrzeugbau und die Möbelproduktion betraf. Überstunden und Sonderschichten waren dabei an der Tagesordnung; Jeder fünfte Insasse erhielt eine Erschwerniszulage für seine Arbeit und fast jeder Zehnte bekam einen Zuschlag wegen gesundheitsgefähr­ den­der Tätigkeiten.1705 Durch hohe Arbeitsleistungen konnten sich, wie überall in der volkseigenen Wirtschaft, die Produktionsnormen mittelfristig erhöhen. Die Betreffenden profitierten dann zunächst von Prämien und einer besseren Aussicht auf vorzeitige Entlassung, doch dem Gros der Mitinsassen gereichte dies zum Nachteil. So verfügten beispielsweise die Häftlinge in den Getriebewerken Brandenburg im Jahr 1970 nur noch über ein Drittel der drei Jahre zuvor üblichen Einkaufsumme, meist zwanzig bis dreißig Mark.1706 Viele Insassen hatten also nicht mehr Geld zur Verfügung als die Leidensgenossen zehn Jahre zuvor; offenbar hatten sich die neuen Berechnungsgrundlagen eher zum Nachteil der Betroffenen ausgewirkt. Dabei investierten die Gefangenen fast die Hälfte ihrer Einkünfte in Tabakwaren, gefolgt von Grundnahrungsmitteln (20 %) und Genussmitteln (17 %). Für Gegenstände des persönlichen Bedarfs und für Zeitungen blieben nur vier bzw. drei Prozent übrig. Mit etwa neun Prozent ihrer Arbeitsentlohnung mussten die Gefangenen bestimmte Forderungen begleichen, denn drei von vier Insassen hatten Schulden bei staatlichen Einrichtungen oder Privatpersonen zu bedienen bzw. waren zu Schadensersatz verurteilt worden. Jeder fünfte Häftling hatte Unterhalt an ein außereheliches Kind zu zahlen sowie etwa jeder zehnte durchschnittlich knapp 50 Mark an seine Familie zu überweisen. Aufgrund der geringen Verdienste blieben die tatsächlich entrichteten Beträge dabei weit hinter den Forderungen zurück.1707 Grundsätzlich sollte die Entlohnung der Gefangenen nach den »gleichen Bestimmungen und Regelungen« erfolgen, »die für alle Werktätigen des Betrie­ 1704  Vgl. Beschwerde des IM »Schwarz« o. D. [6/1978]; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 255/79, Bd. 2, Bl. 88 f. 1705  Vgl. [Statistik zum Arbeitseinsatz in der StVA Brandenburg] vom 3.4.1968; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 216–225. 1706  Vgl. Bericht der Quelle 72036 Hm betr. StVA Brandenburg – Kdo. IFA vom 17.11.1970 (Stand September 1970), 11 S.; BArch B 137/15761. 1707  Vgl. [Statistik zum Arbeitseinsatz in der StVA Brandenburg] vom 3.4.1968; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/707, Bl. 216–225.

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bes gelten«.1708 Dem wurde der Form halber Rechnung getragen, indem der Betrieb der Haftanstalt den vollen Stundenlohn überwies, die dann erst in der geschilderten Weise die Abzüge verfügte.1709 Doch muss die Bemessungsgrundlage (wie die Einschätzung der Wertigkeit der Arbeit) nicht derjenigen der freien Beschäftigten in den Betrieben entsprochen haben. Ab 1971 sollten jedenfalls auch die Zuschläge der Betriebe an die Häftlinge ausgezahlt werden, was in der Praxis freilich oft unterlaufen wurde.1710 Weil schon die Betriebe falsch abrechneten (und etwa Schichtzulagen ungerechtfertigt einbehielten), musste die oberste Gefängnisverwaltung unter Einschaltung der Staatlichen Finanzrevision 7 Millionen Mark nachträglich einfordern.1711 Nach Berechnungen der Verwal­ tung Strafvollzug wuchs das Eigengeld der Gefangenen dennoch wieder – von 22 Mark im Jahre 1970 binnen fünf Jahren auf 46 Mark.1712 Laut Bastian/Neubert erfolgte eine Verdoppelung des Eigengeldes (von etwa 20 Mark auf rund 40 Mark) indes erst mit der neuen Berechnungsmethode von 1977.1713 Ab Januar dieses Jahres war die Entlohnung nicht länger an die Vollzugsart, sondern wieder vorrangig an die Arbeitsleistung gekoppelt.1714 Gemäß der Ersten Durchführungsbestimmung zum neuen Strafvollzugsgesetz von 1977 wurde die Vergütung an den Nettolohn der gleichen Tätigkeit »freier« Arbeiter gekoppelt. Bereits von diesem Betrag wurde dann der Unterhalt für Familienangehörige abgezogen. Von der verbleibenden Summe konnte der Häftling 18 Prozent für sich verbuchen, während das Organ Strafvollzug den »Restbetrag« kassierte. Dabei konnte sich der Eigenanteil durch Normübererfüllung um fünf Prozent jeweils um 0,5 Prozent (auf maximal 20,5 %) erhöhen.1715 Davon abgezogen wurde allerdings noch ein von der Gefängnisleitung festgesetzter Betrag für die 1708  Ausführungen des 1. Stellvertreters des Chefs der BDVP zur Anweisung 156/71 des MdI, Ziffer 9, Absatz 2 in Beratung mit den Direktoren der Betriebe und mit dem Leiter des StVA Brandenburg vom 21.6.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/392, Bl. 14–28. 1709  Die Elektromotorenwerke Wernigerode versichern auch noch nach 1989, der Haftanstalt Brandenburg sei für Häftlinge der übliche Stundenlohn überwiesen worden, der auch in anderen Betriebsteilen außerhalb der Haftanstalt gezahlt worden sei. Vgl. Schreiben der Elektromotorenwerke GmbH Wernigerode an Jürgen Wenzel vom 27.11.1990; abgedruckt in: Schmidt-Pohl, Jürgen (Hg.): DDR-Haftzwangsarbeit politischer Gefangener. Dokumentation (Schwarzbuch-Archiv, 7). Schwerin 2003, S. 39 f. 1710  Ausführungen des 1. Stellvertreter des Chefs der BDVP zur Anweisung 156/71 des MdI, Ziffer 9, Absatz 2 in Beratung mit den Direktoren der Betriebe und mit dem Leiter des StVA Brandenburg vom 21.6.1971; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/392, Bl. 14–28. 1711  Stand 1987. Vgl. Stand der Durchsetzungen der Festlegungen beim Arbeitseinsatz Straf­ gefangener vom 25.11.1987; BArch DO1/10110, o. Pag. 1712  Vgl. Sachse: System der Zwangsarbeit, S. 265. Dort als Vergütung bezeichnet, gemeint ist jedoch wohl das Eigengeld. 1713  Vgl. Bastian; Neubert: Schamlos ausgebeutet, S. 97. 1714  Vgl. Alisch: Mythos vom Goldesel, S. 78. 1715  Vgl. Einnahmen und Ausgaben des Organs Strafvollzug 1986 (Zuarbeit für Pb im Rahmen der Amnestie 1987) o. D.; BStU, MfS, HA VII, Nr. 550, Bl. 95–98.

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Rücklage, über die der Häftling nach seiner Haftentlassung verfügen konnte. Bei schlechter Disziplin konnte der Eigenanteil zudem auf 15 Prozent gekürzt werden.1716 Immerhin sollte mit dem neuen Strafvollzugsgesetz die Arbeitsleistung während der Inhaftierung auf die Rente angerechnet werden.1717 Im Frühjahr 1984 halbierten sich Einkünfte angeblich wieder.1718 Zuletzt betrug die durchschnittliche Grundvergütung (vor Abzügen) nach Berechnungen der Gefängnisverwaltung im gesamten Strafvollzug durchschnittlich 130 Mark monatlich, wobei die Spannbreite sehr hoch war und zwischen 45 und 238 Mark lag.1719 Von dieser Grundvergütung von 130 Mark wurden durchschnittlich 37 Mark für die Rücklage und Zahlungsverpflichtungen in Höhe von 35 Mark abgezogen, sodass für den Einkauf – nach Berechnungen der Gefängnisverwaltung – etwa 57 Mark bereitlagen.1720 Den politischen Gefangenen indes standen nach deren Angaben nur etwa 40 Mark zur Verfügung1721 – vermutlich weil ihnen schlecht bezahlte Arbeit zugewiesen wurde, sie bei der Abrechnung ihrer Arbeitsleistung benachteiligt wurden oder sie aus politischen Gründen ihre Normen absichtlich untererfüllten. Nur die arbeitsunfähigen Gefangenen durften sich von ihren Angehörigen 30 Mark monatlich auf ihr Konto gutschreiben lassen; inhaftierten Bundesbürgern war es ferner gestattet, sich einen geringen Betrag von der Ständigen Vertretung auf ihr Konto überweisen zu lassen.1722 Diese Regelungen der Arbeitsentlohnung sind in der Praxis »niemals eingehal­ ten wor­den«,1723 doch lassen sich Manipulationen am Verdienst der Gefangenen durch Auf­seher und Betriebsangehörige heute kaum noch nachweisen. Akten­ kundig ist jedoch beispielsweise, dass sich die Aufseher in der Aufnahmestation von Brandenburg-Görden zusammen mit dem Gefangenenhauptkalfaktor dadurch be­ reicherten, dass sie Neuankömmlingen fälschlicherweise erklärten, dass diese im ers­ten Monat keinen oder nur einen sehr geringen Arbeitslohn erhalten würden,

1716  Vgl. Operativinformation der Verwaltung Strafvollzug Nr. 3/87 vom 5.3.1987; BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. VII, Nr. 681, Bl. 1–5. 1717  Bericht über die Arbeit des Organs Strafvollzug (Anlage Nr. 24 zum Protokoll Nr. 11/77 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 15.3.1977); BArch DY 30 J IV 2/2–1663, Bl. 379–394; Diskussionsbeitrag Gen. Rothe/Rechtsstelle [des Ministeriums für Staatssicherheit] auf Dienstkonferenz 28.4.1977; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 13698, Bl. 1–22. 1718  Vgl. Kassiber vom 16.3.1984; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 240, Bd. 1, Bl. 226 f. 1719  Vgl. Operativinformation der Verwaltung Strafvollzug Nr. 3/87 vom 5.3.1987; BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. VII, Nr. 681, Bl. 1–5. 1720  Vgl. Einnahmen und Ausgaben des Organs Strafvollzug 1986 (Zuarbeit für Pb im Rahmen der Amnestie 1987) o. D.; BStU, MfS, HA VII, Nr. 550, Bl. 95–98. 1721  Vgl. Bastian; Neubert: Schamlos ausgebeutet, S. 97. 1722  Vgl. Ordnung 107/77 des Ministers des Innern über die Durchführung des Vollzuges von Strafen mit Freiheitsentzug – Strafvollzugsordnung – vom 7.4.1977; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 12003, Bl. 32b–32c. 1723  Vgl. Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 84–86.

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und die entsprechenden Beträge dann selbst kassierten.1724 Bemerkenswerterweise kom­pensierten einige politische Häftlinge dies, indem sie eine Art Hilfsfonds für Neuankömmlinge einrichteten, und streckten diesen zunächst Geld für den Ein­kauf vor.1725 In den Fünfzigerjahren unterschlugen Aufseher auch Gelder, die von Familienan­gehörigen für einzelne Insassen eingezahlt worden waren.1726 Be­ trogen wurden die Insassen unter Ackermann auch mittels sogenannter Verpfle­ gungs­beutel im Wert von mehreren zehntausend Mark,1727 die während des Trans­portes oder beim Außenarbeitseinsatz ausgegeben werden sollten und zwar ab­gerechnet wurden, die die Gefangenen aber niemals zu Gesicht bekamen.1728 Die Gefängnisleitung bereicherte sich außerdem an den Jahresendprämien, die ar­bei­tenden Häftlingen, wie allen »Werktätigen«, eigentlich zustanden. Unter dem Vor­wand, dass im Jahresverlauf entlassene Häftlinge bei einer Ausschüttung am Jah­resende leer ausgingen, wurden den Insassen die Prämien während des Jahres für hohe Planerfüllung teilweise gutgeschrieben. Ein anderer Teil aber wurde in einen »Fonds zur persönlichen Verwendung des Anstaltsleiters« eingezahlt. Ackermann zweigte von diesem Konto dann Gelder für leitende Mitarbeiter seiner Haft­anstalt ab, »weil sie doch zu den guten Arbeitsleitungen [der Häftlinge] we­ sent­lich beigetragen haben«. Da es in Ostdeutschland an Arbeitskräften man­ gel­te, kooperierten sämtliche Betriebe bei diesem systematischen Betrug an der Arbeitsleistung der Insassen.1729 So wurden die Häftlinge einmal mehr um ei­ nen gerechten Lohn betrogen – und mehrten gegen ihren Willen und ohne ihr Wis­sen die Einkünfte ihrer Bewacher.

1724  Vgl. u. a. Information der OPG der Abt. VII vom 31.5.1989; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 322, Bd. 1, Bl. 289. 1725  Vgl. [Bericht des] IM »Subeck« vom 8.2.1982; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 1212/86, Teil II, Bd. 1, Bl. 94 (MfS-Pag.). Die Widerstandsgruppe hatte 20 Jahre zuvor Ähnliches praktiziert. Siehe Kapitel 5.5.2.9. 1726  In gravierenden Fällen konnte es zur fristlosen Entlassung und zur Verhaftung der Aufseher kommen. Vgl. Informationsbericht [der Strafanstalt Brandenburg] für den Monat November an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 29.11.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 107–110. 1727  BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 90. 1728  Operativplan zur Bearbeitung des OV »Rentner« vom 1.10.1981; BStU, MfS, BV Potsdam, AOP, Nr. 560/83, Bd. 1, Bl. 36–55, hier 52. 1729  Vgl. Information der KD Luckenwalde vom 27.2.1972; BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK, Nr. 356/83, Bl. 59 f.

4. Die Häftlinge Wie viele Gefangene saßen in Brandenburg-Görden vor 1989 ein? War die Haftanstalt vor allem Schwerverbrechern vorbehalten, wie es manchem inhaf­ tierten Augenzeugen in den Achtzigerjahren erscheinen wollte,1 oder dominierten hier politische Gefangene im engeren Sinne, oder waren auch NS- und Kriegs­ verbrecher hier inhaftiert? Aus welchen Gründen waren sie verhaftet und verurteilt worden? Welches Strafmaß hatten sie zu verbüßen und unter welchen Umständen kamen sie wieder frei? Um ein Bild der Häftlingsgesellschaft in Brandenburg-Görden zu zeichnen, werden verschiedene Häftlingsgruppen idealtypisch unterschieden (wie »die« Waldheim-Verurteilten oder »die« Zeugen Jehovas). Diese Gruppen werden in der Abfolge vorgestellt, in der sie in Brandenburg-Görden (oftmals zeitlich überlappend) inhaftiert waren. Einzelne ihrer Vertreter werden namentlich er­ wähnt und ihre Verurteilungsgründe sowie ihre »Häftlingskarrieren« mit we­ nigen Worten skizziert. Doch war die Häftlingsgesellschaft in Wirklichkeit sehr heterogen, weswegen auch immer wieder querschnittartig deren Sozial- und Deliktstruktur untersucht wird, sofern entsprechende Angaben zu bestimmten Stichtagen vorliegen. Diesbezügliche Veränderungen werden dabei vor dem Hintergrund der Justiz- und Strafvollzugspolitik des SED-Regimes reflektiert. Soweit statistisch möglich, wird Brandenburg-Görden immer wieder mit dem gesamten Gefängniswesen verglichen – um das spezifische Profil der Haftanstalt an der Havel zu bestimmen und in den Gesamtkontext des DDR-Strafvollzugs einzuordnen. Dabei lässt sich auf die Häftlingszahlen in sämtlichen Haftanstalten des Ministeriums des Innern abstellen, die vor Jahren Falco Werkentin ermittelt hat.2 Elf Einzelschicksale werden anschließend im zweiten Teil des Kapitels näher beleuchtet. Anhand ihrer Lebenswege lässt sich die strafrechtliche Repression im SED-Staat veranschaulichen sowie die Praxis des politischen Strafvollzugs konkretisieren. Die Auswahl der Porträtierten aus dem Gros der Insassen wird nicht im engeren Sinne repräsentativ sein. Vielmehr ist durchaus beabsichtigt, die politischen Gefangenen und politisch Verfolgten stärker in den Fokus zu rücken, obwohl diese bis höchstens Mitte der Sechzigerjahre die Mehrheit unter den Insassen stellten. Hinzu kommt, dass der Lebensweg der politischen Gefangenen in den Archiven, insbesondere in der Überlieferung der Staatssicherheit, ungleich 1  Vgl. Garve, Roland: Unter Mördern. Ein Arzt erlebt den Schwerverbrecherknast. Berlin 1999. 2  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 361. Siehe auch Wenzke: Ab nach Schwedt, S. 150.

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besser dokumentiert ist als bei den gewöhnlichen Kriminellen, was sich aus dem spezifischen Verfolgungsauftrag des Mielke-Apparates ergab. An den Lebenswegen gewöhnlicher Krimineller ließen sich eher die sozialen Bedingungen und Folgen devianten Verhaltens im Allgemeinen untersuchen, was eine andere Fragestellung implizieren würde. Das Ziel ist dabei nicht in erster Linie, prominente politische Häftlinge herauszugreifen, sondern auch bislang wenig beachtete (Haft-)Schicksale zu beleuchten. Besonders ergiebig ist die Aktenüberlieferung dabei zu denjenigen Insassen, die zugleich als Zuträger der Staatssicherheit arbeiteten; ihre Biografien werden deswegen ebenfalls dargestellt, ja sind sogar überrepräsentiert (siehe auch Kap. 5.5.3). Kaum ein Häftling wurde nach seiner Festnahme umgehend nach Branden­ burg-Görden gebracht. Nur phasenweise diente die Haftanstalt an der Havel auch zur Verwahrung von Untersuchungshäftlingen – so verfügte das Gefängnis etwa in den frühen Fünfziger-, Mitte der Sechziger-, Mitte der Siebziger- und gegen Ende der Achtzigerjahre über eine Untersuchungshaftabteilung (s. Kap. 2.1.3). Die meisten Insassen aber hatten vor ihrer Einlieferung bereits Wochen oder Monate in anderen, räumlich oftmals weit entfernten Untersuchungshaftanstalten eingesessen und waren erst nach dem Urteilsspruch nach Brandenburg-Görden verlegt worden.3 Andere Gefangene hatten ihre Strafe gar über Monate oder Jahre in anderen Strafvollzugsanstalten oder Haftarbeitslagern verbüßt und wurden erst dann, etwa aus disziplinarischen Gründen oder weil ihr Arbeitseinsatz es zu erfordern schien, in die Haftanstalt an der Havel gebracht.4 Die längste und entbehrungsreichste Haftzeit hatten aber diejenigen hinter sich, die teilweise seit Kriegsende in sowjetischen Lagern inhaftiert gewesen waren, etwa in den Speziallagern auf ostdeutschem Boden oder in Kriegsgefangenen- bzw. Arbeits­ erziehungslagern in der Sowjetunion.

3  Bereits am 27. Mai 1952 hatte der Generalstaatsanwalt in einem Schreiben an die Staats­anwalt­ schaften in den Ländern verfügt, dass fortan alle Verurteilten unmittelbar nach dem Urteilsspruch in den Strafvollzug zu überführen seien, auch wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig war. Vgl. Rundschreiben des Generalstaatsanwaltes vom 4.5.1953; BArch DP 3 45, Bl. 1. 4  Zur Aufnahme von Personen in den Strafvollzug siehe auch Haubenschild, Hans u. a. (Hg.): Das Aufnahmeverfahren im Strafvollzug. Die Beobachtung und Beurteilung Strafgefangener. Ostberlin 1972.

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4.1 Die Zahl der Häftlinge, die Gründe ihrer Verurteilung, die Dauer der Haftstrafen und die Amnestien 4.1.1 Die Speziallagerinsassen und SMT-Verurteilten Insgesamt wurden rund 154 000 Deutsche zwischen 1945 und 1950 in sowjetische Speziallager5 auf ostdeutschem Boden gesperrt. Grundlage war ein Befehl des Moskauer Volkskommissars für Inneres, Lavrentij Berija, demzufolge »Diversan­ ten« und Funktionsträger des NS-Regimes zu verhaften seien. Letztlich bestand das Gros der Häftlinge aus zwei Gruppen, denen unterschiedliche »Vergehen« zur Last gelegt wurden. Zum einen saßen kleinere Funktionäre der NSDAP hier ein, die bald nach Kriegsende interniert worden waren.6 Die Art und die Umstände ihrer Verstrickung mit dem NS-Regime klärten die sowjetischen Behörden freilich oberflächlich bzw. zunächst gar nicht auf. Selbst unter denjenigen Häftlingen des Speziallagers Sachsenhausen, die nach sowjetischen Erkenntnissen einmal dem nationalsozialistischen Sicherheitsapparat (SS, SA, SD und Geheime Staatspolizei (Gestapo)) angehört hatten, wurde bis 1949 nicht einmal jeder Vierte abgeurteilt. Und wenn sie vor Gericht kamen, spielte die NS-Belastung vor 1945 vielfach gar keine Rolle. Denn der Besatzungsmacht »ging es überwiegend nicht um die Aufarbeitung politischer oder krimineller Verantwortung im Dritten Reich, sondern um die Verfolgung – in diesem Fall nationalsozialistisch motivierter – Resistenzpotenziale in der SBZ«.7 Diese wurden freilich fast immer maßlos überschätzt. Darin ähnelten die mehr oder weniger stark NS-Belasteten der zweiten Gruppe internierter Personen: Junge Erwachsene, die mit der Besatzungsmacht in Konflikt 5  Zu Struktur und Unterstellung vgl. u. a. Kusnezowa, Galina A.: Abteilung Sonderlager des Ministeriums des Innern der UdSSR in Deutschland. In: Möller, Horst; Tschubarjan, Aleksandr O. (Hg.): SMAD-Handbuch. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland 1945–1949. München 2009, S. 85–90. Zu den Erfahrungen der Insassen und der öffentlichen Rezeption der »Schweigelager« vgl. u. a. Ochs, Eva: »Heute kann ich das ja sagen«. Lagererfahrungen von Insassen sowjetischer Speziallager in der SBZ/DDR. Köln 2006. 6  Etwa jeder zweite Insasse war Block-, Zellen- oder Ortsgruppenleiter oder ein­fa­ches Partei­ mitglied der NSDAP gewesen, weitere 20 % waren untere Führungskräfte vom BDM, DAF u. ä. Vgl. Müller, Klaus-Dieter; Heydemann, Günther: Deutsche Nichtverurteilte (Speziallagerhäftlinge) nach den Akten des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation. In: Möller, Horst; Tschubarjan, Aleksandr (Hg.): Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen. München 2005, S. 129–132, hier 130. Zu den NS-Belasteten zählten beispielsweise auch 30 vor Sowjetische Militärtribunale gestellte Aufseher, die vor 1945 in Brandenburg-Görden tätig gewesen waren. Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 90. 7  Kersebom, Heinz; Niethammer, Lutz: »Kompromat« 1949. Eine statistische Annäherung an Internierte, SMT-Verurteilte, antisowjetische Kämpfer und die Sowjetischen Militärtribunale. In: Mironenko; Niethammer; Plato (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1, S. 510–532, hier 530.

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geraten und von Sowjetischen Militärtribunalen verurteilt worden waren. Gegen sie wurden, der repressiven Praxis der sowjetischen Strafjustiz ent­sprechend, ab Frühjahr 1947 immer höhere Haftstrafen verhängt (siehe etwa Kap. 4.2.1). Ihre angeblichen Vergehen »reichten von trivialen Jugenddelikten im Protest gegen die Soldaten und Einrichtungen der Besatzungsmacht über poli­tische Unbotmäßigkeit und Zusammenarbeit mit westlichen Gruppen und Geheim­ diensten bis zu Versuchen eines bewaffneten Kampfes oder seiner Vorbe­rei­ tung«.8 Allerdings sind die tatsächlichen »Delikte« heute auf Grundlage der Ak­ten schwer zu interpretieren, denn den Verhaftungen lag in vielen Fällen Will­kür und haltlose Denunziation zugrunde und die Geständnisse wurden vielfach durch die russischen Untersuchungsorgane erpresst.9 Außerdem zählten zu diesen Gefangenen mehrere Hundert Sozialdemokraten, von denen einige schon in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren. Sie waren zumeist Gegner der Zwangsvereinigung zwischen KPD und SPD in der Sowjetischen Besatzungszone gewesen und hatten teilweise Kontakt zum Ostbüro der SPD gehabt. Die Gefangenen litten in den Speziallagern unter katastrophalen Haftbedin­ gungen, weswegen etwa 43 000 Menschen an Hunger, Seuchen und Entkräf­tung starben, besonders im Zeitraum bis 1947. Die Ursache der hohen Todes­rate ist in »nicht aufeinander abgestimmten und in ihren Auswirkungen ver­heerenden bürokratischen Entscheidungen« der Lageradministration zu sehen, was zu Hun­ger und Krankheit führte.10 Im Ergebnis der menschenverachten­den Haftpraxis gal­ ten, selbst nach den strengen Maßstäben ihrer Bewacher, zeitweilig 95 Prozent der Spezial­lagerinsassen als nicht arbeitsfähig.11 Darüber hinaus wur­den 756 Personen hingerichtet; meist lagen Todesurteile Sowjetischer Mi­li­tärtribunale zu­grunde, doch in einigen Fällen wurden auch Internierte er­schossen.12 Sowjetische Militärtribunale fällten zwischen dem 18. April 1945 und Oktober 1955 (überwiegend auf ostdeutschem Boden) mindestens 16 700 Urteile gegen Deutsche, davon etwa 3 300 bis 3 800 Todesurteile, hauptsächlich wegen »Spio­ nage«. Von diesen Todesurteilen wurden mindestens 2 223, vermutlich sogar etwa 8  Kersebom; Niethammer: »Kompromat«, S. 510–532, hier 531. Insbesondere der Verdacht, Jugendliche würden illegale, bewaffnete, sogenannte Werwolf-Gruppen bilden, war fast immer unzutreffend. Vgl. Possekel: Sowjetische Lagerpolitik in Deutschland, S. 15–110, hier 61–67. 9  Vgl. Müller, Klaus-Dieter: Nazis, Kriegsverbrecher, Spione, Diversanten? Annäherungen an die sowjetische Haft- und Urteilspraxis in der SBZ und DDR mithilfe sowjetischer Akten. In: Deutschland Archiv 33 (2000) 3, S. 373–391. 10  Mironenko; Niethammer; Plato (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland, Bd. 1, S. 15. 11  Vgl. Niethammer, Lutz: Alliierte Internierungslager in Deutschland nach 1945. Vergleich und offene Fragen. In: ebenda, S. 97–116, hier 108. 12  Vgl. Jeske, Natalja; Morré, Jörg: Die Inhaftierung von Tribunalverurteilten in der SBZ. In: Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Schmidt, Ute (Hg.): Sowjetische Militärtribunale (Schriften des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismus-Forschung, 17), Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Köln 2003, S. 609–661, hier 652.

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3 000 (meist auf sowjetischem Boden) auch vollstreckt, und davon wiederum mindes­tens 960 nach Gründung der DDR.13 Trotz eines legitimen Strafanspruchs gegen die Täter »war die Verfahrensweise der Sowjetischen Militärtribunale mit ihrem Verzicht auf rechtsstaatliche Methoden [...] eine Form von Siegerjustiz, bei der sowohl der Nachweis individueller Schuld, als auch die Aufklärung der Tatkomplexe in den Hintergrund traten.«14 Sofern überhaupt Vorwürfe aus dem Zeitraum vor 1945 verhandelt wurden, zielte die sowjetische Rechtsprechung weniger auf den Holocaust als auf die Ahndung von Tötung und Misshandlung sowjetischer Partisanen, »Ostarbeiter« und Kriegsgefangener. Im Mittelpunkt der Justizpraxis stand nämlich der geschädigte bzw. gefährdete sowjetische Staat. Und so verfolgten die Sowjetischen Militärtribunale in zunehmendem Maße vermeintliche oder echte Widerstandshandlungen gegen die Besatzungsmacht und ihre Verbündeten15 sowie Spionagedelikte bzw. das, was die sowjetischen Behörden dafür hielten.16 Anders als bei der Mehrheit der in Speziallagern internierten Personen betrafen die Haftgründe der durch Sowjetische Militärtribunale Ver­ urteilten weniger die NS-Vergangenheit als vielmehr die Besatzungszeit.17 Die durch die Sowjetischen Militärtribunale Verurteilten saßen aber nicht nur in den Speziallagern (besonders in Torgau, Bautzen und Sachsenhausen), sondern wurden auch in die Sowjetunion deportiert. Bis zum Urteilsspruch befanden sie sich in sowjetischen Untersuchungshaftanstalten, im Volks­mund GPU-Keller genannt.18 Diese unterstanden bis Herbst 1946 der Operativgruppen des Volks­ kommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD bzw. MVD), dann dem sowjetischen Ministerium für Staatssicherheit (MGB). Diese Untersuchungs­ge­ fängnisse durchliefen zwischen 1947 und Frühjahr 1953 16 137 Personen, davon bis auf 195 alle wegen »antisowjetischer Tätigkeit«.19 Der NKWD ließ auch im Land 13  Vgl. Hilger, Andreas: Einleitung: Smert’ Špionam! – Tod den Spionen! Todesstrafe und sowjetischer Justizexport in die SBZ/DDR, 1945–1955. In: ders. (Hg.): »Tod den Spionen!« Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953 (HannahArendt-Institut. Berichte und Studien, 51). Göttingen 2006, S. 7–35, hier 28; Hilger; Petrow: Sowjetische Militärjustiz in der SBZ/DDR, S. 19–35, hier 31. Müller rechnet sogar mit insgesamt 50 000 bis 60 000 Urteilssprüchen der Sowjetischen Militärtribunale und 6 000 bis 8 000 Todes­ urteilen. Vgl. Müller: Nazis – Kriegsverbrecher, S. 373–391, hier 374 u. 390. 14  Vgl. Jeske, Natalja; Schmidt, Ute: Zur Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen durch sowjetische Militärtribunale in der SBZ. In: Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Schmidt, Ute (Hg.): Sowjetische Militärtribunale (Schriften des Hannah-Arendt-Institut für TotalitarismusForschung, 17), Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Köln 2003, S. 155–192, hier 163 u. 191. 15  Vgl. Hilger: Strafjustiz im Verfolgungswahn, S. 95–155, hier 108 u. 120. 16  Vgl. Pohl: Justiz in Brandenburg 1945–1955, S. 93. 17  Vgl. Greiner: Verdrängter Terror, S. 131. 18  Vgl. Foitzik: Sowjetische Militäradministration 1945–1949, S. 176. Siehe auch Erler, Peter: »Vorläufige Instruktion«. Die Gefängnisordnung für die NKWD-Untersuchungshaftanstalten im besetzten Deutschland. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2010) 28, S. 45–54. 19  Vgl. Foitzik: Sowjetische Ordnungspolitik, S. 118.

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Bran­den­burg Häftlinge erschießen,20 doch ist der genaue Ort der Hinrichtungen unklar – dies können Untersuchungshaftanstalten der Besatzungsmacht ebenso gewesen sein wie etwa ihr Lager 226 im ehemaligen Zuchthaus BrandenburgGörden.21 Hier saßen nämlich bis 1948 unter sowjetischer Aufsicht beispielsweise Russen sowie Angehörige unterdrückter Minderheiten der Sowjetunion ein, die an der Seite der deutschen Wehrmacht oder deutscher Polizeiverbände gekämpft hatten, also zum Beispiel Mitglieder der so genannten Wlassow-Armee.22 Durch Hungertod, Entlassung und Deportation in die Sowjetunion23 sank die Gesamtzahl der Speziallagerinsassen, sodass die Lager nach und nach geschlossen werden konnten. Zu Beginn des Jahres 1950 löste die Besatzungsmacht dann die letzten Lager in Bautzen, Buchenwald und Sachsen­hausen auf.24 Diese Entschei­ dung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Moskau nun eine Beendigung der Entnazifizierung wünschte, also viele Mitläufer entlastet werden sollten, um sie in den Wiederaufbau teilweise einbeziehen zu können und so die neue Ordnung im ostdeutschen Teilstaat zu stärken. Hinzu kam, dass die Auflösung der »Schweigelager« im »Kalten Krieg« im Hinblick auf die politische Optik von Vorteil war und die Lager, entgegen den ursprünglichen Plänen, auch nicht als Arbeitskräftereservoir dienen konnten, weil den unterernährten Insassen dazu die Kräfte fehlten. Zudem verursachten die Lager erhebliche Kosten. Die vielleicht wichtigste Funktion der Speziallager, die Ausschaltung von Resistenzpotenzialen in der DDR, übernahmen nach und nach die Sicherheitsorgane des SED-Regimes. Etwa 14 400 Personen wurden im Zuge der Auflösung der letzten Speziallager unter Anleitung der sowjetischen Behörden bis März 1950 von der Hauptverwal­ tung der Deutschen Volkspolizei aus der Haft entlassen. 649 teilweise besonders schwerer Verbrechen beschuldigte Deutsche sollten ihre weitere Strafe in Lagern in der Sowjetunion verbüßen.25 Rund 14 000 Personen jedoch wurden im Januar und Februar 1950 von der Volkspolizei übernommen und in die Haftanstalten Bautzen I, Torgau, Luckau, Hoheneck, Waldheim und Untermaßfeld überführt. 20  Vgl. Kilian, Achim: Stalins Prophylaxe. Maßnahmen der sowjetischen Sicherheitsorgane im besetzten Deutschland. In: Deutschland Archiv 30 (1997) 4, S. 531–564, hier 558. 21  Vgl. Erler, Peter: Das Gefängnis der sowjetischen Spionageabwehr in Potsdam. In: Deutsch­ land Archiv 42 (2009) 4, S. 622–632, hier 626. Zum Lager 226 siehe auch Kapitel 2.6.1. 22  Zu Andrej Wlassow vgl. Rešin, Leonid: Geheimdienstlich-politische Gefangenenorga­ nisationen an der sowjetisch-deutschen Front 1941–1945: NKFD, BDO, Wlassow-Bewegung. In: Müller, Klaus-Dieter; Nikischkin, Konstatin; Wagenlehner, Günther (Hg.): Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion 1941–1956 (Schriften des Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung, 5). Köln 1998, S. 161–173. 23  Aus Sicht der Betroffenen vgl. u. a. Fraedrich, Käthe: Im Gulag der Frauen. München 1997. 24  Vgl. Befehl 22 der SMAD vom 6.1.1950; zit. nach: Foitzik: Sowjetische Militäradministration 1945–1949, S. 174. 25  Vgl. Polian, Pavel: »Repatriierung durch Arbeit«. Repatriierung und Rehabilitierung in die UdSSR deportierter Zivilisten. In: Eimermacher Karl; Volpert, Astrid (Hg.): Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche nach 1945. München 2006, S. 97–115, hier 102.

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Unter ihnen befanden sich etwa 10 500 SMT-Verurteilte, die ihre Haftstrafen wei­ ter absitzen sollten, sowie 3 432 noch nicht verurteilte Häftlinge, die vor deutsche Gerichte gestellt werden sollten (siehe Kap. 4.1.3).26 Nach Brandenburg-Görden gelangten zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch keine Speziallagerinsassen, weil die Haftanstalt der deutschen Justizverwaltung unterstand und allein der Verwahrung der nach Befehl 201 Verurteilten diente (siehe Kap. 4.1.4). Erst im Juli 1950 wurden etwa 1 000 von Sowjetischen Militärtribunalen Verurteilte aus Bautzen I nach Brandenburg-Görden verlegt.27 Zu dieser Entscheidung trug vermutlich bei, dass die Häftlinge in Bautzen I im März 1950 eine Hungerrevolte unternommen hatten und auch die Insassen Waldheims nach ihrer Verurteilung im Juni 1950 in eine andere Haftanstalt eingeliefert werden sollten, denn Bautzen I und Waldheim selbst waren im Juni 1950 mit 6 858 bzw. 3 567 Häftlingen ganz extrem überbelegt.28 Weil sie in Brandenburg-Görden, nach Auffassung der Machthaber, besser von der als politisch zuverlässig erachteten Volkspolizei bewacht werden sollten, endete die bisherige Zuständigkeit der Justizverwaltung hier am 1. Juli 1950 (siehe Kap. 2.6.2). Da viele nach Befehl 201 Verurteilte in Brandenburg-Görden binnen kurzer Zeit entlassen wurden (siehe Kap. 4.1.4), konnte dieses Gefängnis nach und nach eine hohe Zahl von SMT-Verurteilten aufnehmen. Die Haftanstalt an der Havel schien hierfür besonders geeignet zu sein, weil sie als sehr sicher galt und über zahlreiche Einzelzellen verfügte, in denen Gefangene isoliert werden konnten. Außerdem kam dem Zuchthaus zur Verwahrung vermeintlicher oder echter NS-Täter eine hohe symbolische Bedeutung zu. So wurden beispielsweise im Dezember 1951 allein aus der Strafvollzugsanstalt Untermaßfeld 402 SMTVerurteilte mit hohen Freiheitsstrafen nach Brandenburg-Görden überstellt, wohingegen 303 Inhaftierte mit einem Strafmaß von bis zu fünf Jahren in der umgekehrten Richtung verlegt wurden. Der hierzu eingesetzte Konvoi bestand aus vier Gefangenentransportwagen, war bis zu siebzehn Stunden auf den Straßen unterwegs29 und sollte vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden.30 Durch Begnadigungsaktionen des Politbüros vom Oktober 1950 sowie von Janu­ar und März 1951 reduzierte sich die Zahl der jugendlichen und kurzbestraf­ ten SMT-Verurteilten im ostdeutschen Strafvollzug.31 Auch aus Brandenburg26  Vgl. Buddrus: Dokumente zur Situation des Strafvollzugs, S. 17. 27  Vgl. [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Brandenburg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968. 28  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung HS an den stellv. Vorsitzenden der SKK für administrative Fragen A. F. Kabanow vom 26.8.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 45–53. 29  Vgl. Schlussbericht der Abteilung Organisation der Hauptabteilung Strafvollzug vom 14.12.1951; BArch DO1 11/1562, Bl. 73–80. Zum Transport aus Sicht der Häftlinge vgl. u. a. Pfeiffer: Abgeholt, S. 164. 30  Vgl. Schreiben von Mayer an Oberstleutnant Wlassow von der SKK vom 19.10.1951; BArch DO1 11/1562, Bl. 71. 31  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 364–366. Siehe auch Jeske; Morré: Inhaftierung von Tribunalverurteilten, S. 609–661.

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Görden kamen in diesem Zuge SMT-Verurteilte frei,32 andere, die bis dahin in Bautzen I ihre Strafe verbüßt hatten, wurden jedoch im November 1952 neu eingeliefert. Unter ihnen befanden sich etwa der spätere Fernsehjournalist Eduard Zimmermann33 und Karl Heinz Reuter (siehe Kap. 4.2.1), beide wegen Spionage zu 20 bzw. 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Wegen unterstellter »Wirtschafts­ verbrechen« saß auch der Sozialdemokrat Paul Szillat (bis 1956) in der Haftanstalt an der Havel ein.34 Er hatte als Bürgermeister Brandenburgs in den Jahren 1932/33 den Bau dieses Gefängnisses erst ermöglicht35 und nach dem Krieg, bis zu seiner Verhaftung 1950, als Bürgermeister Rathenows fungiert. Im April 1953 befanden sich in Brandenburg-Görden noch 1 567 Personen, die von Sowjetischen Militärtribunalen verurteilt worden waren,36 davon 785 wegen Kriegs­verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 351 wegen Spio­ na­ge, 132 wegen antisowjetischer Agitation und Flugblattverbreitung, 81 wegen ille­galem Waffenbesitz, 58 wegen Aufruf zum Aufstand und Teil­nah­me an anti­ sow­jetischen Gruppen und Organisationen sowie 29 wegen »Schäd­lingsarbeit« und Sabotage. 25 Personen galten als Terroristen, 18 wurde Ver­heimlichung oder Mitwisserschaft zur Last gelegt, drei hielt man für Di­ver­santen und 85 saßen wegen sonstiger Verbrechen ein. Zählt man die De­lik­te Spionage, anti­sow­ je­ti­sche Agitation, Sabotage und Waffenbesitz zu­sam­men, waren mindestens 650 Häftlinge wegen Vorwürfen inhaftiert, die sich nicht auf NS-Verbrechen be­ zogen. Bei einem erheblichen Teil von ihnen ist widerständiges Verhalten gegen die Be­satzungsmacht und das SED-Regime zu vermuten. Entsprechend der po­ li­ti­schen Straftaten, derer man sie beschuldigte, hatten sie hohe Strafmaße er­ hal­ten. So verbüßten 569 der 1 567 Gefangenen in Brandenburg-Görden eine le­benslange Freiheitsstrafe und 593 Personen waren zu einer Haftstrafe von 25 Jahren verurteilt worden. 122 Personen hatten Freiheitsstrafen zwischen 15 32  So war beispielsweise ein Mann im Mai 1947 von einem SMT wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit lt. Jalta-Abkommen« zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt worden, weil er als LagerWach-Kommandant im KZ Sachsenhausen, Arbeitslager Falkensee, sowjetische Kriegsgefangene misshandelt hatte. Nachdem er nun lediglich zehn Prozent seiner Strafe verbüßt hatte, kam er im Oktober 1950 wieder frei. Vgl. BStU, MfS, Abt XII, RF, Nr. 376. 33  Vgl. BStU, MfS, Abt. XII, RF, Nr. 416. 34  Vgl. Schlussbericht der Verwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit des Landes Brandenburg vom 22.12.1950; BStU, MfS, BV Potsdam, AU, Nr. 876/52, Bd. II, Bl. 176–193. Seine Freilassung sollten die Aufständischen am 17. Juni 1953 in Rathenow fordern. Vgl. Kowalczuk: 17. Juni 1953, S. 188. 35  Vgl. Kreutzer: Aufschlüsse über politische Ereignisse, S. 181. 36  Zum Vergleich: In Bautzen I, dem wichtigsten Haftort für SMT-Verurteilte, saßen zu diesem Zeitpunkt noch 4 766 Personen ein, von denen wegen Spionage 2 031, wegen Kriegsverbrechen 1 181, als Terroristen 116, als Diversanten 26, wegen Schädlingsarbeit 20, wegen Aufruf zum Aufstand und Teilnahme an antisowjetischen Organisationen und Gruppen 409, wegen antisowjetischer Agitation und Flugblattverteilung 587, wegen Verheimlichung oder Mitwisserschaft acht, wegen illegalen Waffenbesitzes 147 und wegen sonstiger Verbrechen 241 verurteilt waren. Vgl. BArch DO1 11/1578, Bl. 39–48.

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und 25 Jahren zu verbüßen, wei­tere 113 hatten ein Strafmaß zwischen zehn und 15 Jahren und 170 eines un­ter zehn Jahren erhalten.37 Sowjetische Militärtribunale arbeiteten bis 1955 auf dem Boden der DDR und verurteilten beispielsweise Teilnehmer des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, unter ihnen einen »Rädelsführer« aus Görlitz, Herbert Tschirner.38 Sein To­desurteil wurde noch in eine zwanzigjährige Freiheitsstrafe umgewandelt, wo­von er zehn Jahre, bis zu seiner vorzeitigen Freilassung, in Brandenburg-Görden ver­büßte.39 Durch neue Verurteilungen sowie Verlegungen befanden sich in allen ostdeutschen Haftanstalten zusammengenommen zum Zeitpunkt des Volks­aufstandes noch 11 748 Personen, die von Sowjetischen Militärtribunalen ver­urteilt worden waren. Nach dem Tode Stalins wurden jedoch auf Betreiben Lavrentij Berijas in der Sowjetunion rund eine Million Häftlinge entlassen und am 28. August 1953 auf Bitte Ostberlins auch Überprüfungen der SMT-Ver­urteilten in den Gefängnissen der DDR veranlasst, für deren Entlassung Moskau nach wie vor verantwortlich zeichnete. Wie bereits im Mai 1953 fest­ge­legt, sollten demnach circa 6 150 Häftlinge aus den Gefängnissen der DDR (so­wie 4 823 Kriegs- und Zivilgefangene aus Lagern in der Sowjetunion) frei­kom­men.40 Im Jahre 1955 erhielten die ostdeutschen Behörden dann endgültig die Ver­fügungsgewalt über die ehemals von Sow­jetischen Militärtribunalen Ver­ur­ teil­ten; die Mehrzahl von ihnen kam bis 1956 frei (siehe Kap. 4.1.6). 4.1.2 Die Workuta-Häftlinge Zu den Insassen Brandenburg-Gördens zählten zeitweilig auch sogenannte Workutabzw. Kamtschatka-Häftlinge, wie sie von den Mitinsassen bezeichnet wur­den. Sie waren nach Kriegsende in Kriegsgefangenenlager bzw. in den sowje­tischen Gulag deportiert worden, wo sie unter unsäglichen Bedingungen vor­wie­gend in Bergwerken hatten arbeiten müssen.41 Sie zählten zu jenen 749 Personen, die nach der Moskau-Reise Adenauers im September 1955 (siehe Kap. 5.6.1.5) als angebliche »Schwerstkriegsverbrecher«, neben weite­ren Kriegsgefangenen und Deportierten, zwischen Oktober 1955 und Februar 1956 der DDR-Re­gierung übergeben wurden. Je nach Wohnort von Familienangehörigen bzw. der Entlassungsadresse, die sie angegeben hatten, durften 471 Personen unter ihnen in die Bundesrepublik weiterreisen, wo sie nach einer Befragung durch das Deutsche Rote Kreuz umgehend

37  Statistik der StVA Brandenburg vom 11.4.1953; BArch DO1 32/39821. Siehe auch Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 368. 38  Vgl. Roth: Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 312 f. 39  Vgl. BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP, Nr. 413/68. 40  Vgl. Possekel: Sowjetische Lagerpolitik in Deutschland, S. 104. 41  Vgl. v. a. Foitzik; Henning (Hg.): Begegnungen in Workuta; Bährens: Deutsche in Straflagern.

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freikamen.42 Da die Bundesregierung eine Prüfung der Verdachtsmomente zugesagt hatte, wurden jedoch mindestens drei KZ-Aufseher unter ihnen später noch wegen Mordes verurteilt.43 Doch insgesamt 278 sogenannte Nichtamnestierte blieben zunächst in Bau­t­zen I in Haft bzw. wurden, soweit es sich um Frauen handelte, nach Hoheneck ein­ge­lie­ fert.44 Die DDR-Verantwortlichen hätten sie nur zu gerne vor Gericht gestellt, doch weil die sowjetische Seite zunächst zu keinem dieser Häftlinge die Strafakten mit übergab, fehlten die notwendigen Informationen für eine Verurteilung. Deswegen wurde »der größte Teil von ihnen« bereits Mitte 1956 klammheimlich in den Westen entlassen,45 wenngleich die Staatssicherheit sich ein Vetorecht vorbehielt.46 Die Zahl der Workuta-Häftlinge in der Haftanstalt Bautzen I sank jedenfalls bis 1957 auf 34 Personen. Diese wurden dann im September des gleichen Jahres nach Brandenburg-Görden verlegt, weil diese Haftanstalt als noch sicherer galt und im Westen über ihr Schicksal berichtet worden war. In der Haftanstalt an der Havel wurden sie dann in Haus 4 in strenger Einzelhaft gehalten und von den übrigen Insassen getrennt.47 Im Juni 1958 wurden noch 29 KamtschatkaHäftlinge gezählt,48 wie auch die westliche Presse seinerzeit fast präzise meldete.49

42  Schmidt, Ute: Spätheimkehrer oder »Schwerkriegsverbrecher«? Die Gruppe der 749 »Nicht­ amnestierten«. In: Hilger, Andreas; Schmidt, Ute; Wagenlehner, Günther (Hg.): Sowjetische Militärtribunale (Schriften des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismus­forschung, 17), Bd. 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953. Köln 2001, S. 273–350, hier 343; Wodopjanowa, Soja: »Vorzeitig entlassen und in die Heimat zurückführen«. Das Zentralkomitee der KPdSU zur Frage der Entlassung deutscher Kriegsgefangener nach Stalins Tod (nach Moskauer Archivquellen). In: Eimermacher, Karl; Volpert, Astrid (Hg.): Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche nach 1945. München 2006, S. 147–182, hier 180; Reichelt, Hans: Die deutschen Kriegsheimkehrer. Was hat die DDR für sie getan? Berlin 2007, S. 125–134 u. 146– 150; Kowalczyk, Günther: Einer von 749 »Schwerst-Kriegsverbrechern«. Ein Kapitel deutschen Leidens unter der Stalin-Justiz. Münster 2010. 43  Vgl. Eichmüller, Andreas: Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik. München 2012, S. 150–155; Müller: Nazis – Kriegsverbrecher, S. 376. 44  Schmidt: Die Gruppe der 749 »Nichtamnestierten«, S. 273–350, hier 343. 45  Vgl. ebenda, S. 273–350, hier 340. 46  Vgl. Hilger, Andreas; Morré, Jörg: SMT-Verurteilte als Problem der Entstalinisierung. Die Entlassungen Tribunalverurteilter aus sowjetischer und deutscher Haft. In: Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Schmidt, Ute (Hg.): Sowjetische Militärtribunale, Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Köln 2003, S. 685–756, hier 744. 47  Vgl. Schreiben von Alfred Musiolik an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen betr. noch inhaftierte SMT-Verurteilte in der Haftanstalt Brandenburg-Görden vom 24.10.1958, 5 S.; BArch B 137/15620; Besuchervermerk [des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen zur Befragung eines ehemaligen Häftlings] vom 6.2.1961, 1 S.; BArch B 209/1085. 48  Vgl. Information [des Ministeriums für Staatssicherheit] vom 12.6.1958; BStU, MfS, AS, Nr. 140/63, Bd. 1, Bl. 64. 49  Hier war von 27 Häftlingen die Rede. Vgl. Der Kurier vom 12.6.1958, S. 2.

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Erst ab 1959 wurden sie nicht mehr isoliert und durften arbeiten.50 Bis 1961 sollte ihre Zahl auf 21 Personen sinken51 und die Häftlingsfreikäufe ab 1963 brachten weiteren Kamtschatka-Häftlingen die Freiheit. Unter ihnen befanden sich meist nicht in rechtsförmigen Verfahren Verur­ teilte, doch auch oft tatsächlich Schuldige – wie etwa hochrangige Mitarbeiter des Rasse- und Sicherheitshauptamtes, an Geiselerschießungen beteiligte Wehrmachts­ soldaten sowie SS-Angehörige und Funktionshäftlinge, die KZ-Häftlinge ge­ fol­tert hatten.52 So war der Leiter eines Zellenbaus in Sachsenhausen, Kurt Eccarius, wegen der Erschießung von KZ-Häftlingen auf einem Todesmarsch im sogenannten Pankower Sachsenhausen-Prozess 1947/48 zu lebenslänglicher Haft verurteilt und nach Workuta deportiert worden.53 Vertreten waren jedoch auch V-Leute westlicher Nachrichtendienste und wegen »antisowjetischer Propa­ ganda« Verurteilte.54 Einige waren aus weltanschaulichen Gründen zu Gegnern des Stalinismus geworden und hatten sich durch westliche Geheimdien­ste an­ werben lassen – so etwa ein Westberliner, der bis zu seiner Verhaftung im De­ zem­ber 1952 als sogenannter Resident angeblich zehn Agenten in der DDR angeleitet und die sowjetischen Streitkräfte ausspioniert hatte. Nach einem Todesurteil zu 15 Jahren Arbeitslager »begnadigt«, gelangte er nach der MoskauReise Adenauers in die DDR und wurde im September 1964 freigekauft.55 Als »Kriegsverurteilten« bezeichneten die ostdeutschen Behörden absurderweise auch einen anderen Häftling, der erst 1953 wegen angeblicher Spionage von einem Sowjetischen Militärtribunal verurteilt worden war.56 Zu den Kamtschatka-

50  Vgl. Vernehmung [des ehemaligen Häftlings Manfred Tschiersch] durch die bayerische Grenzpolizei von September 1959 (mit Lageplan), 8 S.; BArch B 137/1809. 51  Vgl. Schreiben von Alfred Musiolik an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen betr. noch inhaftierte SMT-Verurteilte in der Haftanstalt Brandenburg-Görden vom 24.10.1958, 5 S.; BArch B 137/15620; Besuchervermerk [des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen zur Befragung eines ehemaligen Häftlings] vom 6.2.1961, 1 S.; BArch B 209/1085. 52  Vgl. u. a. BStU, MfS, HA IX, Nr. 369. 53  Vgl. Schmidt: Die Gruppe der 749 »Nichtamnestierten«, S. 273–350, hier 345; Vernehmung [des ehemaligen Häftlings Manfred Tschiersch] durch die bayerische Grenzpolizei von September 1959 (mit Lageplan), 8 S.; BArch B 137/1809. Nach seiner Freilassung in den Westen wurde Eccarius im Jahre 1969 auch in der Bundesrepublik, unter teilweiser Anrechnung der sowjetischen Haft, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Wegen der Erschießung eines minderjährigen Gefangenen in Sachsenhausen sprach das Schwurgericht München eine Strafe von achteinhalb Jahren gegen ihn aus. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.12.1969; Eichmüller: Keine Generalamnestie, S. 154. 54  Vgl. Schmidt: Die Gruppe der 749 »Nichtamnestierten«, S. 273–350, hier 340. 55  Er engagierte sich dann im Verein ehemaliger Brandenburger Häftlinge und im Referat Wiedervereinigung beim Parteivorstand der SPD, dem ehemaligen Ostbüro der Partei, was ihn erneut in das Visier des Staatssicherheitsdienstes rücken ließ. Vgl. BStU, MfS, HA II, Nr. 15844; HA II, Nr. 15845. 56  Vgl. BStU, MfS, Abt. XII, RF, Nr. 376, o. Pag. Ursprünglich zu 18 Jahren Haft verurteilt, wurde er 1960 amnestiert und aus Brandenburg-Görden entlassen.

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Häftlingen zählte ferner der Sozialdemokrat Hermann Möhring,57 der sich in Brandenburg-Görden ungebrochen zeigte und seine politischen Ansichten weiterhin offen äußerte.58 Obwohl die Gefängnisleitung ab 1960 seine Freilassung befürwortete, sperrte sich die Generalstaatsanwaltschaft gegen eine vorzeitige Freilassung und forderte Gefängnisleiter Ackermann auf, seine »provokatorischen Eingaben« zu unterbinden.59 So gelangte er erst im August 1964 durch Freikauf aus Brandenburg-Görden in den Westen. Einer der letzten Häftlinge in Brandenburg-Görden, den ein Sowjetisches Mi­litärtribunal verurteilt hatte, war Paul Sakowski. Als 18-Jähriger hatte er auf Sei­ten der Internationalen Brigaden am Spanischen Bürgerkrieg teilnehmen wollen, war jedoch verhaftet und ohne Gerichtsbeschluss im Jahre 1938 in das Kon­zentrationslager Sachsenhausen eingewiesen worden. Hier hatte er als Kal­ fak­tor an der Hinrichtung von etwa 70 Häftlingen mitgewirkt, sich offenbar auch an Folterungen beteiligt und deswegen als »Henker von Sachsenhausen« trau­rige Berühmtheit erlangt.60 Als Begründung für seine kooperative Haltung führ­te Sakowski später an, dass er auf eine vorzeitige Haftentlassung spekuliert ha­be. Im Oktober 1947 von einem Sowjetischen Militärtribunal zu lebenslanger Zwangs­arbeit verurteilt, gelangte auch er aus Workuta Anfang 1956 über die Zwi­ schen­station Bautzen I nach Brandenburg-Görden. Hier setzte sich der haupt­ amt­liche Mitarbeiter der Staatssicherheit Walter Grimmer (siehe Kap. 5.1.3) für ihn ein – vermutlich, weil sie gemeinsam in Sachsenhausen eingesessen hat­ten und Sakowski als Belastungszeuge zur Aufklärung nationalsozialistischer Ver­ brechen vor Gericht benötigt wurde.61 Ackermann votierte gegen eine vor­zei­ tige Freilassung, weil Sakowski sich nur als »kleiner Befehlsempfänger« der NS57  Vgl. Handschriftlicher Lebenslauf von Hermann Möhring vom 20.4.1956; BStU, MfS, AP, Nr. 1160/57, Bl. 24–26; [Deutsche Übersetzung des] Urteil 13.5.1953; BStU, MfS, AU, Nr. 309/52, Bd. Gefangenenakte, Bl. 11 f.; Festnahmebericht vom 27.11.1952; ebenda, Bl. 7; Weber, Hermann: Damals als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Berlin 2002, S. 263–266; Bouvier, Beatrix; Schulz, Horst-Peter (Hg.): »... die SPD aber aufgehört hat zu existieren«. Sozialdemokraten unter sowjetischer Besatzung. Bonn 1991, S. 123–146; Schmidt: Die Gruppe der 749 »Nichtamnestierten«, S. 273–350, hier 338 f.; Vernehmung [des ehemaligen Häftlings Manfred Tschiersch] durch die bayerische Grenzpolizei von September 1959 (mit Lageplan), 8 S.; BArch B 137/1809. 58  Vgl. Bericht des GI »Sonne« vom 9.3.1961; BStU, MfS, BV Potsdam, AIM, Nr. 494/71, Bl. 33 f. 59  Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft an den Leiter der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 6.8.1963; BStU, MfS, AU, Nr. 309/52, Bd. Gefangenenakte, Bl. 142. 60  Die Westpresse meldete bereits damals, dass Sakowski in Brandenburg-Görden einsaß. Seine Verbrechen wurden jedoch stark beschönigt, weil seine Rolle als Opfer kommunistischer Verfolgung offenbar maßgebend war. Vgl. Der Kurier vom 12.6.1958, S. 2. 61  Vgl. Vernehmungsprotokoll des Strafgefangenen Paul Sakowski vom 23.6.1960; BStU, MfS, AP, Nr. 10882/70, Bd. Kontrollvorgang, Bl. 9–12; Bericht der Hauptabteilung IX/10 vom 29.8.1966; BStU, MfS, SdM, Nr. 1445, Bl. 3–5. Siehe auch Becker, Jens; Dedio, Gunnar: Die letzten Henker. Berlin 2002, S. 170.

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Diktatur verstehe und er folglich nicht richtig bereue.62 Tatsächlich wur­de der »Henker von Sachsenhausen« dann jahrelang als wichtiger Zeuge bei Ge­richts­ ver­fahren gegen die Wachmannschaft von Sachsenhausen in Ost und West ver­ nom­men, weswegen die Staatssicherheit ihn im September 1962 auch in ihr ei­ ge­nes Haftarbeitslager nach Hohenschönhausen verlegte. Erst 1970 kam er, nach voll­ständiger Verbüßung seines inzwischen auf 25 Jahre reduzierten Straf­ma­ßes, frei und musste in der DDR bleiben.63 Ein anderer SMT-Verurteilter, als Angehöriger der SS »wegen Massenvernich­ tung« verurteilt, wurde gar erst 1972 von Brandenburg-Görden aus in die Bundes­ republik entlassen.64 Wegen seines nützlichen Wissens behielt die Staatssicherheit hingegen Bruno Sattler in Haft, obwohl ein jugoslawisches Gericht ihn zum Tode verurteilt hatte, andererseits eine vorzeitige Haftentlassung nach § 346 der Strafprozessordnung möglich gewesen wäre und sich die Bundesregierung um sei­ nen Freikauf bemühte. Sattler hatte als Referatsleiter im Reichssicherheitshauptamt etwa gegen den Reichstagsbrandstifter Marinus van der Lubbe ermittelt,65 Über­ griffe bei Vernehmungen gedeckt66 und als Chef der Belgrader Gestapo von 1942 bis 1944 unter anderem die Ermordung von 8 000 Juden mit einem Gaswagen zu verantworten. Im Jahr 1947 war er durch den NKWD aus Westberlin zu­ nächst nach Moskau entführt worden. Nach seiner Überstellung an die DDR wurde er 1952 vom Landgericht Greifswald nach Kontrollratsgesetz 10 sowie Kontrollratsdirektive 38 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt.67 Überwiegend war er in Brandenburg-Görden inhaftiert, wo er Mitgefangenen offen von seiner Tätigkeit bei der SS berichtete.68 Da er bis 1939 insgesamt 26 V-Männer in der illegalen SPD geführt hatte, »von denen noch einige in Westdeutschland wohnhaft sind«,69 hoffte die Staatssicherheit wohl sein Wissen (etwa gegen den SPD-Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler) nutzen zu können. Dass er auf diese Weise in Ermittlungen der Geheimpolizei involviert war, stand seiner 62  Vgl. Beurteilung des Strafgefangenen Paul Sakowski vom 11.10.1960; BStU, MfS, AP, Nr. 10882/70, Bd. Kontrollvorgang, Bl. 16 f. 63  Vgl. Leo, Annette: Paul Sakoswki, der »Henker von Sachsenhausen«. In: Boll, Friedhelm; Kaminsky, Annette (Hg.): Gedenkstättenarbeit und Oral History. Lebensgeschichtliche Beiträge zur Verfolgung in zwei Diktaturen. Berlin 1999, S. 113–128; Becker; Dedio: Die letzten Henker, S. 168–221. 64  Vgl. BStU, MfS, AST, I c, Nr. 1/74, Bd. 2; BStU, MfS, AOP, Nr. 1412/74. 65  Vgl. Niemann, Beate: Mein guter Vater. Mein Leben mit seiner Vergangenheit. Eine TäterBiographie. Teetz 2005, S. 155. 66  Vgl. Grundmann, Siegfried: Die V-Leute des Gestapo-Kommissars Sattler. Berlin 2010, S. 35. 67  Vgl. DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen national­ sozialistischer Tötungsverbrechen. Hg. von Rüter, Christiaan F., Bd. 4: Die Verfahren Nr. 1115– 1199 der Jahre 1951–1954. Amsterdam 2004, S. 469–480. 68  Vgl. [Bericht eines Häftlings] o. D.; BStU, MfS, AOP, Nr. 10402/66, Bd. 1, Bl. 65. 69  Aktenvermerk [der Staatssicherheit zu Bruno Sattler] vom 27.9.1966; BStU, MfS, HA IX, Nr. 369, Bl. 74.

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Freilassung zusätzlich entgegen.70 Er starb im Jahre 1972 im Haftkrankenhaus Leipzig Klein-Meusdorf;71 einen Rehabilitierungsantrag der Tochter verwarf das Landgericht Rostock 1998 als unbegründet.72 4.1.3 Die Waldheim-Verurteilten Wie bereits erwähnt, wurden insgesamt 3 432 nicht verurteilte Insassen sow­ jetischer Speziallager nicht mehr von den Sowjetischen Militärtribunalen belangt, sondern bei Auflösung der Lager den ostdeutschen Behörden zur Bestrafung übergeben. Sie wurden in der Haftanstalt Waldheim konzentriert und durch deutsche Sondergerichte abgeurteilt, weil die sowjetische Besatzungsmacht den regulären Justizbehörden, das heißt auch den für politische Verfahren nach Befehl 201 zuständigen Kammern, nicht vertraute.73 Die eigens beim Landgericht Chemnitz installierten 20 Strafkammern wurden besonders stark von der SEDFührung beeinflusst und gehorchten letztlich Moskauer bzw. Karlshorster Wün­ schen. »Respekt, Wunsch nach politischer Übereinstimmung, vorauseilender Gehorsam, Verängstigung und Unterwerfung von SED-Funktionären unter­ stützten das Zusammenspiel in sowjetischem Interesse.«74 Die Verfahren sollten als »Abrechnung mit Faschismus und Militarismus« gelten, doch wurden in Wirklichkeit nicht nur nationalsozialistische Verbrechen ge­a hndet,75 sondern auch Andersdenkende verurteilt – allerdings weniger stark als in der Spruchpraxis der Sowjetischen Militärtribunale. So wurden 162 Personen wegen Delikten angeklagt, die auf einen Zeitpunkt nach dem 8. Mai 1945 datieren, also dem Widerstand gegen das SED-Regime zuzurechnen sind.76 Die Haftbedingungen in Waldheim waren katastrophal, die Versorgung und die hy­gienischen Bedingungen unzumutbar. Infolge dessen galt jeder dritte Häft­ ling als Tbc-krank. Auch infolge teilweise hohen Alters starben 85 Gefangene, noch bevor ein Urteilsspruch ergangen war. Die Angeklagten hatten keinen An­ 70  Vgl. Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 412. 71  Vgl. Interview mit Beate Niemann. In: tageszeitung (taz) vom 12./13.3.2005, S. I–III. 72  Vgl. DDR-Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 4, S. 481 f. 73  Vgl. Meyer-Seitz: Verfolgung von NS-Straftaten, S. 175. 74  Otto, Wilfriede: Die Waldheimer Prozesse. In: Mironenko; Niethammer; Plato (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1, S. 533–553, hier 539. Siehe auch Marxen, Klaus; Werle, Gerhard (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Teilband 5/2: Rechtsbeugung. Berlin 2007, S. 791–884. 75  So erhielt ein Aufseher Brandenburg-Gördens »lebenslänglich«, weil er vor 1945 zum Tode verurteilte politische Gefangene bewacht hatte. Vgl. DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Samm­ lung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Hg. von Rüter, Christiaan F., Bd. 14: Die Waldheimverfahren Nr. 2001 ff. nebst Ergänzungsteil zu Band 1–13. Amsterdam 2009, S. 47 f. 76  Vgl. Otto: Waldheimer Prozesse, S. 533–553, hier 537.

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spruch auf einen Rechtsbeistand, lediglich das Gericht konnte im eigenen Ermes­ sen einen solchen zulassen. In vielen Fällen war ein juristischer Tatnachweis zwar nicht zu führen, doch musste aufgrund politischer Vorgaben eine Verurteilung erfolgen – und zwar binnen sechs Wochen, wie Walter Ulbricht angewiesen hatte. Ein kleiner Teil entsprechend geeigneter Verfahren wurde als Schauprozess durchgeführt, was für eine gewisse Legitimation sorgen sollte. Natürlich wurden sicherheitshalber auch diese Verfahren nur vor einem handverlesenen Publikum durchgeführt. Die meisten Fälle allerdings wurden im Geheimen verhandelt, weil der Öffentlichkeit andernfalls nicht verborgen geblieben wäre, wie fragwürdig viele Urteilssprüche waren. Daher wird angenommen, dass die Mehrheit der Verurteilten für Verbrechen büßen musste, die sie letztlich nicht begangen hatten.77 Insgesamt ergingen gegen 3 324 Personen Urteile, wobei zumeist hohe Freiheits­ strafen von über zehn Jahren verhängt wurden. Von 33 Todesurteilen wurden 24 bereits am 4. November 1950 vollstreckt. Die Strafkammern beim Landgericht Chemnitz, die sich dabei förmlich auf den SMAD-Befehl 201 stützten, folgten damit der drakonischen Strafpraxis der Sowjetischen Militärtribunale, während in den »regulären« Verfahren nach Befehl 201, auf die noch zurückzukommen sein wird, nur zwei Prozent aller Verurteilten ein Strafmaß von zehn Jahren und mehr erhielten.78 In den Waldheimer Prozessen galt jedoch die politische Maßgabe, dass die Strafmaße nicht unter dieser Marge liegen durften und »keinesfalls niedriger ausfallen« sollten als die Urteilssprüche der Sowjetischen Militärtribunale.79 Das Kalkül des SED-Regimes, Sonderstrafkammern einzurichten und auf diese Weise für besonders strenge Bestrafung zu sorgen, ging so auf. Doch bereits im August 1950 musste sich die Staatsführung den Unrechtscharakter der ergangenen Urteile eingestehen und erkennen, dass die übermäßig harten Urteile nicht als gerechte Strafe galten, sondern die Verurteilten in den Augen der Bevölkerung zu Märtyrern machte.80 Doch erst im September 1952 traute sich das Politbüro, die Angelegenheit öffentlich zu thematisieren, eine Kommission zur Überprüfung der Waldheimer Verfahrensakten einzusetzen und deren Entlassungsvorschläge ausdrücklich zu billigen.81 In 996 Fällen wurde dann die Freilassung sowie in

77  Vgl. Eisert, Wolfgang: Die Waldheimer Prozesse. Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz. München 1993, S. 182 u. 191. 78  Vgl. Meyer-Seitz: Verfolgung von NS-Straftaten, S. 233. 79  Schreiben des Untersuchungsorgans Waldheim der Hauptabteilung HS vom 28.4.1950; BArch DO1 11/1589, Bl. 21. 80  So hatte der Stellvertretende Ministerpräsident Otto Nuschke im Auftrag Otto Grotewohls die schweren Verfahrensmängel und die katastrophalen Haftbedingungen zutreffend analysiert. Vgl. Exposé von Otto Nuschke »in Sachen Waldheim« vom 18.8.1950; BStU, MfS, AU, Nr. 307/55, Bd. 5a, Bl. 28–35. 81  Vgl. Protokoll Nr. 135/52 der Sitzung des Politbüros vom 23.9.1952; BArch DY 30 IV 2/2–235.

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1 024 Fällen eine Reduzierung des Strafmaßes veranlasst, während 993 Fälle unverändert bewertet wurden.82 Ein Teil der Gefangenen war nach dem Urteilsspruch zunächst in Waldheim geblieben, doch insbesondere die lebenslänglich oder zu 25 Jahren Haft Verurteil­ ten waren bereits Anfang Juli 1950 in die als besonders sicher geltende Haftanstalt Brandenburg-Görden verlegt worden.83 Dabei soll es sich um etwa 500 Personen gehandelt haben, die nun zusammen mit mehr als 1 000 SMT-Verurteilten aus Bautzen I in der Haftanstalt an der Havel einsaßen.84 Im Frühjahr 1954 waren Waldheim-Verurteilte auch noch in Waldheim, Bautzen I, Halle I und Luckau inhaftiert und wurden dann stärker in Torgau konzentriert.85 Im Zuge einer weiteren Begnadigungsaktion vom Juli 1954 erlangten auch 42 WaldheimVerurteilte aus Brandenburg-Görden die Freiheit, während 582 Häftlinge aus Bautzen I, 115 aus Torgau, 71 aus Luckau, 48 aus Waldheim, 46 aus Hoheneck, neun aus Leipzig Klein-Meusdorf und zwei aus Bützow-Dreibergen entlassen wurden.86 Die Gesamtzahl der Waldheim-Verurteilten lag somit im Oktober 1955 noch bei 968, die aber fast alle bis zum Folgejahr entlassen wurden.87 Ab 1957 jedenfalls saßen sämtliche verbliebenen Waldheim-Verurteilen, insgesamt noch 15 Personen, in Brandenburg-Görden ein.88 Konsequenterweise schaffte man nun auch die Gerichts-, Untersuchungs- und Haftakten der Waldheimer Verurteilten hierher und verwahrte sie unter strengster Geheimhaltung in einem gesonderten Lagerraum.89

82  Vgl. Otto: Waldheimer Prozesse, S. 533–553, hier 552. 83  Vgl. Eisert: Waldheimer Prozesse, S. 268. 84  Zusammengenommen soll es sich um 1 807 Häftlinge gehandelt haben, wie ein ehemaliger Kalfaktor berichtete, der vermutlich einen guten Überblick hatte. Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] Nr. 1847 betr. Haft-Anstalt Brandenburg-Görden o. D. [Herbst 1950]; BArch B 289/ VA 171/22–16. Die Zahlen der Waldheim- und SMT-Verurteilten sind dabei als Mindestgrößen zu verstehen. Vgl. [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Brandenburg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968; [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Gefängnis Brandenburg-Görden vom 29.9.1950; BArch B 137/1809; [Bericht des ehemaligen Häftlings Georg Oehmichen] betr. Zuchthaus Brandenburg-Görden vom 21.3.1952; BArch B 289/SA 171/22–01/2. 85  Vgl. Verlegungsplan der Abteilung AKE der Hauptabteilung SV vom 1.3.1954; BArch DO1 11/1562, Bl. 135; Transportbefehl der Hauptabteilung SV vom 17.3.1954; ebenda, Bl. 136 f. 86  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung SV an den stellv. Chef der DVP Seifert betr. Meldungen der Westpresse über die Entlassungsaktion vom 15.7.1954; BArch DO1 32/51005, Bl. 106 f. 87  Vgl. Otto: Waldheimer Prozesse, S. 533–553, hier 552. 88  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom 1. Quartal 1957]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 1–3. 89  Vgl. Eisert: Waldheimer Prozesse, S. 260.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

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4.1.4 Die nach Befehl 201 Verurteilten In den ersten Nachkriegsjahren wurden echte und vermeintliche NS-Verbrecher zumeist durch Sowjetische Militärtribunale verurteilt oder auch ohne Richter­ spruch in den sowjetischen Speziallagern interniert bzw. als Kriegsgefangene in die Sowjetunion deportiert. Ostdeutsche Gerichte hingegen sprachen nach Kriegsende auf der Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 lediglich 528 Strafurteile gegen NS-Verbrecher aus.90 Im August 1947 leitete dann der Befehl 201 der Sowjetischen Militäradministration die zweite Phase der Strafverfolgung von NS-Verbrechen ein, indem sie die Verfahren gemäß Kontrollratsdirektive 38 den ostdeutschen Strafkammern und Untersuchungsbehörden übertrug. Diese Rechtsnorm sah die »Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen« vor. Sie war ursprünglich von den amerikanischen Militärbehörden angeregt worden, doch nur in der Sowjetischen Besatzungszone wurde sie »als echtes Strafgesetz angewandt«.91 Der Befehl 201 leitete eine erneute Säuberung der Verwaltung von NS-Belaste­ ten ein, beinhaltete aber zugleich eine Amnestie für lediglich nominelle Mitglieder der NSDAP. Auf der neuen Rechtsgrundlage konnte beispielsweise verurteilt werden, wer dem nationalsozialistischen Sicherheitsapparat angehört, sich an Straßenkämpfen gegen die KPD in der Weimarer Zeit beteiligt, eine leitende Stel­ lung in der NSDAP innegehabt (bis hinunter zum Ortsgruppenleiter), Häft­linge in Konzentrations- oder Kriegsgefangenlagern misshandelt oder vor politischer und rassis­tischer Verfolgung Schutzsuchende denunziert hatte. Doch wurde »nicht nur derjenige zur Strafe herangezogen, der selbst an den barbarischen Ausschreitungen des Nazismus teilgenommen hat, sondern zum Beispiel auch derjenige, der der Jugend Giftlehren beigebracht hat«, wie es in den einschlägigen dienstlichen Bestimmungen hieß. Laut Kontrollratsdirektive 38 galt die bloße Zugehörigkeit zur NSDAP als Organisationsdelikt, doch genügte allein in Ostdeutschland die Mitgliedschaft in einer NS-Organisation zur Verurteilung, ohne dass es eines Tatnachweises bedurfte. »Es würde zur Absurdität [...] führen, wollte man für die Bestrafung die unmittelbare Teilnahme jedes Verurteilten an konkreten Gewalttätigkeiten verlangen«, hieß es in der einschlägigen Dienstanweisung.92 Dieser Maßgabe folgten die Gerichte zwar oft nur widerwillig93 und erkannten

90  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 400. 91  Meyer-Seitz: Verfolgung von NS-Straftaten, S. 159. 92  Ergänzungsmaterial zum Rundschreiben betr. Entnazifizierung vom 10.9.1947 über An­ ord­nung des Befehls Nr. 201 o. D.; BArch DY 30/IV 2/13/4, Bl. 55–66. 93  Vgl. Bartusel, Rolf: »Der Generalstaatsanwalt braucht durchaus kein Jurist zu sein.« Die Transformation des Rechtswesens in Mecklenburg-Vorpommern, 1945–1952. Münster 2008, S. 191.

522

Die Häftlinge

vielfach auf Freispruch aus Mangel an Beweisen,94 doch wurden immerhin 40 Prozent der bis Oktober 1949 nach Befehl 201 Verurteilten lediglich ein Organisationsvergehen vorgeworfen.95 Die ostdeutschen Gerichte und Behörden stärker mit NS-Verfahren zu betrauen, sollte nach sowjetischem Willen auch deren politische Zuverlässigkeit und Instru­ men­talisierbarkeit auf die Probe stellen.96 Folglich waren die Verfahren gegen Ange­k lagte nach Befehl 201 durch beachtliche Willkür der Untersuchungsorgane gekennzeichnet. Zwar fanden die Verhandlungen öffentlich statt, doch wurden die Rechtsanwälte massiv behindert, etwa indem ihnen Prozessunterlagen vor­ ent­halten wurden. Auch reichte das verfügbare Beweismaterial, bei kritischer Würdigung, für eine Verurteilung in vielen Fällen eigentlich nicht aus. Mitunter waren die Urteilsbegründungen offenkundig unbrauchbar, oftmals wurden gar die Abstimmungen der Spruchkammer manipuliert.97 Die Benennung der Schöffen in den Verfahren war zudem Sache der »demokratischen Parteien«.98 So gehörten fast zwei Drittel der Staatsanwälte, Richter und Schöffen, die in den Ver­fahren nach Befehl 201 eingesetzt wurden, der SED an und waren für die Pro­zesse entsprechend ausgesucht, teilweise politisch geschult oder sogar gezielt instru­ iert worden.99 Gleichwohl ließ sich die reguläre ostdeutsche Justiz in diesen Verfahren immer noch mehr von rechtsstaatlichen Prinzipien leiten, als es der SED-Führungsspitze sowie der Besatzungsmacht recht war.100 Die Richter und Schöffen erfüllten, insbesondere in der Anfangszeit, »ihre Funktion als Vollstrecker des Polizei- und Parteiwillens [...] mehr schlecht als recht«.101 Dass für die sowjetische Besatzungsmacht die zuverlässige Bestrafung von NSUnrecht gar nicht unbedingt Vorrang hatte, beweist der Umstand, dass sowjetische Gerichte kein einziges Verfahren gegen einen nach Befehl 201 Angeklagten von einem deutschen Gericht übernahmen,102 obwohl dies rechtlich jederzeit möglich 94  Vgl. u. a. Ahrberg, Edda u. a.: Ausgeliefert. Haft und Verfolgung im Kreis Gardelegen zwi­ schen 1945 und 1961. Hg. von der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits­ dienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt in Kooperation mit der Vereinigung der Opfer des Stalinismus in Sachsen-Anhalt. Halle 2014, S. 207 u. 217. 95  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 419. 96  Vgl. u. a. Weber: Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen, S. 105. 97  Vgl. Meyer-Seitz: Verfolgung von NS-Straftaten, S. 252. 98  Ausführungsbestimmung Nr. 3 zum Befehl 201 vom 16.8.1947 vom 21.8.1947; Zentral­ verordnungsblatt Nr. 18/1947, S. 188–191. 99  Vgl. Wille: Entnazifizierung, S. 190. 100  Vgl. Meyer-Seitz: Verfolgung von NS-Straftaten, S. 346. 101  Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 413. 102  Meyer-Seitz: Verfolgung von NS-Straftaten, S. 174. Dementgegen Hilger, Andreas; Petrov, Nikita: »Erledigung der Schmutzarbeit«? Die sowjetischen Justiz- und Sicherheitsapparate in Deutschland. In: Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Schmidt, Ute (Hg.): Sowjetische Militär­ tribunale. (Schriften des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismus-Forschung, 17), Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Köln 2003, S. 59–152, hier 142.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

523

gewesen wäre.103 Der eigentliche Hauptzweck des Befehls 201 lag vielmehr in der Verfolgung jener, »die zwar formal nicht Nazis waren, aber mit allen Mitteln unsere demokratische Ordnung sabotieren«, wie Walter Ulbricht ausführte.104 In diesem Sinne konnte nach Artikel III A III der Kontrollratsdirektive 38 (teils in Verbindung mit Befehl 201) belangt werden, wer nach Kriegsende »Propaganda für den Nationalsozialismus« betrieben oder »tendenziöse Gerüchte« verbreitet hatte und auf diese Weise, so die abenteuerliche Begründung, den Frieden in der Welt gefährdete. So wurde ab Anfang 1949 verstärkt verfolgt, wer beispielsweise »kriegshetzerische« Zeitschriften aus dem Westen in Ostdeutschland verteilte – was letztlich für alle Blätter galt, die nicht SED-konform waren.105 Weil jede antikommunistische Äußerung als Propaganda für den Nationalsozialismus aufgefasst werden konnte, legte die Interpretation der Kontrollratsdirektive 38 »das Fundament für die politische Gesinnungsjustiz in der DDR«.106 Insgesamt wurden in Ostdeutschland bis Ende 1950 8 321 Personen von ost­deutschen Gerichten nach Befehl 201 verurteilt. Zudem ergingen rund 1 500 Freisprüche, etwa 3 100 weitere Verfahren wurden eingestellt. In 35 Fällen wur­den lebenslange und in 155 Fällen zehn- bis fünfzehnjährige Zuchthausstrafen ver­hängt, überwiegend jedoch kürzere Freiheitsstrafen ausgesprochen.107 So ka­men vie­le nach Befehl 201 Verurteilte nach kurzer Zeit wieder frei, zumal die Zeit der In­ ternierung oftmals angerechnet wurde – weswegen die Bestrafung der NS-Tä­ter nach Ansicht von Beobachtern »eher zu milde als zu hart« ausfiel. Da mit dem Ur­teils­ spruch oftmals die Einziehung des Vermögens (von Kleinunternehmern und selbst­ ständigen Geschäftsleuten) verknüpft war, wurde der Befehl 201 vielfach auch zur wirtschaftlichen Umgestaltung benutzt.108 Unter den nach Befehl 201 Ver­urteilten befanden sich bis Oktober 1949 40 Prozent Angehörige von SS, SA, Gestapo und Sicherheitsdienst oder Inhaber leitender Funktionen in der NSDAP. Nicht eingerechnet in die genannte Zahl von 8 321 Strafurteilen sind die Verurteilungen von politischen Gegnern allein nach Artikel III A III der Kon­troll­ratsdirektive 38; hier soll es sich zusätzlich um »einige Hundert« Verfahren ge­handelt haben.109

103  »Alle derartigen Angelegenheiten [gemeint sind strafrechtliche Ermittlungen nach Be­ fehl 201 sowie Kontrollratsdirektive 38] können aufgrund von Anweisungen des sowje­tischen Mi­li­tär­befehlshabers den sowjetischen Untersuchungsorganen und Gerichten über­w ie­sen wer­ den.« Ausführungsbestimmung Nr. 3 zum Befehl 201 vom 16.8.1947 vom 21.8.1947; Zentral­ verordnungsblatt Nr. 18/1947, S. 188–191. 104  Rede Walter Ulbrichts auf der Innenministerkonferenz am 31.1.1948; BArch DY IV/ 2/131/109, Bl. 151 f.; zit. nach: Rößler (Hg.): Die Entnazifizierungspolitik der KPD/SED, S. 248 f. 105  Vgl. Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 426. 106  Meyer-Seitz: Verfolgung von NS-Straftaten, S. 301. 107  Vgl. ebenda, S. 231 u. 319. 108  Weber: Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen, S. 114 u. 131. 109  Vermerk Reislers, betr.: Ergebnisse der bisherigen 201-Rechtsprechung vom 26.10.1949; BArch DP 1–6229; zit. nach: Wentker: Justiz in der SBZ/DDR, S. 421 u. 426.

524

Die Häftlinge

Zunächst in Polizeihaftanstalten dezentral inhaftiert, sollten die nach Befehl 201 Ver­urteilten nach dem Richterspruch in einer großen Strafvollzugsanstalt konzen­ triert werden. Hierfür vorgesehen war zunächst das Haftarbeitslager Rüdersdorf, dann die Haftanstalt Brandenburg-Görden, die seinerzeit teilweise noch von der Besatzungsmacht genutzt wurde und wiederaufgebaut worden war (siehe Kap. 2.6.1). Die von der Justiz für dieses Gefängnis errechnete Kapazität war auf lan­ge Sicht gerade ausreichend, um die etwa 2 080 Personen unterzubringen, die Ende 1948 in der gesamten SBZ nach Befehl 201 verurteilt worden waren.110 Die zehn Prozent Frauen unter ihnen, so war geplant, sollten in Haus 4 in Branden­ burg-Gör­den untergebracht werden, da dies über eine gesonderte Umfassungs­ mauer ver­fügte.111 Tatsächlich saßen Anfang Juni 1949 aber erst 300 ausschließ­lich männ­liche Gefangene in Brandenburg-Görden ein, die vorwiegend im Vor­mo­nat ein­geliefert worden waren.112 Zum Jahresbeginn 1950 zählte die Haftanstalt an der Havel 1 065 Insassen männlichen Geschlechts, darunter 975 Strafgefangene, 53 Untersuchungshäftlinge und 37 »sonstige Gefangene«,113 im Februar bereits 1 508 Personen (siehe Tabelle 10). Besonders diejenigen, die nach Befehl 201 zu Zucht­hausstrafen verurteilt worden waren, gelangten in die Haftanstalt an der Havel, während die zu weniger als fünf Jahren Verurteilten auch in verschiedene Haft­arbeitslager eingewiesen wurden oder, bei Freisprüchen bzw. sehr kurzen Stra­fen, sogar unmittelbar aus der Untersuchungshaft heraus freikamen. Bis Februar 1950 stieg die Zahl der Insassen von Brandenburg-Görden jedenfalls auf 1 508 Häftlinge, die ausschließlich nach Befehl 201 verurteilt waren. Zum weit überwiegenden Teil hatten sie Strafmaße von weniger als fünf Jahren erhalten.114 Offiziell abgeschlossen wurde die Entnazifizierung Ostdeutschlands im Früh­ jahr 1948 mit Befehl 35 der Sowjetischen Militäradministration. Bereits im November des gleichen Jahres amnestierte die Besatzungsmacht mit Befehl 43 eine hohe Zahl von Gefangenen und Beschuldigten; in ganz Ostdeutschland wurden so 207 Häftlinge entlassen und 1 980 Verurteilte von der Strafverbüßung freigestellt.115 Im März 1950 wurde die Strafverfolgung nach Befehl 201 auf Anweisung der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei dann förmlich beendet, wenngleichdie Justiz einzelne Verfahren noch bis 1955 betrieb.116 110  Abschrift eines Vermerks vom 27.10.1948; BArch DO1 11/1589, Bl. 2. 111  Vgl. Ergebnisprotokoll der Besprechung der Justizverwaltung beim Chef der Rechtsabteilung der SMAD Professor Karasseff vom 16.11.1948; ebenda, Bl. 9–15. 112  Deutsche Justizverwaltung: [Belegung des] Strafvollzug[s] vom 13.7.1949; BArch DP 1–46. 113  Vgl. BArch DP 1–262, Bl. 17; Bericht [vermutlich eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Haftanstalt Brandenburg-Görden o. D. [1950], 13 Bl.; BArch B 137/1809. Bei den »sonstigen Gefangenen« handelte es sich vermutlich um Internierte. 114  Vgl. Bericht [vermutlich eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Haftanstalt Brandenburg-Görden o. D. [1950], 13 Bl.; ebenda. 115  Vgl. Kappelt: Entnazifizierung in der SBZ, S. 419. 116  Vgl. Meyer-Seitz: Verfolgung von NS-Straftaten, S. 229 f.

525

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

Strafmaße und Strafarten Strafmaß in Jahren

soziale Struktur

zu Gefäng- zu Zuchtnisstrafen hausstraVerurteilte fen Verurteilte

Untersu- Internie- gesamt chungs- rungsgefangene gefangene

Lebensalter in Jahren

Zahl

bis 2

417

30

43

19

509

bis 21



bis 5

386

250

50

27

713

bis 30

20

bis 10

39

141

19

2

201

bis 40

257

über 10

2

60

5



67

bis 50

610

lebenslänglich



16

2



18

bis 60

453

844

497

119

48

1 508

bis 70

157

gesamt

Tab. 10: Die Häftlinge und ihre Delikte in Brandenburg-Görden (1950)117

Weitere Prozesse gegen spät enttarnte oder lange Zeit gedeckte NS-Täter wurden vor ordentlichen Gerichten bis in die Achtzigerjahre geführt.118 Die Sowjetunion hatte 1950 »an einer gerichtlichen Belangung der kleinen Nazis [...] kein Interesse mehr«,119 weil dies der Stabilisierung des ostdeutschen Satelliten und der Durch­ setzung des Herrschaftsanspruchs der SED abträglich zu sein schien und Unruhe in der Bevölkerung durch neue Verhaftungen vermieden werden sollte. Diejenigen aber, die nach Befehl 201 zu hohen Strafen verurteilt worden waren, wurden

117  Stichtag 1.2.1950. Vgl. Bericht [vermutlich eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Haftanstalt Brandenburg-Görden o. D. [1950], 13 Bl.; ebenda. Ein Doku­ment des Justizministeriums nennt eine etwas höhere Zahl von 1 497 Strafgefangenen und 107 Un­ ter­suchungshäftlingen – angeblich ebenfalls zum Stichtag 1. Februar, doch die Differenz ent­ spricht in etwa der nachfolgenden Zunahme der Häftlingszahl binnen eines Monats. Vgl. Haupt­ abteilung III des Ministeriums der Justiz: Nachweisung über den Gefangenenbestand in den Justizvollzugsanstalten der Deutschen Demokratischen Republik am 1.2.1950; BArch DP 1–262, Bl. 91. Dass die Untersuchungsgefangenen in der o. g. Statistik mit Strafmaßen aufgelistet werden, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass sie bereits eine Freiheitsstrafe erhalten hatten, jedoch wegen anderer Delikte weiterhin gegen sie ermittelt wurde. Sie waren in Haus 4 in Einzelzellen untergebracht und wurden von Kriminalpolizei oder Staatssicherheit ständig verhört. Unter ihnen waren angeblich auch Abgeordnete von CDU und LDPD. Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Gefängnis Brandenburg-Görden vom 28.4.1950; BArch B 289/SA 171/22–39. Die Unterscheidung von Zuchthaus- und Gefängnisstrafen resultierte aus dem Urteilsspruch, auf die Behandlung der Insassen hatte dies keinerlei Einfluss. Vgl. Bericht [eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 3.1.1951, 13 Bl.; BArch B 137/1809. 118  Vgl. Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 121. 119  Meyer-Seitz: Verfolgung von NS-Straftaten, S. 161.

526

Die Häftlinge

gemäß einem Beschluss des Zentralkomitees der SED von der Amnestie im März 1950 grundsätzlich ausgenommen.120 Weil vermutlich Zuverlegungen bereits verurteilter Häftlinge hinzukamen, stieg die Zahl der Insassen Brandenburg-Gördens zum 1. Mai 1950 auf 1 785 Per­sonen (da­runter 77 Untersuchungshäftlinge), von denen 1 708 nach Befehl 201 fest­ge­ halten wurden.121 Im Folgemonat waren es insgesamt 1 667 Insassen (darunter 50 Untersuchungshäftlinge), unter denen 1 656 von Befehl 201 betroffen waren.122 Zu den elf übrigen Insassen zählten vor allem acht Häftlinge, die unter politischen Vor­zeichen im sogenannten DCGG-Prozess verurteilt worden waren (siehe Kap. 4.2.3).123 Somit war der weit überwiegende Teil jener 2 332 Häftlinge, die im Juni in der gesamten DDR nach Befehl 201 inhaftiert waren, in der Haftanstalt an der Havel konzentriert.124 Von diesen sollten regulär bis zum Jahresende 479 und im Folgejahr weitere 489 Personen entlassen werden. Längere Haftstrafen bis zehn Jahre mussten noch 641 Personen verbüßen, 90 hatten sogar ein noch höheres Strafmaß und 23 eine lebenslängliche Freiheitsstrafe erhalten.125 Erst im Oktober 1952 wurden die Haftstrafen der nach Befehl 201 Verurteilten durch eine eigens gebildete Kommission untersucht,126 was wohl auf den Druck der westlichen öffentlichen Meinung zurückging.127 Weitere Überprüfungen nahm wenig später eine Kommission vorweg, der die Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, Hilde Benjamin, Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer und der Staats­ sekretär im Ministerium für Staatssicherheit Erich Mielke angehörten.128 Nicht begnadigt wurden allerdings die Zeugen Jehovas, die ebenfalls oft nach Befehl 201 verurteilt worden waren und teilweise in Brandenburg-Görden einsaßen, sowie jene

120  Vgl. Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 6.3.1950 zum Top 4: Entlassung von Strafgefangenen; BArch DY 30 J IV 2/3–90, Bl. 2. 121  Vgl. Übersicht zur Rundverfügung vom 5.12.1947 (Haftentlassungen und politische Gefangene [sic!]) 1. Mai 1950 vom 2.6.1950; BArch DP 1–262, Bl. 83. 122  Vgl. Nachweisung über den Gefangenenbestand in den Vollzugsanstalten Stand 1.6.1950; ebenda, Bl. 57. 123  Vgl. Brundert: Es begann im Theater, S. 55. 124  Übersicht zur Rundverfügung vom 5.12.1947 (Haftentlassungen und politische Gefangene [sic!]) 1. Juni 1950 vom 26.6.1950; BArch DP 1–262, Bl. 60. 125  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung HS betr. Vorsprache des Leiters der Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 2.6.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 29 f. Die Gesamtzahl weicht mit 1 722 Personen von der vorgenannten ab, was vermutlich aus unterschiedlichen Stichtagen resultiert. 126  In der entsprechenden Kommission sollten Martha Fuchs von der Abteilung Staatliche Verwaltung des Sektors Justiz beim ZK (als Leiterin der Kommission), Karl Venediger, Staatsanwalt bei der Obersten Staatsanwaltschaft, Werner Jauch von der Abteilung Strafvollzug der HVDVP und ein von Mielke noch zu benennender Mitarbeiter des MfS mitwirken. Vgl. Protokoll Nr. 178 der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 7.7.1952; BArch DY 30 J IV 2/3–307. 127  Vgl. Hilger; Morré: SMT-Verurteilte als Problem der Entstalinisierung, S. 685–756, hier 694. 128  Vgl. BArch DP 1-1319.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

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Gefangene, die noch nicht die Hälfte ihrer Strafe verbüßt hatten.129 Weitere nach Befehl 201 Verurteilte kamen nach der Moskaus-Reise Adenauers im September 1955 frei (siehe Kap. 4.1.6). 4.1.5 Delikte und soziale Struktur der Häftlinge zu Beginn der Fünfzigerjahre Am 1. Juli 1950 wurde die Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei für Bran­den­burg-Görden zuständig (siehe Kap. 2.6.3). Während die Justiz das Ge­ fäng­nis mit sämtlichen Inhaftierten zu übergeben beabsichtigte, lehnte die Volks­ polizei dies ab, weil sie die anstehenden Haftentlassungen nicht selbst vor­neh­ men wollte; lediglich die zu Haftstrafen von über vier Jahren Verurteilten woll­te sie übernehmen.130 Tatsächlich blieben die nach Befehl 201 Verurteilten zu­ nächst in der Haftanstalt, wurden dann jedoch »größtenteils abtransportiert«.131 Die Volkspolizei füllte das Gefängnis bereits Anfang Juli mit neuen Insassen auf, darunter vor allem in Waldheim und von Sowjetischen Militärtribunalen Verurteilte, insgesamt 1 807 Häftlinge.132 Von Anfang an war beabsichtigt, von der Justiz übernommene Gefängnisse wie Brandenburg-Görden etwa 25 Prozent höher zu belegen, als dies bis dato üblich gewesen war.133 Doch diese planmäßige Überbelegung wurde von der Realität weit übertroffen: Bei einer (ohnehin hoch angesetzten) Kapazität von 1 900 Plätzen waren im Sommer 1951 tatsächlich 2 694134 und im Herbst bereits 2 945 Gefangene in Brandenburg-Görden inhaf­

129  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 367. 130  Vgl. Aktenvermerk der Hauptabteilung HS betr. Übergabe der Strafanstalt BrandenburgGörden vom 7.6.1950; BArch DO1 11/1586, Bl. 33. 131  Schreiben der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen betr. Vollzugsanstalt Brandenburg-Goerden vom 31.8.1950; BArch B 137/1810. 132  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] Nr. 1847 betr. Haft-Anstalt Brandenburg-Görden o. D. [Herbst 1950]; BArch B 289/VA 171/22–16. Die Zahlenangabe erscheint deswegen plausibel, weil er als ehemaliger Kalfaktor vermutlich einen guten Überblick hatte und die Schätzungen anderer Mitinsassen in einer ähnlichen Größenordnung liegen (zwischen 1 500 und 1 800 Personen). Vgl. [Bericht des ehemaligen politischen Häftlings] N. M. [über] das Zuchthaus Brandenburg o. D. [1954], 8 S.; BArch B 285/968; [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Gefängnis Brandenburg-Görden vom 29.9.1950; BArch B 137/1809; [Bericht des ehemaligen Häftlings Georg Oehmichen] betr. Zuchthaus Brandenburg-Görden vom 21.3.1952; BArch B 289/SA 171/22-01/2. 133  Vgl. Protokoll über die Dienstbesprechung der mit der Übernahme der Objekte der Justiz beauftragten Verbindungsoffiziere der Hauptabteilung Strafvollzug vom 5.1.1951; BArch DO1 11/1449, Bl. 336–344. 134  Vgl. Undatierte Aufstellung der Haftanstalten mit dem Gefangenenbestand vom 25.6.1951; BArch DO1 11/1578, Bl. 9.

528

Die Häftlinge

tiert.135 Unter der Ägide der Volkspolizei waren hier also erheblich mehr und deutlich strenger bestrafte Gefangene als noch zwei Jahre zuvor inhaftiert (siehe Tab. 10 und 11). Zu den Insassen zählten auch ca. 200 kriminelle Häftlinge, die nach den Weltjugendfestspielen von August 1951 aus Bautzen I und Waldheim hierher verlegt worden waren.136 Dennoch waren Anfang 1952 in BrandenburgGörden sogar nach interner Zählung der Gefängnisverwaltung 92 Prozent aller Insassen »wegen politischer Verbrechen« verurteilt, während es in den Haftan­stal­ ten des Innenministeriums durchschnittlich »nur« 72 Prozent waren.137 Ehemalige Inhaftierte hielten seinerzeit recht zutreffend 90 Prozent der Insassen BrandenburgGördens für politische Gefangene und zehn Prozent für Kriminelle,138 was freilich eine Definitionsfrage ist. Zu den ersten kriminellen Häftlingen zählten fraglos mehrere Angehörige der sogenannten Gladow-Bande.139 Die drei Anführer dieser Raubmörderbande waren seit März 1950 in der Haftanstalt an der Havel inhaftiert.140 Sie sollten eigentlich schon im August nach verworfener Revision in Brandenburg-Görden hingerichtet werden,141 wurden dann jedoch erst nach Ablehnung ihrer Gnadengesuche am 9. November in die Untersuchungshaftanstalt Frankfurt/O. verlegt und dort am Folgetag guillotiniert.142 So saßen in der Haftanstalt an der Havel auch immer wieder Häftlinge ein, bei denen die Vollstreckung des Todesurteils bevorstand.

135  Vgl. Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug über die Arbeit auf dem Gebiet des Straf­ vollzugs o. D. [Herbst 1951]; BArch DO1 11/1508, Bl. 101–142. 136  Vgl. [Bericht über die] Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden/Havel von Anfang November 1951, 2 Bl.; BArch B 137/1809. In dem Bericht wird die Gesamtzahl der Insassen mit etwa 3 500 leicht überschätzt. 137  Vgl. Aufstellung über den Stand der Gefangenen in den Strafanstalten des MdI am 25.3.1952; BArch DO1 11/1509, S. 178. 138  Vgl. Sopade-Informationsdienst: Straflager und Zuchthäuser, S. 106–215. 139  Die Gladow-Bande, etwa sieben Raubmörder unter der Führung des 18-jährigen Werner Gladow, hatten 1948 und 1949 in Berlin für erhebliche Unruhe unter der Bevölkerung gesorgt. Im März 1950 wurden sie im sowjetischen Sektor teilweise wegen Mord verurteilt. Vgl. Evans, Richard J.: Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532–1987. Berlin 2001, S. 921. 140  Vgl. Bericht [vermutlich eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Haftanstalt Brandenburg-Görden o. D. [1950], 13 Bl.; BArch B 137/1809. 141  Vgl. [Bericht eines ehemaligen politischen Häftlings] betr. Gefängnis BrandenburgGörden vom 29.9.1950; ebenda. 142  Es waren vermutlich die einzigen wegen krimineller Taten vollstreckte Todesurteile in diesem Jahr. Vgl. Bericht [eines in die Bundesrepublik geflüchteten Aufsehers] über die Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 3.1.1951, 13 Bl.; ebenda; Bericht [eines ehemaligen Aufsehers] über meine Erlebnisse während meiner Tätigkeit im Zuchthaus Brandenburg vom 1.11.1949 bis 28.11.1950; BArch B 289/SA 171/22-119/1; Berliner Zeitung vom 12.6.2002, S. 29; Mittmann, Wolfgang: Gladow-Bande. Die Revolverhelden von Berlin. Berlin 2003, S. 330.

529

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

Strafmaße

Soziale Struktur und Delikte

Strafin Brandenmaße in burg-Görden Jahren abs.

in %

in allen Haftanstalten des MdI abs.

Geschlecht, Alter, Delikte

in %

bis 3

183

7,5

4 301

17,1 männl.

bis 5

230

9,3

3 233

12,9 (dav. < 18 J.)

bis 10

541

21,8

5 545

22,1 weiblich

in Brandenburg-Görden

in allen Haftanstalten des MdI

abs.

abs.

in %

in %

2 351

94,7

21 888

84,8

(1)

0,04

(51)

0,2

124

5,0

3 214

12,5

bis 15

231

9,3

2 421

9,6 (dav. < 18 J.)



0,0

(6)

0,02

bis 20

106

4,3

1 713

6,8 k. A.

7

0,3

705

2,7

bis 25

445

17,9

6 755

26,9 polit.a

2 287

92,1

18 615

72,1

lebensl.

739

29,8

1 134

4,5 krim.b

121

4,9

3 763

14,6

7

0,3

705

67

2,6

2 724

10,6

0,3

705

2,7

~100 25 807

~100

o. Urteil gesamt

2 482

~100 25 807

2,7 wirt.

c

~100 o. Urteil gesamt

7 2 482

Tab. 11: Die Häftlinge und ihre Delikte in Brandenburg-Görden sowie in der gesamten DDR (1952)143 a In der Quelle »politische Verbrechen«. b In der Quelle »kriminelle Verbrechen«. c In der Quelle »wirtschafts- und andere Verbrechen«.

Insgesamt sind allein in der Sowjetischen Besatzungszone mindestens 49 Todes­ urteile vollzogen worden, die ostdeutsche Gerichte ausgesprochen hat­ten.144 Je nach den örtlichen Gegebenheiten wurden die Häftlinge durch Erhän­gen, Erschießen oder Enthaupten zum Tode befördert, bis sich 1949 die Guillotine durch­setzte.145 Das während des Nationalsozialismus in Brandenburg-Görden letztmalig am 20. April 1945 eingesetzte Fallbeil146 war drei Tage später im Plauer See versenkt,147 dann jedoch geborgen und in der von Walter Hammer betriebenen Gedenkstätte aufgestellt worden. Als im Februar 1950 eine Delegation unter der 143  Stichtag 24.3.1952. Vgl. Aufstellung über den Stand der Gefangenen in den Strafanstalten des MdI am 25.3.1952; BArch DO1 11/1509, S. 178. Für die insgesamt 7 bzw. 705 nicht Verurteilten Häftlinge wurden weder Geschlecht noch Alter erfassten. 144  Vgl. Werkentin: Instrumentalisierung der Todesstrafe, S. 101–192, hier 109–111. 145  Vgl. Evans: Rituale der Vergeltung, S. 962–964, 1025 u. 1031. 146  Vgl. Wachsmann, Nikolaus: Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NSStaat. München 2006, S. 380. 147  Vgl. Wald, Ed[uard]: Die Tätigkeit der politischen Gefangenen des Zuchthauses Branden­ burg-Görden und ihre Befreiung (im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der ehem. pol. Gefangenen des Zuchthaues Brandenburg) von Juni/Juli 1945, 24 S.; BArch BA DY 30/IV 2/10.02 62; Völklein, Ulrich: Honecker. Eine Biographie. Berlin 2003, S. 166.

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Die Häftlinge

Leitung von Fritz Lange die Gedenkstätte besuchte, forderte der ehemalige Insasse und spätere Polizeipräsident von Ostberlin sogar die Wiederinbetriebnahme der Guillotine.148 So wurde sie Anfang 1950 fortgeschafft149 und in der Haftanstalt Luckau wieder eingesetzt.150 Entsprechend zentraler Weisungen wurde dann im August 1950 auch in der Haftanstalt an der Havel eine Dienstanordnung über die lückenlose Bewachung von Todeskandidaten erlassen.151 Im Oktober 1952 saß erneut ein Todeskandidat in Brandenburg-Görden – vermutlich handelte es sich um Wolfgang Kaiser152, der im Februar 1952 an die Sektorengrenze gelockt, dann nach Ostberlin entführt und im August zum Tode verurteilt worden war. Er hatte als Leiter des Labors der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit angeblich Sprengstoff und Chemikalien hergestellt, die für Anschläge in der DDR wie die Sprengung von Brücken oder Giftmordattentate gedacht gewesen sein sollen. Hingerichtet wurde er im Juni 1953.153 Im Herbst 1958 waren erneut zwei Todeskandidaten in der Haftanstalt an der Havel inhaftiert,154 bei denen es sich allerdings nicht um politische Häftlinge handelte. Noch bis 1968 wurde bei Todesstrafen die Guillotine verwendet, danach bis 1981 der Genickschuss praktiziert.155 Bis zu diesem Zeitpunkt wurden seit Staatsgründung in der gesam­ ten DDR weitere 64 Todesurteile wegen NS-Verbrechen, 52 Todesurteile wegen politischer Delikte und 44 wegen krimineller Vergehen vollstreckt.156 In den Jahren 1952/53 saßen in Brandenburg-Görden fast doppelt so viele Gefangene ein, wie die Haftanstalt eigentlich aufzunehmen vermochte; die drangvolle Enge wurde nur in Torgau, Waldheim und Cottbus übertroffen, denn die dortigen Haftanstalten waren dreifach bzw. im letztgenannten Fall sogar fünffach überbelegt. Verlegungen hätten für Abhilfe sorgen können, doch hatte die Trennung der verschiedenen Häftlingsgruppen Priorität.157 Die ober­ ste Gefängnisverwaltung kommentierte die Überbelegung mit den euphemis­

148  Vgl. Hammer, Walter: Die Katastrophe in Brandenburg vom 4.3.1950, 10 Bl.; IfZ, ED 106, Bd. 1, o. Pag. 149  Vgl. [Bericht eines geflüchteten Aufsehers] betr. Vollzugsanstalt Brandenburg-Görden vom 22.4.1950; BArch B 289/SA 171/22–4. 150  Das heute in der Gedenkstätte befindliche Fallbeil soll aus Coswig stammen. Vgl. Ahrberg: Zuchthaus Coswig, S. 112. 151  Vgl. Ansorg: Brandenburg, S. 81. 152  Vgl. [Bericht der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit] betr. Haftanstalt BrandenburgGoerden vom 13.10.1952; BArch B 289/VA 171/22-19/14. 153  Vgl. Merz: Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, S. 168 u. 202. 154  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 27. 155  Vgl. Evans: Rituale der Vergeltung, S. 962–964, 1025 u. 1031. 156  Vgl. Werkentin: Instrumentalisierung der Todesstrafe, S. 101–192, hier 109–111. 157  Stellungnahme der Hauptabteilung SV zur Entwicklung des Strafvollzuges vom 27.8.1953; BArch DO1 11/1508, Bl. 87–89.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

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tischen Worten, dass sie »keinen vorbildlichen Strafvollzug« mehr zulasse.158 Ende Juni 1953 saßen 3 359 Häftlinge in Brandenburg-Görden ein.159 Der Minis­ ter­ratsbeschluss vom 9. Juni 1953 und die verstärkte Anwendung von § 346 der Strafprozessordnung brachten dann 22 283 Häftlingen in der gesamten DDR die Entlassung. Unter ihnen befanden sich vermutlich rund 250 Insassen Brandenburg-Gördens.160 Dennoch wurden, aufgrund neuer Verurteilungen und entsprechender Verlegungen, im November 1953 in der Haftanstalt an der Havel bereits wieder 3 479 Insassen gezählt, darunter 157 Untersuchungsgefangene.161 Die Sozial- und Deliktstruktur der Insassen veränderte sich in dieser Zeit erheblich. Denn seit Mai 1952 wurden, durch Austausch mit anderen Haft­an­ stalten, an der Havel immer mehr Häftlinge mit einem Strafmaß von mindestens fünf Jahren konzentriert.162 Die Inhaftierten waren zumeist männlichen Ge­ schlechts und über 21 Jahre alt, doch auch einige junge Erwachsene, die nach Befehl 201 oder durch Sowjetische Militärtribunale zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, gelangten hierhin. Erst ab September 1950 wurden sie zumindest in einer gesonderten Jugendabteilung untergebracht und damit von den älteren Häftlingen getrennt.163 Zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa 75 Jugendliche in Brandenburg-Görden,164 darunter 18 SMT-Verurteilte, die zum Tatzeitpunkt jünger als 18 Jahre gewesen waren165 (wie etwa der vormals 15-jährige Karl Heinz Reuter; siehe Kap. 4.2.1). Gelegentlich gelangten in diesen Jahren auch Frauen nach BrandenburgGörden. Die Justizverwaltung hatte ja vor der Wiederinbetriebnahme der Haft­ anstalt geplant, die weiblichen nach Befehl 201 verurteilten Häftlinge hier zu

158  Vgl. Entwurf eines Schreibens der Hauptabteilung Strafvollzug vom 31.8.1953; BArch DO1 11/1469, Bl. 15–18. 159  Vgl. Aufstellung der Hauptabteilung SV über Kapazität und Belegung sowie Soll- und Iststärke der VP in den SV-Dienststellen vom 1.7.1953; BArch DO1 11/1578, Bl. 60–78. 160  So wurden im gesamten Bezirk Potsdam lediglich 57 Strafgefangene auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses entlassen. Sie dürften überwiegend in Brandenburg-Görden eingesessen haben. Ferner kamen 242 nicht näher spezifizierte Häftlinge im Bezirk Potsdam nach § 346 der Strafprozessordnung frei, bei denen es sich ausschließlich um Strafgefangene und somit um Insassen Brandenburg-Gördens gehandelt haben dürfte. Vgl. Anzahl der vorfristig entlassenen Gefangenen nach dem Ministerratsbeschluss vom 9.6.1953 vom 23.9.1953; ebenda, Bl. 35. 161  Vgl. Aufstellung über den Gefangenenbestand in den SV-Dienststellen mit Stand vom 25.11.1953 vom 17.12.1953; ebenda, Bl. 27–32. 162  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Umorganisation im Zuchthaus BrandenburgGörden von Mitte Juni 1952; BArch B 289/VA 171/22-19/11. 163  Niederschrift über die Dienstbesprechung [in der Haftanstalt Brandenburg] vom 30.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 45 f. 164  Vgl. Bericht über die Instrukteurstätigkeit in der Strafanstalt Brandenburg vom 18.9.1950; BArch DO1 11/1480, Bl. 114–119. 165  Vgl. BArch DO1 32/39729.

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Die Häftlinge

konzentrieren, hatte sie dann jedoch in die Haftanstalt Luckau eingewiesen.166 Dennoch waren im August 1950 auch einige Frauen in Brandenburg-Görden inhaftiert.167 Im Dezember 1951 handelte es sich noch um genau eine Person,168 vermutlich Leo Bauers Ehefrau Margarete.169 Durch entsprechende Zugänge im ersten Quartal 1952 waren nun sogar wieder 124 Frauen in BrandenburgGörden inhaftiert,170 doch im März 1953 saßen wiederum nur zehn offenbar aus politischen Gründen inhaftierte Frauen hier ein.171 Ab November 1953 mussten ihnen 49 Geschlechtsgenossinnen Gesellschaft leisten, die im Vormonat in Hohen­eck für drei Tage die Nahrung verweigert hatten, um eine Überprüfung ih­ rer Ur­teile zu erreichen. Zum Zwecke der Isolierung und Bestrafung waren sie nach Branden­burg-Görden verlegt worden, wo das Haftregime als härter galt.172 Unter ihnen war beispielsweise Alexandra Dust-Wiese, die dem Kreis um den Rostocker Studenten Arno Esch angehört hatte und durch ein Sowjetisches Militärtribunal zu drei mal 25 Jahren Arbeitslager verurteilt worden war. Jutta Giersch wiederum war als Journalistin aus Westberlin entführt worden und hatte wegen »antisowjetischer Hetze« eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren erhalten.173 Ebenfalls als Journalistin wurde kurz vor ihrer Flucht aus der DDR Annerose Matz-Donath von einem Sowjetischen Militärtribunal verurteilt.174 Zwar wurden viele Frauen im Zuge der Begnadigungswelle von 1954 entlassen,175 doch kam im Sommer 1954 Maria Dertinger hinzu, die als Ehefrau des ehemaligen Außenministers Georg Dertinger zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.176 Im April 1956 wur­den die verbliebenen Frauen dann in die Strafvollzugsanstalt Halle verlegt (sowie Maria Dertinger im Herbst nach Halberstadt), sodass ab diesem Zeitpunkt die Häftlings­ 166  Bericht der Landeskriminalpolizeiabteilung Brandenburg über die Durchführung des Befehls 201 vom 1.8.1949; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, Bl. 102–104. Das Haftlager Rüdersdorf ging dann zum 1.1.1951 endgültig an das MdI über. 167  Vgl. Niederschrift über die Dienstbesprechung [in der Haftanstalt Brandenburg] vom 9.8.1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, Bl. 45 f. 168  Vgl. Gefangenenbestand am 25.12.1951; BArch DO1 11/1578, Bl. 1. 169  Vgl. Bericht von [Siegfried] Endesfelder vom 3.3.1953; BStU, MfS, AU, Nr. 541/53, Bd. 5, Bl. 43–45. 170  Vgl. Aufstellung über den Stand der Gefangenen in den Strafanstalten des MdI am 25.3.1952; BArch DO1 11/1509, S. 178. 171  Vgl. Sternberg, Renate: [Bericht über inhaftierte Frauen in der sowjetischen Besatzungszone im Auftrag des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen] vom 31.3.1953; BArch B 137/1750, Bl. 1–100. 172  Vgl. Wunschik: Norilsk und Workuta, S. 198–218. 173  Vgl. Schacht, Ulrich (Hg.): Hohenecker Protokolle. Aussagen zur Geschichte der politischen Verfolgung von Frauen in der DDR. Zürich 1984, S. 28–74. 174  Vgl. Zeitzeugen-Projekt 1997–1999. Erfahrungen mit politischer Haft in der SBZ und DDR. Übersicht der Video-Interviews. Der Sächsische Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehem. DDR. Dresden 2004, S. 54. 175  Siehe Kapitel 4.1.6. 176  Vgl. Lapp, Peter Joachim: Georg Dertinger: Journalist, Außenminister, Staatsfeind. Freiburg 2005, S. 230; Beckmann; Kusch: Gott in Bautzen, S. 100.

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gesellschaft Brandenburg-Gördens wieder ausschließlich männlichen Geschlechts war. Erst als die Haftanstalt an der Havel in den späteren Jahren kurzzeitig auch als Untersuchungshaftanstalt diente, waren hier möglicherweise abermals Frauen für kurze Zeit inhaftiert. Zu den prominenten politischen Häftlingen zählte insbesondere der er­ wähn­te Georg Dertinger. Als Generalsekretär der CDU in Ostdeutsch­land und Außenminister der DDR waren ihm seine intensiven Westkontakte zum Ver­hängnis geworden, die er teilweise im Auftrag sowjetischer Stellen gepflegt hatte. Diese wurden dann vom Gericht absurderweise als »Verschwörung« und »Spio­nage« bewertet und nach Artikel 6 mit 15 Jahren Zuchthaus bestraft.177 »Sei­ne Mithäftlinge haben ihn als einen ängstlichen und reservierten Men­ schen in Erinnerung«,178 was angesichts seines Sturzes und seiner trauma­ti­ schen Er­fah­rungen mit der Untersuchungshaft kaum überrascht.179 Er befolgte Anweisungen angeblich »willig«, litt jedoch erheblich unter den Haftbedingungen und zeigte sich politisch ungebrochen. Sein ehemaliger Ministerkollege für Justiz Max Fechner hingegen, als Sozialdemokrat in den Jahren 1934 und 1944 kurzzeitig im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert, war über seine »versöhnlerische« Haltung gegenüber den Akteuren vom Juni 1953 gestürzt und als »Feind des Staates u. der Partei« nach Artikel 6 sowie wegen homosexueller Handlungen zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden.180 Während er im Ermittlungsverfahren rasch vermeintliche Fehler in der politischen Anleitung seines Ministeriums, Opportunismus sowie Vetternwirtschaft eingestand,181 bekannte er nach dem Urteilsspruch in Brandenburg-Görden, dass er sich nicht als 177  Siehe auch Richter, Michael: Die Ost-CDU 1948–1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung. Düsseldorf 1991, S. 364–368; Baus, Ralf Thomas: Die Christlich Demokratische Union Deutschlands in der sowjetisch besetzten Zone 1945–1948. Gründung – Programm – Politik. Düsseldorf 2001. Dertinger saß von Juni 1954 bis August 1956 in Brandenburg-Görden. 178  Meldung des SPD-Pressedienstes OS/XI/43 vom 27.10.1956, 8 Bl.; IfZ, ED 106, Bd. 82, Bl. 176–184. 179  Dertinger äußerte später im Strafvollzug, er habe sich vor Gericht überhaupt nur deswegen schuldig bekannt, weil die Verhältnisse in der Untersuchungshaft »unerträglich« gewesen seien. Führungsbericht der Strafvollzugsanstalt Bautzen II über den Strafgefangenen Dertinger, Georg vom 15.5.1961; BStU, MfS, AU, Nr. 449/54, Bd. 8, HA/GA, Bl. 7 f. 180  Vgl. Beckert, Rudi: Lieber Genosse Max. Aufstieg und Fall des ersten Justizministers der DDR Max Fechner. Berlin 2003; Suckut, Siegfried: »Als wir in den Hof unserer Haftanstalt fuhren, verstummte Genosse Fechner«. Neues aus den Stasi-Akten zur Verhaftung und Verurteilung des ersten DDR-Justizministers. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des BStU; Bd. 16). Berlin 1999, S. 165–179; Amos, Heike: Kommunistische Personalpolitik in der Justizverwaltung der SBZ/DDR. In: Bender, Gerd; Falk, Ulrich (Hg.): Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45–1989), Bd. 2: Justizpolitik (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 114). Frankfurt/M. 1999, S. 109–145. 181  Vgl. BStU, MfS, AU, Nr. 307/55, Bd. 1.

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»Verbrecher« fühle. Unter den Bedingungen der Haft litt er besonders angesichts seiner Zuckerkrankheit.182 Seine Post kontrollierte das Untersuchungsorgan der Staatssicherheit, teilweise sogar Mielke persönlich. Wegen einbehaltener Briefe war seine Frau jedoch auch zwei Jahre nach der Verhaftung noch nicht einmal darüber informiert, ob ihr Mann inzwischen überhaupt verurteilt sei.183 In der Haftanstalt an der Havel, die er im Oktober 1949 noch in offizieller Funktion besichtigt hatte,184 befand er sich nun in der gleichen Lage wie Personen, die sich aktiv an der Erhebung von 1953 beteiligt hatten und zu hohen Haftstrafen verurteilt worden waren.185 Hierzu zählte etwa einer der »Rädelsführer« aus Dresden, Frank Saalfrank, der eine zehnjährige Freiheitsstrafe zu verbüßen hatte, die »ausschließlich politisch begründet« war.186 Auch der Streikführer aus Bitterfeld, Paul Othma, musste die letzte Zeit seiner Haftstrafe in BrandenburgGörden verbüßen.187 Zu den vormaligen Trägern des Systems gehörte Karl Hamann von der LiberalDemokratischen Partei Deutschlands. Obwohl der Minister für Handel und Versorgung (1949–52) sich den wandelnden Machtverhältnissen weitgehend an­ passte, für Einheitswahllisten plädierte und sogar Parteifreunde bei der Staats­ si­cherheit denunzierte,188 wurde er als Sündenbock für die Versorgungs­mi­se­re der Nachkriegszeit benutzt. Zudem konnte die SED-Führung durch seine Ver­ haftung im Dezember 1952 die LDPD weiter disziplinieren. Trotz mehr­fa­ cher Warnungen war er, an seine Unschuld glaubend, nicht geflüchtet und war während seiner Untersuchungshaft wiederholt nachts und teilweise mehr als 24 Stunden ununterbrochen verhört worden. Wegen vermeintlicher »Sabotage« an der Versorgung der Bevölkerung erhielt er zunächst eine lebenslängliche, nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens im Juni 1954 eine zehnjährige Frei­ heits­strafe. Im Strafvollzug in Brandenburg-Görden endete Hamanns strenge Isolationshaft, doch wurden seine Kontakte zu Familienangehörigen überwacht bzw. ganz unterbunden. Erst im Zuge der Entstalinisierung und innerdeutschen Annäherung erschien der Staats- und Parteiführung eine Freilassung opportun; 182  Vgl. Bericht über die Beaufsichtigung der Sprecherlaubnis vom 22.11.1955; BStU, MfS, AU, Nr. 169/54, Bd. 2, Bl. 148 f. 183  Vgl. Beckert: Lieber Genosse Max, S. 288. 184  Vgl. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Strafanstalt Brandenburg-Görden vom 23.12.1949; BArch B 289/SA 171/22-2. 185  Vgl. BStU, MfS, AS, Nr. 419/62. 186  Roth, Heidi: Nach dem 17. Juni 1953 – der Prozeß gegen Wilhelm Grothaus und andere. In: Streifzüge durch die Dresdner Justiz (Dresdner Hefte, 4 (60)). Dresden 1999; siehe auch BStU, MfS, AS, Nr. 419/62. 187  Dies betraf den Zeitraum November 1963 bis August 1964. Vgl. Schmidt; Wagner: Paul Othma. 188  Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Opfer der eigenen Politik? Zu den Hintergründen der Verurteilung von Minister Karl Hamann (LDPD). In: Jahrbuch für Liberalismusforschung. BadenBaden 2004, S. 221–271, hier 226 u. 232.

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sein innerparteilicher Rivale Hans Loch, stellvertretender Ministerpräsident, kam daher im Auftrag der SED-Führung in die Haftanstalt an der Havel und überredete Hamann, sich im Oktober 1956 mit einer vorzeitigen Entlassung zufriedenzugeben – statt auf einer Rehabilitierung zu bestehen. Nach seiner Haftentlassung wurde er von der Staatssicherheit streng überwacht, konnte aber dennoch im Mai 1957 in die Bundesrepublik flüchten.189 Zu den prominenten ehemaligen Funktionären zählte auch der Staatssekretär für Justiz Helmut Brandt, der im Frühsommer 1950 die Haftanstalt an der Havel noch in offizieller Mission besichtigt hatte. Er hatte 23 Monate in Untersuchungs­ haft zubringen müssen, ohne dass ein Haftbefehl ausgestellt worden war oder ihm die Staatssicherheit auch nur die Gründe seiner Verhaftung genannt hatte – ein grob rechtwidriges Vorgehen, gegen das der Jurist erfolglos protestierte.190 Zu zehn Jahren Haft verurteilt, wurde er im Juni 1954 nach BrandenburgGörden eingeliefert, wo er seinen ehemaligen Vorgesetzten Fechner wiedertraf, den abgemagerten und kahl geschorenen Minister jedoch zunächst gar nicht erkannte. Im August 1956 wurden die beiden dann nach Bautzen II verlegt. Nach seiner Entlassung versuchte Brandt im September 1958, in den Westen zu fliehen, tappte damit jedoch in eine Falle der Staatssicherheit.191 So wurde er erneut verurteilt und erst im August 1964 aus Bautzen II freigekauft.192 Auch Kommunisten fielen in Ungnade und wurden teilweise in Schauprozessen abgeurteilt, wenn das Regime Sündenböcke brauchte oder die Partei diszipliniert werden sollte.193 So wurden etwa dem KPD-Veteran Fritz Sperling Kontakte zu den amerikanischen Alliierten vorgeworfen, was unzutreffenderweise als geheimdienstliche Tätigkeit und Abweichen von der Parteilinie interpretiert wurde. Wegen »Verbrechen gegen den Frieden« gemäß Kontrollratsgesetz 10 und Kontrollratsdirektive 38 wurde der »geständige« Angeklagte dann zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die genannten »Rechtsgrundlagen« hatten zum Zeitpunkt seiner angeblichen Delikte freilich noch nicht existiert und galten eigentlich der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen. In Brandenburg-Görden wurde Sperling zwischen Mai 1954 und November 1955 völlig isoliert gehalten, 189  Vgl. ebenda, S. 221–271, hier 259–270. Siehe auch Menke-Glückert, Peter: Karl Hamann, die Liberalen und die Quellen. Anmerkungen und Überlegungen eines Zeitzeugen 1945 bis 1952. In: Jahrbuch für Liberalismusforschung. Baden-Baden 2005, S. 253–269; Karl-Hamann-Stiftung (Hg.): Beiträge zum Leben und Wirken von Dr. Karl Hamann. Stahnsdorf 1993. 190  Vgl. Schreiben von Helmut Brandt an den Generalstaatsanwalt vom 9.1.1957; BStU, MfS, AU, Nr. 449/54, Bd. 10, HA/GA, Bl. 16–18. 191  Bericht der Hauptabteilung IX/1 vom 13.8.1958; BStU, MfS, AU, Nr. 335/59, Bd. 1, Bl. 10 f. 192  Vgl. Höfer, Werner: Vierzehn Jahre in Ulbrichts Kerkern. In: Die Zeit Nr. 47 vom 20.11.1964, S. 9 u. 11. 193  Vgl. u. a. Hodos, George Hermann: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Ost­ europa. Berlin 2001.

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bis er erstmals an seine Frau schreiben durfte.194 Schwer erkrankt wurde er im März 1956 begnadigt und entlassen, starb aber schon zwei Jahre später, nicht zuletzt an den Folgen dieser Haft.195 Nach Brandenburg-Görden gelangte im März 1955 auch Paul Merker, der zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.196 Merker wurde bereits im Januar 1956 von Mitarbeitern der Staatssicherheit abgeholt und mit der Bemerkung entlassen, Wilhelm Pieck habe ihn begnadigt.197 Im April 1956 wurde auch der jüdische KPD-Funktionär Bruno Goldhammer aus Brandenburg-Görden entlassen. Der »radikale Stalinist«198 war wegen angeblicher Verbindungen zu Noel Field im August 1950 »vom Ministerium für Staats­ sicherheit im Auftrag der Partei festgenommen« worden,199 hatte zweieinhalb Jahre in der Untersuchungshaft der sowjetischen Organe verbracht und war erst im April 1954 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden.200 In seinen Vernehmungen hatte er teilweise Schuld auf sich genommen, um »der Partei [zu] helfen«,201 bestand nach seiner Entlassung aber auf Rehabilitation und Wiederaufnahme in die Partei.202 Auch andere überzeugte, von der Parteilinie allerdings abgefallene Kommunisten wie Herbert Crüger befanden sich unter den Brandenburger Häftlingen. Er war im Dezember 1958 nach dem neuen Strafrechtsergänzungsgesetz wegen »Staatsverrats« in einem absurden Prozess203 zu einer achtjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er sollte in BrandenburgGörden einige Monate in Einzelhaft »die ganze Härte des Strafvollzugs« zu spüren 194  Vgl. Jahnke: »... ich bin nie Parteifeind gewesen«, S. 86–88. 195  Vgl. Beckert: Schau- und Geheimprozesse, S. 185. 196  Vgl. Janka, Walter: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek 1989; ders.: Spuren eines Lebens. Berlin 1991; ders.: ... bis zur Verhaftung. Erinnerungen eines deutschen Verlegers. Berlin 1993; Hoeft, Brigitte: Der Prozeß gegen Walter Janka und andere. Eine Dokumentation. Berlin 1990. 197  Vgl. Kießling, Wolfgang: Paul Merker in den Fängen der Sicherheitsorgane Stalins und Ulbrichts (Hefte zur DDR-Geschichte, 25). Berlin 1995, S. 25; Herf, Jeffrey: Antisemitismus in der SED. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED- und MfS-Archiven. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (1994) 4, S. 635–667; Kießling, Wolfgang: Leistner ist Mielke. Schatten einer gefälschten Biographie. Berlin 1998, S. 143. 198  Hartewig, Karin: Schule der Erniedrigung: Bruno Goldhammer. In: Geipel, Ines; Petersen, Andreas: Black Box DDR. Unerzählte Leben unterm SED-Regime. Wiesbaden 2009, S. 75–79. 199  Bericht [des Ministeriums für Staatssicherheit] vom 2.5.1956; BStU, MfS, AU, Nr. 169/54, Bd. 2, Bl. 158–162. Zwischen den Zeilen lässt der Rückblick der Staatssicherheit die brutalen Vernehmungsmethoden erahnen. So heißt es in dem Bericht etwa, dass keine »Nachtvernehmungen außer der ehemaligen Arbeitszeit bis 24 Uhr« stattgefunden hätten. Zu Field siehe Barth, BerndRainer; Schweizer, Werner (Hg.): Der Fall Noel Field. Schlüsselfigur der Schauprozesse in Osteuropa. Berlin 2005; Kießling, Wolfgang: Partner IM »Narrenparadies«. Der Freundeskreis um Noel Field und Paul Merker. Berlin 1994. 200  Vgl. Bericht [des Ministeriums für Staatssicherheit] vom 10.3.1953; BStU, MfS, AU, Nr. 169/54, Bd. 1, Bl. 165–181. 201  Schlussbericht [des Ministeriums für Staatssicherheit] vom 10.3.1953; ebenda, Bl. 327– 342, hier 338. 202  Vgl. Otto: Erich Mielke, S. 179–182. 203  Vgl. Wolff: Verlorene Prozesse, S. 83.

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bekommen, wie man ihm erklärte, bevor er im Mai 1959 nach Bautzen II verlegt wurde und April 1961 freikam.204 Prominente Insassen wie die vorgenannten wurden Mitte der Fünfziger­jahre meist von den anderen Häftlingen isoliert in Haus 4 der Haftanstalt Branden­ burg-Görden gehalten, wo neben den Opfern von Entführungen »besonders gefährliche Gegner des Regimes« sowie ehemalige Partei- und Staats­funktionäre einsaßen.205 Hierzu zählte etwa die erwähnte Ehefrau Leo Bauers (und vor­ malige Chefredakteurin des Deutschen Wirtschaftsverlags) Margarete Bauer, die auf Weisung der Leitung des Ministeriums für Staatssicherheit ohne Haft­ befehl zwischen September 1950 und März 1952 in Brandenburg-Görden in­ haf­tiert war.206 Politisch bedeutsam war auch der Rennfahrer Ernst Ring, der als prominenter West-Ost-Übersiedler zunächst hofiert, wegen tatsächlicher Hochstapelei jedoch im Frühjahr 1951 mit sieben weiteren Beschuldigten »für die ZKK« in Brandenburg-Görden festgehalten wurde.207 Doch auch Angehörige des Repressionsapparates waren in Haus 4 inhaftiert – wie etwa Hans-Joachim Leus, der als Leiter der Kreisdienststelle der Staatssicherheit in Rostock Aussagen von Festgenommenen erpresst sowie vor 1945 russische Kriegsgefangene misshandelt hatte und deswegen zu einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt worden war.208 Der Mitarbeiter der Staatssicherheit Horst Zimmermann wiederum hatte für den Untersuchungsausschuss Frei­heitlicher Juristen spioniert, war nach seiner Flucht nach Westberlin jedoch in die DDR verschleppt und zu »lebenslänglich« verurteilt worden.209 Gegen die meisten von ihnen hatte der Staatssicherheitsdienst ermittelt, der nach Ansicht der Insassen deswegen auch in Haus 4 Regie führte.210 Im August 1956 wurde diese Gruppe von etwa 80 teilweise prominenten Häft­ 204  Vgl. Crüger: Lebensbericht eines Kommunisten, S. 345. Nach einem Gnadenerweis Ulbrichts wurde er im April 1961 auf Bewährung entlassen und gnadenhalber am Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften angestellt. Vgl. Crüger, Herbert: Verschwiegene Zeiten. Vom geheimen Apparat der KPD ins Gefängnis der Staatssicherheit. Berlin 1990. In den Jahren 1965/66 wurde Crüger »informatorisch« für die Staatssicherheit tätig, obwohl er »Vorbehalte gegenüber ›einigen Leuten‹« innerhalb des Apparates verspürte. Abschlussvermerk der HA XVIII/5/ AI zum IM-Vorlauf Crüger, Herbert vom 25.11.1977; BStU, MfS, AIM, Nr. 475/78, Bl. 108. 205  Finn; Fricke: Politischer Strafvollzug, S. 35. 206  Vgl. Bericht von [Siegfried] Endesfelder vom 3.3.1953; BStU, MfS, AU, Nr. 541/53, Bd. 5, Bl. 43–45. Laut Bericht wurde sie »in die Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit nach Brandenburg/Havel überführt«, doch wurde damit der starke Einfluss der Geheimpolizei auf Inhaftierungen in Haus 4 in eine formale Unterstellung überzeichnet. 207  Vgl. [Bericht der] Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle: Veranlassung für die Inhaftierung vom 4.4.1951; BStU, MfS, AU, Nr. 203/52, Bd. 9, Bl. 68 f. 208  Vgl. Persönliches Schreiben des Stellvertreters des Staatssekretärs für Staatssicherheit Mielke an den Generalstaatsanwalt vom 6.9.1954; BStU, MfS, BV Potsdam, KS, Nr. 64/62, Bl. 278 f. Zu Leus siehe auch Anm. 1047 in Kap. 3.3.8.3. 209  Vgl. Fricke: Spionage als antikommunistischer Widerstand, S. 565–578, hier 570 f. 210  Vgl. u. a. [Bericht eines ehemaligen Häftlings] betr. Situationsbericht SVA BrandenburgGörden vom 21.12.1954; BArch B 289/VA 171/22-19/25.

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lingen dann aus Haus 4 in die Haftanstalt Bautzen II verlegt,211 die fortan die Rolle des Spezialgefängnisses für die sicherheitspolitisch besonders bedeutsamen Häftlinge übernahm. Doch auch weiterhin gelangten viele Häftlinge, gegen die der Staatssicherheitsdienst ermittelt hatte, nach Brandenburg-Görden, darunter Insassen des berüchtigten Lager X.212 4.1.6 Die Entlassungen in der Mitte der Fünfzigerjahre Nach der justizpolitisch milderen Phase des »neuen Kurses« ab Juni 1953 ver­ schärfte das SED-Regime 1954 seine Strafpolitik wieder erheblich, was viele Verurteilungen nach sich zog und so zwangsläufig zu höheren Häftlingszahlen führte. Komplementär dazu kam es zu Massenentlassungen, um die überfüllten Haftanstalten zu leeren.213 Die Reihe groß angelegter Begnadigungsaktionen begann im Januar 1954, als sich die Moskauer Regierung zur Freilassung vieler SMT-Verurteilter auch in ostdeutschen Gefängnissen entschloss. Das Polit­ büro der SED ließ daraufhin eine Kommission bilden, die aus Vertretern des Innenministeriums, des Staatssicherheitsdienstes und des Ministeriums für Arbeit bestand und die »dazu erforderlichen Maßnahmen« umsetzen sollte.214 So wurde ein Großteil der SMT-Verurteilten auf freien Fuß gesetzt.215 In Brandenburg-Görden durften die Gefangenen zwei Tage vor ihrer Ent­ lassung erstmals mit anderen Mitinsassen zusammenkommen, sofern sie zuvor in Isolationshaft gefangen gehalten worden waren. Statt der bislang dürfti­ gen Er­nährung wurden ihnen nun zumindest Kaltspeisen in beliebiger Menge offe­riert, was wohl dazu diente, den Ernährungszustand der Haftentlassenen kurz­fristig zu verbessern. Über Lautsprecher wurde ihnen mitgeteilt, dass sie frei­kommen würden und von nun an »gleichberechtigte Bürger der DDR« sei­en – doch wie zum Hohn wurde ihnen vor der Entlassung noch einmal eine Glat­ze geschoren. Die Betreffenden wurden dann mit neuwertigen Anzü­gen aus­ge­ stattet – einschließlich Schlips, Schal und Handschuhen. Mit zehn Mark und Marschverpflegung konnten sie die Gefängnismauern dann hinter sich las­sen. Lastkraftwagen verteilten sie auf unterschiedliche Bahnhöfe im Raum Branden­ 211  Vgl. BArch DO1 32/46926. Die Gefangenen sahen einen Zusammenhang zwischen der Verlegung und den Besuchen von Delegationen der britischen Labour Party. Vgl. Loest, Erich: Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf. München 1996, S. 401. Siehe auch Kapitel 5.6.1.7. 212  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/392, Bl. 51. So wurden beispielsweise Häftlinge, die den hohen Anforderungen im Arbeitseinsatz in Hohenschönhausen nicht genügten, zur Strafe in die Haftanstalt an der Havel verlegt. Vgl. u. a. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling H.-J. L. am 22.6.2001 in München, 7 S. 213  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 370. 214  Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees am 5.1.1954; BArch DY 30 J IV 2/2-340. 215  Vgl. Befehl 5/54 des Chefs der DVP vom 11.1.1954; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 14888.

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burg, weil es zu keiner Zusammenrottung der ehemaligen Insassen kom­men soll­te, die übermäßige Aufmerksamkeit hätte erregen können.216 Die Haft­an­ stalt Brandenburg-Görden stand bei der Entlassungsaktion unter stän­diger te­le­ fo­nischer Anleitung der obersten Gefängnisverwaltung. Die stabs­mä­ßig geplante Ent­lassungsaktion trug den Codenamen »Eisblume«. Die Spitzel unter den Ge­ fan­genen waren beauftragt, über Stimmung und Absichten der Freigelassenen zu berichten.217 In den Bahnhofsgaststätten, die sie alsbald aufsuchten, wurden die Haftentlassenen außerdem von zivil gekleideten Mitarbeitern der Transportpolizei und der Staatssicherheit ausgefragt, um die Einhaltung der ihnen auferlegten Schweigsamkeit zu prüfen.218 Die in der Haft verbliebenen SMT-Verurteilten wurden im Frühjahr 1954 in Bautzen I konzentriert, während etwa 200 nach Artikel 6 Verurteilte in der Gegenrichtung nach Brandenburg-Görden verlegt wurden.219 Die Überprüfung weiterer Reststrafen lag nun nahe und bereits im Juli 1954 wurde die Entlassung auch von Waldheim-Verurteilten angeordnet,220 insgesamt etwa 920 Personen.221 Nach westlichen Schätzungen wurden außerdem allein in der ersten Julihälfte auch etwa 1 000 nach Befehl 201 Verurteilte entlassen, von denen allerdings lediglich etwa 40 aus Brandenburg-Görden stammten – während etwa 3 000 Insassen dort zurückbleiben mussten.222 Im Oktober 1954 erhielt die DDR-Regierung die Verfügungsgewalt über die ehemaligen Speziallagerinsassen in den ostdeutschen Haftanstalten, sodass sich im Dezember 1954 eine Kommission zur erneuten Überprüfung der SMTVerurteilten konstituierte.223 Dass weitere Häftlinge in diesem Zuge ihre Freiheit 216  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Karl Heinz Reuter am 8.9.2001 in Dortmund, 5 S. 217  Vgl. Einsatzbefehl 1/54 des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg betr. Entlassungen von SMT-Verurteilten Strafgef. vom 14.1.1954; BArch DO1 32/51005, Bl. 18 . 218  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Karl Heinz Reuter am 8.9.2001 in Dortmund, 5 S. 219  Vgl. u. a. Verlegungsplan der Abteilung AKE der Hauptabteilung SV vom 1.3.1954; BArch DO1 11/1562, Bl. 135; Transportbefehl der Hauptabteilung SV vom 17.3.1954; ebenda, Bl. 136 f.; Häftlingsbericht von Horst Wieczorek aus Brandenburg und Bautzen vom 31.8.1954; BArch B 289/VA 171/22–19/13. Zu den nach Artikel 6 Verurteilten siehe Kapitel 4.1.7. 220  Vgl. Befehl 69/54 des Chefs der DVP vom 7.7.1954 [betr. Amnestie der Waldheimverurteil­ ten im Sommer 1954]; BArch DO1 32/51005, Bl. 1–3; Arbeitsrichtlinie des Leiters der Haupt­ abteilung SV über die im Juli 1954 aufgrund eines Gnadenerlasses des Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik zu entlassenden Strafgefangenen (Verurteilte des Landgerichts Chemnitz in Waldheim) vom 7.7.1954; ebenda, Bl. 29–34. 221  Vgl. Eisert: Waldheimer Prozesse, S. 279. 222  Vgl. [Bericht des] Suchdienst[es] Hamburg des Deutschen Roten Kreuzes betr. Entlassungen von Inhaftierten aus Strafvollzugsanstalten der sowjetischen Besatzungszone vom 23.7.1954; BArch B 137/1747. 223  Zu den Hintergründen vgl. Hilger; Morré: SMT-Verurteilte als Problem der Entstalini­ sie­rung, S. 685–756, hier 711 f.

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wiedergewinnen sollten, veranlasste das Politbüro dann zum Beschluss vom Januar 1955,224 der bis zum Sommer in der gesamten DDR etwa 1 039 weitere SMTVerurteilte auf freien Fuß setzte, während bei 3 575 Gefangenen die Strafe reduziert wurde und das Strafmaß bei 828 Häftlingen unverändert blieb.225 Ursprünglich hatten mehr Personen auf freien Fuß kommen sollen, doch Justizministerin Hilde Benjamin hatte Bedenken geltend gemacht, dass die Häftlinge trotz günstiger Sozialprognose noch immer »keine positive Einstellung« zur DDR besäßen, was offenbar den Ausschlag gab.226 Bei der Einzelfallprüfung wurden tatsächlich viele Gefangene mit Vermerken wie »Umerziehung noch nicht beendet« oder »Bedarf noch d[er] weiteren Erziehung« vorerst in Haft behalten.227 Bei Hunderten Insassen Brandenburg-Gördens wurde aber zumindest das Strafmaß reduziert, sodass sie binnen weniger Jahre freikommen sollten.228 Umgehend entlassen wurden jedoch wohl nur 42 Gefangene (in einer Aktion unter dem Codename »Maikäfer«).229 Darunter befanden sich angeblich »Gauhauptstellenleiter der NSDAP« und SS-Angehörige, die sich der Gefangenenmisshandlung schuldig gemacht hatten, aber auch Personen, denen man bloß »Propaganda für Nazipartei« vorgeworfen hatte. Eine Herkunft aus der »Arbeiterklasse« konnte eine Entlassung begünstigen. Ein Häftling kam frei, weil er »bereits einen Schlaganfall erlitten« hatte und als 100% arbeitsunfähig« galt, was aber bis dato offenbar kein Grund zur Haftentlassung gewesen war.230 Auch jetzt galt für die Kommissionen allerdings die Maßgabe »Krankheit allein ist kein Begnadigungsgrund«.231 Ein anderer Gefangener war unter dem Vorwurf festgenommen worden, erst im Vorjahr einen russischen Soldaten erschossen zu haben, doch war er »durch Zeugenaussagen belastet [worden], deren Angaben nicht stichhaltig sind«.232 Offenbar sollten auch offenkundige Fehlurteile korrigiert bzw. vertuscht werden. Die verbliebenen Gefangenen, die von der Aktion ausgeschlossen waren, stellten sich die berechtigte 224  Vgl. Anlage Nr. 3 zum Protokoll Nr. 5/55 der Sitzung des Politbüros vom 25.1.1955 – Plan zur Durchführung der Überprüfung von SMT-Verurteilten; BArch DY 30 J IV 2/2-402. 225  Vgl. Stand der Durchsicht von Vorgängen in Sachen von SMT-Verurteilten vom 25.5.1955; BStU, MfS, AS, Nr. 2/59, Bl. 466–468. 226  Schreiben von Benjamin an Grotewohl vom 15.4.1955; abgedruckt in: Wendel: Ulbricht als Richter und Henker, S. 88 f. 227  [Namentliche Aufstellung von verurteilten Insassen der Haftanstalt Brandenburg-Görden von 1955]; BStU, MfS, AS, Nr. 1/59, Bd. 1, Bl. 281 u. 320. 228  Vgl. BStU, MfS, AS, Nr. 1/59, Bd. 1, Bl. 280–396. 229  Vgl. Schreiben der Hauptabteilung SV an den stellv. Chef der DVP Seifert betr. Meldungen der Westpresse über die Entlassungsaktion vom 15.7.1954; BArch DO1 32/51005, Bl. 106 f. In einem anderen Dokument ist hingegen von 43 Häftlingen die Rede – bei einer Gesamtzahl von 915 Entlassungen. Diese Abweichungen resultieren vermutlich aus etwas unterschiedlichen Stichtagen. Vgl. [Liste der Haftentlassungen aus der] StVA Brandenburg; BArch DP 1-1316. 230  Vgl. ebenda. 231  Richtlinie für die Arbeit der Kommission o. D. [1955]; BStU, MfS, AS, Nr. 2/59, Bl. 455. 232  Vgl. [Liste der Haftentlassungen aus der] StVA Brandenburg; BArch DP 1-1316.

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Frage: »Warum die Nazis und warum nicht wir?«233 Ende des Jahres 1954 saßen jedenfalls noch immer 2 627 Häftlinge in Brandenburg-Görden, darunter eine Frau und 75 männliche Jugendliche.234 Im Herbst 1955 sah sich die SED-Führung unter Zugzwang, für weitere Haft­entlassungen zu sorgen, da Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau die Rückführung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion er­wirkt hatte (siehe Kap. 5.6.1.5). Insgesamt saßen in den DDR-Haftanstal­ ten im Oktober 1955 noch 4 355 SMT-Verurteilte, 968 Waldheim-Häftlinge und 436 nach Befehl 201 Verurteilte ein.235 Das Politbüro beschloss dann, 2 591 »Kriegs­verurteilte« vorzeitig aus der Haft zu entlassen.236 Auf einen Vor­ schlag von Erich Mielke hin sollte dies 1 561 SMT-Verurteilte, 709 WaldheimHäft­linge und 321 nach Befehl 201 Verurteilte betreffen.237 Da zwischenzeit­lich ei­ni­ge Häftlinge bereits regulär entlassen oder aber verstorben waren, gelang­ten bis Januar 1956 letztlich 2 459 Personen in die Freiheit, davon etwa 400 aus Bran­ den­burg-Görden.238 Jetzt befanden sich noch 2 794 SMT-Verurteil­te, 259 Wald­ heim-Häftlinge und 90 nach Befehl 201 Verurteilte in den DDR-Ge­fäng­nissen.239 Die Häftlinge, die zur Entlassung anstanden, erhielten zu­nächst ihre »Papiere« zurück. Militär- und SS-Uniformen, die als Gefangenen­k lei­dung gut genug gewesen waren, wurden nun eingetauscht, sollte doch die Kleidung der Ent­ lassenen »in einwandfreiem Zustand« sein. Bei der förmlichen Verabschiedung wurde ihnen »unmissverständlich erklärt«, dass sie sich des Gnadenaktes »würdig erweisen« sollten und mit einem erneuten Pardon nicht rechnen bräuchten. Alle Haftentlassenen wurden mit 20 Zigaretten beschenkt; wer in der DDR verbleiben wollte, erhielt angeblich 50 Mark, die von der Gefängnisverwaltung getragen wurden, falls entsprechende Rücklagen fehlten. Wer das Glück hatte, in den

233  Vgl. BArch DO1 32/51005, Bl. 95. 234  Vgl. Gefangenenbestand am 25.12.1951; BArch DO1 11/1578, Bl. 1. 235  Vgl. Hilger; Morré: SMT-Verurteilte als Problem der Entstalinisierung, S. 685–756, hier 737. Siehe auch mit teilweise abwei­chenden Angaben: Schreiben betr. vorzeitige Haftentlassungen von Verurteilten, die in den Strafvollzugsanstalten der DDR einsitzen vom 11.11.1955; BStU, MfS, AS, Nr. 2/59, Bl. 483 f.; Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 371. 236  Vgl. Protokoll Nr. 49/55 der Sitzung des Politbüros vom 18.10.1955 (mit Anlage Nr. 5); BArch DY 30 J IV 2/2–446. 237  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 371 f. 238  Vgl. Schreiben der Verwaltung SV an Maron vom 28.1.1956; BStU, MfS, SdM, Nr. 1155, Bl. 223; Schreiben der Hauptabteilung II/5 betr. Analyse und Schlussfolgerungen von dem op[era­ tiven] Einsatz zu den Haftentlassungen von Strafgefangenen vom 6.1.1956; ebenda, Bl. 225–228. Was Brandenburg-Görden betrifft, so rechnete das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen im Januar 1956 noch mit etwa 600 Personen, die durch sowjetische Militärtribunale, 80 Insassen, die nach Befehl 201 und 2 300 Gefangenen, die nach Art. 6 verurteilt worden seien. Vgl. [Internes Schreiben im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen] vom 18.4.1956, 2 S.; BArch B 137/257. 239  Vgl. Hilger; Morré: SMT-Verurteilte als Problem der Entstalinisierung, S. 685–756, hier 739.

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Westen entlassen zu werden, wurde per Sondertransport an die Zonengrenze gebracht, konnte diesen Weg teilweise aber auch eigenständig zurücklegen.240 »Eine begrenzte Wende in der Strafvollzugspolitik« brachte dann die kurze Tauwetterperiode, die dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 folgte, an dem sich die SED-Führung nur zögerlich orientierte.241 Immerhin wurden im Verlauf des Jahres 1956 deutlich weniger Personen wegen politischer Delikte bestraft als im Vorjahr.242 Im März erklärte Walter Ulbricht auf einer Tagung des Zentralkomitees, dass zwar keine Generalamnestie ausgesprochen werde, doch die SED-Führung viele Haftfälle »individuell prüfen« und »sogar Kriegsverbrecher rauslassen« wolle: »Bitte schön, sollen die draußen verfaulen. [...] Es bleiben nur die sitzen, die wir unbedingt halten müssen, also die Agenten, Spione, die uns großen Schaden zugefügt haben.«243 Entsprechend dieser Linie setzte das Zentralkomitee nun eine irreführend bezeichnete »Kommission zur Überprüfung von Angelegenheiten von Parteimitgliedern« ein, die Haftstrafen erlassen oder reduzieren konnte,244 entgegen ihrer Bezeichnung aber auch die Entlassung weiterer SMT-Verurteilter sowie anderer politischer Gefangener veranlasste. Das Gremium war zwar durch die DDR-Verfassung nicht legitimiert, doch konnte die Parteiführung sich so abermals als oberstes Justizorgan »profilieren«.245 Im Juni 1956 erklärte die DDR, zuletzt 3 169 Häftlinge mit geringen krimi­ nellen Vergehen auf Bewährung freigelassen zu haben. Bei 11 896 weiteren Per­ sonen sei außerdem die Begnadigung oder Freilassung auf Bewährung bereits beschlossen worden. Letztlich würden bis zum 1. September 1956 sämtliche Haftfälle geprüft, bei denen der Betreffende zwei Drittel seiner Strafe bereits verbüßt habe.246 Insgesamt wurden in der gesamten DDR jetzt 11 698 Gefangene entlassen, darunter mindestens 3 308 SMT-Verurteilte.247 Diese Zahl liegt des­wegen noch über dem erwähnten Stand von Anfang 1956, weil mittlerweile die WorkutaHäftlinge hinzuverlegt worden waren (siehe Kap. 4.1.2). Durch die Gnadenaktionen sowie regulär verbüßte Freiheitsstrafen erlangten jeden­falls zwischen Januar und 240  Vgl. Arbeitsrichtlinie der Verwaltung Strafvollzug zur Durchführung der Entlassung Strafgefangener auf Grund des Beschlusses des Ministerrats der Regierung der DDR vom 22.12.1955 und vom 19.4.1956; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/120, Bl. 87–91. 241  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 373. 242  Vgl. Weber: Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen, S. 468. 243  Schlusswort von Walter Ulbricht vom 22.3.1956; BArch IV 2/1/56, Bl. 133–142; zit. nach: Hoffmann; Schmidt; Skyba (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau, S. 248–250. 244  Vgl. Klein: Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED, S. 270–282; Zur Entlassung werden vorgeschlagen … Wirken und Arbeitsweise der Kommission des Zentralkomitees zur Überprüfung von Angelegenheiten von Parteimitgliedern 1956. Dokumente. Berlin 1991. 245  Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 374. 246  Vgl. Mitteilung des Presseamtes beim Ministerpräsidenten. In: Neues Deutschland vom 21.6.1956, S. 1. 247  Vgl. Hilger; Morré: SMT-Verurteilte als Problem der Entstalinisierung, S. 685–756, hier 744.

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September 1956 insgesamt etwa 25 000 Häftlinge ihre Freiheit, sodass »nur noch« 23 674 Personen aller Deliktgruppen in den ost­deut­schen Strafvollzugsanstalten verblieben. Jetzt wurden auch weniger Auf­­se­her benötigt, sodass DDR-weit fast 1 400 Stellen eingespart werden konn­ten.248 Ausdrücklich ausgeschlossen von den Haftentlassungen wurden in Bran­den­burg-Görden etwa 100 Häftlinge, obwohl sie durchaus zum Kreis der Be­gün­stigten hätten zählen können. Hinderungsgründe waren neben der be­haup­teten Schwere des Verbrechens auch »Hetze gegen die DDR« wäh­rend der Haft oder der Umstand, dass jemand »Anhänger des Adenauer-Regimes« sei oder »bei Entlassung m[it] d[en] Westmächten für die Wiedererlang[ung] sei­nes Hofes kämpfen« wollte.249 Politisches Wohlverhalten spielte demnach bei den vor­zeitigen Haftentlassungen erneut eine gewisse Rolle. Auf freien Fuß kamen aus Brandenburg-Görden jedoch etwa 1 500 Häftlinge (darunter 984 von Sowje­tischen Militärtribunalen und 421 nach Befehl 201 Verurteilte), die zumeist umgehend in den Westen flüchteten.250 Der Haftanstalt gingen damit so viele Facharbeiter verloren, dass aus nahe gelegenen Haftanstalten Gefangene mit kurzen Freiheitsstrafen in die Haftanstalt an der Havel verlegt wurden.251 Im Februar 1956 waren zudem viele politische Gefangene von Berlin-Rummelsburg nach Brandenburg-Görden transportiert worden.252 Zum Jahresende 1956 waren hier somit etwa 1 750 männliche Strafgefangene inhaftiert.253 Die »Kaskade von Entlassungsaktionen« der Jahre 1954 bis 1956 hatte somit Tausenden die Freiheit gebracht: politischen Gefangenen, politisch Verfolgten sowie angeblichen und echten NS-Tätern – wobei letztere von künftigen Amnestien ausgeschlossen blieben254 oder nur unter der Hand mitbegünstigt wurden (wie im Jahre 1960; siehe Kap. 4.1.9).

248  Jahresbericht der Kaderabteilung der Verwaltung Strafvollzug vom 18.1.1957; BArch DO1 26.0/18079. 249  Vgl. BArch DP 1-1318. 250  Vgl. Aufstellung der Suchdienst-Leitstelle des Deutschen Roten Kreuzes über die Ent­ lassungen aus Haftanstalten der SBZ in der Zeit von November 1955 bis Dezember 1956 vom 31.12.1956; BArch B 137/1705. 251  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/120. 252  Vgl. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling HansEberhard Zahn am 29.6.2001 in Berlin, 4 S. 253  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom 1. Quartal 1957]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 1–3. Im Westen rechnete man seinerzeit mit etwa 2 200 Insassen, darunter 600 wegen krimineller Delikte Verurteilte. Vgl. Aufstellung der Suchdienst-Leitstelle des Deutschen Roten Kreuzes über die am 30.11.56 in Haftanstalten der SBZ verbliebenen Gefangenen o. D. [12/1956], 3 S.; BArch B 137/1705. 254  Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 60.

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4.1.7 Die nach Artikel 6 der DDR-Verfassung verurteilten Häftlinge und die Zeugen Jehovas Politische Gegner des SED-Regimes waren von ostdeutschen Gerichten bis März 1950 zumeist nach SMAD-Befehl 201 verurteilt worden. In der Folgezeit übernahm der Artikel 6 der Verfassung der DDR von 1949 diese Funktion. Abge­sehen von Nazi- und Kriegsverbrechen bestand »das ganze politische Straf­ recht« bis 1957 hauptsächlich aus diesem Paragrafen.255 Zwar enthielt diese verfassungsrechtliche Bestimmung gar keine konkrete Strafandrohung (und hätte des­wegen gar nicht als Strafbestimmung wirksam werden dürfen),256 doch das Ober­ste Gericht erkannte »dem Art[ikel] 6 als einem der wichtigsten Schutzgesetze un­serer Ordnung [eine] unmittelbare Wirkung« zu und befand daher, dass alle Stra­fen bis hin zur Todesstrafe nach Artikel 6 ausgesprochen werden könnten.257 Die­se Bestimmung stellte im Einzelnen »Boykotthetze gegen demokratische Einrich­tungen«, »Mordhetze gegen demokratische Politiker« und »alle sonstigen Hand­lungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten«, unter Strafe. Unter die­sen Rubriken wurde dann das Verleiten zum illegalen Verlassen der DDR, freie Meinungsäußerung, tätliche Auseinandersetzungen mit Funktionären, die Einfuhr westlicher Druckerzeugnisse oder auch Unachtsamkeit in der Volks­ wirtschaft (»Sabotage«) bestraft.258 Vielfach wurden die Freiheitsstrafen in Ver­ bin­dung mit der Kontrollratsdirektive 38 III A III ausgesprochen, weswegen die­se Haftgründe statistisch gemeinsam erfasst wurden. Allerdings konnte der Ar­tikel 6 aufgrund des Viermächtestatus von Berlin im Ostteil der Stadt keine An­wendung finden, weswegen entsprechende Verfahren häufig in die DDR verlegt wurden – beispielsweise an die Bezirksgerichte in Potsdam, Cottbus oder Magdeburg.259 Nach Artikel 6 wurden oft hohe Strafen ausgesprochen; bereits bloße Kon­ tak­te zu solchen Vereinigungen wie den Ostbüros, der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit oder dem Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen wurde als »Organisationsverbrechen« verfolgt.260 Ein Insasse der Haftanstalt an der Havel beispielsweise hatte sich beim Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen Rechtsbeistand wegen der Zwangsversteigerung seines Hofes erbeten, hatte im Gegenzug Flugblätter der Organisation in die DDR geschmuggelt und angeblich Gleichgesinnte um sich zu scharen versucht, was mit lebenslänglichem Zuchthaus 255  Wolff: Verlorene Prozesse, S. 34. Weitere Rechtsgrundlagen waren § 131 StGB (»Kleine Hetze«) sowie verschiedene Wirtschaftsstrafdelikte. 256  Vgl. Keller: Strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Justizunrecht, S. 288. 257  Vgl. Urteil des Obersten Gerichts vom 4.10.1950 (1 Zst (I) 3/50); zit. nach: MöllerHeilmann, Bettina: Die Strafverfolgung von Richtern und Staatsanwälten der ehemaligen DDR wegen Rechtsbeugung. Berlin 1999, S. 258. 258  Vgl. Weinreich: Strafjustiz und ihre Politisierung, S. 265–299. 259  Vgl. Wolff: Verlorene Prozesse, S. 35. 260  Vgl. Möller-Heilmann: Strafverfolgung von Richtern, S. 264.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

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drakonisch bestraft worden war.261 Die gleiche Strafe hatte der Dresdener Staats­ anwalt Hans-Joachim Schiebel erhalten, der dem Untersuchungsausschuss freiheit­ licher Juristen über die Justizpraxis in der DDR berichtet hatte und erst nach zwölf Jahren Haft 1964 aus Brandenburg-Görden freigekauft wurde.262 Nach Artikel 6 wurde häufig angebliche oder tatsächliche Spionage bestraft. Ein Fall professioneller Spionagetätigkeit wird anhand des Lebensweges von Hans-Joachim S. weiter unten dargestellt (siehe Kap. 4.2.4). Ein desertierter Aufseher der Haftanstalt Torgau wiederum wurde nach Artikel 6 zu viereinhalb Jahren verurteilt, weil er im Westen dienstliche Kenntnisse offenbart hatte, ohne mit Spionageaufträgen versehen worden zu sein.263 Ein anderer hatte – um den Lebensunterhalt seiner Großfamilie besorgt – vor allem Ferngläser nach Westberlin verschoben sowie Mitbürger zur Republikflucht veranlasst, weshalb er für siebeneinhalb Jahre hinter Gitter sollte.264 Als eindeutig politischer Häftling saß indes beispielweise Alfred Effinger in Brandenburg-Görden ein, vormals Kreisvorsitzender der LDPD in Pritzwalk. Er hatte Kontakte zum Ost­ büro der Freien Demokratischen Partei (FDP) gepflegt, weil er sich aktiv für die Wiedervereinigung Deutschlands hatte einsetzen wollen. Dies hatte ihm eine Strafe von 15 Jahren Zuchthaus nach Artikel 6 eingebracht, wovon er fast neun Jahre in Brandenburg-Görden verbüßen musste.265 Diese nach Artikel 6 Verurteilten, die erstmalig im Oktober 1950 in die Haftanstalt an der Havel gelangten,266 wurden dort in den folgenden Jahren zur Hauptgruppe innerhalb der Häftlingsgesellschaft (12). Auch Zeugen Jehovas wurden häufig nach Artikel 6 sowie Kontrollratsdirek­ tive 38 verurteilt und nach Brandenburg-Görden eingewiesen.267 Ihr Schick­ sal ist besonders bedrückend, schließlich waren ihre Anhänger schon während der na­tionalsozialistischen Diktatur mitleidlos verfolgt worden: Bis 1945 hat­ ten etwa 1 200 Mitglieder für ihre religiöse Überzeugung mit dem Leben be­ 261  Vgl. Urteil des Bezirksgerichts Magdeburg vom 7.5.1953; BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 11/53, Bd. I, Bl. 107–116. 262  Vgl. Fricke, Karl Wilhelm: Strafjustiz im Namen des Volkes? Die Prozesse gegen Hermann Flade, Hans-Joachim Schiebel, Elli Barczatis und Karl Laurenz. In: Haase, Norbert; Sack, Birgit (Hg.): Münchner Platz. Dresden. Die Strafjustiz der Diktaturen und der historische Ort. Leipzig 2001, S. 212–226, hier 221. 263  Vgl. Bericht der Kaderabteilung der Verwaltung Strafvollzug über den Prozess gegen den ehemaligen Kommissar Heckl, Alois von der StVA Torgau vom 28.2.1957; BArch DO1 26.0/18079; Abschlussbericht der Kaderabteilung der Verwaltung Strafvollzug vom 10.8.1956; ebenda; Gefangenen- und Ermittlungsakte der Staatssicherheit; BStU, MfS, BV Leipzig, AU, Nr. 3/57. 264  Vgl. BStU, MfS, AS, Nr. 420/62, Bl. 219–221. 265  Vgl. Fricke; Engelmann: »Konzentrierte Schläge«, S. 195–204. 266  Vgl. Bericht [des ehemaligen Insassen Reinhold Runde] über die Tätigkeit der Vollzugsund SSD-Organe im KZ Brandenburg vom 28.12.1956, 17 S.; BArch B 137/1812. 267  Vgl. u. a. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten vom 10.2.1954; BStU, MfS, BV Dresden, AU, Nr. 150/54, Untersuchungsvorgang, Bl. 134–139.

546

Die Häftlinge

zahlt; etwa 10 000 weitere Anhänger der Glaubensgemeinschaft waren inhaf­ tiert worden. Etwa 300 von ihnen fanden sich dann auch im SED-Staat hinter Gittern wieder.268 Der konsequenten Haltung der Zeugen Jehovas vor 1945 hatten die neuen Machthaber nach Kriegsende zunächst Respekt gezollt, doch ihre »absolute politische Neutralität erregte schon bald den Argwohn der SED«.269 Bereits im November 1945 kam es im Land Brandenburg zu den ersten vor­ übergehenden Festnahmen, ab Februar des Folgejahres auch zu dauerhaften Inhaftierungen.270 Durch angeblich wachsende Mitgliederzahlen (auf etwa 15 000 am Jahresende 1948 in Ostdeutschland) alarmiert, beschloss das Politbüro dann im September 1949 schärfere Maßnahmen gegen die Religionsgemeinschaft. In den Feindperzeptionen des »Kalten Krieges« befangen, sah die Staats- und Parteiführung in der Glaubensgemeinschaft jetzt eine »besonders raffinierte Propaganda des amerikanischen Monopolkapitals«.271 Nach einer Pressekampagne und einer Verhaftungswelle am 30. August 1950 wurden die Zeugen Jehovas am Folgetag offiziell verboten.272 Das prominenteste Verfahren gegen Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft fand im Oktober 1950 als Schauprozess vor dem Obersten Gericht der DDR unter dem Vorsitz von Hilde Benjamin statt.273 In den Haftanstalten zeigten sich die Zeugen Jehovas unbeugsam; ihre »per­ sönliche Überzeugung« blieb »in der Regel unbeschädigt und erfuhr oft­mals sogar eine Stärkung«.274 Auch in Brandenburg-Görden leisteten sie sich Widerworte gegenüber Mitarbeitern der Staatssicherheit, verweigerten die Arbeit und nahmen aus religiösen Gründen bestimmte Speisen (wie etwa Blutwurst) nicht zu sich.275 268  Vgl. Dirksen, Hans-Hermann: »Keine Gnade den Feinden unserer Republik«. Die Verfol­ gung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945–1990. Berlin 2001, S. 849. 269  Helwig, Gisela: Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR. In: Deutschland Archiv 3 (1999) 4, S. 548. 270  Vgl. Hacke, Gerald: Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR. Feindbild und Verfolgungspraxis. Göttingen 2011, S. 218. 271  Sogar die Kirchenabteilungen der Volksbildungsministerien wurden mit der geheimpoli­ zei­li­chen Überwachung der Zeugen Jehovas beauftragt – sie sollten alle Mitglieder und deren Wohn­adressen herausfinden, »um eine Überprüfung und Überwachung dieser Funktionäre zu ermöglichen«. Anlage 2 zum Protokoll Nr. 44 der Sitzung des Politbüros vom 13.9.1949; BArch DY 30 IV 2/2-44, Bl. 8 f. 272  Verbotsverfügung des Ministeriums des Innern vom 31.8.1950; BArch DO 4 1546, o. Pag.; zit. nach: Hirch, Waldemar: Die Politik des Ministeriums für Staatssicherheit gegenüber den Zeugen Jehovas. In: Besier, Gerhard; Vollnhals, Clemens (Hg.): Repression und Selbstbehauptung. Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur. Berlin 2003, S. 115–133, hier 116 f. Siehe auch Berichtsbogen des Ministeriums für Staatssicherheit (zur Aktion vom 30.8.1950) vom 3.9.1950; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 2056. 273  Vgl. Masuch, Christina: Doppelstaat DDR. Eine Untersuchung anhand der Verfolgungs­ geschichte der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945–1990. Berlin 2009, S. 113–135. 274  Wrobel, Johannes: Zeugen Jehovas im Strafvollzug der DDR. In: Besier, Gerhard; Vollnhals, Clemens: Repression und Selbstbehauptung. Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SEDDiktatur. Berlin 2003, S. 201–227, hier 226. 275  Vgl. Zeitzeugenbericht von Georg Rabach. In: Schnell: »Lindenhotel«, S. 30–33.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

547

Insbesondere ließen sie sich nicht als Spitzel von der Staatssicherheit anwerben und konnten sogar neue Anhänger unter den Mitinsassen gewinnen.276 Diese wurden dann in den Duschräumen getauft, obwohl strengste Strafen drohten.277 Die Gefängnisverwaltung tat sich schwer mit Gegenstrategien: »Wenn Ihr zusammen seid, schult Ihr Euch, und wenn wir Euch zu anderen stecken, verderbt Ihr sie. Ihr müsstet alle in Einzelhaft, aber dann bekommen wir wieder Körbe voll Briefe«, soll angeblich ein Aufseher gegenüber einem Zeugen Jehovas in Waldheim im Frühjahr 1953 geäußert haben. Bis Mitte der Fünfzigerjahre war an den Zellentüren daher oft ein »Z« für Zeugen Jehovas angebracht und fanatisierte Aufseher leisteten sich ihnen gegenüber wiederholt Übergriffe. Einige ältere Aufseher hingegen erinnerten sich an die Unbeugsamkeit der Zeugen Jehovas in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und ließen sie deshalb einigermaßen in Ruhe.278 Die Aktivitäten der Glaubensgemeinschaft außerhalb der Gefängnismauern verlagerten sich nach der Verhaftungswelle zwangsläufig in die Illegalität.279 Gab es bis 1954 alljährlich hunderte Verurteilungen, ließ der Verfolgungsdruck dann merklich nach, weil aller Anhänger habhaft zu werden unmöglich war und sie nicht wirklich Spionage betrieben.280 Die Zeugen Jehovas blieben jedoch weiterhin im Visier der Geheimpolizei, weil sie Unterstützung aus dem Westen erhielten und beispielsweise Druckerzeugnisse konspirativ in die DDR brachten. Als der Mauerbau dies erheblich erschwerte, wurden die Schriften fortan mit einfachen technischen Geräten im Osten Deutschlands selbst hergestellt und vervielfältigt, was im Jahre 1966 zu einer neuen Verhaftungswelle führte.281 Bis dahin war nicht ein einziger Zeuge Jehovas, der vor einem DDR-Gericht angeklagt wurde, freigesprochen worden. Insgesamt wurden im Osten Deutschlands zwischen 1945 und 1987 mindestens 6 047 Zeugen Jehovas verurteilt, wobei die ausgesprochenen Strafmaße insgesamt sanken. Rechtsgrundlage einer Verurteilung war ab 1958 häufig auch das Strafrechtsergänzungsgesetz, ab 1968 das neue Strafgesetzbuch. Die Anklage lautete jetzt fast ausschließlich auf Wehrdienstverweigerung, denn seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1962 boykottierten die

276  Vgl. u. a. Bericht des GI »Schwantes« vom 27.2.1958; BStU, MfS, AIM, Nr. 87/62, Bd. 2, Bl. 50 f.; Dirksen: Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945–1990, S. 713. 277  Vgl. Juretzko: Die Nacht begann am Morgen, S. 258. 278  Vgl. Wrobel: Zeugen Jehovas im Strafvollzug der DDR. In: Besier; Vollnhals: Repression und Selbstbehauptung, S. 201–227. 279  Vgl. Hirch, Waldemar: Ehemalige Zeugen Jehovas im Dienst des MfS. Der Fall Paul Balzereit. In: Yonan, Gabriele (Hg.): Im Visier der Stasi. Jehovas Zeugen in der DDR. Nieder­ steinbach 2000, S. 33–52; Hirch, Waldemar: Erarbeitung einer »Dokumentation« über Jehovas Zeugen als MfS-Auftragswerk. In: Yonan (Hg.): Im Visier der Stasi. Jehovas Zeugen in der DDR. Niedersteinbach 2000, S. 53–66. 280  Vgl. Hacke: Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR, S. 273. 281  Vgl. ders.: Zeugen Jehovas in der DDR. Verfolgung und Verhalten einer religiösen Minderheit (Hannah-Arendt-Institut. Berichte und Studien, 24). Dresden 2000, S. 63.

548

Die Häftlinge

Zeugen Jehovas den Dienst an der Waffe.282 Als Ergebnis politischer Repression saßen auch zu Beginn der Siebzigerjahre immer noch einige Anhänger dieser Glaubensgemeinschaft in Brandenburg-Görden ein.283 Erst in der zweiten Hälf­te der Achtzigerjahre befanden sich die Zeugen Jehovas außerhalb der Gefäng­ nis­mauern in einer »Grauzone zwischen Duldung und Illegalität« und wurden partiell toleriert.284 4.1.8 Delikte und soziale Struktur der Gefangenen 1957 Die im Wandel begriffene Häftlingsgesellschaft von Brandenburg-Görden lässt sich aus der nachfolgenden Aufstellung aus dem Jahre 1957 ersehen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren durch die genannten Haftverkürzungen und Gnaden­entscheide die SMT-Verurteilten und Waldheim-Häftlinge bereits weitgehend entlassen worden, mit Ausnahme von 72 bzw. 15 Personen.285 In der Haftanstalt an der Havel dominierten jetzt mit 923 Personen die nach Artikel 6 bzw. Kontroll­ ratsdirektive 38 Verurteilten, also großteils Opfer politischer Verfolgung durch das SED-Regime. Zu ihnen gesellten sich 177 »Wirtschaftsverbrecher«,286 die nach offizieller Lesart die Wirtschaftsentwicklung der DDR und somit den Aufbau des Sozialismus hatten sabotieren wollen, sodass ihre Verurteilung ebenfalls eine poli­tische Dimension besaß. Teilweise handelte es sich um Opfer von Soziali­ sie­rungsmaßnahmen, doch auch um Schmuggler und Schieber. Außerdem ver­ büß­ten hier Täter ihre Strafe, die sich schwerer Delikte der allgemeinen Krimi­ nalität schuldig gemacht hatten, nämlich des Mordes und des Totschlags, was 178 Personen betraf, darunter beispielsweise immer noch einige Angehörige der erwähnten Gladow-Bande. Insgesamt hatten sich 1 043287 der 1 628 Gefangenen »staatsgefährdender« Delikte schuldig gemacht. Mit diesem Anteil von etwa 64 Prozent war Brandenburg-Görden somit immer noch ein Haftort vorwiegend 282  Vgl. Dirksen: Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945–1990, S. 849– 880; Dirksen, Hans-Hermann: »Jehovas Zeugen müssen verschwinden«. In: Yonan (Hg.): Im Visier der Stasi. Jehovas Zeugen in der DDR. Niedersteinbach 2000, S. 15–23. 283  Vgl. Schreiben Eckart Giebelers an die Verwaltung Strafvollzug vom 2.8.1971; BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII, Nr. 5, Bd. 1, Bl. 95 f. 284  Vgl. Hacke: Zeugen Jehovas in der DDR, S. 89. 285  Stand 31.3.1957. Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom 1. Quartal 1957]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 1–3. 286  Es handelte sich um Verurteilte, die gegen das Gesetz zum Schutz des Volkseigentums, das Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels, das Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Zahlungsverkehrs, andere wirtschaftsregelnde Gesetze oder die Wirtschaftsstrafordnung verstoßen hatten. 287  Diese Zahl ergibt sich allerdings nicht aus einer bloßen Addition der nachfolgend genannten Deliktgruppen; offenbar rechnete das SED-Regime einen Teil der »Wirtschaftsverbrecher« dieser Kategorie hinzu, nahm andere jedoch davon aus.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

Zahl

in %

Delikt

923

56,6 Artikel 6/Kontrollratsdirektive 38

72

4,4 von SMT Verurteilte

15

0,9 Waldheim

54

3,3 Gesetz zum Schutz des Volkseigentumsa

60

3,6 Wirtschafts­ strafordnungb

19

2

42

Zahl

in %

178 6

Delikt

10,9 Verbrechen und Vergehen wider das Leben 0,3 Widerstand gegen die Staatsgewalt

33

2,0 unbefugter Waffenbesitz

8

0,4 Verbrechen und Vergehen im Amt

104

6,3 Eigentumsdelikte

1,1 Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handelsc

88

5,4 Sittlichkeitsdelikte

0,1 Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Zahlungsverkehrsd

24

1,4 sonstige Straftaten

2,5 andere wirtschafts­ regelnde Gesetze

549

1 628

~100 gesamt

Tab. 12: Die Delikte der Häftlinge in Brandenburg-Görden (1957)288



a Gesetz zum Schutz des Volkseigentums und anderen gesellschaftlichen Eigen­ tums vom 2.10.1952; GBl. der DDR Nr. 140 vom 6.10.1952, S. 982.289 b Verordnung über die Bestrafung von Verstößen gegen die Wirtschaftsord­ nung (Wirtschaftsstrafverordnung) vom 23.9.1948; Zentralverordnungs­blatt Nr. 41 vom 6.10.1948, S. 439–443.290

288  Stand 31.3.1957. Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom 1. Quartal 1957]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 1–3. Die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft wurde auch im Westen erstaunlich genau bekannt. Vgl. Schreiben des Suchdienstes Hamburg des Deutschen Roten Kreuzes an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen betr. politische Häftlinge in Haftanstalten der sowjetischen Besatzungszone vom 20.10.1958; Aufstellung über die am 30. April 1958 in Haftanstalten der SBZ verbliebenen Gefangenen, 3 S.; BArch B 137/1705. 289  Vgl. Werkentin, Falco: Wirtschafts-Strafrecht als Instrument der »Revolution von oben«. Zur Justizpolitik der DDR in den fünfziger Jahren. In: Frehsee, Detlev (Hg.): Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung (Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 15). Opladen 1993, S. 328–351. Binnen sechs Monaten nach Erlass des Gesetzes ergingen 10 194 Urteile. Vgl. Schröder; Wilke: Politische Strafgefangene. Versuch einer statistischen Beschreibung, S. 3–78, hier 20. Siehe auch Keller: Strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Justizunrecht, S. 364–367. Das Gesetz stellte das »Beiseiteschaffen« von staatlichem und genossenschaftlichem Eigentum unter Strafe. Mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus und bis zu 25 Jahren im schweren Falle waren wesentlich höhere Sanktionen vorgesehen als im Strafgesetzbuch. 290  Die Verurteilungsquote betrug bei dieser Rechtsgrundlage zwar 90 %, doch die verhängten Strafmaße hielt die SED-Führung für zu niedrig. Vgl. Bartusel: Generalstaatsanwalt, S. 240. Nach der Wirtschaftsstrafverord­nung wurden mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus alle Versuche bestraft, die rigide Wirtschaftssteuerung zu umgehen.

550

Die Häftlinge

c Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels vom 21.4.1950; GBl. der DDR Nr. 43 vom 21.4.1950, S. 327 f.291 d Gesetz über die Regelung des Zahlungsverkehrs vom 21.4.1950; GBl. der DDR Nr. 46 vom 28.4.1950, S. 355 f.

für politische Gefangene und politisch Verfolgte, zumal in der gesamten DDR Anfang 1957 durchschnittlich »nur« 29 Prozent der 20 211 Inhaftierten wegen Staatsverbrechen abgeurteilt waren – der bis dato niedrigste Anteil.292 Von den genannten 1 043 Häftlingen dieser Kategorie in Brandenburg-Görden waren nur 138 einschlägig vorbestraft, wie es für politische Gefangene typisch war und worin sie sich von ihren kriminellen Mitinsassen unterschieden, bei denen es sich oft um Wiederholungstäter handelte.293 Weiterhin kamen aus der gesamten DDR Verurteilte mit besonders hohen Freiheitsstrafen nach Brandenburg-Görden, sodass hier jeder zweite mindestens acht Jahre abzusitzen hatte, wie aus der nachstehenden Tabelle 13 hervorgeht. Alle darunterliegenden Strafmaße hielten die kriminellen »Lebenslänglichen« ohnehin für unbedeutend.294 Doch ab 1957 wurden auch alle Gefangenen ab einem Strafmaß von »lediglich« drei Monaten in die Haftanstalt an der Havel verlegt, soweit sie aus dem Bezirk Potsdam stammten.295 Dadurch erhöhte sich die Gesamtzahl der Insassen zum Jahresende 1958 auf 2 253 ausschließlich männliche Insassen. Die absolute Zahl der wegen »staatsgefährdender Delikte« Inhaftierten stieg dabei zwar etwas an (auf nunmehr 1 294), noch stärker wuchs jedoch die Zahl der wegen anderer Delikte Verurteilten (von 585 im Frühjahr 1957 auf 959 zum Jahresende 1958). Nach dem Ende des Tauwetters von 1956 verfolgte die Justiz des SED-Staates die politischen Gegner wieder mit größerer Härte, und entsprechend seinem Einweisungsprofil lag in Brandenburg-Görden der Anteil der politischen Gefangenen unter den Verurteilten mit hohen Freiheitsstrafen wesentlich höher als unter denjenigen mit niedrigeren Freiheitsstrafen; lediglich das Strafmaß »lebenslänglich« bildet hier eine Ausnahme, weil sich in dieser Gruppe insbesondere die wegen Mordes Verurteilten befanden. Was ihr Lebensalter betraf, waren die meisten, nämlich 1 170 Gefangene, zwischen 21 und 40 Jahre 291  Siehe auch Keller: Strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Justizunrecht, S. 362–364. 292  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 376. Diese Angaben decken sich im Übrigen mit westlichen Pressemeldungen aus jener Zeit. Vgl. Welt der Arbeit Nr. 22 vom 27. Mai 1960, S. 1. 293  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom 1. Quartal 1957]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 1–3. 294  Als beispielsweise im Februar 1957 der zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilte HansEberhard Zahn nach Brandenburg-Görden verlegt wurde, meinte ein zu lebenslänglicher Haft verurteilter Kalfaktor recht lakonisch, dass sich für diese Zeit nicht einmal lohne, Zahn eine Decke auszuhändigen. Sieben Jahre könne er doch wohl »im Kopfstand vor der Hauptwache« absolvieren. Verlaufsprotokoll des Gesprächs mit dem ehemaligen politischen Häftling Hans-Eberhard Zahn am 29.6.2001 in Berlin, 4 S. 295  Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, Bl. 142.

551

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

alt, 853 Insassen standen zwischen dem 40. und 65. Lebensjahr und 60 weitere Häftlinge waren noch älter. Doch auch 170 sehr junge Männer, zwischen 18 und 21 Jahre alt, waren jetzt zusammen mit Schwerkriminellen inhaftiert.296 Diese sehr inhomogene Zusammensetzung war von der obersten Gefängnisverwal­ tung teilweise gewollt, bedeutete jedoch ein erhebliches Konfliktpotenzial (siehe Kap. 3.4.10). Mit einer Gesamtzahl von 2 253 Insassen war die Maximalkapazität der Haftanstalt an der Havel allerdings noch nicht erreicht, denn seinerzeit hätten insgesamt 797 Zellen angeblich »Platz« für maximal 2 860 Gefangene geboten. Dafür wurden beispielsweise in Zellen von 12 Quadratmetern bis zu fünf Personen hineingepfercht. Durch bauliche Veränderungen gab es jetzt 39 Räume über 100 Quadratmeter, die sich durchschnittlich 16 Gefangene teilen mussten. Und die 41 Zellen der Krankenstation waren meist mit drei bis vier Häftlingen belegt.297 Strafmaß

Zahl der Insassen

davon wegen »staats­ gefährdender« Delikte

davon wegen anderer Delikte

absolut

absolut

in %

in %

bis 1 Jahr

411

100

24,3

311

75,7

1–3 Jahre

206

75

36,4

131

63,6

3– Jahre

126

66

52,3

60

47,7

5–8 Jahre

312

218

69,8

94

30,2

8–10 Jahre

298

245

82,2

53

17,8

10–15 Jahre

585

454

77,6

131

22,4

über 15 Jahre

40

32

80,0

8

20,0

lebenslänglich

273

104

38,0

169

62,0

2

0

0,0

2

100,0

2 253

1 294

57,4

959

52,6

Todesstrafe gesamt

Tab. 13: Die Strafmaße der Häftlinge in Brandenburg-Görden (1958)298

In den Fünfzigerjahren wurde die soziale Zusammensetzung der Insassen noch vergleichsweise differenziert erfasst, während spätere Statistiken kaum noch aus­ sagekräftig sind. Bereits zu diesem Zeitpunkt dominierte die Kategorie »Arbeiter«, wohl auch, weil die Aufseher die Selbstauskünfte der Insassen entsprechend dem gesellschaftspolitischen Konzept des SED-Staates erfassten. Doch auch eine große Zahl vormaliger Angestellter, selbstständiger Gewerbetreibender und Bauern waren inhaftiert – ebenso wie insgesamt 53 vormalige Angehörige eines 296  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1958; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 27. 297  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom 1. Quartal 1957]; ebenda, Bl. 1–3. 298  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1958; ebenda, Bl. 27.

552

Die Häftlinge

»bewaffneten Organs«.299 Unter ihnen waren auch politische Häftlinge, wie etwa der ehemalige Leiter des Morddezernates der Volkspolizei in Halle, der dem RIAS unmittelbar nach dem Volksaufstand vom 17. Juni wohl aus politischen Gründen Einzelheiten zur Niederschlagung des Volksaufstandes in seinem Bezirk übermittelt hatte. Deswegen war er nach Artikel 6 zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden und schloss sich in Brandenburg-Görden der Widerstandsgruppe politischer Häftlinge an (siehe Kap. 5.5.2.4). In der Haftanstalt an der Havel traf er dann etliche Kriminelle wieder, gegen die er zuvor selbst ermittelt hatte.300 Zahl

in %

733 82

soziale Herkunft/ Beruf

45,0 Arbeiter 5,0 Landarbeiter

Zahl

in %

134

soziale Herkunft/ Beruf

8,2 Handwerker und Gewerbetreibende

4

0,2 Genossenschafts­ bauern 3,4 Klein- und Mittelbauern

152

9,3 Angestellte der staatlichen Verwaltung

56

137

8,4 Angestellte der volkseigenen Wirtschaft

1

5

0,3 Angestellte der Parteien und Massenorganisationen

3

0,1 Inhaber privater Handels- und Produktionsbetriebe

67

4,1 Angestellte im privaten Sektor

25

1,5 Beschäftigungslose

37

2,2 ehem. Angehörige der DVP

44

2,7 Rentner

16

0,9 ehemalige Angehörige der KVP/NVA

96

5,8 sonstige

36

2,2 »Intelligenz«

0,06 Großbauer

1 628 ~100,0 gesamt

Tab. 14: Soziale Struktur der Häftlingsgesellschaft in Brandenburg-Görden (1957)301

299  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom 1. Quartal 1957]; ebenda, Bl. 1–3. 300  Vgl. BStU, MfS, BV Halle, AU, Nr. 60/54. Der ehemalige Kriminalpolizist wurde 1964 vorzeitig aus der Haft entlassen. 301  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg [vom 1. Quartal 1957]; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 13.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

553

4.1.9 Der »Gnadenerweis« von 1960 Am Ende der Fünfzigerjahre rechneten die Gefangenen mit einer erneuten Entlassungsaktion der Parteiführung, insbesondere zum 10. Jahrestag der Staats­ gründung im Jahre 1959.302 Als die erhoffte Geste ausblieb, war die Ent­täuschung entsprechend groß und die Ausschussquote bei der Gefangenen­arbeit stieg an. Im Konstruktionsbüro sah die Gefängnisleitung von Brandenburg-Görden jetzt sogar »Anzeichen einer konzentrierten Feindtätigkeit, die durch die Anhäufung von Staatsfeinden begünstigt wird«.303 Erst im Folgejahr, am 4. Oktober 1960, verkündete Walter Ulbricht als Vorsit­ zender des Staatsrates einen »Gnadenerweis« und begründete die neue justiz­ politische Linie mit der angeblichen Festigung der sozialistischen Gesell­schaft. Humanitäre Erwägungen spielten hingegen keine Rolle, wie der stellvertretende Vorsitzende des Staatsrates Otto Grotewohl betonte: »Wir machen das also nur vom Standpunkt des Staates und seines Bestandes, aber nicht vom Standpunkt des einzelnen Verurteilten, der im Gefängnis oder im Zuchthaus sitzt. Das ist völlig uninteressant.« Wegen der »gefestigten Staatsautorität« werde diese Aktion auch nicht als Amnestie, sondern als individueller Gnadenerweis durchgeführt.304 Insbesondere dürfte die Überfüllung vieler Haftanstalten zu den Entlassungen beigetragen haben; jedenfalls sollte »ohne Engherzigkeit« über die Entlassungen entschieden werden.305 Zur Begründung erklärte das Oberste Gericht, das für die bisherige Spruchpraxis maßgeblich verantwortlich war, dass die Tatbestände der Spionage und der staatsgefährdenden Hetze im Strafrechtsergänzungsgesetz exzessiv angewandt worden seien.306 Hoffnungen auf vorzeitige Haftentlassung durften sich nun alle Inhaftierten machen, die ein Strafmaß von weniger als einem Jahr erhalten hatten oder von einer längeren Strafe bereits zwei Drittel verbüßt hatten. Politische Häftlinge, die von westlichen Diensten zu Agententätigkeit verleitet worden seien, waren im Gegensatz zu früheren Amnestien jetzt ausdrück­ lich eingeschlossen.307 Die Haftentlassenen wurden auch jetzt wieder ermahnt, 302  Vgl. Lagebericht der Abteilung Strafvollzug der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam vom 3.4.1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/117, Bl. 127–130. 303  Allein im Traktorenwerk von Brandenburg-Görden entstand dadurch ein Schaden in Höhe von 10 000 Mark. Vgl. Informationsbericht der Abteilung Strafvollzug der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam vom 3.12.1959; ebenda, Bl. 151–153. 304  Unkorrigierte stenographische Niederschrift der 2. Tagung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik am 1.10.1960; BArch DA 5/75686, Bl. 58–113, hier 103–106. 305  Vermerk über die Besprechung zur Durchführung des Beschlusses des Staatsrates zur Durchführung eines Gnadenerweises o. D. [31.10.1960]; BArch DA 5/75687, Bl. 3–5. 306  Vgl. Auswertung der Rechtsprechung des 1a und 1b Strafsenats [durch das Oberste Gericht] o. D. [1961]; ebenda, Bl. 19–40. 307  Vgl. Maßnahmen zum Beschluss des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung eines Gnadenerweises o. D. [1.10.1960]; BArch DA 5/75686, Bl. 4–7; Streng vertrauliches Schreiben des Stellvertreters des Generalstaatsanwalts und des Ministers der Justiz

554

Die Häftlinge

zukünftig die Gesetze einzuhalten, mussten sich darüber hinaus aber erstmalig auch zur Denunziation anderer Straftäter bereit erklären.308 Wer von den Häft­ lingen die Unterschrift verweigerte, kam nicht auf freien Fuß.309 Neu war auch, dass sich jetzt alle Häftlinge zu den Hintergründen ihrer Tat äußern und da­ bei Einsicht und Besserung geloben sollten.310 Hiervon versprach man sich offenbar eine stärkere erzieherische Wirkung der Begnadigungen, den politischen Vorzeichen jener Zeit entsprechend. Bis Dezember 1960 wurden so in der gesamten DDR 15 621 Häftlinge ent­ lassen,311 wie es die Staatsführung in etwa geplant hatte.312 3 366 Personen darunter galten als »Staatsverbrecher«, was ihrem seinerzeitigen Anteil an der Gesamtheit aller Gefangenen vor der Amnestie ungefähr entsprach.313 Die Entlassung von Häftlingen, die Sowjetische Militärtribunale verurteilt hatten, sollte in der Presse allerdings verschwiegen werden; in der gesamten DDR saßen von dieser Gruppe zur Durchführung des Beschlusses des Staatsrates über die Erteilung von Gnadenerweisen vom 6.10.1960; ebenda, Bl. 8–11. 308  Der Häftling sollte sich schriftlich dazu bereit erklären, »mich [zukünftig] vertrauensvoll an die staatlichen Organe zu wenden, falls ich Kenntnis von Verstößen gegen die sozialistische Gesetzlichkeit erlange oder zu ungesetzlichen Handlungen aufgefordert werde«. [Muster der] Verpflichtung [eines Haftentlassenen im Zuge des Gnadenerweises von 1960]; BArch DA 5/75687, Bl. 19; Unkorrigierte stenographische Niederschrift der 2. Tagung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik am 1.10.1960; BArch DA 5/75686, Bl. 58–113, hier 103–106. 309  In der diesbezüglichen Staatsratssitzung erklärte der stellvertretende Vorsitzende des Staatsrates Johannes Dieckmann: »Ich bin der Auffassung, dass ein Verurteilter, der diese Erklärung nicht unterschreiben will, nicht unter [den] Gnadenerweis fallen kann. Das gilt z. B. für die ernsten Bibelforscher. Wir haben keine Veranlassung, ihnen die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit zu erleichtern, wenn diese von dem Gnadenerweis keinen Gebrauch machen wollen. Man sollte festlegen: Wer diese Erklärung nicht unterschreibt, muss seine Strafe voll verbüßen, bis er sich eben bereit erklärt, die Erklärung zu unterzeichnen.« Seine Einlassung blieb von allen Anwesenden einschließlich Ulbrichts unwidersprochen. Stenographische Niederschrift der 3. Sitzung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 31.10.1960; BArch DA 5/75687, Bl. 54– 69. Die Freiheit vor Augen, weigerten sich tatsächlich lediglich fünf von 15 559 bzw. 15 621 später entlassenen Insassen diese Bereitschaftserklärung zur Denunziation zu unterschreiben, die nicht mit einer konspirativen Verpflichtung zur inoffiziellen Mitarbeit bei der Staatssicherheit zu verwechseln ist. Vgl. Abschlussbericht vom Oberst der Volkspolizei H. Weidlich über die Durchführung des Beschlusses des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Gewährung von Straferlass durch Gnadenerweis o. D. [1960]; BArch DA 5 4/7b, Bl. 1–38. 310  Vgl. Erlass des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Ausübung des Begnadigungsrechts (Gnadenordnung) vom 31.10.1950; BArch DA 5/75687, Bl. 1–4; GBl. der DDR Nr. 102 vom 12.9.1950, S. 947; Begründung o. D. [31.10.1961]; ebenda, Bl. 12 f.; Stenographische Niederschrift der 3. Sitzung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 31.10.1960; ebenda, Bl. 54–69. 311  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 380. 312  Zum Zeitpunkt der Verkündigung des Gnadenerlasses waren etwa 14 670 Haftentlas­sun­gen ge­plant. Vgl. Bericht des Sekretariats des Staatsrates zu Punkt 1 der Tagesordnung der 3. Sitzung des Staatsrates vom 31.10.1961; BArch DA 5/75687, Bl. 1–13. 313  Statistischer Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug 1960 vom 15.3.1961; BArch DO1 32/280/1.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

555

seinerzeit noch 1 891 Personen ein, von denen jetzt 1 561 vorzeitig entlassen wur­den, während 330 »wegen ihrer besonders schweren Verbrechen« ihre Strafe weiter­hin verbüßen mussten. Die Waldheim-Häftlinge zählten seinerzeit noch 968 Perso­nen, von denen jetzt 709 entlassen wurden. Bei den nach Befehl 201 Verurtei­lten han­delte es sich um 436 Insassen, von denen 321 freikamen.314 Aus Branden­burg-Görden wurden seinerzeit 383 Personen entlassen, bei weiteren 254 wurde die Reststrafe um ein Drittel herabgesetzt. Von dem Gnadenakt profitier­ten viele politische Häftlinge, insbesondere wegen Spionagedelikten Verur­ teilte sowie Zeugen Jehovas.315 Da reguläre Haftentlassungen und Verlegungen noch hinzu­kamen, sank die Gesamtzahl der Insassen in der Haftanstalt an der Havel von 2 407 Personen zum Jahresende 1959 auf 1 561 Personen ein Jahr später.316 Grundsätzlich traf eine gemeinsame Kommission aus Generalstaatsanwalt­ schaft, Innenministerium und Staatssicherheit die Entscheidung über eine vor­ zeitige Haftentlassung. Grundlage war stets eine Einschätzung des Häftlings durch die Aufseher, die dabei allerdings sehr oberflächlich vorgingen und ihr Urteil etwa auf den Bezug des »Neuen Deutschlands« und ähnliche Kriterien stützten,317 weswegen von einer zuverlässigen »Sozialprognose« nicht die Rede sein konnte. Als Voraussetzung für eine vorzeitige Entlassung galten gute Führung, hohe Arbeitsleistungen, politische »Fortschrittlichkeit« sowie eine Reststrafe von höchstens drei Jahren.318 Großzügig verfuhr das SED-Regime mit bestimmten Berufsgruppen, die von der Volkswirtschaft dringend benötigt wurden, da seiner­ zeit unablässig qualifizierte Kräfte in den Westen flüchteten. So konnten sich »Veterinäre, Mediziner, Ingenieure, Konstrukteure, Wissenschaftler und Erfinder« Hoffnungen auf vorzeitige Haftentlassung machen, auch wenn sie noch nicht den erforderlichen Teil ihrer Strafe verbüßt hatten. Denn ihre volkswirtschaftliche Bedeutung war der SED-Führung wichtiger als die Gleichbehandlung mit anderen Häftlingen.319 Die Amnestierungspraxis war zudem durch geheimpolizeiliches Kalkül geprägt. So wurde in der gesamten DDR 392 Häftlingen allein deswegen die Freiheit verweigert, weil operative Interessen des Mielke-Apparates dem entgegenstanden (siehe Kap. 5.5.1).320 Unnachgiebig zeigte sich das Regime 314  Entwurf eines Ministerratsbeschlusses mit handschriftlichen Zusätzen o. D. [1960]; BStU, MfS, AS, Nr. 2/73, Bl. 203–205; Angelegenheiten von Personen, die sich in der DDR in Haft befinden o. D. [1960]; ebenda, Bl. 201 f. 315  Vgl. BStU, MfS, AS, Nr. 419/62. 316  Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 51. 317  Vgl. BStU, MfS, AS, Nr. 419/62. 318  Abschlussbericht der Zentralen Arbeitsgruppe des MfS über die Durchführung des Gnaden­ erweises gemäß des Beschlusses des Staatsrates vom 6.12.1960; BStU, MfS, AS, Nr. 2/73, Bl. 79–81. 319  Anlage Nr. 3 zum Protokoll Nr. 24/56 vom 22. Mai 1956; ebenda, Bl. 199 f. 320  Abschlussbericht der Zentralen Arbeitsgruppe des MfS über die Durchführung des Gna­ den­erweises gemäß des Beschlusses des Staatsrates vom 6.12.1960; ebenda, Bl. 79–81. In Branden­

556

Die Häftlinge

auch gegenüber weiteren 186 Gegnern des SED-Regimes, die als Protagonisten des Volksaufstandes von 1953 in Brandenburg-Görden einsaßen.321 Weitere 39 Häftlinge in der gesamten DDR kamen nur deswegen nicht frei, weil sie sich in der Haft als entschiedene Gegner des SED-Regimes zu erkennen gegeben hatten, bei einer Entlassung in den Westen zu fliehen beabsichtigten oder wei­te­ rer »Straftaten« verdächtigt wurden.322 Letzteres legt den Verdacht einer rechtswi­ drigen Schutzhaft nahe, da von regulärer Untersuchungshaft hier nicht die Rede ist, die bei Vorliegen entsprechender Verdachtsmomente hätte angeordnet werden müssen. 4.1.10 Die politischen Häftlinge zu Beginn der Sechzigerjahre Die hohe Zahl wegen »staatsgefährdender Delikte« Verurteilten in BrandenburgGörden zu Beginn der Sechzigerjahre (siehe Tabelle 15) ist mit der Zahl der politischen Gefangenen nicht unbedingt gleichzusetzen (siehe Kap. 1.1). Weil zunehmend Insassen mit schweren »Delikten« einsaßen, die möglicherweise auch nach rechtsstaatlichen Maßstäben entsprechend geahndet worden wären, gilt dies auch für die gesunkene Zahl von SMT-Verurteilten und Waldheim-Häftlingen. Hinter der Deliktgruppe »Verbrechen gegen die Tätigkeit der Staatsorgane und die allgemeine Sicherheit« dürfte wiederum eine sehr heterogene Gruppe stehen, zu der hauptsächlich Fluchtwillige zählten, aber auch Verurteilte, die sich alkohol­ bedingte Schlägereien mit Volkspolizisten geleistet hatten.323 Die Kategorie »Verbrechen gegen die Volkswirtschaft« ist wiederum nicht per se der allgemeinen Kriminalität zuzurechnen; als Opfer von Kollektivierungsmaßnahmen und von Säuberungen in den Leitungen volkseigener Betriebe dürften sich viele politisch Verfolgte hinter dieser Kategorie verbergen. Der Artikel 6 der DDR-Verfassung war zwischenzeitlich durch das Strafrechts­ er­gän­zungs­gesetz vom 11. Dezember 1957 als »Rechtsgrundlage« für politische Verfolgung abgelöst worden.324 Dies war eine Folge der Souveränitätsproklamation der DDR vom September 1955, der zufolge die Direktiven der Alliierten ihre Rechts­k raft verloren – darunter auch die Kontrollratsdirektive 38, die in Ver burg-Görden beispielsweise wurden 13 Häftlinge aus »politisch-operativen Gründen« von der Gnadenaktion ausgeschlossen. 321  Die Zahlen beziehen sich auf Strafgefangene im Bezirk Potsdam, die fast ausschließlich in Brandenburg-Görden inhaftiert gewesen sein dürften. Vgl. Schreiben der Bezirksverwaltung Potsdam an dem Minister, Genossen Generaloberst Mielke vom 19.12.1960; ebenda, Bl. 48–50. 322  Vgl. Abschlussbericht der Zentralen Arbeitsgruppe des MfS über die Durchführung der Gnadenerweises gemäß des Beschlusses des Staatsrates vom 6.12.1960; ebenda, Bl. 79–81. 323  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 382. 324  Siehe auch Weinreich: Strafjustiz und ihre Politisierung, S. 344–346; Sélitrenny: Doppelte Überwachung, S. 50–52.

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

557

bindung mit Artikel 6 der Verfassung der DDR angewandt worden war. Das Straf­rechtsergänzungsgesetz präzisierte nun die politischen Delikte, die Artikel 6 noch äußerst vage umschrieben hatte.325 In der Praxis handelte es sich zumeist um die »mildere Rechtsnorm«, denn sie sah grundsätzlich Höchst­stra­fen vor.326 Für Staatsverrat, Diversion und Spionage im schweren Fall galt aber weiter­hin die Todesstrafe. Das Sammeln von Nachrichtenwurde nun als eigener Straf­ tatbestand ausgewiesen und mit Zuchthausstrafen von bis zu zehn Jahren geahn­ det. Besonders wichtig war der § 13 des Strafrechtsergänzungsgesetzes, der »Staatsverrat« unter Strafe stellte und beispielsweise zur Verurteilung der studen­ tischen Widerstandsgruppe »Eisenberger Kreis« diente.327 Deren Anhänger gelang­ ten zum Teil ebenso nach Brandenburg-Görden328 wie etwa der Westspion Gustav E. (siehe Kap. 4.2.5). Darüber hinaus wurde im Jahre 1958 der § 8 des Passgesetzes neu gefasst, der das »illegale Verlassen der DDR« unter Strafe stellte.329 Bis zu diesem Zeitpunkt wa­ren Republikflüchtige noch nach anderen, teils willkürlich herangezogenen und da­bei übermäßig strapazierten Paragrafen des allgemeinen Strafgesetzbuchs ver­ur­teilt worden.330 Auf der neuen rechtlichen Grundlage wurden nun landes­ weit bin­nen zwölf Monaten fast 10 000 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Aller­ dings wur­de die tatsächliche Strafverfolgung im Jahresverlauf zurückgeschraubt, um nicht durch Strafandrohung Rückkehrwillige aus dem Westen von ihren Vorhaben ab­zuhalten.331 Wegen Verstößen gegen dieses Passgesetz gelangten immer mehr Flucht­willige nach Brandenburg-Görden. Zwar sah das Gesetz eine Höchststrafe von drei Jahren vor, während in der Haftanstalt an der Havel seinerzeit vorwiegend Frei­heitsstrafen von mehr als acht Jahren vollzogen wurden. Doch gelangten seit 1957 ja auch bereits Verurteilte mit kürzeren Haftstrafen aus der Region nach Brandenburg-Görden. Außerdem können in Verbindung mit anderen Delikten auch höhere Gesamtstrafen ausgesprochen worden sein. Insbesondere wurden nach Brandenburg-Görden gezielt jene eingewiesen, die mehrfach und unter Um­ständen mit physischer Gewalt versucht hatten, die Grenze zu durchbrechen. Die Deliktgruppe der Fluchtwilligen wurde in den Statistiken der Haftanstalt ab 1965 eigens ausgewiesen, und zwar unter der Rubrik »Verstöße gegen das Pass­gesetz« (siehe Tabelle 15). Seinerzeit saßen erst 63 Republikflüchtige­ 325  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 378. 326  Weinreich: Strafjustiz und ihre Politisierung, S. 369. 327  Vgl. Zur Mühlen, Patrick von: Der »Eisenberger Kreis«. Jugendwiderstand und Verfolgung in der DDR 1953–1958. Bonn 1995. 328  Vgl. u. a. BStU, MfS, G-SKS 2462. 329  Vgl. Gesetz zur Änderung des Passgesetzes vom 11.12.1957; GBl. der DDR Nr. 78 vom 23.12.1957, S. 650. 330  Vgl. Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 378. 331  Vgl. Anlage Nr. 10 zum Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 21.4.1959; BArch DY 30 J IV 2/2–642.

558

Die Häftlinge

Jahr

1960

Delikte Staatsverbrechen (ohne Staatsverleumdung) Staatsverleumdung

1963

BrandenburgGördenb

DDR

absolut

in %

in %

968

62,0

c

23,8

BrandenburgGördend

DDR e

absolut

in %

in %

1 003

57,1

19,6

5

0,3

3,5

6

0,3

2,5

Verbrechen gegen das sozialistische Eigentum

28

1,7

14,6

49

2,7

12,6

Verbrechen gegen das private und persönliche Eigentum

39

2,4

13,5

55

3,1

15,5

Verbrechen gegen die Volkswirtschaft

76

4,8

7,9

39

2,2

2,0

Verbrechen gegen die Tätigkeit der Staatsorgane und gegen die allgemeine Sicherheit

44

2,8

10,3

69

3,9

17,9

Verstöße gegen das Passgesetz













360

23,0

24,9

511

29,1

29,1

Verkehrsdelikte













Verbrechen gegen die militärische Disziplin

1

0,06

0,9

2

0,1

0,6

34

2,1

0,5

18

1,0

0,1

6

0,3

0,1

2

0,1

0,1

1 561

~100

~100

1 754

~100

~100

Verbrechen gegen die Person sowie Familie und Jugend

SMT Waldheim Strafgefangene gesamt Untersuchungshäftlinge Zahl der Inhaftierten insgesamt

0

0

k. A.

61

3,5 k. A.

1 561

100

k. A.

1 815

100 k. A.

Tab. 15: Die Häftlinge und ihre Delikte in Brandenburg-Görden sowie in der gesamten DDR (1960–1964)

a Für die gesamte DDR liegt keine vergleichbare Aufschlüsselung vor. b Stand Jahresende 1960. Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/709, Bl. 51. c Quartalsdurchschnitt 1960. Vgl. Statistischer Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug 1960 vom 15.3.1961; BArch DO1 32/280/1. d Stand Jahresende 1963. Vgl. Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 31.12.1963; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/710, Bl. 12.

559

Zahl der Häftlinge, Verurteilungsgründe und Amnestien

Jahr

1964

Delikte Staatsverbrechen (ohne Staatsverleumdung) Staatsverleumdung



absolut

in %

in %

absolut

in %

523

43,5

344

23,0

16,6

0,5

1,3





3,3

12,3

112

7,4

Verbrechen gegen das private und persönliche Eigentum

87

7,2

14,2

–I



Verbrechen gegen die Volkswirtschaft

13

1,0

1,2

14

0,9

Verbrechen gegen die Tätigkeit der Staatsorgane und gegen die allgemeine Sicherheit

40

3,3

5,7

59

3,9

Verstöße gegen das Passgesetz





12,2

63

4,2

478

39,8

34,9

k

875

58,6

Verkehrsdelikte





k. A.

15

1,0

Verbrechen gegen die militärische Disziplin

2

0,1

1,5

4

0,2

SMT

9

0,7

0,07

7

0,4

Waldheim

2

0,1

0,02

1

0,06

1 200

~100

~100

1 494

~100

1